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German Pages 410 [416] Year 1981
Festschrift für Werner Sarstedt zum 70. Geburtstag
Festschrift für W E R N E R SARSTEDT zum 70. Geburtstag
Herausgegeben von
Rainer Hamm
w DE
G_ 1981
Walter de Gruyter · Berlin · N e w York
CIP-Kurztitelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Festschrift für Werner Sarstedt zum 70. [siebzigsten] Geburtstag / hrsg. von Rainer Hamm. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1981. ISBN 3-11-008611-5 N E : Hamm, Rainer [Hrsg.]; Sarstedt, Werner: Festschrift
© Copyright 1981 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung, J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung, Georg Reimer, Karl J . Trübner, Veit & Comp., 1000 Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Ubersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany Satz und Druck: Saladruck, 1000 Berlin 36 Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer, 1000 Berlin 61
Inhalt Zum Geleit
VII
JOACHIM GERCHOW, Dr. med., o. Professor an der Universität Frankfurt am Main Sogenannte berauschende Mittel und ihre medizinisch-rechtliche Problematik
1
WALTER GOLLWITZER, Dr. jur., Ministerialdirigent im Bayerischen Staatsministerium der Justiz, München Die Befugnisse des Mitangeklagten in der Hauptverhandlung SIEGFRIED H A D D E N B R O C K ,
Dr.
med.,
api. P r o f e s s o r
15
an der
Universität
Freiburg/Brsg., Emmendingen Psychiatrisches Krankheitsparadigma und strafrechtliche Schuldfähigkeit. - Zum psychiatrischen Beitrag für richterliche Entscheidungen über § § 2 0 , 2 1 und 63 S t G B
35
RAINER HAMM, Dr. jur., Rechtsanwalt in Frankfurt am Main Entwicklungstendenzen der Strafverteidigung
49
WINFRIED HASSEMER, Dr. jur., o. Professor an der Universität Frankfurt am Main Das „Absehen von Strafe" als kriminalpolitisches Instrument BARBARA
JUST-DAHLMANN,
Dr.
jur.,
Direktorin
des
65 Amtsgerichts
Schwetzingen Stiefkind des Strafrechts: Umweltschutz
81
ULRICH KLUG, Dr. jur., Justizsenator a. D., o. Professor an der Universität zu Köln Konfliktlösungsvorschläge bei heimlichen Tonbandaufnahmen zur Abwehr krimineller Telefonanrufe. - Überlegungen zur Auslegung des §201 StGB 101 MAX KOHLHAAS, Dr. jur., Bundesanwalt a. D., Rechtsanwalt in EppingenMühlbach Rechtsfragen zwischen Leben und T o d
133
KLAUS LÜDERSSEN, Dr. jur., o. Professor an der Universität in Frankfurt am Main Aus der grauen Zone zwischen staatlichen und individuellen Interessen. Zur Funktion der Strafverteidigung in einer freien Gesellschaft 145 HANS LÜTTGER, Dr. jur., o. Professor an der Freien Universität Berlin Genese und Probleme einer Legaldefinition - dargestellt am Beispiel des Schwangerschaftsabbruchs 169
VI
Inhalt
ARMAND MERGEN, Dr. jur., Dr. jur., o. Professor an der Universität Mainz Spielsucht
189
LUTZ MEYER-GOBNER, Dr. jur., Vorsitzender Richter am Landgericht München I Abschaffung des Schöffengerichts und vereinfachtes Verfahren vor dem Strafrichter. - Korrekturen unseres Rechtsmittelsystems in Strafsachen . . 197 WOLF MIDDENDORFF, Dr. jur., Richter am Amtsgericht Freiburg i. Brsg., Honorarprofessor für Kriminalpsychologie an der Universität Freiburg i. Brsg. Clarence Darrow und Earl Rogers. - Eine historische und kriminalpsychologische Studie zur amerikanischen Strafverteidigung 229 PETER RIESS, Dr. jur., Ministerialrat im Bundesministerium der Justiz, Bonn Statistische Beiträge zur Wirklichkeit des Strafverfahrens
253
GERHARD SCHMIDT, Dr. jur., Oberstaatsanwalt in Heidelberg, api. Professor an der Universität Heidelberg Ankläger und Verteidiger im schwedischen Strafprozeß
329
WILLI SCHUMACHER, Dr. med., Dr. rer. nat., o. Professor an der Universität Gießen Die Beurteilung der Schuldfähigkeit bei nicht-stoffgebundenen Abhängigkeiten (Spielleidenschaft, Fetischismen, Hörigkeit) 361 CURT FREIHERR VON STACKELBERG, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof, Karlsruhe Zur Wahrunterstellung in der strafrechtlichen Revision
373
ULRICH WEBER, Dr. jur., o. Professor an der Universität Würzburg Zur strafrechtlichen Erfassung des Musikdiebstahls
379
REGINA MICHALKE, Rechtsanwältin in Frankfurt am Main Verzeichnis der Schriften von Werner Sarstedt
393
Zum Geleit Als „junger" Rechtsanwalt (Zulassung 12. Januar 1978) feierte Werner Sarstedt am 15. Oktober 1979 die Vollendung seines 70. Lebensjahres. Ein ungewöhnliches Juristenleben hat sich durch den Wechsel vom Richter- zum Anwaltsberuf dem Ruhestand verweigert. Wer Sarstedt kennt, sieht in diesem Vorgang eine geradezu zwingende Antwort auf die Herausforderung des Richterberufes, wie er ihn verstand und erfüllte. „Strafverteidiger sein: das ist für einen alten Richter ein neues Leben." So beurteilt er selbst jetzt rückblickend seinen späten Eintritt in einen ihn erfrischenden Beruf, dem immer seine besondere Aufmerksamkeit galt (Strafverteidiger 1981, 42 ff.). „Es überrascht mich immer wieder zu sehen, wie wenig ich - trotz aller Bemühungen - bis zu meinem 68. Lebensjahr von der Verteidigung und den Verteidigern gewußt habe, mit denen ich doch jahrzehntelang zusammenzuarbeiten geglaubt habe. Das Aussehen der Berufswelt hat sich völlig verändert. Ich habe erkennen müssen, daß ich meinen Anteil an der Fehleinschätzung gehabt habe, die man gerade in Deutschland dem Anwaltsberuf entgegenbringt." (a.a.O. S . 4 6 ) Eben jener Fehleinschätzung des Anwaltsberufes dürfte es auch zuzurechnen sein, daß der „Ubertritt" (Abstieg?) Sarstedts in den Anwaltsberuf von seinen früheren Kollegen nicht nur mit Beifall bedacht wurde. Man wird den Kritikern darin Recht geben müssen, daß die Anfreundung mit dem Anwaltsberuf sich nicht bei jedem Richter mit dem eigenen Rollenverständnis verträgt. Daß die Mitwirkung des Verteidigers im Strafprozeß „kein Luxus ist" und daß ohne sie „der Richter mit der Aufklärung zugunsten des Angeklagten . . . weithin überfordert wäre" versteht sich nicht eben für jeden Richter von selbst. Sarstedt hat dagegen diesen Respekt vor dem Verteidiger bereits publiziert (Die Revision in Strafsachen, Seite 108, 169), als er trotz (oder wegen?) zahlreicher Teilnahmen an Anwaltstagungen und -lehrgängen noch völlig unverdächtig war, dereinst einmal „selbst einer" zu werden. Nachdenklich stimmen diejenigen Kritiker seines Berufswechsels, die um seine wissenschaftliche Produktivität bangen. Für die überfällige Neuauflage der „Revision in Strafsachen" (4. Auflage 1962) hatten viele auf den Ruhestand gehofft. Und jetzt noch ein Beruf, der ohnehin nur deshalb in den juristischen Publikationen unterrepräsentiert ist, weil gerade seine erfolgreichen Vertreter immer keine Zeit zum Schreiben haben . . . ? Sarstedt hat und hätte jedoch ohnehin niemals „reine Wissenschaft" betrieben. Wenn es etwas gibt, das er verachtet, so ist es in der Jurisprudenz das Glasperlenspiel praxisferner Dogmatik. So wie er den Gesetzgeber geißelt, der ohne praktische Fantasie für die Folgen seines
Vili
Zum Geleit
Tuns handelt (z. B. indem er durch Einführung des Begründungszwanges für den Antrag der Revisionsstaatsanwaltschaft nach § 349 Abs. 2 StPO statt der bezweckten Eindämmung der Beschlußverwerfungen ihren sprunghaften Anstieg bewirkte - vgl. Sitzungsbericht L des 42. D J T 1978 S. 37 - ) , so wenig hat er jemals von „Vielschreibern" gehalten, die von der Rechtspraxis losgelöste Theorienstreite austragen („davon, ob der Richter ein Anhänger der kausalen oder finalen Handlungslehre ist, hing noch nicht eine einzige strafrechtliche Gerichtsentscheidung ab"). Ohne die tägliche Arbeit am praktischen Fall wäre vermutlich auch die fachpublizistische Aktivität Sarstedts erlahmt. So wie diese bei ihm niemals Selbstzweck (oder gar Mittel persönlicher Selbstdarstellung) ist, so wenig kann er auf jene verzichten. Seine Veröffentlichungen, die rund 100 Titel umfassen, haben allesamt seine praktische Arbeit zum Thema, die er jedoch niemals zu trennen vermochte von seinem geradezu unersättlichen Lesehunger. Seine Bibliothek, um die ihn manches strafrechtliche Universitätsinstitut beneiden würde, füllt nicht nur seine Wohnung aus. Manchmal hat es den Anschein, als untertreibe er, wenn er spöttisch darauf hinweist, er habe das aber nicht alles gelesen. Seine unendliche Belesenheit auch in der belletristischen Weltliteratur schlägt sich sowohl in Sprache als auch Inhalt seiner Publikationen nieder. Schließlich hat er auch über das Schrifttum der an das Strafrecht angrenzenden naturwissenschaftlichen und medizinischen Disziplinen Zugang zu einem seiner wichtigsten Schwerpunktthemen gefunden: dem Sachverständigen vor Gericht. So nimmt es nicht Wunder, daß vier der Autoren, die in dieser Festschrift dem Jubilar einen Beitrag widmen, zwar Praktiker des Strafprozesses, aber (zumindest in erster Linie) nicht Juristen, sondern Mediziner sind. Aber auch die Berufe (Professoren, Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte) und Beiträge der juristischen Autoren sagen etwas über das Ansehen aus, das Sarstedt sich in der gesamten Fachwelt erworben hat. Die Konsequenz, mit der bei Sarstedt die Praxis nicht der Theorie, sondern die Theorie der Praxis folgt, spiegelt sich auch in seinem beruflichen Werdegang wider. Als er 1931 in Göttingen nach einem nur 6semestrigen Studium (Freiburg, München, Bonn, Berlin und Göttingen) die erste juristische Staatsprüfung ablegte, war er ganze 21 Jahre alt. Mit 25 wurde er Richter. Aber erst nach 14 Dienstjahren, davon bereits fünf Jahre als Oberlandesgerichtsrat in Celle, wandte sich Sarstedt mit einer kleineren Arbeit erstmals an die juristische Öffentlichkeit (Presse und Justiz, 1948). Die damit begonnene schriftstellerische Tätigkeit, ihr wissenschaftliches Niveau und der bis dahin erreichte Umfang veranlaßten die Freie Universität Berlin im Jahre 1963 zur Verleihung der
Zum Geleit
IX
Honorarprofessur, noch bevor im Jahre 1964 die Johann-WolfgangGoethe-Universität in Frankfurt am Main mit der Ehrendoktorwürde die akademischen Auszeichnungen vervollständigte. Inzwischen war Werner Sarstedt 1951 zum Bundesrichter ernannt, wo er zunächst beim 3. und ab 2.1.1952 bei dem an diesem Tage errichteten 5. (Berliner) Strafsenat tätig war. Am 1.4.1956 übernahm er als Senatspräsident den Vorsitz, den er bis zu seinem Eintritt in den „Ruhestand" (siehe oben) innehatte. Dem juristischen Nachwuchs fühlt sich Sarstedt bis heute verpflichtet. Nach seiner Lehrtätigkeit an der Freien Universität Berlin hält er jetzt Vorlesungen im Strafprozeßrecht an der Universität in Heidelberg. So gilt diese Festschrift einem Juristen, der es wie kaum ein anderer verstanden hat, zwischen Theoretikern und Praktikern eine Brücke zu schlagen. Über die Entstehungsgeschichte der Festschrift ließe sich ein eigener Beitrag schreiben. Es wurde deutlich, daß die große Zahl der Wissenschaftler und Praktiker, die das Unternehmen begrüßten und Sarstedt gerne einen Festschriftbeitrag gewidmet hätten, ein Vielfaches der immerhin auch schon recht stattlichen Zahl von 18 Autoren ausmacht, die sich trotz des bestehenden Zeitdrucks beteiligt haben. Dieser entstand aus der recht spät eingesetzten Planung, die von vornherein ein Erscheinen „post festum" notwendig machte. Nachdem aus Gründen, die dem Jubiliar bekannt sind, der Herausgeber erst wenige Wochen vor dem 15. Oktober 1979 mit der Realisierung beginnen konnte, mußte die Gesamtbearbeitungszeit beschränkt werden, was zwangsläufig zu einer Begrenzung des Umfangs führte. So mag der Jubiliar die Festschrift in dem Bewußtsein entgegennehmen, daß die Autoren ihm auch stellvertretend für die zahlreichen Freunde und Kollegen ihre Glückwünsche entgegenbringen, die ihre Mitwirkung nur bei einem noch späteren Erscheinungstermin hätten sicherstellen können. Vor und nach Redaktionsschluß hat dankenswerterweise der Walter de Gruyter-Verlag alles getan, um eine zügige und gute verlegerische und technische Herstellung zu gewährleisten. Er hat damit seine Verbundenheit zu dem langjährigen Mitarbeiter am „Löwe-Rosenberg" und dem vielfachen Autor von Beiträgen in der „Juristischen Rundschau" in angemessener Weise zum Ausdruck gebracht. Als Herausgeber danke ich Herrn Dr. Helwig Hassenpflug für die verlegerische Betreuung und allen Autoren für die kooperative Arbeit, die entscheidend zum Entstehen des Werkes beigetragen hat. Mit ihnen allen verbindet mich der Wunsch, daß Werner Sarstedt auch weiterhin mit seiner unverkennbar deutlichen Sprache das juristische Schrifttum wie bisher belebt.
Rainer Hamm
Sogenannte berauschende Mittel und ihre medizinisch-rechtliche Problematik
JOACHIM GERCHOW
Wenn aus medizinischer Sicht die Frage gestellt wird, was unter „Rausch" und „berauschenden Mitteln" zu verstehen ist, ergeben sich zunächst keine Probleme. Es liegt auf der Hand, daß man von der einzigen, im übrigen unabhängigen Bezugsgröße ausgeht, nämlich von der durch pharmakologische Wirkung hervorgerufenen Veränderung der geistig-seelischen und körperlichen Befindlichkeit. Gemeint ist also ein Zustand, der durch pharmakologisch wirksame Substanzen herbeigeführt wird und Fahruntüchtigkeit oder Schuldunfähigkeit bedingt. Der Gesetzgeber definiert nicht, was unter „Rausch" und unter „berauschenden Mitteln" zu verstehen ist. Die Begriffe finden sich soweit erkennbar - erstmals in den Entwürfen von 1927 zum § 3 3 0 a StGB 1 . Es galt, einen „Auffangtatbestand" für alkoholbedingte Zurechnungsunfähigkeit zu schaffen. Die Unterscheidung zwischen berauschenden und anderen Mitteln stellte offenbar kein Problem dar. Dem Wortlaut des Gesetzes folgend haben Lehre und Rechtsprechung überwiegend auf die Verwerflichkeit übermäßigen „Genusses" von Mitteln abgestellt, die einen „Rausch" hervorrufen. Die entsprechende Formulierung im § 3 3 0 a S t G B spricht vom „Genuß geistiger Getränke". In der Neufassung des Strafgesetzbuches vom 1. Januar 1975 ist jedoch davon nicht mehr die Rede. D e r Gesetzestext spricht vielmehr von einem Rausch „durch alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel". In der Begründung 2 wird darauf hingewiesen, daß damit keine sachliche Änderung, sondern eine Anpassung an das Ordnungswidrigkeitenrecht beabsichtigt war. Diese Begründung ist wenig überzeugend, denn in den fast gleichlautenden Formulierungen der § § 3 1 5 a , 3 1 5 c und 316 S t G B ist nach wie vor von dem „Genuß alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel" die Rede. Das 18. Strafrechtsänderungsgesetz vom 2 8 . 3 . 1 9 8 0 3 hat zu den hier interessierenden Begriffen und Sachverhalten keine Änderung gebracht. Aus dem § 3 3 0 a S t G B ist unverändert der § 323 a S t G B geworden. Man hat die Chance vertan, in den einschlägigen Gesetzesvorschriften gleiche Voraussetzungen für begriffliche Interpretationen zu schaffen. Die Rechtsprechung hat sich also weiterhin damit 1 Welzel, H., Das Deutsche Strafrecht, 10. Aufl. Berlin 1967, S.452. ' Bundestagsdrucksache 7/550, S. 268. J BGBl. I S. 373.
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Joachim Gerchow
abzufinden, daß im § 323 a StGB von „alkoholischen Getränken oder anderen berauschenden Mitteln" die Rede ist, in den Verkehrsstraftatbeständen hingegen von dem „Genuß alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel". Im Hinblick auf die eingangs kurz skizzierte medizinisch-biologische Ausgangslage mag es spitzfindig erscheinen, nachdrücklich auf die unterschiedlichen Formulierungen zu gleichartigen Vorgängen und Sachverhalten hinzuweisen. Wenn man jedoch von der allgemeinen Voraussetzung ausgeht, daß bestimmte Begriffe nach dem Sinn und Zweck eines Gesetzes zu interpretieren sind (ζ. B. bedeutet die Bewußtlosigkeit im Zivilrecht etwas ganz anderes als im medizinischen Sprachgebrauch), dann entstehen für den medizinischen Sachverständigen sehr schnell unüberwindbare Schwierigkeiten, zumal die Erfahrung zeigt, daß immer häufiger an den Mediziner die Frage gerichtet wird, was ein „Rausch" ist und was unter „anderen berauschenden Mitteln" zu verstehen ist. Dabei geht es unzweifelhaft um Fragen der Definition. Diese müssen beantwortet werden, wenn der medizinische Sachverständige seine Feststellungen und vor allem seine Ausdrucksweise an dem Sinn und Zweck eines Gesetzes orientieren soll, um sie der Rechtsprechung nutzbar zu machen. Nicht zuletzt ist auch im § 64 StGB die Rede von dem „Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen". Sicherlich kann es nicht Aufgabe eines Mediziners sein, zu definieren, was der Gesetzgeber gemeint hat, oder die auf normativer Ebene getroffenen Entscheidungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung auszudeuten. Es stellt sich aber prinzipiell die Frage, inwieweit MedizinischBiologisches von der juristischen Konstruktion her bewältigt werden kann und inwieweit die juristische Konstruktion von den Erscheinungsformen und Gesetzlichkeiten des Psychischen und des MedizinischBiologischen - im engeren Sinne hier auch von der pharmakodynamischen Wirkung bestimmter Substanzen - beeinflußt werden muß. Diese Frage stellt sich nicht zuletzt aus den Bedürfnissen der Praxis, die im Hinblick auf den §323 a StGB (§330 a StGB) extrem unterschiedlich gehandhabt wird. Nachdrücklich hat Schewe4 darauf hingewiesen, daß man sich in Zirkelschlüssel verfängt, wenn man den Rausch nach den Rauschmitteln und die Rauschmittel nach dem Rausch oder der „Berauschungsabsicht" zu definieren versucht, ohne genau bestimmen zu können, was „berauschende Mittel" oder „Räusche" eigentlich sind. Er spricht gegenüber der Ausgangslage im Jahre 1927 geradezu von einem „Wegfall der Geschäftsgrundlage". 4 Schewe, G., Juristische Probleme des § 330 a StGB aus der Sicht des Sachverständigen. Blutalkohol 13 (1976) S. 87 ff. (92).
Sogenannte berauschende Mittel
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Die Problemlage wird noch undurchsichtiger und unüberschaubarer, wenn man bedenkt, daß Fahruntüchtigkeit auch nach einer aus therapeutischen Gründen erfolgten Einnahme zentral wirksamer Medikamente vorliegen kann, wobei also von „Genuß" überhaupt nicht die Rede sein kann. U . a. fordert das O L G Hamm 5 , daß von jedem Kraftfahrer, der innerhalb der nächsten Stunden ein Fahrzeug führen will, verlangt werden müsse, daß er vor dem Einnehmen von Medikamenten die Gebrauchsanweisung beachte. Hingegen verweist Layh darauf, daß derjenige, der Mittel zu Heilzwecken oder zu wissenschaftlichen Selbstversuchen - auch wenn sie im Einzelfall zur Berauschung führen - zu sich nimmt, diese nicht „genießt" und somit im Sinne des § 3 3 0 a (§323 a) S t G B nicht tatbestandsmäßig handelt. Im ersten Fall spricht der Gesetzgeber von „Genuß", aber die Rechtsprechung berücksichtigt ausschließlich die Wirkung. Im zweiten Fall (§ 323 a S t G B ) ist der Begriff „Genuß" gestrichen worden, aber die Lehrmeinung stellt auf den „Genuß" ab und sieht in der Einnahme zu Heilzwecken oder wissenschaftlichen Selbstversuchen einen Rechtfertigungsgrund 7 . Zur Zeit hängt es entscheidend davon ab, in welchem Bundesland man einen Zustand der Schuldunfähigkeit mit jenen „anderen Mitteln" herbeiführt. Dies wird deutlich aus einem Beschluß des O L G Karlsruhe 8 und aus einem Urteil des O L G Frankfurt 9 . Frankfurt stimmt im übrigen mit dem O L G Schleswig 10 überein, hätte aber wohl, wenn es von der abweichenden Entscheidung des O L G Karlsruhe gewußt hätte, Veranlassung genommen, die Sache dem B G H nach §121 Abs. 2 G V G vorzulegen. Offensichtlich hat aber auch das O L G Karlsruhe nichts von der etwa ein Jahr vorher ergangenen Entscheidung des O L G Schleswig gewußt. Der in der täglichen Praxis mit derartigen Fragen beschäftigte medizinische Sachverständige muß mit Erstaunen feststellen, daß jene Sachverhalte, die recht eigentlich medizinische sind und deshalb zumindest teilweise in seine Kompetenz fallen, auf normativer Ebene diametral entgegengesetzt entschieden werden. Prekär wird die Situation dann, wenn er die unterschiedlichen Auffassungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung kennt und an ihn, gewissermaßen vor O r t - in der Regel beim Einzelrichter - , die Frage gerichtet wird, ob eine bestimmte Droge ein berauschendes Mittel sei, ob ein bestimmter Zustand durch berauBlutalkohol 11, 214 (1974). Lay, H.W., Strafgesetzbuch (Leipziger Kommentar), 9. Aufl. 1973, Berlin, New York, § 330 a, Anm.21. 7 Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 20. Aufl. 1980, München, §330 a RdNr. 7. 5 6
Beschluß vom 2 5 . 4 . 1 9 7 8 - 3 Ss 75/8 - Blutalkohol 16, 59 (1979). Urteil v. 7 . 3 . 1 9 7 9 - 2 Ss 23/79 - Blutalkohol 16, 407 (1979). 10 2 Ss 478/76 - in SchlHA 1977, 180. 8
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Joachim G e r c h o w
sehende Mittel hervorgerufen worden sei und ob es sich um einen durch andere berauschende Mittel bedingten Rausch - also eine Rauschtat - im Sinne des Gesetzes handelt. Das O L G Karlsruhe geht davon aus, daß der Tatbestand des § 330 a S t G B (jetzt § 323 a StGB) voraussetzt, daß die Schuldunfähigkeit des Täters auf einen „Rausch" zurückzuführen ist. Es stellt fest, daß ein solcher nur dann vorliegt, wenn der Zustand des Täters nach seinem ganzen Erscheinungsbild als durch den Genuß von Rauschmitteln berauschende Mittel - hervorgerufen anzusehen ist. Unter Hinweis auf Brockhaus" folgert das O L G Karlsruhe, daß unter Rauschmitteln in diesem Sinne eine Gruppe verschiedenartiger Stoffe zu verstehen ist, „die beim Menschen einen mit Euphorie verbundenen Erregungszustand der Großhirnrinde und anderer Teile des Zentralnervensystems hervorrufen, der Veränderungen der Bewußtseinslage bewirken kann". Zur Verdeutlichung wird eine Formulierung des Bayerischen Obersten Landesgerichts aus dem Jahre 1958 benutzt 12 , das sich mit der gleichen Frage beschäftigt hatte. Danach kommen als Rauschmittel nur solche Stoffe in Frage, die zum Genuß, also „zur Hervorrufung lustbetonter Empfindungen oder Vorstellungen" geeignet sind. Das O L G Karlsruhe hat allerdings keineswegs übersehen, daß das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch vom 2 . 3 . 1 9 7 4 das Merkmal „Genuß" aus § 3 3 0 a StGB gestrichen hat. Die seit dem 1.Januar 1975 geltende Neufassung spricht nicht mehr vom „Genuß geistiger Getränke" und von einem „die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Rausch", sondern nur noch von einem Rausch „durch alkoholische Getränke und andere berauschende Mittel". Das O L G Karlsruhe meint, daß dadurch die Vorschrift nur dem § 122 Ordnungswidrigkeitengesetz angepaßt werden sollte, ohne daß man eine sachliche Änderung herbeiführen wollte 13 . In diesem Zusammenhang fällt allerdings - wie schon betont wurde - auf, daß in den § § 3 1 5 a , 3 1 5 c und 316 StGB das Wort „Genuß" nicht gestrichen wurde. Die Anpassung an das Ordnungswidrigkeitenrecht ist also höchst unvollkommen erfolgt und bietet deshalb um so mehr Raum für spekulative Betrachtungen und Deutungen. Das O L G Karlsruhe verweist im übrigen auf alle einschlägigen Kommentatoren, denen unterstellt wird, daß sie unter „berauschenden Mitteln" nur die eigentlichen Rauschgifte meinen. Prüft man den in der Praxis häufig benutzten Kommentar von Dreher/Tröndle, so findet man
" Enzyklopädie, 17. Aufl. 1972, Stichwort Rauschgifte. B a y O b l G VRS 15, 202 (1958). Begründung zum Regierungsentwurf eines E G S t G B zu Art. 18, N r . 169 - Drucksache 7 / 5 5 0 , S. 268. 12 13
Sogenannte berauschende Mittel
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zu diesem Thema unter § 315 c StGB einen Hinweis auf §316 StGB 1 4 . Unter § 3 1 6 StGB wird auf § 6 4 StGB verwiesen15 und darauf aufmerksam gemacht, daß jene nicht unter diesen Begriff fallenden Medikamente nicht gemeint seien. In diesem Zusammenhang findet sich dann ein Verweis auf § 3 3 0 a StGB 1 6 . Liest man unter §64 StGB nach, was unter „anderen berauschenden Mitteln" zu verstehen ist, dann heißt es dort: „Solche Mittel sind Rauschgifte wie Cocain, Opium und andere Morphine, Äther, L S D , Haschisch 17 ." Interessant in dieser Gruppe ist zweifellos der Äther. Einige Zeilen weiter wird in einem anderen Zusammenhang auch das Phanodorm (ein als Schlafmittel benutztes Barbiturat) aufgeführt 18 . - Die Anmerkungen zu § 3 3 0 a bringen insofern weiteren Aufschluß, als es heißt, daß nur zum Schmerzstillen geeignete und dazu eingenommene Mittel nicht zu den berauschenden Mitteln gehören, es sei denn, daß sich der Täter damit berauschen will". Man bekommt auch keine weitergehende Klarheit, wenn man bei Lay im Leipziger Kommentar20 liest, daß die Einnahme zu Heilzwecken oder wissenschaftlichen Selbstversuchen „nicht tatbestandsmäßig" ist, oder wenn Lackner2' den Rausch als „das für das jeweilige Rauschmittel typische, die psychischen Fähigkeiten durch Intoxikation beeinträchtigende Zustandsbild" definiert. Das bereits zitierte Bayerische Oberste Landgericht hatte im Jahre 1958 eine Verurteilung nach § 3 3 0 a StGB mit der Begründung aufgehoben, daß allein zur Schmerzstillung geeignete und dazu eingenommene Mittel keine „berauschenden Mittel" im Sinne des § 330 a StGB seien'-'. Es führt dazu aus, daß es sich um Mittel handeln müsse, die „zum Genuß, zur Hervorrufung lustbetonter Empfindungen oder Vorstellungen genommen werden". Der Gesetzgeber wolle nämlich „denjenigen treffen, der sich im Ubermaß einem gefährlichen und deshalb verwerflichen Genuß berauschender Mittel hingibt". Das O L G Karlsruhe' 1 sagt in gleichartigem Zusammenhang: „Wer sich, ohne daß es ihm auf einen Genuß ankommt, durch übermäßige Einnahme von Medikamenten in einen die Schuldunfähigkeit ausschließenden Zustand versetzt, hat sich 14 Dreher/Trönale, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 39. Aufl. 1980, München, §315 c Anm.2. 15 Dreher/Tröndle, a.a.O. (Fn. 14), §316 Anm.4. 16 Dreher/Tröndle, a.a.O. (Fn. 14), §316 Anm.4. 17 Dreher/Tröndle, a.a.O. (Fn. 14), §64 Anm.2. 18 Dreher/Tröndle, a . a . O . (Fn. 14), §64 Anm.2. " Dreher/Tröndle, a . a . O . (Fn. 14), § 3 3 0 a Anm.2. 20 Lay, a.a.O. (Fn.6). 21 Lackner, K., Strafgesetzbuch, 12.Aufl. 1978, München, §330a, Anm.2. 22 Vgl. Fn. 12. 23 Vgl. Fn. 8.
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Joachim Gerchow
jedenfalls dann nicht berauscht, sondern ausschließlich vergiftet, wenn er . . . Stoffe eingenommen hat, die weder alkoholische Getränke sind, noch dem Betäubungsmittelgesetz unterliegen." Es fehle die auf „Genuß" gerichtete Willensrichtung des Täters. Dabei ging es um Somnupan und Neurocil. Es eröffnen sich zweifellos interessante Aspekte, wenn man diese Gedanken fortführt, nämlich daß der Gesetzgeber unter Rauschmitteln nur solche Stoffe verstanden haben will, die . . . „zur Hervorrufung lustbetonter Empfindungen und Vorstellungen" dienen und wenn darunter ausschließlich Alkohol und die „eigentlichen Rauschgifte" verstanden werden. Wie sich diese Auslegung auf die Verkehrsstraftatbestände auswirkt, wird noch zu diskutieren sein. Zwar liegt diesen Sachverhalten eine andere Zweckbestimmung des Gesetzes zugrunde. Zudem könnte man sich mit den zusätzlich aufgeführten „geistigen und körperlichen Mängeln" helfen. Aber die zitierte Verweisungspraxis im Kommentar von Dreher/Tröndle (hier nur als ein Beispiel von mehreren) zeigt, daß gleiche Begriffe, wenn auch im Zusammenhang mit unterschiedlichen Sachverhalten, eine gleichartige Auslegung erfordern. Die geänderte Formulierung im §330 a StGB vom 1.1.1975 unter Hinweis auf die Anpassung an das Ordnungswidrigkeitenrecht unterstreicht diese Annahme. Man sollte auch wohl erwarten dürfen, daß Rausch und Berauschung bzw. „berauschende Mittel" zumindest im Strafrecht eine einheitliche Auslegung finden. Es drängt sich der Eindruck auf, daß in der Lehre und teilweise in der Rechtsprechung jene in der Laienmeinung immer noch gängige, aber völlig unsinnige Vorstellung über Rausch und Rauscherleben wirksam wird. Offenbar versteht man darunter einen verwerflichen Zustand der Entrücktheit und Bewußtseinsveränderung mit rauschartiger Ekstase24. Diese inhaltliche Bewertung läßt die obergerichtliche Rechtsprechung übersehen, daß die Erkenntnisse der letzten Jahre einen grundlegenden Wandel in unserem Verständnis der Drogenwirkungen - wozu auch der Alkohol zu rechnen ist - geschaffen haben25. Wir unterstellen heute, daß viele pharmakologisch wirksame Substanzen unter geeigneten Konstellationen Rausch hervorrufen oder Rauscherleben intensivieren können. Dabei gibt es direkte Ursache-Wirkungs-Mechanismen, also pharmakodynamische Effekte, die unmittelbar durch das Mittel bestimmt werden. Häufig entwickeln sich Rausch und Rauscherleben nur, wenn das Sub24 Gerchow, ]., Zur Schuldfähigkeit Drogenabhängiger, Blutalkohol 16 (1979), Seite 97 ff. (100); ders., Rechtsstellung des Arztes und ärztliche Verschreibungspraxis bei Drogenabhängigen. Suchtgefahren 24, S. 129 ff. (1978). 25 Gerchow, ]., Jugend und Sucht - Stand des Problems in der Bundesrepublik Deutschland. Forum Jugendhilfe, Heft 1-2 - 1978, S. 54 ff.
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Sogenannte berauschende Mittel
jekt entsprechend „programmiert" ist. Den Effekt induziert ein kompliziertes Situationsgefüge aus Absicht, Erwartung und spezifischer Atmosphäre. In der „Reflexion auf etwas" kann man viel erreichen und ganz ungewöhnliche Wirkungen erzielen, auch mit Mitteln, die bei anderen allenfalls Erbrechen auslösen. Es gibt noch zahlreiche andere Aspekte. Zwischen vielen Stoffgruppen besteht eine sog. Kreuztoleranz. Wenn die Weltgesundheitsorganisation seit einiger Zeit auf die Wirkung der Mittel abstellt und danach bestimmte Stoffgruppen zusammenfaßt, so mag es den medizinischen Laien erstaunen, daß es einen sog. Alkohol-Barbiturat-Typ gibt. Die Tatsache, daß man mit geringen Alkoholmengen und einem barbiturathaltigen Schlafmittel einen dem Alkoholrausch vergleichbaren Zustand bewirken kann (man spricht vom sog. Billigrausch oder dem „Rausch auf Kassenschein"), ist bezeichnend für die hier angesprochene Problemlage. In Anbetracht der durch den Brockhaus beeinflußten juristischen Meinungsbildung ist es deshalb wohl legitim, wenn ärztlicherseits gefordert wird, daß der Jurist prüfen muß, ob er biologische, pharmakologische und psychopathologische Sachverhalte richtig deutet oder nur mit Fiktionen arbeitet26. Er muß sich sonst vorhalten lassen, daß er seine Kompetenzen bei der Erschließung psychischer und pharmakodynamischer Zusammenhänge überschätzt und dabei zu Auffassungen gelangt, die mit der Realität nicht in Einklang zu bringen sind. Man muß zur Kenntnis nehmen, daß von „Genuß" in vielen Fällen überhaupt nicht die Rede sein kann, auch nicht, wenn es sich um Alkohol- und Drogenkonsum handelt. Man frage doch einmal einen Alkoholiker, der die unerträgliche morgendliche vegetative Dekompensation beseitigen will. Man frage einen Heroinkonsumenten mit quälender Entzugssymptomatik, der nach allem greift, was substituierend wirken kann, was der verzweifelte Versuch der Stabilisierung der krankhaft veränderten - Stoffwechsellage mit einem auf „Genuß" gerichteten Willensakt oder gar mit „ungehemmter Genußsucht" zu tun hat. Man könnte noch darüber diskutieren, wenn die juristischen Prämissen stimmen würden. Das aber sollten sie, wenn - wie Schewe27 betont hat - auf normativer Ebene Entscheidungen getroffen werden. Sie stimmen aber in keiner Weise. Es gibt nämlich nur bedingt geeignete Kriterien zur Unterscheidung organisch begründeter exogener Psycho-
26 Gerchow, / . , Alkoholbedingte Bewußtseinsstörungen Lebensversicherungsmedizin 24, 1-3 (1972). 27 Schewe, G. (Fn. 4), a. a. O.
gem. § 3 ,
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AUB.
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Joachim Gerchow
sen. Es gibt keinesfalls jenen von Lackner21 gemeinten Rausch im Sinne eines f ü r das jeweilige Rauschmittel typischen Zustandsbildes. Schewe29 hat bereits mit überzeugenden Argumenten darauf hingewiesen, daß selbst dann, wenn man nur auf den Alkohol und die gängigen im Betäubungsmittelgesetz aufgeführten Rauschmittel abstellt, Zustandsbilder von unübersehbarer Vielfalt denkbar sind. Wenn z. B. die Möglichkeit einer Verhaltenswahl absinkt, so kann man an diesem Phänomen bzw. diesem psychopathologischen Symptom nicht ablesen, welche äußeren Einflüsse daran ursächlich beteiligt sind. Selbst der Verlauf einer Alkoholintoxikation ist je nach Stimmung, Affektlage, G e w ö h n u n g und anderen schwer bestimmbaren Einflüssen sehr unterschiedlich. Es k o m m t also entscheidend darauf an, auf welche Voraussetzungen ein Pharmakon - ganz gleich welcher Art - trifft. Entsprechend sollte es auch zunächst f ü r die Beurteilung der Schuldfähigkeit ohne Belang sein, ob ein Realitätsverlust bzw. ein Realitätsverfall durch Psychopharmaka, Schmerz- oder Schlafmittel, durch eigentliche Rauschdrogen oder durch Alkohol bedingt ist. Der Versuch einer Definition des „Rausches" im Sinne der erörterten juristischen Meinungen ist jedenfalls nach psychopathologischen Kriterien praktisch aussichtslos. Selbst wenn man sicher ist, daß es sich um einen Alkoholrausch oder seine verschiedenartigen Verlaufsformen handelt, gibt es fast soviele Definitionen wie Fachleute, die sich damit beschäftigt haben. Unstreitig ist aber nach der wissenschaftlichen Meinung, daß es sich um eine vorübergehende exogene bzw. körperlich begründete Psychose handelt, die von der aufgenommenen Alkoholmenge und der Alkoholempfindlichkeit abhängig ist. Die Alkoholtoleranz wiederum wird von der körperlichen und psychischen Konstitution, der G e w ö h n u n g und aktuellen Befindlichkeit bestimmt, auf die auch Einflüsse der äußeren U m g e b u n g einwirken. Ebenso ist es bei anderen Intoxikationen. Uberhaupt nicht zu klären ist, ob eine „Berauschungsabsicht" dahinter steckt. Schewe30 ist also auch insoweit zuzustimmen, daß ärztlicherseits ein Rausch im Sinne der Lehrmeinung über den § 323 a StGB weder sicher diagnostizierbar noch begrifflich definierbar ist. Wenn man aber davon ausgeht, daß die Strafandrohung des § 323 a (§ 330 a) StGB sich gegen die Einnahme von Mitteln, die zur Schuldunfähigkeit führen können, richtet und außerdem gegen die durch Schuldunfähigkeit bedingte Rechtsgütergefährdung, dann kann es nicht darauf ankommen, ob Schuldunfähgikeit in einer bestimmten Variante vorliegt, die sich nur aus mehr oder weniger zufälligen Gründen als „Rausch" 28 29 30
Lackner, K. (Fn.21), a.a.O. Schewe, G. (Fn.4), a.a.O. Schewe, G. ( F n . 4), a. a. O .
Sogenannte berauschende Mittel
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etikettieren läßt. Ganz unabhängig davon, daß es Rechtfertigungsgründe verschiedener Art geben mag, kann es nicht gleichgültig sein, ob eine die Bewußtseinslage verändernde Einwirkung durch einen Schlag oder durch Tabletten erfolgt. Diese aus ärztlicher Sicht ganz unverständliche Gleichbehandlung von Commotio und Tablettenwirkung wird auch dadurch in Frage gestellt, daß es die Gerichte bisher nicht gehindert hat, den § 3 3 0 a S t G B anzuwenden 31 , wenn jemand mit Widerwillen zur Bekämpfung von Zahnschmerzen größere Mengen Alkohol trinkt und in eine abnorme Alkoholreaktion gerät: Dann ist es jedenfalls mit dem „Genuß" und der „Hervorrufung lustbetonter Empfindungen und Vorstellungen" nicht weit her32. Die Frage, was ratio legis sei, ist also sehr unterschiedlich beantwortet worden. CramerJ3 hat wohl mit Recht betont, daß es nicht auf die Unmäßigkeit im Genuß berauschender Mittel als vielmehr auf die Gefährlichkeit des „Rausches" ankommt. Sinngemäß ist das auch die Auffassung des O L G Frankfurt 34 . Es ist zu dem Ergebnis gekommen, daß die Ansicht des erstinstanzlichen Gerichts, ein Rauschmittel läge nur dann vor, wenn der Täter beabsichtige, sich in einen rauschartigen Zustand zu versetzen, unzutreffend sei. In Ubereinstimmung mit dem O L G Schleswig folgert es, daß die Motive, aus denen der Täter handelt, bedeutungslos seien. Es sieht den Schutzzweck des Gesetzes völlig anders und führt aus, daß die Bestimmung des §330 a StGB sich gegen die Einnahme von Substanzen richtet, die zur Schuldunfähigkeit führen, und die aus ihr resultierende Rechtsgütergefährdung, und zwar insbesondere dann, wenn derartige Substanzen im Übermaß oder in Verbindung mit Alkohol konsumiert werden. Im übrigen stimmt das O L G Frankfurt den Ausführungen der Revisionsbegründung zu, in der es heißt, daß unter den Begriff „berauschende Mittel" auch Medikamente fallen, die wie Valium und andere Psychopharmaka durch Einfluß auf das Zentralnervensystem eine berauschende oder betäubende Wirkung haben. Das ist jene Auffassung, die bereits vorher das O L G Schleswig vertreten hatte. Mit Schewe35 läßt sich also sagen, daß der Sinn des § 3 3 0 a S t G B (§ 323 a StGB) weniger darin liegt, ungehemmte Genußsucht mit sozialschädlichen Folgen zu bestrafen, als darin, solche Vorgänge zu erfassen, bei denen sich jemand vorsätzlich oder fahrlässig seiner Einsichts- oder BGHSt. 4, 73. Schewe, G. (Fn. 4), a. a. O. 33 Cramer, P., Der Vollrauschtatbestand als abstraktes Gefährdungsdelikt, Tübinger Rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 6, Tübingen 1962, S.33. 34 Urteil v. 7.3.1979 - 2 Ss 23/79 - Blutalkohol 16, 407 (1979). 35 Schewe, G. (Fn. 4), a. a. O. 31
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Steuerungsfähigkeit begeben und dann im Zustand der Schuldunfähigkeit strafbare Handlungen begangen hat. W i r haben bereits darauf hingewiesen, daß man vor unüberwindlichen Schwierigkeiten steht und zwar selbst bei den Betäubungsmitteln und beim Alkohol - , wenn man darauf abstellt, daß der Täter die Mittel „zum Genuß" eingenommen haben muß. In der Praxis würden die Schwierigkeiten noch größer sein, weil häufig Alkohol und Arzneimittel bzw. andere Drogen zu gleicher Zeit eingenommen werden. Eine gleichzeitige Einnahme von Alkohol und Medikamenten kann aber das Wirkungsmuster erheblich abwandeln. Wer ζ. B. „mit Genuß" Alkohol trinkt, ohne sich berauschen zu wollen, kann berauscht werden durch die zusätzliche Wirkung von Medikamenten, die nach mancher juristischen Meinung nicht zu den berauschenden Mitteln gehören, deren Wirkung auf die geistig-seelischen Funktionen, insbesondere in Kombination mit Alkohol, im Verkehrsrecht aber ganz allgemein als bekannt vorausgesetzt wird 36 . Bei der Beurteilung der Fahrtüchtigkeit wird also im allgemeinen nicht auf den „Genuß" abgestellt, obwohl in den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen das Wort „Genuß" nicht gestrichen wurde. Diese Praxis erscheint aus medizinischer Sicht unter Berücksichtigung der Zweckbestimmung des Gesetzes sinnvoll und vernünftig. Wenn man nämlich davon ausgeht, daß der moderne Straßenverkehr den Menschen schon unter regulären Bedingungen überfordern kann, dann müssen Fehlleistungen zwangsläufig auftreten, wenn zusätzliche Belastungen nicht mehr toleriert werden können. Von den hier interessierenden Belastungsfaktoren ist neben dem Alkohol der Medikamenten- bzw. Drogeneinfluß von entscheidender Bedeutung. Während jedoch das Alkoholproblem in bezug auf die Fahrtüchtigkeit relativ gut quantifizierbar ist, liegen bei den Medikamenten und Drogen die Verhältnisse nicht so einfach. Die Gründe sind leicht einsehbar. Beim Alkohol haben wir es mit einer einzigen Substanz zu tun, die gut nachweisbar, deren Stoffwechselverhalten bekannt und deren Wirkungsweise überprüfbar und bedingt reproduzierbar ist. Die Vielzahl der Arzneimittel und Drogen schließt von vornherein aus, daß gleiche Beurteilungsvoraussetzungen auch nur annähernd denkbar wären. Häufig handelt es sich um Mischpräparate, deren Spaltprodukte an ganz unterschiedlichen Orten des Organismus neue chemisch wirksame Verbindungen eingehen können. Der Metabolismus, also die Aufarbeitung im Organismus, Abbau und Ausscheidung sind außerordentlich vielfältig. Entsprechend ist auch die Nachweisbarkeit begrenzt. Hinzu kommt, daß manche Medikamente einen in seiner Gesundheit gestörten Menschen überhaupt erst in eine stabile Gleichgewichtslage bringen und damit fahrtüchtig machen. Hinzu kommt, daß 36
Vgl. Fn. 5.
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manche Medikamente, insbesondere Psychopharmaka, nach einmaliger Dosis Fahruntüchtigkeit bewirken können, daß es aber bei regelmäßiger Anwendung der gleichen Dosis nicht mehr zu Ausfallserscheinungen kommt. Während beim Alkohol also unter Umständen der Nachweis genügt, um Fahruntüchtigkeit annehmen zu können, benötigt man für Medikamente, Drogen und unter Umständen sogar für die eigentlichen Rauschmittel in der Regel das psychopathologische Gesamtbild. Gemeint sind damit die Befindlichkeit, die deskriptiv erfaßbar ist, und das Leistungsverhalten. O b es zur Beeinträchtigung der Gehirntätigkeit kommt, ist häufig eine Dosisfrage. Von „berauschenden Mitteln" im Sinne der Verkehrsgesetze spricht man zweckmäßigerweise dann, wenn nach Einnahme zentral wirksamer Substanzen eine Beeinträchtigung der psychophysischen Leistung erkennbar ist. Insofern hat von der Zweckbestimmung des Gesetzes her der Begriff „andere berauschende Mittel" in bezug auf die Fahrtüchtigkeit quantitativ - eventuell auch qualitativ eine andere Bedeutung als bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit. Die Gerichte setzen voraus, daß jeder Kraftfahrer weiß, daß schon geringe Mengen Alkohol seine Fahrtüchtigkeit beeinträchtigen können. Analog dazu sollte unterstellt werden, daß jeder weiß, daß zentral angreifende Medikamente Einfluß auf die Fahrtüchtigkeit haben können. Drogenund Medikamentenwirkungen kann man jedoch im allgemeinen nur dann erfassen, wenn Ausfallserscheinungen oder Fehlleistungen feststellbar sind, die im übrigen sehr häufig mit Alkoholwirkungen verwechselt werden. Auch das ist ein Beispiel dafür, daß das Gehirn auf unterschiedliche Einwirkungen relativ gleichförmig reagiert. Es ist gleichzeitig ein Beispiel dafür, daß es aus medizinischer Sicht unverständlich ist, wenn zentral angreifende Medikamente und Drogen anders behandelt werden als der Alkohol. Unverständlich ist eine unterschiedliche Behandlung auch deshalb, weil Alkohol selbst dann als Fahruntüchtigkeit bedingende „berauschende" Substanz gilt, wenn keine äußerlich erkennbaren Trunkenheitserscheinungen vorliegen. Bekanntlich ist ab 1,3 Promille ein Gegenbeweis nicht möglich. Gegenüber den gleichartigen Begriffen im § 323 a StGB kann es sich zur Herbeiführung dieses Tatbestandes im wesentlichen nur um ein quantitatives - in selteneren Fällen auch qualitatives - Problem handeln. Es sind die gleichen Substanzen, die durch ein Mehr an Wirkung zu einem Schuldunfähigkeit bedingenden Rausch führen. Ein ganz anderes Problem stellt sich zunehmend bei der Beurteilung Drogen- und Medikamentenabhängiger, nämlich die Beurteilung der Befindlichkeit in der Phase der abklingenden Wirkung und/oder der auftretenden Abstinenzerscheinungen. Fast alle pharmakologisch aktiven Substanzen führen zu einer erheblichen Toleranzsteigerung. Wenn damit
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körperliche Abhängigkeit verbunden ist, sind immer höhere Dosen erforderlich, um die gleiche Wirkung zu erzielen. Eine Reduzierung der Dosis kann akut ein Abstinenzsyndrom bzw. eine Entzugssymptomatik auslösen, die unter Umständen nachhaltiger die Fahrtüchtigkeit - und die Schuldfähigkeit - beeinträchtigt, als wenn der Betreffende unter Mitteleinwirkung steht. In bezug auf die Beurteilung der Fahrtüchtigkeit macht dieser Sachverhalt im allgemeinen keine besonderen Schwierigkeiten, weil die einschlägigen Gesetze neben den Wirkungen durch Alkohol und andere berauschende Mittel auch andere Störungen der geistigen und seelischen Befindlichkeit aufführen. Es handelt sich also um jene Situation, in der alle Antriebe auf die Beschaffung der Mittel gerichtet sind und deshalb auch sehr viel häufiger Fahrzeuge benutzt werden als unter unmittelbarer Mitteleinwirkung. Die Situation ist also dadurch gekennzeichnet, daß ein zu Wenig an berauschenden Substanzen zur Fahruntüchtigkeit und eventuell auch zur Schuldunfähigkeit führt. Es besteht aber kein Zweifel, daß dieser Zustand zumindest in mittelbarem Zusammenhang mit einer gewohnheitsmäßigen Drogen- bzw. Rauschmittelaufnahme steht. Meines Erachtens gibt es bisher kein Urteil der höchstrichterlichen Rechtsprechung, das sich mit dieser Problematik beschäftigt hat. Eine solche richtungweisende Entscheidung erscheint aber erforderlich, da das Gesetz keine Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Wirkung berauschender Mittel macht. Ich selber habe bisher die Auffassung vertreten, daß jene Krankheitserscheinungen, die nach Absetzen oder Verminderung der Drogenzufuhr auftreten und damit Folgen der chronischen Aufnahme „berauschender Mittel" sind, als durch sog. berauschende Mittel verursacht angesehen werden müssen. Schwieriger ist die Beurteilung bei Substanzen, die nicht eigentlich Abstinenzerscheinungen hervorrufen, aber in den Zwischenphasen der Drogenaufnahme Aktivitätsveränderungen bewirken. Diese Voraussetzung trifft vor allem für Cannabis zu. Wenn man davon ausgeht, daß Wahrnehmung als Eigenaktivität zu bezeichnen ist und daß Erkenntnisse nur gewonnen werden können, wenn man etwas zur Kenntnis nimmt und damit reaktiv psychische Arbeit auslöst, dann ist gerade diese Fähigkeit bei chronischen Cannabiskonsumenten unter Umständen beeinträchtigt. In den Zwischenphasen des Cannabiskonsums verschiebt sich gewissermaßen die Wahrnehmungsebene. Die Konsumenten konzentrieren sich nicht auf das, was in ihrer Situation - z. B. beim F a h r e n sinnvoll und vernünftig ist; sie träumen gewissermaßen an der Wirklichkeit vorbei. Auch hierbei handelt es sich um eine indirekte Drogenwirkung, bei der sich die Frage stellt, ob infolge „berauschender Mittel" ein Fahrzeug nicht sicher im Verkehr gelenkt werden kann.
Sogenannte berauschende Mittel
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Auch in bezug auf § 3 2 3 a S t G B treten ähnliche Probleme auf. Im allgemeinen wird am ehesten bei der direkten Beschaffungskriminalität Schuldunfähigkeit anzunehmen sein, nämlich wenn ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Erwerb - ζ. B. Apothekeneinbruch - und suchttypischem Verhalten - ζ. B. Injektion an O r t und Stelle - besteht. Die Tat fällt dann regelhaft in die Phase akuter Entzugssymptomatik, in der alle Restantriebe auf Mittelbeschaffung ausgerichtet sind. Die Täter stehen also nicht unter dem Einfluß berauschender Mittel, sondern sie sind unter Umständen schuldunfähig, weil die kontinuierliche Zufuhr berauschender Mittel nicht funktioniert hat. Auch zu diesem Problem gibt es bisher meines Wissens keine höchstrichterliche Entscheidung. Medizinisch zählt auch dieses Krankheitsbild zu den organisch begründeten exogenen Psychosen. Aus Gründen einer auch nur angenäherten Gleichbehandlung wäre es wichtig zu klären, ob gegebenenfalls Freispruch wegen Schuldunfähigkeit gemäß § 2 0 S t G B oder eine Verurteilung aus § 323 S t G B zu erfolgen hat. Sicherlich wird sich der medizinische Sachverständige in der Regel darauf zu beschränken haben, psychopathologische Tatbestände zu schildern und zu analysieren. D a die meisten Richter aber auf die Mithilfe an der Bewertung psychisch abnormer Zustände warten oder sogar herausfordern, muß es so lange ärztliche Fehlbegutachtungen bzw. ungleiche Schlußfolgerungen aus gleichartigen Sachverhalten geben, wie nicht verbindlich geklärt ist, was juristischerseits unter Rausch und berauschenden Mitteln zu verstehen ist. Eine ungleiche Rechtsprechung bei gleichartigen Sachverhalten muß es so lange geben, wie keine einheitliche Auffassung darüber herbeigeführt werden kann, daß es nur eine unabhängige Bezugsgröße gibt, nämlich die durch pharmakologische Wirkungen hervorgerufenen Veränderungen der geistig-seelischen und körperlichen Befindlichkeit.
Die Befugnisse der Mitangeklagten in der Hauptverhandlung WALTER GOLLWITZER
I. Die Strafprozeßordnung sieht es als selbstverständlich an, daß ein Strafverfahren gegen mehrere Angeklagte gemeinsam durchgeführt werden kann. Sie spricht aber, wenn sie einzelne Verfahrensbefugnisse festlegt, vom Angklagten grundsätzlich nur in der Einzahl. Beim Staatsanwalt, beim Verteidiger, beim Nebenkläger und bei den anderen Verfahrensbeteiligten verfährt sie in gleicher Weise. Wenn bei Staatsanwalt und Verteidiger § 2 2 7 S t P O ausdrücklich klarstellt, daß mehrere gemeinsam an der Hauptverhandlung mitwirken und ihre Verrichtungen uner sich teilen können, so ist dies wohl vor allem wegen der beim Angeklagten naturgemäß ausscheidenden Funktionsteilung in das Gesetz aufgenommen worden. Das Gesetz erwähnt die Möglichkeit mehrerer Angeklagter nur dort, wo es einige sich daraus ergebende Sonderfragen regelt. Dies beginnt mit § 3 S t P O , der einen die Verbindung der Strafsachen rechtfertigenden Sachzusammenhang auch dann bejaht, wenn bei einer Tat im verfahrensrechtlichen Sinn mehrere Personen der Teilnahme beschuldigt werden. Auch der neu eingefügte § 2 3 1 c S t P O setzt ebenso wie § 138a A b s . 5 oder § 146 S t P O notwendig eine Mehrheit von Angeklagten voraus. § 2 4 1 Abs. 2 Satz 2 S t P O untersagt die Befragung eines Angeklagten durch einen Mitangeklagten, während § 2 4 7 S t P O die Entfernung des Angeklagten während der Vernehmung eines Mitangeklagten ermöglicht. § 257 S t P O räumt dem Angeklagten das Erklärungsrecht auch nach der Vernehmung eines Mitangeklagten ein, während § 2 7 2 N r . 4 S t P O die Aufnahme des Namens der Angeklagten in die Sitzungsniederschrift anordnet. Eine Mehrheit von Angeklagten setzen ferner die Erstreckung der Urteilsaufhebung auf Mitangeklagte in § 357 S t P O und die Kostenregelungen in § 4 6 6 S t P O voraus. W o in den Vorschriften über die Hauptverhandlung von Mitbeschuldigten gesprochen wird (§251 StPO), schließt dieser umfassendere Begriff ebenfalls den Mitangeklagten mit ein. Der Mitangeklagte ist ferner auch ein Beteiligter im Sinne des § 335 Abs. 3 S t P O .
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II. Die Strafprozeßordnung behandelt das Verfahren, das sich gegen mehrere Angeklate richtet, als ein einheitliches Verfahren, das auch innerlich zusammengehört. Die zugelassene Anklage wird in einer als Einheit verstandenen Hauptverhandlung in Richtung gegen alle Angeklagte untersucht, über sie wird in einem Urteil entschieden. Die Einheit des Verfahrens, die auch bei der an sich lockereren Verbindung nach § 2 3 7 S t P O keine rein äußerliche ist, bleibt bestehen, solange sie nicht durch eine Trennung förmlich aufgehoben wird oder sich in der Rechtsmittelinstanz dadurch löst, daß das Rechtsmittel, über das zu befinden ist, nur noch einen von mehreren Angeklagten betrifft. Die frühere Einheit wirkt aber auch hier noch insoweit fort, daß einem Auseinanderlaufen der Instanzen durch § 3 3 5 Abs. 3 StPO, § 8 3 Abs. 2 O W i G vorgebeugt wird und der Erfolg einer Revision auch einem bereits ausgeschiedenen früheren Mitangeklagten nach § 357 S t P O zugute kommen kann. Den an sich denkbaren Weg, das Verfahren gegen jeden einzelnen Angeklagten als gesonderte Einheit anzusehen und die Zusammenfassung mit dem Verfahren gegen einen anderen Angeklagten als eine rein äußerliche Verbindung zu betrachten, die die verfahrensrechtlichen Befugnisse auch im Verhältnis der Angeklagten untereinander unberührt läßt, ist die Strafprozeßordnung nicht gegangen. Die §§ 2 ff., § 237 S t P O sprechen von der Verbindung der Strafsachen, wobei unter Strafsache das Verfahren gegen einen Beschuldigten wegen einer Tat im prozessualen Sinn gemeint ist1. Sie gehen davon aus, daß die Einheitlichkeit des Verfahrens gegen mehrere Angeklagte nicht zwingend notwendig ist und jederzeit durch Trennung wieder gelöst werden kann. Solange die Verbindung dauert, sind aber alle verbundenen Strafsachen Gegenstand eines einheitlichen Erkenntnisverfahrens. Für diese Einheit sprechen sachliche Gründe. Es dient der Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege 2 und der Prozeßwirtschaftlichkeit, wenn Strafsachen gegen mehrere Personen wegen der vorhandenen sachlichen oder prozessualen Zusammenhänge in einer einzigen Hauptverhandlung mit einer gemeinsamen, für und gegen alle wirkenden Beweisaufnahme erledigt werden können. Dies erspart unnötige Doppelarbeit, belastet die benötigten Beweispersonen weniger und es wird vermieden, daß derselbe Sachverhalt von verschiedenen Gerichten unterschiedlich beurteilt wird 3 . Die
1 Kleinknecht, 34. Aufl. (im folgenden Kleinknecht) §2 Rdn. 7; Dünnebier, 23. Aufl. (im folgenden L R - , . . ) §2 Rdn. 2. 2 BVerfGE 45, 354/359; Kleinknecht 1; KMR - Müller/Sax/Paulus folgenden KMR) §2 Rnd.4. 3 BGHSt. 11, 133.
Löwe-Rosenberg/ - 7. Aufl. (im
Die Befugnisse des Mitangeklagten in der Hauptverhandlung
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gemeinsame Verhandlung fördert in der Regel auch die Sachaufklärung. Die umfangreichere Beweisaufnahme, die Stellungnahme zu ihr aus der Sicht der verschiedenen Angeklagten und überhaupt die größeren verfahrensrechtlichen Interaktionsmöglichkeiten sind geeignet, die Entscheidungsgrundlagen zu verbreitern und zu rbessern 4 . Die gemeinsame Verhandlung erlaubt ferner eine ausgewogenere, weil durch unmittelbaren Vergleich gewonnene Urteilsfindung 5 ; auch die Rechtsfolgen lassen sich leichter in ein einheitliches und damit in den gegenseitigen Relationen gerechteres System bringen, da sie nur von einem Gericht auf Grund eines einheitlichen Wertungsmaßstabs zugemessen werden. Diese Vorteile der Verbindung können nur eintreten, wenn die Hauptverhandlung als Einheit behandelt wird. Die Gesamtheit ihrer Vorgänge, alle in ihr erhobenen Beweise und alle aus ihr in sonstiger Weise gewonnenen Erkenntnisse bilden ihren „Inbegriff" (§261 StPO), der dem Urteil in Richtung gegen alle Angeklagte zugrunde gelegt werden darf und auch muß, um der Verpflichtung des Gerichts zur erschöpfenden Beweiswürdigung zu genügen. Die richterliche Uberzeugungsbildung ist in Richtung gegen alle Mitangeklagten ein einheitlicher, komplexer Vorgang, der sich einer Aufspaltung weitgehend entzieht, da neben dem unerläßlichen rationellen, intersubjektiv nachvollziehbaren Unterbau die subjektive Überzeugung der Richter tritt, die letztlich aus der Gesamtheit aller Vorgänge gewonnen wird. Das Gericht kann nur einheitlich für und gegen alle Mitangeklagte feststellen, welche Tatsachen es für erwiesen hält und welche nicht; sein Urteil muß auch insoweit frei von allen Widersprüchen sein. III. 1. Die Gemeinsamkeit der Hauptverhandlung und die Verwertbarkeit aller in ihr gewonnenen Erkenntnisse für und gegen jeden Mitangeklagten muß sich notwendig auch auf die Rechtstellung der Angeklagten auswirken. Die Befugnisse und Einwirkungsmöglichkeiten werden dadurch in der Form modifiziert, zum Teil auch in ihrem Inhalt verändert. Der unter dem Stichwort Rollentausch in seinen Auswirkungen strittige Wechsel vom Zeugen zum Angeklagten 6 macht dies besonders augenfällig. Hierauf kann nicht näher eingegangen werden. Für die
4 Von den Großverfahren, bei denen sich die nur noch schwer zu durchdringende Stoffülle als Nachteil für die erschöpfende Sachaufklärung erweisen kann, soll hier abgesehen werden. 5 Vgl. KMR §2 Rdn.4; Peters, Lehrbuch 2. Aufl. §19 IV 7a. 6 Vgl. etwa LR/Dünnebier § 2 Rdn.62; LR/Meyer §48 Vorbem. 17ff.; KMR §2 Rdn. 8ff.; je mit weiteren Nachweisen des umfangreichen Spezialschrifttums.
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vorliegende Untersuchung soll der Hinweis genügen, daß auch bei diesem Streit die Frage in Mitte steht, ob das Betroffensein von der materriell-rechtlichen Anschuldigung oder die rein formelle Eigenschaft als Mitangeklagter Verfahrensstellung und Verfahrensbefugnisse bestimmen. Die gemeinsame Anklage erweitert den Verfahrensgegenstand zumindest in tatsächlicher Hinsicht. Sie eröffnet dem einzelnen Angeklagten größere Einwirkungsmöglichkeiten auf die Urteilsfindung auch in Richtung auf seine Mitangeklagten. Dem stehen andererseits Einschränkungen gegenüber. So scheiden beispielsweise nach der herrschenden Rechtsprechung nicht nur die Mitangeklagten sondern unter Umständen auch ihre Angehörigen 7 als Zeugen aus. Abgesehen von solchen Besonderheiten bedingt das Nebeneinander mehrerer Angeklagte schon rein verfahrenstechnisch gewisse Modifikationen des Verfahrensgangs. So kann etwa das letzte Wort (§ 258 Abs. 3 S t P O ) mehreren Angeklagten nur nacheinander erteilt werden. Dies kann nach dem Sinn dieser Regelung unter Umständen zur Folge haben, daß einem Mitangeklagten, der bereits das letzte Wort hatte, doch noch einmal Gelegenheit zu einer Erklärung zu geben ist, wenn er dies wegen inhaltlich neuer Ausführungen eines nach ihm sprechenden Mitangeklagten verlangt. Neben solchen Abwandlungen, die aus dem Sinn und Zweck der jeweiligen Verfahrensregelung abzuleiten und zu begrenzen sid, treten Einschränkungen, die das Gesetz ausdrücklich festgelegt hat, wie die Beschränkung der Ausübung des Fragerechts durch § 2 4 0 Abs. 2 Satz 2 S t P O . Sieht man von den ausdrücklich geregelten oder durch die Mehrheit der Angeklagten notwendigerweise bedingten Abwandlungen der Verfahrensgestaltung ab, so sind für die Abgrenzung der Verfahrensbefugnisse der einzelnen Mitangeklagten grundsätzlich zwei Lösungen denkbar : Entweder man räumt jedem Mitangeklagten mit Rücksicht auf seine für die ganze Hauptverhandlung geltende formelle Verfahrensrolle alle dem Angeklagten zustehenden Befugnisse ein, ohne Rücksicht darauf, wieweit die Vorgänge in der Sache ihn selbst betreffen, oder man gibt dem einzelnen Mitangeklagten die Verfahrensbefugnisse nur insoweit, als sie für seine eigene Verteidigung notwendig sind. Eine solche Beschränkung der Verfahrensbefugnisse auf das zur Wahrung der eigenen Prozeßinteressen Notwendige findet man auch sonst. So hat der Einziehungsbeteiligte in der Hauptverhandlung die Befugnisse des Angeklagten (§ 432 Abs. 1 S t P O ) auch nur, soweit er am Verfahren beteiligt ist, die Hauptverhandlung also die Voraussetzungen der Einziehung betrifft.
7 Zum Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen vom Mitbeschuldigten BGHSt. 7, 194; BGH MDR 1973, 902 bei Dallinger; Schöneborn NJW 1974, 535.
vgl.
Die Befugnisse des Mitangeklagten in der Hauptverhandlung
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2. Die Ansicht, jeder Mitangeklagte dürfte als Prozeßsubjekt in der einheitlichen Hauptverhandlung undifferenziert bei allen Verfahrensvorgängen die dem Angeklagten eingeräumten Befugnisse ausüben, ohne Rücksicht darauf, wieweit er selbst betroffen ist, wird, soweit ersichtlich in der gerichtlichen Praxis nicht geteilt8. Auch der Gesetzgeber ist, wie § 231 c StPO zeigt, nicht dieser Auffassung 9 . Dies verwundert nicht. Eine solche undifferenzierte Verfahrensgestaltung würde zwar der Einheitlichkeit des Erkenntnisverfahrens voll Rechnung tragen, sie würde aber andererseits einen verfahrensmäßigen Leerlauf begünstigen und der Forderung nach Prozeßwirtschaftlichkeit und Verfahrensbeschleunigung widersprechen. Dies wäre dem Rationalisierungsgewinn, der mit der gemeinsamen Hauptverhandlung erstrebt wird, gegenläufig. Da die Strafprozeßordnung keine ausdrücklichen Regelungen enthält, hat schon die Rechtsprechung des Reichsgerichts sehr bald darauf hingewiesen, daß ein Mitangeklagter dort keine Angeklagtenbefugnisse haben kann, wo seine Verteidigungsinteressen nicht berührt werden können; ihm hier trotzdem Befugnisse einzuräumen, wäre eine „Form ohne Inhalt", die den Ablauf des Verfahrens nur unnötig verzögern würde und die nicht im Willen des Gesetzgebers läge10. Im übrigen erörtern die veröffentlichten Entscheidungen nur selten die Abstufung der Befugnisse bei Mitangeklagten. Zum einen dürfte sich diese Frage in der Tatsacheninstanz vielfach durch ihre innere Sachlogik von selbst erledigen, da Angeklagter und Verteidiger bei sie sachlich nicht interessierenden Verhandlungsteilen meist keine Verfahrensbefugnisse beanspruchen, während die Gerichte in Zweifelsfällen schon zur Vermeidung unnötiger Prozeßrisiken solche Befugnisse oft zuerkennen. Auch in der Revision wirft die Stellung als Mitangeklagter in der Regel kaum Sonderprobleme auf, wenn der Mitangeklagte von einem Verfahrensverstoß selbst betroffen ist. Andernfalls fehlt ihm in der Regel das Bedürfnis, einen ihn sachlich nicht betreffenden Verfahrensvorgang zum Gegenstand einer Revisionsrüge zu machen, die ohnehin bereits an der mangelnden Beschwer11 scheitern würde. 3. Das Auseinanderklaffen von materiellem Betroffensein und formellen Verfahrensbefugnissen hat dagegen in der umgekehrt gelagerten Frage der Zurechnung der Beweisanträge die Rechtsprechung wieder8
In dieser Richtung aber Alsberg, Der Mitangeklagte, DStrZ 1914, 242 ff. Vgl. Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drucks. 8/976 S. 50. 10 RGSt. 10, 300; RGRechtspr. 2, 70; 10, 217 (zum heutigen §245 Abs. 1, damals §244 StPO). " Hier kommt es nur darauf an, ob der Verfahrensakt im Ergebnis gegen den Beschwerdeführer verwertet wurde und nicht, ob er ihn von vornherein betraf; vgl. LR/ Meyer §337 Rdn.93ff. mit weiteren Nachweisen. 9
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holt beschäftigt. Der hierbei immer wiederkehrende Satz von der Gemeinsamkeit der Beweismittel gründet sich darauf, daß die in der Hauptverhandlung verwendeten Beweismittel für und gegen alle Verfahrensbeteiligten wirken, ohne Rücksicht darauf, durch wen sie in die Verhandlung eingeführt wurden. Wie bereits mehrfach dargelegt, darf jeder Verfahrensbeteiligte die durch sie geschaffene Prozeßlage zur Wahrnehmung seiner Verfahrensinteressen nutzen. Durch § 245 S t P O hat der Gesetzgeber diesen Satz inhaltlich erweitert, wenn er allen Verfahrensbeteiligten ein nur in sehr engen Grenzen ablehnbares Recht auf Ausschöpfung der in der Hauptverhandlung präsenten Beweismittel zuerkennt. Darüber hinaus wird aber die Gemeinsamkeit der Beweismittel als Argument herangezogen, wenn zu entscheiden ist, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Angeklagter aus dem Beweisantrag eines anderen Verfahrensbeteiligten, in Sonderheit eines Mitangeklagten, Rechte auch dann herleiten darf, wenn er sich dem Antrag nicht ausdrücklich angeschlossen hat12. Im Vordergrund steht dabei die Frage, ob er seine Revision auf die unrichtige Ablehnung eines sachlich auch ihn berührenden Beweisantrages stützen kann. Auf die revisionsrechtlichen Überlegungen soll hier nicht näher eingegangen werden 13 . Hinsichtlich der Befugnisse, die in der Hauptverhandlung aus Anlaß eines solchen Beweisantrags ausgelöst werden, wird man wieder zu unterscheiden haben zwischen der unabhängig vom Antragsteller entstehenden Befugnis, die verwendeten Beweismittel für die eigene Prozeßführung auszuwerten und der uneingeschränkten Selbständigkeit jedes Antragstellers bei der Ausübung seines Beweiserhebungsrechtes 14 . Die Vergemeinschaftung des Beweisergebnisses bedingt keine Vergemeinschaftung des Beweisantragsrechts. Im Gegenteil, jeder Mitangeklagter muß selbständig an Hand seines eigenen Verteidigungskonzepts entscheiden, welche Beweisantragsrechts. Im Gegenteil, jeder Mitangeklagte muß selbständig an Hand seines eigenen Verteidigungskonzepts entscheiden, welche sen oder ob er zur Vermeidung der Erheblichkeitsprüfung durch das Gericht dafür den Weg über die eigene Ladung nach § 2 2 0 S t P O in Verbindung mit einem Antrag nach § 2 4 5 Abs. 2 S t P O wählen will. Er ist insoweit nicht einmal durch das Prozeßverhalten seines eigenen Verteidigers rechtlich gebunden. Noch viel weniger besteht eine Bindung durch Anträge eines Mitangeklagten, auch wenn diese die Stützung
12 Vgl. etwa Alsberg, Der Mitangeklagte, DStrZ 1914, 242; Alsberg/Nüse, Der Beweisantrag im Strafprozeß, 2. Aufl. S. 176 ff. 13 Vgl. BGH NJW 1952, 273; BGH VRS 7, 54, sowie die Fußnoten 18, 19 mit der Rechtsprechung des Reichsgerichts; LR/Meyer §337 Rdn.94. 14 So z.B. RGSt. 17, 375.
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eines übereinstimmenden Verteidigungsvorbringens gegen die gleiche Anschuldigung bezwecken. Diese rechtliche Selbständigkeit der Beweisanträge eines jeden Mitangeklagten wird zwar als Prinzip nicht in Frage gestellt, er wird aber in einigen Entscheidungen des Reichsgerichts dadurch praktisch weitgehend aufgehoben, daß aus der Beweismittelgemeinschaft die tatsächliche Vermutung hergeleitet wird, daß ein Angeklagter, der zum Beweisantrag eines Mitangeklagten schweigt, sich diesem anschließt, wenn der Antrag im Rahmen einer in gleicher Richtung zielenden Verteidigung eine Anschuldigung von gemeinsamer Relevanz entkräften soll. Auf die Bedenken gegen diese mit der Prozeßerfahrung begründeten generellen Unterstellung wird später zurückzukommen sein (vgl. unten V 2 c). Hier genügt es zunächst, zu zeigen, daß auch der Satz von der Beweismittelgemeinschaft in seiner weitesten Ausprägung nicht über die Grenze des eigenen Betroffenseins hinausreicht. Verfahrensbefugnisse, die über die Wahrung der eigenen Verteidigungsinteressen hinausgehen, lassen sich hieraus nicht herleiten.
IV. Geht man grundsätzlich davon aus, daß ein Mitangeklagter dort keine Rechte als Angeklagter hat, wo seine Verteidigungsinteressen nicht berührt sein können, so stellt sich die mitunter schwierige Frage der Abgrenzung. 1. Verteidigungsinteresse ist dabei als das Interesse zu verstehen, das darauf abzielt, im Prozeß ein für den Angeklagten in der Schuld- oder Rechtsfolgenfrage möglichst günstigen Ergebnis zu erreichen. Neben diesen legitimen, den Prozeß (wenn auch vielleicht nur in einer bestimmten Richtung) fördernden Verhalten, das in einem fairen Verfahren nicht ohne zwingenden Grund beschränkt werden darf, gibt es ein Verteidigungsinteresse, das darauf abzielt, den Abschluß des Prozesses zu verhindern oder wenigstens hinauszuzögern. Als unvereinbar mit den Erfordernissen der Strafrechtspflege kann ein solches den Prozeßzweck negierendes Interesse dem Mitangeklagten ebensowenig Verfahrensbefugnisse verleihen wie etwa die Verfolgung prozeßfremder Zwecke. 2. Eine durch das Recht auf Gehör und der Verpflichtung zur fairen Verfahrensgestaltung vorgegebene Grenze für die Einschränkung der Befugnisse des Mitangeklagten liegt dort, wo Verhandlungsvorgänge ihn selbst betreffen können. Selbst wenn sie nur mittelbar eine gegen ihn zu treffende Entscheidung beeinflussen, muß der Mitangeklagte alle Befugnisse ausüben können, die die Strafprozeßordnung dem Angeklagten
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einräumt. H i e r ist von Bedeutung, daß der Inbegriff der ganzen H a u p t verhandlung zur Urteilsgrundlage gegen jeden Mitangeklagten werden kann. D a s Betroffensein läßt sich deshalb nicht generell ex ante auf die Verhandlungsvorgänge beschränken, die der U n t e r s u c h u n g der o b j e k t e n und subjektiven M e r k m a l e einer dem Angeklagten selbst zur Last gelegten T a t dienen oder sich mit seinen persönlichen Verhältnissen befassen. Gerade weil das Verfahren gegen mehrere Angeklagte Vergleichs- und Wertungsmöglichkeiten eröffnet und insbesondere auch Rückschlüsse zuläßt, die für die Beweiswürdigung und die Bildung der richterlichen Ü b e r z e u g u n g mitbestimmend sein k ö n n e n , m u ß jeder Mitangeklagte die Befugnis haben, solche möglichen R ü c k w i r k u n g e n auf das in seiner Sache zu fällende U r t e i l abzuwehren oder aber umgekehrt die bei der Behandlung der Sache eines Mitangeklagten gewonnenen Erkenntnisse auch für seine eigene Verteidigung zu nutzen. Besteht eine solche M ö g lichkeit, betrifft ein solcher Verfahrensvorgang auch ihn, wenn er sich im übrigen mit der T a t eines anderen Angeklagten befaßt, an der er nicht beteiligt war. 3. H i e r z u k o m m t als weiterer Gesichtspunkt, daß das Gericht b e r ü c k sichtigen m u ß , daß jeder Angeklagte befugt ist, seine Verteidigung in eigener V e r a n t w o r t u n g zu führen. E s m u ß ihm die Möglichkeit dazu offen halten. E s kann deshalb nicht durchwegs darauf abgestellt werden, o b für das G e r i c h t , v o r allem für den die Verhandlung leitenden V o r s i t zenden, ein Betroffensein des jeweiligen Angeklagten ex ante erkennbar ist. I m Interesse einer fairen, auch für unvorhergesehene Argumente offenen Verhandlungsführung darf keinem Mitangeklagten die C h a n c e g e n o m m e n werden, zur F ö r d e r u n g seiner Verteidigung einen B e z u g zwischen seiner eigenen Sache und einem ihn dem ersten Anschein nach nicht betreffenden Verfahrensvorgang herzustellen. Gerade weil das Betroffensein über den Sachverhalt der angeklagten T a t und die eigenen persönlichen Verhältnisse hinausreicht, darf das G e r i c h t es in der Hauptverhandlung nicht verneinen, ohne den jeweiligen Angeklagten dazu gehört zu haben. E s m u ß ihm deshalb gestatten, sein eigenes (legitimes) Verteidigungsinteresse durch Erklärungen darzutun und eventuell auch durch Fragen die Möglichkeit hierfür aufzuklären. E r s t wenn er dies nicht kann - und nicht etwa schon im vornehinein - kann er von weiteren Aktivitäten hinsichtlich des jeweiligen Verfahrensvorgangs ausgeschlossen werden. I m Ergebnis bedeutet dies, daß grundsätzlich bei Mitteilungen, Gestattung von Äußerungen und Fragen zunächst alle Mitangeklagten gleichzubehandeln sind. E r s t wenn dann einer nicht einsichtig machen kann, daß er ein eigenes Verteidigungsinteresse w a h r n i m m t , läßt sich die weitere M i t w i r k u n g auf die sachlich betroffenen Mitangeklagten beschränken.
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4. Der nichtbetroffene Mitangeklagte hat dagegen nach keinem der maßgebenden Verfahrensgrundsätze einen Anspruch, über die Gestaltung eines ihn nicht berührenden Verfahrensvorgangs mitzubestimmen. Verfahrens Vereinfachungen hängen nicht von seiner Zustimmung ab. Die Beschränkung auf die eigene Sache ist auch mit der Stellung als Prozeßsubjekt vereinbar. Die Verfahrensbefugnisse und Einwirkungsmöglichkeiten, die diese Eigenschaft kennzeichnen, stehen dem Angeklagten immer nur zur Förderung seiner eigenen, allerdings nicht eng auszulegenden Verfahrensinteressen zu. Ein Recht auf Gehör hat er ebenfalls nur, soweit die Verfahrensvorgänge ihn angehen können, also soweit die Möglichkeit besteht, daß sie mit zur Grundlage einer auch ihn betreffenden Entscheidung werden. Die Stellung als Mitangeklagter umfaßt nicht die Befugnis, die Verfahrensinteressen der anderen Mitangeklagten auch dort - eventuell sogar gegen ihren Willen - wahrzunehmen, wo ein eigenes Verteidigungsinteresse fehlt. D e r Mitangeklagte ist weder Beistand noch Verteidiger der anderen Mitangeklagten. In den seltenen Ausnahmefällen, in denen er im gleichen Verfahren die Doppelstellung als Mitangeklagter und Nebenkläger einnehmen darf 15 , reichen seine Befugnisse nicht über die Wahrung der eigenen Verfahrensinteressen, also über das eigene Verteidigungsinteresse und das eigene Verfolgungsinteresse, hinaus. Die das ganze Verfahren umfassenden Befugnisse des Staatsanwalts erlangt ein solcher Angeklagter auch als Nebenkläger nicht 16 .
V. Betrachtet man unter diesem Gesichtswinkel die einzelnen Befugnisse des Mitangeklagten in der Hauptverhandlung, so werden auch bei Anerkennung des grundsätzlichen Vorrangs des eigenen Verteidigungsinteresses mehrere Gruppen zu unterscheiden sein. 1. Da die ganze Hauptverhandlung Grundlage der richterlichen Uberzeugungsbildung ist, müssen alle Angeklagten die Möglichkeit haben, zu ihrem Ergebnis umfassend aus ihrer Sicht Stellung zu nehmen und alle ihre Ergebnisse zur eigenen Verteidigung zu nützen. a) Recht und Pflicht zur persönlichen Anwesenheit in der Hauptverhandlung (§ 230 ff. S t P O ) erstrecken sich bei allen Angeklagten auf die
Vgl. Kleinknecht Rdn.5 vor § 3 9 5 ; LR/Wendisch §395 Rdn.24. Auch der Nebenkläger hat Verfahrensbefugnisse nur innerhalb der Grenzen seines sachlichen Betroffenseins; vgl. Gollwitzer, Festschrift für Karl Schäfer, S. 65 ff. 15 16
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gesamte Hauptverhandlung' 7 . Die Teile, in denen nur gegen einen Mitangeklagten verhandelt wird, sind grundsätzlich davon nicht ausgenommen. Der neu eingefügte §231 c StPO hat insoweit eine Auflockerung der Anwesenheitspflicht gebracht, als das Gericht dem Angeklagten die Entfernung bei denjenigen Verhandlungsteilen gestatten kann, die ihn nicht betreffen und an denen teilzunehmen er selbst keinen Anlaß sieht. Sein Recht, auch an diesen Teilen der Hauptverhandlung teilzunehmen, bleibt unberührt. D e m Anwesenheitsrecht in der Hauptverhandlung entspricht das nur durch § 224 Abs. 1 Satz 2, Absatz 2 StPO eingeschränkten Teilnahmerecht aller Angeklagter an der kommissarischen Vernehmung eines Zeugen oder Sachverständigen nach §§223, 224 StPO. Das Gericht darf die Mitteilung von der Vernehmung nicht etwa deshalb unterlassen, weil es der Ansicht ist, daß diese einen Mitangeklagten nicht betrifft. Dies hat grundsätzlich jeder Mitangeklagte selbst zu beurteilen; die Möglichkeit hierzu darf ihm nicht verkürzt werden. b) Das Erklärungsrecht des Angeklagten muß alles umfassen, was in der Hauptverhandlung zur Sprache gekommen oder sonst dort geschehen ist. Das folgt daraus, daß grundsätzlich alle aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung gewonnenen Erkenntnisse für oder gegen ihn verwertbar sind. Auch wenn die Vorgänge nicht unmittelbar die ihm zur Last gelegte Tat betreffen, muß er die Möglichkeit haben, sie zu seiner Verteidigung zu verwerten und sich auch gegen Rückschlüsse zu wehren, die von der Tat eines anderen Mitangeklagten auf sein Verhalten gezogen werden könnten. Hier sind viele Fallgestaltungen denkbar. Beispielsweise kann die Aussage eines Zeugen oder Sachverständigen zu einer ihn nicht betreffenden Anschuldigung Anlaß geben, sich mit der Glaubwürdigkeit oder Sachkunde dieser Beweisperson auseinanderzusetzen, wenn dies in einem anderen Zusammenhang auch für dieWürdigung einer gegen ihn selbst erhobenen Anschuldigung von Gewicht sein kann. Er kann daraus aber auch Parallelen abzuleiten suchen, die für die Würdigung der eigenen Strafsache von indizieller Bedeutung sind oder die die Relationen zwischen den einzelnen Schuldvorwürfen einsichtig machen oder zu seinen Gunsten zurechtrücken sollen. Das Gericht muß jedem Mitangeklagten die Möglichkeit eröffnen, eine solche Beziehung zwischen der eigenen und der ihn nicht unmittelbar betreffenden Strafsache eines anderen Mitangeklagten aufzuzeigen. Erst wenn der Versuch gescheitert ist oder wenn ersichtlich wird, daß mit der 17 D i e Fälle, in denen der A n g e k l a g t e auch ihn selbst b e t r e f f e n d e n Verfahrensteilen b e f u g t fernbleiben darf o d e r in denen s o n s t in seiner A b w e s e n h e i t gegen ihn verhandelt w e r d e n darf, sollen außer Betracht bleiben. D i e v o r l i e g e n d e U n t e r s u c h u n g b e s c h r ä n k t sich auf die B e f u g n i s s e des in der H a u p t v e r h a n d l u n g a n w e s e n d e n M i t a n g e k l a g t e n .
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Erklärung nicht die Führung der eigenen Verteidigung sondern fremde Zwecke verfolgt werden, können weitere Erklärungen unterbunden werden. Diese Abgrenzung, die der eigenverantwortlichen Führung der Verteidigung freien Raum läßt, gilt schon bei der Äußerung eines jeden Mitangeklagten zur Sache im Rahmen des § 243 Abs. 4 S t P O und sie hat vor allem Bedeutung bei dem Erklärungsrecht nach § 2 5 7 S t P O , wenn zum Ergebnis der einzelnen Beweisaufnahme und zu den Einlassungen der Mitangeklagten Stellung zu nehmen ist. Sie gilt ferner für den Inhalt der Schlußvorträge und für das letzte Wort nach § 2 5 8 StPO. Auch die sonstigen Anhörungspflichten, wie etwa die Anhörung vor der vorzeitigen Entlassung einer Beweisperson nach § 2 4 8 StPO, bestehen grundsätzlich gegenüber allen Mitangeklagten. Das Gericht darf die nie ganz auszuschließende Möglichkeit einer Nutzung zur eigenen Verteidigung nicht dadurch verkürzen, daß es den aus seiner Sicht nicht betroffenen Mitangeklagten von vornherein keine Äußerungsmöglichkeit einräumt. c) Beim Fragerecht des § 2 4 0 Abs. 2 S t P O sprechen die gleichen Erwägungen dafür, daß die potentielle Möglichkeit, eine, die eigene Strafsache an sich nicht betreffende Aussage auch für die eigene Verteidigung zu nützen, nicht verhindert werden darf. Erst wenn ersichtlich wird, daß eine Frage nicht die eigene Verteidigung bezweckt, kann sie als nicht zur Sache gehörig zurückgewiesen werden (§241 Abs. 2 StPO). 2. Geht es dagegen nicht um die Ausnutzung der Ergebnisse der Hauptverhandlung und der dort eingeführten Beweismittel für die eigene Verteidigung, sondern um die Frage, ob und in welcher Form ein Beweismittel in die Hauptverhandlung eingeführt werden soll, so werden die Befugnisse der nicht betroffenen Mitangeklagten enger zu ziehen sein. Die Gesichtspunkte, daß sich die Meinungsbildung des Gerichts nicht ohne die Möglichkeit der Einflußnahme eines auch nur potentiell Betroffenen vollziehen darf, und daß jeder Angeklagte die Möglichkeit haben muß, sein zunächst nicht erkennbares Betroffensein darzutun, erlangen einen anderen Stellenwert, wenn es nicht um die Würdigung einer durchgeführten Beweisaufnahme geht, sondern darum, ob eine solche durchzuführen ist oder ob die Wahl einer vereinfachten Form der Beweisaufnahme den Verfahrensinteressen der Beteiligten widerspricht. Hier haben neben Gericht und Staatsanwaltschaft nur die selbst betroffenen Angeklagten das Entscheidungsrecht. Genauso wie sie auf die Beweiserhebung überhaupt verzichten können (vgl. unten 2 d), ohne an die Auffassung ihrer Mitangeklagten gebunden zu sein, obliegt es auch ihrem alleinigen Ermessen, ob sie mit einer von der Zustimmung des Angeklagten abhängigen Beweiserhebung einverstanden sind. Ein nicht
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betroffener Mitangeklagter mag sich zu dieser Frage ebenfalls äußern können, ein Mitentscheidungsrecht hat er nicht. Wer nicht aufzuzeigen vermag, daß hierdurch auch seine eigene Strafsache berührt wird, kann nicht die Befugnis haben, den betroffenen Verfahrensbeteiligten eine Verfahrensgestaltung aufzuzwingen, die sie für überflüssig halten oder aus sonstigen Erwägungen nicht wollen. Gründe hierfür gibt es vielerlei. Sie reichen vom Interesse an der schnelleren Erledigung des Verfahrens oder der Verschonung eines Zeugen von den Belastungen einer Einvernahme in der Hauptverhandlung bis zur Vermeidung unverhältnismäßig hoher Unkosten, die mit einer Beweisaufnahme vor dem erkennenden Gericht, etwa bei einer im Ausland wohnenden Beweisperson, verbunden sein können. Ein nicht betroffener Mitangeklagter kann um so eher hinnehmen, daß in diesen Fällen allein der betroffene Angeklagte zu entscheiden hat, als ihm ja immer die Möglichkeit bleibt, bei nachträglicher Erkenntnis der Relevanz eines solchen Beweismittels einen entsprechenden Beweisantrag zu stellen. Er leidet also keinen unabänderlichen Rechtsverlust, wenn er, der zunächst seine sachliche Betroffenheit selbst nicht aufzuzeigen vermag, die Entscheidung der anderen Verfahrensbeteiligten über die Verwendung des Beweismittels hinnehmen muß. Diese Abgrenzung dürfte eine in den gegenseitigen Befugnissen ausgewogene Verfahrensgestaltung ermöglichen, wie ein Uberblick über die einzelnen in Frage kommenden Befugnisse zeigt. a) Der Verzicht auf die Beeidigung eines Zeugen (§ 61 N r . 5 StPO) ist allein Sache der betroffenen Mitangeklagten. Ein Angeklagter, dessen legitime Verteidigungsinteressen durch die Aussage nicht berührt werden, kann nicht die Macht haben, die Beeidigung entgegen dem Willen aller von der Aussage Betroffenen durch Verweigerung des Verzichts zu erzwingen. Gleiches gilt für den Antrag, einen Sachverständigen zu beeidigen (§ 79 Abs. 1 StPO). b) Den Antrag, einen Zeugen oder Sachverständigen im Wege des Kreuzverhörs zu vernehmen (§ 239 Abs. 2 StPO) kann nur ein Mitangeklagter stellen, in dessen eigener Sache die Beweisperson von ihm oder vom Staatsanwalt benannt worden ist. Die nur potentielle Möglichkeit, die Aussage einer im Zusammenhang mit einer anderen Anschuldigung benannten Beweisperson auch für die eigene Verteidigung nutzen zu können, gibt dem Verteidiger des nichtbetroffenen Mitangeklagten weder das Recht, das Kreuzverhör zu beantragen, noch kann er es durch seinen Widerspruch verhindern. Der Verteidiger ist auch nicht zur Vernehmung nach §239 Abs. 1 StPO befugt; diese Befugnis haben nur
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die zur Antragstellung berechtigten Verteidiger der betroffenen Mitangeklagten. Das Fragerecht nach §240 Abs. 2 StPO steht dagegen auch hier zunächst jedem Mitangeklagten offen. c) Beweisanträge kann grundsätzlich jeder Angeklagte nur in seiner eigenen Sache stellen. Die Relevanz eines Beweisbegehrens beurteilt sich jeweils nur nach der gegen den Antragsteller selbst erhobenen Anschuldigung. Sie ist maßgeblich dafür, ob einer der Ablehnungsgründe des §244 Abs. 3 bis 5, §245 Abs. 2 StPO durchgreift. Ein Beweiserhebungsanspruch hinsichtlich eines Umstandes, der ausschließlich für die Entscheidung gegen einen Mitangeklagten von Bedeutung ist, wird durch die Verbindung der Verfahren nicht begründet 18 . Dies gilt selbst bei den präsenten Zeugen nach § 245 Abs. 2 StPO, die grundsätzlich allen Prozeßbeteiligten gemeinsam als Beweismittel zur Verfügung stehen. Diese Gemeinsamkeit wirkt sich zwar dahin aus, daß es nicht darauf ankommt, auf wessen Ladung die Präsenz der Beweisperson beruht, um die nur in sehr engen Grenzen ablehnbare Beweiserhebungspflicht des Gerichts zu begründen. Sie hat aber nicht zur Folge, daß die Mitangeklagten dadurch auch zu Anträgen in fremder Sache befugt .werden. §245 StPO erleichtert den Angeklagten, alle präsenten Beweismittel für die eigene Verteidigung heranzuziehen, er verleiht ihnen aber keine weitergehenden Beweiserhebungsbefugnisse. Ebenso wie bei § 245 Abs. 1 StPO nur die betroffenen Mitangeklagten verzichten müssen (vgl. unten d), greift auch das Antragsrecht nach Absatz 2 nur insoweit durch, als der Antragsteller damit eigene Prozeßinteressen fördern will. Die unter Beweis gestellte Tatsache muß in Zusammenhang mit einem ihn selbst betreffenden Teil des Verfahrensgegenstandes stehen, muß von Bedeutung für die Urteilsfindung in seiner eigenen Sache sein. Wenn auch jeder Beweisantrag nur dem Mitangeklagten zuzurechnen ist, der ihn gestellt hat, so schließt das nicht aus, daß mehrere Verfahrensbeteiligte und damit auch mehrere Mitangeklagte gemeinsam einen Beweisantrag stellen können. Mehrere Mitangeklagte können förmlich als gemeinsame Antragsteller auftreten, wobei auch ein Mitangeklagter die anderen als Wortführer in der Abgabe der Erklärung gegenüber dem Gericht - nicht aber im Willen, den Antrag als eigenen zu stellen vertreten kann". Geschieht dies in Gegenwart der anderen Angeklagten und widersprechen diese und ihre Verteidiger der Erklärung nicht, so wird im allgemeinen das Gericht davon ausgehen können, daß die gemeinsame Antragstellung tatsächlich dem Willen der anderen Angeklagten ent18
Vgl. oben Fußnote 10. " Ming J W 1926, 1921.
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spricht. Die Gemeinsamkeit des Beweisantrages kann dadurch herbeigeführt werden, daß sich ein Angeklagter dem bereits erklärten Antrag eines Mitangeklagten ausdrücklich anschließt. Die Rechtsprechung hat es als ausreichend angesehen, wenn sich der Wille zum Anschluß konkludent aus dem gesamten Prozeßverhalten ergibt 20 . Soweit das konkludente Verhalten eindeutig ist, kann man dieser Ansicht noch folgen. Bedenklich erscheint mir aber, wenn einige Entscheidungen den Willen zum Anschluß schon im Regelfall bei den Mitangeklagten unterstellen, bei denen die beantragte Beweiserhebung auch im Sinne ihrer Verteidigung liegt, sofern sie nicht ausdrücklich widersprechen 21 . Es mag zutreffen, daß diese Unterstellung häufig durch die Prozeßerfahrung bestätigt wird und daß die Angeklagten, die ohne Verteidiger sind, oftmals den rechtlichen Unterschied zwischen der Befürwortung eines der eigenen Verteidigung förderlichen fremden Antrags und der eigenen Antragstellung nicht erkennen und deshalb eine förmliche eigene Antragstellung als überflüssig ansehen. Auch werden sie mitunter Hemmungen haben, einen bereits abgelehnten Beweisantrag eines Mitangeklagten als eigenen nochmals zur Entscheidung des Gerichts zu stellen22. Trotzdem sollte man um der Verfahrensklarheit willen und auch aus Achtung vor der eigenverantwortlichen Prozeßführung eines jeden Mitangeklagten und seines Verteidigers jede Unterstellung hinsichtlich der Ausübung des Beweisantragsrechts ablehnen. O b diese Zurechnung nach Ansicht des nachträglich entscheidenden Revisionsgerichts im wohlverstandenen Interesse des jeweiligen Mitangeklagten liegt, darf nicht entscheidend sein, am wenigsten für den Tatrichter, der bereits in der Hauptverhandlung für klare Verhältnisse sorgen muß. Es ist nicht übertrieben formal, wenn man im Hinblick darauf fordert, daß der Wille zum Anschluß, der mehr ist als das Einverständnis mit einem fremden Antrag, in der Hauptverhandlung eindeutig erkennbar gemacht wird 23 . Es handelt sich um eine wesentliche Förmlichkeit des Verfahrens (§ 273 Abs. 1 StPO) 24 , über die keine Unklarheit bestehen bleiben sollte, zumal das Gericht durch eine entsprechende Frage - bei einem Angeklagten ohne Verteidiger eventuell verbunden mit einem Hinweis auf die Bedeutung - unschwer für eine
20 B G H N J W 1952, 273; B G H V R S 7, 54; R G S t . 58, 141; 64, 32; R G J W 1932, 3099; LR/Meyer % 337 Rdn. 94. 21 R G S t . 1, 170; 67, 182; R G J W 1916, 1028; 1931, 1608; 1932, 2729; Alsberg/Nüse a. a. O . S. 177 mit weiteren Nachweisen. 22 Vgl. die Argumente bei Alsberg D S t r Z 1914, 242; Alsberg/Nüse a . a . O . S. 176ff.; Mattil G A 77, 12 ff. sieht in der Gleichstellung mit dem Beweisantragsteller einen Anwendungsfall des Grundsatzes von Treu und Glauben. 23 Beling J W 1926, 1921; R G J W 1932, 3099. 24 R G G A 69, 86.
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Klarstellung sorgen kann25. Diese Klarstellung ist übrigens auch für die vom Gericht zu treffende Entscheidung über den Beweisantrag notwendig. Dies gilt nicht nur bei der Verschleppungsabsicht, bei der es auf die Person des Antragstellers ankommt oder bei der Wahrunterstellung, die nur bei Tatsachen zulässig ist, die zugunsten des Antragstellers wirken. Auch die sonstigen Ablehnungsgründe können mitunter nicht losgelöst von der Person des antragstellenden Angeklagten und der gegen ihn erhobenen Anschuldigungen beurteilt werden, so etwa, wenn sie eine Abwägung erfordern, bei der auch die Schwere der zu untersuchenden Anschuldigung eine Rolle spielt, wie bei der Unerreichbarkeit eines Zeugen 26 . Ungeachtet der „Interessenverbundenheit bezüglich der Antragstellung", oder der „Gleichheit der Verteidigung" muß also unter Umständen auch bei der Entscheidung über den Beweisantrag nach dem jeweiligen Antragsteller differenziert werden. Ganz abgesehen davon sind die genannten Kriterien, die in der Regel für eine stillschweigende Antragsgemeinschaft sprechen sollen, nicht in allen Fällen hinreichend klar abgrenzbar und es ist auch nicht recht befriedigend, wenn für die Annahme eines Anschlusses je nach der Zielrichtung der Verteidigung unterschiedlich strenge Anforderungen hinsichtlich der Erkennbarkeit des konkludenten Verhaltens gestellt werden. Erhebt das Gericht den beantragten Beweis bereits auf Grund eines von mehreren Anträgen, so braucht es nicht prüfen und auch nicht entscheiden, ob es auf Grund der anderen Anträge ebenfalls dazu verpflichtet gewesen wäre. Daß andere Antragsteller eventuell keinen Anspruch auf Beweiserhebung haben, erlangt nur dann Bedeutung, wenn der sachlich befugte Antragsteller seinen Antrag vor der Durchführung der Beweisaufnahme zurücknimmt. Dann muß über die anderen gleichlautenden Beweisanträge, ganz gleich, ob sie ausdrücklich oder durch konkludentes Verhalten gestellt sind, förmlich entschieden werden27, sofern nicht die Befragung ergibt, daß die anderen ihre eigenen Anträge ebenfalls zurücknehmen. Auch in diesem Fall ist also Klarheit über die Antragstellung unerläßlich. Schließt sich ein Mitangeklagter einem Beweisantrag eines anderen Angeklagten an, so ändert das am Inhalt des Antrags nichts. Ist dieser als Eventualantrag gestellt, so bleibt er es, es sei denn, daß der Anschließende beim Anschluß ausdrücklich erklärt, daß er den Antrag als Hauptantrag stellen will28. 25 Hierauf hat schon Oetker JW 1926, 2759 hingewiesen. Die Verpflichtung auf die erforderliche Klarstellung hinzuwirken, besteht ja auch sonst bei unklaren oder unvollständigen Beweisanträgen. 26 BGH MDR 1975, 368 bei Dallinger. 17 RG GA 38, 183; RG JW 1916, 1028 mit Anm. Alsberg. 28 RG JW 1929, 667 mit Anm. Alsberg.
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d) Der Verzicht auf die Einvernahme einer vom Gericht vorgeladenen und erschienenen Beweisperson nach § 2 4 5 Abs. 1 Satz 1 S t P O sowie auf die von Gericht oder Staatsanwaltschaft herbeigeschafften Beweismittel ist nur bei den Mitangeklagten erforderlich, die ein eigenes Verteidigungsinteresse an der Verwendung dieser Beweismittel aufzuzeigen vermögen. Grundsätzlich haben zwar alle Verfahrensbeteiligten einen Anspruch darauf, daß das Gericht die präsenten Beweismittel ausschöpft. Verzichten aber alle, die davon sachlich betroffen sein können, darauf, dann kann ein Mitangeklagter, für den die Beweiserhebung ohne jede sachliche Bedeutung ist, sie nicht durch Verweigerung seines Einverständnisses erzwingen 29 . e) Die Befugnis, nach § 2 4 6 Abs. 2, 3 S t P O die Aussetzung der Hauptverhandlung zu beantragen, wenn ein Beweismittel so spät namhaft gemacht wurde, daß keine Zeit für Erkundigungen blieb, setzt ein Betroffensein in den eigenen Verfahrensinteressen voraus. Wer von einer Aussage nicht betroffen sein kann, hat weder einen vernünftigen Anlaß zu Erkundigungen und erst recht nicht die Rechtsmacht, die Aussetzung des Verfahrens deswegen zu begehren. Man wird auch bezweifeln können, ob ein nicht betroffener Angeklagter überhaupt „Gegner des Antragstellers" im Sinne dieser Vorschrift ist. Die Ladungsmitteilung nach § 2 2 2 Abs. 1 S t P O wird dagegen an alle Mitangeklagte zu richten sein. O b ein Mitangeklagter unter keinem Gesichtspuñkt betroffen sein kann, entzieht sich einer Vorwegbeurteilung durch die Mitteilungspflichtigen. Wieweit das Verteidigungsinteresse reicht, können und dürfen sie nicht vorweg bewerten. f ) § 2 4 9 Abs. 2 S t P O bindet den Ersatz der Verlesung von Urkunden durch das dort geregelte Verfahren u. a. an den Verzicht des Angeklagten auf die Verlesung. Auch hier erscheint nur ein Verzicht derjenigen Mitangeklagten notwendig, für die eine als Beweismittel verwendete Urkunde in irgendeiner Form entscheidungserheblich sein kann. Ein nichtbetroffener Angeklagter, für dessen Prozeßführung die Urkunde ohne jeden Belang ist, kann nicht die Rechtsmacht haben, gegen den Willen aller betroffenen Verfahrensbeteiligten die Verlesung durch die Verweigerung seiner Einwilligung zu erzwingen. Die Gelegenheit, vom Wortlaut der Urkunde Kenntnis zu nehmen (§ 249 Abs. 2 Satz 4 StPO), ist aber auch ihm einzuräumen. Er muß prüfen können, ob die Urkunde, die zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung und zum Beweismittel geworden ist, nicht doch in irgendeiner bisher nicht erkannten Form Relevanz für die Urteilsfindung gegen ihn haben könnte, um gegebenenfalls seine Verteidigung darauf einzurichten und ein dann bestehendes 29
Herrschende Meinung; vgl. die oben Fußn. 10 angeführten Entscheidungen.
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Mitspracherecht bei der Verfahrensgestaltung geltend zu machen. Auch hier ist davon auszugehen, daß die jedem Mitangeklagten zustehende Kompetenz zur eigenverantwortlichen Prüfung jedes Verfahrensvorgangs auf seine Erheblichkeit für die eigene Strafsache wegen der potentiellen Möglichkeit eines nicht offensichtlichen Betroffenseins keine anfängliche Beschränkung seiner Informations- und Erklärungsrechte zuläßt. Dies hindert aber andererseits nicht daran, die weitergehenden Gestaltungsbefugnisse nur den selbstbetroffenen Mitangeklagten vorzubehalten. Kollidieren deren Verteidigungsinteressen mit denen der anderen Mitangeklagten, so haben sie Vorrang. Die Befugnis, das Verfahren mitzugestalten, steht jedem Angeklagten nur insoweit zu, als er sie zur Wahrung eigener Rechtsschutzinteressen benötigt und dies - soweit nicht sein Betroffensein offensichtlich ist - auch darlegen kann. g) Das Einverständnis mit der Verlesung der Niederschrift über eine frühere richterliche Einvernahme nach §251 Abs. 1 Nr. 4 StPO müssen nur die Mitangeklagten erklären, für die die Aussage von Bedeutung ist. Ein Mitangeklagter, der von der verlesenen Aussage in seiner Verteidigung nicht berührt werden kann, braucht nicht zuzustimmen. Er hat nicht die Befugnis, durch die Verweigerung seines Einverständnisses das Erscheinen einer Beweisperson vor Gericht zu erzwingen, obwohl dies von allen betroffenen Verfahrensbeteiligten für entbehrlich gehalten wird. h) Für die Hauptverhandlung der Berufungsinstanz gelten die gleichen Überlegungen. Die Zustimmung zur Verlesung der Protokolle über die Aussagen der in der ersten Instanz vernommenen Zeugen in der Berufungsverhandlung (§ 325 Abs. 1 StPO) ist ebenfalls nur von den betroffenen Mitangeklagten erforderlich. Dem Verzicht auf das Verlesen der Urteilsgründe müssen dagegen alle am Berufungsverfahren beteiligte Mitangeklagte zustimmen (§ 324 Abs. 1 StPO), da sie alle notwendigerweise betroffen sind. Soll dagegen nur auf die Verlesung eines Teiles der Urteilsgründe verzichtet werden, genügt wohl auch hier der Verzicht aller von diesem Teil betroffenen Mitangeklagten. 3. Bei einer weiteren Gruppe von Verfahrensregeln folgt schon aus ihrem Regelungszweck, daß sie nur dem Angeklagten Befugnisse verleihen, bei dem ihre Voraussetzungen eintreten. a ) Ob ein Angeklagter nach Eröffnung des Hauptverfahrens den Einwand der Zuständigkeit einer besonderen Strafkammer nach § 6 a StPO oder den Einwand der örtlichen Unzuständigkeit nach § 16 StPO erheben will, steht in seinem eigenen Ermessen. Ein anderer Angeklagter kann dies nicht für ihn tun. Es ist auch die alleinige Angelegenheit eines
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jeden Angeklagten, ob er die vorgezogene Besetzungsrüge nach §222 a StPO erheben oder Gerichtspersonen nach den §§24, 31 StPO oder einen Sachverständigen nach §74 StPO als befangen ablehnen will. Daran ändert nichts, daß die erfolgreiche Ablehnung oder die für begründet erklärte Besetzungsbeanstandung das Verfahren auch hinsichtlich der Mitangeklagten umgestaltet. Um dieses eigenen Betroffenseins willen sind sie zu der Beanstandung zu hören. Die Rüge wird dadurch aber noch nicht zu der ihren, es sei denn, sie schließen sich ihr auf Grund einer eigenen Befugnis an. b) Der Hinweis nach §265 StPO ist nur demjenigen Angeklagten zu erteilen, bei dem sich die rechtliche Beurteilung der zugelassenen Anklage möglicherweise ändert. Der Aussetzungsantrag nach §265 Abs. 3 StPO steht nur dem Angeklagten zu, für den die neu hervorgetretenen Umstände in irgendeiner Hinsicht entscheidungsrelevant werden können, nicht aber den übrigen Mitangeklagten. Diese können allenfalls die Aussetzung nach §265 Abs. 4 StPO beantragen, wenn sich dadurch ausnahmsweise die Sachlage auch ihnen gegenüber in einer für ihre Verteidigung relevanten Weise verändern sollte. c) Die Befragung nach § 265 a StPO betrifft naturgemäß immer nur den Angeklagten, bei dem die Auflagen oder Weisungen in Betracht kommen. d) Für die Erhebung der Nachtragsanklage (§266 Abs. 1 StPO) bedarf es nur der Zustimmung des Angeklagten, gegen den sie erhoben wird. N u r dieser hat auch das Recht, die Unterbrechung der Hauptverhandlung nach §266 Abs. 3 StPO zu beantragen. Die anderen Mitangeklagten können dies ebensowenig verhindern wie eine nachträgliche Verfahrensverbindung. e) Die abgekürzte Urteilsbegründung (§265 Abs. 4 StPO) setzt notwendig Rechtskraft oder Verzicht aller wegen der gleichen Tat verurteilten Mitangeklagten voraus. Die Begründung des Urteils kann insoweit nur einheitlich erstellt werden. Bei verschiedenen Taten ist es dagegen möglich, einen Teil des Urteils in abgekürzter Form zu erstellen. Insoweit braucht ein nichtbetroffener und mangels Beschwer insoweit auch nicht anfechtungsberechtigter Mitangeklagter nicht zu verzichten, um die abgekürzte Fassung eines ihn nicht berührenden Urteilsteiles zu ermöglichen. f ) Der Antrag, einen Vorgang der Hauptverhandlung oder den genauen Wortlaut einer Äußerung in der Sitzungsniederschrift festzuhalten (§273 Abs. 3 Satz 1 StPO), kann von jeder an der Verhandlung beteiligten Person gestellt werden, also auch von jedem Mitangeklagten. Die weite Ausdehnung des Kreises der Antragsberechtigten durch den
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Gesetzeswortlaut findet ihr für die rationelle Verfahrensgestaltung unerläßliches Korrektiv darin, daß gefordert wird, daß der Antragsteller ein von der Rechtsordnung anerkanntes Interesse an dieser Protokollierung dartun muß 30 . Der Vorsitzende und im Streitfall das Gericht (§273 Abs. 3 Satz 2 S t P O ) müssen ihm also nur entsprechen, wenn der Antragsteller ein anzuerkennendes eigenes rechtliches Interesse damit sichern will. Nicht notwendig ist allerdings, daß dieses Interesse sich aus dem vorliegenden Verfahren herleitet. Diese Beschränkung auf das eigene rechtliche Interesse greift auch im Verhältnis zwischen den Mitangeklagten Platz.
VI. Soweit die Mitangeklagten Verteidiger haben, unterliegen deren Befugnisse den gleichen Grenzen. Auch diejenigen Befugnisse, die der Verteidiger ohne Bindung an den Willen des von ihm verteidigten Angeklagten ausüben kann 31 , reichen nicht über das Verteidigungsinteresse dieses Angeklagten hinaus. Daß ein Verteidiger nicht im Interesse eines Mitangeklagten tätig werden darf, ergibt sich überdies auch aus dem Verbot des § 146 S t P O .
VII. Zusammenfassung Auch bei mehreren Angeklagten bildet die Hauptverhandlung eine Einheit; ihr gesamter Inbegriff ist bei jedem Mitangeklagten für die Urteilsfindung verwertbar. Dies ist zu berücksichtigen, wenn geprüft wird, ob ein Verfahrensvorgang einen Mitangeklagten betrifft. Aus der Einheit der Hauptverhandlung erwachsen dem Mitangeklagten aber keine Einwirkungsbefugnisse auf die Teile der Hauptverhandlung, bei denen ausgeschlossen werden kann, daß durch sie seine eigenen Verfahrensinteressen in irgend einer Weise berührt werden. Im einzelnen ist nach der Art der Befugnisse zu unterscheiden: Die Informationsrechte des Angeklagten einschließlich des Rechts auf Anwesenheit erstrecken sich grundsätzlich auf alle Teile der Hauptverhandlung. Da jeder Angeklagte seine Verteidigung eigenverantwortlich führen kann, darf ihm das Gericht nicht die Möglichkeit verkürzen, alle 30 Vgl. Kleinknecht §273 Rdn.17; Eb. Schmidt Rdn. 40. 31 Rieß NJW 1977, 881.
§273 Rdn.18; LR/Gollwitzer
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Vorgänge der Hauptverhandlung hierfür zu nutzen; er muß in der Lage sein, einen nicht ohne weiteres erkennbaren Zusammenhang zwischen einem ihn nicht unmittelbar betreffenden Verfahrensvorgang und der eigenen Strafsache aufzuzeigen. Deshalb dürfen auch seine Erklärungsrechte in solchen Fällen nicht ex ante beschränkt werden, sondern erst dann, wenn für das Gericht ersichtlich wird, daß die Erklärung nicht die eigene Sache betrifft. Die Befugnis, die Verfahrensgestaltung durch Anträge und Prozeßhandlungen (Verzicht, Einwilligung u. a.) mitzubestimmen, hat immer nur der Mitangeklagte, der aufzuzeigen vermag, daß er damit ein eigenes (legitimes) Verfahrensinteresse verfolgt.
Psychiatrisches Krankheitsparadigma und strafrechtliche Schulafähigkeit Zum psychiatrischen Beitrag für richterliche Entscheidungen über §§20, 21 und 63 StGB
SIEGFRIED HADDENBROCK
1. 15 Jahre nach einem vielbeachteten markanten Aufsatz zu Fragen des psychiatrischen Sachverständigenbeweises aus Sicht des in höchstinstanzlicher Rechtsprechung tätigen Strafrechtspraktikers (1962)1 hat sich Werner Sarstedt 19772 erneut zu Fragen der Kooperation und des Kompetenzverhältnisses von Richter und psychiatrischem Sachverständigen geäußert. Er hat sich dabei u. a. sehr kritisch auch mit meinem Vorschlag (1972,1974) auseinandergesetzt, sich bei Beurteilung der Schuldfähigkeit indiziell an der Verantwortungs- und Sühnefähigkeit des Täters zu orientieren. Diese Schlüsselbegriffe (wenn man will: Paradigmen i.S. von T. S. Kuhn1) schienen mir als strafrechtsspezifische Termini zu angemesseneren Kriterien strafrechtlicher Schuldfähigkeit hinzuleiten als das (somatogen-eng bis soziogen-weit interpretierbare) psychiatrische Krankheitsparadigma (und seine vagen Analogica und Diminutiva: krankhaft, krankheitsartig, krankheitswertig) oder das (pseudopsychologische) Freiheitparadigma i. S. eines Kalküls von mehr oder weniger eingeschränkter Selbstverfügung, Steuerungsfähigkeit oder Freiheitsgraden der - faktisch oder potentiell unrechtsbewußt handelnden - Tatzeitpersönlichkeit. Ich bin W. Sarstedt sehr dankbar für das kritische Interesse, das er meinem Vorschlag entgegengebracht hat, zugleich aber betroffen, daß er mich deswegen zu den psychiatrischen Fachkollegen zählt, die meinen, sich aufgrund langjähriger Sachverständigentätigkeit hinreichend juristische Kenntnisse angeeignet zu haben, um auch die Rechtsfragen bei Beurteilung der Schuldfähigkeit zu beherrschen (1977, S. 161) oder sich gar (S. 178) berufen fühlen (nach P. Bockelmann) „den lebensfremden und formalistischen Verschrobenheiten der Juristen gegenüber die Einsichten des gesunden Menschenverstandes zur Geltung zu bringen". 1
W. Sarstedt, Der Strafrechtler und der psychiatrische Sachverständige. Justiz 11 (1962)
110. 2 W. Sarstedt, Fragen des Sachverständigenbeweises zur Zurechnungsfähigkeit. In: Festschrift für E. Schmidt-Leichner, München 1977, S. 171. 3 Th. S. Kuhn, Neue Überlegungen zum Begriff des Paradigma. In: Th. S. Kuhn, Die Entstehung des N e u e n , Frankfurt/M. 1977, S. 389.
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Es mag etwas ungewöhnlich sein, ich möchte es aber dennoch wagen, meiner persönlichen Hochschätzung des Jubilars und meiner Dankbarkeit für seine klare und überzeugende Ordnung des Kompetenzverhältnisses zwischen Richter und psychologisch-psychiatrischem Richtergehilfen dadurch Ausdruck zu geben, daß ich versuche, mein Konzept nochmals aus der forensisch-psychiatrischen Praxis zu begründen und mögliche Mißverständnisse der Sache, wie auch meines eigenen Kompetenzverständnisses auszuräumen. 2. Was zunächst die Kompetenzfrage betrifft, habe ich seit vielen Jahren (1963, 1972, 1975/76, 1979) ebenso wie Witter, Breuer, Rasch u.a. psychiatrische Autoren betont, daß die Beurteilung der Schuldfähigkeit als solcher voll in die juristische Kompetenz fällt; daß es niemals Sache eines psychiatrischen oder psychologischen Sachverständigen sein kann, einem Täter die strafrechtliche Schuldfähigkeit abzusprechen, voll oder vermindert zuzusprechen, und daß auch die relativierte Aussage, „aus ärztlicher Sicht" seien die „Voraussetzungen" von §§20 oder 21 StGB gegeben oder nicht, lediglich den Charakter einer - in Ubereinstimmung mit der BGH-Rechtsprechung - zulässigen Meinungsäußerung haben kann, und auch dies sicher nur beschränkt auf spezialpräventive Gesichtspunkte. Unter letzteren sollte allerdings dem psychiatrischen Gutachter ein ernstgenommenes Mitberatungsrecht (in foro, nicht im Beratungszimmer) eingeräumt sein, weil er ja im Falle einer Entscheidung für §20 oder §21 StGB nicht selten mitverurteilt wird: nämlich dazu, bestimmte Rechtsfolgen aus dieser Entscheidung (wie z.B. eine §63-Unterbringung in seinem Krankenhaus) mitzutragen, d.h. aber bei Fehlentscheidungen mitzuertragen. Die maßregelrechtliche Unterbringung ex- und dekulpierter Täter bedeutet ja auch, daß der Psychiater bis zu einem gewissen Grade die Fremdverantwortung (für Rückfälle bei gelockerter oder aufgehobener Unterbringung) anstelle des von Selbstverantwortung teilweise oder ganz losgesprochenen Probanden zu übernehmen hat. 3. Sarstedt hat zutreffend gesagt, daß der Psychiater als Gehilfe des Gerichts bei Beurteilung der Schuldfähigkeit zum Strafrecht in ein „intimeres Verhältnis" tritt als andere, z. B. technische oder gerichtsmedizinische Sachverständige. Denn mit ihm erörtere der Richter „die Frage . . . nach dem eigentlichen inneren Sinn unseres Tuns gegenüber dem Angeklagten. Haben wir überhaupt einen Menschen vor uns, den zu strafen einen vernünftigen Sinn hat? Ist er, wenn strafrechtliche Schuld so viel ist wie Vorwerfbarkeit, überhaupt ein tauglicher Adressat für den Vorwurf, der gegen ihn erhoben wird?" Das seien Fragen, „die nur aus dem Mittelpunkt des Strafrechts heraus gestellt werden können" (1962,
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S. 110). Er fährt fort: zur Beantwortung dieser - rein rechtlichen! Fragen besteht die unterstützende Aufgabe des Sachverständigen „darin und beschränkt sich darauf, zu erforschen und zu beschreiben, wie es im Kopf des Täters zur Tatzeit ausgesehen hat" (1962, S. 111). Darüber hinaus habe sich das psychiatrische Gutachten aber auch auszusprechen, ob eine festgestellte und näher beschriebene Störung zur Folge hatte, daß das Einsichtsvermögen oder/und das Hemmungsvermögen bei der Tatbegehung eingeschränkt oder aufgehoben war (wobei sachlogisch bei Feststellung aufgehobener Einsichtfähigkeit die Frage nach der Hemmungsfähigkeit entfällt); anderenfalls sei das Gutachten für das Gericht unverwertbar. Aber: abschließend könnten diese Fragen vom Sachverständigen noch nicht beantwortet werden, weil „in beiden nämlich als juristische Komponente die Frage steckt, welche Anstrengung man von jemandem verlangen kann, damit er etwas (das Normgebot oder -verbot, Ref.) einsieht . . . und damit er dieser Einsicht gemäß handelt . . . Weder das Fehlen der Einsichtsfähigkeit noch das Fehlen des Hemmungsvermögens ist nämlich ein Befund, der sich unter rein ärztlichen Gesichtspunkten an dem Untersuchten erheben ließe. Die Ansprüche der Rechtsordnung können dann nämlich sehr verschieden sein" (1962, S. 116). Das Gesetz entbinde allerdings mit den seit 1933 aufgenommenen „psychologischen" Voraussetzungen den Psychiater und den Richter von der Aufgabe sich eine vollständige Innenansicht des Täters zu verschaffen. Die Vereinfachung gehe so weit, daß man es u.U. sogar dahingestellt sein lassen könne, ob der Täter an einem der Zustände des §20 StGB leidet, „wenn sich nur eine Uberzeugung darüber gewinnen läßt, daß er Einsichts- und Hemmungsvermögen besaß" (1962, S. 116). Etwas widersprüchlich hierzu hatte Sarstedt allerdings zuvor (1962, S. 115) geschrieben, daß die zweite psychologische Frage der Zurechnungsnorm gar nicht laute, ob der Täter „ein Hemmungsvermögen hatte, das nicht eingesetzt zu haben ihm zum Vorwurf gemacht wird. Die Frage lautet hicht, ob er sich hätte beherrschen können . . . die Frage lautet vielmehr, woran es lag, daß sie (das Hemmungsvermögen oder die Hemmungen, Ref.) nicht ausgereicht haben. Lag es an etwas, wofür wir (wir Strafrichter!) den Täter verantwortlich machen oder lag es an etwas wofür wir ihn nicht verantwortlich machen: lag es am Charakter oder lag es an einer Krankheit?". - Hier wurde also von Sarstedt doch der - juristische - Krankheitsbegriff zum entscheidenden Kriterium erhoben.
4. In seiner jüngeren Arbeit ruft Sarstedt dem Richter wiederum ein sapere aude zu und exemplifiziert an (pädophilen, sadistischen und exhibitionistischen) Triebtätern, daß „gerade in die Beurteilung des Hemmungsvermögens eine mehr rechtliche als ärztliche Würdigung eingehen muß" (S. 173). So habe in § 183 StGB bereits der Gesetzgeber berücksichtigt, daß es sich beim Exhibitionismus um eine seelische Störung, etwas Krankhaftes oder Abartiges handelt und dementsprechend den Strafrahmen so niedrig gehalten, daß hier eine Rechtsfolgegestaltung gemäß §21
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StGB gegenstandslos sei; gesetzlich sei aber auch vorabentschieden, daß das Hemmungsvermögen niemals aufgehoben ist, sonst hätten diese stets abartigen Täter auch nicht mit noch so milder Strafe bedroht werden können! Ebenso sei es eine Frage des Rechts, ob von Rechtsgenossen mit pädophil oder sadistisch abweichender Triebrichtung eine ähnliche Selbstbeherrschung bei Strafe gefordert werden kann wie von einem „normalen" Menschen angesichts „normaler" Versuchungen, nämlich keine jungen Menschen zu verführen und von Gewalt abzusehen. Die Frage des Hemmungsvermögens sei wohl immer dann zu bejahen, wenn zum einen der Täter bei anderer Gelegenheit einer vergleichbaren Versuchung zu widerstehen vermochte und wenn zum anderen auch bei einem sexuell Abartigen „die Angst vor Strafe als Beweggrund zum rechtstreuen Verhalten in Betracht k o m m t . . . Für diese Entscheidung ist die Psychiatrie - allenfalls - eine Hilfswissenschaft der Jurisprudenz". Der Richter dürfe sie sich „keinesfalls vom Sachverständigen aus der Hand nehmen lassen" (1977, S.173). Wir meinen, daß hier juristischerseits doch der kompetenten Sachkunde psychiatrischer und sexuologischer Erfahrungswissenschaft zu wenig Rechnung getragen ist. Von ihr wurde z. B. empirisch festgestellt - was der Richter aus allgemeiner Lebenserfahrung nicht wissen kann - daß gegenüber einem lediglich quantitativ übermäßigen normalen Geschlechtstrieb die Penetranz qualitativ sexualneurotisch-pervertierter Triebdynamismen oft unvergleichlich stärker ist. Zutreffender kann sie verglichen werden mit dem ebenfalls qualitativ besonderen - Zustand ausgeprägter Alkohol- oder Drogen-Süchtigkeit. Echte Sexualperversionen haben einen der sozialen und gesundheitlichen Autodestruktion des Toxikomanen vergleichbar ähnlichen selbstzerstörerischen Charakter, denn das Triebziel wird auch ohne Rücksicht auf die eigene wirtschaftliche, familiäre und gesellschaftliche Existenz bei hohem Strafrisiko immer wieder dranghaft, zwangshaft verfolgt. Anders gesagt: bei erhaltener Handlungssteuerung (Suchen günstiger Tatgelegenheiten, vorübergehendes Aufschieben der Triebbefriedigung unter hochriskanten äußeren Umständen) erweist sich die Antriebssteuerung (die Fähigkeit zur Beherrschung oder Richtungsänderung des kriminell-perversen Sexualantriebes als solchem) infolge eines neurotisch-psychopathologischen Geschehens erheblich eingeschränkt bis aufgehoben. Es kann daher - wie dies der B G H in einer Entscheidung vom 30.3.1962 4 sehr richtig gesehen hat - aus der Tatsache der Triebbeherrschung in ungünstiger Tatsituation nicht der Schluß gezogen werden, „also" sei der Täter auch imstande, der Versuchung bei günstigen Gelegenheiten zu widerstehen.
Während demnach Sarstedt 1977 selbst die potentielle Wirkung von Strafdrohung und Bestrafung (die Angst vor Strafe als Motiv für Rechtstreue) zum Kriterium des „Hemmungsvermögens" (des voluntativ-psychologischen Merkmals von § § 2 0 , 21) und damit der Schuldfähigkeit erhebt, widerspricht er im letzten Teil seiner Ausführungen meinem (in Ubereinstimmung mit Witter stehenden) ganz ähnlichen Vorschlag, die Strafempfänglichkeit - von mir anthropologisch als Sühnefähigkeit bezeichnet - als ein Kriterium der Schuldfähigkeit zu handhaben. Er 4
N J W 1962, 779.
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argumentiert, daß es zwar f ü r den A r z t einen „vernünftigen Sinn" habe, von einer wirkungslosen Behandlung (hier: der Strafreaktion) abzusehen und statt dessen eine andere Behandlung (hier: sozialtherapeutische und sichernde Maßregeln) anzusetzen. D e m Richter sei es dagegen von der geltenden Rechtsordnung nicht erlaubt, einen sühneunfähigen Täter ohne Strafe zu lassen, auch nicht einen „sexuellen Triebtäter, dessen perverse Getriebenheit so stark ist, daß von Strafabschreckung und Strafpädagogik allein kein rückfallsverhütender Effekt zu erwarten wäre" (.Haddenbrock\ 1974, S.40). Das Mißverständnis liegt einmal - wie schon gesagt - darin, daß wir Psychiater doch wohl nicht zu Unrecht meinen, von unseren Erfahrungen mit Triebstörungen und ihrer im Einzelfall mehr oder weniger starken Penetranz her kompetent etwas dazu sagen zu können, ob speziell bei dem durch uns genauer untersuchten Probanden i. S. Sarstedts „die Angst vor Strafe als Beweggrund zum rechtstreuen Verhalten in Betracht k o m m t " . Z u m anderen w u r d e offenkundig übersehen, daß auch Psychiater sich bewußt sind, daß die Prognose (von spezialpräventiver Strafunwirksamkeit, von „Sühneunfähigkeit") nicht ohne weiteres zur „Regnose" der Schuldfähigkeit bei einer bestimmten (begangenen) Tat zu einem bestimmten (vergangenen) Zeitpunkt gemacht werden darf! Das wäre - so weit kennt auch der forensische Psychiater die Strafrechtordnung - contra legem. Ich habe daher schon im - von Sarstedt wohl überlesenen - Folgesatz meines vorstehend aus seiner Zitierung wiedergegebenen Textes deutlich gemacht, daß die faktisch erwiesene oder/und mit hoher Wahrscheinlichkeit voraussehbare - auch selbstzerstörerische - Strafunwirksamkeit lediglich herangezogen werden darf als auch ein Indiz verminderter Steuerungsfähigkeit bei der Anknüpfungstat. Mein Folgesatz lautet nämlich: „Solche Täter sind offensichtlich in ihrer Persönlichkeit so abnorm strukturiert, daß sie deswegen auch zur Tatzeit unfähig, zumindest nur erheblich vermindert fähig waren, gemäß gegebener Unrechtseinsicht normgerecht zu handeln." Gleichsinnig hatte ebenfalls Witter* (1976, S. 734) im Hinblick auf den Tatzeitbezug von §§ 20,21 StGB bemerkt, daß man die erwiesene oder mit guten Gründen vermutete Strafunempfänglichkeit des Täters als auch ein Indiz für die Einschränkung der Hemmungsfähigkeit bei Tatbegehung interpretieren kann. 5. Wir folgen Sarstedt gerne darin, sich von unfruchtbaren Diskussionen und Polemiken über den forensisch relevanten Krankheitsbegriff und seine Diminutiv- und Analogie-Abkömmlinge des Krankhaften, 5
S. Haddenbrock, Der Psychiater im Strafprozeß. D R i Z 1974, 37. H. Witter, Die Bedeutung des psychiatrischen Krankheitsbegriffes für das Strafrecht. Festschrift für Richard Lange, B e r l i n - N e w York 1976, S. 723. 6
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Krankheitsartigen und Krankheitswertigen zu befreien. Es kann der Gerechtigkeit und Rechtssicherheit wenig dienen, wenn man einschneidende Rechtsfolgen abhängig macht von akademischen Auffassungsdifferenzen über Krankheit und Kranksein, über einen engen oder weiten, einen theoretischen oder pragmatischen, einen medizinisch-somatischen oder rein psychopathologischen, über einen juristisch-sozialen oder ärztlich-therapeutischen Krankheitsbegriff. Das 1975 neu normierte Diagnosesystem der §§20, 21 hat ja den klassischen Krankheitsbegriff auch reformgesetzlich obsolet gemacht. Denn als „krankhafte seelische Störung" ist gewiß auch eine (ggfls. kriminogene) Neurose anzusehen, und andererseits ist eine noch so „tiefgreifende" Bewußtseinsstörung im affektiven Ausnahmezustand ebenso wenig etwas Krankhaftes, wie der „Schwachsinn" und wie die „schwere seelische Abartigkeit" mit ihren fließenden Ubergängen in die seelische „Artigkeit", sprich Normalität. Aus dieser Emanzipation der Beurteilung strafrechtlicher Schuldfähigkeit vom Krankheitsbegriff (bzw. - was etwa gleichbedeutend ist - aus dessen forensischer Abwertung durch seine juristische Ausweitung) folgt sachlogisch ihre vikariierende stärkere Anbindung an andere, damit aufgewertete Kriterien. Das aber wären de lege lata die sogenannten „pychologischen" Voraussetzungen. Venzlaff7 geht so weit, zu sagen, daß deren Primat durch die Neufassung der §§20, 21 „eindeutig festgelegt" wurde. Und nach Sarstedt hätte schon deren deutlichere Scheidung von den „biologischen" Voraussetzungen in der Novellierung von 1933 der Rechtsprechung die - von ihr „nicht genutzte" - Chance geboten, in zahlreichen, „auch schwierigen" Fällen die Beurteilung der Schuldfähigkeit ohne psychiatrische Fachhilfe selbständig vorzunehmen (1977, S. 172). Mit der eingangs gemachten Einschränkung, daß selbständige Entscheidungen der Gerichte über die Schuldfähigkeit nicht dazu führen sollten, unter den Voraussetzungen von §§20 oder 21 und 63 StGB Probanden unangemessen anstatt in Strafanstalten in psychiatrische Krankenhäuser einzuweisen, würde auch ich es mit Sarstedt begrüßen, wenn die Gerichte künftig wieder seltener psychiatrische Sachverständige beizögen. Und auch in diesem Sinne war mein Vorschlag gedacht, Indizien der „Einsichts- und Steuerungsfähigkeit" bei Tatbegehung nicht durch Orientierung an einem medizinisch-psychiatrischen Paradigma zu suchen, d. h. nicht am Krankheitsbegriff als konventioneller Modellvorstellung, sondern an strafrechtspezifischen und richterlicher Beurteilung unmittelbarer zugänglichen „Fähigkeiten". Als solche meinte ich die Verantwortungsfähigkeit und die Sühnefähigkeit herausstellen zu sollen. 7 U. Venzlaff, Methodische und praktische Probleme nach dem 2. Strafrechtsreformgesetz. Nervenarzt 48 (1977) 253.
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Daß letztere auch in der Methodik von Sarstedt ihren Platz hat (Angst vor Strafe als potentielles Motiv für Rechtstreue indiziert „Hemmungsvermögen") habe ich zu zeigen versucht. 6. Ich meine weiter, daß - richtig verstanden - ebenfalls die (mangelnde, eingeschränkte bzw. uneingeschränkte) Fähigkeit eines Angeklagten sich in foro zu verantworten (und zwar sinnvoll, allgemeinmenschlich verständlich) ein anderes juristisch brauchbares, d.h. vom Gericht weitgehend selbständig beurteilbares Indiz für aufgehobene, verminderte oder volle Schuldfähigkeit bei Tatbegehung ist. Um den in Sarstedts Kritik zutage getretenen Mißverständnissen auch dieses Ansatzes abzuhelfen, die ich durch eine unzureichende Begründung meines Vorschlages wohl selbst verschuldet habe, sei dies hier etwas ausgreifender nachgeholt. Die Aberkennung der strafrechtlichen Zurechnungs- oder Schuldfähigkeit bzw. ihre nur verminderte Zuerkennung ist unbestreitbar ein Selektionsvorgang, der aus den Regelfällen „normaler" strafrechtlicher Normenadressaten diejenigen Täter herausliest (um sie aus subjektiven Gründen freizusprechen oder milder zu bestrafen und ggf. anderen als strafrechtlichen Sanktionen zu unterwerfen), welche als Ausnahmefälle eben keine normalen Normenadressaten sind. Diese - methodisch negative - Selektionsaufgabe bedarf als Vergleichsmaßstab eines Positivbildes der spezifischen Eigenschaften oder Fähigkeiten des rechtsunterworfenen Bürgers, die ihn zu einem normalen Adressaten von Strafbestimmungen machen. Da wir unter dem Gesetz eines menschlichen Tatschuld-Strafrechts stehen, lautet diese Grundfrage genauer gefaßt: welche spezifischmenschliche Fähigkeit kennzeichnet positiv die „Tatzeitpersönlichkeit" des normalen ( = schuldfähigen) Normenadressaten? Der Große Senat des B G H hat darauf in einer maßgebenden Entscheidung 1952 diese positive Antwort gegeben: „Der innere Grund des Schuldvorwurf liegt darin, daß der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden . . . sobald er die sittliche Reife erlangt hat und solange die Anlage zur freien sittlichen Selbstbestimmung nicht durch die in § 51 StGB genannten krankhaften Vorgänge vorübergehend gelähmt oder auf die Dauer zerstört ist." Hier ist also höchstrichterlich judiziert, daß „durch" die in der Schuldfähigkeitsnorm aufgeführten psychisch-abnormen Zustände, die - den Schuldvorwurf begründende - „Anlage zur freien sittlichen Selbstbestimmung" vorübergehend oder auf die Dauer (gem. §21 StGB auch mehr oder weniger) außer Funktion gesetzt werden kann. Die entsprechende Formulierung des Gesetzes, daß ohne Schuld handelt (bzw. milder bestraft werden kann), wer „wegen" . . . unfähig (bzw. erheblich vermindert fähig) ist,
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„das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln", führt zu dem logischen Schluß, daß die unbeeinträchtigten Fähigkeiten, Tatunrecht einzusehen und danach normgerecht zu handeln, daß m. a. W. Normorientierungs- und Normbefolgungsfähigkeit identisch sind mit dem, was der B G H als die spezifisch-menschliche Befähigung bzw. Anlage zur „freien sittlichen Selbstbestimmung" normiert hat. Im Gegensatz nun zu einigen forensischen Psychiatern, die mit dem spezifisch-schuldstrafrechtlichen, d. h. normativ gemeinten Freiheitsparadigma auch auf der empzmc^-seinswissenschaftlichen Ebene - m. E. rechtsphilosophisch und anthropologisch unbedacht - operieren und meinen, mit fachpsychiatrischem Sachverstand „gnostische" Aussagen über die Freiheitlichkeit oder Selbstverfügung, über die Freiheit bzw. Freiheitsgrade des Wollens bei einer kriminellen Handlungsentscheidung machen zu können (wie Müller-Suur, W. v. Baeyer, Ehrhardt, Venzlaff, Kisker), besteht in der Strafrechtswissenschaft heute ein „agnostischer" consensus omnium, daß solche Aussagen empirisch-kasuistisch nicht möglich sind, daß die Frage der Willensfreiheit (auch in ihren pseudopsychologischen Verklausulierungen) nicht beantwortbar und damit als konkretisierbare Beweisfrage strafrechtlich irrelevant ist. Das haben Sarstedt schon 1962 und P. Bockelmann8 1963 mit aller Deutlichkeit gesagt, H.H. Jescheck9 und Th. Lenckner10 haben es 1972 wiederholt, J. Krümpelmannu, G. Stratenwerth12 und C. Roxin13 haben es in jüngerer Zeit (1976 bis 1979) nochmals unterstrichen. Die den strafrechtlichen Schuldvorwurf normativ begründende „freie sittliche Selbstbestimmung" (BGH) ist - so etwa läßt sich die Position der modernen Strafrechtswissenschaft resümieren - empirisch nichts anderes als eine normale „Motivationsfähigkeit" (]. Krümpelmann) oder „normative Ansprechbarkeit" (C. Roxin). Wie nun ließe sich „Schuldfähigkeit" eines Kriminaltäters bei Tatbegehung in diesem strafrechts-pragmatisch-positiven Sinne ermitteln? Ich meine nächstliegend dadurch, daß dem Täter im richterlichen Dialog (hilfsweise bei der psychiatrischen Exploration) die forensischen Urfragen gestellt werden: Warum hast du das getan? Was hast du dir dabei " P. Bockelmann, Willensfreiheit und Zurechnungsfähigkeit. ZStW 75 (1963) 372. H. H. Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts. 2. Aufl., Berlin 1972, S. 305. 10 Th. Lenckner, Strafe, Schuld und Schuldfähigkeit. Hdbch. d. for. Psychiatrie I (1972), S. 95. " ]. Krümpelmann, Die Neugestaltung der Vorschriften über die Schuldfähigkeit . . . ZStW 88 (1976) 11, 32/33. 12 G. Stratenwerth, Die Zukunft des strafrechtlichen Schuldprinzips. Heidelberg-Karlsruhe 1977, S. 17, 20, 28. 13 C. Roxin, Zur jüngsten Diskussion über Schuld, Prävention und Verantwortlichkeit im Strafrecht. In: Festschrift für P. Bockelmann, München 1979, S.291. 9
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gedacht? Was hat dich dazu veranlaßt oder getrieben? Wenn sich dabei herausstellt, daß der Täter (faktisch- oder bei zumutbarer „Gewissensanspannung" potentiell-unrechtsbewußt) die Straftat aus bestimmten unter normalen Menschen verständlichen, d.h. sinnvollen, wenn auch sozial nicht zu billigenden Motiven beging, indiziert diese (in den meisten Fällen vom Richter ohne Sachverständigen getroffene) Feststellung seiner Fähigkeit, sich sinnverständlich und einfühlbar zu verantworten, auch seine normale Motivationsfähigkeit bzw. normative Ansprechbarkeit beim Tathandeln und damit positiv die strafrechtliche Schuldfähigkeit. In diesem Sinne sehen wir in der konkreten Verantwortungsfähigkeit den Hauptindikator, den wichtigsten „Test" für die Intaktheit der spezifisch-humanen - „geistigen" - Funktion, welche in menschlichen Gesellschaften die judikable soziale Schuldfähigkeit begründet. Mit unserem Standpunkt können wir uns auch auf einen so namhaften Strafjuristen wie Edmund Mezger berufen. In seiner Schrift „Das Verstehen als Grundlage der Zurechnung" (1951) hat Mezger14 auf S. 29-51 ausführlich den Fall eines jungen Soldaten mitgeteilt, der als Einzelbegleiter eines KZ-Häftlings diesen auf dem Transportweg erschossen hatte. Entgegen dem psychiatrischen Gutachten, daß die Tat möglicherweise unter dem Einfluß einer schizophrenen Erkrankung begangen wurde, verneinte das Berufungsgericht seine Schuldunfähigkeit. Und zwar deswegen, weil der Angeklagte in detaillierter Selbstdarstellung seines Motivationsprozesses und der Entscheidung zur Tat diese normalpsychologisch voll verstehbar und einfühlbar machen konnte; m. a. W. wegen seiner überzeugenden Verantwortungsfähigkeit. Da es^allein um die Verantwortungs/¿A¿g&e¿£ geht, ist es nur eine sekundäre, ermittlungstechnische Frage, bei einem den forensischen Dialog verweigernden oder die Tat bestreitenden Angeklagten aus anderen beweisfähigen Umständen der Tatbegehung und des Täterverhaltens vor, bei oder nach der Tat (z.B. aus einer verständlichen Affekt- oder Bedürfnislage des Täters) Schlüsse darauf zu ziehen, ob er fähig wäre, eine im Kontext seines Charakters und der persönlichen Umstände offenkundig sinnvoll motivierte Tat auch in foro verbal zu verantworten. Dies ist auch beim passiven oder leugnenden Angeklagten unschwer dann zu bejahen, wenn die - objektiv nachgewiesene - Tat normal- und individualpsychologisch nachvollziehbar eingebettet ist in den besonderen charakterlichen, biografischen und situativen Lebenszusammenhang des Täters; wenn sich m.a. W. in der Tathandlung - anders wie bei einer schizophrenen Wahntat oder Delikten aus hirnpathologischer Gesinnungs- und Verhaltensdepravation - keine Zerreißung oder unverstehbare Deformation der Sinnkontinuität (K. Schneider) seines individuellen Lebensschicksals offenbart. Denn: menschlich-normal (und d.h.
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normativ: „frei" und schuldfähig) hat derjenige gehandelt, dessen Verhalten als Mensch unter Menschen von seiner individuellen Charakter-, Temperaments-, Gesinnungs- und Situationsstruktur bestimmt wurde und der dementsprechend für fähig zu halten ist, so wie jedermann über jedes Alltagsverhalten zur Rede gestellt, Rede zu stehen, sich zu verantworten. Was für den in foro schweigenden oder leugnenden Täter gilt, gilt auch für die von Sarstedt gegen mein Konzept ins Feld geführten - relativ seltenen - Fälle in denen der Täter nach Begehung der Tat, entweder schon unmittelbar danach oder in der - mitunter sehr langen - Zwischenzeit bis zum Gerichtstag vorübergehend oder auf Dauer eine andere, eine inzwischen psychisch genesene oder krank gewordene oder senil abgebaute Persönlichkeit geworden ist. Beispiele sind: Der schuldhafte Verkehrsdelinquent mit umschriebener retrograder Amnesie für sein Fehlverhalten wegen einer beim Unfallgeschehen davongetragenen Schädelverletzung; der nach dem Verbrechen flüchtend durch eine Polizeikugel schwer hirnverletzte und hierdurch persönlichkeitsveränderte Täter; der nach einer normal motivierten Tat später schizophren gewordene oder der nach einer Wahntat später psychisch gesund gewordene Täter; der erst als Erwachsener für ein Jugenddelikt angeklagte Täter; der nach langjähriger Fahndung und Ermittlung für im dritten Lebensjahrzehnt begangene Kriegsverbrechen im hohen Alter vor Gericht gestellte und evtl. senil veränderte Täter. - In all diesen Fällen ist die „Verhandlungszeitpersönlichkeit" eine andere als die „Tatzeitpersönlichkeit" der gleichen Person. Hier wird offensichtlich, daß die aktuelle
der Hauptverhandlung
eine zweigliedrige
Verantwortungsfähigkeit
in
Leistung ist.
Sie setzt erstens voraus, daß die Willensentscheidung zur (zeitlich formuliert: bei) Tatbegehung ein normaler menschlich-geistiger (d.h. in reflexiv-selbstdialogischer Distanz zu und mit der eigenen Person getroffener und sinnvoll motivierter) Vorgang war. Ein Vorgang, der im Sinne von E. Mezger14 (1951, S. 9) ein objektives Verstehen dadurch ermöglicht, daß er in einen sinngesetzlichen Zusammenhang eingereiht werden kann und für normales und sachkundiges Denken und Empfinden evident und einleuchtend ist. Als solcher begründet er die - immer tatzeitbezogene strafrechtliche Schuldfähigkeit. Sie setzt zweitens voraus, daß der Täter als Angeklagter in der Gerichtsstunde fähig ist, sein Tathandeln normal zu erinnern, d. h. es als seine damalige persönliche Willenshandlung sich zu vergegenwärtigen, seine Motivation und seine Handlungsentscheidung retrospektiv zu reflektieren, um als vom Richter zur Rede Gestellter darüber Rede stehen 14
E. Mezger,
Das Verstehen als Grundlage der Zurechnung. München 1951.
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zu können. Dieses Können begründet Verhandlungsfähigkeit, juristisch gekennzeichnet als die Fähigkeit „in oder außerhalb der Verhandlung seine Interessen vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Weise zu führen, Prozeßerklärungen abzugeben und entgegenzunehmen" (BGHSt. 2, 275). Selbstverständlich ist im Rahmen der Beurteilung von Schuldfähigkeit nur das erste Glied konkreter Verantwortungsfähigkeit relevant. Im Regelfall (in dem kein „Bruch", keine wesentliche Differenz zwischen Tatzeit- und Verhandlungszeitpersönlichkeit eingetreten ist) ist allerdings die Feststellung, daß der Angeklagte in foro sich sinnvoll verantwortend verteidigt (verteidigen kann oder könnte) ein Generalindiz dafür, daß er zur Tatzeit normal motiviert bzw. normativ ansprechbar und damit schuldfähig war. In Ausnahmefällen mit einer wesentlichen krankheits-, entwicklungs- oder abbaubedingten Differenz zwischen der Täterpersönlichkeit zur Tatzeit und zur Verhandlungszeit muß ebenso wie beim passiven oder leugnenden Angeklagten aus anderen beweisfähigen Indizien die Frage eines verantwortungsfähigen und damit schuldfähigen Handelns bei der Tatbegehung geklärt werden. Das aber ist bei einem zur Tatzeit geisteskranken und später geheilten Täter meist nicht allzuschwer im negativen Sinne möglich, wie bei einem erst nach der Tat hirngeschädigten, psychotisch gewordenen oder senil abgebauten Täter in positivem Sinne. Die Frage, ob und mit welchen Sanktionen in diesen seltenen Fällen ein Täter belegt werden soll, der als in foro verantwortungsunfähiger (verhandlungsunfähiger) Hirntraumatiker, Psychotiker oder dementer Greis eine Straftat noch im gesunden und seinerzeit verantwortungsfähigen (schuldfähigen) Zustand begangen hat oder umgekehrt als Genesener in foro wieder generell verantwortungsfähig (verhandlungsfähig) ist, nur (z. B. wegen retrograder Amnesie oder Vollrausch) für die Deliktszeit speziell verantwortungsunfähig bzgl. des Tatgeschehens, - diese Frage steht auf einem besonderen Blatt. Sie ist, wenn ich recht sehe, juristisch eher unter den Gesichtspunkten der Haftung für ein Gefährdungsdelikt (§ 323 a), auch der Haftvollzugsfähigkeit z. Z. der Urteilsfindung zu entscheiden. Und wohl auch danach, ob nicht in manchen Fällen ein generalpräventives Strafbedürfnis zu verneinen ist unter dem schon im römischen Recht enthaltenen humanen Gedanken, angesichts eines gleichwann eingetretenen psychischen Krankheitsschicksals Strafe entfallen zu lassen: furiosum fati infelicitas excusat, satis furore ipsepunitur. Der indizielle Wert der von mir vorgeschlagenen, und oft vom Richter auch ohne Sachverständigenhilfe beurteilbare Frageform nach der Verantwortungs- und Sühnefähigkeit eines Angeklagten (als spezifisch strafrechtlichen Kriterien der Schuldfähigkeit und ihrer defizienten modi)
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wird jedenfalls durch den Hinweis auf vorkommende Fälle mit einer existentiellen Differenz zwischen Tat- und Verhandlungspersönlichkeit nicht gemindert. 7. Es sei mir noch eine Schlußbemerkung gestattet, obwohl ich mit dieser wiederum nicht die von Sarstedt vom Sachverständigen so streng geforderte (allerdings von anderen Strafjuristen, wie z. B. H. L. Schreiber15, ebenso nachdrücklich abgeratene) „normative Abstinenz"übe. Als Krankenhauspsychiater jahrzehntelang verantwortlicher Betreuer von zahlreichen gemäß § 63 in meinem Krankenhaus maßregelrechtlich untergebrachten (meist nicht klinisch kranken, sondern „nur" schwer seelisch abartigen) Kriminaltätern habe ich eindringlich mit den Probanden erlebt, was der Umschlag von limitierter Freiheitsstrafe zur nicht limitierten freiheitsentziehenden psychiatrischen Krankenhausbehandlung bedeutet. In vielen Fällen gewiß ein Segen, wenn z . B . einem nach mehrfacher Rückfälligkeit vordem bloß verschärft und erfolglos bestraften neurotisch-psychopathischen Sexual- oder Betrugsdelinquenten erstmalig durch Zuerkennung verminderter Schuldfähigkeit (und damit von Selbstverantwortung etwas entlastet, wenn auch nicht ganz losgesprochen) sozialtherapeutische Hilfe zuteil wird und nur hierdurch ein circulus vitiosus (des durch wiederholte lange Haftzeiten gesteigerten sozialen Handikaps und damit wiederum provozierter labeling-Delinquenz) erfolgreich durchbrochen wurde. In anderen Fällen aber ein Fluch, wenn dem noch verantwortungs- und sühnefähigen Täter durch eine unangemessene psychiatrische Unterbringung der Persönlichkeitsschutz einer tatschwerebegrenzten Strafe genommen und dem Odium des „Kriminellen" noch das Odium eines „gefährlichen Verrückten" hinzugefügt wurde; und wenn ihm weit über die Strafzeit seiner (falls schuldfähig zugerechneten) Tat hinaus die Angst des Psychiaters vor einer falschen günstigen Prognose (wegen des dann ihn treffenden Vorwurfs bei einem delinquenten Rückfall seines Schützlings) die Entlassung aus der Unterbringung versperrt. Das führt dann verständlicherweise zu einem anderen circulus vitiosus, nämlich zu einem immer renitenteren Verhalten der langfristig Eingesperrten und deswegen zu immer ungünstigerer Prognosestellung. Solche Straftäter in psychiatrischen Krankenhäusern deplazierende Fehlentscheidungen und die hieraus folgenden tragischen bis dramatischen Entwicklungen (sie können von verzweifelten gewalttätigen Ausbrüchen und Selbstmordtendenzen bis zum „Anstaltsmord" führen, um wieder vor den gesetzlichen Richter zu kommen) können m. E. nur vermieden werden, wenn die Beurteilung der Schuldfähigkeit und 15 H. L. Schreiber, Was heißt heute strafrechtliche Schuld und wie kann der Psychiater bei ihrer Feststellung mitwirken? Nervenarzt 48 (1977) 246.
Psychiatrisches Krankheitsparadigma und strafrechtliche Schuldfähigkeit
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die etwaige Entscheidung über eine vikariierende oder addierte freiheitsentziehende Unterbringungsmaßregel auch unter rechts- und sozialstaatlichen Wertgesichtspunkten erfolgt. Man sollte sich m. a. W. bewußt sein, daß ein gemäß §§20, 21 StGB ex- oder dekulpierter Täter hierdurch die mit limitierter Tatschuldstrafe (mit dem Gesetzbuch als „magna carta des Verbrechers") gegebene volle Freiheitsgarantie des Rechtsstaates verliert und dafür - bei fortbestehender Gefährlichkeit gemäß § 63 StGB verurteilt - durch seine psychiatrische Behandlungsunterbringung die therapeutische und bewahrende Fürsorge des Sozialstaates gewinnt. Angesichts beider Wertkategorien sollte die des rechtsstaatlichen Freiheitsprinzips dem Kriminaltäter so weit als möglich erhalten bleiben. Statt dessen die sozialstaatliche Wertkategorie psychiatrischer Behandlung und Bewahrung sollte nur dem zuteil werden, der ihrer wirklich bedarf. Diese hier bewußt prinzipiell und hart gegenübergestellte Alternative (rechtsstaatlicher Freiheitsschutz durch tatbezogen zugemessene limitierte Schuldstrafe oder sozialstaatlich-helfende Bewahrungsmaßnahme vor kiminellem Rückfall durch täterbezogene nicht-limitierte Gefährlichkeitsbehandlung) ist allerdings in der Praxis gemildert zu sehen. Denn der moderne Strafvollzug soll zugleich resozialisieren, d. h. eine immer stärkere Behandlungskomponente erhalten; und eine freiheitsentziehende Sicherungs- und Behandlungsmaßregel enthält zugleich auch eine Straf- und Abschreckungskomponente und ist durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wenigstens relativ begrenzt. Die Alternative wäre weiter zu mildern, wenn sich die Gerichte nach dem Vorschlag von Blau16 (dessen Standpunkt auch Kohlhaas und Tröndle teilen) häufiger dazu entschließen könnten, in Grenzfällen mit der Strafe lieber an den oberen Rand des „Spielraums" zu gehen, wenn damit das spezialpräventive Element („Gefährlichkeit als Schuldmerkmal") von der Strafe mitübernommen werden kann und auf diese Weise die Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus vermeidbar erscheint.
16 G. Blau, Die Wechselbeziehung zwischen Strafurteil und Strafvollzug. MschrKrim 60 (1977) 338/339.
Entwicklungstendenzen der Strafverteidigung
RAINER HAMM
U m die Frage, ob es eine „neue Strafverteidigung" gibt, wird zur Zeit eine lebhafte Debatte geführt1. Eine „moderne" Strafverteidigung müsse sich mit dem überkommenen Bild eines dem staatlichen Machtapparat verpflichteten „Organs der Rechtspflege" (§ 1 B R A O ) befreien, sagen die einen2. Früher nicht gekannte Auswüchse bei der Verfolgung systemüberwindender, mit den Zwecken des Strafprozesses nicht mehr zu vereinbarender Ziele gelte es einzudämmen, sagen die anderen3. Die Gefahr einer übergroßen Identifizierung des Verteidigers mit seinem Mandanten, die bis zur Kumpanei und Komplizenschaft 4 heranreiche wird heraufbeschworen, während andererseits schon das Bestehen einer über die Einhaltung des Standesrechts wachenden Ehrengerichtsbarkeit für Rechtsanwälte als eine Fessel für eine engagierte Interessenvertretung empfunden wird 5 . Fragt man danach, was sich in unseren Strafgerichtssälen gegenüber „früher" geändert hat, so fällt der Blick zunächst auf einige exponierte Verfahren, die in den letzten Jahren unter der Bezeichnung Terroristenprozesse Schlagzeile gemacht und damit das Interesse der Öffentlichkeit auf sich gelenkt haben. Was diese Verfahren so allseits sichtbar vom altvertrauten Gerichtsalltag der Strafrechtspflege abzuheben schien, war
1 Uberblick über Diskussionsstand bei Beulke: Wohin treibt die Reform der Strafverteidigung? In: H. L. Schreiber (Herausgeber) Strafprozeß und Reform. Neuwied/Darmstadt 1979, S. 30ff.; vgl. auch Ingo Müller, Rechtsstaat und Strafverfahren. Frankfurt 1980 S. 208. 2 Holtfort, gegen die Mißdeutung des Begriffs „Organ der Rechtspflege", Recht und Politik 1077, 173 ff.; vgl. auch Holtfort KJ 1977, 213; Ingo Müller a. a. O. (Fn. 1); Knapp, Der Verteidiger - ein Organ der Rechtspflege, Köln 1974, S. 45ff.; Karl-Heinz Quack, Sinn und Zweck anwaltlicher Unabhängigkeit heute, NJW 1975, 1337. 3 Hans-Jochen Vogel, Strafverfahrensrecht und Terrorismus - eine Bilanz, NJW 1978, 1224 ff.; Josef Augstein, Verteidiger sind keine Komplizen, DIE W E L T vom 17. März 1979. 4 Vgl. hierzu insbesondere die Motive des Gesetzgebers zur Schaffung der am 1.1.1975 in Kraft getretenen gesetzlichen Regelung des Verteidigerausschusses (§§138 a ff. StPO), 138. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 18.12.1974, Drucksache 9515/17; Jürgen Welp, Die Rechtsstellung des Strafverteidigers, ZStW, Bd. 90 (1978) S.825. 5 Vgl. das Diskussionsprotokoll des 3. Strafverteidigertages vom 27.-19. April 1979, Schriftenreihe der Vereinigung Berliner Strafverteidiger e.V., Berlin 1979, S. 105ff.; Hermann Husmann, Verfassungsmäßigkeit der anwaltlichen Ehrengerichtsbarkeit, NJW 1970, 1070ff.; ders., Verfassungsmäßigkeit der Standesgerichtsbarkeit der freien Berufe, N J W 1971, 1021 ff.
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Rainer Hamm
zunächst einmal die konfliktreiche, bis zur persönlichen Feindseligkeit reichende Verhandlungsführung zwischen Gericht und Staatsanwaltschaft auf der einen und den Angeklagten und ihren Verteidigern auf der anderen Seite 6 . Diese mehr quantitative als qualitative Besonderheit war es jedoch noch nicht, was die Terrorismusprozesse von anderen unterschied. Erst der Vorwurf, die Angeklagten dieser Verfahren führten mit Hilfe ihrer Verteidiger den Kampf gegen die herrschende Rechtsordnung unter dem Schutze rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien und unter Mißbrauch der Verteidigerbefugnisse fort, sollte dem Gesetzgeber die Legitimation zum Eingreifen und das heißt zur Rücknahme eines wesentlichen Teils der bis 1967 betriebenen Liberalisierung des Strafverfahrens geben 7 . Gleichzeitig mit dieser Reaktion des Gesetzgebers auf die Terrorismusprozesse ist eine Entwicklung auf der Ebene der Rechtsprechung und Gerichtspraxis zu beobachten, die auf ein wachsendes Mißtrauen der Justizbehörden gegen die Anwaltschaft, soweit sie sich mit Strafverteidigung befaßt, als solche hindeutet. W i r gebrauchen dabei bewußt den Begriff der Gleichzeitigkeit, um die Diskussion nicht mit der Behauptung eines unbelegbaren Ursachenzusammenhangs zu belasten. Auch die Verwendung des Wortes „Mißtrauen" bedarf hier einer wichtigen Vorklärung. Wir meinen damit nicht mehr und nicht weniger als die in einer immer größer werdenden Zahl von Prozessen bestehende Befürchtung, die Durchführung des Verfahrens selbst könne durch Gründe, die in der Person des Verteidigers oder in seinem Verhältnis zum Mandanten liegen, gefährdet werden 8 . Das Auftreten dieser Problematik und die Tatsache, daß sie immer mehr an Bedeutung gewinnt, sind eng verbunden mit einer anderen Entwicklung, die völlig unabhängig von der „politischen" Einordnung der Prozesse verläuft: die Ausbreitung sogenannter Großprozesse'. Es gibt kaum noch ein Landgericht, bei dem nicht mindestens ein Verfahren mit mehr als fünfzig Verhandlungstagen anhängig ist. Auch Verhandlungen von mehrjähriger Dauer sind insbesondere in Wirtschaftsstrafprozessen längst keine Seltenheit mehr 10 . Vogel a. a. O. (Fn. 3). Peter Rieß, Das Strafverfahrensänderungsgesetz 1979, NJW 1978, 2265. 8 Welp a. a. O. (Fn. 4) S. 824. 9 Allgemein zur Problematik der Großverfahren: Grünwald, Gutachten zum 50. Deutschen Juristentag, München 1979; Referate Römer, Waldowski und Bruns, Diskussion, Sitzungsberichte (K) zum 50. Deutschen Juristentag, München 1974; Sack ZRP 1976, 257ff.; Dahs NJW 1974, 1538; Herrmann ZStW, Bd. 85 (1973), S. 255ff.; Schmidt JR 1974, 320; Redeker DRiZ 1975, 206. 10 Zur Statistik für NRW, vgl. Römer a.a.O. (Fn.9) S. Κ 31 ff.; Gerald Grünwald, a. a. Oö. (Fn. 9) S. C 1 0 ff. 6 7
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Es leuchtet ein, daß beispielsweise ein auf Aussetzung und Neubeginn einer Hauptverhandlung gerichtetes Verteidigerverhalten am 438. Verhandlungstag gegen Ende einer dreijährigen Hauptverhandlung in bezug auf Ziele und Zwecke des Strafverfahrens selbst eine andere Qualität (oder sollte man besser sagen: „Sprengkraft"?) hat als dasselbe Verhalten am Beginn einer eintägigen Sitzung des Schöffengerichts. Das gilt für den Beweisantrag auf Vernehmung eines innerhalb der Fristen des § 2 2 9 StPO nicht mehr erreichbaren Zeugen ebenso wie für die Ablehnung eines Richters oder die Niederlegung des Mandates. Damit stellt sich für den Anwalt die Frage, ob er die unter Umständen verfahrensgefährdenden oder sogar prozeßsprengenden Auswirkungen in seine Überlegungen und Beratungen über die sachliche Gebotenheit eines Vorgehens mit einbeziehen darf oder muß. Die Situation kann sich für ihn darüber hinaus so zuspitzen, daß ein Verteidigungshandeln, dessen zwangsläufige Folge ein „Platzen" der Hauptverhandlung wäre, die einzige Chance für seinen Mandanten ist (Verjährung § 7 8 c Abs. 3 Satz 2 StGB), und mancher Verteidiger mag auch schon vor der Frage gestanden haben, ob es dann nicht sogar zu seinen Pflichten gehört, durch Erfindung eines nur dem Ziele der Verfahrenseinstellung dienenden Scheinmanövers eine Bestrafung vom Mandanten abzuwenden. Die Antwort, daß so etwas aber wirklich die Grenzen des zulässigen überschreitet und mindestens standesrechtlich, wenn nicht auch strafrechtlich (§258 StGB) verboten ist11, läßt sich abstrakt ebenso leicht geben, wie die Abgrenzung zwischen Scheinanträgen und (auch) sachlich begründeten Schritten im Einzelfall schwerfallen kann. Aber nicht erst diese Grenzfälle, die den Verteidiger in echte Gewissenskonflikte bringen können, sondern schon seine gesetzlich zwingend vorgeschriebene ununterbrochene Anwesenheit führt bei Großverfahren zu Problemen, die einen völlig neuen Wertbegriff haben entstehen lassen, den der Verfahrenssicberung12. Hier hat eine Unterlassungssünde des Gesetzgebers dazu geführt, daß in der Anwaltschaft der (falsche?) Eindruck entstanden ist, die Sorge um die Verfahrenssicherung sei ein einseitig gegen sie gerichteter Disziplinierungsversuch. Es muß bei nüchterner Betrachtung durchaus eingeräumt werden, daß die Befürchtung, ein Großverfahren könne nach einer personal- und kostenaufwendigen Hauptverhandlung schließlich am Ausscheiden oder an der vorübergehenden, die Fristen des § 229 StPO überschreitenden Verhinderung des Verteidigers scheitern, keinen persönlichen Vorwurf beinhalten muß. Dieselbe Sorge hat nämlich für die 11
Dahs,
Taschenbuch des Strafverteidigers, 2. Auflage 1979, R d n . 4 1 : „Auch bewußte
Verzögerung des Strafverfahrens . . . kann strafbare Strafvereitelung sein." 12
Welp
a . a . O . ( F n . 4 ) S . 8 0 4 f f . (821).
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Rainer H a m m
Mitglieder eines Richterkollegiums längst zur Einführung von Ergänzungsrichtern (§ 192 GVG) geführt, während der Staatsanwalt ohnehin austauschbar ist. Durch die Anwendung des § 192 GVG unterstellt auch niemand „den Richtern", sie würden mitten in einer Hauptverhandlung unter Vorgabe nicht bestehender Gründe sich aus dem Verfahren zurückziehen, um einen Prozeß platzen zu lassen, wenn sich abzeichnet, daß sie im Kollegium in die Minderheit geraten. Ebensowenig hätte jemand dem Gesetzgeber eine „verteidigerfeindliche" Haltung angelastet, wenn er die längst fällige Reform des Rechts der Pflichtverteidigung und insbesondere des § 143 StPO vorangebracht hätte. Dagegen mußte der Ausweg, daß die Gerichte sozusagen in ständiger Praxis geltendes Recht (§ 143 StPO) verletzen, indem neben dem gewählten Verteidiger ein „aufgezwungener Pflichtverteidiger" bestellt wird, den nahezu geschlossenen Widerstand der Anwaltschaft heraufbeschwören 13 . Wir wagen die Behauptung, daß dieses Versäumnis des Gesetzgebers sehr viel mehr zur Vergiftung des Verhandlungsklimas in vielen Prozessen beigetragen hat als die Praktiken mancher Anwälte, denen die rechtspolitischen Aktivitäten dann in so übergroßen Eifer gegolten haben. Das Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und Verteidiger ist nun einmal ein so essentieller Bestandteil der Strafverteidigeridee 14 , daß die Vorstellung, ein mit allen Rechten ausgestatteter „Zwangsverteidiger", der auch noch contra legem dem Angeklagten aufoktroyiert wird, auf den liberalen Anwalt wirken mußte wie das gerichtlich verordnete Konkubinat auf die streng katholische Ehefrau 15 . Es kommt hinzu, daß die die Verteidigung betreffenden Gesetzesänderungen der jüngsten Zeit durchweg weder geeignet sind, hie und da auftretende Mißstände zu beseitigen, noch sich aus ihrem aktuell-historischen Anlaß heraus rechtfertigen lassen16. Das Verbot der Mehrfachverteidigung (§ 146 StPO) ist zur Vermeidung von Interessenkonflikten ebenso ungeeignet wie über dieses Ziel hinausschießend 17 . Dasselbe gilt
13 Als Beispiel Erich Schmidt-Leichner. Strafverfahrensrecht 1975 Fortschritt oder Rückschritt? N J W 1975, 418 ff. 14 Dahs, a . a . O . (Fn. 11), R d n . 9 . 15 Welp a. a. O . (Fn. 4) S. 823, 824: „Da der Strafverteidiger als Instrument der Verfahrenssicherung das gerichtliche Mißtrauen gegen den Beschuldigten und seinen Verteidiger repräsentiert, ist es wenig wahrscheinlich, daß er mit dem Wahlverteidiger zu einer sinnvollen Arbeitsteilung gelangt." 16 Dahs, Das „Anti-Terroristen-Gesetz" - eine Niederlage des Rechtsstaates. N J W 1976, 2145. 17 Krämer, Die gemeinschaftliche Verteidigung i.S. d. §146 StPO, N J W 1976, 1664, der § 146 als Beschränkung der Berufsfreiheit ansieht und sich insoweit auch mit der neueren Rechtsprechung hierzu auseinandersetzt; G ü n t h e r Heinicke, Das Gemeinsame beim „gemeinschaftlichen Verteidiger" i.S. d. § 146 StPO, N J W 1978, 1497.
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für die Beschränkung der Zahl der Wahlverteidiger auf drei18. Die Regelungen über den Ausschluß des Verteidigers (§ 138 äff. StPO) gehen von der Fiktion aus, daß sich unterhalb der Schwelle des zur Eröffnung des Hauptverfahrens hinreichenden Tatverdachtes der Beteiligung an einer Tat aber oberhalb des für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ausreichenden („einfachen") Verdachts eine weitere Abstufung vornehmen l ä ß t - eine begriffsjuristische Uberdifferenzierung, die spätestens mit den Beschlüssen zweier Senate des Kammergerichts ad absurdum geführt wurde: in derselben Sache wurde einem (in Haft befindlichen!) Verteidiger von einem Senat bescheinigt, daß der zur Ausschließung erforderliche Verdacht nicht bestehe19, während dem einem anderen Senat angehörenden Ermittlungsrichter die von der Bundesanwaltschaft vorgelegten Beweismittel noch ausreichten, sogar den dringenden Tatverdacht zu bejahen20. Schließlich sei noch das in einem geradezu notstandsähnlichen Gesetzgebungsverfahren zustandegekommene Kontaktsperregesetz erwähnt, das auf eine partielle Abschaffung der Strafverteidigung hinausläuft und dessen Wiederaufhebung von libe : ralen Politikern deshalb mit Recht als vordringlich angesehen wird21. Es kann niemanden verwundern, daß in einer Zeit so hektisch nervöser gesetzgeberischer Aktivitäten, die bisher alle auf eine Fesselung der Strafverteidigertätigkeiten hinausliefen, auch viele Richter sich ermuntert sahen, in dieselbe Kerbe zu hauen. Während jedoch die gesetzlichen Einschränkungen der Verteidigerrechte im Bundesgesetzblatt veröffentlicht wurden und damit jedermann zugänglich sich der öffentlichen Beurteilung und Kritik stellen, spielen sich die Veränderungen in der Stellung des Strafverteidigers vor Gericht, soweit sie sich im Verhalten von Richtern und Staatsanwälten widerspiegelt, mehr atmosphärisch und damit weniger generell nachweisbar und teilweise nur schwer verbalisierbar ab. Um so mehr gehört es zur Vollständigkeit des hier nachzuzeichnenden Bildes der Wirklichkeit, auch daraufhinzuweisen, daß der Verteidiger heute mehr denn je vor Gerichten auftreten muß, die in ihm zunächst einmal den „Spießgesellen des Rechtsbrechers" sehen, der
18
Schmidt-Leichner a. a. O . (Fn. 13) S. 419. " KG, Beschluß vom 7. Juli 1978, Az. (2) 1 StE 2/77 (55/78), zum gleichen Vorfall wie die einen anderen Verteidiger betreffende Entscheidung KG, vom 8.6.1978, Az. (2) 1 StE 2/77 (46/78) N J W 1978, 1538. 20 Der Haftbefehl wurde erst durch Beschluß vom 11. 7.1978 aufgehoben, KG, Az. 4 Ws 218/78. 21 Nach der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 24. 11. 1980 (Bulletin der Bundesregierung Nr. 124 v. 25. 11. 1980, Seite 1049ff. [1063]) wird beim Kontaktsperregesetz „eine Regelung angestrebt, die die strafprozessualen Garantien . . . noch (?) stärker gewährleistet . . . "
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es nur darauf anlegt, Prozeßsabotage 22 zu betreiben. Dies hat es mit sich gebracht, daß die Richter mit allzuleichter Hand selbst bei sachlich gebotenen Beweisanträgen der Verteidigung zu dem Zurückweisungsgrund der „Verschleppungsabsicht" greifen, so als ob der vom Vorsitzenden einmal aufgestellte Ladungs- und Terminplan ein unumstößliches Dogma wäre und jeder, der das Beweisantragsrecht ausschöpft, damit verfahrensfremde Zwecke verfolge 23 . Vielfach hat es den Anschein, als betrachte der Vorsitzende sogar Fragen des Verteidigers an Zeugen als eine Kritik an seiner eigenen vorausgegangenen Befragung. Die Analyse der bestehenden Entwicklungstendenzen wäre jedoch einseitig und deshalb unvollständig, wenn man übersehen wollte, daß auch und in erster Linie die Anwaltschaft aufgerufen ist, ihren Beitrag zur gegenwärtigen Auseinandersetzung um das Selbstverständnis des Strafverteidigers zu leisten. Auch wir müssen uns der Kritik stellen, die sich berechtigterweise unter anderem dagegen richtet, daß wir den gesetzgeberischen und gerichtlichen Restriktionen vielfach nicht mehr als demonstratives Ausspielen unserer formellen Befugnisse und damit einen Machtkampf entgegenzusetzen hatten. A m sichtbarsten kommt dieses auf formelle prozessuale Rechte aufgestützte Imponiergehabe zum Ausdruck in dem geradezu schon zum Ritual erstarrten Richterablehnungsmanöver, das zumindest bei solchen Prozessen, über deren Beginn am nächsten Tag in den Zeitungen berichtet wird, kaum noch jemals ausbleibt. Die nicht immer bestreitbare Tatsache, daß dabei zuweilen eigene Publicityinteressen über die Belange des Mandanten gestellt werden, ist nicht gerade geeignet, die Glaubwürdigkeit unseres Kampfes gegen die Einschränkungen der Rechte des Verteidigers als eines Kampfes gegen die Einschränkungen der Rechte des Angeklagten zu erhöhen. W i r sollten uns deshalb fragen, wie wir unsere Stellung im Strafprozeß anders als durch bloße Kraftmeierei stärken können. Es war der Jubilar dieser Festschrift, der beim Aufkommen erster Protesthandlungen von Angeklagten gegen erstarrte Formen in unseren Gerichtssälen seine damaligen Richterkollegen dazu aufrief, mit sachlicher Gelassenheit beispielsweise auf das Sitzenbleiben während des Auftritts des Gerichts zu reagieren, statt immer nur unter Berufung auf die 22 Dies führte unter anderem auch dazu, daß ein Mitglied des Deutschen Bundestages vorschlug, über die bereits bestehenden Ausschließungsgründe des Rechtsanwaltes bei Begehung strafbarer Handlung und der Gefährdung der Anstaltsordnung hinaus, einen umfassenden Ausschließungsgrund der „Verfahrenssabotage" zu schaffen. Vgl. hierzu BTDrucksache, 7. Wahlperiode, Stenographischer Bericht über die 138. Sitzung, S.9501 (Abgeordneter Gnädinger). 23 Zur Problematik der Handhabung prozessualer Befugnisse zur Verfolgung verfahrensfremder, subjektiver Ziele vgl. Ulrich Weber, Der Mißbrauch prozessualer Rechte im Strafverfahren, GA 1975, S. 289 ff.
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„Würde des Gerichts" entbehrliche Eskalationen zu erzeugen24. Die Strafverteidigung ist jetzt ihrerseits in Gefahr, sich vor lauter rechtsstaatlich verbrämter „Würde" selbst zu lahmen. Dabei stellt sich auch überkommenes Standesdenken allzuoft einer fruchtbaren Diskussion und damit einer sinnvollen Suche nach den Ursachen der eingetretenen Entwicklung in den Weg. Zuweilen hat es sogar den Anschein, daß Kollegialitätserwägungen Anwälte daran hindern, das Verhalten von Strafverteidigern einer offenen Kritik zu unterziehen. Und dieser Mangel wird auch nicht dadurch behoben, daß man gelegentlich jetzt diese Tabuisierung nicht mehr Kollegialität sondern Solidarität nennt. Eine der häufigst gebrauchten Zauberformeln der Verteidiger bei der Behauptung ihrer prozessualen Rechte ist die „Waffengleichheit"25 gegenüber der Staatsanwaltschaft, wobei gewöhnlich in demselben Atemzug teils resignierend teils trotzend gesagt wird, eine „echte Waffengleicheit" bestünde wegen des instrumentalen und personalen Übergewichtes der Ermittlungsbehörden ohnehin nicht und deshalb wolle man „wenigstens" ein Optimum an Einzelbefugnissen haben26. Die wichtigste Voraussetzung für die „Waffengleichheit" hat der Beschuldigte nur dann, wenn er in der Person seines Verteidigers einen „seinem" Staatsanwalt ebenbürtigen Gegner hat. Hieran muß sich eine Reihe von Anforderungen an den Beruf des Strafverteidigers knüpfen, die vielleicht trivial klingen, aber um so bedeutender sind, als man nur durch ihre Erfüllung den gesteigerten Anforderungen der modernen Strafrechtspraxis gerecht werden kann. Als erstes sollte sich der Verteidiger bewußt machen, daß man Strafrecht nicht mehr nur nebenbei betreiben kann. Der auf Strafrecht spezialisierte Anwalt darf - vielleicht von wenigen Ausnahmen abgesehen - nur Strafrecht betreiben27. Dieses ist einschließlich des Strafprozeßrechtes, der Kriminologie und der sozial- und naturwissenschaftlichen Disziplinen, deren Grundlagenkenntnisse im Strafprozeß für den Verteidiger Werner Sarstedt, Zum Begriff der Ungebühr i.S. von §178 GVG, JZ 1969, 150 ff. Zum Begriff vgl. Schäfer in Löwe-Rosenberg, Einl. Kapitel 6 Rdn. 13 ff. 26 Vgl. hierzu die sogenannte Gegenmachtsthese: Dem Machtapparat des Staates muß der Bürger eine soziale Gegenmacht entgegenstellen, die nur der Rechtsanwalt darstellen kann. Der Verteidiger ist Helfer sozialer Gegenmacht und muß deshalb mit besonderen Befugnissen ausgestattet sein. Werner Holtfort, Gegen die Mißdeutung des Begriffs „Organ der Rechtspflege", Recht und Politik 1977, 173 ff. 27 Für den Strafverteidiger gilt in besonderer Weise, was Redeker zur Notwendigkeit der Spezialisierung innerhalb der Anwaltschaft gesagt hat: „Die gerichtliche Rechtspflege wird von 5 Gerichtszweigen wahrgenommen, in denen entsprechend spezialisierte Richter arbeiten. Es ist eine vermessene Vorstellung, daß der Anwalt ohne ähnliche Spezialisierung diesen Richtern gleichwertiger Partner eines Rechtsgespräches sein könnte" (NJW 1973, 1153 ff. (1157)). Vgl. auch Redeker, Spezialisierung und Team-Arbeit in der anwaltlichen Praxis, ZRP 1969, 268 ff. 24
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inzwischen unentbehrlich sind, so vielfältig, daß man sich hierüber nicht mehr umfassend informieren kann, wenn man nebenbei noch in nennenswertem Umfang Zivilprozesse um Hypotheken oder Ehesachen bearbeitet. Der naheliegende Einwand, die totale Spezialisierung auf das Strafrecht sei allenfalls in wenigen Großstädten, nicht jedoch „auf dem flachen Land" wirtschaftlich tragbar, überzeugt nicht. Zum einen ist eine geographische Konzentration angesichts der heute bestehenden verkehrstechnischen Mobilität kein Nachteil mehr, und zum anderen käme eine Verminderung der Zahl der im Strafrecht tätigen Anwälte zugunsten ihrer erhöhten Fachkompetenz sowohl der Strafrechtspflege als auch dem Ansehen der Anwaltschaft nur zugute. Ob unter diesem Gesichtspunkt die Richtlinienkommission der Standesvertretungen sich doch noch entschließt die Führung der Berufsbezeichnung „Fachanwalt für Strafrecht" zuzulassen, ist daneben eine untergeordnete Frage28. Die Spezialisierung auf das Strafrecht muß jedoch das gesamte Strafrecht umfassen. Eine weitere Spezialisierung innerhalb dieses Rechtskreises führt zu gefährlichen einseitigen Ausrichtungen und im Extremfall zu Interessenbindungen. Der Spezialist für bestimmte Wirtschaftsstrafverfahren, der Spezialist für Verfahren um kriminelle Vereinigungen, der Spezialist für NS-Verfahren, für das Betäubungsmittelgesetz und für illegalen Waffenhandel ist ebenso in der Gefahr sich früher oder später im Kreise zu drehen (oder sollte man besser sagen: sich nur noch in bestimmten „Kreisen" zu bewegen) wie der „Prostituiertenanwalt", den es in Großstädten geben soll. Die Ausklammerung bestimmter Fallgruppen sollte überhaupt grundsätzlich vermieden werden. Zu denken wäre dabei an eine Art „ethisch indizierte" Ausklammerung, wobei nicht nur die von Laien immer geforderte Weigerung angesprochen werden soll, einen schuldigen Angeklagten zu verteidigen. Es gibt Verteidiger, die sich vor dem Augenblick fürchten, in dem sie zum ersten Mal vor die Frage gestellt werden, ob sie einen Angeklagten verteidigen würden, der wegen Kindesmißhandlung vor dem Richter steht29. Häufiger noch wird man mit der Vorstellung konfrontiert, es müsse sich für einen Anwalt, der einmal einen politischen Linksextremisten verteidigt hat, von selbst verbieten, 28 Redeker N J W 1973, 1158, plädierend dafür, im Interesse des rechtssuchenden Bürgers und der Anwaltschaft, die Spezialisierung durch Aufhebung des Verbots der Fachanwaltschaft offenzulegen. 29 Auch Dahs (a. a. O. (Fn. 11) S. 26, 27) warnt vor der Übernahme von Mandaten von „Schwerverbrechern", „KZ-Mördern", „Ganoven", „Dirnen aus der Unterwelt" (welche anderen Dirnen sind hier nicht gemeint?), „notorischen Staatsfeinden", „Sexualverbrechern" und „Knastologen". Der Verteidiger, der es zu seiner Berufsaufgabe rechnet, den beschuldigten Bürger vor negativen Etikettierungen und schuldantizipierenden Vorverurteilung zu schützen, sollte derartige schlagwortartige Abqualifizierungen vermeiden.
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einen Rechtsextremisten zu vertreten, und umgekehrt. Derartige Bedenken zeugen von einem grundsätzlichen Fehlverständnis des Strafrechts, des Strafverfahrens und der Rolle des Verteidigers. Verteidigen heißt zunächst einmal, unter Ausschöpfung aller verfahrensrechtlich eingeräumten Möglichkeiten zu verhindern, daß ein Unschuldiger bestraft wird. Aber auch der Schuldige benötigt rechtskundigen Beistand, damit er nicht prozessual überfahren wird. Die Frage, ob man es psychisch verkraften kann, einem schuldig gewordenen Menschen Hilfe zu leisten, darf nicht am Einzelfall beantwortet werden, sondern muß mit der Berufswahl abschließend geklärt sein. Auch der Arzt darf nicht eine Hilfeleistung unterlassen, nur weil er kein Blut sehen kann. Wer Strafverteidiger wird in der Absicht, nur Unschuldige zu verteidigen, gleicht dem Arzt, der nur Gesunde behandeln will. Daß wir die Ausklammerung ganzer Tätergruppen ablehnen, besagt jedoch noch nicht, daß wir etwa eine Pflicht konstruieren wollten, jedes angetragene Mandat anzunehmen. Gerade weil Strafverteidigung nur bei einem besonderen Vertrauensverhältnis möglich ist, muß der Anwalt die wirtschaftliche Unabhängigkeit und die innere Souveränität besitzen, eine Verteidigung einmal dann nicht zu übernehmen, wenn eine gemeinsame Gesprächsbasis nicht zustande kommen kann. Diese Fälle sind selten, aber sie kommen vor. Dabei können im Einzelfall ganz persönliche Gründe eine Rolle spielen, zum Beispiel Aversionen gegen die Person des Mandanten aber auch der Umstand, daß der Verteidiger selbst zum näheren Kreis der Opfer zählt und der mutmaßliche Täter von ihm vertreten werden möchte. Dagegen wurzelt die Vorstellung, der Mandant müsse nach Möglichkeit derselben Bevölkerungsgruppe angehören wie sein Verteidiger, wiederum in einem falschen Verständnis von seiner Rolle und Aufgabe. Sarstedt hat gelegentlich in der Zeit als er noch Richter war in Vorträgen vor Anwälten geäußert: Wenn ich einmal in den Verdacht geriete, auf jüdische Grabsteine Hakenkreuze geschmiert zu haben, dann würde ich mich durch einen Juden verteidigen lassen, und wenn ich beschuldigt wäre, den Papst beleidigt zu haben, würde ich mich bemühen einen gläubigen Katholiken als Verteidiger zu gewinnen. In der Tat kann das, was man beim Richter überkompensierte Befangenheit nennt, beim Verteidiger die rechte Mischung zwischen Distanzierung und Motivation sein. Neben die persönliche Grundausstattung des einzelnen Anwaltes zur Übernahme der Aufgabe des Verteidigers muß als weitere Voraussetzung die Beherrschung der schlichten handwerklichen Fähigkeiten treten. Zum wichtigsten Handwerkszeug des Verteidigers gehört die Fähigkeit, den Mandanten dadurch auf die Hauptverhandlung vorzubereiten, daß
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man im Vorgespräch auch einmal die Rolle des Staatsanwaltes einnimmt. Daß der Angeklagte erst in der Hauptverhandlung unter dem Eindruck der Vorhalte, die ihm vom Vorsitzenden oder der Staatsanwaltschaft gemacht werden, seine Einlassung ändert, ist eine der peinlichsten Niederlagen für den Verteidiger. Eine gründliche Vorwegnahme aller denkbaren Fragen und Vorhalte in der Besprechung mit dem Mandanten hätte diesen davor bewahrt, in der Hauptverhandlung dazustehen als jemand, der schuldig ist und auch noch durch fadenscheinige Schutzbehauptungen der Strafe zu entgehen versucht hat. Wer sich als Strafverteidiger betätigt, darf den Kontakt zur Rechtswissenschaft nicht verlieren. Der Satz „Jura novit curia" gilt im Strafprozeß nicht. Oft können rechtliche Überlegungen einer Sache mehr nützen als tatsächliche Erörterungen. Die Schlüssigkeitsprüfung für die Anklage ist mit dem Eröffnungsbeschluß zwar zunächst einmal unanfechtbar, aber nicht unabänderlich abgeschlossen. Hier lohnt oft genug für den Verteidiger noch ein Studium der materiellrechtlichen Literatur und Rechtsprechung. Wichtiger noch ist, daß der Verteidiger das Verfahrensrecht beherrscht. Dazu gehört die laufende Information über die Gesetzgebung und Rechtsprechung. Notwendig in diesem Zusammenhang ist nicht nur die Kenntnis der für die Verteidigung günstigen Entscheidungen, sondern auch die Kenntnis einer gefestigten für sie ungünstigen Rechtsprechung. Als Beispiel sei genannt, daß es zur Vermeidung völlig überflüssiger Konfrontationen durchaus hilfreich ist, wenn der Verteidiger die Gründe kennt, mit denen ein Richter nicht wegen Befangenheit abgelehnt werden kann. Neben dem Begriff „Organ der Rechtspflege" ist mindestens ebenso oft das Wort von Hans Dahs sen. mißverstanden worden, wonach Strafverteidigung Kampf sei30. Kampf heißt nicht Konflikte um jeden Preis. Kampf ist nicht dasselbe wie Zank und Streit. Persönliche Konflikte zwischen dem Verteidiger und dem Richter oder dem Staatsanwalt führen bekanntlich nicht zur Ablehnbarkeit des Richters (des Staatsanwaltes ohnehin nicht) und sie nützen selten dem Mandanten. Das wird auch von vielen Angeklagten verkannt, die meinen, sie hätten einen besonders engagierten Verteidiger, weil er sozusagen blind von allen ihm zu Gebote stehenden formalen Rechten und Möglichkeiten Gebrauch macht. Mancher Mandant mag glauben, dies läge in seinem Interesse. Aber eigentlich ist doch die Einrichtung des Strafverteidigers deshalb geschaffen worden, weil man in eigener Sache seine Interessen nicht zuverlässig erkennen kann. Der Strafverteidiger sollte sich also davor hüten, etwas nur deshalb richtig zu finden, weil der Mandant es so will. so
Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 3. Auflage, Köln, 1971, Rdn. 1.
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Eine solche Haltung wird auch nicht dadurch besser, daß man sich des Begriffs der „Mitbestimmung" bedient. Die Forderung nach Mitbestimmung ist in weiten Bereichen der Gesellschaft ein wichtiger Schritt zur Selbstbestimmung. Selbstbestimmung des beschuldigten Bürgers im Verhältnis zu seinem Strafverteidiger wäre jedoch ein Widerspruch in sich3'. Daß Strafverteidigung Kampf ist, bedeutet allerdings auch, daß man Konflikten nicht aus dem Wege geht. Das engagierte und energische Eintreten für die Rechte des Mandanten kann es auch erfordern, daß man massive Kritik am Vorgehen der Staatsanwaltschaft und des Gerichts anbringt, und es sind Fälle nicht nur denkbar, sondern sie kommen vor, in denen diese Kritik den jeweils tätigen Richter als Person trifft. Hier stößt man auf ein Problem, das mit dem Aufbau unseres deutschen Strafprozesses zusammenhängt. Anders als der Richter in wohl den meisten ausländischen Staaten und auch anders als jeder andere Richter in Deutschland hat bei uns der Strafrichter die Rolle einer der beiden vor ihm streitenden Parteien weitgehend mitübernommen, nämlich die der Staatsanwaltschaft. Das Schwergewicht seiner Tätigkeit liegt nicht auf der Streitentscheidung, sondern auf der Streitgestaltung. Das hängt damit zusammen, daß unser Strafprozeß ein reformierter Inquisitionsprozeß geblieben ist32. In der Hauptverhandlung hat der Vorsitzende mit Ermittlungstätigkeiten (Herbeiholung von Beweismitteln, Vernehmung des Angeklagten, Vernehmung der Zeugen und Sachverständigen usw.) alle Hände voll zu tun33. Er ist es an erster Stelle, der Widersprüche zwischen den Aussagen in der Hauptverhandlung und in polizeilichen Protokollen feststellt und vorhält. Dies geschieht allzuoft in einer Form, die den Eindruck erweckt, als identifiziere sich der Vorsitzende so mit dem polizeilichen Ermittlungsergebnis, daß er die Hauptverhandlung überhaupt nur noch als eine formale Pflichtübung ansieht34. Glaubt der Verteidiger, eine solche Haltung des Vorsitzenden festzustellen, so ist es seine Pflicht einzuhaken. Da er dabei regelmäßig auf einen sehr empfindlichen Nerv des Vorsitzenden trifft, nämlich auf dessen persönliches berufliches Selbstverständnis, ist zumeist die Reaktion von der Richterbank nicht gerade von sachlicher Souveränität getragen und geeignet eine Eskalation zu vermeiden. Wenn in dieser Lage der Verteidiger sich um den „favor judicis" sorgt und klein beigibt, 31
In diesem Sinne bedenklich das „Autonomieprinzip" Welps, der Verteidigung als die Wahrnehmung der (vom Beschuldigten) „selbst definierten prozessualen Interessen" versteht (ZStW Bd. 90 (1978), S. 117). Dagegen Beulke a . a . O . (Fn. 1) S. 37ff. 32 Ingo Müller a. a. O . (Fn. 1) S. 213, 214. 33 Vgl. Gollwitzer in Löwe-Rosenberg §238 Rdn. 3 ff. 34 Dahs (Fn. 11) Rdn. 414.
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begeht er Verrat an der Sache 35 . Dieses sind auch keineswegs die Fälle, von denen man annehmen muß, daß eine Konflikts Verteidigung den Interessen des Mandanten entgegenläuft. Steht der Angeklagte vor einem Richter, der nur darauf aus ist, den Akteninhalt nachzuvollziehen, so wird man als Verteidiger mit gutem Grund davon ausgehen dürfen, daß das Urteil bereits fertig, wenn auch nicht - wie in Mainz vorgekommen 36 - schon in den Akten liegt, so doch in der Schreibtischschublade oder auch nur im Kopf des Richters feststeht. Eine solche schlechthin gesetzwidrige Verfahrensweise ist selten zu beweisen, aber leider häufig erkennbar. O b es so ist, darüber sind sich Mandant und Verteidiger auch nicht immer einig. Wenn der Verteidiger jedoch davon überzeugt ist, daß die Beweisaufnahme nur noch zum Schein durchgeführt werden soll und an dem längst feststehenden Endurteil nichts mehr zu rütteln ist, dann ist es mehr als legitim, wenn er dazu übergeht, für das Gericht „Minen und Stolpersteine" zu legen. Dann darf er sich auch einmal darauf beschränken, in der Hauptverhandlung Revisionsgründe zu sammeln. So sehr wir sonst der Meinung sind, daß der Verteidiger besser daran tut, etwa Verletzungen der Aufklärungspflicht oder fehlerhafte Zurückweisung von Beweisanträgen schon in der Hauptverhandlung vor dem Tatrichter vermeiden zu helfen als klammheimlich auf die Revision zu schielen, so sehr wird man dann dem Verteidiger die Berechtigung nicht absprechen können, die Revision möglichst gründlich schon in der Tatsacheninstanz vorzubereiten, wenn dort dem Angeklagten trotz wiederholter Beanstandungen durch den Verteidiger kein faires Verfahren geboten wird. Die institutionelle Verwandtschaft zwischen unseren Strafgerichten und Strafverfolgungsbehörden (wobei man sich über den Verwandtschaftsgrad der Staatsanwaltschaft zu den Strafgerichten und zur Polizei bekanntlich streiten kann) führt auch dann immer wieder zu Konflikten zwischen Gerichten und Verteidigung, wenn diese den Eindruck gewinnt, daß die Ermittlungsbeamten vom Gericht allzu bereitwillig aus ihrer Rolle, Beweismittel ordnungsgemäß zu sammeln und zu präsentieren entlassen werden, indem man sie kurzerhand selbst zu Beweismitteln macht. Das Thema Polizeibeamte als Zeugen vor Gericht ist immer wieder ein Nährboden für Konflikte zwischen Strafrichtern und Verteidigern. Das reicht vom kleinen Bußgeldverfahren um eine Verkehrsordnungswidrigkeit, in dem der Amtsrichter die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung weitgehend ersetzt durch Einholung der stereotypen Aussage eines Schutzmannes, er könne sich zwar an den Vorfall nicht erinnern, er habe sich aber damals etwas aufgeschrieben, er schreibe 35 Werner Sarstedt, Die Revision in Strafsachen, 4. Aufl. 1962, S. 133; Dahs (Fn. 11) Rdn.117. 36 Landgericht Mainz, vgl. D E R SPIEGEL Heft 30, 1978, S.51.
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immer alles richtig auf und deshalb sei das die Wahrheit", bis zu dem Problem der gezielten Eingriffe der Exekutive in die Strafgerichtsbarkeit durch manipulierte Steuerung der Beweisaufnahme über die beschränkten oder verweigerten Aussagegenehmigungen38. Maeffert39 hat nachgewiesen, daß unter dem Stichwort „Zeugenbetreuung" in den Polizeibehörden die Beamten gezielt auf Verteidigungsstrategien vorbereitet werden. Unsere Strafverfahren würden an Rechtsstaatlichkeit erheblich gewinnen und die Verbrechensbekämpfung würde nicht zusammenbrechen, wenn man - wie übrigens im angelsächsischen Raum von je her - die Vernehmung der Ermittlungsbeamten als Zeugen über das, was sie bei ihren Ermittlungen herausgefunden haben schlechthin verbieten würde. Aber auch wer soweit nicht gehen will, sollte zumindest sehen, daß der Verteidiger im Recht ist, wenn er sich der generellen Bevorzugung von Polizeibeamten und damit einem Mißbrauch richterlicher Freiheiten in den Weg stellt. Abschließend sei noch auf eine Veränderung innerhalb des Ablaufs des Strafverfahrens hingewiesen, für die zwar dieses Mal nicht ein bestimmtes Verteidigungsverhalten verantwortlich gemacht werden kann, die der Verteidiger aber durchschauen und in seine Arbeitskonzepte mit einplanen sollte. Es betrifft die Verschiebung der Gewichte innerhalb der immer länger werdenden Hauptverhandlung, aber auch im Verhältnis zwischen Hauptverhandlung und Vorverfahren. Im Handwörterbuch der Rechtswissenschaft40, das im Jahre 1929 herausgegeben worden ist, heißt es unter dem Stichwort „Verteidiger" unter anderem : „Die Schlußausführungen (Plädoyer) gelten als Schwerpunkt der gesamten Verteidigertätigkeit, ja sie werden vielfach als „die Verteidigung" bezeichnet. In der Tat sind diese Schlußausführungen (ihr Aufbau, ihre rednerische Ausgestaltung, nicht zum mindesten auch die innere Uberzeugungskraft, mit der sie vorgetragen werden) für das Urteil oft von ausschlaggebender Bedeutung." Das wurde in einer Zeit geschrieben, als es noch nicht an der Tagesordung war, daß Hauptverhandlungen erst nach jahrelangen Ermittlungen begonnen haben. Heute werden mehr denn je die Weichen für den Ausgang eines Strafverfahrens bereits im Ermittlungsverfahren gestellt, und deshalb sieht auch derEntwurf des Arbeitskreises Strafprozeßreform eine erhebliche Stärkung der Rechte 37 Von BGHSt. 1, 4 (8); 1, 337f.; BGH NJW 1960, 1630f. (1631) als Beweisführung anerkannt. 38 Vgl. BGHSt. 17, 382; neuerdings scheint der BGH in der V-Mann-Problematik seine Rechtsprechung zu ändern, Beschluß vom 29.10.1980 - 3 StR 335/80. 39 Uwe Maeffert, Justiz und Polizei. Schriftenreihe der Vereinigung Berliner Strafverteidiger e.V., 3. Strafverteidigertagung, Referate, Diskussionen, Ergebnisse, S.56f. 40 Löwenstein, Handwörterbuch der Rechtswissenschaft Stichwort Verteidiger und Verteidigung, Berlin 1929, Bd. VI, S. 550 f.
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des Verteidigers im Ermittlungsverfahren vor41. O b das dem Ziel dienlich sein kann, das Schwergewicht der richterlichen Wahrheitsfindung wieder in die Hauptverhandlung zu verlagern, oder ob nicht dadurch die Degenerierung des Strafprozesses in Richtung auf ein schriftliches Verfahren42 verstärkt wird, mag hier dahinstehen. Fest steht, daß schon heute das Ermittlungsverfahren sich in einer Weise verselbständigt hat, daß die Verteidigung sich darauf einrichten mußte43. Allein die Zeit, die zwischen der Tat und der Anklageerhebung bei uns gewöhnlich vergeht mit den oft existenzvernichtenden Auswirkungen für den Beschuldigten, verbietet es dem Verteidiger, sich auf eine gute Konzeption für die Hauptverhandlung zu verlassen und zu beschränken. Der Verteidiger ist nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, wenn er bereits während des Ermittlungsverfahrens ein Mandat hat, mit der Staatsanwaltschaft Verbindung aufzunehmen, um Einfluß auf die Ermittlungen und auf die Abschlußverfügung zu nehmen. Er ist auch berechtigt (das wird immer noch weitgehend verkannt), eigene Ermittlungen durchzuführen 44 . Er darf und muß unter Umständen Zeugen befragen, bevor er sie als Entlastungsbeweismittel der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht anbietet. Er muß in geeigneten Fällen, und dazu gehört längst nicht mehr nur die Bagatellkriminalität, auf eine Einstellung gemäß §153 bzw. §153 a StPO hinwirken. Das setzt während des Ermittlungsverfahrens voraus, daß man ohne Aufgabe seiner Rolle als einseitiger Interessenwahrer des Beschuldigten in ein offenes Gespräch mit Staatsanwaltschaft und Gericht eintritt. Dazu gehört auch, daß man den an solchen Vorgesprächen beteiligten Richtern die Möglichkeit gibt, sich zu ihrem vorläufigen Eindruck über die Sache zu äußern, ohne daß sie dabei ihre Prognose für den voraussichtlichen Prozeßausgang aussparen müßten. Man erlebt es immer wieder, daß eine dauernde Furcht vor Befangenheitsanträgen bei Richtern einem fruchtbaren Vorgespräch im Wege steht. Es ist kein Parteiverrat, wenn der Verteidiger in einem wohlverstandenen Sinne des Wortes sich auch darum bemüht, daß ihm von seiten der Richter und
41
Vgl. §§ 10 bis 15 des Entwurfs einer gesetzlichen Neuregelung der Strafverteidigung. In: Arbeitskreis Strafprozeßreform, D I E V E R T E I D I G U N G , Gesetzentwurf mit Begründung, Heidelberg. Karlsruhe 1979, S. 95 ff. 42 Eine Tendenz, die z.B. in §153 a und in §249 Abs. 2 n. F. StPO zum Ausdruck kommt. 4J Vgl. Josef Römer, Kooperatives Verhalten der Rechtspflegeorgane im Strafverfahren? Festschrift für Schmidt-Leichner, München 1977, S. 133 ff. 44 Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, Köln 1971, Rdn. 14, 212; §10 des Entwurfs einer Neuregelung der Verteidigung, S. 95 ff., der eine diesbezügliche ausdrückliche gesetzliche Regelung vorsieht, die lautet: „Der Verteidiger ist berechtigt, eigene Ermittlungen anzustellen."
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Staatsanwälte Vertrauen entgegengebracht wird. Dies sollte zwar auch nicht hinter dem Rücken des Mandanten geschehen, aber er muß bei solchen Gesprächen nicht immer dabeisein. Die Gewißheit, daß in solchen Juristengesprächen nicht über den Kopf des Mandanten hinweg verhandelt wird, muß Bestandteil seines Vertrauens zum Verteidiger sein. Daß der Anwalt von den „Prozeßgegnern" ernst genommen wird, ist Grundvoraussetzung für jedes Verteidigungskonzept. Der Verteidiger ein Organ der Rechtspflege? Wir sind der Auffassung, daß dieses Wort zu oft mißbraucht wurde, um dem Anwalt Rechte zu nehmen und ihn an die staatlichen Institutionen zu binden. Wenn es dagegen gelänge, endlich mit der Forderung, der Verteidiger sei ein gleichberechtigtes Organ der Rechtspflege ihn aus der Unterordnung gegenüber dem Gericht und der Staatsanwaltschaft zu befreien und damit die besonderen Rechte, die ihn vom „privaten" Helfer des Beschuldigten unterscheiden, zu legitimieren, so wäre gegen die Bezeichnung nichts einzuwenden. Dazu ist jedoch die Formel vom Organ der Rechtspflege bereits durch falsche Hände zu abgegriffen. So bleibt nur der Vorschlag, den Sarstedt bezogen auf die „Würde des Gerichts" gemacht hat: Man solle den Begriff „überhaupt fallen lassen"45.
45
Werner Sarstedt, JZ 1969, 153.
Das „Absehen von Strafe" als kriminalpolitisches Instrument
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I. Die Aktualität der Vorschrift § 60 StGB n. F. weist den Richter an, von den Konsequenzen Abstand zu nehmen, die zu ziehen gemeinhin seine Aufgabe ist: eine Strafe zu bemessen und zu verhängen, wenn er sich in einem gesetzlich geordneten Verfahren davon überzeugt hat, daß sämtliche Voraussetzungen einer strafbaren Handlung gegeben sind. Einem herkömmlichen Verständnis von den Aufgaben des Strafgesetzgebers und des Strafrichters muß eine solche Regelung als systemwidrig erscheinen; sie installiert, pointiert gesagt, eine „Straftat ohne Strafe" 1 und konfligiert dadurch, zumindest auf den ersten Blick, mit Grundprinzipien eines modernen Strafrechtssystems: mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung 2 , indem sie einen Straftäter bei gleichermaßen verwirkter Strafe von Rechtsfolgen freistellt, einen anderen nicht; mit dem Schuldgrundsatz 3 , indem sie die Feststellung der Tatschuld von deren regelmäßiger Folge, der Festsetzung der Strafe, abkoppelt; überhaupt mit dem Verhältnis von Strafgesetzgeber und Strafrichter in einem gewaltenteilenden politischen System, indem der Strafgesetzgeber den Strafrichter hier aus dem ansonsten geltenden Konditionalprogramm: „Wenn Voraussetzungen der Strafe, dann Strafverhängung" entläßt und ihn an ein Ausnahmeprogramm bindet. Trotz dieser augenscheinlichen Schwierigkeiten, § 6 0 StGB in unser Strafrechtssystem einzupassen, ist die Kritik 4 an dem Rechtsinstitut „Absehen von Strafe" bislang tendenziell wohlwollend, jedenfalls nicht
Um Fußnoten erweiterte Fassung eines Vortrags, den Verf. am 25. März 1980 während der spanisch-deutschen Tagung über die Strafrechtsreform in Barcelona gehalten hat. 1 Vgl. schon Cramer, Ahnungsbedürfnis und staatlicher Sanktionsanspruch. Bemerkungen zu einer Reform der Verfahrenseinstellung aus Gründen der Opportunität, in: Maurach-Festschrift, 1972, S.493. 2 Siehe schon Eb. Schmidt, in: Niederschriften der Großen Strafrechtskommission I (1956), S. 133. 3 Siehe schon Krille, in: Niederschriften, a . a . O . , S. 132. 4 Mit dem größten Nachdruck wohl Maiwald, Das Absehen von Strafe nach § 16 StGB, in: ZStW 83, 663; siehe auch dem., Anm. zu O L G Karlsruhe, Urt. v. 7.3.1974, J Z 1974, 773.
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grundsätzlich ablehnend 5 . Die Einwände richten sich mehr gegen Einzelheiten der tatbestandlichen Fassung als gegen das Institut selbst, und was die Übereinstimmung des § 6 0 S t G B mit dem überkommenden Strafrechtssystem anbetrifft, so findet sich eher die Bereitschaft, angesichts des § 60 S t G B dieses System in Frage zu stellen, als der Wille, § 60 als systemfremd zu eliminieren. Sucht man nach Gründen für diese Zustimmung zu § 60 S t G B , so fällt vorläufig zweierlei ins Auge: Das Rechtsinstitut „Absehen von Strafe" entspricht einer manifesten kriminalpolitischen Tendenz jedenfalls der Bundesrepublik, Strafrechtsreform über eine Differenzierung und Individualisierung der Rechtsfolgen zu betreiben 6 , und es kommt einer Entwicklung der letzten Jahre entgegen, die darauf hinausläuft, daß der Strafgesetzgeber die Entscheidungsbereiche des Strafrichters vergrößert, ihn insbesondere bei der Auswahl und Bemessung der Rechtsfolgen und bei der Verfolgung spezialpräventiver Ziele innerhalb generalpräventiver Gesichtspunkte aus einer strengen Gesetzesbindung entläßt und ihn zu „Eigenverantwortlichkeit" ermuntert bzw. anhält 7 . Beide Tendenzen hängen miteinander zusammen und bestärken einander wechselseitig in einer Konstellation, in der das Rechtsfolgenproblem, eine Ausweitung des Richterrechts und die Realisierung spezialpräventiver Ziele innerhalb der Grenzen der Generalprävention aufeinandertreffen. Dies ist exakt die Konstellation des § 6 0 S t G B , der deshalb als ein vorzügliches Beispiel moderner Kriminalpolitik so beschrieben werden kann 8 :
II. Die Struktur der Vorschrift Die N o r m weitet den Entscheidungsbereich des Strafrichters über eine Grenze hinweg aus, die bislang von Gesetzes wegen (man kann vorläufig auch sagen: wegen der Logik eines kodifizierten Strafrechtssystems) verbindlich war; hatte der Richter die gesetzlichen Voraussetzungen der Strafbarkeit festgestellt, so hatte er auch zu strafen - ohne Rücksicht auf sonstige, aber gesetzlich nicht formulierte, Kriterien von Strafwürdigkeit. § 60 dispensiert nunmehr von diesem Zwang, indem er in Satz 1 für die Fälle, in denen eine Strafverhängung wegen schwerer 5 Vgl. demgegenüber etwa die Kritik, die Dreher (Die Verwarnung mit Strafvorbehalt, in: Maurach-Festschrift, 1972, S. 275 ff.) an den jetzigen §§59 ff. StGB und vor allem am entsprechenden Vorschlag des § 57 AE geübt hat. 6 Ähnlich Müller-DietZy Absehen von Strafe (§60 StGB n. F.). Dogmatische und kriminalpolitische Probleme einer neuen Rechtsfigur, in: Lange-Festschrift, 1976, S.320; Cramer, in: Maurach-Festschrift, S.489. 7 Belege zuletzt in meiner Arbeit Generalprävention und Strafzumessung in: Hassemer/ Lüderssen/Naucke, Hauptprobleme der Generalprävention, 1979, S. 37 f. 8 Siehe ausführlicher mein Buch Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, 1974, S. 110 ff.
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Tatfolgen für den Täter „offensichtlich verfehlt" wäre, ein Absehen von der bisher geltenden Strafbarkeitsfolge vorschreibt. Geht man davon aus, daß das Straftatsystem die Kriterien der Strafwürdigkeit enthält, beschreibt und ordnet, so könnte man die Funktion des § 60 S t G B darin sehen, daß er die Menge der Strafwürdigkeitskriterien um ein neues (negativ formuliertes) erweitert. D e r Rechtsgrund, der die Regelung des § 60 Satz 1 S t G B trägt, liegt auf der Seite des Täters: es sind die Folgen seiner Tat, deren Schwere ein Absehen von Strafe indiziert, weil eine Strafverhängung offensichtlich verfehlt wäre. Es ist klar, daß die Frage nach dem Verfehltsein einer Strafe auf sämtliche Ziele geht, die eine Strafe haben kann, also auch auf generalpräventive oder schuldvergeltende Elemente 9 ; denn ob die Strafverhängung verfehlt wäre oder nicht, läßt sich nur anhand der Ziele und deren Verwirklichungsbedingungen beurteilen, die jeweils angenommen werden. Klar ist aber auch, daß diese Strafziele auf den Täter bezogen sind: die schweren Folgen müssen ihn getroffen haben 10 , und nur vom Täter herrührende Tatfolgen sind einzubeziehen". Dem entspricht auch die Deutung der ratio des § 60 in der Strafrechtsdoktrin: von Strafe sei in den gemeinten Fällen deshalb abzusehen, weil die „poena naturalis", die den Täter getroffen hat, eine „poena civilis" verzichtbar mache 12 . Diese Orientierung auf den Täter stößt im Merkmal des „offensichtlichen Verfehltseins" und in der zeitlichen Limitierung durch § 60 Satz 2 S t G B an eine Grenze, die auf generalpräventiven Erwägungen beruht. O b die Verhängung einer Strafe „offensichtlich verfehlt" ist, muß, wie schon gesagt, unter Berücksichtigung aller Strafziele, also auch generalpräventiver Überlegungen, beurteilt werden; so sind schwere Folgen, die beim Täter durchaus eine spezialpräventiv bedeutsame Umorientierung bewirkt haben, dann keine ausreichende Grundlage für ein Absehen von Strafe, wenn ein generalpräventives Interesse an Verhängung der Strafe fortbesteht". N o c h deutlicher wird die Begrenzung des Instituts „Absehen von Strafe" durch generalpräventive Erwägungen in Satz 2 des § 60 S t G B , der ' Vgl. nur die Nachweise bei Lackner, StGB, 12. Auf. (1978), § 6 0 A n m . 2 b . 10 Siehe etwa Kofßa, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 9. Aufl. (1971), § 16 Rdnr. 3; Horn in: SK StGB, 2. Aufl. (1977), § 6 0 Rdnr. 5, beide mit weiteren Nachweisen; über mittelbare Folgen Stree, in: Schönke/Schröder, StGB, 20. Aufl. (1980), § 6 0 Rdnrn. 4-7. Auch wenn man mit Stree Folgen ausreichen läßt, die den Täter nur mittelbar berühren, bleibt es dabei, daß § 60 nur täterrelevante Folgen einbezieht. 11 Jescbeck, AT, 3. Aufl. (1978), S.692. 12 Siehe etwa Müller-Dietz, Lange-Festschrift, S.306; Cramer, Maurach-Festschrift, S.497; Jescbeck, AT, S.693. 13 Vgl. z . B . BGH, MDR 1973, 899 (Tod der Ehefrau nach Kurpfuscher-Abtreibung durch den Ehemann).
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verwirkte Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr aus der Regelung ausschließt. Man hat oft und zu Recht betont, daß es sich hier um eine willkürliche Grenzziehung handelt14, und der Alternativ-Entwurf hat in § 581 das Limit auf das Doppelte, nämlich auf zwei Jahre festgesetzt. Wo immer man die Grenze markiert und wie man sie im einzelnen begründet, sie verdankt sich jedenfalls generalpräventiven Rücksichten: Sie soll den „unverzichtbaren Rechtsgüterschutz"15 gewährleisten bzw. die „generalpräventive Wirkung des Strafrechts"16 erhalten. Sieht man von Strafe bei strafbarer Deliktsverwirklichung ab, so muß man damit rechnen, daß die „Rechtstreue der Bevölkerung" in die Unverbrüchlichkeit des Strafrechts beeinträchtigt werden könnte17. Dies ist eine Erwägung, die sich zwanglos aus einem Feuerbach sehen Verständnis von der psychologischen Zwangswirkung des Strafrechtssystems herleiten läßt: Nur ein Strafrecht, das die Konsequenzen aus seiner Strafdrohung durch die Verurteilung des Schuldigen zieht, wird die Rechtsgemeinschaft kriminalitätshemmend beeinflussen; koppelt man hingegen Strafverhängung und -Vollstreckung von der Strafdrohung ab, so kann nicht mehr erwartet werden, daß „die Drohung des Gesetzes eine wirkliche Drohung sey"18. Damit erweist sich §60 StGB als ein typisches Beispiel moderner Kriminalpolitik, die sich auf den Rechtsfolgenbereich konzentriert. Eine Rücknahme der faktischen Bestrafung von Verhalten ohne Veränderung in der Strafbarkeitsbestimmung bezüglich dieses Verhaltens muß zu spezifischen Problemen führen, die in der bisherigen Diskussion nur unsystematisch und vereinzelt zur Sprache gekommen sind". Diese Probleme zeigen sich an § 60 StGB nur exemplarisch. Sie bestimmen die gesamte Kriminalpolitik der letzten Jahre und haben in zahlreichen anderen Reformschwerpunkten ebenfalls ihren Ort. Diese Probleme sind zu beschreiben, ihre Bedeutung für die zeitgenössische Strafgesetzgebung ist abzuschätzen.
14 Vgl. etwa Müller-Dietz, Lange-Festschrift, S.317; Maiwald, ZStW 83, 689f.; Horn, Bemerkungen zum „Absehen von Strafe", in: Zbornik. Pravnog Fakulteta U Zagrebu 1978, S. 388 f. 15 Begründung des ΑΕ-ΑΎ, 2. Aufl. (1969), S. 115. 16 Müller-Dietz, Lange-Festschrift, S.315. 17 Dieses Argument findet sich häufig in der Rechtsprechung; vgl. etwa O L G Köln, N J W 1971, 2036; B G H , M D R 1973, 899. 18 Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, 1799, S.50. " Vgl. etwa Ostendorf, Auf Generalprävenation kann noch nicht verzichtet werden. Über die Ziele kriminalrechtlicher Maßnahmen, in: ZRP 1976, 281,284 f.; Bietz, Empfiehlt sich eine erweiterte Strafaussetzung zur Bewährung?, in: ZRP 1977, 66 f.
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III. Tendenzen aktueller Strafrechtsreform Wenn man unter Reform des Strafrechts nicht nur die marginale Veränderung von Straftatbeständen versteht, die sich als unklar oder überholt erwiesen haben, sondern die langfristige Veränderung des Strafrechtssystems mit dem Ziel, es dem sozialen Wandel anzupassen und dabei auch veränderten Auffassungen über gesellschaftliche N o r m e n Rechnung zu tragen, wenn man also die Reformen des Strafrechts seit den sechziger Jahren in der Bundesrepublik auf ihre längerfristigen Tendenzen hin betrachtet, so läßt sich eine Linie feststellen, die in Rechtsinstitute wie dem Absehen von Strafe mündet. Entkriminalisierung unter Berufung auf sozialen Wandel war in den sechziger Jahren bis zum Beginn der siebziger Jahre zumindest gleichgewichtig, wenn nicht vorzüglich, Reform der Strafbarkeitsbestimmung. Die wichtigen Reformen dieser Zeit waren Reformen des Besonderen Teils20. Mit intensiver Vorbereitung und Beteiligung der Wissenschaft setzten sich Entkriminalisierungen folgenreich durch im Bereich des politischen Straf rechts, des sogenann ten Sexualstraf rechts, der Religions· und der Demonstrationsdelikte. Auch die Reform der Delikte gegen das werdende Leben, erst 1976 zum Abschluß gekommen 21 , muß noch dieser Phase zugeordnet werden; die alternativen Lösungsmodelle, welche die Strafgesetzgebung dann später beeinflußt haben, lagen bereits 1970 im wesentlichen ausformuliert vor22, ihre endgültige Modifikation durch den Gesetzgeber hatte sich aus vielen Gründen, u. a. auch durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 25.2.1975 23 , verzögert. Die zweite Phase der Reform, die sich mit der ersten überschneidet, aber historisch und sachlich klar von ihr unterschieden werden kann, prägte die siebziger Jahre. Ihr Zentrum dürfte vor allem vom Allgemeinen Teil des Alternativ-Entwurfs24 ausformuliert worden sein, der insbesondere im Bereich der Rechtsfolgen wichtige Veränderungen eingeleitet hat. Das Einführungsgesetz zum StGB vom 2.3.19 7425 und die ihm voraufgegangenen beiden ersten Strafrechtsreformgesetze 1969 machten Kriminalpolitik auf dem Gebiet der Rechtsfolgen und konnten dabei Vorschläge des Alternativ-Entwurfs übernehmen. Statt Zuchthaus, 20 Einzelheiten bei Achenbach, Kriminalpolitische Tendenzen in den jüngeren Reformen des Besonderen Strafrechts und des Strafprozeßrechts, in: JuS 1980, 81 ff. 21 15. StrÄG vom 18.5.1976 (BGB1.I, 1213). 22 AE-BT. Straftaten gegen die Person, 1. Halbband, 1970; vgl. dort die Begründungen zur sogenannten Fristen- und Indikationslösung, S. 25 ff., 37ff. 23 BVerfGE 39, 1; vgl. dazu Riipke, Schwangerschaftsabbruch und Grundgesetz, 1975. 24 In erster Aufl. 1966 erschienen. 25 BGBl. I, 469.
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Gefängnis, Haft und Einschließung wurde die sogenannte „Einheitsstrafe" eingeführt, die als kriminogen angesehene kurzfristige Freiheitsstrafe wurde wesentlich eingeschränkt, die Möglichkeiten, eine Strafe zur Bewährung auszusetzen, wurden erweitert, die Geldstrafenregelung wurde auf das Tagessatzsystem umgestellt, dem Strafrichter wurde die Möglichkeit gegeben, die Verurteilung zu einer Strafe vorzubehalten oder von der Verhängung einer Strafe abzusehen; außerdem wurden bei zahlreichen Delikten die Strafdrohungen reduziert, viele Strafrahmen wurden erweitert. Im Strafverfahrensrecht erhielt die Staatsanwaltschaft die Befugnis, bei nicht-qualifizierten Vermögensdelikten das Verfahren ohne Zustimmung des Gerichts einzustellen, wenn ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung nicht besteht und wenn Schaden und Schuld des Täters gering sind (§153 I 2 StPO). Nach §153 a StPO können Staatsanwaltschaft bzw. Gericht von der Erhebung der Klage absehen bzw. das Verfahren bei Vergehen einstellen, wenn die Erfüllung von Auflagen oder Weisungen durch den Beschuldigten das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung beseitigt. Diese zweite Reformphase, die auf den Rechtsfolgenbereich konzentriert ist und der sich auch das Institut „Absehen von Strafe" verdankt, hat mit der ersten Phase, welche die Grenzen der Strafbarkeit teilweise neu bestimmt hat, inhaltlich wenig zu tun. Während man für die Veränderungen im Bereich der Strafbarkeitsbestimmung je verschiedene Konzepte und Situationen ausmachen kann - das Prinzip des Rechtsgüterschutzes, ein vergleichsweise entspanntes Klima im Verhältnis zur D D R , Phasen innenpolitischer Stabilisierung oder auch Unruhe - , sind die Reformen im Rechtsfolgenbereich im wesentlichen auf ein einziges Konzept zurückzuführen: auf eine Orientierung der Kriminalpolitik auf den Täter hin und damit auf das Prinzip der Resozialisierung. Reformen im Bereich der Strafbarkeitsbestimmung hingegen lassen sich, wenn überhaupt eine allgemeinere Linie erkennbar ist, eher vom Interesse des Opfers leiten26. Der Widerspruch zwischen Reformen bei der Bestimmung der Strafbarkeit von Verhalten und der Entkriminalisierung über die Rechtsfolgen wird noch deutlicher, wenn man die jüngsten Gesetzesänderungen im Besonderen Teil des StGB und im Strafverfahrensrecht mit einbezieht. Diese Entwicklung ist gekennzeichnet durch Neukriminalisierungen aus Kriminalitätsfurcht und dem Wunsch nach legislatorischer Perfektion im materiellen Strafrecht einerseits und eine Einschränkung strafverfahrensrechtlichen Schutzes und Freiraums andererseits27 - bei gleichzeitig fort-
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So etwa Naucke, Tendenzen in der Strafrechtsentwicklung, 1975, S. 43 u. ö. Übereinstimmend Achenbach, JuS 1980, 84, 87, 88.
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wirkenden entkriminalisierenden Tendenzen im Bereich der Rechtsfolgen. O b sich hier eine „Tendenzwende" vollzogen hat, welche die Rechtsfolgenproblematik (noch?) nicht erfaßt hat, mag unentschieden bleiben die Zahl und Intensität der Neukriminalisierungen und strafverfahrensrechtlichen Freiheitsbeschränkungen seit 1976 ist jedenfalls beeindrukkend : Das Erste Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskrimianlität vom 29.7.1976 2 8 mit den neu geschaffenen Tatbeständen des Subventionsund Kreditbetrugs (§§264, 265 b StGB) und einer Effektivierung der Erfassung des Bankrotts (§283 StGB); das 14. Strafrechtsänderungsgesetz vom 2 2 . 4 . 1 9 7 6 " mit der sogenannten „Vorfeldkriminalisierung" der verfassungsfeindlichen Befürwortung von Straftaten (§ 88 a StGB) und der Anleitung zu bestimmten Straftaten (§ 130 a StGB); das Erste AntiTerrorismus-Gesetz vom 18. 8.1976 30 mit einer speziellen N o r m gegen terroristische Vereinigungen, deren eigentliche Zielrichtung freilich im Gebiet des Strafverfahrens liegt; Erleichterung der Fahndung durch Errichtung von Kontrollstellen und Durchsuchung ganzer Gebäude bei Terrorismusverdacht, Beschränkungen im Bereich der Verteidigung, Kontaktsperregesetz usw. Hier ist nicht der Ort, diese Gesetzesänderungen im einzelnen zu registrieren und zu diskutieren. Vielmehr kommt es darauf an, sie als Teil der aktuellen Reformpolitik im Bereich des Strafrechts zu verstehen und sie mit der kriminalpolitischen Tendenz im Bereich der Rechtsfolgen in eine Beziehung zu bringen. N u r eine Gesamtbetrachtung aller Reformbereiche vermag ein verläßliches Bild der Situation zu vermitteln, in der wir uns derzeit befinden. Es braucht freilich wohl kaum betont zu werrden, daß eine Gesamtbetrachtung im gegebenen Rahmen nur skizzenhaft möglich ist; Konkretisierungen und Korrekturen sind zu erwarten, wenn Einschätzungen auf breiterer Materialbasis,-vor allem auch im internationalen Vergleich 31 , getroffen werden.
BGBl. I, 2043. BGBl. I, 1056. 50 BGBl. I, 2181. 51 Nach der Ansicht von J e s c h e c k dürften sich die Befunde in unserem Rechtsgebiet freilich wenig unterscheiden von Reformtendenzen im übrigen Europa, im Bereich des anglo-amerikanischen, des sozialistischen und des lateinamerikanischen Rechtskreises. Er sieht (AT, S. 79 f.) das deutsche Reformwerk als Teil einer internationalen Bewegung seit Ende der 50er Jahre. 28
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IV. Analyse der Reformtendenzen Verwendet man die Kriterien kriminalpolitischer Bewertung, die sich offenbar durchzusetzen beginnen32 - Menschenwürde und Humanität, Rationalität, Effektivität des Strafrechtsschutzes, Sozialstaatlichkeit, Freiheitlichkeit - , so fällt die Einordnung der aktuellen kriminalpolitischen Tendenzen nicht schwer: Reformen der Strafbarkeitsbestimmung und der Gestaltung von Verfahren folgen derzeit eher dem Ziel einer effektiven Strafrechtspflege, Reformen im Rechtsfolgenbereich (einschließlich der Erledigung von Verfahren vor dem Urteil) folgen bereits seit langem eher den Zielen von Humanität und Freiheitlichkeit. Diese Einteilung ist freilich so global wie die Kriterien, die sie zugrundelegt. Solange die kriminalpolitische Theorie nicht über präzisere Differenzierungen verfügt, stehen ihre Chancen schlecht, die Politik der Strafgesetzgebung tiefergehend zu analysieren und folgenreich zu kritisieren Immerhin gestattet die Einordnung der aktuellen kriminalpolitischen Tendenzen eine vorläufige Einschätzung der derzeitigen Reformpolitik, die möglicherweise auch die Entwicklung kriminalpolitischer Bewertungskriterien voranbringt. Das Phänomen, welches vor allem erklärungsbedürftig ist, ist die vordergründige Widersprüchlichkeit der strafrechtlichen Reformpolitik. Das Ziel, Resozialisierung (oder besser: Nichthinderung gelungener oder gelingender Sozialisation) über Freistellung von Rechtsfolgen zu erreichen, läßt sich mit der Praxis umfangreicher Neukriminalisierung offenbar nur vereinbaren, wenn ein kriminalpolitisches Entscheidungsprinzip zur Hand ist, welches die beiden gegenläufigen Tendenzen einer einheitlichen Beurteilung zugänglich macht". Ein erster Zugang zu genauerer Betrachtungsweise eröffnet sich, wenn man nach dem Typus von Kriminalität unterscheidet. Was Neukriminalisierungen im Bereich des Besonderen Teils und deliktsspezifisch bedeutsame Verschärfungen des Strafverfahrensrechts herausgefordert hat, ist keineswegs die „klassische" Kriminalität der Diebe, Räuber und Mörder oder mittlerweile auch der Straßenverkehrssünder, sondern ist ein Typus von Kriminalität, der die öffentliche Meinung seit geraumer
32 Vgl. etwa Zipf, Kriminalpolitik, 1973, S. 2bii.\Achenbach, JuS 1980, 86ff.-Jescheck, AT, S. 16 ff. 53 Siehe auch die insoweit pessimistische Einschätzung bei Achenbach, JuS 1980, 89 unter VI. 34 Vgl. auch die ganz ähnliche Fragestellung, mit der Lüderssen, Strafrecht und „Dunkelziffer", in: Lüderssen/Sack (Hrsg.), Seminar: Abweichendes Verhalten I, 1975, S. 244 ff., einsetzt: der differenten kriminalpolitischen Beurteilung der Dunkelziffern bei Abtreibungs- und Wirtschaftsdelikten.
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Zeit stark beschäftigt: die Kriminalität der Terroristen und der Wirtschafts-, neuerdings auch der Umwelttäter. Dieser Unterscheidung im Bereich der Neukriminalisierung entspricht eine differenzierende Betrachtung der Reformen im Bereich der Rechtsfolgen. Naucke hat gezeigt35, daß die Tendenz auf Humanität, Resozialisierung und Täterorientierung im Rechtsfolgenbereich keineswegs unangefochten ist, daß die Reform der Geldstrafe vielmehr auf das Gegenteil von Resozialisierung, nämlich auf „politische Distanzierung" 36 gegenüber den Beziehern hoher Einkommen hinausläuft. Die Höchststrafe, die sich nach § 54 II StGB auf insgesamt 7,2 Millionen D M beläuft und die sich nach den Vorstellungen im Sonderausschuß für die Strafrechtsreform gegen Wirtschaftsstraftäter richtet, steht quer zu Ergebnissen der Strafrechtsreform, wie sie sich etwa im Institut des „Absehens von Strafe" dokumentieren. Damit steht die Frage an, ob man angesichts dieser divergierenden Tendenzen überhaupt noch von einer (einheitlichen) Strafrechtspolitik sprechen kann. Derzeit spricht vieles für die Richtigkeit von abschließenden Beurteilungen, die von einer „parteitaktischen Einflußnahme auf die konkrete Kriminalpolitik" 37 oder von „vielfältigen Zickzack- und Gegenbewegungen" 38 sprechen und das Heil von einer besser begründeten und tiefer reflektierenden kriminalpolitischen Theorie erwarten39. Nichts gegen eine solche Theorie - zugleich aber wäre zu fragen, ob die Kriminalpolitik der letzten Jahre nicht doch einen höheren Grad an Einheitlichkeit bzw. konsistenter Zielverfolgung aufweist, als ihre Ergebnisse dies vorderhand zu dokumentieren scheinen. Diese Frage soll am Institut des „Absehens von Strafe" exemplarisch diskutiert werden. Nach einem in Einzelheiten umstrittenen, im Kern aber sicherlich zutreffenden Modell 40 ist es Aufgabe der Strafgesetzgebung, die kriminalpolitisch verfolgten Zwecke in Entscheidungsprogramme zu übersetzen, die der an das Gesetz gebundene Strafrichter als Konditionalprogramme in Sachverhaltsentscheidungen transponieren kann und die so präzise informieren wie irgend möglich (nullum crimen, nulla poena sine lege). Erfüllt der Strafgesetzgeber diese Aufgabe, so genügt er nicht nur der Verfassung, sondern er unterstützt damit auch die wissenschaftlichen Bemühungen um den Ausbau einer kriminalpolitischen Theorie: er Naucke, Tendenzen in der Strafrechtsentwicklung, S. 6 ff. Ebenda S. 8. 37 Achenbach, JuS 1980, 89. 38 Naucke, Tendenzen in der Strafrechtsentwicklung, S. 61. 39 Achenbach, ebenda; Naucke, a.a.O., S. 61 f. 40 Vgl. Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität. Uber die Funktion von Zwekken in sozialen Systemen, 1973, S. 101 ff., 257ff.; ausführlicher zur Diskussion mein Buch Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, S. 27ff., 195 ff. 55 36
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ermöglicht konsistente und transparente Strafrechtsprechung und die Kontrolle einer Ubereinstimmung zwischen Strafgesetzgebung und Entscheidungstätigkeit des Strafrichters. Der Strafrichter kann sich in einem so beschaffenen Strafrechtssystem auf die Konkretisierung und behutsame Weiterentwicklung der kriminalpolitischen Zwecke innerhalb der ihm von der Verfassung gesetzten Grenzen beschränken und die mitbeteiligte Öffentlichkeit an den Entwicklungen der Strafrechtsprechung kritisch teilnehmen lassen. Trotz der gerade in jüngster Zeit sich wieder verstärkenden Kritik in der Bundesrepublik an einer wachsenden Gesetzesflut und an in Einzelheiten schlampiger Arbeit des Gesetzgebers wird man sagen können, daß die hier so genannte erste Phase der Änderungen von Strafgesetzen die legislatorischen Aufgaben der Zweckformulierung in Konditionalprogrammen im wesentlichen erfüllt hat. Die Neukriminalisierungen und die Einschränkung verfahrensrechtlicher Freiräume ist vergleichsweise präzise von seiten des Gesetzgebers eher mit zuviel als mit zuwenig Informationen für den Strafrichter versehen. Ein ganz anderes Bild bieten insofern die Reformen im Rechtsfolgenbereich. Das Institut des „Absehens von Strafe" hat dabei durchaus exemplarischen Charakter 41 . Die Vorschriften aus dieser Phase der Strafrechtsreform weisen spezifische Ungenauigkeiten auf, die das Verhältnis von Strafgesetzgebung und Strafrechtsprechung in ein anderes Licht stellen. §60 StGB ist, ebenso wie etwa §§59 StGB, 153 a StPO, in der Beschreibung der Ausgangsbedingungen außerordentlich vage. Die N o r m „bindet" den Richter lediglich an eine Einschätzung, die er selber gewinnen muß (eine Strafverhängung wäre „offensichtlich verfehlt"), und nennt eine Grundlage dieser Einschätzung (Tatfolgen zum Nachteil des Täters). Wohlwollende Kritiker der Vorschrift haben davon gesprochen42, § 60 StGB bilde einen „Mikrokosmos aller Strafzwecke"; dadurch ist zugleich zum Ausdruck gebracht, daß die Anwendungsbedingungen der N o r m disponibel sind - je nach dem, welchem Strafzweck der Normanwender anhängt. Es kann ja derzeit und wohl noch auf absehbare Zeit keine Rede davon sein, daß man sich in Wissenschaft und Praxis auf eine Hierarchie der Strafzwecke verständigen könnte 43 . 41 Vgl. die Kritik von Dreher, Maurach-Festschrift, S. 275 ff., an der Verwarnung mit Strafvorbehalt und von Cramer, Maurach-Festschrift, S. 487 ff., an den Möglichkeiten der Verfahrenseinstellung. 42 Vgl. Eser, Absehen von Strafe - Schuldspruch unter Strafverzicht. Rechtsvergleichend kriminalpolitische Bemerkungen, namentlich im Blick auf das DDR-Strafrecht, in: Maurach-Festschrift, S.260; auch Müller-Dietz, Lange-Festschrift, S.321. 43 Vgl. nur Bruns, Strafzumessungsrecht. Gesamtdarstellung, 2. Aufl. (1974), S. 209 ff. mit zahlreichen Nachweisen.
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Folgerichtig hat sich die Rechtsprechung geweigert, die Anwendbarkeit des §60 StGB etwa über die Schuldform oder die Qualität des verletzten Rechtsguts einzuschränken 44 ; § 60 wird auf jede Straftat angewendet, auch auf vorsätzliche Tötung45, der fehlgeschlagene Doppelselbstmord46 oder die Tötung aus Mitleid47 sind typische Fälle für das Absehen von Strafe. Wie zu erwarten, bedienen sich die Gerichte in einer so wenig strukturierten Entscheidungssituation einer moralisierenden Argumentation wie etwa der, die Täterin werde durch die aus dem gescheiterten Suicid entstandene Selbstschädigung immer wieder an ihre Tat erinnert48, oder derjenige, „der in einer ihm ausweglos erscheinenden Situation die ihn treffenden Folgen vorsätzlich herbeiführt", verdiene „sogar häufig mehr Mitgefühl . . . als derjenige, der durch sein Tun nur anderen zu schaden glaubt" 4 '. Sehr präzise hat der Gesetzgeber hingegen die Grenze in § 60 Satz 2 StGB gezogen. Dort sind vom Rechtsinstitut „Absehen von Strafe" die Fälle ausgenommen worden, in denen die eigentlich verwirkte Freiheitsstrafe mehr als ein Jahr beträgt. Natürlich hat auch diese Gesetzesbestimmung Auslegungsprobleme nicht verhindern können - etwa bei der Frage, ob bei der Bemessung der an sich verwirkten Strafe sämtliche Zumessungsgründe einschließlich der Tatfolgen in die Würdigung einzubeziehen sind oder nicht50. Dieser Streit scheint mir freilich weitgehend akademischer Natur zu sein - angesichts der mangelnden Präzision des Strafzumessungsrechts wird der Richter im Regelfall nicht gehindert sein, die Fälle, in denen er im Ergebnis von Strafe absehen will, den Grenzen des § 60 Satz 2 einzuordnen und dies unanfechtbar zu begründen. Kriminalpolitisch bemerkenswert ist allerdings, daß der Gesetzgeber in §60 Satz 2 StGB die Alternative gewählt hat, die generalpräventiv motivierte Begrenzung des täterorientierten Rechtsinstituts numerisch und damit präzise zu formulieren. Denselben Weg hat er teilweise bei der Strafaussetzung zur Bewährung gewählt, wo § 56 in den Absätzen 1 und 2 StGB die Einjahres- und für Ausnahmefälle die Zweijahresgrenze bestimmt. In zahlreichen anderen Vorschriften, die dem §60 StGB in ihrer kriminalpolitischen Tendenz vergleichbar sind, ist die Grenze der Anwendbarkeit ebenso vage bestimmt, wie es in § 60 StGB die Voraus§ 58 AE hatte vorsätzliche Straftaten gegen das Leben ausgenommen. Vgl. die Nachweise bei Stree, in: Schönke/Schröder, StGB, 20. Aufl. (1980), §60 Rdnr.9. 46 BGH, MDR 1972, 750. 47 BGH, N J W 1978, 768. 4» BGH, MDR 1972, 750. 49 BGH, N J W 1978, 768. 50 Vgl. etwa einerseits Dreher/Tröndle, StGB, 39. Aufl. (1980), §60 Rdnr.2; andererseits Maiwald, JZ 1974, 775. 44
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Setzungen der Anwendbarkeit sind. So spricht etwa § 153 a StPO für das vorläufige Absehen von Klage und die vorläufige Einstellung von geringer Schuld und öffentlichem Interesse, und das wegen seiner Vagheit äußerst umstrittene Merkmal „Verteidigung der Rechtsordnung" zieht die äußerste Grenze bei der Strafaussetzung zur Bewährung (§56111 StGB) und beschränkt das vom Resozialisierungsinteresse her begründete Verbot der Verhängung kurzer Freiheitsstrafen (§ 471 StGB) sowie auch das Rechtsinstitut der Verwarnung mit Strafvorbehalt (§591 N r . 3 StGB). Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Instituts „Absehen von Strafe" seine Aufgabe, kriminalpolitische Zwecke in einem präzisen Entscheidungsprogramm zu formulieren, bezüglich der Begrenzung des Instituts erfüllt hat, bezüglich der Anwendungsvoraussetzungen hingegen nicht. Dies bedeutet, daß das Institut von der gesetzlichen Formulierung her einen zwar begrenzten, in dieser Begrenzung aber äußerst variantenreichen Anwendungsspielraum hat. Betrachtet man jedoch die Praxis der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu § 60 StGB51, so stellt man fest, daß die Struktur der gesetzlichen Formulierung von der Gerichtspraxis nicht widergespiegelt wird. Die bisher unter § 60 StGB - sowohl positiv als auch negativ - entschiedenen Fälle umfassen auch die schwerste Form deliktischen Handelns, die vorsätzliche Verletzung des Rechtsguts Leben, und sie sind vom Deliktstyp her äußerst variantenarm : sie teilen sich auf zwischen Verletzungen im Straßenverkehr (dies ist deutlich der Haupttypus) und Tötung nahestehender Personen. Eine Erklärung der Diskrepanz zwischen der Struktur der gesetzlichen Vorschrift und der Praxis der Rechtsprechung ist nicht einfach. Der Versuch einer solchen Erklärung verweist auf die Frage, ob das Absehen von Strafe im derzeitigen kriminalpolitischen System einen Stellenwert hat und welchen. V. Der Stellenwert des §60 StGB im derzeitigen kriminalpolitischen System Daß § 60 StGB für gewisse Fallgruppen eine hilfreiche Funktion hat, zeigt die höchstrichterliche Rechtsprechung bereits mit ausreichender Deutlichkeit. Es sind dies die Konstellationen, in denen der Verletzer fremder Interessen durch seine Tat und deren Folgen in seinen eigenen Interessen so getroffen ist, daß eine Bestrafung ohne jeden Sinn wäre. Es fragt sich jedoch als erstes, ob die Rechtspraxis dasselbe sinnvolle 51
Zusammenstellung bei Horn, in: Zbornik, S. 383 ff.
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Ergebnis nicht auch ohne eine solche Gesetzesvorschrift herstellen könnte. Diese Frage ist wohl zu bejahen. Jedenfalls in den meisten Konstellationen ist zu erwarten, daß entweder die Verwarnung unter Strafvorbehalt, die Strafaussetzung zur Bewährung oder vor allem die Einstellung des Verfahrens 52 eine begründbare und vom Ergebnis her ebenso taugliche Alternative wäre. Man muß sich mithin über den Wert von gesetzlichen Differenzierungen im Rechtsfolgenbereich schlüssig werden, die sich teilweise überschneiden". Daß eine Uberschneidung nicht zu verhindern ist, ergibt sich bereits zwingend aus der gezeigten Vagheit der Anwendungsvoraussetzungen der hier bedeutsamen Rechtsinstitute: Je weiter der Entscheidungsspielraum des Strafrichters insofern ist, desto größer ist die Kompatibilität dieser Institute in der Praxis. Diese Erkenntnis muß selbstverständlich zu der Forderung führen, die Anwendungsvoraussetzungen solcher Institute so zu präzisieren, daß sie anderen strafrechtlichen Normen insoweit vergleichbar werden. Frühere Entwürfe und gesetzliche Formulierungen sind bereits so verfahren 54 . Solange der Strafrichter nur in wenigen Ausnahmefällen daran gehindert ist, mit Hilfe von Milderungsgründen die Einjahresfrist des § 60 Satz 2 StGB einzuhalten, solange lediglich die Einschätzung, daß eine Strafverhängung „offensichtlich verfehlt" wäre, über die Anwendung des § 6 0 S t G B entscheidet, befindet sich das Rechtsinstitut „Absehen von Strafe" hinsichtlich Voraussehbarkeit und Nachprüfbarkeit in der Nähe der Einrichtung, die ihm sowieso verwandt ist: dem Gnadenerweis 55 . Dennoch muß überlegt werden, ob diese Forderung in der derzeitigen kriminalpolitischen Situation vernünftig wäre. Mehrere Gründe sprechen dafür, die notwendige gesetzliche Präzisierung noch nicht sogleich zu verlangen, vielmehr die Konkretisierungen hinzunehmen und weiterzuentwickeln, welche die Rechtsprechung zu § 60 StGB erarbeitet. Zum einen muß erwartet werden, daß eine Präzisierung der Anwendungsbedingungen eine Verengung des Anwendungsbereichs der Vorschrift bedeuten würde. Das kriminalpolitische Klima scheint derzeit für Reformen im Resozialisierungsinteresse nicht günstig zu sein. Eine Verengung des Anwendungsbereichs der Vorschrift - dies ist die zweite Überlegung - wäre kriminalpolitisch nicht wünschenswert (auch 52 Bei dieser Alternative ist freilich die Abhängigkeit des Richters von der Zustimmung des Staatsanwalts in Rechnung zu stellen (s.a. §47111 JGG, §47111 OWiG; zur Kritik Cramer, in: Maurach-Festschrift, S. 489ff.). 53 Vor allem auf dieser Linie kritisiert Dreher (Maurach-Festschrift, S. 292 ff. und davor) das Institut der Verwarnung mit Strafvorbehalt. 54 Nachweise bei Horn, Zbornik 1978, 387f. 55 Zu diesem Zusammenhang schon Eser, Maurach-Festschrift, S.260; Müller-Dietz, Lange-Festschrift, S. 303.
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wenn sie mit einer Präzisierung der Merkmale einherginge). Wie sich gezeigt hat, ist das Verhältnis von gesetzlicher Information und Praxis der Gerichte bei dieser N o r m besonders prekär. Dies liegt wohl vor allem darin begründet, daß das Absehen von Strafe sehr diffuse, grundlegende und moralische (oder moralisierende) Entscheidungserwägungen herausfordert, die von einer gesetzlichen Formulierung wohl schwerlich gesteuert werden können. Die Rechtsprechung hat sich bislang auf Konstellationen beschränkt, die man als „tragisch" bezeichnen kann Ausnahmefälle, die nach herkömmlichem Rechtsverständnis Gnadenfälle sind. Dieses Vorgehen der Rechtspraxis ist nicht verwunderlich in einem kriminalpolitischen Klima, wie es oben56 beschrieben und analysiert worden ist, und angesichts der Tatsache, daß §60 eine weitreichende Umorientierung im Verhältnis von Strafbarkeit und Rechtsfolge vorschreibt. Es liegt nahe, daß sich die Praxis angesichts dieser Situation zuerst einmal an bekannte, gut aufgeklärte Konstellationen hält: an die klassische Situation der Ausweglosigkeit in bestimmten personalen Beziehungen und an die moderne Situation des menschlichen Versagens im komplizierten Straßenverkehr. Hier sollte die Rechtsprechung ermuntert werden, den von § 60 Satz 1 StGB nicht beschränkten Variantenreichtum der Deliktstypen in der Handhabung dieses Instituts auch tatsächlich zu berücksichtigen. Eine letzte Überlegung kommt hinzu. Wie die ihm vergleichbaren Vorschriften steht §60 sachlich unter der einschüchternden Voraussetzung, daß seine Anwendung die „Verteidigung der Rechtsordnung" nicht gefährden dürfe; mit diesem Terminus bzw. Paraphrasen zu ihm argumentieren die Gerichte auch bei § 60 StGB durchweg. Dieses Merkmal ist für die Gerichtspraxis und für kriminalpolitische Entwicklungen im Wege dieser Praxis eine schwere Belastung. Der Aufgabe, die Rechtsordnung zu verteidigen, können die Gerichte weder nach ihrer Funktion noch nach ihren Möglichkeiten tauglich nachkommen". Mit dem Merkmal „Verteidigung der Rechtsordnung" (bzw. einer zeitlichen Beschränkung bezüglich der relevanten Straftaten) hat der Gesetzgeber die Grenze markiert, bis zu der eine Orientierung der Kriminalpolitik an Täterinteressen vertretbar ist. Was die „Verteidigung der Rechtsordnung" im einzelnen fordert und ob sie mit einer Täterorientierung tatsächlich konfligiert 58 , kann nur eine vorsichtige Weiterentwick56
Unter III, IV. Einzelheiten bei Naucke u.a., „Verteidigung der Rechtsordnung". Kritik an der Entstehung und Handhabung eines strafrechtlichen Begriffs, 1971, bes. S. 47 ff., 67 ff., und in meinem Buch Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, S. 113 ff., 118 ff., 156 ff. 58 Zu diesem letzten Gesichtspunkt einige Bemerkungen in meinem Aufsatz Generalprävention und Strafzumessung, S. 52 f. 57
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lung der Praxis erweisen. Ich erwarte, daß eine täterorientierte Reformpolitik der Rechtsfolgen noch wesentlich weiter voranschreiten kann als bisher, ohne die „Verteidigung der Rechtsordnung" in Gefahr zu bringen. Erste Schritte könnten schon jetzt sowohl die Gesetzgebung als auch die Rechtsprechung tun: die zeitliche Grenze des § 60 Satz 2 StGB müßte auf zwei Jahre erweitert werden, um größere Bereiche der Kriminalität reformpolitisch zu erfassen; der Typus der Delikte, die von §60 erfaßt sind, müßte mehr Variationen aufnehmen.
Stiefkind des Strafrechts: Umweltschutz
BARBARA JUST-DAHLMANN
Mein juristisches Leben lang war ich „eigentlich" stets mehr Praktiker als Theoretiker. Aber immer einmal zwang mich jemand oder etwas, von Zeit zu Zeit „in die Theorie" einzusteigen: sei es mein Doktorvater Adolf Schänke, sei es Erik Wolf\ bei dem ich als Assistentin arbeiten durfte, sei es der Jubilar, als er mir 1968 ein Referat vor dem Juristentag „auferlegte". Ich sehe ihn noch heute vor mir, wie er mißbilligend (wortlos und so von unten herauf!) blickte, als ich - von meinem theoretischen Referat abweichend - schnell einmal dem in der 1. Reihe sitzenden damaligen Bundesjustizminister Heinemann zurief, er möge schleunigst den § 175 aus dem StGB schaffen, weil sonst der Gesetzgeber pervers sei und nicht der Angeklagte. Werner Sarstedt also blickte - wortlos und so von unten herauf - mißbilligend, und ich zwang meine Gedanken schnell wieder zum Referat zurück. Aber einem eingefleischten Praktiker fällt es halt immer schwerer, theoretische Ausführungen streng durchzuhalten so ganz ohne lebendige Beispiele - so blutleer... So sei mir auch an dieser Stelle erlaubt, ganz plastisch aus der Praxis zu schildern, was Staatsanwälten - mir zum Beispiel im Bereich der Umweltkriminalität - Sorgen macht, ehe ich die dazugehörigen theoretischen Erörterungen zu Papier gebe. Der strafrechtliche Umweltschutz ist nämlich tatsächlich ein Stiefkind der Rechtsprechung und der Wissenschaft* - gemessen an dem, was in anderen Detailfragen entschieden und was darüber geschrieben wird. Meine Beispiele stammen aus Mannheim, wo ich arbeitete, als sie Gegenstand von Verfahren waren. Überregionale Tagungen zum Thema zeigen jedoch, daß es andernorts genauso aussieht. So also die Praxis: Vor einiger Zeit verbreitete sich über einem Teil Mannheims ein unerträglicher Gestank. Hierauf gingen bei der Tageszeitung „Mannheimer Morgen" (nicht bei der Polizei!) zahlreiche telefonische Beschwerden ein. Der „Mannheimer Morgen" benachrichtigte hierauf „die Polizei" (konkret: einen hierfür beim Städt. Ordnungsamt zuständigen Ingenieur). Der Ingenieur „vermutete" (wie es im späteren Bericht hieß) auf 9 Nach Abschluß des Manuskriptes erschienen die Beiträge von Herrmann Triffterer in ZStW 91 (1979) 281 ff., 309 ff.
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Grund seines eigenen Geruchssinns (!), daß der Gestank von der Badischen Anilin- und Soda-Fabrik - Werk Ludwigshafen ausgeht. Schnell rief er hierauf telefonisch die BASF (also den potentiellen Beschuldigten des einzuleitenden Verfahrens!) an und forderte dort auf, die Quelle der Immission zu ergründen. Die BASF (also die „Beschuldigte") schickte darauf ihren firmeneigenen (!) Meßwagen aus, um die Konzentration der Immission zu messen. In ganz Mannheim gab es nämlich weder bei der Polizei noch beim Gewerbeaufsichtsamt noch sonst bei einer staatlichen oder städtischen Dienststelle auch nur einen jederzeit einsetzbaren fahrbaren Meßwagen zur Beweissicherung. Man mußte also die „Beschuldigten" bitten, ihre eigene - möglicherweise strafrechtlich relevante - Immission zu messen! - Die BASF teilte dann auch ihr Meßergebnis (niemand konnte prüfen, ob es stimmt) mit; aber nicht an Polizei oder Staatsanwaltschaft, sondern an den „Mannheimer Morgen". Dort konnte es die Polizei und die Staatsanwaltschaft dann lesen. Es stellte sich heraus, daß die Immission auf das Ausfallen einer Sicherungsanlage zurückzuführen war - ein Umstand also, der - wie bei jedem sonstigen Betriebsunfall - dringend die sofortige Anwesenheit von Polizei und technischen bzw. der Chemie kundigen Sachverständigen erfordert hätte. Weder Polizei noch neutrale Sachverständige waren jedoch zur Zeit der Immission oder danach am Tatort gewesen. Niemand hatte bisher nachgeforscht, wer für das Ausfallen der Sicherungsanlage verantwortlich ist. Auch die Staatsanwaltschaft schickte - eingefahrener und bisher nie neu überdachter Routine gemäß - die Akten lediglich dem örtlich zuständigen Gewerbeaufsichtsamt Neustadt zur Stellungnahme. Von dort kamen die Akten nach Wochen mit der Feststellung zurück, es habe an dem in Frage stehenden Tag eine ungünstige Wetterlage geherrscht. Wer für den Ausfall der Sicherungsanlage verantwortlich ist, war auch in diesem Bericht nicht zu finden. Die Ermittlungen dauerten an, das Ergebnis konnte man sich von vornherein unschwer vorstellen. Ein anderer Fall: Ebenfalls vor einiger Zeit verbreitete sich in Mannheim-Waldhof ein überdurchschnittlich unangenehmer Gestank, der eine Reihe von Bürgern wegen tränender Augen und schwerem körperlichen Mißbehagens zu Anzeigen bei der Polizei trieb. Der zuständige Sachbearbeiter dort schickte hierauf einen Funkstreifenwagen aus, um festzustellen, woher der Gestank rührt. Die Polizeibeamten vermuteten - nichts anderem als ihrer Nase folgend - denn noch einmal: einen jederzeit einsetzbaren fahrbaren Meßwagen besaß in Mannheim weder Polizei noch Gewerbeaufsichtsamt noch sonst eine neutrale Stelle, daß der Geruch von der Firma „Z" kommt. Wiederum wurde
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hierauf der potentielle Beschuldigte (!) - die Firma „ 2 " - telefonisch um Untersuchung gebeten. Weder Polizei noch Sachverständige begaben sich - wie bei jedem anderen Delikt, vor allem aber auch bei jedem anderen Betriebsunfall - sofort an den Tatort. Die der „Tat" dringend verdächtigte Firma aber teilte nach einigen Stunden (als eine neutrale Beweissicherung gar nicht mehr möglich war) mit, bei ihr sei alles in Ordnung, sei sei nicht der Verursacher. Hiermit zusammenhängend ein Fall, der zur Wasserverschmutzung gehört, aber gleichzeitig zu übelsten Geruchsbelästigungen führte und die Rückständigkeit der Fachbehörden aufzeigt: Das Justizministerium übermittelte der Staatsanwaltschaft die Ablichtung eines Rundfunkberichts, der lautete: „Am Rhein bei Mannheim, unweit der hessischen Grenze: Tonnenweise stürzt Abwasser in den Strom. Stinkende Industrieabwässer: U b e r der Landschaft liegt ein ekelerregender, penetranter Geruch. Uber viele hundert Meter treiben die übelduftenden Schaumfetzen rheinabwärts : in Richtung Hessen. Der „Stinkkanal" - so heißt der betonierte Graben inzwischen selbst auf amtlichen Karten - ist ein Skandal. W o immer er auf seinem kilometerweiten Weg längs des Mannheimer Alt-Rheins oberirdisch verläuft, erfüllt er - je nach Windrichtung und Wetter - weite Flächen mit seinen durchdringend riechenden Gasschwaden. Selbst wenn man von der Belastung des Rheins durch die tonnenweise eingeleiteten Chemikalien absieht: allein die Belästigung durch den Gestank sollte Grund genug für ein Einschreiten der zuständigen Behörde sein." Darauf die Antwort der Fachbehörde auf Ersuchen der Staatsanwaltschaft. „Soweit hier bekannt, haben bisher weder die Firma „Z" noch deren Vorgängerin in feststellbarer Weise so gegen Anordnungen oder Auflagen unseres Amtes verstoßen, daß sie strafrechtlich hätten belangt werden können. Dies mag nicht zuletzt auch darin begründet liegen, daß die um die Jahrhundertwende (!) erteilten Abwasserableitungsrechte in ihren Auflagen recht großzügig und in heute wohl nicht mehr denkbarer Form abgefaßt sind." Dies spricht Bände. Aus der Zeit der Jahrhundertwende! Und schließlich noch ein letzter Fall zur Illustration staatsanwaltschaftlichen Alltags : Zwei Personen erstatteten im Mai Anzeige gegen die Verantwortlichen der Firma „ F " mit der Behauptung, es würden durch diesen Betrieb Stoffe - nämlich Formalin und Dimethyl - formamid - in großer Menge an die Außenluft abgegeben, obgleich dies äußerst gefährlich sei. Insbe-
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sondere die Anwohner im Bereich des sog. Lackierhauses der Firma „F" klagten über Reizung der Augen und der Atmungsorgane und pelzigen Geschmack auf der Zunge. Die Staatsanwaltschaft übersandte die Akten dem Wirtschaftskontrolldienst (WKD) zu weiteren Ermittlungen. Nach über zwei Monaten ging die bemerkenswerte Antwort des W K D bei der Staatsanwaltschaft ein, in der zu lesen war, 1. der W K D sei für die Frage nach der Erfüllung eventueller Auflagen aufgrund der Gewerbeordnung nicht zuständig. Dafür „solle" das Gewerbeaufsichtsamt (GAA) Mannheim zuständig sein; 2. die Fa. „F" sei „beim gegenwärtigen Stand der Ermittlungen" nicht bereit, eine Stellungnahme abzugeben, wenn man ihr nicht konkrete Verstöße gegen gesetzliche Bestimmungen vorhalten könne; 3. Fälle von Gesundheitsschädigungen seien nicht bekannt. Eine nunmehr an das GAA gerichtete Anfrage brachte - nach weiteren 2Vi Monaten - eine Antwort, die genau auf das, worum es sich handelte, nicht einging. Im Oktober schickte die Staatsanwaltschaft die Akten der zuständigen Landesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Immissions- und Strahlenschutz (LAK) mit der Bitte, bezüglich der Formalinabgaben an die Außenluft und bezüglich der Grenzkonzentrationen von DMF Konzentrationsmessungen vorzunehmen. Im November kamen die Akten zurück mit der Mitteilung, das GAA habe im Oktober die Firma „F" (also den potentiellen „Täter")! aufgefordert, Emissionsmessungen bei der Landesanstalt in Auftrag zu geben. Die Landesanstalt schrieb dazu: „Da diese Messungen mindestens den gleichen Umfang haben werden wie die von Ihnen gewünschten, wird unsererseits vorgeschlagen, die Messungen im Auftrage der Firma „F" auszuführen und der Staatsanwaltschaft eine Kopie des Meßberichts zuzusenden." Das heißt mit anderen Worten: Die Messungen wurden nicht im Auftrag der Staatsanwaltschaft (unvorhergesehen - stichprobenweise), sondern im Auftrag (also nach Terminabsprache usw.) der verdächtigten Firmen ausgeführt. Nicht genug dieser erstaunlichen Ermittlungsart: Als nach - wiederum - 2Vi Monaten im Januar erinnert wurde, teilte die Landesanstalt - nach weiteren 6 Monaten - mit, daß ihre Untersuchungsberichte gemäß Auftrag der Firma „F" nur dem GAA vorgelegt werden. Der Staatsanwaltschaft, die als Strafverfolgungsbehörde der Landesanstalt den Meßauftrag erteilt hatte, wurde von der Landesanstalt nunmehr die Übersendung des Meflergebnisses verweigert, weil die
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Verantwortlichen der Firma „F" (die Beschuldigten des staatsanwaltschaftlichen Verfahrens) dies so wollten. Die Staatsanwaltschaft bat nunmehr - das Verfahren war inzwischen fast 1 Jahr alt - das GAA um die Meßergebnisse der Landesanstalt. Nach Ablauf von drei Wochen teilte das GAA Ablichtungen des Untersuchungsberichtes der Landesanstalt mit. Dabei stellte sich überraschenderweise heraus, daß für die mit der Anzeige beanstandeten Immissionen - nämlich die durch den „Lackierbau" verursachten - gar keine Messungen vorgenommen worden waren. Die Messungen betrafen ganz andere Bereiche der Fabrikation und zwar solche, die die Firma „F" selbst ausgesucht hatte. Man hatte also den Meßauftrag der Staatsanwaltschaft „zurückgestellt", weil der Beschuldigte selbst einen Meßauftrag - angeregt durch das GAA gegeben hatte, und bei der Durchführung des Auftrags waren die Stoffe, die die Staatsanwaltschaft gemessen haben wollte, gar nicht berücksichtigt worden. Das Verfahren enthält noch einige weitere - typische - Kuriosa. Doch mögen diese Beispiele zur Illustration der Praxis genügen, sonst blickt mein Lehrer Sarstedt am Ende wieder mißbilligend „von unten herauf". Der Lauf jedenfalls dieser Ermittlungen und Ermittlungsergebnisse wurde auch der Praktikerin Just-D. zu viel. Sie suchte in Rechtsprechung und Literatur Hilfe. Sie suchte und suchte und fand kaum etwas. So beschloß sie - diesmal gezwungen durch die sachunangemessene Behandlung von Umweltschutzverfahren im strafrechtlichen Bereich - ein gerade anhängiges Verfahren zum Gegenstand möglichst umfassender theoretischer Überlegungen zu machen, damit endlich einmal ein Anfang geschehe. Und so kam es zu umfangreichen Ermittlungen in dem obenangeführten Verfahren von Wasserverschmutzung, welche schließlich nicht nur den angezeigten Betrieb, sondern die Beamten der entsprechenden Wasserbehörden mit in die Beurteilung einbezogen. Am Ende der Ermittlungen stand die Einstellung des Verfahrens. Sie hätte kurz und bündig ausfallen können. Aber es war eine der auf diesem Gebiet so seltenen Gelegenheiten, einmal eine Anzahl von Rechtsfragen zu erörtern, die sich dem Praktiker in strafrechtlichen Umweltschutzfragen ständig stellen, und mit denen ihn Rechtsprechung und Wissenschaft bisher weitgehend allein gelassen haben. So entstand folgende Verfügung, die hier im Wortlaut wiedergegeben wird in der Hoffnung, so das Stiefkind Umweltschutz doch vielleicht der Adoption durch einige Strafrechtslehrer in den großen Familienverband der Nicht-Stiefkinder der Strafrechtswissenschaft aufzunehmen: Das Verfahren wird eingestellt. Die Ermittlungen haben folgenden Sachverhalt ergeben: Die Firma
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PWA stellt u.a. und im wesentlichen Zellstoff her. Zellstoff wird dadurch hergestellt, daß Holzschnitzel (überwiegend aus Abfallholz der Forstwirtschaft) mit Hilfe eines chemischen Lösungsmittels (Magnesiumbisulfit) zersetzt werden. Dabei werden alle Holzbestandteile aufgelöst außer den Zellstoff-Fasern, die nun vom Lösungsmittel getrennt werden. Das verbrauchte Lösungsmittel mit den gelösten Holzsubstanzen, die sogenannte Urlauge, stellt einen großen Teil der Abwasserlast dar. Die abgetrennten Zellstoffasern aber müssen außerdem noch durch mehrere Waschvorgänge von anhaftenden Verschmutzungen befreit werden. Dabei fällt wieder Abwasser an. Schließlich wird der Zellstoff noch gebleicht. Auch hierdurch entsteht eine nicht unerhebliche Abwasserlast. Die Urlauge wird zusammen mit den erfaßten Waschabwässern in thermischen Eindickern eingedampft und anschließend verbrannt. Auf diese Art und Weise werden bei der Firma PWA zur Zeit etwa 75 % der bei der Zellstoffherstellung anfallenden organischen Abwasserinhaltsstoffe eliminiert. Die restlichen 25 % werden mit dem Abwasser über den Freirheinkanal in den Rhein abgeleitet. Die Anfänge der PWA reichen in das vorige Jahrhundert zurück. Unter dem damaligen Namen ZFW entstand ein kleiner Betrieb, der nach Art der technischen Betreibung und nach Umfang der Produktion in keiner Weise mehr mit dem heutigen Betrieb zu vergleichen ist (Ausbau, Fusion mit Zweigstellen u.a.). Trotzdem steht fest, daß die erste wasserrechtliche Genehmigung aus dem Jahr 1894, die letzten (derzeit noch gültigen) wasserrechtlichen Genehmigungen zur Einleitung von Abwassern in den Rhein vom 12. November 1908 und vom 5. Dezember 1921 stammen. Diese Genehmigungen enthalten keine festen Einleitungswerte, bestimmten jedoch immerhin schon damals, daß die Fabrikabwasser vor Einleitung in den Kanal durch eine geeignete Anlage „genügend" zu reinigen sind. Außerdem wurde bereits damals festgelegt, daß für die Fischzucht schädliche Stoffe im Betrieb nicht verwendet werden durften. Die Abwassermenge wurde ebenfalls beschränkt. Inzwischen ist die eingeleitete Abwassermenge seit Jahren um ein Vielfaches gestiegen. Selbst der inzwischen den zuständigen Behörden vorgelegte Bewilligungsantrag sieht die Einleitung von 262m 3 /min. Abwasser vor. Diese Abwassermenge ist mit 222 kg gelöster organischer Trockensubstanz (OTS) belastet. Der Abstoß an O T S beträgt auf den Arbeitstag zu 24 Stunden umgerechnet 3201. Der dem Antrag zugrunde gelegte Zustand ist jedoch weder in der Produktion noch abwassermäßig heute schon erreicht. Er ist lediglich das Ziel eines Stufenplanes, der unter Berücksichtigung der technischen Gegebenheiten und der finanziellen Leistungsfähigkeit in Abhängigkeit von der marktwirtschaftlichen
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Situation der gesamten Zellstoff- und Papierindustrie der Bundesrepublik vorgelegt worden ist. A m 3. März 1975 wurden durch Beamte der Wasserschutzpolizei 3 Wasserproben an und unterhalb der Eintrittsstelle der PWA-Abwasser in den Rhein entnommen und der Chemischen Landesuntersuchungsanstalt übergeben. Deren Untersuchungsergebnis lautete ( 2 1 . 3 . 1 9 7 5 ) auszugsweise: „Am meisten belastet wurde das Flußwasser durch die extrem hohen Mengen an organischen Substanzen. So konnte ein Anstieg des Kaliumpermanganatverbrauches von 15,2 mg/1 (bei Rhein-km 432,7) auf 581 mg/1 (bei Rhein-km 431,8) festgestellt werden. N u r Vi der mit den Ablaugen abgeführten Stoffe wird durch die bei der Selbstreinigung sich abspielenden Vorgänge schnell abgebaut. Starke Sauerstoffzehrungen und Pilzbildungen, die mit einer entsprechenden Schädigung des Fischbestandes einhergehen, sind die Folge. Aus diesem Grunde stellt die Einleitung des vorliegenden Abwassers mit seinem extrem hohen Gehalt an organischen Stoffen, selbst für einen Vorfluter von der Größe des Rheins, eine nicht mehr vertretbare Belastung dar und muß formell als Verstoß gegen § 3 8 Wasserhaushaltsgesetz vom 27.Juli 1957 ( B G B l . I , S. 1110) beurteilt werden." Ein aufgrund späterer Wasserproben im Auftrag der Staatsanwaltschaft am 2 8 . 1 0 . 1 9 7 5 erstattetes Gutachten der Chemischen Landesuntersuchungsanstalt kommt zusammenfassend zu dem Ergebnis: „Bei den am Abwassereinlauf bei Rhein-km 431,7 entnommenen Proben handelt es sich trotz eines geringen Verdünnungseffektes um stark belastete Abwasser. Absetzbare Stoffe, Trocken- und Glührückstand sowie alle anderen Werte lagen weit über denen des normalen Rheinwassers. Besonders auffallend war der hohe Gehalt an organischer Substanz, durch die der im Rheinwasser gelöste Sauerstoff vollständig aufgezehrt wurde. Der Einfluß dieser Abwasser auf die Rheinwasserbeschaffenheit konnte noch 500 bis 1000 m nach dem Einlauf, bei Rhein-km 432,2 festgestellt werden. Die Einleitung dieser Abwasser stellt eine starke Belastung des Rheinwassers dar. U. a. wird durch den Anstieg der Temperatur und der organischen Stoffe eine Sauerstoffzehrung bewirkt, die bei extremen Witterungsverhältnissen (Hitze, Trockenheit in Verbindung mit Niedrigwasser) ein Fischsterben zur Folge haben kann." Die Einleitungswerte der P W A sind den Wasserbehörden bekannt. Etwa seit 1966 entstanden dort Zweifel, ob die Beschaffenheit der eingeleiteten Abwässer noch den heutigen Anforderungen entspricht.
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Die Firma PWA trug diesem Umstand damals dadurch Rechnung, daß sie ein auf ihrem Gelände neu errichtetes Werk mit Waschstraßen, Trommelfiltern zur Erfassung der erkochten organischen Substanzen sowie einer Dampfanlage nebst 2 Laugenkesseln zum Verbrennen der Dicklauge versah. Dieser Werksteil war im Jahr 1968 betriebsfertig. Außerdem sahen die Wasserbehörden sich aufgrund der festgestellten Einleitungswerte veranlaßt, in Besprechungen mit der Firma PWA ein Genehmigungsverfahren in Gang zu bringen, dessen Ergebnis zeitgemäße Auflagen sein sollten. Auf Veranlassung der Wasserbehörden stellte die Firma PWA am 12. 8.1968 und 30.1.1971 die entsprechenden Anträge und beauftragte Prof. Dr. S. mit der Erstattung eines Gutachtens. Prof. Dr. S. ist seit dem 8.1.1961 vom Regierungspräsidium K. amtlich bestellter Gutachter. Das Gutachten war am 15.11.1972 fertiggestellt. Aufgrund seiner Feststellungen mußte die Firma PWA nach Aufforderung durch die Wasserbehörde ihre Anträge neu formulieren. Die untere Wasserbehörde hatte das Verfahren seines Umfangs wegen an das Regierungspräsidium abgegeben, mit dem von da ab die Verhandlungen stattfanden. So wurden am 11.5.1973 und am 27. und 28.6.1973 Besprechungen mit dem Gutachter Prof. S. und der Firma PWA über die Überarbeitung des schon einmal vorgelegten Wasserrechtsantrages geführt, der dann am 15.10.1973 erneut eingereicht wurde. Die außergewöhnliche Größe der Schmutzstofffracht veranlaßte das Regierungspräsidium am 9.11.1973, das Problem beim Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Umwelt vorzutragen. Vom Ministerium aus wurde daraufhin eine Erhebung über charakteristische Daten (insbesondere Produktion und Schmutzstofffracht) in allen Zellstoff-Fabriken des Landes durchgeführt. Die von den Regierungspräsidien ermittelten Ergebnisse wurden ausgewertet und im August 1974 zwischen Ministerium und den Regierungspräsidien besprochen. Im Anschluß hieran wurde der Firma PWA eine behördliche Auflage angekündigt, nach der die Schmutzstoffmenge gegenüber der heutigen Situation auf etwa ein Viertel gesenkt werden müsse. Die Firma PWA bat daraufhin um ein Gespräch mit dem Ministerium, das am 20.3.1975 stattgefunden hat. A m 16.7.1975 hat das Ministerium das Regierungspräsidium angewiesen, der Firma PWA die Anordnung zu erteilen, bis spätestens 31.12.1978 die spezifische Schmutzstofffracht auf rund 400 kg K M o 0 4/t Zellstofferzeugung zu reduzieren. Dies entspricht ungefähr einem Viertel der heutigen Abwasserlast. A m 7.8.1975 fällte das Regierungspräsidium die angekündigte wasserrechtliche Entscheidung, in der der Firma PWA strenge Auflagen gemacht und insbesondere - erstmals - Einleitungswerte festgesetzt wurden. Die Begründung der Entscheidung erhellt den ganzen Ernst der Situation:
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„Das Werk M. der Firma P W A leitet die bei der Produktion anfallenden Abwasser in den Rhein ein. Die Einleitungsqualität und -quantität übersteigen bei weitem die vertretbaren bzw. der Firma in alten Rechten zugebilligten Werte, wie durch die Chem. Landesuntersuchungsanstalt Karlsruhe im Gutachten vom 2 1 . 3 . 1 9 7 5 zuletzt festgestellt wurde. Die durch die Abwasser auftretende Verschmutzung des Rheins kann im öffentlichen Interesse nicht länger hingenommen werden. Es mußte daher der Firma die Auflage gemacht werden, die Schmutzfracht so zu vermindern, daß die in dieser Verfügung festgelegten Werte erreicht werden. Bei dieser Entscheidung wurde nicht verkannt, daß zur Erreichung dieses Zieles umfangreiche Änderungen der Produktionsanlagen unter erheblichem finanziellen Aufwand nötig sind. N u r im Hinblick darauf, daß die Firma bereits in der Vergangenheit verschiedene Maßnahmen ergriffen und sich in den Verhandlungen bereit gezeigt hat, weitere Einrichtungen zur Verringerung der Gewässerbelastung zu schaffen, konnte, nicht zuletzt auch wegen der zu investierenden Mittel, die Frist zur Erreichung der angestrebten Werte auf den 3 1 . 1 2 . 1 9 7 6 gesetzt werden, obgleich die derzeitige Schmutzfracht eine unverzügliche Schließung erfordern würde. D a die Erreichung der verfügten Reinigungswerte neben der Bereitstellung der Mittel auch eine nicht unerhebliche Bauzeit erfordert, war in dieser Verfügung festzulegen, bis zu welchem Zeitpunkt die Planung der hierfür erforderlichen Anlagen abgeschlossen sein muß, damit zum angestrebten Termin das Abwasser in ausreichend gereinigtem Zustand dem Rhein zugeleitet wird. Sofern nämlich die Planungs- und Investitionsbereitschaft der Firma nicht ersichtlich und gegeben ist, besteht kein Anlaß, die zum 3 1 . 1 2 . 1 9 7 8 gegebene Frist aufrechtzuerhalten, es müßte in diesem Fall die sofortige Schließung verfügt werden. Sobald die Planung vorliegt, wird in Verfolgung desselben Gedankens der Firma aufgegeben werden, diese in Teilabschnitten zu verwirklichen, damit eine Gewähr für den zum Stichtag angestrebten Erfolg gegeben ist. Dementsprechend waren weitere Auflagen in dieser Richtung vorzubehalten. Der sofortige Vollzug dieser Entscheidung war anzuordnen, da unverzüglich im öffentlichen Interesse Maßnahmen zur Verbesserung der Wasserqualität des Rheines unerläßlich sind. Diesen öffentlichen Interessen gebührt in jedem Fall der Vorrang vor dem privaten Interesse der Firma an einer etwaigen vorherigen verwaltungsrechtlichen Uberprüfung dieser Entscheidung. D a die Firma ohne jeden Zweifel über kein Wasserrecht verfügt, das ihr in dem tatsächlich ausgeübten Umfang eine irgendwie geartete Berechtigung der Verschmutzung des Rheines gibt, muß zudem jedes von ihr etwa eingelegte Rechtsmittel scheitern. Es wäre bei einer Güterabwägung nicht vertretbar, wenn lediglich zur Vollzugsverschonung Rechts-
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mittel ergriffen würden und inzwischen dringend notwendige Verbesserungsmaßnahmen unterblieben im Hinblick auf die aufschiebende Wirkung eines eingelegten Rechtsmittels." Abgesehen von der Schädlichkeit der PWA-Abwasser für den Rhein strömen die Abwasser auch einen äußerst unangenehmen Geruch aus, der je nach Wetterlage nicht selten eine erhebliche Belästigung der Bewohner des Stadtteils Waldhof (und darüber hinaus) darstellt. Beschwerden bei Gewerbeaufsichtsamt und Tagespresse und auch Anrufe bei der Polizei berichteten von Kopfweh, Brechreiz und erheblicher Störung des allgemeinen Wohlbefindens. Der sogenannte Freirheinkanal trägt daher auch die volkstümliche Bezeichnung „Mannheimer Stinkkanal". Nach diesem Ergebnis der Ermittlungen war zu prüfen, ob sich der Verantwortliche der Firma PWA durch das Einleiten der Abwasser oder ein Sachbearbeiter der zuständigen Wasserbehörden durch unterlassene sachangemessen schnelle Bearbeitung der Anträge der Firma P W A strafrechtlich zu verantworten hat. Bei der strafrechtlichen Beurteilung hat sich die Staatsanwaltschaft an die vom Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 13. März 1975 (4 StR 28/75) dargelegten Grundsätze gehalten und den dem vorliegenden Sachverhalt zugrundeliegenden Tatbestand an Hand dieser Grundsätze überprüft. Dies führt zu folgendem Ergebnis: Der im vorliegenden Verfahren beschuldigte Dipl.-Ing. K. ist der Technische Leiter des Produktionsbereichs „Zellstoff und Verpackungspapier". Dies ist der Betriebsteil der Firma PWA, von dem die Wasserbelastung ausgeht. In dieser seiner Eigenschaft ist Dipl.-Ing. K. nach eigenen Angaben für das Kanalsystem der gesamten Firma P W A verantwortlich und somit gem. § 14 StGB zu Recht als Beschuldigter angezeigt worden. Hinsichtlich seiner Person ist der Tatbestand des §38 W H G ohne Zweifel erfüllt. Daß die Abwasser der Firma PWA direkt in den Rhein eingeleitet werden, ist unbestritten; und daß der Grad der Verschmutzung ein unerträgliches Maß erreicht hat und eine schädliche Verunreinigung darstellt, die eine nachteilige Veränderung des Rheinwassers mit sich bringt, steht nach dem Gutachten der Chemischen Landesuntersuchungsanstalt und nach dem Gutachten von Prof. S. ebenfalls zweifelsfrei fest. Zu prüfen war lediglich die Frage, ob aufgrund der Genehmigungen von 1908 und 1921 die Einleitung der Abwasser „befugt" erfolgt. Diese Frage ist zu verneinen. Es ist an der Zeit, für das Gebiet des Umweltschutzes im allgemeinen und damit auch für vorliegenden Sachverhalt festzustellen: veraltete Genehmigungen für Einleitungen von Abwassern (wie im übrigen auch für Luftemissionen) decken heutzutage häufig in
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keiner Weise mehr den inzwischen völlig veränderten Zustand des einstmals genehmigten Tatbestandes. Derartige Genehmigungen sind inhaltlich längst ihres eigentlichen Zweckes beraubt und damit sinnlos. Dies ist für jedermann erkennbar. Aus diesem Grund macht das Gebrauchmachen von derartigen veralteten und nichtssagenden Genehmigungen den Tatbestand zu keinem befugten Verhalten. Auch rechtfertigt ein solches Gebrauchmachen auch in Fällen, in denen das Kriterium des „Unbefugten" nicht schon zum Tatbestand gehört wie bei § 38 W H G
keinen Straftatbestand. Berufung auf eine offensichtlich veraltete und Uberholte Genehmigung ist rechtsmißbräuchlich und damit strafrechtlich unbeachtlich, wenn so erkennbar wie vorliegend erhebliche Rechtsgüter wie die lebenswichtigen Eigenschaften eines Gewässers oder die Gesundheit der anwohnenden Bürger geschädigt werden. Im vorliegend zu beurteilenden Fall kommt hinzu, daß selbst die völlig veralteten Genehmigungen immerhin eine bestimmte Abwassermenge festgelegt, die Einleitung von Stoffen, die für Fische schädlich sind, verboten und im übrigen „genügende" Reinigung ausdrücklich vorgeschrieben haben. Alle diese Auflagen sind längst nicht mehr erfüllt. Eine Genehmigung des heutigen Zustandes (der derzeitigen Wassermenge bei völlig ungenügender Reinigung unter Gefährdung des Fischbestandes) ist nie erteilt worden, und dem zuständigen Ingenieur K. sind - genauso wie den zuständigen Wasserbehörden - diese Umstände bekannt. Hiernach besteht kein Zweifel, daß der Tatbestand des unbefugten Einleitens gem. § 3 8 W H G erfüllt ist. Auch die in früheren Beschwerden geschilderten körperlichen Beeinträchtigungen der Anwohner, die des öffentlichen Interesses wegen ein Verfahren der Staatsanwaltschaft rechtfertigen würden, gehen über lediglich unerhebliche Beeinträchtigungen weit hinaus und sind Gesundheitsbeschädigungen i. S. v. § 2 2 3 S t G B . Auch hieran besteht kein Zweifel, und auch daran nicht, daß - wie schon ausgeführt jedenfalls die veralteten Genehmigungen keinen Rechtfertigungsgrund darstellen. Eine Prüfung des Tatbestandes unter dem Gesichtspunkt der Sozialadäquanz kann im vorliegenden Fall unterbleiben, denn der Bereich des sozial Üblichen und deshalb allgemein Anerkannten oder zumindest Geduldeten ist bei so schwerwiegenden und nachhaltigen Rechtsgutsbeeinträchtigungen, wie sie hier festgestellt sind, eindeutig verlassen. Aus dem gleichen Grund braucht auch zu der Frage der Rechtfertigung aufgrund des sog. erlaubten Risikos nicht Stellung genommen werden. Obgleich dem verantwortlichen Ingenieur der Firma P W A der Zustand der Abwasser und die entsprechenden Folgeerscheinungen sowie die veralteten Genehmigungen mit ihren „Auflagen" seit Jahren bekannt sind, hat er nicht dafür gesorgt, daß diese Folgeerscheinungen
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sofort abgestellt werden. Dies wäre im übrigen auch nur durch Stillegung wesentlicher Teile des Betriebes möglich gewesen. Aufrechterhaltung der Produktion und Sicherung der Arbeitsplätze waren also letzten Endes die eigentlichen Gründe für die Aufrechterhaltung des seit Jahren und auch heute noch strafrechtlich relevanten Zustandes. Es war daher zu prüfen, ob die obengenannten Gründe für die Firma P W A bzw. den die Interessen seiner Arbeitgeberin vertretenden Ingenieur einen rechtfertigenden Notstand darstellten. Die oben zitierte Entscheidung des B G H setzt sich mit der Frage des rechtfertigenden Notstandes besonders eingehend auseinander und sei daher vorliegend auszugsweise im Text übernommen (und dabei fallbezogen ergänzt) : Die Sicherung der Arbeitsplätze sowie die Aufrechterhaltung der Produktion dürfen selbst im Hinblick darauf, daß die Gemeinschaft von der Leistungsfähigkeit der Industrie lebt, nicht dazu führen, daß anwohnende Bürger Körperverletzungen oder die Allgemeinheit Verschmutzung der Flüsse hinnehmen müssen. Die seit dem 1. Januar 1975 geltende Neufassung des Strafgesetzbuches enthält im § 34 eine Kodifizierung der Grundsätze, welche die Rechtsprechung und Lehre unter der Bezeichnung „übergesetzlicher Notstand" entwickelt haben. Die Voraussetzungen dieser Bestimmung liegen hier nicht vor. Zwar kann auch die Aufrechterhaltung der Produktion und die Erhaltung der Arbeitsplätze ein Rechtsgut i. S. des § 34 S t G B sein. Zum Schutz dieses Rechtsguts hat Ingenieur K. die Produktion weiterlaufen lassen. Anders konnte dieses Rechtsgut auch nicht geschützt werden; es befand sich also in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr. Eine solche Gefahr rechtfertigt es aber bei Abwägung der widerstreitenden Interessen nicht, die Gesundheit der Anwohner oder die ernsthafte Gefährdung von Gewässern aufs Spiel zu setzen. Wenn die Rangordnung der Rechtsgüter in einer pluralistischen Gesellschaft auch auf Schwierigkeiten stößt, so geben doch die Reihenfolge der in § 3 4 S t G B genannten Rechtsgüter einen Anhaltspunkt, desgleichen die Grade des strafrechtlichen Schutzes, die ihren Ausdruck in den Strafdrohungen finden. Um die Produktion aufrechterhalten zu
können und damit die Arbeitsplätze zu sichern, darf nicht eine Gesundheitsschädigung oder eine schwerwiegende Gefährdung eines Gewässers als Mittel zur Abwehr der Gefahr für das geschützte Rechtsgut eingesetzt werden.
Ingenieur K. hat demnach tatbestandsmäßig und rechtswidrig gehandelt, zumal er - was strafrechtlich die subjektive Seite betrifft - die Umstände kannte (und kennt), aus denen sich ergibt, daß er so, wie er die Abwasser einleitet, an sich nicht einleiten darf. Auf die Frage, ob Ingenieur K. die Einstellung des Betriebes überhaupt nur vorzuschlagen aus persönlichen Gründen zumutbar war oder ob ein solcher Vorschlag
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ihm als zwecklos erscheinen mußte, weil er als für die Kanalisation der Firma PWA Verantwortlicher dann abgelöst und durch einen anderen ersetzt worden wäre, kommt es nicht an, denn es gibt keinen allgemeinen Schuldausschließungsgrund der Unzumutbarkeit. Ingenieur K. befand sich jedoch in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum. Nach dem Ergebnis der Ermittlungen hat man seitens der Firma PWA der Rheinverschmutzung und der Belästigung der Anwohner nicht tatenlos zugesehen. Bei Beurteilung der Bemühungen des Unternehmens um eine Verbesserung der Abwasser darf nicht übersehen werden, daß das allgemeine Bewußtsein für die Notwendigkeit eines umfassenden Umweltschutzes nicht schon immer vorhanden war, sondern erst etwa seit der Mitte der 60er Jahre mit der heute allgemein bekannten Intensität erkennbar wurde. Aus dieser Zeit datieren jedoch auch bereits ernsthafte Bemühungen der Firma PWA um bessere Verwertung ihrer Abfallprodukte. Als die zuständigen Behörden das Unternehmen aufforderten, entsprechende Pläne vorzulegen, wurde dieser Aufforderung Folge geleistet. Als das von Prof. S. erstellte Gutachten die zuständigen Behörden veranlaßte, die Firma PWA zu entsprechenden Änderungen ihrer Pläne aufzufordern, kam das Unternehmen auch diesen Wünschen nach. Wenn die neuen Pläne dann seit Oktober 1973 den Behörden vorlagen und erst im August 1975 zu Auflagen führten, so ist dies ein Zustand, den nicht mehr der zuständige Ingenieur K. zu vertreten hat. Nach dem Ergebnis der Ermittlungen gerade zu diesem Punkt sind für Ingenieur K. die Voraussetzungen des §17 StGB n.F. erfüllt, d.h. es fehlte ihm bei Begehung der (fortgesetzten) Tat die Einsicht, Unrecht zu tun. Auch konnte er diesen Irrtum nicht vermeiden. Er wußte natürlich, daß er derart verschmutzte Abwasser nicht in den Rhein einleiten und daß er keine Körperverletzungen begehen durfte. Die Unrechtseinsicht fehlte ihm aber deshalb, weil er glaubte, daß die zur Zeit eingeleitete und die in seinem Antrag vorgeschlagene und bisher nicht beanstandete Abwasserbelastung so lange von den zuständigen und zur Entscheidung berufenen Behörden akzeptiert werde, als über die Sache nicht entschieden sei. Trotz aller Gewissensanspannung und Einsatzes seiner Erkenntniskräfte und sittlichen Wertvorstellungen ist er dem Irrtum erlegen, es sei erlaubt, den Betrieb weiterzuführen, auch wenn dies mit unzulässig hoher Wasserverschmutzung und mit Körperverletzungen der Anwohner verbunden war. In dieser Auffassung mußte er sich dadurch bestärkt fühlen, daß auch die Behörden trotz Kenntnis der Sachlage keinen Anlaß sahen, auf die Einstellung des Betriebs zu drängen oder sie anzuordnen. All das rechtfertigt es hier, die Unvermeidbarkeit des Irrtums zu bejahen, zumal es
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auch seit Jahrzehnten Gepflogenheit der Strafverfolgungsbehörden war, bei Vorlage einer - wie lange auch immer zurückliegenden - Genehmigung ein Verfahren vorliegender Art ohne weitere Ermittlungen einzustellen. Das Verfahren gegen Ingenieur K. war daher einzustellen. Es war jedoch bei dieser Gelegenheit einmal grundsätzlich zu prüfen, ob sich einer oder mehrere Beamte der zuständigen Wasserbehörden dadurch strafbar gemacht haben, daß sie nicht eher durch entsprechende Auflagen die von den Abwassern der Firma P W A verursachte Wasserverunreinigung und die ständigen Körperverletzungen der Anwohner verhindert haben. Besonders auffällig war hierbei die zwischen der Einreichung des abgeänderten Stufenplanes (Oktober 1973) und die Erteilung von Auflagen (August 1975) verstrichene Zeitspanne. Bei dieser Prüfung scheiden die Beamten des Wasserwirtschaftsamtes aus, weil sie - obgleich sie die allgemeine Gewässeraufsicht haben nach eigener Auskunft zwar keine Messungen der PWA-Abwasser vorgenommen haben, diese Unterlassung jedoch nicht kausal für den hier vorliegenden Straftatbestand ist. Den übrigen Wasserbehörden war die Schmutzlast des Freirheinkanals auch ohne Untersuchungen des Wasserwirtschaftsamtes bekannt. Bei dieser Prüfung scheiden weiterhin die Beamten der unteren Wasserbehörde aus, weil sie der Größe des Projekts wegen die Anträge der Firma P W A alsbald der oberen Wasserbehörde weitergeleitet haben. Die Frage einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit der an Genehmigungsverfahren beteiligten Beamten ist in Rechtsprechung und Wissenschaft weitgehend ungeklärt. Es stellt sich hier eine ganze Fülle von Rechtsproblemen, über die es nur wenig weiterführende Literatur gibt. Als Tatbestand, aus dem sich eine Haftung der verantwortlichen Beamten ergeben könnte, kommt ebenfalls § 38 W H G bzw. der Tatbestand der Körperverletzung in Frage. Zu prüfen war hier, ob sich Beamte unter dem Gesichtspunkt unechten Unterlassens (§ 13 StGB) strafbar gemacht haben. Die unterlassene Handlung wäre darin zu finden, daß die Beamten gegen die Einleitung des Abwassers nicht früher eingeschritten sind, und daß es dadurch zu einer schädlichen Verunreinigung des Gewässers oder zu einer nachteiligen Veränderung seiner Eigenschaften bzw. zu fortgesetzten Körperverletzungen gekommen ist. Nach § 13 StGB kommt eine Strafbarkeit desjenigen, der es unterläßt, einen tatbestandlichen Erfolg abzuwenden, dann in Betracht, wenn der Unterlassende rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt (Garantenstellung), und wenn außerdem das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht (sogenannte Entsprechensklausel).
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Die Garantenpflicht setzt eine Vertrauenslage voraus, in der sich der Träger des verletzten Rechtsguts auf das Tätigwerden des Garanten verlassen durfte. In diesem Sinne hat das Oberlandesgericht Karlsruhe in seinem Urteil vom 25. März 1971 ( G A 1971, 281) im Hinblick auf die Garantenhaftung für das Handeln dritter Personen den Grundsatz aufgestellt, „daß eine strafrechtliche Verantwortlichkeit nur dann besteht, wenn die Allgemeinheit wegen eines bestimmten Autoritäts- und Vertrauensverhältnisses darauf vertrauen darf, daß der Aufsichtspflichtige Gefahren für Dritte, die von der zu überwachenden Person ausgehen, beherrscht und schädliche Auswirkungen verhindert". Bei Anwendung dieser Grundsätze ist die Garantenpflicht der Beamten im vorliegenden Fall zu bejahen: Auffällig ist, daß diese auf der Hand liegende Problematik in bezug auf spezialisierte Aufsichtsbehörden, die in rechtlich formalisierten Verfahren kontrollierend und gestaltend tätig werden, um Gefahren für die Allgemeinheit aus bestimmten Lebensbereichen herauszuhalten, weder in der Rechtsprechung noch im Schrifttum näher behandelt ist. Bei § 3 8 W H G wird man jedoch sagen müssen, daß die Wasserbehörden im Bereich des Wasserrechts gerade dazu berufen sind, dafür zu sorgen, daß im Interesse der Allgemeinheit eine schädliche Belastung der Gewässer bzw. eine Belästigung der Anwohner verhindert wird. Den Wasserbehörden obliegt es kraft Gesetzes, die Gewässernutzung mittels Einleitung von Stoffen (§ 3 N r . 4 W H G ) durch die Festsetzung von Benutzungsbedingungen und Auflagen (§ 4 W H G ) , durch die Versagung von Erlaubnissen und Bewilligungen (§ 6 W H G ) und durch behördliche Überwachung (§21 W H G ) unter Kontrolle zu halten. Das Gesetz räumt ihnen also Abwehr- und Gestaltungsbefugnisse ein, damit Dritte keine gemeinschädlichen Handlungen begehen. Sie sind als Uberwachungsorgane auf diesem Gebiet geradezu auf Posten gestellt. Die ihnen eingeräumte Machtfülle, die dem Bürger fehlt, macht sie deshalb auch zu Garanten dafür, daß der in § 3 8 W H G beschriebene schädliche Erfolg nicht eintritt. Darüber hinaus kommt der Tatsache entscheidendes Gewicht zu, daß es sich bei der Reinhaltung der Gewässer, zu deren Gewährleistung den Wasserbehörden rechtliche Befugnisse eingeräumt worden sind, um ein besonders wichtiges Rechtsgut der Allgemeinheit handelt, von dessen Erhaltung Gesundheit und Leben der Bürger abhängig sind. Im Hinblick auf diese lebenswichtige Bedeutung der Reinhaltung der Gewässer steht zweifelsfrei fest, daß die Allgemeinheit ein besonderes Vertrauen daran setzt, daß die Wasserbehörden Gefahren abwenden, die vom Verhalten der Gewässerbenutzer ausgehen. Der vom Strafrecht zu gewährleistende Schutz besonders wichtiger Rechtsgüter würde in einer
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für den Bürger unverständlichen Weise verkürzt, wenn eine Vernachlässigung der den Wasserbehörden obliegenden gesetzlichen Pflichten lediglich verwaltungsrechtliche, zivilrechtliche oder dienstrechtliche Folgerungen nach sich zöge. Auch die Entsprechensklausel steht einer Strafbarkeit der Beamten nicht entgegen. Hinsichtlich der durch den „Mannheimer Stinkkanal" bei der Bevölkerung fortgesetzt verursachten Körperverletzungen ergeben sich insoweit überhaupt keine Bedenken, so daß hierauf nicht weiter eingegangen zu werden braucht. Dagegen sind im Zusammenhang mit §38 W H G einige Rechtsprobleme zu bedenken, und das aus folgendem Grund: Nach überwiegender Meinung schränkt die Entsprechensklausel bei den erfolgsverbundenen Tätigkeitsdelikten, die sich nicht in der Beschreibung einer bloßen Erfolgsverursachung erschöpfen, sondern die Tatmodalitäten näher bestimmen, die Möglichkeit der Begehung auf solche Fälle der Untätigkeit ein, die denselben sozialen Sinngehalt aufweisen, wie das im Tatbestand beschriebene positive Tun. §38 W H G setzt voraus, daß der Täter „unbefugt" einleitet. Dieses Element muß also auch im unechten Unterlassungsdelikt wiederkehren. Deshalb muß die Einleitung, die die zuständigen Beamten nicht verhindern, eine unbefugte sein. Die Schwierigkeit der rechtlichen Beurteilung einer Verletzung von §38 W H G durch Unterlassen von Amtshandlungen liegt hierbei darin, daß diese Beamten zugleich diejenigen Amtspersonen sind, denen das W H G die Zuständigkeit zuweist, im Rahmen der einschlägigen Verfahren über die Erteilung, Begrenzung oder Versagung der Befugnis zur Einleitung von Abwassern zu entscheiden. Das gibt Anlaß zu der Frage, ob ihr Nichtstun in dem Bereich, in dem sie eine positive Entscheidung treffen könnten, der Verwirklichung des Tatbestandes durch ein Tun entspricht. Es könnte jedenfalls theoretisch eingewendet werden, daß ein Amtsträger, der durch Erteilen einer Erlaubnis die Verwirklichung eines Tatbestandes gestatten könnte, sich in dem entsprechenden Bereich auch nicht durch Unterlassen des Einschreitens strafbar machen kann. Im vorliegenden Fall spielen derartige Bedenken jedoch keine Rolle, da die Beamten der beteiligten Wasserbehörden angesichts der derart weit über dem zulässigen liegenden Wasserverschmutzung durch die Firma PWA den gegenwärtigen Zustand nur theoretisch, nicht aber in der Praxis, durch eine amtliche Genehmigung auch noch hätten gestatten können, ohne sich einer groben Amtspflichtverletzung schuldig zu machen. Weiterhin ist zu prüfen, wie im Rahmen der Entsprechensklausel der zum Tatbestand von §38 W H G gehörende Begriff „Einleiten" auszulegen ist, zumal die Auslegung, die der Begriff des „Einleitens" erfahren hat, nicht immer eindeutig war. „Einleiten"
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setzt eine ihrem Wesen nach zweckbestimmte Zuführung fremder Stoffe voraus, während eine bloße Verursachung des Hineingelangens nicht ausreicht. Aus dieser Tatsache entwickelte sich im Schrifttum weitgehend die Meinung, daß nur der „einleite", dessen schädliche Abwasser unmittelbar in das hierdurch belastete Gewässer führen. Es entwickelte sich die Annahme einer Art „eigenhändigen" Delikts, die den mittelbaren Einleiter von der Strafbarkeit ausnahm. Diese im Schrifttum auch heute noch teilweise vertretene Ansicht wird von der Rechtsprechung jedoch nahezu einhellig nicht geteilt. Die Rechtsprechung vertritt - vom Sinn des Gesetzes her zu Recht - die Auffassung, daß nicht nur unmittelbares, sondern auch mittelbares Einleiten (das früher lediglich als „verursachen" galt) strafbar ist (Beispiel: O L G Hamm in N J W 1975, 747 mit weiteren Nachweisen). Angesichts dieser zugunsten der Reinhaltung der Gewässer weiten Auslegung des Begriffs „Einleiten" ist zweifellos auch derjenige einem „Einleiter" gleichzusetzen, der in Kenntnis der Situation durch Untätigbleiben das Andauern der Gewässerverunreinigung zuläßt. Diese Rechtsauffassung wird auch durch den vorläufigen Referentenentwurf eines sechsten Gesetzes zur Reform des Strafrechts Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität - B M J 4000/1 T k 20 933/75 bestätigt. Dieser zukunftsweisende Entwurf dehnt den Tatbestand des § 38 W H G u. a. dahin aus, daß in Zukunft jeder bestraft werden kann, der ein Gewässer verunreinigt. Der soziale Sinngehalt von § 3 8 W H G besteht somit nicht in engherziger Auslegung des Begriffes „einleiten", sondern darin, die Allgemeinheit vor dem Sterben ihrer Gewässer zu schützen. Die rechtliche Uberprüfung des hier vorliegenden Fragenkomplexes kommt also zu dem grundsätzlichen Ergebnis, daß sich Beamte von Umweltschutzbehörden - hier von Wasserbehörden - durch Untätigbleiben strafrechtlich schuldig machen können. Die Frage, ob dem strafbaren Unterlassen die Form der Täterschaft oder der Teilnahme beizumessen ist, wird im Einzelfall mit der Nachweismöglichkeit der Kausalität zusammenhängen. O b die frühere Uberprüfung veralteter Genehmigungen oder die frühere Erteilung von Auflagen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von der betroffenen Firma beachtet und deshalb ein schädlicher Erfolg vermieden worden wäre, könnte gelegentlich im Rahmen der Beweisführung Schwierigkeiten begegnen. Für die Beihilfe durch Unterlassen ist es hingegen nicht erforderlich, daß pflichtgemäßes Eingreifen die Tat verhindert hätte; entsprechend den Anforderungen an die Kausalität der aktiven Beihilfe genügt es, wenn der Gehilfe in der Lage war, die Vollendung der Tat durch seine Tätigkeit zu erschweren ( B G H N J W 1953, 1838, O L G Karlsruhe, Die Justiz 1975, 151). Eine
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Erschwerung in diesem Sinne ist aber in der Erteilung von Auflagen und im Bestehen auf ihrer Einhaltung ohne Zweifel zu erblicken. Trifft man die Unterscheidung zwischen Täterschaft und Beihilfe mit der herrschenden Auffassung nach den Gesichtspunkten der Willensrichtung und der Tatherrschaft, so können auch für diesen Fall die Beamten zumindest als Gehilfen im strafrechtlichen Sinn betrachtet werden. Im übrigen liegt die Tatherrschaft zwar oftmals überwiegend bei den Verantwortlichen der Unternehmen, die die schädliche Gewässerverunreinigung herbeiführen, während die Beamten der Wasserbehörden keinesfalls den Willen haben, durch ihr Untätigbleiben das Tatgeschehen selbst dahingehend zu bestimmen, daß die unbefugte Einleitung fortgesetzt wird. Bei besonders einsichtigen Unternehmen (und - zum Beispiel Gemeinden), die nur deswegen nicht mit dem Bau von notwendigen Schutzanlagen (zum Beispiel Kläranlagen) beginnen, weil die entsprechenden wasserrechtlichen Genehmigungsverfahren nicht abgeschlossen werden, kann die Tatherrschaft im Einzelfall auch bei den Behörden liegen. Unter Zugrundelegung der hier vertretenen Rechtsauffassung ist für den vorliegenden konkreten Fall festzustellen: Die Pflicht der Beamten von Wasserbehörden zum Handeln ergibt sich aus ihrer speziellen Berufung im Bereich des Gewässerschutzes, zum Wohl der Allgemeinheit tätig zu werden und daraus, daß es sich bei der Reinhaltung der Gewässer um ein besonders wichtiges Rechtsgut der Allgemeinheit handelt. Da die Wasserbehörde jedoch ihre Maßnahmen regelmäßig nur auf Grund einer umfassenden Abwägung widerstreitender Interessen treffen kann und dazu meist auch umfangreicher Ermittlungen und Gutachten von Sachverständigen bedarf, muß ihr grundsätzlich ein relativ weiter Bewegungsspielraum eingeräumt werden, ob sie gegen aktuelle rechtswidrige Zustände sofort oder erst nach weiterer Abklärung der Gesamtlage einschreitet und welche Mittel sie dazu einsetzt. Eine Verletzung der Garantenpflicht kann deshalb immer erst in Frage kommen, wenn der Amtsträger die Grenzen ordnungsmäßiger Verwaltungstätigkeit eindeutig überschritten hat, d.h. aus unsachlichen oder willkürlichen Gründen untätig geblieben ist. Eine derartige Verletzung ordnungsgemäßer Verwaltungstätigkeit durch die zuständigen Beamten beim Regierungspräsidium Nordbaden (obere Wasserbehörde) oder beim Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Umweltschutz konnte im Rahmen der geführten Ermittlungen im vorliegenden Fall nicht festgestellt werden: Als das übermäßig hohe Ausmaß der Verschmutzung des Rheins (und die damit gleichzeitig verbundene Geruchsbelästigung der Bevölkerung) durch die Firma PWA bewußt wurde, forderten die zuständigen Wasserbehörden 1968 die Firma PWA zur
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Vorlage entsprechender Vorschläge zur Abänderung dieses Zustandes auf. Sie begnügten sich hierbei nicht mit den Vorschlägen des Unternehmens, sondern verlangten die Stellungnahme und die Vorschläge eines amtlich bestellten Gutachters. Daß schon die Erstellung eines derartigen Gutachtens, das nicht nur die schlechte Qualität des Wassers, sondern auch die technischen Möglichkeiten eines Unternehmens von der Größe der Firma P W A zu berücksichtigen hat, einer längeren Zeit bedarf als etwa das Gutachten einer Leichensektion, liegt auf der Hand. Aus dem Gutachten ergab sich die Notwendigkeit, die Firma P W A zur Änderung ihrer bisherigen Pläne aufzufordern. Dies ist geschehen und nahm wiederum einige Monate in Anspruch. Anschließend wurden Erhebungen bei allen Papierfabriken des Landes durchgeführt. Zwar hätten die zuständigen Behörden möglicherweise bereits diese Zeit der Planabänderung durch die Firma P W A ausnutzen können, um diese Erhebung über alle Papierfabriken des Landes durchzuführen und auszuwerten. Daß dies erst nach Einreichung des geänderten Antrages der P W A in die Wege geleitet worden ist, reicht jedoch nicht aus, eine hierdurch verursachte Verzögerung zu beweisen, die völlig sachunangemessen wäre. Es ist bekannt, daß gerade Papierfabriken besonders schwer und umständlich zu reinigende Abfallprodukte erzeugen, so daß der Wunsch der Wasserbehörden, vor Entscheidung des Antrags der Firma P W A die eigene Sachkunde durch Erhebungen bei weiteren Papierfabriken zu vergrößern, sachlichen Erwägungen entsprungen ist. Unter diesen Umständen war eine Verletzung der Garantenpflicht nicht festzustellen. Es bestand daher im vorliegenden Fall kein Anlaß, ein Ermittlungsverfahren gegen Beamte von Wasserbehörden einzuleiten.
Konfliktlösungsvorschläge bei heimlichen Tonbandaufnahmen zur Abwehr krimineller Telefonanrufe Überlegungen zur Auslegung des §201 StGB ULRICH KLUG
Daß die Vorschrift des §201 StGB, in der die Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes - insbesondere durch unbefugte heimliche Tonbandaufnahmen - unter Strafdrohung gestellt wurde, im Zuge der raschen technischen Entwicklung vor allem bei neuen Kriminalitätsformen zu Konfliktsituation führen werde, war bei ihrer Einführung durch das Gesetz vom 22.12.1967 - damals noch als §298 - voraussehbar, mußte aber wegen des hohen Wertes des zu schützenden Rechtsgutes in Kauf genommen werden. Eine genauere Analyse im konkreten Anwendungsfall zeigt denn auch, daß es möglich ist, die rechtliche Problematik in den Griff zu bekommen und der Praxis tragbare Lösungsvorschläge zu machen. Für eine spezifische Fallgruppe sei dies hier entwickelt"'. Bekanntlich geraten große und bekannte Unternehmen immer wieder durch anonyme Telefonanrufe mit Bombendrohungen, Nötigungs- und Erpressungsversuchen oder sonstigen schwerwiegenden strafrechtlichen Inhalten in Schwierigkeiten, die rasche und unter Umständen einschneidende Reaktionen erforderlich machen. Besonders betroffen durch derartige kriminelle Telefonanrufe sind nicht zuletzt Unternehmen aus dem Bereich der Massenmedien. So sah sich ein Presseverlagsunternehmen mit großer Publizität immer wieder einmal in größeren oder kleineren Abständen mit derartigen Anrufen konfrontiert. Da sich ein Ende dieser kriminellen Aktivitäten nicht absehen ließ, sind zum Schutze der Mitarbeiter und im Interesse eines ungestörten Arbeitsablaufs auf Empfehlung der Kriminalpolizei in der Telefonzentrale Apparaturen installiert worden, mit deren Hilfe die über die Zentrale laufenden Gespräche auf einem Tonband aufgenommen werden können. Diese Tonbänder lassen sich mittels eines Knopfdrucks durch die Telefonistin von Fall zu Fall hinzuschalten. Die Aufnahmeapparatur kann aber auch so eingeschaltet werden, daß ohne Knopfdruck alle über die Zentrale geführten Gespräche - also auch die nichtkriminellen - automatisch aufgezeichnet werden. Sowohl beim !f Diese dem Jubilar mit herzlichen Wünschen gewidmete Untersuchung wurde durch einen von der Praxis an den Verfasser herangetragenen Streitfall angeregt. Für Unterstützung bei der Ausarbeitung sei Rechtsanwalt Burkhart Meichsner aus Köln besonderer Dank gesagt.
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Knopfdruckverfahren, als auch bei der automatischen Einschaltung können bei dieser Apparatur ausschließlich solche Gespräche aufgezeichnet werden, die über die Telefonzentrale laufen. Anrufe über eine Durchwahlnummer werden nicht erfaßt. Das hat sich nach den bisherigen Erfahrungen nicht als notwendig erwiesen. Für die Gespräche der Mitarbeiter gilt entsprechendes: Telefonate, die unmittelbar über die Durchwahlleitung nach außen geführt werden, können ebensowenig aufgezeichnet werden wie Gespräche im Hause von einem Mitarbeiterapparat zu einem anderen, da auch diese nicht über die Zentrale laufen. Telefoniert dagegen ein Mitarbeiter über die Telefonzentrale mit einem Teilnehmer außerhalb des Hauses, also ohne Benutzung einer Durchwahlleitung, so kann dies Gespräch auf Tonband aufgenommen werden, und zwar je nachdem, welches System in Funktion gesetzt ist, entweder nach dem Knopfdruck durch die Telefonistin in der Zentrale oder bei entsprechender Einschaltung der Apparatur automatisch. Beendet wird die Tonbandaufzeichnung in jedem Fall bei beiden Systemen, beim Knopfdruck- wie beim Automatikverfahren, immer dann, wenn die Zentrale, sei es nach innen oder sei es nach außen weiterverbunden hat. Das geschieht auch beim Knopfdrucksystem automatisch. Das durch die Zentrale vermittelte endgültige Gespräch kann somit ebensowenig mitgeschnitten werden wie alle unmittelbar über die Hausanschlüsse ein- und ausgehenden Gespräche. Nach Installierung der Tonbandapparatur kam es zwischen Mitarbeitern und Unternehmensleitung zu Diskussionen über die rechtliche Zulässigkeit der geschilderten Sicherheitsmaßnahmen. Mit Zustimmung des Betriebsrates wurden dann die Geräte so geschaltet, daß die Tonbandaufnahme nur durch den Knopfdruck der Telefonistin in der Zentrale in Gang gesetzt werden konnte. Die in der Zentrale Tätigen erhielten die Weisung, nur dann auf den betreffenden Knopf zu drücken, wenn sie feststellen, daß es sich um einen kriminellen Anruf von außen handelt. Die Geräte wurden im Beisein des Betriebsrates versiegelt. Gleichzeitig wurde vereinbart, daß die Versiegelung nur im Einvernehmen mit dem Betriebsrat aufgehoben werden darf. Die versiegelten Tonbänder sind sog. Endlosschleifenbänder von sechs Minuten Länge. Alle aufgenommenen Gespräche löschen sich im Endlosverfahren selbständig nach sechs Minuten, so daß bei Entsiegelung jeweils nur die letzten sechs Minuten der etwa aufgezeichneten Gespräche auf dem Tonband sind. Die Unternehmensleitung hat sich vorbehalten, bei einem höheren aktuellen Gefährdungsgrad das Aufnahmegerät auf automatisches Aufnehmen der über die Zentrale laufenden Gespräche umzuschalten, weil beim Knopfdruckverfahren wegen der
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Schrecksekunde die Anfangsteile des kriminellen Anrufes verloren gehen können. Dies wäre unter Umständen ein schwerwiegender Nachteil für die kriminalpolizeilichen Ermittlungen gegen den Anrufer. Ein höherer Gefährdungsgrad läge beispielsweise vor, wenn ein Anrufer die Fortsetzung seiner Anrufe ankündigte und dies zu einer Verschärfung der kriminellen Aggression führte. Bei der rechtlichen Würdigung einer derartigen Sicherheitseinrichtung muß zwischen drei Sachverhaltskonstellationen unterschieden werden, und zwar zwischen dem ständigen automatischen Aufnehmen (unbegrenzte Dauer-Einschaltung der Tonbandgeräte), dem vom Knopfdruck abhängigen Aufnehmen (Einzel-Einschaltung der Tonbandgeräte) und dem zeitweiligen, mit akuten Risikosituationen zusammenhängenden automatischen Aufnehmen (begrenzte Dauer-Einschaltung der Tonbandgeräte). Bevor auf die unterschiedlichen strafrechtlichen Folgerungen für diese verschiedenen Sachverhalte eingegangen werden kann, sind einige allgemeine Erwägungen vorauszuschicken. Für eine umfassende rechtliche Würdigung kommen sehr verschiedene Rechtsbereiche in Betracht. Zu prüfen wären beispielsweise neben den Problemen des Strafrechts auch Fragen des Arbeitsrechts, der zivilrechtlichen Haftung und des Fernmelderechts. Sie sollen hier unberücksichtigt bleiben. Es geht im folgenden nur um strafrechtliche Erwägungen, und zwar um solche, die mit §201 StGB zusammenhängen, wobei der Schwerpunkt der Überlegungen bei §201 Abs. 1 Nr. 1 StGB liegen wird.
I. Bekanntlich bedroht § 201 StGB vier Begehungsformen mit Strafe: das unbefugte Aufnehmen des nichtöffentlich gesprochenen Wortes auf einen Tonträger, das Gebrauchen einer so hergestellten Aufnahme, das Einem-Dritten-zugänglich-Machen einer so hergestellten Aufnahme und das unbefugte Abhören des nicht zur Kenntnis des Täters bestimmten nichtöffentlich gesprochenen Wortes eines anderen mit einem Abhörgerät. In allen vier Fällen wird die Tat nur auf Antrag verfolgt (§ 205 Abs. 1 StGB). Die Vorschrift des §201 StGB hat eine doppelte Schutzfunktion. Wie Lencknef zutreffend ausführt, soll sie zum einen vor verschiedenen Beeinträchtigungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts schützen, 1 Lenckner in Schönke/Schröder, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 20. Aufl., München 1980, §201 Rdn.2.
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indem sie verhindern soll, daß das, „was als flüchtige Lebensäußerung gemeint war, in eine jederzeit reproduzierbare Tonkonserve verwandelt wird" 2 . Es ist hier vom Gesetzgeber berücksichtigt worden, daß eine Tonaufnahme zwar leicht einen authentischen Eindruck von der Äußerung selbst und vom Sprecher entstehen läßt, daß dieser Eindruck aber deshalb leicht täuschen kann, weil die Äußerungen aus dem Zusammenhang wie z. B. aus der zeitlichen und örtlichen Situation herausgelöst und auch die sonstigen Begleitumstände nicht wiedergegeben werden 3 . Geschützt werden sollen insoweit die durch Art. 1 und 2 G G geschützten Grundrechte der Betroffenen ebenso wie die in Art. 8 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention aufgeführten Rechte, wonach jedermann einen Anspruch auf „Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs" hat4. Es handelt sich hier um Grundrechte, die außerdem weltweit durch Art. 17 des Internat. Paktes über bürgerliche und politische Rechte im Rahmen der Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen vom 19. Dezember 1966 geschützt werden. Dort heißt es, daß niemand „willkürlichen oder rechtswidrigen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr oder rechtswidrigen Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufs ausgesetzt werden" dürfe, und daß jedermann einen „Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen solche Eingriffe oder Beeinträchtigungen" habe. Das ist im Jahre 1973 durch Gesetz unmittelbares Recht in der Bundesrepublik Deutschland geworden (Bundesgesetzblatt Teil II, 1973, S. 1534). Die Vorschrift des § 201 StGB ist eine Konsequenz aus dem Grundsatz, daß die grundrechtlichen Freiheitsrechte den Staat nicht nur verpflichten, diese bei eigenem Verhalten zu beachten, sondern daß diese auch einen Anspruch des betreffenden Bürgers auf positive Leistungen des Staates dahingehend begründen, daß dieser verpflichtet ist, im einzelnen die Voraussetzungen und Bedingungen zu schaffen und zu erhalten, unter denen die freie Entfaltung der Persönlichkeit überhaupt erst möglich ist5. Der Weg über die Normierung von Straftatbeständen ist eine Möglichkeit des Staates, um dieser seiner Verpflichtung dem einzelnen gegenüber nachzukommen.
2 Gallas, Wilhelm, Der Schutz der Persönlichkeit im Entwurf eines Strafgesetzbuches (E 1962), in: ZStW Bd. 75, 16ff. 3 Lenckner aaO (Fn. 1), §201 Rdn.2. 4 Zum Verhältnis dieser beiden Rechtsquellen vgl. Klug, Ulrich, Das Verhältnis zwischen der Europäischen Menschenrechts-Konvention und dem Grundgesetz, in: Gedächtnisschrift Hans Peters, Berlin u.a. 1967, S.434ff. 5 Maunz/Diirig/Herzog, Kommentar zum Grundgesetz, Stand Juni 1978, Art. 1, Rdn.
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Der zweite Schutzzweck des §201 StGB ist das „Allgemeine Interesse an der Unbefangenheit mündlicher Äußerungen, vor allem in der Kommunikation mit anderen, für die eine notwendige Voraussetzung das Vertrauen auf die Flüchtigkeit des Wortes und die Freiheit von Überwachung durch verborgene Mikrofone o. ä. ist" 6 . Verfassungsrechtliche Basis auch dieser Schutzfunktion sind die Art. 1 und 2 G G . Mit Dürig7 kann man feststellen, daß Art. 2 Abs. 1 G G ein Recht am eigenen Wort gewährt, und daß man sogar davon sprechen kann, daß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 2 G G ein Grundrecht enthält, „ins Unreine" sprechen zu dürfen, ohne auf jedes Wort festgelegt zu werden. Dürig ist ebenfalls darin zuzustimmen, daß die Anwendung von Tonbändern zwei spezifische verfassungsrechtliche Gefahren für die menschliche Eigensphäre in sich birgt: Einmal die technisch leicht erreichbare Heimlichkeit der Aufnahme und zum anderen das Phänomen, daß kraft einer mechanischen Apparatur das gesprochene Wort einen Ausschließlichkeitsanspruch auf objektive Wahrheit bekommt, wie ihn sich auf andere Weise zustande gekommene Reproduktionen nicht anmaßen. Der Gesetzgeber hat mit der Strafbestimmung des §201 StGB dieser Verfassungsrechtslage Rechnung getragen. Sie ist bei der Auslegung stets zu berücksichtigen. Das „Vertrauen auf die Flüchtigkeit des Wortes", wie Arzt sich anschaulich ausdrückt, und die Freiheit von Überwachung durch Tonaufnahmegeräte als Schutzobjekte des §201 StGB führen zu der verfassungsrechtlich unterbauten Konsequenz, daß es in §201 StGB prinzipiell weder auf die Vertraulichkeit des Gesagten noch überhaupt auf seinen Inhalt ankommt. Geschützt ist in Erfüllung des Verfassungsauftrages das gesprochene Wort als solches 8 .
II. Bei einer unbegrenzten Dauer-Einschaltung der 6-Minuten-Endlosschleife der Tonbandgeräte ergeben sich Unterschiede für die Rechtslage je nachdem, ob es sich um die Aufnahme von Anrufen handelt, die bei der Telefonzentrale von außen, oder um solche, die dort von innen - ausgehend von einem Hausanschluß im Unternehmen - eintreffen. Daß es sich bei der Aufnahme der externen Anrufe in der Regel um das Aufnehmen von nichtöffentlich gesprochenen Worten im Sinne des Lenckner aaO (Fn. 1), §201 Rdn.2. Maunz/Dürig/Herzog aaO (Fn.5), Art. 2, Rdn.38. 8 Arzt, Gunther, Der strafrechtliche Schutz der Intimsphäre, Tübingen 1970, S. 243 und S.241 sowie Lenckner aaO (Fn. 1), §201, Rdn.2. 4 7
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§201 StGB handelt, dürfte unstreitig sein. Denn nichtöffentlich ist jedes Wort, das „nach dem Willen des Sprechers nicht an einen nach Zahl und Individualität unbestimmten oder durch persönliche Beziehungen innerlich unverbundenen größeren bestimmten Kreis von Personen gerichtet und auch objektiv für einen solchen Kreis nicht i. S. verstehenden Mithörens wahrnehmbar ist"9. An der NichtÖffentlichkeit der Gespräche in den vorliegenden Fällen kann auch die Tatsache nichts ändern, daß es sich bei Verlagshäusern um Unternehmen des Pressebereichs handelt, deren Hauptaufgabe die Weitergabe von Informationen an die Öffentlichkeit ist. Denn auch die Mitarbeiter eines Presseunternehmens haben bezüglich des Schutzes der Vertraulichkeit des Wortes keinen Sonderstatus gegenüber anderen Bürgern, d. h. auch sie bedürfen grundsätzlich zur Aufnahme von Gesprächen der Einwilligung des Betroffenen. Fraglich könnte sein, ob die Vorschrift des §201 Abs. 1 N r . 1 StGB bei heimlichen Aufnahmen von 7e/e/o«gesprächen überhaupt zur Anwendung kommt, oder ob durch diese Bestimmung nur die unbefugte Aufnahme von unmittelbaren Gesprächen unter Anwesenden erfaßt werden soll. Kohlhaas10 hat zu § 298 StGB a. F. die Ansicht vertreten, die heimliche Tonbandaufnahme eines Telefongesprächs könne nicht unter das Abhörverbot dieser Vorschrift fallen, da diese Bestimmung telefonische Äußerungen in geringerem Maße schütze, als Erklärungen, die die Partner beim persönlichen Zusammentreffen austauschen. Zwar sei auch bei einem persönlichen Gespräch keiner sicher, ob ihn der andere verraten könne. Bei einem persönlichen Gespräch vertraue aber in aller Regel jeder darauf, „daß niemand mechanisch als Anonymus das fixiert, was er quasi Auge in Auge anvertraut". Eine solche Vertrauensgrundlage bestünde jedoch im Falle eines Telefongespräches nicht, da man sich hier eines „seelenlosen Gerätes bediene und folgerichtig gar nicht wisse, was der Partner tue". Deshalb komme eine Strafbarkeit hier nur dann in Betracht, wenn ausdrücklich über das Vorhandensein eines Abhör- oder Aufnahmegerätes getäuscht werde. Dieser Auffassung kann jedoch nicht zugestimmt werden. Dem Wortlaut der Vorschrift des §201 StGB läßt sich kein Anhaltspunkt, der zu einer derartig einschränkenden Auslegung zwingt, entnehmen. Es ist außerdem nicht einzusehen, warum man davon ausgehen dürfe, daß der Teilnehmer eines Telefongesprächs eher mit Abhöranlagen rechne als der Teilnehmer eines Gesprächs unter Anwesenden. Weder bei einem 5 Vgl. beispielhaft Lackner, Karl, Strafgesetzbuch mit Erläuterungen, 13. Aufl., München 1980, §201 Anm.2, unter Bezugnahme auf O L G Frankfurt N J W 77, 1547. 10 Kohlhaas, Max, Das Mitschneiden von Telefongesprächen im Verhältnis zum Abhörverbot (§298 StGB) und dem Fernmeldegeheimnis, N J W 1972, 238 (239).
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Telefongespräch noch bei einer Unterredung unter Anwesenden besteht die Möglichkeit, ohne weiteres festzustellen, ob die andere Seite Tonbandaufnahmen anfertigt oder nicht. Deshalb sieht die herrschende Meinung mit Recht in dem Umstand, daß mit dem Telefon ein technisches Gerät eingesetzt wird, keine Rechtfertigung dafür, telefonische Äußerungen in geringerem Maße zu schützen als Erklärungen, die beim persönlichen Zusammentreffen der Gesprächspartner abgegeben werden". Hätte der Gesetzgeber einen solchen Unterschied machen wollen, dann hätte er dies im Gesetzestext ausdrücklich anordnen müssen. Daß er nichts entsprechendes gesagt hat, berechtigt zu dem Schluß, daß er telefonische Äußerungen in gleichem Maße schützen wollte. Somit ist für die vorliegende Fallkonstellation die Anwendung des §201 StGB nicht bereits deshalb ausgeschlossen, weil es sich hier um die Aufnahme eines Telefongesprächs und nicht um die eines persönlichen Gesprächs unter Anwesenden handelt. Der Tatbestand des §201 StGB könnte ausgeschlossen sein, wenn eine Einwilligung des Gesprächspartners mit der Aufnahme des Telefongesprächs vorläge. Hierbei ist zunächst umstritten, ob die Einwilligung des Betroffenen zum Ausschluß des Tatbestandes führt, oder ob sie nur einen Rechtfertigungsgrund bildet. Die Beantwortung dieser Frage hängt eng mit dem Problem zusammen, ob es sich bei dem Begriff „unbefugt" in § 201 StGB um ein Tatbestandsmerkmal handelt12 oder ob es sich hier, wie die wohl h. M. meint' 3 lediglich um einen gesetzgeberischen Hinweis darauf handelt, daß bei der Vorschrift des § 201 StGB Rechtfertigungsmerkmale praktisch häufiger vorkommen können. Der h. M. ist zuzustimmen. Ein Tatbestandsausschluß durch Einwilligung kann nicht damit begründet werden, daß diese der Tonaufnahme den interesseverletzenden Charakter nehme. Denn dann müßte, wie
11 Vgl. z.B. BGHSt. 14, 358 (363); Lenckner aaO (Fn. 1), §201 Rdn. 13; Lackner aaO (Fn.9); §201, A n m . 3 a ; Schilling, Georg, Zur Anwendung des §298 StGB bei der Aufzeichnung von Telefongesprächen, NJW 1972, 854. 12 So z.B. Arzt aaO (Fn.8), S.266; Lenckner aaO (Fn. 1), §201 Rdn.13 ebenso §183 Abs. 1 AE, der das Tatbestandsmerkmal „ohne Einwilligung" enthält; vgl. hierzu auch die Begründung zu diesem Gesetzesvorschlag, Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Besonderer Teil, Straftaten gegen die Person, Zweiter Halbband, Tübingen 1971, S.35; auch das O L G Köln wollte in einer Entscheidung zu § 300 StGB a. F. das Wort „unbefugt" durch „ohne Einwilligung des Verletzten" ersetzen, siehe hierzu N J W 1962, 686 (687). ,J Vgl. hierzu Mösl in Leipziger Kommentar, Bd. 3, 9. Aufl., Berlin-New York 1977, §298 a. F., Rdn. 11; Dreher/Tröndle, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 39. Aufl., München 1980, §201, Rdn.7; Samson in Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 2, Besonderer Teil, Frankfurt/Main, Stand Dezember 1978, Vor § 201, Rdn. 6; Suppen, Hartmut, Studien zur Notwehr und „notwehrähnlichen Lage", Bonn 1973, S. 177 mit ausführlichen Begründungen aus der Entstehungsgeschichte des §201.
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Dreher14 zutreffend ausführt, die Einwilligung immer den Tatbestand ausschließen, z.B. auch bei der Körperverletzung. Dies ist jedoch unstreitig nicht der Fall. Der Einwilligung kann vielmehr eine tatbestandsausschließende Wirkung nur dann zuerkannt werden, wenn sich der entsprechende Tatbestand gegen die Freiheit der Willensbildung richtet. In allen anderen Fällen kann sie nur im Rahmen der Rechtswidrigkeit Auswirkungen haben15. Da durch die Vorschrift des §201 StGB, wie bereits dargelegt wurde, jedoch nicht die Freiheit der Willensbildung geschützt werden soll, ist hier das Vorliegen einer Einwilligung im Rahmen des Tatbestandes nicht zu prüfen. Fraglich ist jedoch, ob nicht bereits bei der Prüfung der Tatbestandsmäßigkeit in irgendeiner Form die Tatsache Berücksichtigung finden muß, daß es sich hier um Tonaufnahmen handelt, die wegen der Verwendung von sog. Endlosschleifenbändern nur kurzfristig erhalten bleiben und die auch während dieser Zeit dem Zugriff Dritter durch ihre Versiegelung nur in beschränktem Umfang zugänglich sind. Es könnte hier ein Tatbestandsausschluß unter dem Gesichtspunkt der Sozialkongruenz in Betracht kommen. Unter Sozialkongruenz als einem für alle Strafrechtstatbestände in Betracht kommenden Begriff ist die Charakterisierung eines Verhaltens zu verstehen, das entweder sozialethisch geboten oder wegen sozialer Irrelevanz sozialethisch erlaubt ist16. Liegen diese Voraussetzungen vor, so soll die Tatbestandsmäßigkeit entfallen, auch wenn ein Verhalten formal die Voraussetzungen eines Tatbestands erfüllt. Grundfall der Sozialkongruenz unter dem Aspekt des Gebotenseins formal tatbestandsmäßigen Verhaltens war die aktienrechtliche Untreue (ursprünglich §312 H G B und von 1937 bis zu seiner Streichung §294 AktG). Es geht hier um die Frage, inwieweit Verwaltungsträger einer Aktiengesellschaft Geschäfte vornehmen dürfen, die mit einem möglicherweise erheblichen Risiko verbunden sind, deren Ausgang zunächst völlig offen ist, und die dann für die Gesellschaft ungünstig ausgehen. Schon die Herbeiführung des betreffenden Risikos ist als Vermögensgefährdung die Verwirklichung des Tatbestandsmerkmals der Schadens-, früher: Nachteils-, -zufügung. Ein Vorstandsmitglied hatte also bei der Eingehung eines nicht nur erlaubten, sondern sogar gebotenen, pflichtgemä14 Dreher, Eduard, Anmerkung zum Beschluß des O L G Köln vom 19.10.61 - Zs 859/ 60, M D R 1962, 592. 15 So auch Dreher aaO (Fn. 14). 16 Klug, Ulrich, Sozialkongruenz und Sozialadäquanz im Strafrechtssystem, in : Festschrift für Eberhard Schmidt zum 70. Geburtstag, 2. Aufl., Göttingen 1971, S.249 (262); den., Aktienstrafrecht, Berlin-New York 1975, §399 Anm.20.
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ßen Risikos für das Unternehmen formal den Tatbestand erfüllt, obwohl dies unter sozialethischem Aspekt nicht der Wille des Gesetzgebers gewesen sein konnte. Denn die risikolose Unternehmenstätigkeit ist prinzipiell nicht denkbar. Der Unternehmensleiter muß Risiken eingehen. Er handelt deshalb mit gebotenem, nicht nur mit erlaubtem Risiko. Deshalb war der Tatbestandsausschluß wegen Sozialkongruenz anzunehmen und nicht nur von bloßer Rechtfertigung wegen Sozialadäquanz auszugehen 17 . Es erscheint jedoch fraglich, ob die hierzu entwickelten Grundsätze auf Fälle der vorliegenden Art übertragbar sind. Bei der aktienrechtlichen Untreue liegt, wie gesagt, das Problem darin, daß das Tatbestandsmerkmal des Handelns zum Nachteil der Gesellschaft in dem Augenblick verwirklicht wird, in dem auch nur eine Gefährdung des Vermögens der Gesellschaft eingetreten ist. Soweit könnte eine Parallele zu den Fällen der vorliegenden Art bestehen, wenn man davon ausgeht, daß hier durch die Aufnahme des Telefongesprächs eine Gefährdung und erst durch die endgültige Fixierung des kriminellen Anrufs die Verletzung der durch §201 StGB geschützten Rechtsgüter eintritt. Es ist jedoch zweifelhaft, ob es sich selbst bei einer im Maximum auf 6 Minuten beschränkten Tonaufnahme nur um eine Gefährdung und nicht um eine Verletzung der durch §201 StGB geschützten Rechtsgüter handelt. Die Grundsätze des gebotenen Risikos als eines Spezialfalles der Sozialkongruenz im Rahmen der aktienrechtlichen Untreue sollen den Verwaltungsträger einer Aktiengesellschaft davor bewahren, sich bei jedem Geschäft, das eine gewisse Gefährdung des Gesellschaftsvermögens zur Folge hat, straftatbestandsmäßig zu verhalten, selbst wenn er mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters zu Werke gegangen ist' 8 .
17 Die Begriffe „Sozialkongruenz" als Tatbestandsausschließungsgrund und „Sozialadäquanz" als Rechtfertigungsgrund werden nicht einheitlich verwendet; vgl. ζ. B. Welzel, der den Begriff der Sozialadäquanz ursprünglich (Das Deutsche Strafrecht, 2. Aufl., Berlin 1949, S.36) als Tatbestandsausschlußgrund, später (bis zur 8. Aufl., Berlin 1963, S. 76) als Rechtfertigungsgrund und dann wieder (ab der 9. Aufl., Berlin 1965, S.52) als Tatbestandsausschließungsgrund verstanden hat. - Zur weiteren Begriffsanalyse vgl. vor allem K. Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, Heidelberg 1953, S.278 und ders., Der Unrechtstatbestand im Strafrecht, in: H u n d e r t j a h r e Deutsches Rechtsleben, Festschrift Deutscher Juristentag, Karlsruhe 1960, Band I, S.418. - Zur Problematik des Tatbestandsausschlusses unter sozialethischen Aspekten vgl. ferner: Baumann, Jürgen, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl., Bielefeld 1977, §15 III 3;Jescheck, H.-H., Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 3. Aufl., Berlin 1978, § 2 5 I V ; Maitrach/Gössel/Zipf, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Teilband 2, 5. Aufl., Heidelberg-Karlsruhe 1978, §43 II Ac und § 4 3 I I B b . 18
Klug, in: Festschrift für Eberhard Schmidt (Fn. 16), S.254 m . w . N .
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Fraglich ist jedoch, ob es ähnliche Gründe gibt, die in Fällen der vorliegenden Art einen Tatbestandsausschluß unter dem Gesichtspunkt des gebotenen Risikos herbeiführen könnten. Es kann nicht bezweifelt werden, daß jedes Unternehmen im Rahmen des Möglichen dafür Sorge zu tragen hat, daß seine Mitarbeiter vor Schaden bewahrt werden. In diesem Zusammenhang obliegt der Unternehmensleitung deshalb auch unbestritten die Pflicht, diese soweit wie irgend möglich vor Erpressern und Bombenlegern zu schützen, durch die u . U . ganz erhebliche Gefahren für Leib und Leben der Mitarbeiter entstehen können. Dies gilt um so mehr für Betriebe des Verlags- und Pressebereichs, als durch die bereits durchgeführten Bombenanschläge auf Einrichtungen eines bekannten Hamburger Presseverlages erkennbar wurde, daß gerade Betriebe dieser Art besonders gefährdet sind. Es ist jedoch in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, daß diese Schutzpflichten nicht zu den unmittelbaren Hauptpflichten und Hauptaufgaben eines Verlagshauses gehören. Die Aufnahme der Telefongespräche dient nicht der Förderung der geschäftlichen Entwicklung des Unternehmens, so daß insoweit keine Parallelen zu den Sozialkongruenzfällen der aktienrechtlichen Untreue bestehen. Im übrigen ist die Bedrohung durch Erpresser und Bombenleger keine unmittelbare Folge der geschäftlichen Tätigkeit eines Verlagshauses. Es muß deshalb davon ausgegangen werden, daß die oben dargelegte Verpflichtung, die Mitarbeiter möglichst umfassend vor Schaden zu bewahren, eine Konsequenz der jedermann in gewissem Umfang obliegenden Verpflichtungen ist, sich und andere vor Gefahr an Leib und Leben zu schützen. Mag auch die Verpflichtung bei einem Großbetrieb des Pressebereichs unter arbeitsrechtlichen Gesichtspunkten besonders umfassend sein, so ändert dies nichts an der Tatsache, daß solche Fälle des vorbeugenden Verbrechensschutzes in der Regel nach den Grundsätzen des Notwehr- und N o t standsrechts beurteilt werden müssen. Die Bedrohung eines Verlagshauses durch erpresserische u. ä. Telefonanrufe ist zudem nicht so konkret, daß man davon ausgehen müßte, daß die Tonbandaufnahmen dieser Gespräche für eine sinnvolle Geschäftsführung zwingend erforderlich seien. Ein Tatbestandsausschluß unter dem Gesichtspunkt der Sozialkongruenz wegen eines gebotenen Risikos kommt somit nicht in Betracht, weil die Unternehmenstätigkeit hier durchaus auch ohne formale Verwirklichung des Tatbestandes des §201 StGB denkbar ist. Darin liegt der wesentliche Unterschied zu dem oben dargestellten Sozialkongruenzfall aus dem Aktienstrafrecht. Diese Auffassung entspricht dem Schutzzweck der Vorschrift des § 201 StGB, der vom Gesetzgeber bewußt eine weite Fassung erhalten hat. Die Annahme eines Tatbestandsausschlusses wegen gebotenen Risikos im
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vorliegenden Fall würde den Anwendungsbereich des § 201 StGB in ganz erheblichem Umfang einschränken, ohne daß hierfür dem Gesetz eine ausreichende Begründung zu entnehmen wäre. Etwas anderes ergibt sich auch dann nicht, wenn man andere Anwendungsfälle für Sozialkongruenz unter dem Gesichtspunkt des gebotenen Risikos zum Vergleich heranzieht. Zu nennen wären vor allem die Fälle der kunstgerechten ärztlichen Heilbehandlung und der pädagogisch bedingten Züchtigungshandlungen der Eltern gegenüber kleinen Kindern19. Indessen kann die einem Verlagshaus in gewissem Umfang obliegende Pflicht, sich zum Schutze der Mitarbeiter einer Tonaufnahmeanlage zu bedienen, aus den oben genannten Gründen in ihrer Bedeutung und Notwendigkeit nicht mit der Verpflichtung des Arztes zur Heilbehandlung oder derjenigen der Eltern zur Erziehung ihrer Kinder verglichen werden. Sozialkongruenz unter dem Gesichtspunkt der sozialen Irrelevanz kommt in Betracht, wenn ein Verhalten wegen der Geringfügigkeit der Beeinträchtigung des betreffenden Rechtsgutes oder wegen seiner sozialen Harmlosigkeit trotz formaler Tatbestandsverwirklichung unter Berücksichtigung des Schutzzweckes der Vorschrift dem durch diese typisierten Unrecht nicht mehr entspricht. So kann z.B. bei der einfachen Freiheitsberaubung nach §239 StGB, der Veranstaltung eines Glücksspiels nach §284 StGB oder der Vorteilsannahme durch einen Amtsträger nach §331 StGB die Tatbestandsmäßigkeit allein unter der Voraussetzung einer gewissen Erheblichkeit des Verhaltens bejaht werden20. Die geringfügige Freiheitsberaubung und das Glücksspiel mit ganz unbeträchtlichen Geldeinsätzen sind ebenso wie die Annahme von belanglosen Geschenken an einen Amtsträger wegen ihrer sozialen Unerheblichkeit21 als sozialkongruent und demgemäß als nicht mehr tatbestandsmäßig anzusehen. Für die vorliegenden Fälle könnte man der Auffassung sein, daß die hier in Frage kommenden Beeinträchtigungen der durch §201 StGB geschützten Rechtsgüter wegen der Geringfügigkeit und der Zielrichtung des Eingriffs nicht dem Schutzzweck dieser Vorschrift entsprechen und deren Tatbestand deshalb wegen sozialer Irrelevanz nicht erfüllt ist. Was die Tatsache betrifft, daß die hier in Frage stehenden Tonaufnahmen in der Regel nur wenig länger als 6 Minuten erhalten bleiben, so gibt zunächst der Wortlaut des §201 StGB keine Anhaltspunkte dafür, daß " Klug, in: Festschrift für Eberhard Schmidt (Fn. 16), S. 262 f. Vgl. hierzu mit weiteren Beispielen Klug, in: Festschrift für Eberhard Schmidt (Fn. 16), S. 263; den., Aktienstrafrecht (Fn. 16), §399, A n m . 2 0 . 21 Vgl. hierzu Hirsch, Hans Joachim, Soziale Adäquanz und Unrechtslehre, ZStW, Bd. 74, 78 (89 ff.). 20
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solche zeitlich begrenzten Aufnahmen von dieser Vorschrift nicht umfaßt werden sollen. Der Schutzzweck dieser Bestimmung fällt unter der Überschrift „Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes" in den Bereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Es soll - w i e schon erwähnt w u r d e - nicht das, „was als flüchtige Lebensäußerung gemeint war, in eine jederzeit reproduzierbare Tonkonserve verwandelt werden können" 22 . Von der Möglichkeit einer jederzeitigen Reproduzierbarkeit könnte jedoch möglicherweise hier nicht mehr ausgegangen werden, weil die Fixierung der Tonaufnahme zunächst auf einen so minimalen Zeitraum von 6 Minuten beschränkt ist. Es ist aber zu beachten, daß bei der hier in Frage stehenden Aufnahmeanlage keine absolute zeitliche Beschränkung der Erhaltung der Tonaufnahmen vorliegt. Denn diese Anlage kann ihren Zweck nur erfüllen, wenn jederzeit die Möglichkeit besteht, ein aufgenommenes Telefongespräch vor der normalerweise automatisch auftretenden Löschung zu bewahren. Insoweit sind die Aufnahmen dieser Anlage genauso zu behandeln wie von vornherein auf Dauer angelegte Tonaufnahmen. Man könnte allerdings die Auffassung vertreten, daß eine Tatbestandsverwirklichung des § 2 0 1 StGB nur dann in Betracht kommt, w e n n von der Möglichkeit einer endgültigen Fixierung in der o. g. Art und Weise tatsächlich Gebrauch gemacht worden ist, daß aber in allen anderen Fällen wegen eines fehlenden Eingriffs in das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen der Tatbestand dieser Vorschrift ausscheidet. Diese Argumentation läßt jedoch außer acht, daß allein die Möglichkeit einer dauernden Verfügung über die Tonaufnahme einen Eingriff in das Recht am eigenen nichtöffentlich gesprochenen Wort enthält, selbst wenn von dieser Möglichkeit später kein Gebrauch gemacht wird. Der Sachverhalt kann hier nicht anders beurteilt werden, als wenn jemand eine i. S. d. § 2 0 1 StGB unbefugte A u f n a h m e auf einem normalen Tonaufnahmegerät macht, diese jedoch nach kurzer Zeit wieder löscht. Hat der Aufnehmende von vornherein eine dauerhafte Aufnahme beabsichtigt, oder sich zumindest die Option auf eine solche offengehalten, so kann die Tatbestandsmäßigkeit nicht deshalb verneint werden, weil er von diesem Vorhaben Abstand genommen oder seine Option nicht wahrgenommen hat. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt auch Samson11, der in der bloßen A u f n a h m e eine abstrakte Gefährdung des Schutzzweckes des § 2 0 1 StGB sieht, die sich erst im Abhören oder Zugänglichmachen der A u f n a h m e 12 Gallas aaO (Fn.2), S. 19; ebenso die h.M. wie z.B. Lenckner aaO (Fn. 1), §201, Rdn.2; Lackner aaO (Fn. 9), §201 Anm. 1; BGH NJW 1958, 1344f.; BGHSt. 14, 358 (360); OLG Celle NJW 1965, 1677 (1678); KG NJW 1967, 115 (116). 25 Samson aaO (Fn. 13), §201, Rdn.2.
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konkret realisiert. Denn eine Gefährdung des Schutzzweckes ist in jedem Fall gegeben, da, wie eben dargelegt, die Möglichkeit einer konkreten Beeinträchtigung durch die dauerhafte Fixierung der Tonaufnahme besteht. Zu prüfen bleibt, ob ein Tatbestandsausschluß unter dem Gesichtspunkt der Sozialkongruenz deshalb in Betracht kommt, weil es sich bei den hier fraglichen Gesprächen nur um solche mit der Telefonzentrale handelt, d.h. weil in der Regel keine echten „Gespräche" geführt werden, sondern nur der Wunsch um Vermittlung mit einer bestimmten Nebenstelle geäußert wird. Man könnte der Auffassung sein, daß es sich hier um derart belanglose und wenig persönlichkeitsbezogene Gespräche handelt, daß diese nach der ratio legis vom Schutzzweck des §201 StGB nicht mehr umfaßt werden. Geht man davon aus, daß durch die Vorschrift des §201 StGB Persönlichkeitsrechte und damit Grundrechte geschützt werden sollen, so könnte man der Meinung sein, daß ein strafrechtlicher Schutz nur für solche Äußerungen erforderlich ist, die tatsächlich den Kernbereich, d. h. den engeren Bereich der Persönlichkeitssphäre betreffen. Dies hätte zur Folge, daß zwischen dem tatbestandlichen Schutzbereich der Tonaufnahme aus dem „persönlichen Lebensund Geheimbereich" und solchen Aufnahmen, die keine Vorgänge des Privatlebens betreffen, unterschieden werden müßte24. So ist z.B. Peters - allerdings im Zusammenhang mit strafverfahrensrechtlichen Fragen der Auffassung, nicht jeder Verstoß gegen Persönlichkeitsrechte berühre die Menschenwürde 25 . So sei eine Verletzung des Persönlichkeitsrechtes eindeutig bei der Aufnahme von vertraulichen zwischenmenschlichen Gesprächen gegeben, während dies nicht für solche Gespräche gelte, die „nicht wirklich die menschliche oder zwischenmenschliche Intimsphäre betreffen". So führe z.B. der Anwalt das Gespräch mit dem Mandanten in seiner Berufseigenschaft als Organ der Rechtspflege, weswegen es sich bei diesem nicht um einen Vorgang des Privatlebens handele26. Legt man diese Maßstäbe an die hier in Frage stehenden Gespräche mit der Telefonvermittlung an, so spricht manches dafür, hier keine Verletzung des Kernbereichs des Persönlichkeitsrechtes der Anrufer anzunehmen. Bei diesen Gesprächen wird in aller Regel wohl ausschließlich der Name des gewünschten Gesprächspartners oder die Nummer der gewünschten Nebenstelle genannt werden, so daß eine Verletzung der Intimsphäre des Anrufers kaum in Betracht kommt, zumal dieser 24
Vgl. hierzu Suppen aaO (Fn. 13), S. 186 ff. und 204 ff. m . w . N . Peters, Karl, Beweisverbote im deutschen Strafverfahren, Gutachten für den 46. Deutschen Juristentag, in: Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Bd. 1, Gutachten Teil 3 A, S. 151 ff. 26 Peters aaO (Fn.25), S.152. 25
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alleine durch die Nennung seines Namens später schwer zu identifizieren sein wird. Es wäre jedoch bedenklich, eine derartig einschränkende Auslegung des § 2 0 1 S t G B zuzulassen. Nach dem Wortlaut des § 2 0 1 S t G B soll die unbefugte Aufnahme eines jeden Wortes strafbar sein, wenn dieses „nichtöffentlich" gesprochen worden ist. Weitere Tatbestandsmerkmale, die verlangen, daß es sich hier um höchst persönliche Worte aus der Intimsphäre des Betroffenen oder überhaupt um einen Vorgang des Privatlebens handeln muß, enthält diese Vorschrift nicht. Allein dies spricht bereits gegen eine einschränkende Auslegung in dem genannten Sinne. Aber aus dem Schutzzweck der Vorschrift ergibt sich für eine andere Auffassung ebenfalls kein Anhaltspunkt. Das allgemeine Interesse an der Unbefangenheit mündlicher Äußerungen besteht nicht nur bei Äußerungen, die dem engsten Persönlichkeitsbereich entstammen, sondern grundsätzlich auch bei allen anderen Äußerungen aus dem Privat- und dem Geschäftsbereich. Was z. B. das erwähnte Beispiel von Peters betrifft, das dieser allerdings im Zusammenhang mit Fragen des Verfahrensrechts verwendet hat, so ist nicht erkennbar, warum die Mandantin bei dem Gespräch mit ihrem Rechtsanwalt nicht durch eine unbefugte Tonaufnahme in der Unbefangenheit ihrer Äußerungen beeinträchtigt ist. Dies wird besonders deutlich, wenn man berücksichtigt, in wie starkem Umfang die Privatsphäre eines Mandanten z. B. bei Gesprächen in Verbindung mit einem Ehescheidungsverfahren, einem Strafverfahren wegen einer Sexualstraftat oder eines Berufsdeliktes berührt werden. Eine andere Auffassung läßt sich auch nicht aus der Entstehungsgeschichte der Vorschriften zum Schutze der Vertraulichkeit des Wortes herleiten. Zwar hatte der E 1962 in diesem Zusammenhang folgenden § 183 Abs. 3 vorgesehen: „Die Absätze 1 und 2 sind nicht auf Handlungen anzuwenden, die nach verständiger Auffassung, namentlich im Hinblick auf die Beweggründe und die Ziele des Täters und die zwischen diesem und dem anderen bestehenden Beziehungen, hinzunehmen sind." Und eine ähnliche Einschränkung der Strafbarkeit von heimlichen T o n bandaufnahmen wurde bereits in den Sitzungen der großen Strafrechtskommission diskutiert 27 . Skott wollte in den Tatbestand das Merkmal „mißbräuchlich" aufnehmen, während andere Teilnehmer, wie z . B . Baldus, in den Beratungen die Auffassung vertreten haben, daß es „von den Fällen des Notstandes abgesehen kein unverzichtbares Bedürfnis dafür gebe, die Äußerungen eines anderen heimlich durch Schallaufnah-
27 Vgl. z . B . Gallas, Wilhelm, in: Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, Bd. 9, S. 157; Skott ebenda, S. 526.
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men festzuhalten" 28 . Es bleibt festzuhalten, daß ein einschränkendes Tatbestandsmerkmal, wie es beispielsweise Skott vorschlug, in den Tatbestand des § 201 StGB vom Gesetzgeber nicht aufgenommen worden ist. Dies muß als Hinweis dahingehend verstanden werden, daß vom Gesetzgeber eine enge Auslegung des §201 StGB nicht gewollt war. Weiterhin wäre es zweifelhaft, ob der Tatbestand des §201 StGB noch praktikabel bliebe, wenn man über das Tatbestandsmerkmal der Nichtöffentlichkeit hinaus verlangt hätte, daß es sich hier um Äußerungen aus dem Privatbereich des Betroffenen handeln müsse. Wie Suppen" zutreffend ausgeführt hat, hinge eine solche Unterscheidung von rational nur schwer kontrollierbaren Wertungen ab. Der klare Wortlaut des Gesetzes der ausschließlich auf die NichtÖffentlichkeit abstellt, würde in unzulässiger Weise verwischt. Zudem verstieße eine solche Regelung möglicherweise gegen das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 G G und § 1 StGB. Somit ist in Fällen der vorliegenden Art der Tatbestand des §201 StGB nicht bereits deshalb wegen sozialer Irrelevanz und dadurch unter dem Gesichtspunkt der Sozialkongruenz ausgeschlossen, weil es sich nur um die Aufnahme von persönlichkeits-neutralen Äußerungen handelt. Die Tatbestandsmäßigkeit wird also bei dem hier erörterten Sachverhalt unter keinem der behandelten Aspekte beseitigt. Das sollte nicht überraschen, denn bei der Anwendung eines im Gesetz nicht ausdrücklich geregelten Tatbestandsausschließungsgrundes ist Zurückhaltung geboten, da andernfalls das Legalitätsprinzip gefährdet ist. Dieser Konflikt zwischen normierten und nichtnormierten Grundsätzen im Strafrecht wird immer wieder einmal akut. Man erinnert sich beispielsweise daran, daß Sarstedt, als §17 noch nicht in das StGB eingefügt war, in bezug auf den gesetzlich nicht geregelten Schuldausschließungsgrund des Verbotsirrtums zutreffend vor zu weit reichender Anwendung warnte, weil die Gefahr bestehe, daß dadurch das Legalitätsprinzip unterlaufen werde 30 .
III. Die Rechtswidrigkeit könnte bei der unbegrenzten Dauer-Einschaltung des versiegelten 6-Minuten-Endlosschleifenbandes ausgeschlossen 28 Baldus, in: Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, Bd. 9, S. 158; vgl. Dünnebier ebenda, S. 185f.; Bockelmann ebenda, S. 187; Lange ebenda, S. 188. 29 Suppert aaO (Fn. 13), S.206. 30 Sarstedt, "Werner, Wandlungen des Strafrechts, in: Ehrengabe für Bruno Heusinger, München 1968, S.352.
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sein, wenn die betroffenen Anrufer ihre Einwilligung zur Aufnahme ihrer Telefongespräche gegeben hätten. Eine ausdrückliche Einwilligung dürfte in der Regel fehlen. Eine konkludente Einwilligung käme zunächst in Betracht, wenn davon ausgegangen werden könnte, daß der Betroffene von der Existenz der Aufnahmegeräte wüßte oder deren Vorhandensein zumindest für wahrscheinlich hielte und dennoch das Telefongespräch führen würde. Da die betreffenden Unternehmen den externen Gesprächsteilnehmern von der Abhöranlage keine Mitteilung zu machen pflegen, käme darüber hinaus eine konkludente Einwilligung nur in Betracht, wenn die Verwendung derartiger Geräte bereits der Verkehrssitte entspräche, und somit jeder mit deren Gebrauch rechnen müßte. Es mag sicherlich im Geschäftsleben Fälle geben, bei denen sich beide Parteien, ohne daß hierüber ausdrücklich gesprochen worden wäre, darüber einig sind, daß Tonbandaufzeichnungen vorgenommen werden. Dies dürfte jedoch grundsätzlich nur der Fall sein, wenn es sich um bereits bestehende Geschäftsbeziehungen oder in der betreffenden Branche bekannte Geschäftsgebräuche handelt, und die Tonbandaufnahmen im Interesse beider Parteien liegen. Diese Auffassung teilt auch das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluß vom 31.1.73 31 , wenn es feststellt, daß in aller Regel das Recht des Sprechers auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit noch nicht betroffen sei, soweit es z. B. im geschäftlichen Verkehr üblich geworden wäre, fernmündliche Durchsagen, Bestellungen oder Börsennachrichten mittels eines Tonabnehmers festzuhalten. Bei derartigen Mitteilungen stehe der objektive Gehalt des Gesagten so sehr im Vordergrund, daß die Persönlichkeit des Sprechenden nahezu vollends dahinter zurücktrete, und das gesprochene Wort damit seinen privaten Charakter einbüße32. Unabhängig von der Frage, ob möglicherweise der Schutz der Persönlichkeitsrechte durch den vom Bundesverfassungsgericht an der zitierten Stelle nicht behandelten §201 StGB einen größeren Umfang haben soll als der in Art. 1 und 2 G G manifestierte, läßt sich die Argumentation in dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht auf die Fälle der vorliegenden Art übertragen. Denn hier sollen alle bei der Telefonzentrale ankommenden Gespräche vor deren Weitervermittlung aufgenommen werden. Es muß jedoch davon ausgegangen werden, daß zumindest nicht bei allen Gesprächen die Bedingungen einer längeren Geschäftsbeziehung, praktizierter Geschäftsgebräuche oder eines Interesses beider Seiten an der Tonaufnahme gegeben sind. Wie bereits dargelegt, ändert hieran auch die Tatsache nichts, daß es sich hier um Gespräche mit einem Presseverlagsunternehmen handelt. 31 32
NJW 1973, 891 (892). Ähnlich OLG Karlsruhe, NJW 1970, 1513 (1514).
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Somit kann eine Rechtfertigung durch mutmaßliche oder ausdrückliche Einwilligung grundsätzlich nicht angenommen werden. Zu diskutieren blieb indessen, ob eine Rechtfertigung wegen Notstandes, § 3 4 S t G B , oder Notwehr, §32 StGB, in Betracht kommt. Eine Rechtfertigung aufgrund dieser Vorschriften scheidet jedoch in der Regel aus, da bei den normalen Telefongesprächen der vorliegenden Art weder ein „gegenwärtiger rechtswidriger Angriff" noch eine „gegenwärtige Gefahr" für irgendein Rechtsgut des betreffenden Unternehmens vorliegt. Dies gilt jedoch ausschließlich für die normalen, nicht-kriminellen Anrufe. Wird dagegen ein verbrecherisches Telefongespräch mitgeschnitten, so ist dies durch Notwehr, § 32 StGB, und subsidiär durch rechtfertigenden Notstand, § 34 StGB, als nicht rechtswidrig gedeckt. Die Aufnahme der Telefongespräche könnte indessen bei unbegrenzter Dauer-Einschaltung der in Rede stehenden Art unter dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung berechtigter Interessen in analoger Anwendung des § 193 StGB gerechtfertigt sein. Fraglich ist aber zunächst einmal, ob nach der gesetzlichen Normierung des §34 S t G B noch Raum für eine analoge Anwendung des § 193 S t G B bleibt. Die hierzu vertretenen Auffassungen in Rechtsprechung und Literatur sind unterschiedlich. So lehnt z . B . Samson33 einen neben dem Notstand selbständigen Rechtfertigungsgrund der Wahrnehmung berechtigter Interessen ab. Lenckner vertritt ebenfalls die Auffassung, eine über die gesetzlich geregelten Rechtfertigungsgründe hinausgehende Rechtfertigung bei Wahrnehmung berechtigter Interessen sei entbehrlich, weil die sachgerechte Anwendung des §34 StGB grundätzlich zu angemessenen Lösungen führe34. Dagegen halten Dreher/Tröndle und Lackner wohl eine solche über den Anwendungsbereich des § 3 4 StGB hinausgehende Rechtfertigung bei überwiegendem Interesse - und Sozialadäquanz - für möglich 35 . Dafür könnte sprechen, daß der Bundesgerichtshof schon frühzeitig ( N J W 1952, 661) betont hatte, § 193 StGB gelte als allgemeiner Rechtfertigungsgedanke. Eine Rechtsverletzung soll jedoch „nur dann durch die Wahrnehmung berechtigter Interessen gedeckt sein, wenn sie objektiv nach Inhalt, Form und Begleitumständen das gebotene und notwendige Mittel zur Erreichung des rechtlich gebilligten Zwecks bildet". Die Beantwortung der Frage, ob nach der Normierung des rechtfertigenden Notstandes in §34 StGB noch eine ergänzende Rechtfertigung Samson aaO (Fn.13), §201, Rdn.27f. m . w . N . Ebenso ζ . B . Lenckner aaO (Fn. 1), §201, Rdn. 31 a. 35 Dreher/Tröndle aaO (Fn.13), §201, Rdn. 7; Lackner aaO (Fn.9), §201, Anm.5a), dd); vgl. ferner Mösl aaO (Fn.13), §298, Rdn. 16; Schröder in: Schönke-Schröder, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 17.Aufl., München 1974, §298, Anm.36. 33
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wegen der Wahrnehmung berechtigter Interessen in Betracht kommt, kann jedenfalls dahinstehen, wenn im hier erörterten Fall selbst bei Bejahung der Frage die entsprechenden Voraussetzungen für eine derartige Rechtfertigung nicht erfüllt sind. Prinzipielle Voraussetzungen für eine Rechtfertigung unter dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung berechtigter Interessen ist eine Interessenkollision, die nur unter der Verletzung von Rechtsgütern anderer Personen gelöst werden kann. So muß bekanntlich bei dem Grundfall des zum Beleidigungsstrafrecht gehörigen § 193 StGB die Abwägung der widerstreitenden Interessen ergeben, daß das Interesse des Beleidigers in einem angemessenen Verhältnis zu dem Anspruch des Beleidigten auf Unverletztheit seiner Ehre steht. Die Ehrverletzung muß das unerläßliche und zugleich schonendste Mittel der Interessenwahrnehmung sein36. Die ehrverletzende Äußerung soll nur dann durch die Wahrnehmung berechtigter Interessen gedeckt sein, wenn sie „objektiv nach Inhalt, Form und Begleitumständen das gebotene und notwendige Mittel zur Erreichung des rechtlich gebilligten Zwecks bildet" 37 . Diesen Grundsatz analog anwendend hat die Rechtsprechung u. a. für Fälle der unerlaubten Tonaufnahme eine Rechtfertigung unter dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung berechtigter Interessen in engen Grenzen zugelassen 38 . So ist beispielsweise eine solche Rechtfertigung in Fällen anerkannt worden, wo Tonbandaufnahmen gemacht worden sind, um Beweismittel in einem Ehescheidungsverfahren zu erhalten39. Das O L G Frankfurt 40 hat aus den gleichen Gründen heimliche private Tonbandaufnahmen als zulässiges Beweismittel im Sinne des § 86 StPO anerkannt, wenn durch sie beleidigende Äußerungen bewiesen werden sollen, und wenn eine notwehrähnliche Lage des Beleidigten gegeben ist. Durch die große Strafrechtskommission wurde die gesetzliche N o r mierung einer solchen Rechtfertigung wegen der Wahrnehmung berechtigter Interessen erwogen. N u r dann sollte nach einem Vorschlag des Bundesjustizministeriums die Tonaufnahme nicht strafbar sein, wenn der Täter „zur Ausübung eines Rechtes oder zur Wahrnehmung eines berechtigten (schutzwürdigen) Interesses handelt und seine Handlungsweise nach den Umständen ein angemessenes Mittel zur Erreichung des angestrebten Zweckes ist" 41 . Ebenfalls in den Beratungen der großen Strafrechtskommission hatte Skott als Gesetzeswortlaut vorgeschlagen : „Wer
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Vgl. hierzu beispielhaft Lackner a a O (Fn.9), §193, A n m . 5 a m . w . N . B G H N J W 1952, 660 (661). Z . B . B G H N J W 1958, 1344 (1345). Z . B . K G N J W 1956, 26 (27); K G N J W 1967, 115 (116). N J W 1967, 1047 (1048). Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, Bd. 9, S. 516.
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ohne berechtigtes Interesse das nichtöffentlich gesprochene Wort eines anderen ohne dessen Zustimmung durch ein Tonaufnahmegerät aufnimmt oder eine solche Aufnahme des nichtöffentlich gesprochenen Worts eines anderen ohne dessen Zustimmung einem Dritten gegenüber gebraucht, wird mit Strafhaft oder Geldstrafe bestraft 42 ." Grundlage der oben genannten gerichtlichen Entscheidungen ist allerdings, daß derjenige, der in Wahrnehmung seiner berechtigten Interessen heimliche Tonaufnahmen anfertigt, durch diese gerade das Persönlichkeitsrecht desjenigen verletzt, demgegenüber er seine Rechte verteidigen muß. Insoweit bestehen aber zu den Fällen der hier vorliegenden Art keine Parallelen, da ein Unternehmen grundsätzlich durch die normalen Anrufer in seinen Rechten und Interessen nicht beeinträchtigt wird, während es selbst bei unbegrenzter Dauer-Einschaltung der Tonaufnahmeanlage die Anrufer in ihren Rechten verletzen würde. Hinzu kommt das Folgende: Zwar hat jedes Unternehmen ein nicht zu unterschätzendes Interesse daran, möglichen Erpressungen oder Terrorangriffen mit größtmöglicher Effizienz begegnen zu können. Und es kann nicht verkannt werden, daß in vielen solchen Fällen die Telefonverbindung die einzige Spur darstellt, die zum Täter führen kann. Diesem Interesse der Betriebe steht jedoch das grundgesetzlich geschützte Persönlichkeitsrecht aller nichtkriminellen Anrufer entgegen, das eine Aufnahme der Gespräche zunächst verbietet. Erwägenswert wäre allenfalls die Auffassung, daß es sich nicht um Eingriffe in den Kernbereich der Persönlichkeitsrechte der Anrufer handele, und daß deshalb nur in einem geringeren Umfange ein Anspruch auf einen Schutz durch die Vorschrift des §201 StGB bestünde. Aber selbst unter Berücksichtigung dieses Argumentes wird man zu keinem Ubergewicht der Interessen der Unternehmen gelangen können. Denn es darf nicht außer acht gelassen werden, daß für die Gefahr eines kriminellen Angriffs durch einen Telefonanruf bei der hier in Rede stehenden Sachverhaltskonstellation keine konkret erkennbaren Anhaltspunkte vorliegen. Abgesehen davon läßt sich zudem nach allgemeinen kriminalistischen Erfahrungsgrundsätzen nicht mit genügender Sicherheit feststellen, ob etwa ein solcher Angriff in absehbarer Zeit gerade auf das betreffende Unternehmen und dann zudem noch mittels eines Telefonanrufs zu erwarten ist. Es steht deshalb die nicht hinreichend konkretisierte nur vage latente Gefährdung der Rechtsgüter des Unternehmens der sich täglich vielfach wiederholenden Beeinträchtigung der Rechtsgüter zahlreicher Anrufer entgegen. Eine Rechtfertigung
42 S k o t t aaO (Fn.27), S.526; einen ähnlichen Vorschlag machte die zuständige Unterkommission, vgl. hierzu S. 529.
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wegen Wahrnehmung berechtigter Interessen kann hier deshalb nicht angenommen werden 43 . Zu bedenken bleibt schließlich, ob eine Rechtfertigung unter dem Gesichtspunkt der Sozialadäquanz in Betracht kommt. Als sozialadäquat werden in der Regel Handlungen angesehen, die sich „völlig im Rahmen der normalen, geschichtlich gewordenen sozial-ethischen Ordnung des Gemeinschaftslebens bewegen, d. h. alle Betätigungen, die so mit unserem Sozialleben verknüpft sind, daß sie als völlig normal anzusehen sind"44. Nach Welzel ist die soziale Adäquanz „der in der sozial-ethischen Ordnung des Gemeinschaftslebens wurzelnde (gewohnheitsrechtliche) Rechtfertigungsgrund tatbestandsmäßigen Verhaltens" 45 . Es handelt sich bei der sozialen Adäquanz um „ein allgemeines Rechtsprinzip, dessen Bedeutung sich keineswegs auf das Strafrecht beschränkt, sondern die ganze Rechtsordnung erfaßt" 46 . Als hauptsächliche Anwendungsfälle der sozialen Adäquanz haben sich die Freiheitsbeschränkungen im modernen Verkehr, die Zueignung geringwertiger gefundener Sachen und vor der Neufassung des §218 StGB die medizinisch indizierten Schwangerschaftsunterbrechungen herausgestellt. Hinzu kommen die Fälle des erlaubten Risikos, das im Gegensatz zum gebotenen Risiko kein Unterfall des Tatbestandsausschließungsgrundes der Sozialkongruenz, sondern ein Spezialfall des Rechtfertigungsgrundes der Sozialadäquanz ist47. Vergleicht man die Fälle heimlicher Tonbandaufnahmen der hier in Rede stehenden Art mit jenen Beispielen, so könnte man einen Ausschluß der Rechtswidrigkeit wegen sozialadäquaten Verhaltens zwar in Betracht ziehen, weil hier einerseits die Eingriffe in die Rechte der Betroffenen nicht erheblich sind, und auf der anderen Seite ein bedeutendes Interesse an der Abwehr und Verfolgung krimineller Angriffe über das Telefon besteht. Wie gesagt, kann indessen allein die Tatsache des relativ geringfügigen Umfanges der Verletzung des Persönlichkeitsrechts durch eine unbefugte Tonaufnahme und das Vorliegen erheblichen Interesses an dieser Aufnahme nicht über die Anwendung des §201 StGB entscheiden. Es müßten für die Annahme einer Rechtfertigung wegen Sozialadäquanz noch weitere Gründe hinzukommen. Andernfalls entstünde die Gefahr einer dem Gesetzeszweck widersprechenden extensiven Einschränkung der Anwendbarkeit des §201 StGB. Im Alternativ43 Eine im Ergebnis ähnliche Auffassung vertreten Samson aaO (Fn. 13), 5 201, Rdn. 27 und Lenckner aaOa (Fn. 1), §201, Rdn.31. 44 Hirsch aaO (Fn.21), S.79. 45 Welzel aaO (Fn. 17), 8. Aufl., S. 76. 46 Wie Fn.45. 47 Vgl. die Aufzählung weiterer Anwendungsfälle der sozialen Adäquanz bei Hirsch aaO (Fn.21), S. 87ff. und Klug (wie Fn. 16) insbesondere hinsichtlich der Unterscheidung zwischen gebotenem und erlaubtem Risiko.
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entwurf eines Strafgesetzbuches wurde, dies berücksichtigend, in der Begründung eine allgemeine Sozialadäquanzklausel, wie sie in §183 Abs. 3 E 1962 vorgesehen war48, deshalb ausdrücklich abgelehnt. Nach Auffassung der Autoren lassen sich Handlungen nach § 146 AE, zu denen auch unbefugte Tonbandaufnahmen zählen (§146 Abs. 1 N r . 2 AE), im Hinblick auf kriminalpolitische Kriterien „nicht aus Gründen der Sozialadäquanz rechtfertigen". „Die übrigen Fälle aber, in denen aus besonderen Gründen einmal die Strafbedürftigkeit ausgeschlossen ist, werden von den allgemeinen Rechtfertigungsgründen, wie z. B. N o t wehr, ausreichend erfaßt 49 ." Da neben der erwähnten, mit der jeweiligen Kürze des Vermittlungsgesprächs und der sich durch die Endlosschleife ergebenden zeitlichen Begrenzung der Konservierung der Tonbandaufnahme zusammenhängenden relativen Geringfügigkeit der Verletzungen des Persönlichkeitsrechts und neben dem bei unbegrenzter Dauer-Einschaltung nur sehr abstrakten Schutzinteresse des Unternehmens keine zusätzlichen Gesichtspunkte erkennbar sind, die zur Stützung der These, die in Rede stehenden Tonbandaufnahmen seien sozialadäquat, herangezogen werden könnten, entfällt eine Rechtfertigung auch unter diesem Aspekt. Für die unbegrenzte Dauer-Einschaltung der Tonbandgeräte ist somit als Zwischenergebnis festzuhalten, daß die heimliche Aufnahme nichtkrimineller, externer Anrufe gemäß §201 StGB tatbestandsmäßig und rechtswidrig ist. Die Versiegelung der Tonbänder vermag an dieser Rechtslage wegen der Unbegrenztheit der Dauereinschaltung nichts zu ändern. Unerörtert bleiben können die subjektiven Strafbarkeitsvoraussetzungen Schuldfähigkeit, Vorsatz, Unrechtsbewußtsein und das Nichtvorliegen von Schuldausschließungsgründen. Sie lassen sich hier sinnvoll nur für konkrete Einzelfälle in bezug auf das Verhalten der die Telefonzentrale bedienenden Mitarbeiter und der sonstigen Beteiligten diskutieren.
IV. Bei der Aufnahme interner, also von Mitarbeitern des Unternehmens über Hausapparate zur Zentrale gehender Anrufe ergibt sich für die Tatbestandsmäßigkeit bei unbegrenzter Dauer-Einschaltung der Aufnahmegeräte mit der sog. Endlosschleife das gleiche wie bei externen Anrufen. Insoweit kann auf das Gesagte Bezug genommen werden. Ein Tatbestandsausschluß kommt nicht in Betracht. 48
Vgl. Begründung zum E 1962, S. 332. Vgl. Begründung zum AE, Besonderer Teil, Straftaten gegen die Person, 2. Halbband, Tübingen 1971, S. 35. 49
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Für die Rechtswidrigkeitsprobleme gilt Entsprechendes. Eine Rechtfertigung unter den Gesichtspunkten der Notwehr, des Notstands nach § 34 StGB oder der Sozialadäquanz kommt bei dem in Rede stehenden Sachverhalt für interne Anrufe grundsätzlich ebensowenig in Betracht wie bei externen Anrufen. Es fragt sich aber, ob bei der Tonbandaufnahme der internen Anrufe nicht hinsichtlich des Rechtfertigungsgrundes der Einwilligung möglicherweise Abweichendes gilt, wenn nämlich den Mitarbeitern die Einschaltung der Aufnahmegeräte bekanntgegeben wurde. Widersprechen die Mitarbeiter nicht, dann kann von einer Rechtfertigung durch ausdrückliche oder mutmaßliche Einwilligung ausgegangen werden. Anders ist es allerdings, wenn die Mitarbeiter - etwa durch den Betriebsrat - widersprochen und somit die Einwilligung ausdrücklich versagt haben. Wird unter diesen Umständen die Zentrale intern angerufen, dann nimmt der Anrufer zwar die Tonbandaufnahme in Kauf, jedoch kann in diesem durch die Verhältnisse aufgezwungenen Verhalten keine mutmaßliche Einwilligung gesehen werden. Es kann vom anrufenden Mitarbeiter nicht verlangt werden, daß er bei jedem Telefongespräch die Ablehnung der Tonaufnahmen besonders zum Ausdruck bringt. Selbst wenn nicht ohne Ausnahme jeder Mitarbeiter die ablehnende Haltung des Betriebsrates zu den Tonaufnahmen teilt und seinerseits hiergegen persönlich keine Einwände hat, so muß doch davon ausgegangen werden, daß der Betriebsrat als gewähltes Vertreterorgan der Arbeitnehmer für die Mehrzahl der Mitarbeiter spricht und eine Einwilligung in die Tonaufnahmen deshalb grundsätzlich nicht angenommen werden kann. Deshalb ist auch die Aufnahme der Gespräche der internen Anrufer in der Regel rechtswidrig, es sei denn, der einzelne interne Anrufer hat seine Einwilligung ausdrücklich oder eindeutig konkludent erklärt.
V. Bei der Einzel-Einscbaltung der Tonbandgeräte, die durch Knopfdruck des Gesprächsvermittlers in der Telefonzentrale betätigt wird, wenn sich ein externer Anruf durch eine Bombendrohung, eine erpresserische Forderung oder einen ähnlichen Inhalt als krimineller Angriff herausstellt, ist zu fragen, ob eine Anwendung des §201 Abs. 1 Nr. 1 StGB bereits entfällt, weil eine solche Tonaufnahme schon den Tatbestand dieser Bestimmung nicht erfüllt. Dies könnte damit begründet werden, daß derjenige, der ein Telefongespräch zur Vorbereitung oder Durchführung einer Straftat benutzt, sein durch §201 StGB geschütztes Recht am eigenen Wort verwirkt hat.
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So meint der Bundesgerichtshof 50 : „Auch das Recht am gesprochenen Wort gilt nur in diesen (sc. sich aus Art. 2 Abs. 1 G G ergebenden) Grenzen. Wer sie rechtswidrig überschreitet, begibt sich der ausschließlichen Bestimmung über sein Wort." Ohne, ebenso wie der Bundesgerichtshof in der zitierten Entscheidung näher auf die Problematik der Verwirkung, d.h. insbesonders auch auf die Frage, ob es sich hier um einen Tatbestandsausschluß- oder nur um einen Rechtfertigungsgrund handeln soll, einzugehen, erkennt auch Rudolf Schmitt51 grundsätzlich die Verwirkung des Rechtes am eigenen gesprochenen Wort an. Die Gegenmeinung 52 lehnt die sogenannte Verwirkungstheorie grundsätzlich ab. Für diese Ablehnung werden verschiedene Gründe genannt. So kritisiert Suppert", daß die Verwirkungstheorie zu wenig auf die Motive desjenigen abstellt, der in die Rechte anderer eingreift. Es würde der Tonbandtäter, der eine mit Strafe bedrohte Äußerung heimlich auf Tonträger aufzeichnet, nach einem Beispiel von Suppert54 auch dann nach der Verwirkungstheorie straflos (weil nicht tatbestandsmäßig handelnd) bleiben, wenn er die Aufnahme für eine Erpressung oder Nötigung des Delinquenten verwenden oder den strafbaren Akt später coram publico zum Zwecke der Belustigung akustisch vorführen oder in sonstiger Weise damit Mißbrauch treiben würde. Ein weiteres Argument Supperts55 gegen die Verwirkungstheorie sind die nach seiner Auffassung fragwürdigen Konsequenzen auf der Irrtumsebene. Hier könne bei einem Irrtum des Aufnehmenden über das Vorliegen einer Straftat nur ein den Vorsatz ausschließender Tatbestandsirrtum in Betracht kommen mit der Folge der Straflosigkeit bei fahrlässiger Begehungsweise wegen des Fehlens eines entsprechenden Auffangtatbestands des §201 StGB. Der Auffassung, die einen Ausschluß des Tatbestandes des § 201 StGB wegen Verwirkung des Rechts am eigenen Wort ablehnt, muß zugestimmt werden. Die Fälle, in denen eine Verwirkung in Frage kommt, können alle mit den herkömmlichen Rechtfertigungsgründen, d. h. insbesondere den Notwehrrechten, gelöst werden. Die Verletzung des Rechtes am eigenen gesprochenen Wort unterscheidet sich nicht so grundlegend von den Angriffen auf Leib, Leben oder Eigentum, daß hier ein Tatbestandsausschluß wegen Verwirkung erforderlich wäre, während dort nur nach Notwehrgrundsätzen verfahren werden darf56. BGHSt. 14, 358 (361). Schmitt, Rudolf, Tonbänder im Strafprozeß - O L G Celle, N J W 1965, 1677, in: JuS 1967, 19 (23). 50
51
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Suppen aaO (Fn. 13), Suppen aaO (Fn. 13), Suppert aaO (Fn. 13), Suppert aaO (Fn. 13), Vgl. hierzu auch Arzt
S. 183f. und 195ff.; Arzt aaO (Fn. 8), S. 97. S. 201. S.202. S.203. aaO (Fn. 8), S. 97.
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Auch der oben zitierte Hinweis Supperts auf die problematischen Konsequenzen bei Vorliegen eines Irrtums sind überzeugend. Entsprechendes gilt für den Tatbestandsausschluß wegen sozialkongruenten Verhaltens. Vergleicht man den in Rede stehenden Sachverhalt mit den oben erwähnten Standardfällen für die Anwendung der G r u n d sätze der sozialen Kongruenz, so zeigt sich, daß keine hinreichenden Ubereinstimmungen bestehen. Soziale Kongruenz könnte hier allenfalls dann erwogen werden, wenn der kriminelle Anrufer als selbstverständlich davon ausginge, daß sein Anruf mitgeschnitten werde. Aber selbst eine solche Einstellung würde nichts an der Tatsache ändern, daß es sich hier gleichwohl um typische Anwendungsfälle des N o t w e h r - und des Notstandsrechts handelt. Insbesondere fehlt die durch sozialethische Pflichten ausgelöste Konfliktsituation, wie sie sich unter dem Aspekt des gebotenen Risikos ergeben kann. Hinsichtlich der Tatbestandsmäßigkeit ist daher die Rechtslage hier nicht anders zu beurteilen als bei der unbegrenzten Dauer-Einschaltung der 6-Minuten-Tonbandschleife. Anders ist es hinsichtlich der Rechtswidrigkeit, denn bei jeder Erpressung, Bombendrohung oder einer sonstigen ähnlichen Straftat handelt es sich unzweifelhaft um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff im Sinne des § 32 StGB auf strafrechtlich geschützte Rechtsgüter (Freiheit der Willensentschließung, Unversehrtheit des Vermögens usw.) des jeweils intendierten Opfers. Zu bedenken bleibt, ob die Tonbandaufnahme ein zur Abwehr des betreffenden gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs erforderliches und geeignetes Mittel darstellt, denn unmittelbar durch die Aufnahme kann beispielsweise eine erpresserische Drohung als solche nicht verhindert, sondern eben nur fixiert werden. Man könnte deshalb die Auffassung vertreten, die Tonaufnahme diene gar nicht mehr der Abwehr der erpresserischen Drohung, da der Angriff auf die Freiheit der Willensentschließung bereits mit dem Aussprechen der Drohung beendet sei, und der Angriff auf das Vermögen nur durch „nicht zahlen" abgewehrt werden könne 57 . Mit dieser Argumentation würde jedoch der typischen Zwangslage des Opfers einer Drohung nur unzureichend Rechnung getragen. Denn wie Suppert58 zutreffend ausführt, kann in der einfachen Weigerung, auf die Forderungen eines Erpressers oder Nötigers einzugehen, überhaupt keine Verteidigungsmaßnahme gesehen werden, weil dadurch die Drucksituation, die durch eine Drohung mit einem empfindlichen Übel hervorgerufen wird, in keiner Weise beseitigt wird. Denn in der Regel wird ein Erpresser nicht bereits nach der ersten Weigerung seines Opfers von seinem Vorhaben absehen, sondern im 57
Vgl. hierzu Arzt aaO (Fn. 8), S. 92; Suppert aaO (Fn. 13), S. 273 und 285 ff. " Suppert aaO (Fn. 13), S.285f.
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Gegenteil versuchen, durch verstärkte Drohungen an sein Ziel zu gelangen. Wenn deshalb eine Tonbandaufnahme der Gespräche mit dem Erpresser mithelfen kann, diesen zu ermitteln, zu überführen und unschädlich zu machen, so kann die Erforderlichkeit der Tonaufnahme nicht bestritten werden. Diese Ansicht entspricht der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur 59 . Somit ist bei der Einzelschaltung die Aufnahme der kriminellen Telefonanrufe durch Notwehr nach § 3 2 S t G B gerechtfertigt. Dies gilt jedoch ausschließlich dann, wenn tatsächlich ein Telefongespräch mit kriminellem Inhalt vorliegt. Tonaufnahmen, die ζ. B. aus reiner Neugier oder zu Scherzzwecken gemacht werden, können selbstverständlich keine Rechtfertigung über § 32 S t G B finden. Die Rechtswidrigkeit der Aufnahme der kriminellen Telefonanrufe könnte außerdem wegen rechtfertigenden Notstandes gemäß § 34 S t G B ausgeschlossen sein. Was das Vorliegen einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut anlangt, so kann auf die Ausführungen zu § 3 2 S t G B verwiesen und das Vorliegen einer solchen Gefahr bejaht werden. Nicht anders abwendbar ist die Gefahr, wenn kein weniger einschneidendes Abwehrmittel zur Verfügung steht. Hiervon muß in den Fällen der vorliegenden Art regelmäßig wohl ausgegangen werden. Die letzte Voraussetzung des § 3 4 S t G B , daß nämlich der Wert des geschützten Rechtsgutes den des beeinträchtigten wesentlich übersteigt, ist grundsätzlich ebenfalls erfüllt. Denn unzweifelhaft ist das Interesse des Unternehmens am Schutz seiner Mitarbeiter und seiner Einrichtungen erheblich höher zu bewerten als das kaum schutzwürdige Interesse des kriminellen Anrufers an der Vertraulichkeit seines Wortes. Die Aufnahme der verbrecherischen Telefonanrufe ist daher gerechtfertigt. § 34 S t G B tritt allerdings hinter § 32 S t G B zurück, wenn die Notwehrvoraussetzungen erfüllt sind. D a somit die hier in Frage stehenden Tonaufnahmen nicht rechtswidrig sind, ist eine Erörterung der Schuldprobleme grundsätzlich entbehrlich. Diese gewinnen nur dann an Bedeutung, wenn der Mitarbeiter in der Telefonzentrale irrtümlich die Tonaufnahmeanlage einschaltet in dem Glauben, es handele sich um einen verbrecherischen Anruf. Wenn sich hier später herausstellt, daß es sich aus objektiver Sicht um einen normalen Anruf ohne rechtswidrigen Inhalt gehandelt hat, so scheiden die erwähnten Rechtfertigungsgründe aus. Es könnte deshalb die 59 Samson aaO (Fn. 13), §201, Rdn.25; Lenckner aaO (Fn. 1), §201, Rdn.31; Hauck, Winfried, Tonbandaufnahmen in Notwehr, NJW 1965, 2391 (2392); den., Notwehr gegen Erpressung, MDR 1964, 548 (551); Suppen aaO (Fn.13), S.290; KG NJW 1967, 115 (116); BGH NJW 1958, 1344 (1345).
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Schuldfrage akut werden. Indessen wird bei einem solchen Versehen der Schuldvorwurf in der Regel unter dem Gesichtspunkt der Putativnotwehr entfallen. Beruht das versehentliche Einschalten des Tonaufnahmegerätes auf Fahrlässigkeit, so ändert das nichts am Ergebnis, denn §201 StGB stellt nur vorsätzliches Handeln unter Strafdrohung. Die Einzel-Einschaltung bei externen Anrufen mit kriminellem Inhalt ist folglich im Hinblick auf §201 Abs. 1 Nr. 1 StGB strafrechtlich unbedenklich. Eine Erörterung der Rechtslage bei internen Anrufen ist entbehrlich, weil bei der hier zugrunde gelegten Sachverhaltslage vorausgesetzt werden kann, daß das Knopfdruck-Verfahren bei internen Anrufen nicht zur Anwendung kommt. Sollte sich allerdings der extrem unwahrscheinliche Fall eines kriminellen internen Anrufs ereignen, würde für die strafrechtlichen Konsequenzen das gleiche gelten wie bei den externen Anrufen. Die Tonaufnahme wäre dann ebenfalls als N o t wehr· und subsidiär als Notstandshandlung gerechtfertigt.
VI. Da nach den obigen Ausführungen das Modell der unbegrenzten Dauer-Einschaltung nicht praktizierbar ist, weil es zur Strafbarkeit der beteiligten Mitarbeiter und Unternehmensleiter führen kann, und die Einzel-Einschaltung zwar selten rechtswidrig ist, demgegenüber aber auch entscheidende kriminaltaktische Nachteile mit sich bringt - denn es besteht die Gefahr, daß wegen der Schrecksekunde der Telefonistin oder des Telefonisten der Anfang des kriminellen Anrufs nicht mitgeschnitten wird - , stellt sich die Frage, ob es zwischen diesen beiden Möglichkeiten einen Mittelweg als beste Lösung gibt. Man könnte z. B. daran denken, eine begrenzte Dauer-Einschaltung mit einer 6-Minuten-Endlosschleife dann vorzunehmen, wenn bereits ein krimineller Anruf erfolgt ist, und aus dessen Inhalt zu entnehmen ist, daß die Gefahr weiterer derartiger Anrufe nicht ausgeschlossen werden kann. Dieses Verfahren hätte den Vorteil, daß abgesehen von dem ersten Anruf, bei dem erst der Knopfdruck die Tonaufnahme herbeiführt, bei allen Folgeanrufen sichergestellt wäre, daß sie in vollem Umfang von Anfang an aufgezeichnet würden. Ist die Gefahr weiterer derartiger Anrufe nicht mehr gegeben, so könnte von der Dauer-Einschaltung wieder auf das Knopfdruck-Verfahren zurückgeschaltet werden. Es sollen deshalb im folgenden die strafrechtlichen Konsequenzen einer solchen Anwendung der Tonaufnahmeanlage ebenfalls im Hinblick auf §201 Abs. 1 N r . 1 StGB erörtert werden.
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Auch hier könnte grundsätzlich ein Tatbestandsausschluß wegen Sozialkongruenz der unter dem Verwirkungsgesichtspunkt in Betracht kommen. Es wurde jedoch bereits im Rahmen der Prüfung der EinzelEinschaltung der Tonbandgeräte festgestellt, daß ein Tatbestandsausschluß aus solchen oder ähnlichen Gründen selbst im Falle eines kriminellen Anrufs nicht möglich ist. Somit scheidet ein Ausschluß der Tatbestandsmäßigkeit erst recht dort aus, wo ein krimineller Anruf nicht unmittelbar erfolgt, sondern nur für die nächste Zeit erwartet wird, und inzwischen nur normale Anrufe mitgeschnitten werden. Was die Rechtswidrigkeit anlangt, so kann eine Rechtfertigung gegenüber den externen und internen nicht-kriminellen Anrufern aus dem Notwehrgedanken nicht hergeleitet werden. Zunächst einmal ist bereits fraglich, ob schon die bloße Gefahr eines kriminellen Anrufs ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff wäre. Aber selbst wenn man das bejahen würde, weil etwa in einem ersten Anruf mit kriminellem Inhalt eine baldige Wiederholung angekündigt wurde, würde es an den weiteren Voraussetzungen für die Anwendung des § 32 S t G B fehlen. Denn nach der zutreffenden herrschenden Meinung in Rechtsprechung 60 und Schrifttum 61 muß sich die Verteidigungshandlung gegen den Angreifer selbst richten, wenn Notwehr in Betracht kommen soll. Eingriffe in Rechtsgüter unbeteiligter Dritter werden durch § 32 S t G B grundsätzlich nicht gerechtfertigt. Daher kann die Aufnahme der Telefongespräche mit den unbeteiligten, nicht kriminellen Anrufern keine Notwehrhandlung im Sinne des § 32 S t G B sein. Zu erwägen bleibt indessen, ob die Rechtswidrigkeit der Tobandaufnahmen von Anrufen unbeteiligter Dritter unter den in Rede stehenden Voraussetzungen wegen rechtfertigenden Notstandes nach§ 34 S t G B entfällt. Erste Voraussetzung wäre das Vorliegen einer gegenwärtigen Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder andere Rechtsgüter. Daß durch anrufende Erpresser oder Bombenleger verschiedene der genannten schutzwürdigen Rechtsgüter bedroht werden können, steht außer Zweifel. Gefahr pflegt man als einen Zustand zu definieren, in dem nach den konkreten Umständen der Eintritt eines Schadens erfahrungsgemäß naheliegt. Gegenwärtig ist die Gefahr bereits dann, wenn der Schaden zwar noch nicht unmittelbar bevorsteht, mit ihm aber alsbald oder in aller nächster Zeit zu rechnen ist. Geht man von der oben dargelegten Annahme aus, daß ein Bombenleger oder ein Erpresser anruft, so muß nach den allgemeinen Erfahrungen Z . B . RGSt. 58, 29; BGHSt. 5, 248. Z . B . Lenckner aaO ( F n . l ) , §32, Rdn.31; Dreher/Tröndle Rdn. 15, jeweils m. w. N. 60
61
aaO (Fn. 13), §32,
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in den letzten Jahren grundsätzlich, davon ausgegangen werden, daß es sich oft um ernst zu nehmende kriminelle Aktivitäten handelt. O b eine solche Gefahr als gegenwärtig angesehen werden kann, hängt von den Umständen des Einzelfalls und insbesondere vom Inhalt des Telefonanrufs ab. Für den unterstellten Sachverhalt ist davon auszugehn, daß grundsätzlich das Interesse des Unternehmens an dem Schutz seiner Mitarbeiter und seiner Einrichtungen den Anspruch der nicht-kriminellen Anrufer auf Wahrung der Vertraulichkeit ihres Wortes wesentlich übersteigt, zumal wenn die Unversehrtheit von Leib oder Leben auf dem Spiel steht. Dies gilt um so mehr, als die aufgenommenen Anrufe bei der benutzten Tonband-Endlosschleife schon nach relativ kurzer Zeit wieder gelöscht werden, ohne daß sie vorher reproduziert worden wären. Im übrigen kann bei der hier erforderlichen Interessenabwägung auf die Ausführungen zur Rechtfertigung unter dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung berechtigter Interessen Bezug genommen werden. Eine Rechtfertigung wegen der Wahrnehmung berechtigter Interessen war bei unbegrenzter Dauer-Einschaltung der Aufnahmegeräte abgelehnt worden, weil dort zum einen normalerweise für das Bevorstehen eines kriminellen Angriffs keine konkret erkennbaren Anhaltspunkte vorliegen und zum anderen täglich unzählige Anrufer durch eine Aufnahme der Telefongespräche in ihren Rechten beeinträchtigt würden. Das ist bei begrenzter DauerEinschaltung wegen einer Gefahrenlage anders. Die Aufnahme aller Telefongespräche ist eine Hilfe bei der Abwendung dieser Gefahr. Außerdem wird die Zahl der aufgenommenen Anrufe durch die zeitliche Begrenzung der Maßnahme eingeschränkt. Berücksichtigt man ferner, daß die Beeinträchtigung der Anrufer wegen des regelmäßig unpersönlichen Inhalts der Vermittlungsgespräche mit der Telefonzentrale nur relativ gering ist, während unter Umständen recht erhebliche Gefahren für das Unternehmen und vor allem für seine Mitarbeiter bestehen können, so spricht dies dafür, hier wesentlich überwiegende Interessen im Sinne von § 34 StGB anzunehmen. Hinzu kommt die Kürze der Fixierung der Tonaufnahmen im Zusammenhang mit der durch die Versiegelung der Tonaufnahmeanlage zum Ausdruck gebrachten Absicht, nur die Aufnahme krimineller Gespräche abzuhören und endgültig festzuhalten. Aber selbst wenn im Einzelfall die dem Unternehmen drohenden Gefahren nicht so erheblich sind, daß ohne weiteres von überwiegendem Interesse zu seinen und seiner Mitarbeiter Gunsten ausgegangen werden kann, und ein Vergleich der betroffenen Rechtsgüter nur ergeben sollte, daß diese einander gleichwertig wären, würde dies am Resultat nichts ändern. Hier ist zwar im einzelnen im strafrechtswissenschaftlichen
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Schrifttum manches umstritten. Die Rechtfertigung ergäbe sich dann aber aus analoger Anwendung des § 34 StGB 6 2 . Man kann deshalb im Ergebnis festhalten, daß die Aufnahme aller Telefongespräche während eines begrenzten Zeitraumes gerechtfertigt ist, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: Es müssen erstens konkret nachprüfbare Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß ein rechtswidriger Angriff auf die Rechtsgüter des Unternehmens - in erster Linie auf das Leben und die Unversehrtheit der Mitarbeiter - für die nächste Zukunft wahrscheinlich ist. Die Abwehr dieses Angriffs muß durch die Aufnahme der Telefongespräche nicht unerheblich gefördert werden. Die zu schützenden Rechtsgüter müssen eine gewisse Bedeutung haben, und es darf sich hier nur um untergeordnete Beeinträchtigungen handeln. Die im Rahmen der Rechtswidrigkeitsprüfung aufgeworfene Frage nach der Rechtsfolge bei Gleichwertigkeit der betroffenen Rechtsgüter kann sich unter Umständen auch im Rahmen der Schuldprüfung stellen, und zwar im Hinblick auf die etwaige Annahme einer schuldausschließenden Pflichtenkollision als eines übergesetzlichen Entschuldigungsgrundes63. Wurde irrtümlich eine Gefahrenlage im Sinne der oben entwickelten Definition angenommen und daraufhin eine begrenzte Dauer-Einschaltung der Tonaufnahmeanlage vorgenommen und stellt sich später heraus, daß aus objektiver Sicht eine Gefahrenlage nicht vorgelegen hat, so scheidet eine Rechtfertigung nach §34 StGB aus. Es wird sich dann vermutlich um einen den Vorsatz ausschließenden Erlaubnistatbestandsirrtum handeln. Für die Strafrechtslage bei der Aufnahme der Worte des internen Anrufers ergeben sich im Zusammenhang mit der begrenzten DauerEinschaltung keine Unterschiede zur Aufnahme der externen Anrufe.
VII. Als Ergebnis der vorangegangenen Überlegungen kann festgehalten werden:
62 Vgl. z . B . Baumann, aaO (Fn. 17), S. 364, der bei Gleichwertigkeit der Pflichten ebenfalls Rechtfertigung nach § 3 4 StGB annimmt; ebenso Stratenwerth, Günter, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Auf., Köln, Berlin, Bonn, München 1976, Rdn. 483, der jedoch Rechtfertigung ablehnt, wenn lediglich Gleichwertigkeit der Interessen vorliegt. 63 Zum übergesetzlichen Entschuldigungsgrund der Pflichtenkollission vgl. u. a. Bau-
mann aaO (Fn. 62), S. 480.
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Für die drei diskutierten Tonaufnahmemodelle der unbegrenzten Dauer-Einschaltung, der Einzel-Einschaltung und der begrenzten DauerEinschaltung ist trotz der bei jeder der drei Sachverhaltskonstellationen vorgesehenen Verwendung von 6-Minuten-Endlossçhleifenbândern innerhalb eines versiegelten Gerätes die Tatbestandsmäßigkeit im Sinne des § 2 0 1 Abs. 1 N r . 1 S t G B grundsätzlich gegeben. Das gilt sowohl für die Aufnahme externer als auch interner Anrufe, wobei selbst ein krimineller Inhalt an der Tatbestandsmäßigkeit nichts ändert. Erst bei der Frage nach der Rechtswidrigkeit werden Unterschiede relevant. Bei -der £mze/-Einschaltung kommt in erster Linie Notwehr (§ 32 S t G B ) in Betracht, sofern die Einschaltung nur bei einem kriminellen Anruf efolgt. Bei der begrenzten Dauer-Einschaltung entfällt die Rechtswidrigkeit beim Aufnehmen eines kriminellen Anrufs, weil insoweit hier ebenfalls Notwehr vorliegt. Bei nicht-kriminellen externen und internen Anrufen wird man in der Regel bei entsprechender Gefahrenlage eine Rechtfertigung aus § 3 4 S t G B herleiten können. Allerdings hängt das Resultat der notwendigen Güter- und Interessenabwägung von den konkreten Umständen ab. Entscheidend sind u. a. die Gefährlichkeit und Intensität der kriminellen Angriffe, sowie das vermutliche Wiederholungsrisiko, für dessen Wertung kriminalpsychologische und sonstige kriminalistische Aspekte zu berücksichtigen sind. Führt die unbegrenzte Dauer-Einschaltung zur Aufnahme eines kriminellen Anrufes, so wird Notwehr zu bejahen sein, allerdings ausschließlich hisichtlich dieses Teilstücks der Aufnahme. Für die Rechtfertigung der Aufnahme der übrigen externen und internen Anrufe bleibt allenfalls der Gesichtspunkt der ausdrücklichen oder zu vermutenden Einwilligung übrig. O b der Anrufer eingewilligt hat, wäre von Fall zu Fall zu prüfen. Die Einwilligung kann nicht generell unterstellt werden. Diese Ergebnisse, die für §201 Abs. 1 N r . 1 S t G B - also für die unbefugte Aufnahme des nicht öffentlich gesprochenen Wortes eines anderen auf einen Tonträger - gewonnen wurden, gelten entsprechend für das Gebrauchen einer so hergestellten Aufnahme (§201 Abs. 1 N r . 2 erste Alternative), das Einem-Dritten-Zugänglich-Machen einer so hergestellten Aufnahme (§201 Abs. 1 Nr. 2 zweite Alternative) und schließlich auch für das hier nicht näher zu behandelnde unbefugte Abhören des nicht zur Kenntnis des Täters bestimmten nichtöffentlich gesprochenen Wortes eines anderen mit einem Abhörgerät (§201 Abs. 2). Es bleibt zu bedenken, ob sich bei den strafrechtlichen Folgerungen dann etwas ändert, wenn die Tonaufnahmegeräte mit den 6-MinutenEndlosschleifenbändern zum Zeitpunkt der Aufnahme der Anrufe versiegelt waren. Das ist jedoch nicht der Fall, denn die technische Erschwerung des Zugriffs zu den Aufnahmen vermag prinzipiell nichts an
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der Tatbestandsmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit als solcher zu ändern. Immerhin deutet ein solches Verfahren auf die Richtung hin, in der die Möglichkeiten zu suchen sind, die für eine Vermeidung von Kollisionen mit §201 StGB in Betracht kommen. Die Praxis benötigt solche Konfliktslösungsmodelle, weil das Einzel-Einschaltungsverfahren für den Anfangsteil des kriminellen Anrufs wegen der reaktionsbedingten zwangsläufigen Verzögerungen bei der Einschaltung des Aufnahmegerätes nur eingeschränkt wirksam ist, und weil bei den Dauer-Einschaltungsmodellen, die kriminaltechnisch effizienter wären, die Rechtswidrigkeit nur unter den dargelegten eng begrenzten Voraussetzungen entfällt. Die folgenden Lösungen bieten sich vor allem an: Die sicherste Methode, die Rechtswidrigkeit aufzuheben, wäre die Vorschaltung einer automatischen Tonband-Ansage, die bei jedem in der Telefonzentrale eingehenden externen oder internen Anruf auf die bevorstehende Tonaufnahme kurz hinweist. Für denjenigen, der dann mit der Zentrale spricht, kann eine rechtfertigende Einwilligung unterstellt werden. Diese Methode würde sogar bei der unbegrenzten DauerEinschaltung die Strafbarkeit verhindern. Ein anderes, allerdings recht umständliches Verfahren wäre die Hinzuziehung eines Treuhänders, ohne dessen Mitwirkung das verschlossene und versiegelte Tonaufnahmegerät nicht für die Herausnahme des Tonbandes geöffnet und das besprochene Tonband nicht abgespielt werden könnte. Im Hinblick auf die geschützten Rechtsgüter käme ein privater Treuhänder kaum in Betracht. Zu denken wäre etwa an einen Notar oder an die zuständige Dienststelle der Kriminalpolizei. Abgespielt werden dürfte nur der Teil der Tonbandschleife, der den kriminellen Anruf enthält. Hier müßte die Kriminalpolizei ohnehin tätig werden. Um berechtigten Schutzinteressen der internen Anrufer, bei denen es sich in der Regel um Mitarbeiter des Unternehmens handeln wird, Rechnung zu tragen, könnte das Treuhänder-Modell so ausgestaltet werden, daß die Hinzuziehung eines zweiten Treuhänders, der von der Unternehmensleitung und dem Betriebsrat gemeinsam bestellt worden ist, vorgesehen wird. Das Aufnahmegerät müßte dann so eingerichtet werden, daß der Zugriff auf das durch den kriminellen Anrufer besprochene Tonband nur in gemeinsamer Aktion möglich ist. Die Rechtfertigung der tatbestandsmäßigen Aufnahmen wäre beim Treuhandmodell, wenn der rechtswidrige Angriff des Anrufers durch entsprechende Drohungen oder andere Verhaltensweisen noch andauert, aus § 32 und subsidiär aus § 34 StGB abzuleiten. Stünde der Treuhänder nicht lediglich in privatrechtlicher, sondern in öffentlichrechtlicher Verantwortung, wie das beim Notar oder bei einer kriminalpolizeilichen Dienststelle der Fall wäre, würde selbst bei unbegrenzter Dauer-Ein-
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Schaltung des versiegelten Tonaufnahmegerätes mit einer 6-MinutenEndlosschleife in der Telefonzentrale die rechtfertigende Wirkung über §34 StGB eintreten. Weitere Lösungsmodelle werden sicherlich im Zuge der raschen technischen Entwicklung diskussionswürdig werden.
Rechtsfragen zwischen Leben und Tod
M A X KOHLHAAS
I.
Der Jubilar mag es verzeihen, wenn manche Dinge zu wenig von der wissenschaftlichen Rechtsposition, sondern auch aus der Sicht eines Arztsohnes betrachtet werden. N o c h vor 50, ja wenn nicht sogar vor 30 Jahren wären viele dieser Fragen, die heute aktuell sind, gar nicht weiter beachtet worden, und manche Krankheiten nahm man als unabwendbar hin, und erst mit dem Ansteigen der Lebensverlängerung und Lebenserhaltung sind auch die Forderungen des Publikums - nicht zuletzt gesteuert durch bestimmte Massenmedien - in großem Maße gestiegen. Verf. möchte daher mit zwei auf den ersten Blick oberflächlich erscheinenden Beispielen beginnen: Als er 8 Jahre alt war, hörte Verf., wie sein Vater, damals Chefarzt eines Lazaretts, sich über ein umlaufendes Gerede ausließ, wonach seit Einführung des Stahlhelms die Zahl der Kopfschüsse gestiegen sei und daher verschiedene Leute eine Polemik gegen den Stahlhelm entfacht haben. Vor 15 Jahren erzählte ihm sein 12jähriger Sohn von dem Leben eines Staatsmannes, dessen Frau an Krebs gestorben sei. Auf die erstaunte Frage, ob denn diese Diagnose genannt worden sei, meinte er, es sei von einer unheilbaren Krankheit die Rede gewesen und das könne doch nur Krebs sein. Mit diesen zwei primitiven Beispielen möchte Verf. folgendes umschreiben: Natürlich war die Zahl der Kopfschüsse gestiegen, aber doch nur deswegen, weil eine unabsehbare Reihe bislang medizinisch-statistisch uninteressanter Toter, als Folge eines zusätzlichen Schutzes des Kopfes, in eine statistisch verwertbare Reihe Kopfverletzter verwandelt worden war. Die Erfindung des Stahlhelms rettete also Menschenleben, schuf aber sogleich sehr schmerzhafte, oft sogar persönlichkeitsvernichtende Nebenwirkungen. Das Streben nach Lebenserhaltung ging aber doch zweifellos, an Wert gegenüber dem minderen Übel von Verletzungen, vor. Das andere Beispiel zeigt, daß in weiten Volkskreisen die Schwindsucht, noch vor dem I. Weltkrieg ein fast apathisch hingenommenes Übel, ebenso wie die Geschlechtskrankheiten, Kindbettfieber und Zuckerkrankheiten
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Max Kohlhaas
praktisch längst als heilbar angesehen werden und man sich nun quasi selbstverständlich damit abfindet, daß es „nur" noch der Krebs sei, den man eben irgendwie hinnehmen müsse. Mit diesen Fortschritten der ärztlichen Kunst, gegenüber der fälschlich gepriesenen guten, alten Zeit, steigt aber die Behauptung von Kunstfehlern Hand in Hand. So grotesk es klingt, so logisch ist es: Was einst bei der Tuberkulose unabwendbar schien, weshalb dem Arzt kein Vorwurf gemacht wurde, wenn er das Leben nicht mehr von dem letalen Ausgang zurückreißen konnte, kann jetzt zu der Frage führen, warum dieses oder jenes Präparat nicht angewandt worden sei, und eine Frau, welche vor 50 Jahren vermutlich im Alter von 25 Jahren in Davos gestorben wäre, kann jetzt im Alter von 50 Jahren wegen Nebenwirkung einer Penicillin-Injektion auf ihr sonstiges "Wohlbefinden Ansprüche erheben. Verf. entsinnt sich noch, daß auf einem Röntgenologenkongreß, auf dem er zu referieren hatte, ein Herr das Problem sehr drastisch zusammengefaßt hatte: „Hätte ich die Patientin nicht bestrahlt, dann wäre sie jetzt tot, und sie hätte keine Veranlassung mehr Nebenfolgen aus der Bestrahlung geltend zu machen." Es ist hier nicht der Platz, in dem von Mißverständnissen, teils durch apodiktische Leitsätze der Gerichte, teils durch Schlagzeilen und zugespitzte Vortragsthesen mancher Arzte, weit über Gebühr hochgespielten Streit „Arzt und Gericht" zu erörtern. Es mußte aber auf diese Problematik einmal hingewiesen werden und bei aller Anerkennung der Bestrebungen um die Krebsvorsorge muß eben doch gesagt werden, daß die sogenannten Geißeln der Menschheit von Jahrhundert zu Jahrhundert gewechselt haben; man denke an die schwarze Pest von 1350; man denke an Cholera in Hamburg, die der Vater des Verf. noch aktiv mitgemacht hat, man denke an die Geschlechtskrankheiten, die man lange als eliminiert glaubte, bis sie jetzt durch den ständigen Verkehr ins Ausland und vom Ausland wieder munter am Blühen sind. So muß man den ganzen Fortschritten skeptisch gegenüberstehen, wenn man zugleich sieht, wie anspruchsvoll die Menschen geworden sind.
II. In erster Linie beschäftigt uns seit einigen Jahren die Organtransplantation.
Rechtsfragen zwischen Leben und Tod
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Als Prof. Barnard die erste Herztransplantation vornahm, geriet die Welt in eine Art gelinden Wahnsinn. Man meinte, man habe das Elixier der unendlichen Lebensverlängerung gefunden. Verf. hat selbst im Westdeutschen Rundfunk Gelegenheit gehabt, an einem Gespräch teilzunehmen, wo Straßeninterviews eingeblendet wurden, wo die Leute strahlend zum Ausdruck brachten, daß also nun alles prächtig sei. Dabei wird übersehen, daß eine Lösung des Problems erst dann befriedigend ist, wenn es gelingt, künstliche Organe zu schaffen; denn jede Organtransplantation setzt in der Regel den Tod des Spenders oder bei zweipaarigen Organen eine erhebliche körperliche Beschränkung des Spenders voraus. Es soll nicht bestritten werden, daß die Verpflanzung von Binde- und Stützgeweben, wie Haut, Knochen, Knorpel, Sehnen oder Hornhaut des Auges, weitgehend erforscht ist und zu den allgemein anerkannten Heilverfahren zählt. Dagegen muß man sich darüber im klaren sein, daß die Transplantationen von Organen, wie Herz, Lunge, Leber, Niere, Bauchspeicheldrüse, Kehlkopf oder Keimdrüsen, doch noch sehr risikovoll sind. Aber selbst wenn man dem Fortschritt der Medizin zubilligt, daß die Risiken sich verringern, so bleibt immer noch ein erheblicher Problemkreis zurück. Daß der Empfänger des gespendeten Organs darüber aufgeklärt werden muß, daß möglicherweise die Gefahren für ihn bestehen, daß das ihm übertragene Organ sofort wieder abgestoßen wird und daß sich etwa sein Befinden verschlimmern könnte, steht außer Zweifel. Darauf kommt es aber entscheidend nicht so sehr an, als darauf, was aus der Sicht des Spendenden zu beachten ist, sowohl, wenn er lebt, als auch, wenn er tot ist. Die Entfernung des Organs des Spenders zum Zweck der Einpflanzung in einen anderen Menschen ist zweifellos eine Körperverletzung. Hierüber können alle schönen Gedanken, welche von Rechtsgelehrten über den Begriff der unerlaubten Heilbehandlung entwickelt worden sind, die keine Körperverletzung sei, nicht hinwegtäuschen. Denn derjenige, dem ein Organ entnommen wird, wird keinesfalls geheilt, es sei denn, man entnehme ihm ein krankes Organ, um ihn zu retten. Dann entfällt aber ja die Möglichkeit der Verpflanzung, da man ja ein krankes Organ wohl nie transplantieren wird. D e r Arzt muß daher den Spender über die möglichen Komplikationen aufklären, die mit dem Verlust des Organes verbunden sind. Ein besonderes Beispiel dafür ist die Gefahr der Einnierigkeit bei Unfällen oder die Gefahr der völligen Erblindung nach der Spende eines Auges.
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Darüber, daß Strafgefangene nicht herangezogen werden dürfen, weil die sogenannte Freiwilligkeit immer unter der Sicht der Erzwingung liegt, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Auch die Heranziehung Minderjähriger steht außer jeglicher Debatte; denn der Minderjährige kann die Tragweite des Eingriffs in allen Auswirkungen nicht erkennen und vor allem haben Erziehungsberechtigte nicht die Befugnis, einer Organentnahme zuzustimmen. Das Personensorgerecht berechtigt die Erziehungsberechtigten zwar, über Heileingriffe zu entscheiden, nicht aber über Eingriffe, die keine Heilung bezwecken. Dasselbe gilt für Geisteskranke und Bewußtlose. Diese Dinge sind rechtlich wohl ziemlich durchgestanden und somit problemlos 1 . Dagegen ist über die Verwertung von Leichenteilen ein dogmatischer Streit noch immer im Gange, an dem vor allem der Gesetzgeber, durch seine völlige Untätigkeit, mit Schuld trägt. Der Gesetzgeber schwankt umher zwischen der Einwilligungslösung und der Widerspruchslösung. Die eine soll bedeuten, daß in den Personalpapieren ausdrücklich stehen soll, daß der Inhaber des Papiers für den Fall seines Todes einwilligt, daß ihm Organe entnommen werden; die andere Lösung sagt, daß dort, wo kein ausdrücklicher Widerspruch eingetragen sei, eine Zustimmung anzunehmen sei. Beide Ansichten werden auch in den Parlamenten mit viel Fleiß vorgetragen, führen aber nicht weiter. Nicht jeder hat im Augenblick seines Todes gerade seinen Personalausweis bei sich; er könnte ja auch bei einem schweren Unfall verlorengehen oder könnte in dem brennenden Auto mit verbrennen, so daß letztlich mit diesen ganzen Kriterien nichts anzufangen ist. Man kann die Angelegenheit nur über das Problem des übergesetzlichen Notstandes lösen 2 . Denn mit der Einwilligung der Angehörigen, auf die immer abgestimmt wird, ist nichts anzufangen. Man weiß ja nie, in welcher Reihenfolge die Angehörigen stehen. Steht die Ehefrau dem Verstorbenen näher als die Tochter und wiederum diese, die der Vater besonders geliebt hat, näher als der Sohn, mit dem der Vater nicht ausgekommen ist? Bei einem Toten mag die Sache noch hingehen, aber gerade bei den noch später zu erörternden Fragen der Lebensverkürzung, können äußerst materielle oder weltanschauliche Differenzen zwischen den Angehörigen auftreten.
1 Ubersicht bei Brenner in „Die juristische Problematik in der Medizin" (Goldmann Band 1, S. 128 ff.)· 2 Brenner, wie Fn. 1, Kohlhaas, Dtsch. med. W-Schrift 1969, 290.
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In groben Zügen darf man wohl zwei Meinungen gegenüberstellen, wobei die Frage, ob innerhalb der Klinik, im Rahmen der O b d u k tion, Leichenteile weggenommen werden dürfen, hier noch offenbleiben darf. Die eine Meinung geht dahin, daß nach der Trauerfeier die Leiche verbrannt wird oder nach der Beerdigung zerfällt, infolgedessen sei die Entnahme von Organen zur Rettung eines Menschen oder zur Heilung schwerer Krankheiten ein höherwertigeres Rechtsgut, als der Wille des Verstorbenen bzw. seiner Angehörigen, einen unversehrten Leichnam zu bestatten. Wenn es sich also darum handle, daß man wirklich einen Todgeweihten retten kann, gehe dies Bestreben vor 3 . Die gegenteilige Meinung vertritt, daß die Angehörigen verbindlich über die Versehrtheit oder Unversehrtheit des Leichnams zu entscheiden haben und daß der Tote noch einen Persönlichkeitsschutz habe. Die Pietät gegenüber der sterblichen Hülle des Verstorbenen und das Gefühl der Verbundenheit der Angehörigen mit dem Toten seien gleichsam ein zum Objekt gewordener Menschenrest 4 . Zu dieser letzteren Ansicht darf, obwohl Verf. zu der ersteren Ansicht zählt, noch etwas eingewandt werden. Der Grundsatz der Pietät im Hinblick auch auf die Auferstehung des Leibes kann bei richtiger Betrachtung nicht durchschlagen. Wenn man so viele Menschen in Kriegen oder bei Unglücksfällen verstümmelt liegen sieht und von der Auferstehung des Leibes ausgeht, dann kann man von Gottes Güte eigentlich wohl annehmen, daß diese Auferstehung in einer intakten Form geschieht. Daß man sich aber vorstellt, daß Menschen, die bei einem Bombenangriff oder gar nach einem Atombombenangriff fürchterlich verstümmelt worden sind, unter dem Gesichtspunkt der Pietät anders betrachtet werden sollen, als jemand, dem man ein Herz oder eine Niere entnimmt und ihn dann pietätvoll wieder zudeckt und ihn den Angehörigen ausliefert, ist nicht einzusehen. Natürlich muß dieser vom Verf. vertretene Standpunkt etwas modifiziert werden, damit er nicht in die reine Leichenfledderei ausartet 5 . Diese Befürchtung von Leichenfledderei scheidet dort aus, wo nun wirklich nach einer der beiden Theorien eine positive Zustimmung zur Organentnahme vorliegt. Dann kann auf Vorrat gehortet werden und solche „Organbanken" sind insoweit unproblematisch. Es unterscheidet sich nicht anders von dem, als daß jemand von Todes wegen seinen Körper der Anatomie für studentische Lehrzwecke vermacht. Kohlhaas, Mü. med. W-Schrift 1967, 2265. Trockel, N J W 1970, 493, Geiger, Festschrift für Stein (1969, 95). 5 Eine Entnahme gegen Bezahlung ist sowohl bei Lebenden wie bei Toten sittenwidrig; Kohlhaas, wie Fn. 3. 3
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D o r t aber, wo man nach dem jetzt völlig gesetzlosen Zustand oder bei einem der Lösungsversuche man eine Zustimmung weder unter der einen oder der anderen Lösung feststellen kann, kommen nur die Grundgedanken des übergesetzlichen Notstands in Betracht und es kann also nicht eine Konservierung auf einen ungewissen Fall vorgenommen werden, sondern es muß ein ganz konkreter Fall unmittelbarer Lebensgefährdung eines anderen Vorliegen. Verf. hat dies einmal an zwei drastischen Beispielen darzulegen versucht: Einmal die makabere Vorstellung, daß in einem Krankenhaus ein schwer nierenkranker Mann liegt und hofft, es möge doch alsbald in der Nähe ein Motorradfahrer verunglücken, der eine passende Niere habe, und umgekehrt die Konfliktsituation, die eintreten kann, wenn nun der eine Mann gerettet werden kann, der andere offensichtlich tot ist, dessen Ehefrau die Freigabe der Niere verweigert und die Ehefrau des Todkranken ihr die Worte entgegenschleudert: „Du Mörderin." In der Tat treten hier ethische Probleme auf, die allzuleicht dahin umgedeutet werden könnten, daß eine unterlassene Hilfeleistung vorlag. Dies sind extreme Fälle, aber man muß sie durchdenken, ehe man sich auf eine sture Ablehnung der Transplantationen aus dem Recht auf körperliche Unversehrtheit versteift. Selbstverständlich darf diese Transplantation immer nur vorgenommen werden, wenn der Organspender eindeutig tot ist. Der Arzt muß das äußerste tun, um das Leben des Patienten zu erhalten, selbst in den Fällen, wo er annimmt, daß er auf die Dauer das Leben nicht retten kann. Der Arzt macht sich einer vorsätzlichen Körperverletzung mit Todesfolge schuldig, wenn er seine therapeutischen Bemühungen bei einem Patienten zu früh einstellt, nur weil ihm das Organ des Sterbenden für eine Transplantation besonders geeignet ist 6 . Auf die Frage, wieweit ein Arzt die medizinische Behandlungsmethode durchführen muß, obwohl lediglich die Lebensfunktion des Patienten erhalten wird, wogegen das am Lebenerhalten nur das Dahinsiechen des Menschen verlängert, wird weiter unten einzugehen sein 7 . Sicher ist, daß die alten Normen, daß der Stillstand von Herz und Atmung ausreichen, um den Tod festzustellen, durch die Wissenschaft überholt sind. Als Kriterium der Todesfeststellung bietet sich der Gehirntod an. 6 7
Bockelmann, Strafrecht des Arztes (1968, S. 97 ff.). Vgl. Hanack, Dtsch. Ärzteblatt 1969, 1320 ff.
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Auf Kongressen und in Vorträgen vor Akademien sind die Richtlinien zur Feststellung des Zeitpunktes des Todes immer wieder erörtert worden. N a c h der Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 8 über Todeszeichen- und Todeszeitbestimmung ist der Gehirntod schon vor dem Aussetzen der Herzreaktion bewiesen, wenn nach einer äußeren Gewalteinwirkung auf das Gehirn über 12 Stunden gleichzeitig mit dem Ausfall von Bewußtsein, Spontanatmung und Pupillenreaktion eine iso elektrische Linie im EEG oder aus gleichen Ursachen oder zweitens röntgenologisch durch Gefäßdarstellung, Angiographie ein Kreislaufstillstand des Gehirns von wenigstens über 30 Minuten nachgewiesen w u r d e . Dies hier näher auszuführen erscheint nicht erforderlich zu sein. Jedenfalls haben Herzstillstand und Atemprobe keine Bedeutung mehr für Fälle der Transplantation. Die Todeszeichen sollen einmal, im Hinblick auf Sonderfälle wie die Organverpflanzung, die Feststellung des Todes beim hirngeschädigten Spender trotz erhaltener Herzaktion gewährleisten und verhindern, daß die Interessen des Spenders zugunsten des potentiellen Empfängers durch eine zu frühe Beendigung der Wiederbelebungsmaßnahmen vernachlässigt werden. Sie ermöglichen z u m anderen, bei vollständig fehlenden Hirnströmen die 12stündige Schwebezeit bis zur Todeserklärung mit Hilfe der Angiographie abzukürzen. Mißbräuche müssen unter allen Umständen verhindert werden und deshalb ist eine unabdingbare Forderung, daß die Feststellung des Todes durch andere Arzte erfolgen soll, als diejenigen, welche bereit sind diese Transplantation vorzunehmen. Bisher w a r von den Fällen die Rede, w o von einem Toten Organe entnommen werden. Jetzt tritt daneben, etwas mehr im Hintergrund, daß es ja auch Transplantationen vom Lebenden z u m Lebenden gibt. Hier aber ist mit Nachdruck noch einmal auf das Obenerwähnte hinzuweisen, daß hier eine schrankenlose Aufklärung über die Risiken vorgenommen werden muß und daß vor allem eine Vertretung im Willen keinesfalls möglich ist 9 . Das Recht auf den eigenen Tod beschäftigt mehr und mehr die Öffentlichkeit und vor allem die Illustrierten und Boulevardblätter. A u c h hier ist letztlich ein rechtliches Niemandsland vorhanden, denn es klafft zwischen der Rechtsprechung des B G H und dem gesetzlichen Zustand doch eine erhebliche Lücke. Die Tötung auf ernstliches Verlangen ist immer noch strafbar, die Beihilfe zur Selbsttötung dagegen nicht.
Chirurg 1968, 196. ' Ubersicht wie Fn. 1. 8
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D e r Verf. hat 10 , allerdings durchweg abgelehnt 11 , einmal versucht, auf die Folgen dieser Rechtsprechung hinzuweisen. Der Arzt etwa, der dem Patienten auf dessen dringende Bitten eine letale Spritze gibt, ist nach § 2 1 6 S t G B strafbar, die Krankenschwester dagegen, die dem Patienten schwere Mittel hinlegt, woraufhin er sie dann bewußt nimmt und stirbt, macht sich nach der Auffassung der Rechtsprechung nicht strafbar. Der Apotheker, der Medikamente fahrlässig herumliegen läßt, ist dann zwar wegen fahrlässiger Tötung strafbar, wenn irgendein Passant etwas findet und es versehentlich, nicht wissend, daß es tödlich ist, einnimmt und stirbt; er müßte aber straflos sein, wenn ein zum Selbstmord Entschlossener diese gefährlichen Drogen auf dem Müllplatz liegen sieht und sie bewußt schluckt. Besonders eindrucksvoll und vom Verfasser nie verstanden war der Fall, daß ein Polizist mit seiner Freundin mit dem Auto spazieren fuhr, sie beide zechten und der Polizeibeamte seine Pistole in grob fahrlässiger Weise am Amaturenbrett hängen ließ und die Freundin sich unversehens erschoß. Nicht einmal fahrlässige Tötung wurde angenommen, sondern eine Mitverursachung bei einer straflosen Tat. Infolgedessen ist mit der Rechtsprechung, wie sie früher vom B G H entwickelt war, kaum noch etwas anzufangen. Daß pflichtwidriges Geschehenlassen eines Selbstmords durch einen Garanten ein Tötungsdelikt sei, wenn der Garant den am Strick hängenden Partner nicht abschneidet 12 , oder daß man darauf abstellt, ob der Selbstmörder oder der andere die Tatherrschaft hat, ist letztlich unpraktikabel. Es äußert sich auch in der Frage, ob man jemanden, der im Hungerstreik sich umbringen will, mit Gewalt ins Leben zurückrufen muß. Daß Beihilfe zum Selbstmord eines Verbrechers keine Strafvereitelung ist, ist dabei zweifellos. Man könnte aber sehr wohl denken, das Recht auf den eigenen Tod auch auf denjenigen zu übertragen, der sich bewußt zu Tode hungert oder bewußt zu Tode verschmachten läßt. Wenn man den Weg, den die Rechtsprechung des B G H eingeschlagen hat, den der Verfasser zwar für falsch hält, betrachtet, muß man konsequent ableiten, daß der Garant selbst dann Hilfe nicht bringen muß, wenn der den Tötungsakt bewußt in Gang gebracht habende Selbstmörder das Bewußtsein verloren hat und es keine Anzeichen dafür gibt, daß er seinen Entschluß rückgängig machen müßte.
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JR 1973, 53. Übersicht bei Dreher, StGB 36. Aufl. vor §211, Randn.4. So noch BGHSt. 2, 150.
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Die Auffassung, daß dann, wenn ein Arzt die Behandlung eines bewußtlosen Selbstmörders auf Bitten eines Angehörigen übernehme, ein Garantenverhältnis entstehe, das eine Bestrafung des Arztes wegen fahrlässiger Tötung möglich mache 13 , ist abzulehnen, denn es führt praktisch zu einer Verschlechterung der Rechtslage des Arztes, dem nun eine größere Garantenpflicht auferlegt wird, als sie etwa der Ehegatte oder der Lebensgefährte eines Selbstmörders hat. Man kann also zusammenfassend sagen, daß der Arzt sich in einer recht unsicheren Position befindet, weil, wie gesagt, Tötung auf Verlangen nach wie vor strafbar ist, wogegen die Beteiligung an einer bewußten Selbsttötung straflos bleibt. V o n hier aus ist es nur einen Schritt weiter zu der Problematik des Verhaltens bei einem Patienten der nicht mehr gerettet werden kann. Die aktive Sterbehilfe ist seit den Mißbräuchen die unter dem Nationalsozialismus geschehen sind, indiskutabel. Es darf nicht aktiv das Leben verkürzt werden. Lediglich in der Form, daß Mittel gegeben werden, die die Todesqualen lindern und dabei mit dem ungewollten Nebenzweck, auch eine Verkürzung des ohnehin todgeweihten Lebens mit sich bringen' 4 . Anders ist es in den Fällen, in denen Leben künstlich weitererhalten werden kann, ohne das es irgendeinen Sinn mehr hat. Hier wird mehr und mehr, obwohl auch rechtlich nicht fundiert, der richtige Standpunkt vertreten, daß es dem Arzt nicht untersagt sein kann, auf Bitten des Patienten selbst und - mit noch größerer Vorsicht - der Angehörigen, mit dieser künstlichen Therapie aufhören darf. So gut es dem Patienten möglich ist, nicht zur Dialyseuntersuchung zu erscheinen und damit einen bewußten Suicid zu begehen, ohne daß der Arzt die Möglichkeit hätte, ihn gewaltsam ins Krankenhaus abholen zu lassen, so muß auch dort, wo der Patient erklärt, er wolle jetzt diese bestimmte maschinelle Therapie nicht mehr haben, seinem Wunsch Genüge geleistet werden. Insoweit ist der Patient Herr der Situation. Mit den Angehörigen ist es schwieriger. Es wurden oben schon Anmerkungen gemacht, daß Angehörige durchaus verschiedene Auffassungen haben können; teils ideeller, teils materieller. Denkbar etwa, daß ein Angehöriger Interesse daran hat, wegen finanzieller Transaktionen ein noch längeres Leben des Kranken zu wünschen. Hier ist letztlich eine Entscheidung des Arztes in Eigenverantwortung zu respektieren. E r darf nicht der Gefahr ausgesetzt werden, daß er sagt, BayObLG, N J W 1973, 565, Geilen, J Z 1973, 320 und 1974, 145. Hanack, Nervenarzt 1969, 505 ff. und Heinitz, Rechtsfragen der Organtransplantation (1970). 13
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die Tochter Anna hat gebeten, aufzuhören und der Sohn Otto kommt nachher an und sagt, hätte man mich gefragt, dann hätte ich es nicht getan. Auch eine Reihenfolge der Angehörigen, wie es in manchen Krankenhausordnungen versucht wird, ist nicht tragbar. Es ist doch durchaus möglich, daß die an erster Stelle aufgeführte Ehefrau mit dem Mann sehr schlecht steht, wogegen die in zweiter Linie kommenden Kinder ein anderes Verhältnis zu dem Kranken haben. Die Aufklärungspflicht des Arztes kann in diesem Rahmen nicht erörtert werden. Sie stellt sich in den Bereich der Lebensgefahr dort, daß der Arzt den Patienten, der sich nicht an die Gebote der Therapie hält, notfalls schrankenlos aufklären muß, daß er, wenn er sich nicht an die Diätvorschriften oder andere Vorschriften hält, dann eben in der Gefahr des Todes steht. Hier ist ein aufrichtiges, möglicherweise hartes Wort, am Platze. Anders aber ist es dort, wo der Patient willig alles mit sich geschehen läßt, wo also eine Aufklärung in klarer Form gar nichts nützt, sondern eher schaden kann. Es sei gestattet, daß hier zwei Beispiele gebracht werden, die der Verfasser in seiner eigenen Familie erlebt hat. In einem Fall war eine Frau absolut uneinsichtig und arbeitete weiter auf dem Feld und aß und trank was ihr paßte. Hier mußte der Arzt - und er hat es auch mit Erfolg getan - klar sagen: „Frau X , wenn Sie so weitermachen, sind Sie in einigen Wochen tot!" Im anderen Fall ließ die Patientin alles mit sich geschehen und es erhob sich nun die Frage, die mehr ins Theologische übergeht, ob man ihr sagen sollte, daß sie sich nunmehr auf den Tod vorzubereiten habe oder ob das barmherzige Schweigen am Platz war. Im vorliegenden Fall hat das barmherzige Schweigen sicherlich den Vorzug gehabt. Man kann aber auch anders darüber denken. Entsprechend haben sich auch viele, vor allem Altenkrankenhäuser mit der Frage befaßt, ob man den Patienten für seine letzten Stunden in einem würdigen Raum unterbringen solle. Daß man natürlich einen Sterbenden nicht irgendwo auf den Gang oder in eine Rumpelkammer stellen darf, versteht sich von selbst. O b es aber zweckmäßig ist, ihn in einen feierlich hergerichteten Raum zu bringen und dort die Angehörigen um ihn zu versammeln, kann nur von Fall zu Fall entschieden werden. Natürlich kann man sich die Todesfälle aus vergangenen Jahrzehnten vorstellen, vor allem etwa bei Monarchen (man denke nur an die Sterbeszenen bei Ludwig XIV. oder Ludwig XV.) mit dem Wort, „der König ist tot, es lebe der König".
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O b allerdings unsere heutige Zeit dieses klare Wissen um den Gang in das ungewisse Jenseits noch hat, ist zweifelhaft. Der Verfasser entsinnt sich immer mit Schrecken an eine Stelle aus dem Roman von Thomas Mann: „Der Zauberberg", wo bei einem lungenkranken Mädchen der Priester mit Monstranz und Geklingel hereingestürmt kommt und das Mädchen sich ängstlich unter der Bettdecke versteckt, weil es nun merkt, daß es auf den Tod vorbereitet werden soll15. Infolgedessen ist auch hier größte Vorsicht geboten, um den Patienten, der vielleicht noch am Leben hängt, nicht überflüssig zu beunruhigen. Anders natürlich, wenn er gefaßt, unter geistlichem Beistand seiner letzten Stunde entgegensieht. Das ist aber nicht Sache des Arztes, sondern Sache des Theologen und Sache der Angehörigen.
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Ähnlich: Schnitzler
„Professor Bernardi"
Aus der grauen Zone zwischen staatlichen und individuellen Interessen Zur Funktion der Strafverteidigung in einer freien Gesellschaft
KLAUS LÜDERSSEN
Der Strafverteidiger hat den Bürger stets fasziniert. Selbst ein Bürger und oft ein angesehener, vermögender, ja einflußreicher Bürger - hat er zu dem, was den Bürger zugleich ängstigt und geheimnisvoll anzieht, eine Art loyaler Beziehung. Mit dem Milieu, das man das kriminelle nennt, durchaus vertraut - und in dem Sinn, daß es sich ihm vertraut - , und dann doch unantastbar, glänzend zuweilen, immer aber überlegen, ebenso scharfsinnig wie leidenschaftlich-teilnehmend engagiert für den schon Ausgestoßenen, im Namen einer schönen Gerechtigkeit - so steht er da in einer schwer entwirrbaren Mischung aus Wirklichkeit und Kino. Filme sind es jedenfalls, die noch einen anderen Typus von Strafverteidiger vorstellen - den auf Gedeih und Verderb dem allmächtigen Gangster ergebenen Anwalt, seine willfährige, zu allem fähige Marionette. Auch diese Figur speist die Phantasie der alltäglichen Betrachtung. Zeitungen und Illustrierte tun ein übriges, wenn sie regelmäßig über Erfolge und Mißerfolge berühmter oder auch berüchtigter Strafverteidiger berichten. Das alles gibt es seit langem und könnte vielleicht auf sich beruhen, wenn nicht äußere Ereignisse und geistig-politische Entwicklungen der letzten Jahre gezeigt hätten, daß die Figur im Rampenlicht nicht immer klare Konturen hat, sondern gelegentlich auch in allen Farben schillert. Woran liegt das im Falle des Strafverteidigers? Ich glaube weniger am Licht, als an dem, auf den es fällt. In die Politik hineinreichende Strafverfolgung ist nichts Neues, aber die Terroristenprozesse haben klar gemacht, was es bedeuten kann, wenn auch die Verteidigung ihre Aufgabe als eine politische begreift. Diese Prozesse sind es in erster Linie, die Unsicherheit darüber ausgelöst haben, was ein Strafverteidiger tun darf und was nicht. Gleichzeitig - nicht so heftig, doch vermutlich viel dauerhafter - hat sich ein anderes Phänomen in den Vordergrund geschoben: die Intensivierung und steigende Zahl der Prozesse gegen Wirtschaftstraftäter. Die anhaltenden Appelle, mehr gegen die WhiteCollar-Kriminalität zu tun, sind - trotz vielfach geäußerter Skepsis - nicht ungehört verhallt. Die Justiz hat lange gebraucht, um sich organisatorisch auf die neue Aufgabe einzurichten, ist nun aber auf gutem Wege, wenn die Zeichen nicht trügen. Die Strafverteidigung kommt in diesen
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Verfahren, wie beispielsweise der Herstatt-Prozeß zeigt, in ähnliche Situationen totaler Konfrontation mit dem Gericht wie bei den Terroristen-Prozessen. Schließlich ist auf die wachsende Macht des Sachverständigen im Strafprozeß hinzuweisen. Hier können Strafverteidiger ein Ansteigen ihres Einflusses - über die Mobilisierung der von ihnen benannten Experten - auf den Prozeßausgang registrieren (wie man beispielsweise in den Memoiren des Münchener Strafverteidigers Rolf Bossi nachlesen kann). Auch das gibt Anlaß, über ihre Rolle neu nachzudenken. Gemessen an der Zahl der Strafprozesse sind es freilich keineswegs viele Beschuldigte, die zu der bevorzugten Klientel der Verteidiger gehören, weil ihr Fall - auch finanziell - bedeutend ist. Dies wird den Betroffenen und der Öffentlichkeit zunehmend bewußt. Der Ruf nach gleichen Chancen für jedermann, Zugang zum Recht, wie es heißt, zu erhalten, wird allmählich sogar im Strafprozeß wahrgenommen. Der arme Beschuldigte soll nicht schlechter dastehen, weil er keinen Verteidiger hat. Dies vor allem deshalb - das ist der zweite Grund - , weil man inzwischen weiß, wie verhängisvoll bereits die Entwicklung sein kann, die durch eine erste Verurteilung in Gang gesetzt wird. D a das auch für Verurteilungen in Bagatellfällen gilt, ist die Situation reif für eine Beschäftigung mit denjenigen Problemen der Strafverteidigung, die den Alltag ausmachen, die fern sind von spektakulärem Interesse am gerichtlichen Schicksal von Terroristen, Bankrotteuren großen Stils oder „Triebtätern". Aber auch dieser Alltag, mag mancher abwertend sagen, ist immer noch der Alltag der anderen, mehr oder weniger großer Randgruppen. Indessen: Die Normübertretungen, die Menschen vor Gericht bringen könnten, machen - wie die Dunkelfeldforschungen ergeben haben - ein Vielfaches von dem aus, was wirklich abgeurteilt wird, verkörpern auf weite Strecken - natürlich gibt es hier Unterschiede von Delikt zu Delikt - verbreitetes, ja allgemeines Verhalten. Eine Gesellschaft, die das an sich erfährt, muß daher eigentlich zugleich spüren, daß Strafverteidigung in Wahrheit mehr ist als Sensation. Aber vielleicht ist das zuviel verlangt. Traditionen verstellen wahrscheinlich den Blick dafür. Abweichendes, mit Strafe bedrohtes Verhalten und gesellschaftlich-staatliche Reaktionen darauf kommen, soweit man blikken kann, überall und immer vor. Welche Rolle der Strafverteidiger dabei spielt, ist das Ergebnis von Entwicklungen, die kennen sollte, wer die Gegenwart begreifen und Vorschläge für die Zukunft machen will. Es sind viele einander abwechselnde und bedingende Realitäten und Prinzipien, welche die Geschichte des europäischen Strafrechts bestimmt haben. Im Kern handelt es sich darum, daß private oder öffentliche, d. h. im Namen der Allgemeinheit (sogar unabhängig vom Bedürfnis des
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Verletzten) vollzogene Reaktionen, vom Wettstreit zweier sich gegenüberstehender Parteien oder durch obrigkeitliche Untersuchungsmaximen bestimmte Verfahren, Vorbeugung oder Vergeltung und Sühne der Strafjustiz das Gepräge geben. Einer Strafjustiz, die nicht nur Kriminalität bekämpft, sondern auch - erst durch Etikettierung, dann durch Stigmatisierung - hervorbringt und befördert. Zu diesem Parallelogramm von Kräften, die sich keineswegs gleichmäßig und übersichtlich voranbewegen, gehören auch ökonomische Faktoren, sozialpsychologische Momente und natürlich Ursachen und Folgen politischer Macht. Diese politische Macht ist - in der Strafjustiz - am sichtbarsten im politischen Strafrecht, also dem Strafrecht, das ganz unverhüllt als Instrument eingesetzt wird, Gegner des herrschenden Systems zu treffen. Nirgends ist das Strafrecht von dem, was man das natürliche Verbrechen nennen könnte, so weit entfernt wie im politischen Strafrecht - auch wenn in ruhigen Zeiten ein Grundkonsens darüber zu bestehen scheint, wogegen man sich mit diesem Mittel glaubt gemeinsam wehren zu sollen. Bei anderen strafrechtlichen Vorschriften sind die Anzeichen dafür, daß Kriminalität nicht einfach vorgefunden wird, nur nicht so offensichtlich. Eine gewisse Kontinuität der Verbotsnormen, der Erscheinungsformen ihrer Übertretung und der Reaktion darauf darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich um gesellschaftliche Prozesse handelt. Um nicht mißverstanden zu werden: es geht jetzt nicht darum, schlankerhand und einseitig das schwierige Problem zu lösen, ob im abweichenden Verhalten sich nicht doch Konstanten offenbaren, anthropologische Konstanten vielleicht sogar, und ob nicht für die Reaktion darauf das Gleiche gilt, unreduzierbare kollektive - den Sündenbock suchende - Strafbedürfnisse sich zeigen. Ich möchte nur behaupten, daß daraus - wenn dergleichen vorgegeben sein sollte - nicht alles weitere automatisch folgt. Vielmehr sind ganz sicher Ermessensspielräume da, deren Ausfüllung eine Sache der Politik ist, je nachdem, an welche formalen Regeln (autokratische, demokratische oder irgendwelche Mischformen) und sachlichen Inhalte (ökonomische Ziele), aber auch Entwicklungen (klassenorientierte, idealistische etc.) sie gebunden ist. Man wird wohl nie eine abschließende Erklärung finden, sondern nur versuchen können, nach und nach mehr Bestimmungsfaktoren erfahrbar zu machen, damit allmählich möglichst viele Unbekannte aus der Rechnung herausfallen. In diesem Bezugsrahmen mit wechselnden oder doch unterschiedlich akzentuierten Legitimationen, Prozeßformen und sozialen Zuständen (wobei typisch wiederkehrende Kombinationen zu registrieren sind) hat der Strafverteidiger, wie man leicht verstehen kann, keineswegs immer dieselbe Position eingenommen. Man kann im wesentlichen drei Modelle unterscheiden:
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Ein privates, die Strafzwecke der Vergeltung und Sühne nur als Kompensation eines individuellen Schadens, für dessen Zustandekommen auch wohl nur private Verhältnisse verantwortlich gemacht werden können, begreifendes Strafrecht wird in der Regel in Verfahren durchgesetzt, die von der Verhandlungsmaxime beherrscht sind, d. h. es geht gar nicht um die „Erforschung materieller Wahrheit, sondern vielmehr um die Frage, welche Partei die ( . . . ) glaubwürdigeren Behauptungen aufstellt" 1 . Der Beschuldigte hat einen „Vorsprecher", der mit dem „Vorsprecher" des Klägers auf derselben Stufe steht - ein reiner Parteienprozeß, an dessen Ende die Entscheidung des Gerichts steht. Das ist die Situation im Europa des frühen Mittelalters. Das entgegengesetzte Modell ist die Verbindung von öffentlichem Strafrecht und nicht nur privat kompensierender Vergeltung und Sühne, wobei auch schon das Ziel auftaucht, daß künftigen Schädigungen vorzubeugen sei. Hinzu kommen politische Verhältnisse, die - aus heutiger Sicht - die Vermutung gestatten, daß Kriminalität eine soziale Funktion hat, von der Macht wenigstens mit hervorgebracht oder durch Etikettierung herausgehoben wird, und daß kollektive Strafbedürfnisse im Spiel sind. Das Verfahren ist demgemäß obrigkeitlich organisiert, die Parteistellungen des Geschädigten und des Schädigers treten ganz zurück, die Wahrheit, das, was wirklich geschehen ist, soll ermittelt werden - ein Inquisitionsprozeß findet statt. Der Beschuldigte ist der Inquisit, O b j e k t der Untersuchung. Für seine Verteidigung durch einen einseitig seine Partei nehmenden Verteidiger ist kein Raum 2 . Das Gericht macht alles selbst. Gleichwohl fehlt der Verteidiger in Theorie und Praxis des Inquisitionsprozesses nicht ganz. Aber ohne Zweifel handelt es sich dabei um eine Inkonsequenz. Dem entspricht die faktische Bedeutungslosigkeit des Verteidigers. In Europa bürgert sich der Inquisitionsprozeß am Ende des Mittelalters ein und behauptet sich bis weit in die Neuzeit. Die Frage, was darüber entscheidet, ob man einen Parteiprozeß oder einen Inquisitionsprozeß hat, darf - soll das weitere verständlich sein hier nicht übergangen werden. Sie ist schwer zu beantworten. Das gilt gerade für die Rechtsgeschichte unseres Landes. Vorherrschend ist die Ansicht, die Wildheit privater Auseinandersetzungen bis hin zu langwierigen und blutigen Fehdekämpfen habe am Ausgang des Mittelalters ein so unerträgliches Maß erreicht, daß die Nötigung, den Opfern die Ahndung von Verletzungen sozusagen über den Kopf hin wegzunehmen, übermächtig wurde. Eine im Namen der Allgemeinheit auftretende Instanz kann sich aber nicht auf den Vortrag der Parteien stützen, 1 Julius Vargha, Die Vertheidigung in Strafsachen, historisch und dogmatisch, Wien 1879, S. 132. 2 Vargha a. a. O. (Fn. 1), S. 193.
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sondern muß selbst und unabhängig ermitteln - das scheint die zwingende Folge zu sein. Doch so ist es nicht, wie das Beispiel des angloamerikanischen Strafprozesses zeigt, der im wesentlichen ein Parteienprozeß ist, ohne daß man etwa sagen kann, er werde nicht im Namen der Allgemeinheit, sondern nur für die jeweils Verletzten geführt. Daher ist gut zu verstehen, daß man auch nach anderen Gründen für die Entstehung des Inquisitionsprozesses gesucht hat. Lange hat es geheißen, der Inquisitionsprozeß habe mit der durch die allgmeine Renaissance der Antike in Gang gekommenen Rezeption des römischen Rechts Fuß gefaßt. Aber die Folter - die berüchtigte Begleiterscheinung des klassischen Inquisitionsverfahrens - ist schon für Zeiten in Deutschland nachweisbar, sagen andere Gelehrte, in denen von einer Rezeption des römischen Rechts noch keine Rede sein konnte. Die Folter wird angewendet, damit der Beschuldigte ein Geständnis ablegt. Der Glaube an die wahrheitsverbürgende Kraft des Geständnisses - und das Recht, um jeden Preis zu diesem Geständnis zu gelangen, deuten auf eine religiöse Erklärung: Der Verbrecher ist zugleich Sünderalso muß er bekennen; außerdem steht die Regel, die er verletzt hat, unumstößlich fest - entweder, weil sie direkt göttlichen Ursprungs ist, oder aber weil die strafende Gewalt autorisiert ist, Regeln mit gleicher Verbindlichkeit abzuleiten - und kann, muß daher um jeden Preis durchgesetzt werden, auch wenn dieser Preis in grausamer Folterung besteht. Dazu paßt dann gut eine - nicht mehr schlicht kompensatorische - Vergeltung und Sühne mit zusätzlichem Abschreckungseffekt. Dabei kann man das Ganze auch umkehren: Unter kirchlichem Einfluß entsteht jenes Vergeltungs- und Sühnebedürfnis - religiöser Vorläufer späterer, säkularisierter, wenn auch nicht in Rationalität überführter kollektiver Strafbedürfnisse - und sucht sich durch Einführung des öffentlichen Strafrechts seinen Anwendungsbereich. Andere Behauptungen gehen dahin, daß - unter dem Einfluß ökonomischer Entwicklungen - erstarkende, mehr oder weniger zentralisierte Herrschaft für ihre Stabilisierung das öffentliche, im Inquisitionsprozeß durchgesetzte Strafrecht ausbildet und zu diesem Zweck vereinnahmt, was sonst noch an Legitimationen auf den Markt kommt - mit der Folge, daß diese Legitimationen keine selbständige Bedeutung haben, indessen zur Ideologie werden, sobald sie diese Bedeutung beanspruchen. (Wie unsicher sich die Forschung auf diesem Gebiet - erstaunlicherweise, denn es handelt sich doch um elementare Fragen - noch bewegt, kann man an der Aufmerksamkeit ablesen, die auch ganz ausgefallene Thesen zunächst finden, beispielsweise die des sehr angesehenen holländischen Kriminologen Herman Bianchi, daß die Methoden des französischen Königs Philipp August bei der Bekämpfung der Albigenser Ketzer das Vorbild für die Verbreitung
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des öffentlichen Strafrechts und den Inquisitionsprozeß in Europa abgegeben hätten 3 .) G a n z bezeichnend, jedenfalls aber interessant ist, daß die Forderung nach einem reformierten Strafprozeß, der für das dritte der vorhin anvisierten Modelle steht, das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit sämtlichen Aspekten des Inquisitionsprozesses ist. Hauptangriffspunkt war natürlich die Folter. Aber damit auch alle religiösen Überhöhungen des Strafrechts, zunächst nur mit Blick auf die Hexenprozesse, dann allgemein bezogen auf die Strafzwecke und die Gleichsetzung von Rechtsbrechern und Sündern; natürlich richtete der Kampf sich auch gegen die selbstherrliche Macht des säkularisierten absoluten Staates, der Folter und Inquisition auf ihren Höhepunkt geführt hatte. Unverändert groß war indessen das Bedürfnis nach wirksamer, Schädiger und Opfer nicht sich selbst überlassender Friedenssicherung; die Notwendigkeit eines öffentlichen Strafrechts blieb unangezweifelt. Man wollte keine heimlichen Verfahren mehr, daher waren Einführung des Öffentlichkeits- und Mündlichkeitsprinzips die Parole, vor allem aber der Anklagegrundsatz. Was hat es damit auf sich? Der Richter, der zugleich untersucht und verurteilt, ist überfordert. Diese doppelte Funktion gefährdet beides, die korrekte Ermittlung und das gerechte Urteil (das ist psychologisch schlicht zu viel für einen), ist also unzweckmäßig. So viel war klar geworden in den Jahrhunderten, in denen der Inquisitionsprozeß die Szene beherrschte. Aber man sah noch mehr. Wollten die Richter denn überhaupt gerecht entscheiden? Das war höchst zweifelhaft. Die Identität von Justiz und absoluter Staatsgewalt - fern von den Interessen der Menschen, die unter ihr lebten - provozierte das dringende Verlangen, der Justiz eine Kontrollinstanz gegenüberzustellen, eine Kontrollinstanz im Namen der Allgemeinheit, der Bürger, des Volkes. Das war die Geburtsstunde der Staatsanwaltschaft. Anwalt des Staates - darunter verstand man also nicht Anwalt der autoritären Staatsgewalt, sondern Anwalt der Interessen derer, die im Staat lebten und für die der Staat eine Verantwortung trug. Die Staatsanwaltschaft - ein Kind der Revolution, ist rückblickend gesagt worden 4 , obwohl die politische Entwicklung bald einen anderen Weg nahm. Diese Zweiteilung zwischen Gericht und Justiz sollte die Gerechtigkeit im Staat sichern, eine Gerechtigkeit für die Bürger. Wäre es dabei geblieben, so hätte sich sicher schon manches gebessert, aber es wäre immer noch eine Gerechtigkeit von oben herab gewesen, von Staats wegen - mit dem Bürger als Empfänger, als Objekt.
Herman Bianchi, Ethik des Strafens, Neuwied/Berlin 1966, S. 26 f. (auf der Basis von Viktor Achter, Geburt der Strafe, Frankfurt/Main 1951). 4 Hans Günther, Staatsanwaltschaft - Kind der Revolution, Frankfurt am Main/Berlin/ Wien, 1973, S. 15 f. 3
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Man brauchte also außerdem eine sichtbare und institutionell abgesicherte Anerkennung des Bürgers als Subjekt - gerade dort, wo die Neigung der Staatsgewalt, ihn nur als Objekt zu betrachten, besonders ausgeprägt war. Daß die Entwicklung des Beschuldigten zu einer mit selbständigen Rechten ausgestatteten Partei des Strafprozesses historisch eng mit der Entstehung des Anklageamtes vekniipft ist, hat also zwei politisch freilich aus derselben Ecke kommende - Wurzeln: Kritik am ungerechten Staat und Emanzipation des Individuums. Im Strafprozeß standen sich mithin gegenüber: Das Interesse an der Gerechtigkeit im Namen aller und das Interesse des Beschuldigten, als Subjekt des Prozesses respektiert und handlungsfähig zu sein. Das heißt: zu einem akzeptablen Strafprozeß gehört nicht nur ein Anwalt des Staates, sondern auch ein unabhängiger Anwalt des Beschuldigten. Das war die Geburtsstunde der modernen Strafverteidigung. Das Verlangen danach hätte vielleicht weniger Resonanz gefunden, wenn es nicht mit einer weit über Strafrecht und Strafprozeß hinausgehenden Bewegung von beträchtlicher Eigendynamik verknüpft gewesen wäre. Diese Bewegung ist in die Geschichte eingegangen als „Kampf um die freie Advokatur", der das Ziel hatte, einen Stand unabhängiger, ihre Organisation und Standesethik selbständig verwaltender Anwälte zu etablieren, und seinerseits ein Teil war der allgemeinen Bemühungen um die Verwirklichung von Grundrechten. Viele der vor allem um Freiheit von der richterlichen Disziplinargewalt kämpfenden Anwälte waren politisch sehr stark im Vormärz engagiert. Diese Aktivitäten gingen einerseits weit über ihre professionellen Bedürfnisse hinaus; andererseits waren sie auch Ausdruck eines neuen Verständnisses von Freiheiten und Rechten des Anwalts, des Advokaten. Denn bis dahin waren die Anwälte entweder zwar unabhänig von Staat und Gericht, jedoch völlig rechtlos und ohne nennenswerte Wirksamkeit, oder es war umgekehrt: keine Unabhängigkeit vom Staat, in manchen Epochen sogar feste dienstliche Anstellung (in Preußen hießen sie Justizkommissare oder Assistenzräte) und daher ein gewisser, auch Rechte gewährender Status. Die politischen Köpfe unter den Anwälten vor und um 1848 wollten beides. Unabhängigkeit vom Staat und eine mit Rechten ausgestattete Position, und sie waren - grade weil sie ihre gesellschaftlich-politischen Interessen so weit streuten - auf gutem Wege, das zu erreichen. Daher fühlten sie sich insofern streckenweise bereits als das, was heute gelegentlich gesellschaftliche Gegenmacht genannt wird 5 , deren Legitimation natürlich auch schon etwas zu tun hatte mit intensiven und ausge-
5 Werner Holtfort, Der Anwalt als soziale Gegenmacht, in: Werner Holtfort Strafverteidiger als Interessenvertreter, Neuwied/Darmstadt 1979, S. 37 ff.
(Hrsg.),
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dehnten Vorstellungen von Demokratie. Das Selbstbewußtsein der Anwälte stieg entsprechend. C.J.A. Mittermaier - bedeutender Universitätslehrer des Strafrechts und ebenfalls ein Achtundvierziger - muß das geahnt haben, als er bereits 1825 Forderungen aufstellte, die mit einer hohen Qualifikation des Strafverteidigers standen und fielen. „Der Strafprozeß entspricht nur dann den Forderungen, welche von den Bürgern an den Staat gemacht werden können, wenn das Verhältnis der Anklage zur Vertheidigung so regulirt ist, daß eine völlige Gleichheit der Rechte zwischen Ankläger und Angeklagten garantirt wird, und der Richter die Uberzeugung erhält, daß der Angeschuldigte die ausgedehntesten Befugnisse hatte, die Anklage abzuwehren, und wenn zugleich die Untersuchung selbst so geführt wird, daß unparteiisch jeder zur Entdekkung der Unschuld oder eines für den Angeklagten mildernden Umstandes gehörige Grund erforscht wird. ( . . . ) Die Vertheidigung steht zur Anklage nur dann in einem gerechten Verhältnis, wenn 1. schon bei dem ersten Schritte, welchen der Staat gegen den Angeschuldigten vornehmen will, der Angeschuldigte in den Stand gesetzt wird, seine Unschuld zu zeigen, und den vorhandenen Verdacht zu zerstören. 2. Es muß dem Inkulpaten möglich gemacht werden, alle seine Schutzbehauptungen, die er für dienlich hält, vorzubringen, so daß darüber auch rechtzeitig entschieden werden kann. 3. Vor dem Beginnen der Hauptuntersuchung, die als der eigentliche Strafprozeß zu betrachten ist, den Angeschuldigten öffentlich als verdächtig erklärt, und faktisch manche für Familienwohl und bürgerliche Verhältnisse empfindliche Nachtheile für ihn hat, muß es ihm möglich gemacht werden, sie durch eine umfassende Darstellung seiner Unschuld abzuwenden. 4. Es muß dem Inkulpaten verstattet seyn, bei der Aufnahme der Beweise gegen ihn so mitzuwirken, daß er von der Unpartheilichkeit und Förmlichkeit der Aufnahme und der Treue der Beurkundung selbst sich überzeugen und durch zweckmäßige Bemerkungen oder Fragen der Einseitigkeit in der Benützung entgegenwirken kann. 5. Er muß die höchste Freiheit haben, jede Art von Vertheidigungsgründen vorzubringen, und in dem Beweise derselben jede mögliche Erleichterung finden. 6. Es muß ihm, der ohnehin durch seine Lage von fremden Rathe abgeschnitten, und durch die Beschuldigung mit allen ihren Folgen in eine sehr erschütterte Stimmung versetzt ist, möglich gemacht werden, sich eines fremden rechtsgelehrten Rathgebers zu bedienen, der durch seine Besonnenheit, Erfahrung und Rechtskenntnisse ein Gleichgewicht gegen den in jeder Hinsicht durch seine Lage begünstigten Ankläger herstellen kann. 7. Nur dann wird eine wahrhaft liberale Organisation der Vertheidigung da seyn, wenn der Angeschuldigte in der Wahl seines Vertheidigers nicht beschränkt ist, und daher nur seinem Vertrauen folgen kann. 8. Jede Einrichtung der
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Defensión wird zu einer halben Maaßregel herabsinken, sobald der Defensor in den Mitteln, sich zur Verteidigung vorzubereiten, aus einem ungerechten Mißtrauen beschränkt wird, sobald daher nicht die freieste Akteneinsicht, und das vollste Recht der Unterredung mit dem Angeschuldigten ohne alle Zeugen gegönnt ist6." Das klingt gut. Es gab aber sofort und dann - nach 1848 - zunehmend Widerstände. Sie waren nicht nur die Begleiterscheinung allgemeiner reaktionärer, antidemokratischer und antiliberaler Strömungen, sondern auch Ausdruck von Unsicherheit. Wie sollte sich die erkämpfte Freiheit des Berufs damit vertragen, daß der Anwalt nicht nur eine private, an den Auftrag des Klienten gebundene Parteistellung, sondern außerdem, zur besseren Durchsetzung dieser Parteistellung, eigene, im Interesse der Allgemeinheit öffentlich garantierte Rechte beanspruchen durfte; was für ein Konzept von Staat und Gesellschaft lag da eigentlich zugrunde? Der moderne Interventionsstaat war noch in weiter Ferne, der alte Obrigkeitsstaat aber noch keineswegs verschwunden, sondern nur in gewisse Grenzen verwiesen. In diesem Schwebezustand konnte es zu einer nach allen Seiten hin überzeugenden Einordnung des Anwaltes in das gesellschaftlich-staatliche System nicht kommen. Angesichts dessen, daß sich bis heute an den Schwierigkeiten, zwischen Individuum, Gesellschaft und Staat zu vermitteln, strukturell nichts Wesentliches geändert hat, ist das nur zu begreiflich. Die Rolle des Anwaltes und vor allem die des Strafverteidigers ist wie geschaffen dafür, diese Schwierigkeiten anschaulich zu machen. Wie lag es denn, nachdem der Anklageprozeß endgültig und reichseinheitlich durch die Strafprozeßordnung aus dem Jahre 1879 (sie gehört zu den Reichsjustizgesetzen, deren hundertjähriges Bestehen kürzlich landauf, landab gefeiert worden ist) - eingeführt war? Die Staatsanwaltschaft und das Gericht teilten sich nunmehr die Aufgabe, für objektive Gerechtigkeit zu sorgen. Der Anwalt aber sollte die Subjektrolle des Beschuldigten wahren. Wie sollte er das eigentlich machen? Sollte er seinerseits nun der objektiven Gerechtigkeit entgegentreten? Das wäre sicher eine schlechte Basis gewesen für die Anerkennung seiner Ansprüche auf geschützte Rechtspositionen. Und das Gegenteil? Einfach mitwirken an der Gerechtigkeit? Aber wo wäre dann der Unterschied zu Staatsanwaltschaft und Gericht geblieben? Den Weg aus diesem Dilemma schien ein Prinzip zu weisen, das man glaubte dialektisch nennen zu sollen und das mit der Prognose verknüpft war, wenn zwei als Gegner aufeinandertreffende Parteien besonders ' ]• A. Mittermaier, Anleitung zur Vertheidigungskunst, im deutschen Originalprocesse und in dem auf Öffentlichkeit und Geschworenengerichte gebauten Strafverfahren mit Beispielen, 3. Auflage, Landshut 1828, S. 1 ff.
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kräftig ihre jeweiligen Standpunkte formulieren, komme gewissermaßen von selbst die Wahrheit und die richtige Entscheidung dabei heraus. Was gemeint war, wurde mit dem Hinweis auf angelsächsische Rechtspraxis demonstriert. Dort spiele sich ein Kampf zwischen Staatsanwalt und Verteidiger ab, den der Richter dann unparteiisch entscheide. Man war auf dieses Erklärungsmuster angewiesen, weil auch der neue kontinentale Strafprozeß eben gerade nicht exakt nach diesem dialektischen Prinzip, wenn es denn überhaupt eines war, organisiert war, sondern nur das Anklageprinzip übernommen hatte. Im übrigen blieb es dabei, daß der Richter dominierte, insbesondere die Vernehmungen durchführte, während in England und Amerika die Vernehmung bei den Anwälten der Parteien lag (einschließlich des Kreuzverhörs) und der Richter sich darauf beschränkt, die Einhaltung der Formalien zu überwachen. Ferner ging auch die Anklage durchaus einseitig vor, ermittelte nur gegen den Angeklagten, während im kontinentalen Anklageprozeß die Staatsanwaltschaft verpflichtet war, auch den Angeklagten entlastende Umstände zu erforschen. Daß man sich daran gewöhnte, über diese Unterschiede hinwegzugehen, mag an der Praxis des reformierten Anklageprozesses gelegen haben, denn er nahm streckenweise insofern den Charakter des Parteiprozesses an, als die Staatsanwaltschaft sich faktisch um Entlastendes nicht kümmerte, dies vielmehr der Verteidigung überließ. Im übrigen pendelte sich gleichsam eine von Widersprüchen und ungeklärten Resten keineswegs freie Situation ein, mit der man recht und schlecht lebte. Das ging so lange gut, wie Strafprozesse im wesentlichen von Politik frei bleiben konnten, änderte sich also radikal in der Weimarer Zeit, als die neue demokratische Reichsverfassung für die extreme Linke und Rechte zunächst nichts weiter als eine Chimäre war, der man guten Gewissens andere politische Auffassungen entgegensetzen zu können glaubte. Die Folge waren poltische Strafprozesse, in denen die Verteidiger auffallend schneller in den Verdacht einer als unstatthaft empfundenen politischen Solidarität mit dem Angeklagten gerieten und häufiger und mit mehr Dramatik vom Verfahren ausgeschlossen wurden als je zuvor seit Inkrafttreten der Strafprozeßordnung. Verglichen mit diesen politischen Strafprozessen waren die Verfahren wegen Majestätsbeleidigung während der Kaiserzeit, aber auch die Strafprozesse während des Kirchenkampfes in den achtziger Jahren harmlos. Wirkliche Parallelen bieten nur die Verfahren im Vormärz. Aber damals gab es die freie und gleichzeitig rechtlich abgesicherte Advokatur noch nicht, sie war ja ihrerseits gerade Gegenstand der politischen Kämpfe. Mit den politischen Strafprozessen der Weimarer Zeit rückten also ganz neue Probleme der Strafverteidigung ins Blickfeld. Freilich traten die Verteidiger nicht allein in diesen Prozessen aus der Reserve heraus. Weimar hatte die
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Strafprozeßordnung zwar nicht geändert; sie las sich aber im demokratischen Zeitalter anders. Man entdeckte, daß sie Rechte gewährte, zu deren legaler Nutzung die obrigkeitlich bleibende Monarchie offensichtlich ungeschriebene Barrieren errichtet oder beibehalten hatte. Die Folge war unter anderem eine Flut von Aufsätzen - nicht nur in den Fachzeitschriften - über den Strafverteidiger seine Funktion und seine Rechte. Eine spürbare Klärung brachten diese Bemühungen aber nicht; das Ergebnis war nur eine illusionslosere Perspektive der Probleme, der Widersprüche und der vom Verteidiger erwarteten Gratwanderungen - auf der einen Seite der Abgrund der strafbaren Begünstigung und des Ausschlusses vom Verfahren, auf der anderen Seite der Verrat am Mandanten. Die Klage eines der berühmtesten Strafverteidigers jener Zeit, Max Alsberg in Berlin, die Meinung über die Stellung des Strafverteidigers dürfe sich nicht darin erschöpfen, daß man zu wählen habe, „ob man ihn als einen Spießgesellen des Angeklagten ansehen ( . . . ) oder ihm eine richtergleiche Stellung einräumen" müsse7 - diese Klage machte das Problem zum ersten Mal auf vitale Weise anschaulich. Hätte Weimar länger gedauert, wäre man seiner Lösung nunmehr, nachdem es endlich ins allgemeine Bewußtsein zu dringen begonnen hatte, vielleicht nähergekommen. Es kamen aber die Nazis mit einer ganz anderen Vorstellung von den Aufgaben des Strafverteidigers. Er hatte sich in den „über aller individueller Freiheit" stehenden „Staat" und die in ihm „verkörperte Volksgemeinschaft einzuordnen" 8 . Die Freiheit des Berufes war „den Maßstäben an staatsbürgerlichem Gehorsam, welche der totale Staat anlegen muß", anzupassen mit der Folge „einer bedingungslosen Unterordnung des Anwaltes und Verteidigers unter diesen veränderten Begriff der Freiheit" 9 . Daß die Strafprozeßordnung nicht geändert zu werden brauchte, sondern auch diese Interpretation aushielt, zeigt noch einmal drastisch, wie wenig Klarheit über die gesellschaftlich-staatsrechtlichen Fundamente der Strafverteidigung bestanden haben muß, als die Strafprozeßordnung sie gesetzlich fixierte. Die Zeit nach 1945 brachte, was die Verteidigung angeht, zwar die äußerliche Wiederherstellung des Zustandes vor 1933; in der Substanz aber war der Schaden, den die freie Advokatur gerade auf dem Gebiet der Strafverteidigung genommen hatte, lange zu spüren. Daran änderte auch nichts, daß allmählich durch Novellierungen und höchstrichterliche Rechtsprechung die im Grundgesetz von 1949 verankerten Prinzipien 7 Max Alsberg, Anmerkung zu dem Beschluß des Reichsgerichts vom 2.11.1926, in: Juristische Wochenschrift 1926, S.2756 (2757). 8 Rudolf Dix, Totaler Staat und freie Advokatur, Deutsche Juristenzeitung 1934, S. 244 ff. (246). ' Dix a. a. O. (Fn. 8).
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des einer freien Gesellschaft angemessenen Strafprozesses konkretisiert wurden. Erst die kleine Strafprozeßreform von 1965, die eine Erweiterung der Rechte der Strafverteidigung brachte - vor allem: unbeschränkter, unkontrollierter Verkehr mit dem Angeklagten - war dazu angetan, der Strafverteidigung ein scheinbar neues, in Wahrheit aber endlich wieder an die alte liberale Tradition anknüpfendes Selbstverständnis zu verschaffen. Ehe es sich richtig entfalten konnte, kamen die Antiterrorismusgesetze, die vieles wieder rückgängig machten und zusätzliche, bisher nicht geläufige Einschränkungen der Verteidigungstätigkeit brachten, vor allem den sehr breit angelegten, erstmals in Gesetzesform gegossenen Verteidigerausschluß. Es sieht so aus, als ob die achtziger Jahre den Weg freimachen könnten, eine zweite kleine Strafprozeßreform zu versuchen, der eine größere folgen könnte - wenn die Zeichen nicht wieder auf Sturm gestellt werden. Gleichviel, ob dieser Optimismus begründet ist oder nicht - es ist wichtig, genau Bescheid zu wissen. Es handelt sich darum, die seit Schaffung der Strafprozeßordnung offen gebliebenen und durch die NS-Zeit und ihre Folgeerscheinungen auch noch verdunkelten Fragen nun endlich eindeutig und erschöpfend zu beantworten. Das müßte eigentlich gelingen, wenn man bedenkt, wie viele wechselvolle Erfahrungen mit Strafverteidigung nun vorliegen und wie intensiv und detailreich in den letzten Jahrzehnten in der Bundesrepublik über Staat und Gesellschaft nachgedacht worden ist. Der Strafverteidiger soll dem Beschuldigten Beistand leisten10. Mehr kann man den Vorschriften des geltenden Strafprozeßrechts über die allgemeine Funktion des Verteidigers nicht entnehmen. Es gibt aber Einzelregelungen über Rechte und Pflichten des Verteidigers, aus denen man eine Art Gesamtbild konstruieren kann. Der Verteidiger hat das Recht, mit dem Beschuldigten schriftlich und mündlich zu verkehren, wobei allerdings der schriftliche Verkehr neuerdings vom Richter überwacht werden kann". Unter gewissen Voraussetzungen hat der Verteidiger das Recht zur Akteneinsicht 12 . Er hat ferner das Recht, das Zeugnis über das, was ihm in seiner Eigenschaft als Verteidiger anvertraut ist, zu verweigern13 - dem korrespondiert eine strafrechtlich geschützte Verschwiegenheitspflicht 14 . Die in seinem Gewahrsam befindlichen entsprechenden Aufzeichnungen dürfen in einem Strafverfahren nicht beschlagnahmt werden15. Das sind im Ausgangspunkt unbestrittene Vorschriften 10 11 12 13 14 15
§ 137 I Satz 1 Strafprozeßordnung (StPO). § 148 II StPO. § 147 StPO. §53 I Ziff. 2 StPO. §203 I Ziff. 3 Strafgesetzbuch (StGB). § 9 7 StPO.
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der Strafprozeßordnung und des Strafgesetzbuchs. Hinzu kommen standesrechtliche Gebote und Verbote - sie stehen in der Bundesrechtsanwaltsordnung - , die sich auf die gesamte Tätigkeit des Rechtsanwalts beziehen. Sie besagen, daß der Rechtsanwalt seinen Beruf gewissenhaft auszuüben und sich innerhalb und außerhalb des Berufes der Achtung und des Vertrauens, welche die Stellung des Rechtsanwalts erfordert, würdig zu erweisen hat". Wird ihm ein Verhalten zugemutet, das seine Berufspflichten verletzen würde, so darf er nicht tätig werden 17 . Darüber, wie diese sehr allgemein gehaltenen Regelungen auszulegen sind, gibt es unterschiedliche Auffassungen, und erst recht gilt das von zwei weiteren, die Tätigkeit des Strafverteidigers betreffenden Vorschriften. Die eine steht im Strafgesetzbuch und legt fest, unter welchen Voraussetzungen es strafbar ist, wenn man vereitelt, daß jemand bestraft wird 18 . Die andere steht wiederum in der schon zitierten Bundesrechtsanwaltsordnung und besagt, daß der Rechtsanwalt ein unabhängiges Organ der Rechtspflege sei19. Beide Vorschriften sind ein unsicherer Boden, denn sie haben keine selbständige Bedeutung. Strafvereitelung liegt nur vor, wenn der Strafverteidiger seine verfahrensrechtlichen Befugnisse überschreitet; darüber kann das Strafgesetzbuch primär gar nichts sagen, sondern nur die Strafprozeßordnung. Auch die Bundesrechtsanwaltsordnung kann dem Verteidiger nicht Eigenschaften zuschreiben, die ihm - befragt man die Strafprozeßordnung - gar nicht zukommen; das Standesrecht kann insoweit das allgemeine Recht nicht etwa korrigieren. O b sich aber aus der Strafprozeßordnung ergibt, daß der Verteidiger ein Organ der Rechtspflege ist, wird stark angezweifelt vor allem unter Hinweis darauf, daß ein Organ der Rechtspflege, auch wenn seine Unabhängigkeit betont werde und an anderer Stelle klar ausgesprochen sei, daß der Rechtsanwalt einen freien Beruf ausübe 20 , doch der Gefahr ausgesetzt sei, staatlich bevormundet zu werden. N o c h problematischer schließlich sind die Vorschriften, die den Ausschluß des Verteidigers vom Verfahren vorsehen 21 , und die Regelung der sogenannten notwendigen Verteidigung 22 . Ein Rechtsanwalt ist im Prinzip verpflichtet, sie zu übernehmen; er wird nicht vom Beschuldigten gewählt, sondern vom Gericht bestellt. Die einerseits an den individuellen Bedürfnissen des Beschuldigten, andererseits an öffentlichen, ja staatlichen Interessen orientierten N o r 16 17 18 19 20 21 22
§ 43 Bundesrechtsanwaltsordnung ( B R A O ) . §45 Ziff.l B R A O . §258 S t G B . § 1 BRAO. §2 I B R A O . §§ 138 a-d StPO. §§ 140-143 S t P O .
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men sind nicht leicht auf einen Nenner zu bringen. Allerdings darf man auch keine übertriebenen Vorstellungen darüber hegen, wie weit die von den Fachleuten vertretenen Meinungen hier auseinandergehen können. Niemand beispielsweise wird gegenwärtig ernsthaft bestreiten, daß der Verteidiger, dem der Mandant seine Schuld eingestanden hat, gleichwohl auf unschuldig und Freispruch plädieren darf. Ist die Beweissituation hoffnungslos, wird sich der Verteidiger damit vielleicht vor der Zunft blamieren. Dennoch kann er zu dieser einseitigen Parteinahme zu Lasten der materiellen Gerechtigkeit verpflichtet sein, denn die Alternative Niederlegung des Mandats - schadet dem Mandanten in der Regel, weil das Gericht den Grund vermuten kann. Alles, was den Mandanten belastet, muß der Verteidiger aber strikt unterlassen. Dieser Fall macht vielleicht am besten deutlich, daß der Diskussion durchaus Grenzen gesetzt sind. Es bleibt freilich Streitstoff genug. Man kann das an Hand des nur dem Verteidiger gegenüber geständigen Beschuldigten gut zeigen. Wem die Schuld nicht nachgewiesen werden kann, dessen Freispruch genügt zwar nicht der Forderung materieller, wohl aber prozessualer Gerechtigkeit, und diese Gerechtigkeit ist elementarer Bestandteil jeder Rechtszivilisation. In dieser Allgemeinheit ist das anerkannt. Aber wie weit geht die Einigkeit im einzelnen? Von einem fairen Verfahren wird zunächst mehr materielle Wahrheit erwartet und größere Gewißheit, daß richtig entschieden werde. An dieser Funktion des Verfahrens hat der Verteidiger sicher insofern Anteil, als er den Beschuldigten entlastende Umstände namhaft macht, wenn Staatsanwaltschaft und Gericht, obwohl sie sich auch darum kümmern müssen, sie übersehen. O f t ist das die Hauptsache für den Verteidiger. Auch im Falle des schuldigen Angeklagten bleibt er in diesem Rahmen, solange er auf Fehler bei der Beweisaufnahme hinweist. Handelt es sich dabei um Tatsachen oder rechtliche Regeln, die das Gericht - wird es erst einmal mit ihnen konfrontiert - ebenso sieht, wie die Verteidigung, ergibt sich immer noch kein Problem. Tauchen nun aber unterschiedliche Maßstäbe auf, so erhebt sich die Frage, wer recht hat. Die Wahrheit und die Gerechtigkeit, für die der Verteidiger eintritt, ist dann wahrscheinlich nicht mehr die Wahrheit und Gerechtigkeit des Gerichts. Man kann beispielsweise verschiedener Meinung sein über die Strafzwecke, über die geschützten Rechtsgüter - das gilt vor allem für das politische Strafrecht - , über bestimmte Beweismethoden und -regeln. Die Gesetze, denen Gericht, Staatsanwalt und Verteidiger gleichermaßen unterworfen sind, geben genug Spielraum. Es ist daher sehr schwer, von der Wahrheit, von der Gerechtigkeit zu sprechen. Schon aus diesem Grund geht es keineswegs an, dem Verteidiger zu verbieten, sich auf andere Maßstäbe zu beziehen als die des
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Gerichts. In einfachen oder von der sozialen Wertung her wirklich eindeutigen Fällen wird er vielleicht sogar an der Wahrheitsfindung und Entscheidung des Gerichts mitwirken; er braucht das aber keineswegs zu tun, und oft darf er es nicht einmal, ist verpflichtet, einen entgegengesetzten Standpunkt zu entwickeln. So sehr Wahrheit und Gerechtigkeit schwankende Größen sind, auch Wandlungen unterworfen sind - denkbar wäre, einen historisch gewachsenen, für eine gewisse Epoche gültigen Rahmen zu fixieren und auch die Verteidigung darauf festzulegen. Aber wer hätte darüber in Grenzfällen zu entscheiden? Sicher nicht das Gericht, um dessen Entscheidung es gerade geht. Aber auch nicht irgendein anderes Gericht. Andernfalls würde der Verteidiger in dem, was er sagen darf und was nicht, letzten Endes doch von einer Behörde abhängig. Andere objektive Instanzen oder Gremien scheiden aber erst recht aus; ihnen fehlt jede Zuständigkeit, ausgerechnet den gedanklichen Horizont einer Strafverteidigung abzustecken. Es gibt vielmehr nur eine und zwar höchst subjektive Instanz: den Beschuldigten. Die von ihm formulierten Interessen weisen dem Verteidiger den Weg, das gilt für die Entscheidung des Verteidigers darüber, auf die Feststellung welcher Tatsachen er hinwirken soll ebenso wie für seine rechtliche Argumentation und selbstverständlich für die gesamte Strategie. Wenn man also hin und wieder hört, der Verteidiger habe an der Wahrheitsfindung und gerechten Entscheidung mitzuwirken, dann kann nur Wahrheit und Gerechtigkeit im höchst subjektiven Sinne des Beschuldigten gemeint sein. Es gibt noch weitere Gründe, den Verteidiger auf einseitige Vertretung der Interessen des Beschuldigten zu beschränken, der in aller Regel freigesprochen oder jedenfalls milder bestraft zu werden wünscht (jenseits dessen, was vom Gericht zu erwarten ist), auch wenn er - wäre nicht gerade er in dieser Lage - dessen Entscheidung vielleicht anerkennen würde. Gericht und Staatsanwaltschaft haben die Macht und Legitimation des Staates hinter sich. Ein privater Beschuldigter kann dem - sein Leumund sei noch so gut - nichts Entsprechendes entgegensetzen, und der Verteidiger kann es auch nicht - das öffentliche Vertrauen in seine Urteilskraft und Integrität kann so weit nicht reichen. Außerdem verfügen Gericht und Staatsanwaltschaft über einen Machtapparat, wie ihn ein Privater praktisch nie haben kann. Wollte etwa der Verteidiger genauso aufwendig und intensiv ermitteln wie der Staatsanwalt - wozu er prinzipiell das Recht hat - er könnte es in der Regel nicht. D a die Einrichtung eines paritätisch ausgestatteten öffentlichen Verteidigungsamtes längst undiskutabel geworden ist, muß eine Kompensation erfolgen. Sie besteht in dem Recht des Beschuldigten, sich mit allen Mitteln zu wehren - insbesondere ist er nicht verpflichtet, sich irgendwie zu dem Vorwurf zu äußern und hat, für den Fall, daß er die Unwahrheit sagt, keine Sanktion zu befürchten (so soll es sein nach der Strafprozeßord-
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nung, inoffizielle Sanktionen gibt es leider trotzdem). Ferner besteht die Kompensation darin, daß der Verteidiger einseitig die Interessen des Beschuldigten vertreten darf, vertreten muß. Der Staat verschließt sich diesen Einsichten nicht und sorgt für eine sinnvolle Verteidigung. Jeder einigermaßen moderne liberale Staat tut das seit langem. Es hängt von dem Grade der Freiheitlichkeit eines Staates ab, wie weit er dabei geht. Skepsis, über sichere Maßstäbe für Wahrheit und Richtigkeit zu verfügen, und das Gefühl für die Gefahr des Machtmißbrauchs können gleichermaßen dazu führen, auch eine Strategie des Verteidigers anzuerkennen, die extreme Positionen des Beschuldigten zur Geltung bringt, Positionen etwa, die von fundamentaler Kritik an unserem Rechts- und Gesellschaftssystem geprägt sind oder dem Wunsch, seine totale Überwindung zu erreichen. Es müssen nicht immer politische Strafprozesse sein, in denen so etwas passiert. „Gegendefinitionen", wie die Soziologen das nennen, werden auch in anderen Bereichen streitbar angemeldet von Randgruppen, Jugendlichen, Frauen. Aber natürlich ist es die politische Verteidigung, an die man hier vor allem denkt. Die Stärke einer freien Gesellschaft besteht darin, daß sie - das mag paradox klingen - ein schlechtes Gewissen hat (im Gegensatz zu einer totalitären, von der Einzigartigkeit und Richtigkeit ihrer Zielsetzung durchdrungenen und daher - ungerührt - vollständige Anpassung fordernden und erzwingenden Gesellschaft), ein schlechtes Gewissen in bezug auf ihre Wahrheiten und in bezug auf die unguten Wirkungen der Macht. Das ist Toleranz aus Stärke - freilich nicht aus einer Stärke von der Art derer, die sagen, „uns kann sowieso nichts passieren". Daß manche Gesellschaften auch aus diesem Grund großzügig mit Systemgegnern sein könnten und sollten, ist eine andere Frage. Schwierig zu fixieren ist der Punkt, an dem die aus Skepsis kommende Stärke in die Schwäche des Verzichts auf Selbstverwirklichung und -Verteidigung umschlägt und die aus Sicherheit kommende Stärke in die Schwäche des Irrtums. In den Terroristenprozessen reichen politische Argumentation und politische Aktivität der Verteidiger weit in das Gebiet der „Gegendefinition". Darf der Verteidiger vortragen, die RAF-Leute seien im Verlaufe von Kriegshandlungen gefangen genommen worden und daher als Kriegsgefangene zu behandeln ? Ganz sicher - so abwegig dieser Gedanke auch ist. Aber darf die Identifizierung mit dem Mandanten so weit gehen, daß man ihm dabei hilft, die Kontakte zu den politischen Gefährten durchzuhalten, obwohl das Unterstützung einer kriminellen Veréinigung sein könnte? Hierzu muß ich auf die umfangreichen Berichte zum Groenewold-Verfahren verweisen. Der gegen Astrid Proli geführte Prozeß hat gezeigt, womit die Verteidigung rechnen muß. Wie soll sie sich gegen die — durch abgeschirmte Behörden gedeckte - systematische Unterdrükkung von Entlastungsbeweisen anders wehren als kompensatorisch?
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Heißt das nun, der Beschuldigte könne von seinem Verteidiger praktisch völlige Identifizierung mit seinen Interessen verlangen? Zunächst ist auf die Grenzen hinzuweisen, die durch das eindeutige Verbot gezogen sind, Beweismittel zu fälschen oder Zeugen zu beeinflussen, Urkunden zu vernichten und ähnliche Aktivitäten. Das ist im Prinzip unstreitig (es gibt aber viele noch offene Abgrenzungsfragen). Weniger klar ist, ob der Verteidiger sich darüber hinaus von den Wünschen des Beschuldigten distanzieren darf, ob er also nicht nur vom Staat, sondern jedenfalls in einem gewissen Maße auch vom Beschuldigten unabhängig ist. Das geltende Recht sagt nichts dazu, wohl aber der kürzlich von acht Strafrechtslehrern veröffentlichte Entwurf für eine Neuregelung des Abschnitts über die Verteidigung. Ich möchte einige Passagen aus der Begründung zitieren, weil der Entwurf in diesem Punkt nicht von dem abweicht, was auch dem geltenden Recht unterstellt werden darf. „ H a t der Verteidiger das Vertrauen des Beschuldigten, so stellt sich das Problem seiner Unabhängigkeit nicht in voller Schärfe. Hat der Beschuldigte kein Vertrauen, so wird er auch von einem zu ihm in einem Abhängigkeitsverhältnis stehenden Verteidiger nichts erwarten. Der Verteidiger kann, wenn das Vertrauensverhältnis so schlecht geworden ist, daß der Beschuldigte ihm glaubt Weisungen erteilen zu müssen, die Verteidigung niederlegen. So gesehen kann er gegen seinen Willen - läßt man einmal wirtschaftliche Zwänge beiseite - gar nicht in eine Abhängigkeit geraten. Indessen gilt das Recht zur Niederlegung nicht uneingeschränkt. Beispielsweise kann die Niederlegung dem Beschuldigten schaden, wenn sie zu Schlußfolgerungen in bezug auf seine Schuld zu führen geeignet ist. Daher muß klargestellt sein, daß der Verteidiger, der pflichtgemäß den Beschuldigten weiterhin vertritt, seine Entscheidungen frei treffen darf 2 3 ." In der Praxis werden diese Probleme in erster Linie dadurch gelöst, daß die Beschuldigten sich Verteidiger suchen, von denen sie die notwendige politische Identifizierung erwarten können. Es gibt keinen anderen Weg. Eine Objektivierung der Interessen des Beschuldigten, die der Verteidiger dann distanziert wahrnimmt, muß scheitern. Auch hierzu finden sich einige klärende Sätze in der Begründung zu dem schon zitierten Gesetzentwurf: „Auf eine abschließende Definition des Interesses des Beschuldigten indessen muß auch in einer Gesetzesbegründung verzichtet werden. Sie liefe letztlich doch auf den Versuch hinaus, den Interessen eine Art
23 Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Verteidigung, Gesetzentwurf mit Begründung, Heidelberg/Karlsruhe 1979, S. 43/44.
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staatlicher Anerkennung zu verschaffen. Damit aber würde der Gedanke, daß der Beschuldigte vor der staatlichen Strafverfolgung in seiner Subjektivität geschützt werden soll, abgeschwächt; nicht in die Definition aufgenommene, möglicherweise jedoch aus unvorhergesehenen Gründen für den Beschuldigten sehr bedeutsame Interessen wären endgültig ausgeschlossen. Vielmehr ist die Aushandlung der im Verfahren vom Verteidiger zu wahrenden Interessen des Beschuldigten der Entwicklung des Verhältnisses zwischen Verteidiger und Beschuldigten zu überlassen. Die Schwierigkeiten, die einer allgemeinen Festlegung des Verteidigungsinteresses des Beschuldigten entgegenstehen, zeigen sich an aktuellen Beispielen. Zunehmend wird diskutiert, wie eine Verteidigung zu führen ist, die dem Interesse der ,Wahrung der Identität, auch der politischen Identität des Beschuldigten' dienen soll. Genauer bestimmt werden kann dieses Interesse nur im Zusammenwirken von Verteidiger und Beschuldigtem, vor allem im Reagieren auf die Entwicklung des Verfahrens. Die Möglichkeiten, das auf diesem Wege präzisierte Verteidigungsinteresse durchzusetzen, hängen vom jeweiligen Stand des Prozeßrechts und des materiellen Rechts ab24." Wer sich nicht in dieser Weise mit dem Beschuldigten einigen kann, hat die Freiheit, die Verteidigung von vornherein abzulehnen. Vielleicht wird er demgegenüber die Verteidigung eines Beschuldigten, der - ohne politisch motiviert zu sein - in ein kriminelles Milieu gekommen ist, sich darin wohl fühlt und auf der Basis einer scharf kalkulierten Grenzmoral sich im Prozeß aus der Affaire ziehen will, guten Gewissens übernehmen können, beispielsweise weil er bei aller Loyalität in bezug auf Gesellschaft und Staat eine Affinität zum Anarchisch-asozialen hat (womöglich verbunden mit einem Verständnis für kreative Dissozialität), ein Standpunkt, der einem die extreme Opposition sehr ernst nehmenden Verteidiger im Zweifel eher fremd oder gleichgültig ist; das kann auch davon abhängen, ob es sich um eine extrem linke oder extrem rechte Opposition handelt, um Gegenwärtiges oder Vergangenes (etwa in Verbindung mit den NS-Kriegsverbrecherprozessen). Bei so viel Subjektivität und Privatheit müßte sich der Gedanke, daß der Verteidiger ein Organ der Rechtspflege sei, eigentlich verflüchtigen. Aber wie begründet man dann seine Rechte, Rechte übrigens, die der Beschuldigte hat, und wie garantiert man seine Unabhängigkeit vom Beschuldigten? Nicht durch Beförderung zum Organ der Rechtspflege! muß die Antwort lauten. Es ist, das haben mir Anwälte mehrfach bestätigt, kein Fall bekannt, in dem ein Verteidiger unter Berufung darauf, er sei ein Organ der Rechtspflege, seine Stellung in bezug auf 24
A . a . O . (Fn.23), S.40/41.
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Akteneinsicht, Teilnahme an Vernehmungen, Verkehr mit dem Beschuldigten usf. verbessert hätte. Nur das Umgekehrte hat sich stets ereignet nämlich der Versuch, der Verteidigung über diese angebliche Organschaft eine an Staatszwecken orientierte Verantwortlichkeit überzubürden (daher ist es ganz absurd, wenn - was gelegentlich geschieht - Befürworter einer Einschränkung der Verteidigerrechte ihm die Organschaft gerade absprechen wollen). Übt der Verteidiger dann wenigstens einen „staatlich gebundenen Vertrauensberuf" aus, wie das Bundesverfassungsgericht meint? Soweit - wie anzunehmen ist - damit unterstrichen werden soll, daß es auf das Vertrauen des Beschuldigten ankommt, ist nichts einzuwenden. Was aber besagt die staatliche Bindung? Dazu heißt es bei dem Staatsrechtler Hans-Peter Schneider: „Als weitaus problematischer in der Sache erweist sich die Auffassung des Gerichts, der Beruf des Rechtsanwalts sei staatlich gebunden'. Denn hieraus könnten sich im Anschluß an frühere Entscheidungen zu Art. 12 G G erleichterte Eingriffsmöglichkeiten ergeben. Würde man jedoch die bloße Qualifizierung als staatlich gebundener Beruf' genügen lassen, um darauf Grundrechtsbeschränkungen zu stützen, so wäre letztlich das ,Wesen' eines Berufes und seine positiv-rechtliche Ausgestaltung für den Umfang der Berufsfreiheit maßgebend: Die Garantien der Verfassung stünden unter dem Vorbehalt einfachen Rechts. Gegenüber dieser fragwürdigen Konsequenz muß daran erinnert werden, daß die Grundrechte stets den allgemeinen Status des Bürgers gewährleisten und darüber hinaus jeder Sonderstatus - wie ζ. B. der öffentliche Dienst - einer ausdrücklichen Rehtsgrundlage in der Verfassung bedarf. Da aber ein solcher Sonderstatus oder irgendwelche Dienstpflichten für Anwälte vom Grundgesetz nicht vorgesehen sind, steht ihnen das Recht der Berufsfreiheit (Art. 12 G G ) unverkürzt zu. Regelungen der anwaltlichen Berufsausübung oder sonstige staatliche Eingriffe in die Anwaltstätigkeit unterliegen in vollem Umfang der Nachprüfung unter den Gesichtspunkten der Verhältnismäßigkeit und Sachgerechtigkeit. Hierfür ist die Umformung der ,freien Advokatur' zu einem staatlich gebundenen Vertrauensberuf' ohne rechtliche Bedeutung 25 ." Bleibt die Überlegung, ob der Verteidiger, wenn nicht staatliche, so doch öffentliche Aufgaben erfüllt. Daß öffentliche Aufgaben von Privaten übernommen werden, ist eine geläufige Erscheinung in unserer Rechtsordnung. Doch handelt es sich dabei stets um Delegierung von Staatsfunktionen oder öffentlichen Kompetenzen. Die gleichsam zwischen Staat und Individuum frei schwebende - Privaten übertragene 25 Hans Peter Schneider, Das Leitbild des Rechtsanwalts im Grundgesetz, in: Werner Holtfort (Hrsg.), Strafverteidiger als Interessenvertreter, Neuwied/Darmstadt 1979, S. 26 ff. (32/33).
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Aufgabe ist noch nicht definiert. Wo es so etwas gibt, etwa bei den Medien (Beispiel: Rundfunk), sind die Träger immer öffentlichrechtlich organisiert. Für die Strafverteidigung wäre das nicht das richtige Modell. Daß ein weitsichtiger Staat, der seine Freiheitlichkeit selbst festlegen möchte, in eigener Sache Veranlassung hat, dem Beschuldigten einen starken, mit Rechten ausgerüsteten, unabhängigen Verteidiger zu geben, ändert daran nichts. Zu Ende gedacht, würde daraus nämlich eine logische Absurdität: Wenn der Staat ausdrücklich, wie im Fall der Strafverteidigung, die private Vertretung individueller Gegeninteressen anerkennt, so muß er wirklich davor haltmachen; er darf diese private Vertretung natürlich begrenzen (insofern ist sie Gegenstand seines Regelsystems), aber sie umdefinieren als - einem liberalen System konforme öffentliche Interessen darf er nicht. Tut er das, so eröffnet sich ein unendlicher Regreß, denn von diesem öffentlichen Interesse müßten dann die wirklich privaten Interessen wieder abgehoben werden, usf. Die einseitige Parteinahme des Verteidigers für den Beschuldigten geschieht also nicht im öffentlichen Interesse, sondern wirklich nur um des einzelnen Beschuldigten willen. Daß es im öffentlichen Interesse liegt, diese Art des Beistandes durch die staatliche Gesetzgebung zu garantieren, macht ihn noch nicht zur öffentlichen Aufgabe. Dieser Unterschied ist wichtig und Ausdruck einer bestimmten Auffassung über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, von Rechtsstaat und Sozialstaat. Ernst-Wolf gang Böckenförde hat das so formuliert: „Im Hinblick auf die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft ist ( . . . ) nicht entscheidend, daß staatliche Intervention, sozialer Ausgleich durch den Staat und vermehrte rechtliche Regelung der individuellen und gesellschaftlichen Lebensvorgänge stattfinden, sondern welchem Prinzip sie folgen und welchen Grenzen sie dementsprechend unterliegen. Das ist, unter anderen Voraussetzungen, schon von Lorenz v. Stein gesehen worden. Es kommt darauf an, ob die Gesellschaft den Charakter des an sich Vorausliegenden behält oder unter Berufung auf die notwendige sozialstaatliche Aktivität von vornherein das soziale Ganze dem staatlichen Lenkungs- und Regulierungsanspruch unterstellt wird. Der Umschlag tritt dann ein, wenn diese Maßregeln nicht mehr jeweils ihre Begründung und Begrenzung in der Erhaltungs- und Gewährleistungsfunktion des Staates für die Gesellschaft und ihre Ordnung finden, d.h. zur Sicherung und im Rahmen der Grundverfassung der Gesellschaft erfolgen, um auch die sozialen Voraussetzungen zur Verwirklichung der Freiheit für alle zu schaffen, sondern weitergreifenden politischen Zielen, wie etwa der Übernahme des wirtschaftlich-sozialen Prozesses in unmittelbare staatliche Lenkung folgen. In diesem Fall verliert die Gesellschaft gegenüber dem Staat den Charakter des an sich Voraus-
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liegenden, das seinem Zugriff nur begrenzt und im Hinblick auf bestimmte Zwecke unterliegt, und wird in ihm aufgehoben. Entscheidend ist also die Maßbestimmung für die soziale Verwaltung des Staates; sie entscheidet über den (offenen oder verdeckten) Umschlag in der Zuordnung von Staat und Gesellschaft. Das Grundgesetz hat solchem Umschlag in die UnUnterscheidbarkeit von Staat und Gesellchaft vorbeugen wollen; es hat dem Sozialstaat nicht einfach freies Feld eröffnet, sondern bewußt - Rechtsstaat und Sozialstaat nebengeordnet, d. h. in ein Verhältnis rechtlicher Verknüpfung und wechselseitiger Begrenzung gestellt. Die auf Daseinsvorsorge, sozialen Ausgleich und soziale Umverteilung zielenden sozialstaatlichen Aktivitäten, zu denen Gesetzgeber und Verwaltung ermächtigt und aufgerufen sind, dispensieren nicht von den Anforderungen des Rechtsstaats, insbesondere seinen Freiheitsverbürgungen für Individuen und Gesellschaft; sie müssen sich in den Rahmen rechtsstaatlicher Gewährleistungen und Begrenzungen einfügen. Das Grundgesetz hat ebenso wie für die Realisierung des demokratischen Prinzips auch für die staatliche Antwort auf die ,soziale Frage', die es als verfassungsrechtliches Gebot statuiert, die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft fest- und offengehalten 26 ." Das Stichwort „soziale Frage" leitet über zu einer abschließenden Betrachtung. „Die Verantwortung des Staates für die Erhaltung gesellschaftlicher Freiheit" schließt „in einem gewissen Umfang auch die Garantie der sozialen Voraussetzungen zur Realisierung der Freiheit" ein27. Der Beschuldigte, der seinen Verteidiger nicht bezahlen kann, kann einen Pflichtverteidiger bekommen. Aber erstens keineswegs in allen Fällen und Verfahrensabschnitten und zweitens zunächst nur den, der ihm vom Gericht gestellt wird. Das wird seit langem als Mißstand empfunden. Die Frage, worauf er beruht und wie man ihn beseitigen könnte, hat den schon mehrfach erwähnten Arbeitskreis Strafprozeßreform beschäftigt: „Die Kritik ( . . . ) hebt zu Recht hervor, der Gesetzestext erfasse nicht alle Fälle, in denen der Beschuldigte einen Verteidiger brauche; er werde außerdem auch in der Regel ausgelegt. Ferner entspreche die Qualität der Pflichtverteidiger und ihr Einsatz nicht annähernd den Anforderungen; das beruhe teils auf der schlechten Bezahlung, teils darauf, daß die Pflichtverteidiger nicht auf Grund eines privaten Vertrages tätig, sondern vom Gericht hoheitlich bestellt werden; nicht das Vertrauen des
26 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt am Main 1976, S. 205/206. 27 Böckenförde a . a . O . (Fn.26), S.203.
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Beschuldigten, sondern das des Gerichts sei daher entscheidend und führe zu sachwidrigen Abhängigkeiten 28 ." „Vorschläge, das Recht der notwendigen Verteidigung tiefergreifend umzugestalten, können also ( . . . ) ein steigendes Interesse beanspruchen. Diese Vorschläge bleiben indessen solange Stückwerk, wie keine Konsequenzen daraus gezogen werden, daß der Pflichtverteidiger gegenwärtig zwei ganz verschiedene Funktionen hat. Er steht sowohl dem Beschuldigten bei, die einen Verteidiger haben wollen, ihn aber nicht bezahlen können, wie denjenigen, die keinen Verteidiger haben wollen, ihn nach dem Sinne des Gesetzes aber haben sollen. Die einheitliche Regelung des geltenden Rechts trägt diesen unterschiedlichen Funktionen nicht Rechnung. Der Entwurf hingegen will das tun. Die Fälle, in denen der Beschuldigte gegen seinen Willen einen Verteidiger bekommen soll, werden also gesondert geregelt (...). Damit wird ein großer Teil der Fälle, die im geltenden Recht nach den Regeln über die notwendige Verteidigung behandelt werden - ein Verteidiger wird nicht gewählt, sondern hoheitlich gestellt - mit dem Prinzip der freien Verteidigerwahl ( . . . ) in Einklang gebracht. Bedenken gegen diese Harmonisierung bestehen nicht. Die fürsorglichen Gesichtspunkte, welche die bisherige Praxis der notwendigen Verteidigung jenseits der Fälle aufgezwungener Verteidigung faktisch leiten, können ungemindert Berücksichtigung finden, gleichviel, ob der Schutz des Beschuldigten im Interesse besserer Wahrheitsfindung oder unabhängig davon angestrebt wird. Indem der Entwurf versucht, jedem Beschuldigten zu garantieren, daß der Verteidiger die gewählte Person seines Vertrauens ist, verknüpft er auf diesem Gebiet bisher unverbunden nebeneinander stehende rechtsstaatlich-liberale und sozialstaatliche Grundsätze. Der mittellose Beschuldigte ist nach dem geltenden Recht darauf angewiesen, daß ihm ein Verteidiger hoheitlich bestellt wird. Der prozessuale Schutz des Beschuldigten wird in diesen Fällen mit der Suspensierung seines Wahlrechts erkauft; das liberale Prinzip erfährt um des sozialen Prinzips willen eine Einschränkung. Der Entwurf teilt nicht die zur Gewohnheit gewordene Vorstellung, daß derartige Kompromisse unvermeidbar seien. Vielmehr geht er von der Uberzeugung aus, daß Freiheitsrechte - hier die Freiheit, einen Verteidiger zu wählen - ohne wesentliche Einbußen in den modernen Sozialstaat Eingang finden können. Das setzt allerdings voraus, daß von der Idee Abschied genommen wird, der Sozialstaat sei nur auf dem Wege des staatlichen Interventionismus zu verwirklichen 29 ." Der Entwurf schlägt daher eine Regelung vor, wonach der Beschuldigte berechtigt ist, eine als Verteidiger wählbare Person auf Kosten der 28 29
A . a . O . (Fn.23), S.49. A . a . O . (Fn. 23), S. 50.
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Staatskasse mit seiner Verteidigung zu beauftragen. In der Begründung heißt es dann weiter: „Zunächst ist erwogen worden, das Armenrechtsprinzip vorzuschlagen. Bei näherem Zusehen erwies sich, daß angesichts der je nach - vom Beschuldigten nicht zu vertretenden - Kompliziertheit des Verfahrens unterschiedlich hohen Kosten es unangemessen wäre, auf die Höhe des Einkommens abzustellen. Eine solche Differenzierung würde vor allem diejenigen empfindlich treffen, die knapp oberhalb der Armutsgrenze liegen. Vor allem aber spricht gegen die Einführung des Armenrechts im Strafprozeß, daß der primäre Grund für die Entstehung der Verteidigerkosten nicht ein privates Bedürfnis des Beschuldigten ist, sondern der im allgemeinen Interesse ausgelöste und durchgeführte Prozeß. Es geht also nicht um die sozialstaatliche Forderung, private Ungleichheiten zu kompensieren. Vielmehr wird - auf einem Teilgebiet - angestrebt, daß für die Erfüllung von Aufgaben, die im allgemeinen Interesse liegen, Private nicht direkt und zweckgebunden belastet werden. Aus dem gleichen Grunde scheidet auch eine - auf den ersten Blick vielleicht naheliegende - allgemeine Rechtsschutzversicherung aus30." Damit ist der weitaus größte Teil der Fälle erfaßt, in denen nach dem geltenden Recht nur ein Pflichtverteidiger gestellt werden kann. Die staatliche Bestellung eines Verteidigers bleibt nur für die wenigen Fälle vorbehalten, in denen der Beschuldigte es ablehnt, einen Verteidiger auf Kosten der Staatskasse zu wählen und anzunehmen ist, daß er die Bedeutung einer Verteidigung oder seine Befähigung zur Selbstverteidigung verkennt. Für gewisse Fälle, zum Beispiel, wenn bestimmte Sanktionen zu erwarten sind, wird das unwiderleglich vermutet. Ist Gegenstand des Verfahrens ein Verbrechen, oder ist der Beschuldigte nicht auf freiem Fuß, so ist die Verteidigung auch gegen den Willen des Beschuldigten von der ersten Vernehmung an notwendig. Natürlich gilt das erst recht bei massiven körperlichen oder vergleichbaren Behinderungen des Beschuldigten31. Ob sich der Gesetzgeber entschließen wird, diesen Vorschlägen näherzutreten, bleibt abzuwarten. Die Teilnehmer des vorletzten Strafverteidigertags - überwiegend Anwälte - haben sie immerhin gutgeheißen32, obwohl für den Fall ihrer Realisierung mit einigen Veränderungen im Berufsbild des Rechtsanwalts zu rechnen wäre. Im guten Sinne, wie ich meine, obwohl darüber noch viel debattiert werden muß. Aber es wird eine vergleichsweise sachliche Debatte werden. Die Zeiten, in denen es 50
A . a . O . (Fn.23), S.51.
31
A . a . O . ( F n . 2 3 ) , § 4 (S.4).
32
Anwaltsblatt 1980, S. 25; vgl. im übrigen die Berichte in der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung vom 3 . 7 . 1 9 7 9 , in der Frankfurter Rundschau vom 2 9 . 6 . 1 9 7 9 , in der Süddeutschen Zeitung vom 2 9 . 6 . 1 9 7 9 und in der „Zeit" vom 7 . 1 2 . 1 9 7 9 .
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Klaus Lüderssen
darauf ankam, erst einmal das Zerrbild des Advokaten loszuwerden, sind endgültig vorüber. Oder sollte es noch Zeitgenossen geben, die so sprechen möchten wie der Dichter Ludwig Börne, der einen Vater sein in der Wiege liegendes Kind wie folgt anreden läßt: „Du plauderndes Räthsel, ich verstehe Dich nicht. D u süsser, gärender Most, welchen Wein wirst D u mir bringen? ( . . . ) Alles was der Himmel will! N u r daß er eins nicht wolle! Wüsste ich, Junge, D u würdest einst Advokat: mit diesen meinen Händen würde ich Dich erwürgen ( . . . ) . Soll ich dieses blühende Leben hinabsteigen sehen in die Bleibergwerke giftiger Hanthierung ( . . . ) sich mästen mit dem Schweisse der N o t h und seinen Durst löschen mit den Thränen der Wittwen und Waisen? ( . . . ) Soll er, werde er auch der besten einer, wie ein Zergliederer unter Gebeinen und faulen Eingeweiden verwester Rechte leben?" Das ist wirklich sehr weit weg. Börne muß das am Ende auch gespürt haben, sonst hätte er sich nicht schließlich doch noch um hundertachtzig Grad gedreht: „Doch wie? Hast D u nicht noch eine lange Zukunft vor Dir? Wird nicht die Zeit größer werden und mit Dir das Vaterland wachsen? Ja, D u sollst Advokat werden 33 ." Ein Pathos - vor hundertfünfzig Jahren - wie, wenn man es in zeitgemäßen Wendungen - auf die Gegenwart übertrüge? Man sollte auch nicht zuviel Angst vor so etwas haben.
33
Gretrys Herz, Sämtliche Schriften, neubearbeitet und herausgegeben von Inge und Peter
Rippmann,
Zweiter Band, Dreieich 1977, S. 102 ff.
Genese und Probleme einer Legaldefinition dargestellt am Beispiel des Schwangerschaftsabbruchs
HANS LÜTTGER
Legaldefinitionen sind seit altersher ein - auch im Strafrecht - oft benutztes Mittel der Gesetzestechnik'; sie sind längst zu einem Sujet der Gesetzgebungslehre geworden 2 . Ihr Zweck ist ein doppelter: Rein äußerlich vereinfachen und entlasten sie durch Regelung des gesetzlichen Sprachgebrauchs jene Normen, die mit dem (legaldefinierten) Kurzbegriff arbeiten 3 . Inhaltlich bewirken sie eine authentische Gesetzesinterpretation, indem - und soweit - sie den Begriffsinhalt autoritativ festlegen und damit zugleich die Reichweite der davon betroffenen Strafnormen abgrenzen 4 . Dabei kann es sein, daß die Legaldefinitionen einen durch Rechtsprechung und Rechtslehre bereits geklärten Begriffsinhalt (lediglich) positivieren, aber auch, daß sie klärend und entscheidend in einen Meinungsstreit eingreifen oder gar in Neuland vorstoßen 5 . Immer stellt sich dabei für den Gesetzgeber die Frage, ob eine gesetzliche Begriffsfestlegung notwendig oder doch angebracht ist; in den beiden letztgenannten Fallgruppen hängt zudem viel davon ab, ob die Problematik für eine gesetzliche Festlegung bereits „reif" ist6. Legaldefinitionen teilen das Schicksal aller gesetzten Normen: Sie sind in der Regel selbst auslegungsbedürftig 7 , sie haben nicht selten Mängel und gelegentlich mißglücken sie ganz. 1 Zur Geschichte eingehend: Ebel, Uber Legaldefinitionen. Rechtshistorische Studie zur Entwicklung der Gesetzgebungstechnik in Deutschland, 1974; derselbe, Beobachtungen zur Gesetzestechnik des 19. Jahrhunderts, dargestellt insbesondere an der Frage der Legaldefinition, in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1976, S. 337 ff. - Zur Gegenwart statt vieler: Stratenwerth, Die Definitionen im Allgemeinen Teil des Entwurfs 1962, ZStW 76. Bd. (1964), S. 669 ff. 2 Vgl. Klug, Juristische Logik, 1966, S. 85 ff.; Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S . 2 6 2 f f . ; Klug, Zur Problematik juristischer Definitionen, in: Gedächtnisschrift für Rödig, 1978, S. 199ff.; Kindermann, Ministerielle Richtlinien der Gesetzestechnik, 1979, S. 58 ff. 3 Vgl. BT-Drucks. IV/650, S. 114. 4 Vgl. Maurach/Zipf, Strafrecht, Allgem. Teil, Teilband 1, 5. Aufl. 1977, S. 122 ff. 5 Für einen engeren Anwendungsbereich der Legaldefinitionen plädiert: Kindermann wie Fn. 2. 6 Vgl. dazu: Kindermann wie F n . 2 ; Stratenwerth wie Fn. 1. 7 Vgl. Noll, Zur Gesetzestechnik des Entwurfs eines Strafgesetzbuchs, J Z 1963, S. 297 ff. (299); Maurach/Zipf (Fn.4), S. 124.
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Hans Lüttger
In den folgenden Zeilen geht es nicht um die von der Gesetzgebungslehre entwickelten Kategorien der Legaldefinitionen und auch nicht um eine Darstellung der gesetzestechnischen Bestandteile von Legaldefinitionen. Dieser Beitrag will lediglich die eingangs angedeutete Problematik gesetzlicher Begriffsbestimmungen am Beispiel der Anfangszäsur des strafrechtlichen Lebensschutzes 8 illustrieren: dem Beginn des Strafschutzes gegen Schwangerschaftsabbruch. Aber auch bei dieser bescheidenen Zielsetzung könnte sich die fortdauernde Richtigkeit des alten Satzes ergeben: Omnis definitio in jure . . . periculosa est9. Im Zeitalter der Reformhektik könnte das sogar eine nützliche Einsicht sein. Und wenn bei diesen Betrachtungen Kritik an ungeschliffener Gesetzessprache geübt werden muß, dann mag dies dem verehrten Jubilar, dessen besonderes Faible für geschliffene Formulierungen allen seinen Freunden und Kollegen wohlbekannt ist, aus der Seele gesprochen sein.
A.
Auch wenn man die Partikulargesetze beiseite läßt, hat der Gesetzgeber seit der Schaffung des RStGB 1871 immerhin ein Jahrhundert lang das Wesen der Abtreibung (§218 a. F. StGB) in wechselnden Gesetzesfassungen - anfangs sinngemäß, schließlich auch wörtlich - in der „Abtötung einer Leibesfrucht" erblickt10. Und bis in die Mitte der 60er Jahre unseres Jahrhunderts sprach man einhellig von einer „Leibesfrucht" schon von der Vereinigung von Ei und Samenzelle an. Die biologische Station der Befruchtung bezeichnete also die Anfangszäsur des strafrechtlichen Lebensschutzes. Das änderte sich seit 1966 binnen weniger Jahre grundlegend. Humanbiologische Einsichten und darauf fußende rechtswissenschaftliche Überlegungen führten dazu, daß sich nunmehr die ganz überwie8 Zu dem inzwischen eingebürgerten Begriff „Zäsur" sowie zu den beiden anderen Zäsuren des strafrechtlichen Lebensschutzes - dem Überwechseln des Strafschutzes vom Schwangerschaftsabbruch auf die Tötungsdelikte sowie dem Ende dieses Strafschutzes vgl. meine Erläuterungen in JR 1971, S. 133 ff. und S. 309 ff. 9 Quellen-Nachw. bei Ebel in Rödig (Fn. 1), S. 338, Anm. 7. 10 §218 Abs. 1 SfGB in der ursprünglichen Fassung vom 15.5.1871 (RGBl. 1871, I, S. 127) lautete insoweit: „Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleib tötet, . . . " . Die Neufassung vom 18.5.1926 (RGBl. 1926, I, S.239) lautete: „Eine Frau, die ihre Frucht im Mutterleib oder durch Abtreibung tötet, . . . " . In der Fassung vom 18.3.1943 (RGBl. 1943, I, S. 169) hieß es dann: „Eine Frau, die ihre Leibesfrucht abtötet, . . . " . Diese Fassung blieb bis 1974 unberührt von den späteren Änderungen der §§ 218 ff. StGB (vgl. 3. StÄG vom 4. 8.1953 - BGBl. 1953,1, S. 735 - und l . S t r R G vom 25.6.1969 - BGBl. 1969, I, S.645 - ) . Zur Auslegung der wechselnden
F a s s u n g e n vgl. die N a c h w . in F n . 11.
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Genese und Probleme einer Legaldefinition
gende medizinische und juristische Lehre zu der Ansicht bekannte, von einer „Leibesfrucht" könne man erst nach der (vollendeten) Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutterschleimhaut der Frau sprechen. Die Gründe für diesen Auffassungswandel habe ich an anderer Stelle eingehend dargetan"; ich brauche sie hier nicht zu wiederholen. Mit dieser neuen Lehre war die Anfangszäsur des strafrechtlichen Lebensschutzes (von der Befruchtung) auf die biologische Station der Nidation hinausgeschoben. Vollzogen war dieser Wandel in der Rechtslehre schon Anfang der 70er Jahre, also bevor die umfassende Reform unseres Abtreibungsstrafrechts einsetzte. Damals bestand jedoch vielfach der Wunsch, daß eine Frage von solcher Bedeutung nicht nur wissenschaftlich geklärt, sondern im Interesse der Rechtssicherheit auch ausdrücklich klargestellt werde. Eine solche „Ratifizierung" des neuen Entwicklungsstandes der Strafrechtslehre 12 wäre sehr einfach gewesen; denn solange das Gesetz den objektiven Tatbestand der Abtreibung als „Abtöten einer Leibesfrucht" umschrieb, brauchte dem § 2 1 8 a. F. S t G B nur folgende Legaldefinition beigegeben zu werden": „Im Sinne dieses Gesetzes liegt eine Leibesfrucht vor, sobald die Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter abgeschlossen ist."
Damit wäre festgeschrieben gewesen, was nach der neuen Rechtsmeinung ohnehin galt: Die Anwendung von Mitteln und Verfahren zur Verhinderung der Nidation fiel aus dem Abtreibungstatbestand heraus 14 . Die Beseitigung von extrauterinen Schwangerschaften - ein früher schwieriges Rechtsproblem - erfüllte mangels Einnistung der Leibesfrucht in der Gebärmutter schon nicht den Tatbestand der Abtreibung; eines Rückgriffs auf Rechtfertigungsgründe bedurfte es nicht mehr 15 . Die bei der früheren Abstellung auf die Befruchtung intrikate Frage, ob eine „Leibesfrucht" auch bei einer Befruchtung in vitro vorliege, war gelöst 15 . Und da es bei der Tatbestandsumschreibung als „vorsätzliche Abtötung der Leibesfrucht" geblieben wäre, konnte die unter früheren Gesetzesfassungen entstandene, seit Generationen überwundene Frage, ob die aus ärztlicher Sicht notwendige Herbeiführung einer vorzeitigen Geburt ohne
11
Vgl. Lüttger,
Der Beginn des Lebens und das Strafrecht, J R 1969, S. 4 4 5 ff.
=
Beiträge zur gerichtlichen Medizin, Bd. X X V I I (1970), S. 23 ff. 12
Die Formulierung stammt von Stratenwerth
15
Vgl. Lüttger,
wie Fn. 1.
Zum Strafschutz des keimenden Lebens, in: 26.
Österreichischer
Ärztekongreß, Van-Swieten-Tagung Wien 1972, Tagungsbericht S. 11 ff. (28). 14
Vgl. Lüttger,
J R 1969, S . 4 5 3 .
15
Vgl. Lüttger,
J R 1969, S . 4 5 2 .
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H a n s Lüttger
Tötungsvorsatz unter §218 a. F. StGB falle16, nicht wieder aufleben, womit wir freilich bereits einen Blick auf das Ende des Leibesfruchtstadiums werfen. Es kam jedoch alles ganz anders.
B.
Schon der Regierungsentwurf eines 5. Strafrechtsreformgesetzes vom 9. Februar 197217 kündigte einen bedeutsamen Wandel an: Er nannte das Delikt nicht mehr „Abtreibung", sondern „Schwangerschaftsabbruch"; die Tathandlung umschrieb er nicht mehr als „Abtöten der Leibesfrucht", sondern als „Abbrechen der Schwangerschaft" (§218 Abs. 1 des RegE). Die Begriffe „Leibesfrucht" und „abtöten" wären damit aus der Gesetzessprache ausgemerzt gewesen. Zur Bezeichnung der Anfangszäsur des Strafschutzes schlug der Entwurf (in seinem §218 Abs. 5) folgende Definition vor: „Im Sinne dieses Gesetzes beginnt die Schwangerschaft, sobald die Einnistung des befruchteten Eies in der G e b ä r m u t t e r abgeschlossen ist."
Die Umbenennung in „Schwangerschaftsabbruch" konnte indessen nicht verschleiern, daß es sich nach wie vor um ein Tötungsdelikt handelte und daß sachlich nach wie vor nichts anderes als die Abtötung einer Leibesfrucht gemeint war18. Die Amtliche Begründung des Regierungsentwurfs umschrieb denn auch den Abbruch der Schwangerschaft als „jede Einwirkung auf die Schwangere oder auf die Leibesfrucht..., die das Absterben der Leibesfrucht im Mutterleib bewirken oder dazu führen soll, daß die Leibesfrucht in nicht lebensfähigem Zustand abgeht"". Damit hatte die Amtliche Begründung zur Umschreibung des „Schwangerschaftsabbruchs" Zuflucht bei einer akkuraten Wiedergabe der beiden seit jeher anerkannten Begehungsweisen der „Abtötung der Leibesfrucht" gesucht20. Die Begründung für den Wechsel in der Terminologie - der Begriff Abtötung sei unanschaulich; das allgemeine Sprachgefühl verbinde mit dem Wort „abtöten" andere Inhalte21 - war nichtssagend und geradezu unseriös: Generationenlang war der Begriff 16 Vgl. d a z u : Liittger, Geburtshilfe u n d M e n s c h w e r d u n g in strafrechtlicher Sicht, in: Festschrift f ü r H e i n i t z , 1972, S. 359 ff. (371-372), mit N a c h w . 17 Vgl. B R - D r u c k s . 58/72 = B T - D r u c k s . VI/3434. 18 Vgl. B V e r f G Bd. 39, S. 1 ff. (46); Gössel, A b t r e i b u n g als Verwaltungsunrecht?, J R 1976, S. I f f . " Vgl. B R - D r u c k s . 58/72, S. 13. 30 Vgl. d a z u : Lüttger, J R 1969, S.449, mit A n m . 60-64 dortselbst. 21 Vgl. B R - D r u c k s . 58/72, S. 12-13.
Genese und Probleme einer Legaldefinition
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„Abtöten der Leibesfrucht" nicht vom Sprachgefühl her angefochten worden. Die alte Fassung traf auch genau den Kern dessen, worum es geht, und war nach ihrem sachlichen Gehalt an Präzision kaum zu übertreffen 22 . D e r Wechsel in der Terminologie war nichts als eine unangebrachte Verharmlosung 23 . Abgesehen von dieser Kaschierung des Unrechtsgehalts der Tat bedeutete es im Rahmen unseres Themas keinen wesentlichen inhaltlichen Unterschied, wenn die im Regierungsentwurf vorgeschlagene Definition nicht den Beginn des Leibesfruchtstadiums, sondern den Beginn der Schwangerschaft umschrieb und dabei (gleichermaßen) an die biologische Station der Nidation anknüpfte. Denn mit der Festlegung des Schwangerschaftsbeginns auf die (vollendete) Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter wären die erwähnten Problemgruppen der Nidationsverhinderung, der extrauterinen Schwangerschaft und der Befruchtung in vitro gleichfalls schon durch den Gesetzestext geklärt gewesen. Daß die geburtshilfliche Herbeiführung einer vorzeitigen Geburt kein „Schwangerschaftsabbruch" sei, hätte sich dann freilich nicht - wie im alten Recht - schon unmittelbar zwingend aus der (vorgeschlagenen) Gesetzesfassung ergeben, sondern erst mittelbar durch Rückführung des Begriffsinhalts auf den tradierten Gehalt der Abtreibung 24 ; ersichtlich deshalb widmete die Amtliche Begründung dieser Klarstellung auch vorsorglich nähere Ausführungen 25 . Eine „Ächtung der Geburtshilfe" 2 6 hätte sich also wohl auch auf dem Boden dieses Definitionsvorschlags verhindern lassen. Eine Verbesserung des damals geltenden Rechts enthielt der Entwurf nach alledem nicht; es sollte jedoch noch schlimmer kommen.
22 So mit Recht: Lackner, Die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs, NJW 1976, 5. 1233 ff. (1235). 23 Vgl. dazu statt vieler: Maurach/Schroeder, Strafrecht, Besond. Teil, Teilbd. 1, 6. Aufl. 1977, S.60, 63, 64; Krey. Strafrecht, Besond. Teil, B d . l , 4. Aufl. 1979, S.57. 24 Treffend dazu: Bockelmann, Strafrecht, Besond. Teil/2, 1977, S. 33. 25 Vgl. BR-Drucks. 58/72, S. 13: Die Behandlung ziele hier auf die bestimmungsgemäße Vollendung der Schwangerschaft ab, nicht auf ihren Abbruch. - Daß eine rein sprachliche Argumentation nicht überzeugt, hat Bockelmann (Fn. 24) dargetan. Zur Frage der „Handlungstendenz" vgl. Fn. 42. 26 Vgl. dazu: Lüttger, in Festschrift für Heinitz, 1972, S.372, mit Anm.46 dortselbst.
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H a n s Lüttger
C.
Das nach einer geradezu turbulenten parlamentarischen Beratung 27 verabschiedete 5. Strafrechtsreformgesetz vom 18. Juni 197428 verzichtete auf eine solche Legaldefinition und umschrieb statt dessen den Tatbestand des Schwangerschaftsabbruchs (in §218 Abs. 1 StGB) wie folgt: „Wer eine Schwangerschaft später als am 13. Tage nach der Empfängnis abbricht, wird . . . bestraft."
Damit war an die Stelle der zunächst geplanten materiell-rechtlichen Begriffsbestimmung des Schwangerschaftsbeginns eine formelle Fristsetzung für die Tathandlung getreten, um die Frühphase zwischen Befruchtung und Nidation aus dem Tatbestand des Schwangerschaftsabbruchs herauszunehmen. Diese Gesetzesfassung hatte schwere Mängel: Schon sprachlich war die Neufassung mißglückt 2 '. Strafbarkeit des Abbruchs „einer Schwangerschaft später als am 13. Tage nach der Empfängnis" bedeutete - umgekehrt gesendet - ^Straflosigkeit des Abbruchs „einer Schwangerschaft bis einschließlich des 13. Tages nach der Empfängnis". Die Neufassung gab also der Auslegung Raum, daß begrifflich eine „Schwangerschaft" schon von der Empfängnis an vorliege30, obgleich die der Novelle zugrundeliegende neue Rechtsansicht doch erst nach der Nidation von „Schwangerschaft" spricht. Ein solches Mißverständnis konnte sich sinnwidrig bei allen gesetzlichen Vorschriften auswirken, die - hinsichtlich der Beratung der Schwangeren, der Begutachtung der Abbruchsvoraussetzungen, der Werbung für Abbruchmittel und deren Inverkehrbringen - den Terminus „Schwangerschaft" ohne eine derartige zeitliche Eingrenzung verwendeten 31 ; denn nun drohte die Gefahr, daß dort unter dem Abbrechen der Schwangerschaft auch eine Handlung vor dem 14. Tage seit der Empfängnis verstanden werde, während diese Vorschriften doch sämtlich ebenfalls
27 Vgl. z u m Hergang des Gesetzgebungsverfahrens : Fezer, Z u m gegenwärtigen Stand der R e f o r m des §218 StGB, G A 1974, S . 6 5 f f . ; J u n g , Reform des §218 StGB durch Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, JuS 1974, S.601 ff. 28 BGBl. 1974, I, S. 1297. - Vgl. als „Vorläufer" die Formulierungen in BT-Drucks. VI/3137 und 7/375: „Wer in der Zeit zwischen dem 14. Tag und dem Ende des dritten Monats nach der Empfängnis die Schwangerschaft abbricht, . . . " . Wie im späteren Gesetzestext dann schon BT-Drucks. 7/1981 und 7/1981 (neu). 29 Außer Betracht bleiben soll hier, daß es problematisch war, den Begriff „Empfängnis" zu verwenden, solange nicht allseits Einigkeit darüber besteht, daß darunter die Vereinigung von Ei und Samenzelle, also die Befruchtung zu verstehen ist; vgl. dazu: Maurach/Schroeder (Fn.23), S.65. 30 Vgl. BT-Drucks. 7/4696, S. 13; Blei, JA 1976, S. 531 ; derselbe, Strafrecht II. Besond. Teil, 11. Aufl. 1978, S.32. 51 Vgl. §5 218 c, 219, 219 a, 219 b StGB i . d . F . des 5.StrRG.
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erst dem Schutz des werdenden Lebens nach dem 13. Tage seit der Empfängnis gelten sollten32. Vor allem aber war die Fixierung auf den 13. Tag nach der Empfängnis viel zu grobschlächtig und die Ursache dogmatischer Ungereimtheiten. Zwar ist die Nidation in der Regel am 13. Tage nach der Empfängnis abgeschlossen; indessen kann dies auch einige Tage davor oder kurz danach der Fall sein33. Das Gesetz „unterstellte" jedoch generell am 13. Tage den Abschluß der Nidation 34 ; das hatte die Wirkung einer unwiderleglichen Vermutung 35 . Die formelle Fristregel Schloß somit die Frühphase bis einschließlich des 13. Tages seit der Empfängnis - aber auch nur diese - schlechthin aus dem Tatbestand aus, gleichgültig, wann die Nidation wirklich stattfand36. Und da die zwingende gesetzliche Fristregel weder eine zeitliche Einengung noch eine zeitliche Ausdehnung durch Rückgriff auf materielle Erwägungen gestattete, waren die Folgen für den Fall einer Diskrepanz zwischen den biologischen Fakten und der gesetzlichen Terminierung vorprogrammiert: Wenn in concreto der Abschluß der Nidation vor dem 14. Tage seit der Empfängnis lag, so war ein Abbruch der dann ja tatsächlich schon vorliegenden Schwangerschaft bis zur Vollendung des 13. Tages gleichwohl tatbestandslos36. Wenn jedoch de facto der Abschluß der Nidation erst nach dem 13. Tage seit der Empfängnis eintrat, so mußte eine nach dem 13. Tage erfolgende, aber noch rechtzeitige Nidationsverhinderung in den Bereich strafrechtlicher Relevanz geraten37. Zumindest letzteres hatte der Gesetzgeber nicht gewollt, beides aber angerichtet. Gewiß, der ominöse 13. Tag ist - wie
52 Vgl. zu dieser Befürchtung: BT-Drucks. 7/4696, S. 13; Laußiitte/Wilkitzki, Zur Reform der Strafvorschriften über den Schwangerschaftsabbruch, JZ 1976, S. 329; MüllerEmmert, Die Vorschriften des 15.StÄG über den Schwangerschaftsabbruch, DRiZ 1976, S. 164ff. (165); Dreher/Tröndle, 39. Aufl. 1980, Rdz.4 zu §218. - Daß einzelne Autoren bereits eine solche sinnwidrige Auslegung zu vermeiden suchten (vgl. die Nachw. bei: Schänke! Schröder! Eser, 20. Aufl. 1980, Rdz.2 zu §219d), Schloß eine derartige Fehlentwicklung (etwa bei Beratungs- und Gutachterstellen) nicht sicher aus. 33 Vgl. dazu die Gutachten in den Niederschriften über das Hearing in der 74., 75. und 76. Sitzung des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform des VI. Deutschen Bundestages (im folg.: BT-SA.Prot.) vom 10., 11. und 12.April 1972, Prot. VI/2141 ff.; ferner BTSA.Prot. 7/2433 f.; BT-Drucks. 7/4696, S. 13. - Aus der Literatur etwa: Langmann, Medizinische Embryologie, 4. Aufl. 1976, S. 43; Martius, Lehrbuch der Geburtshilfe, 9. Aufl. 1977, S. 13; Laußütte/Wilkitzki, JZ 1976, S.330. 34 Vgl. zu dieser „Unterstellung": BT-Drucks. VI/3137, S.3, und 7/375, S.6. 35 Vgl. R. Schmitt, Überlegungen zur Reform des Abtreibungsstrafrechts, JZ 1975, S. 356 ff. (357). 36 Vgl. dazu: Schönke/Schröder! Eser, 18. Aufl. 1976, Rdz. 13 der Vorbem. vor §§218 ff. 37 Vgl. BT-SA.Prot. 7/2434; BT-Drucks. 7/4696, S. 13.
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später noch näher dargetan wird - in der Regel nicht exakt feststellbar 38 und f ü r die Abweichungen zwischen diesem gesetzlichen Stichtag und dem tatsächlichen Abschluß der Nidation gilt nichts anderes. Auch hätten vorsatzausschließende Tatbestandsirrtümer über das gesetzliche Merkmal „später als am 13.Tage nach der Empfängnis" 3 9 die biologischen Differenzierungen im Umfeld dieses Stichtags praktisch weiter „eingeebnet". Ein solches Uberspielen machte jedoch den Fehler in der gesetzlichen Konzeption nicht ungeschehen. Die Mängel der Gesetzesfassung betrafen aber nicht nur die Fallgruppe der Nidationsverhinderung. Zwar blieb auch jetzt der Fall einer Befruchtung in vitro unproblematisch, weil es hier an einer Schwangerschaft fehlt, solange das in vitro befruchtete Ei nicht bei einer Frau implantiert wird 40 . Aber der schon f ü r gelöst gehaltene Fall der extrauterinen Schwangerschaft wurde wieder zweifelhaft 41 , weil die Neuregelung nicht mehr von einer „Einnistung in der Gebärmutter" sprach. Immerhin nahm die herrschende Lehre - wenn auch mit unterschiedlicher Begründung - weiterhin an, daß die geburtshilfliche Herbeiführung einer vorzeitigen Geburt nicht unter den Tatbestand falle42. „Corriger le malheur" war bei alledem ja auch wohl das Gebot der Stunde.
D. Die geschilderte Gesetzesfassung galt jedoch nicht lange. Als das Bundesverfassungsgericht durch Urteil vom 25. Februar 197543 wesentliche Teile der Reform des neuen Abtreibungsstrafrechts für verfassungswidrig erklärte, benutzte der Gesetzgeber die dadurch notwendig gewor-
38 Vgl. B T - S A . P r o t . 6/2156, 2167, 2171, 2177, 2318; 7/2433-2434; Dreher, 36. Aufl. 1976, R d z . 4 zu § 2 1 8 ; Schönke/Schröder/Eser wie F n . 36; R. Schmitt wie Fn. 35. - D a r ü b e r , daß auch der Z e i t p u n k t des Nidationsabschlusses in der Regel nicht sicher feststellbar ist, vgl. unten zu u. mit F n . 6 2 . - Z u m G a n z e n näher unten Abschnitt D III. 39 Vgl. zu diesem T a t b e s t a n d s i r r t u m : Dreher (Fn.38), R d z . 9 zu § 2 1 8 ; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 36), R d z . 49 zu §218. 40 Im Ergebnis ebenso: Dreher (Fn. 38), R d z . 3 zu § 2 1 8 : „lebende F r u c h t im weiblichen Schoß, nicht in einer Retorte". 41 Vgl. Dreher (Fn. 38), R d z . 3 zu § 218. - Die meisten zu § 218 StGB i. d. F. des 5. S t r R G erschienenen K o m m e n t i e r u n g e n übergingen dieses Problem mit Stillschweigen. 42 Vgl. Dreher (Fn.38), R d z . 6 zu § 2 1 8 ; Lackner, lO.Aufl. 1976, A n m . 2 a zu § 2 1 8 ; derselbe, N ] W 1976, S. 1235; Schönke/Schröder./Eser (Fn. 36), R d z . 5 zu § 218. - W e n n die Literatur (insbesondere Lackner u n d Eser, a. a. O . ) dabei im Anschluß an B R - D r u c k s . 58/ 72, S. 13, argumentierte, es fehle hier an der (vermeintlich nötigen) „ H a n d l u n g s t e n d e n z " , so ist dieser Ansatz nicht unbestritten geblieben (vgl. Maurach/Schroeder, F n . 23, S. 66). Es b e d u r f t e dessen aber auch nicht (vgl. den Text oben zu u. mit F n . 2 4 u. 25). 43 B V e r f G E Bd. 39, S. 1 ff.
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dene Novelle, um auch den Anfang der Strafbarkeit wegen Schwangerschaftsabbruchs neu zu formulieren. Das 15. Strafrechtsänderungsgesetz vom 18. Mai 1976 44 strich die erwähnte formelle Fristregel und brachte (nun als § 2 1 9 d S t G B ) folgende - seither unverändert geltende - Legaldefinition: „Handlungen, deren Wirkung vor Abschluß der Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter eintritt, gelten nicht als Schwangerschaftsabbruch im Sinn dieses Gesetzes."
Damit ist an die Stelle der starren Fristregel wieder eine materiellrechtliche Definition getreten, die an die biologisch-medizinischen Fakten der Nidation anknüpft; es ist freilich eine Definition ganz anderer Art, als sie im Regierungsentwurf eines 5. Strafrechtsreformgesetzes vorgeschlagen worden war: Das Gesetz definiert nicht mit Hilfe der Nidation den Beginn der Schwangerschaft, sondern engt den Bereich der Tathandlung ein, indem es aus dem Begriff des „Schwangerschaftsabbruchs" alle vor dem Abschluß der Nidation wirkenden Handlungen aussondert 45 .
I. Diese Fassung ist sprachlich nicht voll geglückt; das hat unnötige Auslegungsfragen zur Folge: D e r (insoweit) farblose Text meint nicht „irgendeine" - etwa nur nidationsverzögernde - Wirkung, sondern eine solche Wirkung, die in der Verhinderung des Nidationsabschlusses und damit in der Abtötung des zwar schon befruchteten, jedoch noch nicht in der Gebärmutter fertig eingenisteten Eies besteht 46 . - Daß diese vor dem Abschluß der Nidation wirkenden Handlungen lediglich nicht als Schwangerschaftsabbruch „gelten", kann (wieder) dem Mißverständnis Vorschub leisten, daß an sich schon vor der Nidation (im Rechtssinne) von - wenn auch straflosem - „Schwangerschaftsabbruch" die Rede sein könne; das mag
BGBl. 1976, I, S. 1213. Man kann daher von einer „negativen Legaldefinition" sprechen; so Schänke/ Schröder/Eser (Fn.32), Rdz. 6 zu §219d. 46 Vgl. Schänke/Schröder!Eser (Fn. 32), Rdz. 4 zu § 219 d. - Erst recht ist nicht eine nur empfängnisverhütende Wirkung gemeint, da die Empfängnisverhütung außerhalb der Reichweite des Tatbestands liegt; näher dazu: Schänke/Schröder/Eser (Fn.32), Rdz. 3 zu §219 d. 44
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durchaus zu unerwünschten Irrtumsproblemen führen47. - Die Definition, die nicht (mehr) die „Schwangerschaft" mit Hilfe ihrer Anfangszäsur in der Gebärmutter „lokalisiert", sondern von Wirkungen spricht, die zeitlich vor der Nidation eintreten, taugt sprachlich auch nicht unmittelbar zum Ausschluß der extrauterinen Schwangerschaft aus dem Tatbestand 48 . Doch muß aus dem Umstand, daß es bei der extrauterinen Schwangerschaft niemals zu einer Einnistung in der Gebärmutter und daher auch nicht zu jenem Zustand kommt, den die der neuen Gesetzesfassung - nunmehr expressis verbis - zugrundeliegende Lehre als „Schwangerschaft" begreift, geschlossen werden, daß extrauterine Schwangerschaften ausscheiden49,50. Wichtiger als solche Auslegungsfragen ist jedoch folgendes:
II. Der Ersatz der früheren starren Fristregel durch die jetzige materiellrechtliche Definition ist nicht - wie vereinzelt angenommen wurde51 -
47 Vgl. Gössel, J R 1976, S. 2. - S. auch Schänke./Schröder/Eser (Fn. 32), Rdz. 7 zu § 218, wo auf die Möglichkeit von Divergenzen zwischen normativem Regelungsbereich und abweichendem außerstrafrechtlichem Sprachgebrauch hingewiesen wird. Daß eine Schwangerschaft erst von der Nidation an vorliegt, entspricht jedoch seit Jahren zunehmend auch der medizinischen Terminologie, von der ja auch Anstöße zur strafrechtlichen Neubesinnung kamen; vgl. die Nachw. bei Lüttger, J R 1969, S.450 mit Anm. 68-69 dortselbst; ferner: Husslein, Verhütung oder vorzeitige Beendigung einer Schwangerschaft?, in: 26. Österreichischer Ärztekongreß, Van-Swieten-Tagung Wien 1972, Tagungsbericht S.31 ff.; Gesenius, Empfängnisverhütung, 3. Aufl. 1970, S. 102.
Daher nach wie vor zweifelnd: Dreher/Tröndle (Fn. 32), Rdz. 3 zu §218. Im Ergebnis ebenso: Maurach/Schroeder (Fn. 23), S. 65; Rudolphi in: Systematischer Kommentar (SK), Rdz. 2 zu §218; Schänke/Schröder/Eser ('n. 32), Rdz. 4 a zu §218. - Daß bei extrauteriner Schwangerschaft, wie Eser a. a. O. betont, ggf. ein untauglicher Versuch in Betracht komme, mag theoretisch richtig sein, ist aber bei ärztlichem Handeln praktisch kaum vorstellbar; der Arzt müßte ja irrtümlich eine „normale" Schwangerschaft und damit ein taugliches Handlungsobjekt ( = eine in der Gebärmutter eingenistete Frucht) annehmen! Sollte der Täter jedoch irrig glauben, die Beseitigung einer (erkannten) extrauterinen Schwangerschaft sei strafbar, so läge ein Wahndelikt vor. 50 Der Vollständigkeit halber sei hier angefügt, daß die Rechtslehre auch unter der Neufassung aus den früher geschilderten Gründen einmütig der Ansicht blieb, daß ein in vitro befruchtetes Ei als Tatobjekt ausscheidet [vgl. Dreher/Tröndle (Fn. 32), Rdz. 3 zu §218; Schänke/Schröder/Eser (Fn.32), R d z . 4 a zu §218] und daß die geburtshilfliche Herbeiführung einer vorzeitigen Geburt keinen Schwangerschaftsabbruch darstellt [vgl. Lackner, 13.Aufl. 1980, A n m . 2 a zu §218; Dreher/Tröndle (Fn.32), Rdz.6 zu §218; Maurach/Schroeder (Fn.23), S.66; Schönke/Schröder/Eser (Fn.32), Rdz. 5 zu §218; Rudolphi in SK, Rdz. 3 zu §218], 51 Vgl. BT-SA.Prot. 7/2433; Lackner, N J W 1976, S. 1236. 48
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nur eine technische Änderung ohne sachliche Bedeutung; die Novelle hat vielmehr durchaus einige Klärungen bewirkt. So kann trotz der spröden Fassung nicht mehr zweifelhaft sein, daß für die Frühphase bis zum Nidationsabschluß allenthalben („im Sinne dieses Gesetzes") dieselben Einschränkungen des Begriffs „Schwangerschaftsabbruch" gelten. Die bei der früheren Fassung befürchteten terminologischen Divergenzen zwischen §218 StGB einerseits und den übrigen Vorschriften andererseits können also nicht mehr auftreten 52 . Diskrepanzen, wie sie zwischen der früheren starren Fristregel und dem tatsächlichen Abschluß der Nidation mit der Folge rechtlicher Unlösbarkeit denkbar waren, gehören ebenfalls der Vergangenheit an. Denn aus dem Tatbestand fallen alle - aber auch nur solche - Handlungen heraus, deren Wirkung vor dem Abschluß der Nidation eintritt, gleichgültig, wann der potentielle Nidationszeitpunkt sein würde 53 . Dabei stellt das Gesetz nicht auf die Art der Maßnahme, sondern nur auf ihre nidationsverhindernde Wirkung ab54. Daraus ergibt sich ein Mehrfaches: 1. Werden sog. reine Nidationshemmer - also Mittel und Verfahren, die ein bereits eingenistetes Ei gar nicht mehr beeinträchtigen können angewandt, um eine möglicherweise noch nicht erfolgte Nidation zu verhindern, so ist dies selbst dann straflos, wenn die Nidation in Wirklichkeit bereits abgeschlossen war55; insoweit besteht also kein strafrechtliches Risiko mehr. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn der Täter irrig glaubt, eine solche Anwendung eines reinen Nidationshemmers sei strafbar; denn dies wäre ein Wahndelikt 56 . Dennoch ist die landläufige Ansicht, daß bei der Anwendung von reinen Nidationshemmern eine Strafbarkeit schlechthin undenkbar sei, unzutreffend. Will der Täter nämlich eine Entnistung bewirken und verwendet er dazu einen reinen Nidationshemmer, den er infolge von tatsächlichen Fehlvorstellungen über dessen Wirkungsweise für ein Abortivmittel hält, so liegt ein untauglicher Versuch des Schwangerschaftsabbruchs vor, der lediglich für die Schwangere selbst nicht straf52 Vgl. die N a c h w . in Fn.32; ferner: Maurach/Schroeder (Fn.23), S. 65; Scbönke/ Schröder/Eser (Fn.32), R d z . 6 zu § 2 1 9 d ; Rudolphi in SK, R d z . l zu § 2 1 9 d . 5Î Vgl. BT-SA.Prot. 7/2433-2434; BT-Drucks. 7/4696, S. 13. 54 Vgl. Schönke/Schröder/Eser (Fn.32), R d z . 4 zu § 2 1 9 d . - Der Vorschlag, Mittel, die nur die Einnistung verhindern, (als solche, ihrer Art nach) auszunehmen, ist in den parlamentarischen Beratungen erörtert, aber nicht akzeptiert worden; vgl. BT-SA.Prot. 7/ 2434. 55
Vgl. die N a c h w . in Fn. 53; ferner: Schönke/Schröder/Eser (Fn. 32), Rdz. 5 zu § 219 d; Rudolphi in SK, Rdz. 2 zu § 2 1 9 d . 56 Vgl. dazu : Schönke/Schröder/Eser (Fn. 32), Rdz. 32 zu § 218; Lackner (Fn. 50), Anm. 5 zu §218.
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bar ist (§218 Abs. 4 S. 2 StGB). Die strafrechtliche Relevanz dieses Verhaltens ist die Folge davon, daß das Gesetz nicht bestimmte Mittel ihrer Art nach von einer Anwendung des §218 StGB ausschließt" und daß § 219 d StGB nur die Sicherung der Straflosigkeit einer Nidationsverhinderung - also einer „Schwangerschaftsverhütung" - bezweckt 58 , jedoch darüber hinaus nicht in die Voraussetzungen der Strafbarkeit wegen „Schwangerschaftsabbruchs" eingreift und folglich die dafür geltenden allgemeinen Regeln - einschließlich der Grundsätze über die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs - unberührt läßt. Daraus folgt, daß §219 d StGB auch bei Anwendung reiner Nidationshemmer Straflosigkeit nur demjenigen sichert, der damit - gleichgültig, ob de facto noch rechtzeitig - eine Einnistung verhindern will59, nicht aber demjenigen, der damit - wenn auch auf untaugliche Weise - eine Entnistung herbeizuführen sucht. 2. § 219 d StGB gestattet jedoch eine Nidationsverhinderung nicht nur durch Anwendung reiner Nidationshemmer, sondern auch durch Einsatz solcher Mittel und Verfahren, die - bis hin zur (vorsorglichen) Ausschabung - an sich auch abortiv wirken könnten. Die Anwendung solcher ambivalent wirkender Maßnahmen fällt jedoch, wie Wortlaut und Sinn des § 219 d StGB zeigen, nur dann aus dem objektiven Tatbestand des §218 StGB heraus, wenn sie ihre Wirkung tatsächlich vor Nidationsabschluß entfalten, also nicht in Wirklichkeit eine bereits eingenistete Frucht abtöten60. N u n besteht bei manchen heute praktizierten Mitteln und Verfahren noch Unsicherheit darüber, ob sie nur nidationsverhindernd oder auch abortiv wirken können 61 ; aber es ist wie später noch näher erörtert wird - in aller Regel auch kaum möglich, den Zeitpunkt des Nidationsabschlusses genau festzustellen62. Bei der Wertung dieses Befundes wollen wir die Schwierigkeit, für den kritischen zeitlichen Umkreis um den potentiellen Nidationszeitpunkt den 57
Vgl. die Nachw. in Fn. 54. Vgl. die Nachw. in Fn.53. 59 Treffend zum subjektiven Tatbestand hinsichtlich des §219d StGB: Blei, JA 1976, S. 531. 60 Vgl. BT-SA.Prot. 7/2434; Schänke/Schröder/Eser (Fn. 32), R d z . 4 zu § 2 1 9 d ; im Ergebnis ebenso: Lackner (Fn. 50), A n m . 2 d zu §218; derselbe, N J W 1976, S. 1236; ebenso, aber in sich widersprüchlich: Dreher/Tröndle (Fn. 32), Rdz.4 zu §218; unklar: Maurach/Schröder (Fn. 23), S. 65. - Damit hat die Neufassung eine Auslegung gesetzesfest gemacht, die sich bereits unter früheren Entwürfen und Gesetzesfassungen abzeichnete; vgl. BR-Drucks. 58/72, S. 15-16; Dreher (Fn.38), Rdz.4 zu §218. 61 Vgl. dazu: BR-Drucks. 58/72, S. 15-16; BT-SA.Prot. VI/2151, 2318; 7/2434. 62 Vgl. BT-SA.Prot. VI/2171, 2177, 2318; 7/2434; Schänke/Schröder/Eser (Fn.32), Rdz.5 zu § 2 1 9 d ; Rudolphi in SK, Rdz.2 zu §219d; Maurach/Schroeder (Fn.23), S.65; Lackner (Fn. 50), A n m . 2 d zu §218. 58
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objektiven Tatbestand einer Entnistung - und damit eines vollendeten Schwangerschaftsabbruchs - nachzuweisen, ganz beiseite lassen. Wichtiger sind hier die Konsequenzen, die sich bei der Anwendung von (wirklich oder möglicherweise) ambivalent wirkenden Mitteln und Verfahren in der erwähnten Phase aus der Ungewißheit über den tatsächlichen Nidationszeitpunkt für den subjektiven Tatbestand ergeben: Glaubt der Täter, daß die Nidation noch nicht abgeschlossen sei, nimmt er also (schon deshalb) an, daß seine Handlung nur nidationsverhindernd wirke, so befindet er sich in einem vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum 63 . Strafbar ist der Täter hier - je nach Sachlage wegen vollendeten oder versuchten Schwangerschaftsabbruchs 64 - nur dann, wenn er umgekehrt (zumindest) damit rechnet, daß die Nidation möglicherweise schon abgeschlossen sei, und wenn er für diesen Fall (auch) eine Entnistung in Kauf nimmt 65 . Fehlt es daran, so bleibt die Handlung ohne strafrechtliche Folgen, selbst wenn es tatsächlich zu einer Entnistung kommt. Auf diese Differenzierung des strafrechtlichen Risikos bei Anwendung von ambivalent wirkenden Mitteln in jener objektiv unklaren Grenzsituation wird in anderem Zusammenhang noch einmal einzugehen sein.
III. Mit dieser Schilderung der Struktur der neuen Regelung ist zugleich der Boden bereitet, um die jetzt geltende Gesetzesfassung gegen einige unberechtigte Angriffe in Schutz zu nehmen. 1. Zum einen hat man der Neufassung vorgeworfen, sie habe verglichen mit der früheren formellen Fristregel - medizinisch-biologische Genauigkeit mit einem Verlust an Praktikabilität erkauft 66 . D e r Vorwurf ist in dieser Form nicht haltbar; bei seiner Würdigung sind die Regelsituation und deren mögliche Ausnahmen zu unterscheiden. a) Beide Anknüpfungspunkte - der 13. Tag nach der Empfängnis ebenso wie der Zeitpunkt des tatsächlichen Nidationsabschlusses - sind in aller Regel einer exakten Feststellung entzogen 67 und können gleichermaßen regelmäßig nur annähernd durch eine auf medizinischen Erfah63 Vgl. Rudolphi in SK, Rdz. 12 zu §218; Schönke/Schröder/Eser (Fn.32), Rdz.27 zu §218; Dreher/Tröndle (Fn.32) Rdz.9 zu §218. 61 Der Versuch der Schwangeren selbst ist straflos, §218 Abs. 4 S.2 StGB. 65 Vgl. Schönke/Schröder/Eser (Fn.32), Rdz.32 zu §218 u. Rdz.2 zu § 2 1 9 d ; Blei, JA 1976, S. 531. - Der Streit um die „richtige" Formel für den bedingten Vorsatz muß auf sich beruhen; näher zum Ganzen unten Abschnitt D III 2 a, bes. zu u. mit Fn. 77. 66 So Schönke/Schröder/Eser (Fn.32), Rdz.2 zu §219d. 67 Vgl. die Nachw. in Fn. 38 u. 62.
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rungen basierende Rückrechnung ermittelt werden, die wie folgt vor sich geht: Auszugehen ist vom Ende der letzten Menstruation; etwa 2 Wochen danach wird der (meist ebenfalls nicht exakter fixierbare) Zeitpunkt der Empfängnis angenommen; der 13. Tag danach ist dann zugleich der durchschnittliche Termin des Nidationsabschlusses; eine Zusammenrechnung beider Zeitabschnitte ergibt, daß in beiden Fällen regelmäßig die ersten 4 Wochen seit dem Ende der letzten Menstruation aus dem Tatbestand des Schwangerschaftsabbruchs ausscheiden68. Und selbst wenn man wegen der (nicht ausschließbaren) Möglichkeit, daß der tatsächliche Nidationsabschluß auch noch geringfügig nach dem 13. Tage seit der Empfängnis liegen kann69, unter der Geltung der jetzigen Gesetzesfassung jene 4-Wochen-Frist mit Rücksicht auf die forensischen Beweisanforderungen um (maximal) 2 Tage verlängern wollte, so würde sich dadurch in methodischer Hinsicht gar nichts ändern und die Praktikabilität einer so verlängerten Frist wäre um nichts geringer als diejenige der 4-Wochen-Frist. b) Nun ist jedoch vorstellbar, daß einmal Besonderheiten des Einzelfalles eine präzisere Feststellung des tatsächlichen Nidationsabschlusses ermöglichen könnten. Dann wäre in der Tat nicht jene Durchschnittsberechnung, sondern diese exakte Feststellung entscheidend70. Wir wollen auch unterstellen, daß dieser Fall schon beim gegenwärtigen Stande der Medizin nicht nur reine Theorie sei und daß er bei weiteren Fortschritten der medizinischen Forschung sogar erhebliche praktische Bedeutung gewinnen würde. Das hätte dann zur Folge, daß jene summarische Berechnung nur „hilfsweise" gelten und immer weiter zugunsten einer im konkreten Fall zutreffenden Feststellung zurückgedrängt würde; solche Feststellungen dürften dann auch mehr Aufwand als die erwähnte Durchschnittsberechnung erfordern71. Wer daran aber im Ernst nur den
68 Ebenso zur früheren Gesetzesfassung: Schänke/Schröder/Eser ( F n . 3 6 ) , Rdz. 13 der Vorbem. vor §§ 218 ff., und zur heutigen Gesetzesfassung: Schänke/Schröder/Eser (Fn. 32), Rdz. 5 zu § 2 1 9 d. Im Ergebnis übereinstimmend: Rudolphiin SK, R d z . 2 zu § 2 1 9 d; Lackner ( F n . 5 0 ) , A n m . 2 d zu § 2 1 8 . - Zu den biologisch-medizinischen Prämissen vgl. etwa: Langmann ( F n . 3 3 ) , S . 2 2 f f . u. 3 6 f f . ; Martius ( F n . 3 3 ) , S. 19ff. u. 36ff.
"
Vgl. die N a c h w . in F n . 3 3 .
Vgl. zu verwandten Überlegungen: Schönke/Schröder/Eser (Fn. 32), Rdz. 5 zu § 2 1 9 d. 71 Es ist übrigens noch gar nicht ausgemacht, daß Staatsanwalt und Strafrichter unter der Geltung einer formellen Fristregel ohne Zuziehung eines medizinischen Sachverständigen einfach auf Grund von Angaben über das angebliche Ende der letzten Menstruation die 4-Wochen-Durchschnittsfrist berechnen dürften. Juristen sollten sich nicht anmaßen, etwa mögliche medizinische Auffälligkeiten von vornherein durch Rechenexempel unterzupflügen; das verbietet schon die Amtsaufklärungsmaxime. Dann wäre aber der im Text gemeinte zusätzliche forensische Aufwand wohl nicht erheblich, denn es käme nur eine weitere Sachverständigenfrage hinzu. 70
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„Praktikabilitätsverlust" beklagen wollte, müßte schon ein schematisierendes, flottes Verfahren höher werten als eine materiell zutreffende Entscheidung; das wäre ein kaum noch einfühlbares Strafrechtsverständnis. In unserer gedachten Fallgruppe ist es eben genau umgekehrt, als der Vorwurf will: Die formelle Fristregel würde hier „Praktikabilität" mit dem Verlust der Möglichkeit zu biologisch-medizinisch richtiger Entscheidung erkaufen 72 . Demgegenüber ist es ein entscheidender Vorzug des § 219 d S t G B , daß er offen für die Einsichten neuer Forschungen ist. c) Vorstellbar ist jedoch auch noch eine andere Fallkonstellation: Unterstellen wir, der medizinische Befund mache es für den Arzt sicher, daß es bei der Anwendung eines ambivalent wirkenden Mittels noch nicht später als der 11. oder höchstens 12. Tag nach der Empfängnis ist, aber nicht sicher, ob nicht zu diesem Zeitpunkt schon die Nidation abgeschlossen ist. In diesem angenommenen Fall wirkt sich der Unterschied zwischen den beiden erörterten gesetzlichen Modellen drastisch aus: Unter der Geltung der früheren formellen Fristregel hätte der Arzt hier das auch abortiv wirkende Mittel ohne jedes strafrechtliche Risiko bis zur Vollendung des 13. Tages nach der Empfängnis einsetzen können, auch auf die Gefahr hin, daß es dadurch möglicherweise zu einer Entnistung gekommen wäre73. Der „rechtzeitig" terminierte Einsatz des Abortivmittels wäre hier sogar dann strafrechtlich völlig risikolos gewesen, wenn der Arzt auf Grund besonderer medizinischer Umstände sicher gewußt hätte, daß die Nidation schon abgeschlossen war, wenn er also gezielt unter Ausnutzung der gesetzlichen Frist vor dem Ende des 13. Tages eine tatsächlich bereits bestehende Schwangerschaft beseitigt hätte. Spätestens bei dieser Überlegung zeigt sich aber, daß die frühere starre Fristregel in dieser Fallgruppe - für ein unbefangenes, nicht durch die Trauer um gescheiterte Fristenmodelle getrübtes Rechtsgefühl - nur eine „Praktikabilitäts-Verirrung" war, deren Beseitigung ein besonderes Verdienst des Gesetzgebers ist. Mit der Einführung der jetzigen materiellrechtlichen Definition ist unsere Fallgruppe freilich aus dem soeben geschilderten strafrechtlichen „Freiraum" in den Bereich strafrechtlicher Relevanz getreten. Dabei wollen wir den - heute noch eher theoretischen - Fall beiseite lassen, daß 72
Diese prinzipielle Möglichkeit zu richtiger Einzelfallentscheidung ist in rechtsstaatli-
cher Sicht auch dann bedeutsam, wenn ihre praktische Auswirkung wegen der Schwierigkeit, bei einer Abweichung des tatsächlichen Nidationszeitpunktes von jener Durchschnittsregel den subjektiven Tatbestand zu beweisen, (vorerst noch) gering ist. Die Frage der prozessualen Beweisbarkeit der Tat muß ohnehin von der Frage einer dogmatisch einwandfreien Konzipierung des Tatbestands unterschieden werden. 73
Vgl. dazu den Text oben zu u. mit Fn. 36.
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der Arzt im sicheren Wissen, daß die Nidation schon vollendet ist, an dem gedachten 11. oder 12. Tag nach der Empfängnis ein auch abortiv wirkendes Mittel einsetzt; hier läge heute ein strafbarer, mit direktem Vorsatz begangener Schwangerschaftsabbruch vor. Praktisch bedeutsam ist vorerst nur der andere Fall der Unsicherheit des tatsächlichen Nidationseintritts im genannten kritischen Zeitraum; auch hier kann heute eine strafrechtliche Haftung des Arztes beim Einsatz ambivalent wirkender Mittel eingreifen; sie hängt aber - wie früher näher erörtert 74 - davon ab, ob der Arzt hinsichtlich der möglichen Entnistung mit bedingtem Vorsatz handelt oder nicht. Und damit leitet unser Beispiel zu einem anderen gegen die jetzige Fassung des Gesetzes erhobenen Einwand über. 2. Man hat nämlich auch das strafrechtliche Risiko, dem der Arzt auf dem Boden der materiallrechtlichen Definition ausgesetzt sei, beklagt75: Zeitlichen Spekulationen sei der Arzt im Grunde nur bei reinen Nidationshemmern enthoben. Wenn ihm dagegen lediglich ein u. U. auch abortiv wirkendes Verfahren - wie etwa eine Ausschabung - bleibe, dann könne er diesen Weg nur wählen, wenn er aufgrund entsprechender zeitlicher Berechnungen die Nidation noch nicht für abgeschlossen zu halten brauche. Damit werde gerade der gewissenhafte Arzt einem gesteigerten Risiko ausgesetzt, das dem Gesetzgeber völlig entgangen zu sein scheine. Denn während der „großzügige" Arzt sich durch die Unsicherheit des Nidationszeitpunktes dazu verleitet sehen könnte, diesen möglichst spät anzusetzen und damit notfalls über einen Tatbestandsirrtum Straffreiheit zu erlangen, handele der einen früheren Nidationsabschluß einkalkulierende Arzt mit bedingtem Schwangerschaftsabbruchsvorsatz und mache sich damit wegen Versuchs strafbar. - Der Einwand ist gewiß auf den ersten Blick frappierend, bei näherem Zusehen aber nicht überzeugend. a) Dabei wollen wir uns nicht damit aufhalten, daß der von dem „großzügigen" Arzt so schlau eingefädelte Tatbestandsirrtum durchaus forensischen Erfolg haben kann, wenn er nicht zu widerlegen ist; denn das wäre nur eine ganz normale Konsequenz aus den prozessualen Anforderungen an den Beweis des subjektiven Tatbestands. - Wir wollen auch nicht über den „gewissenhaften" Arzt meditieren, der zunächst sorgfältig den Zeitpunkt der Nidation berechnet, aber dann, wenn er dessen Überschreitung für möglich hält, gleichwohl ein Mittel einsetzt, das auch abortiv wirken kann, und dabei den möglichen Taterfolg einer Entnistung in Kauf nimmt 76 . Doch wenn sich hier unwillkürlich die erstaunte 74 75 76
Vgl. dazu den Text oben zu u. mit Fn. 63-65. Vgl. zum folgenden: Schönke/Schröder/Eser (Fn. 32), Rdz. 2 zu §219 d. Vgl. den Text zu u. mit Fn. 65 u. 77.
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Frage aufdrängt, was denn an der hier Platz greifenden Strafbarkeit befremdlich sein soll, ist die Einsicht nicht mehr weit, daß der geschilderte, gegen den Gesetzgeber erhobene Vorwurf auf eine seltsame Weise gegen Selbstverständlichkeiten Sturm läuft: Wenn ein Delikt nur bei direktem und bedingtem Vorsatz, nicht aber bei Fahrlässigkeit strafbar ist, dann verläuft die Grenze zwischen Strafbarkeit und Straflosigkeit nach herrschender - wenn auch in manchen Nuancen zerstrittener - Rechtsprechung und Lehre stets nach diesem Grundmodell: Der Täter, der - wenn auch wegen noch so großer Gedankenlosigkeit oder Sorglosigkeit - die Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands (namentlich den Eintritt des etwaigen Taterfolgs) nicht für möglich hält, geht (schon deshalb) straflos aus. Derjenige, der - vielleicht nur wegen besonders großer Aufmerksamkeit - die Tatbestandsverwirklichung als möglich ansieht, ist strafbar, wenn er sie in Kauf nimmt, jedoch straflos, wenn er - selbst pflichtwidrig - darauf vertraut, daß sie nicht eintreten werde77. Für §218 StGB, der nur bei direktem und bedingtem Vorsatz, nicht aber bei Fahrlässigkeit eingreift, gilt nichts anderes. Der Arzt steht also bei § 218 StGB dann, wenn er den Abschluß der Nidation für möglich hält, vor keinem anderen strafrechtlichen Risiko als jeder Rechtsunterworfene bei jedem mit bedingtem Vorsatz begehbaren Delikt, sobald er dessen tatbestandliche Verwirklichung für möglich hält; der Anruf des Gesetzes ist hier wie dort der gleiche. An diesem Gleichklang des §218 StGB mit den allgemein geltenden Prinzipien der Vorsatzstrafbarkeit ist nichts Unbilliges auszumachen78. Das darin liegende Risiko könnte auch auf dem Boden der herrschenden Vorsatzlehren 79 nur durch eine Reduzierung des § 218 StGB
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Der Text geht von der herrschenden Meinung aus, daß zum bedingten Vorsatz ein intellektuelles und ein voluntatives Element gehört; doch ist hier nicht der Ort, um auf alle in Rechtsprechung und Lehre vertretenen Formeln für das voluntative Element des bedingten Vorsatzes und für die Abgrenzung des bedingten Vorsatzes von der bewußten Fahrlässigkeit einzugehen. Vorzügliche Ubersichten über den gesamten Meinungsstand finden sich bei·. Schänke/Schröder/Cramer (Fn. 32), Rdz. 68 ff. zu § 15; Scbroeder in Leipziger Kommentar (LK), 10. Aufl. 1980, Rdz. 85 ff. zu §§15, 16; Dreher/Tröndle (Fn.32), Rdz. 9 ff. zu §15. 78 Diese Uberzeugung könnte wieder Allgemeingut werden, wenn mit zeitlichem Abstand von dem erbitterten Kampf um die Fristenlösung die Einsicht wächst, daß der Schwangerschaftsabbruch in dem verbliebenen Restbereich ein Delikt wie jedes andere ist. 79 Vgl. Fn. 77.
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auf dolus directus beseitigt werden; ein solcher Weg stand und steht jedoch mit Recht außer jeder Diskussion 80 . b) Die soeben erörterte Kritik am jetzt geltenden Recht geht freilich erkennbar von der Annahme aus, unter der Geltung der früheren formellen Fristregel hätte es solche Differenzierungen und Risikoprobleme nicht gegeben. Daß es damals jedoch im Grundsatz gar nicht anders war, mag folgendes Beispiel zeigen, bei dem wir nur die Unsicherheit über den tatsächlichen Nidationseintritt gegen die Unsicherheit über den 13.Tag nach der Empfängnis auswechseln: Wenn damals ein Arzt beim Einsatz eines auch abortiv wirkenden Mittels - etwa veranlaßt durch die früher geschilderten objektiven Unsicherheiten der Fristberechnung 81 - mit einer (tatsächlich schon erfolgten) Überschreitung des 13. Tages seit der Empfängnis nicht gerechnet hätte, so wäre er straflos geblieben82. Umgekehrt hätte sich ein Arzt, der irrig eine Überschreitung jenes Stichtags für möglich gehalten hätte, eines untauglichen Versuchs des Schwangerschaftsabbruchs schuldig gemacht, wenn er das ambivalent wirkende Mittel dennoch eingesetzt und dabei die Fristüberschreitung in Kauf genommen hätte83. Beides wäre die unvermeidliche Folge davon gewesen, daß das gesetzliche Merkmal „später als am 13. Tage nach der Empfängnis" ein Tatbestandsmerkmal war84 und nicht etwa eine objektive Bedingung der Strafbarkeit. Die formelle Fristregel hatte also keineswegs einen Kahlschlag der Probleme des bedingten Vorsatzes zur Folge85. Diese Einsicht zeigt, daß die durch §219 d StGB geschaffene Möglichkeit zu biologisch-medizinisch richtigen Entscheidungen auch nicht durch eine prinzipielle Änderung oder gar Steigerung der strafrechtlichen Haftung im Bereich des bedingten Vorsatzes erkauft worden ist.
80 In der Literatur der letzten Jahre ist nur die - gewissermaßen umgekehrte - Frage diskutiert worden, ob - insbesondere im Hinblick auf medikamentöse und geburtshilfliche Risiken - die beraisfahrlässige Abtötung (und Verletzung) der Leibesfrucht pönalisiert werden soll; vgl. dazu: Lüttger (Fn. 16) in: Festschrift für Heinitz, 1972, S. 369-370, mit Nachw. in Anm. 33 dortselbst. - Zur Historie der fahrlässigen Abtreibung vgl. Lüttger, Der Beginn der Geburt und das Strafrecht; Probleme an der Grenze zwischen Leibesfruchtcharakter und Menschqualität, JR 1971, S. 133 ff. (137), mit Nachw. in Anm. 37-39 dortselbst. 81 Vgl. dazu oben Abschnitt D III 1 a. 82 Vgl. zu diesem Tatbestandsirrtum die Nachw. mit Fn. 39. 8J Vgl. dazu näher den Text oben zu u. mit Fn. 77. 84 Das war ersichtlich unbestritten; vgl. auch Fn. 39. "s Solche Überlegungen zur dogmatischen Konzeption haben nichts mit der anderen Frage nach der prozessualen Beweisbarkeit zu tun. Vgl. auch Fn. 72.
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E. Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück und ziehen wir das Fazit: Als der Gesetzgeber sich anschickte, die Anfangszäsur des strafrechtlichen Lebensschutzes beim Abschluß der Nidation anzusetzen, befand er sich auf dem rechten Wege. Die Problematik war auch „reif" für eine gesetzliche Regelung, denn die Wissenschaft hatte die Voraussetzungen dafür geklärt. Der Gesetzgeber brauchte nur festzuschreiben, was nach herrschender Auslegung ohnehin galt; eine solche Positivierung war wegen der Bedeutung der Materie durchaus angebracht. Diese Festschreibung konnte sich auch auf einen breiten parlamentarischen K o n sens stützen 86 ; sie war daher kein politisch und ideologisch motivierter Machtspruch der Parlamentsmehrheit 87 , ganz im Gegensatz zur Novellierung anderer Teile des Abtreibungsstrafrechts 88 . Die Suche nach einer Definition für den Beginn des Strafschutzes gegen Schwangerschaftsabbruch geriet dann mit ihren geradezu wirren Regelungsversuchen freilich eher zu einer Tragikomödie. Unverkennbar hat der ganz auf den Streit um Fristen- oder Indikationenmodell fixierte Gesetzgeber lästige andere Fragen nur noch lässig behandelt. Zwar ist die jetzt geltende materiellrechtliche Definition fraglos besser als die verflossene formelle Fristregel; aber die bestmögliche Lösung hat der Gesetzgeber verfehlt. U m diese Chance hat der Gesetzgeber sich freilich selbst gebracht, als er die Abtötung der Leibesfrucht zum Schwangerschaftsabbruch verharmloste. Nimmt man den Einfluß des Strafrechts auf die Wertvorstellungen der Bevölkerung so ernst wie das Bundesverfassungsgericht 89 , dann mag auch von solcher Kaschierung des Unrechtsgehalts der Tat eine Gefahr für die Geltung des Rechts ausgehen. Es gilt auch hier: Habent sua fata definitiones.
86 In den parlamentarischen Beratungen ist die Abstellung auf den Nidationsabschluß so gut wie unstreitig gewesen; vgl. dazu etwa: BT-Drucks. VI/3434, S. 15—16, 45; 7/375, S.6; 7/443; 7/554, S.6; 7/561; 7/1981 (neu), S . l , 5, 13; 7/1982, S.4-5; 7/1983, S.4—5; 7/ 1984 (neu), S.4-5; 7/4211; 7/4696, S.13. - BVerfGE Bd. 39, S. 1 ff., hat dies nicht beanstandet. 87 Vgl. Lüttger wie Fn. 13. 88 Eindrucksoll dazu: Lackner, NJW 1976, S. 1234-1235. 89 Vgl. BVerfGE Bd. 39, S. 57-58.
Spielsucht
ARMAND
MERGEN D a s Spielen mit der Sucht f ü h r t in die Sucht des Spielens (apa)
Wenn Spieler vor Strafgerichte kommen, so in der Regel wegen massiver Eigentumsdelikte aus dem Bereich Betrug, Veruntreuung, Unterschlagung. Die Delikte sind als „Beschaffungskriminalität" anzusehen, denn das Geld als solches hat für den süchtigen Spieler nur einen Zweck: Beschaffung von „Jetons" (Spielgeld). Was dem Giftsüchtigen die Droge ist, ist dem Spielsüchtigen das ,Jeton". Das Geld hat seinen Zwecksinn verloren und wird zum Mittel der Suchtausfüllung degradiert. Die kriminologischen Bemühungen zur Darstellung der Kriminogenese und die juristischen Würdigungsprobleme von Tat und Täter konfrontieren Sachverständige und Juristen mit dem Phänomen der Sucht und dem ihr inhaerenten Drang der zum Zwang sich auswachsen kann. Im Vordergrund steht die Beschreibung und - soweit möglich Erklärung der Suchtgenese in Einheit mit der Persönlichkeit des Befallenen; dann der Auswirkungen des süchtigen Verhaltens nach innen und außen; schließlich der Macht der Sucht über die Lebensgestaltung des Erkrankten. Was einer meiner Probanden - ein Arzt, den ich zu begutachten hatte von sich sagte, trifft auf die große Mehrheit der von mir untersuchten pathologischen Spieler zu. Dr. X . sagte: „Ich möchte nur wissen, warum ich in meiner Persönlichkeit immer mehr erstarrte, mein Tätigkeitsfeld sich zunehmend einengte, schließlich eine psychische Leere entstand, die sich nur durch das Roulettespiel ausfüllen ließ. Immer und immer versuchte ich so normal wie andere zu sein - vergeblich. Ich litt entsetzlich darunter. Ich fühlte mich seelisch krank. Erst im Spielkasino wurde ich innerlich frei, fühlte ich mich präorgastisch befreit und glücklich. Nicht der größte Spielverlust konnte mich so unglücklich machen wie die übrige Zeit ohne Spiel. Denn ich wurde immer kontaktärmer, immer vereinsamter. N u r noch mit Mühe konnte ich die Praxis führen - gottlob bisher ohne Kunstfehler. Das mir angedichtete Playboy-Leben war nur Schein. Ich fühlte mich immer e i n s a m . . . Ich bin sehr traurig, fast lebensmüde."
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Armand Mergen
Zur Pathogenese der Spielsucht, also des pathologischen Spielens, gibt es viele, meist von der Tiefenpsychologie inspirierte Theorien 1 . 5erg/er$„Psychology of gambling" (1970) 1 ' enthält unter anderem, Leitsymptome des pathologischen Spielers. Es sind: 1. Der pathologische Spieler nimmt jede sich bietende Gelegenheit wahr, um zu spielen. 2. Das Interesse am Spielen ist stärker als alle anderen Interessen. Alle Phantasien und Träume drehen sich um das Spielen. 3. Der pathologische Spieler lernt nie aus Mißerfolgen. 4. Ein pathologischer Optimismus bewirkt, daß der Spieler nie aufhört, auch nicht wenn er gewonnen hat. 5. Der pathologische Spieler hat mehr oder minder bewußte Schuldgefühle. Er versucht sein „Gewissen" zu beruhigen, indem er die Bedeutung des Verlustes bagatellisiert. Das führt zur Mißachtung der Geldquelle. 6. Zwischen dem Setzen und dem Ergebnis des Spieles empfindet der pathologische Spieler eine intensive angenehm-unangenehme Spannung ganz eigener Qualität, sozusagen spielspezifisch. Bergler läßt keinen Zweifel daran, daß der pathologische Spieler als Neurotiker, als krankhafter Mensch, anzusehen ist. Das Spielen ist Sucht im Sinne einer Zwangsneurose. Mit anderen Zugang und auf anderer Ebene argumentierend, kommt von Gebsattel2 zu dem gleichen Ergebnis. „Man vergegenwärtige sich die Spielleidenschaft: was diese zur Sucht macht, ist die Einstellung auf die Sensation des Gewinnens oder Verlierens, hinter die das Interesse an faktischem Gewinnen oder Verlieren weitgehend zurücktritt. Eine eigenartige Gleichgültigkeit gegen die Tatsache des Gewinnens, aber auch gegen die des Verlierens 1 von Gebsattel, Prolegomena einer medizinischen Anthropologie, Berlin 1954; E. Simmel, Zur Psychoanalyse des Spielers in Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Band 6, 1920, S. 397 ff. ; R. Laforgue, Uber die Erotisierung der Angst in Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Band 16, 1930, S. 420ff.; J. Neufeld, Dostojewski - Eine Skizze zu einer Psychoanalyse, Wien 1923; S. Freud, Dostojewski und die Vatertötung, Gesammelte Werke 1928-1931, London, S. X X , Imago 1948; R. M. Lindner, The psychodynamies of gambling in The Annals of American Academy of Political and Social Science, Vol. 269, 1950, S . 9 3 f f . ; P. Matussek, Zwang und Sucht in Nervenarzt, Nr. 16, 1958, S. 4 5 2 ; Ν. Petrilowitsch, Abnorme Persönlichkeitsentwicklungen in Psychologie der abnormen Persönlichkeiten, Darmstadt 1968; E. Bergler, The Gambler - a misunderstood neurotic in Journal of Criminal Psychopathology, V o l . 4 N r . 3 , S. 379ff., 1943; ders., The Psychology of gambling, International University Press, 1970.
2
E. Bergler a. a. O . (Fn. 1), The psychology of gambling, S. 1 ff. von Gebsattel, a . a . O . (Fn. 1), S.224.
Spielsucht
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bis zur Stumpfheit gegen entscheidende Einbußen an Vermögen, charakterisiert die Spielfreude als Sucht. Insofern widerspricht jede Sucht der Vernunft, insofern diese unter anderem ein Vermögen ist, das eigene Verhalten auf die sachorientierte Ordnung der eigenen Möglichkeiten derart abzustimmen, daß diese durchgesetzt wird. Sie ist insofern ein Vermögen des Maßhaltens. Das Maß aber ist ein Feind jeder S u c h t . . . Und der sensationelle Verstoß gegen das Maß ist geradezu der Hauptanreiz des süchtigen Verhaltens, in welchem Verstoß der Mensch seine Freiheit, auch in ihrer selbstzerstörerischen Wendung bestätigt, wobei sie als Sensation des Sich-frei-Fiihlens gegen oder trotz Inhalt des Selbstgenusses wird." Von Gebsattel vertritt die Richtung der Existentialanalyse. Von hier aus sieht er in der Spielsucht (wie in jeder Sucht) ein Ausweichen von der inneren Verfassung unerträglich gewordener Leere, eine Flucht in die Sucht, welche eine Selbsterfüllung oder Selbstausfüllung vortäuscht. Matussek3 differenziert in der Beschreibung der Pathogenese der Sucht (auch der Spielsucht) und bringt die „süchtige Haltung" als Vorgestalt der Sucht ins Spiel: „Infolgedessen ist das, was man klinisch Sucht nennt, nämlich das innere, zwingende, oft unmotivierte Bedürfnis, sich immer wieder auf dieselbe Art und Weise in schädlicher Art Befriedigung zu verschaffen, schon eine bestimmte, relativ späte und spezielle Folge der süchtigen Haltung." Als spezifische Suchtmerkmale benennt Matussek das Artifizielle und Unorganische der süchtigen Haltung, die Unfähigkeit zur menschlichen Begegnung und die Freudlosigkeit an der Welt. Präziser und für die Kriminologie (auch für die forensische Psychiatrie) relevanter ist die von Matussek herausgestellte Differenz zwischen Sucht und Zwang. Zwang würde als Ich-fremd empfunden, Sucht jedoch nicht. Auch von Gebsattel hatte nachgewiesen, daß der Süchtige seine Suchthandlung als Selbstauslegung oder Selbstausfüllung erlebt und nicht als etwas Ich-fremdes. Damit ist jedoch noch nichts über die Macht weder der Sucht noch des Zwanges ausgesagt. Matussek4 sieht in Sucht und Zwang keineswegs identische Abwehrsymptome, „sondern Antagonisten, die in einem Wechselverhältnis zueinander stehen. Das Zwangmäßige drängt die Sucht zurück und die Sucht bricht aus dem Zwang heraus."
3 P. Matussek, Süchtige Fehlhaltungen in Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie, 1959, - Auswahl: Grundzüge der Neurosenlehre, Band I, München, Berlin 1972. 4 P. Matussek, a. a. O . (Fn. 3).
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Rasch5 verweist zu Recht auf den Zwang, der, jenseits der Sucht, im Spiel selbst drinnen ist: „Spiel wird so streng gesetzmäßiger nie endender, sich stets wiederholender Leerlauf." Es ist auf internationaler Ebene in Kriminologie und Psychiatrie, man kann sagen, zur Selbstverständlichkeit geworden, das pathologische Spielen zu den Süchten zu zählen. Livingston'' berichtet, daß die Spielsucht in Amerika zu einem öffentlichen Problem geworden ist. Neben der Hilfsorganisation für Alkoholiker, den Anonymen Alkoholikern (Α. A.) hat sich die „Gamblers anonymus (G. A . ) " gegründet. In Deutschland vertreten, soweit ich sehe, nur noch die Schüler oder Nachfolgen von Kurt Schneider eine gegensätzliche Auffassung. Die Schneidersche, materialistisch-organizistische Psychiatrie, vornehmlich auf konstitutionsbiologischen Daten aufgebaut, war in den Jahren 1936 bis 1945 die herrschende Lehre in Deutschland. Ernst Kretschmer, der Gegenspieler von Kurt Schneider, - er nahm fließende Ubergänge von Psychopathie zur Psychose an und verdammte die Psychogenese psychischer Erkrankungen, oder die Neurosen, nicht als absolute Irrlehre konnte sich, trotz spektakulärer Erfolge (ζ. B. Körperbau und Charakter), nicht durchsetzen. Kretschmers letzter Schüler, Dietrich Langen, ist in diesem Jahr gestorben. Kurt Schneiders Schüler bestimmen noch nach 1945 die Psychiatrie in großen Bereichen. Vor allem in der deutschen forensischen Psychiatrie sind auch heute noch - wenn auch zum Teil in abgeschwächter Form Schneidersche Einflüsse unverkennbar. Eigenartig mutet an, daß die forensischen Psychiater dazu neigen, ihr Gebiet, die Psychiatrie, zu verlassen, um sich in artfremden juristischen Spekulationen zu verlieren. H. Witter hat sich im Handbuch der forensischen Psychiatrie 7 mit der Problematik befaßt. Dabei wird klar, welche Gefahr in der Qualifikation „Krankheitswert" verborgen ist. Der Begriff ist extrem unpräzise; mit ihm kann man jonglieren; er ist einer wächsernen Nase gleich, die je nach Geschmack oder Bedarf zurecht oder zu Recht gebogen werden kann. Witter lehnt es ab, von Sucht zu sprechen, wenn keine psychische oder körperliche Abhängigkeit von psychotrop wirkenden, chemischen Substanzen festzustellen ist. Er spricht vom „medizinischen" Suchtbegriff als einzig wahrem und spricht damit - dem Lehrer Kurt Schneider folgend der tiefenpsychologisch oder anthropologisch ausgerichteten Psychiatrie 5 W. Rasch, Über Spieler in „Randzonen menschlichen Verhaltens", Festschrift für Bürger-Prinz, Stuttgart 1962, S. 173 ff. 6 J. Livingston, Compulsive gamblers in Psychology today, Nr. 3, 1947, S. 51 ff. 7 H. Witter, Die Beurteilung Erwachsener im Strafrecht in Handbuch der forensischen Psychiatrie II, Berlin 1972, S. 966 ff. (insb. S. 1072 ff.).
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den Anspruch „Medizin" zu sein, ab. In einem Gutachten vom 19. Dezember 1977 schreibt Witter: „ . . . So hat man insbesondere im Bereich der sexuellen Perversionen von ,Süchtigkeit' gesprochen. Aber auch darüber hinaus läßt sich aus der anthropologischen Suchtbetrachtung schließlich ein flexibler passe-partout-Begriff ableiten, der es gestattet von Autosucht, Fernsehsucht, Sammelsucht, Spielsucht usw. zu sprechen. Dagegen ist nichts einzuwenden, wenn klar bleibt, daß das Wort ,Sucht' hier nur noch auf eine sehr begrenzte Analogie zur,echten' Sucht hinweist, wie sie durch Genußmittel, Medikamente und Rauschgifte hervorgerufen wird. Die Besonderheit, der medizinischen Suchtleiden, die darin besteht, daß zu den abnormen psychischen Bereitschaften und Reaktionen ein körperliches Gift tritt, welches seinerseits zu körperlich begründbaren Psychosen und Persönlichkeitsveränderungen führen kann, fehlt bei den ,suchtähnlichen' Verhaltensweisen die etwas mißverständlich gleichfalls ,Sucht' genannt werden." Witter hat die Beantwortung der Zurechnungs- resp. Schuldfähigkeit im Auge. Für ihn gibt es das „süchtige Verhalten" als Exkulpierung nicht. Aber die Frage nach der Schuld sollte endlich zur Beantwortung den dafür zuständigen Instanzen vorbehalten bleiben. Das sind, von den Theologen abgesehen, die Juristen. Nicht aber die Psychiater und seien sie forensische. Daß Witter die Rolle des Sachverständigen eigenwillig ausfüllt und ihn in die verschwommene Grenze zum Richter bringt, geht aus seinem Satz: „Nachdem die Merkmale der Schuldfähigkeitsparagraphen alter und neuer Fassung keine psychiatrischen, sondern Rechtsbegriffe sind, muß sich der Sachverständige an die höchstrichterliche Rechtsprechung halten, auch wenn er hier eine bisher ungelöste Problematik sieht", hervor. Mir scheint, daß der Umgang mit der Rechtsprechung Sache des Juristen und nicht das Sachverständigen ist. So hat auch die Rechtsprechung entschieden. Den Kriminologen interessiert die Klärung oder Begreiflichmachung der Kriminogenese. Die Beantwortung der Frage nach der juristischen Schuld überläßt er dem Richter. Von hier aus kommt der Spielsucht eine spezifische Bedeutung zu. Denn sie kann kriminogen werden, indem sie zur Grundlage für Eigentumsdelikte als „Beschaffungskriminalität" im beschriebenen Sinne wird. Hans Wittenberg* hat eine umfassende Untersuchung mit Kasuistik vorgelegt. Er kommt zum Ergebnis', daß die meisten seiner pathologischen Spieler „durch Straftaten, die in einem kriminologischen Zusam8 9
H. Willenberg, H. Willenberg,
Das große Spiel, Heidelberg-Hamburg 1977. a. a. O . (Fn. 8), S. 178.
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menhang mit dem Spielen standen" aufgefallen waren und daß „zwischen den Straftaten und den übrigen Symptomen stets eine wechselseitige aetiologische Interdependenz" bestand. Nach Matussek10 sind die wesentlichen phänogenotypischen Merkmale der Spielsucht: 1. Das Spielen dient dem Spieler als Mittel der Befriedigung infantiler Bedürfnisse. 2. Im Spielen offenbart sich eine oralpassive Haltung. 3. In der Kindheit hat der Vater die Identifikation erschwert. 4. Das obsessive Spielen drängt alle anderen Interessen zurück und führt zu einer Einengung der Seinsmöglichkeiten. 5. Der Spieler sucht die eigenartige Atmosphäre in der Spielbank süchtig auf. Matussek beschreibt weitere Verhaltensweisen in der süchtigen Haltung. So die terminale Frigidität, die keinerlei Satisfaktion zuläßt und den Spieler zu keinem Ende kommen läßt. Die Entspannung hält nur an, solange der Spieler spielt. Spieler sind in der Regel kontaktgestört und vereinsamen. Szondin spricht von „Psychopathen des Kontakttriebes". Süchtige Spieler sind in ihrem Erlebnis - und Lebensbereich massiv eingeengt. Die Sucht nimmt die zentrale Stelle ein und bestimmt alles Verhalten. Durch den Einsatz der Intelligenz kann die Sucht nicht dominiert werden, einmal weil Affektivität und Triebgeschehen durch Intelligenz nicht kontrollierbar ist - man kann z.B. weder Liebe noch Eifersucht intellektuell bestimmen - , zum anderen, weil der pathologische Spieler im Bereiche seiner Sucht die Realität verkennt und sein Handeln vordergründig durch tiefenpsychologische Mechanismen bestimmt ist. Der Drang oder der Zwang, die Sucht zu befriedigen, kann - analog dem Zwang bei pathologischer Triebbefriedigung - quasi unwiderstehlich werden. Es handelt sich um einen neurotischen, nicht um einen psychotischen Zwang. Dies ist zu betonen, denn der neurotische Zwang hat nichts zu tun mit dem wahnhaft bestimmten Zwang, den man bei Psychotikern beobachtet. Jedoch sehen tiefenpsychologisch ausgerichtete Forscher in der Sucht die gleiche Stärke verkörpert wie im pathologischen Trieb. Es ist unbestritten, daß der pathologisch ausgeprägten Sucht keine rationalen, sondern tiefenpsychologisch faßbare Motivationen zugrunde liegen. Die Ratio kann sich in der Realitätsverkennung sogar in den
10 11
P. Matussek, a. a. O.a (Fn. 3). L. Szondi: Triebpathologie, Bern, Stuttgart, 1952.
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Dienst der Sucht stellen. Der süchtige Spieler „will nicht anders können und kann nicht anders wollen" (apa). Wir haben gesehen, daß Anhänger der „klassischen" Psychiatrie, zu der ich auch die Anhänger von Kurt Schneider zähle, als Sucht nur die Abhängigkeit von materialisierten „Stoffen" gelten lassen. Dabei sprach Rohracker'2 von den Süchten als „erworbenen Trieben", die sich von den angeborenen Trieben nicht unterscheiden ließen, da die Triebmerkmale auch auf die Süchte zuträfen 13 . Auch Kolle14 definiert die Süchte als abnorme Triebe. Und Eugen Bleuler schrieb in der 12. Auflage seines Lehrbuchs der Psychiatrie 15 : „Primär ist die Sucht keine Vergiftung sondern eine Begierde, etwas psychisches, das sich körperlich nicht fassen läßt. Auch ihre Ursachen sind primär nicht körperlich." Matusseku spricht von „süchtigen Triebentartungen" und weist nach, daß „zahlreiche und vielfältige menschliche Interessen, Strebungen und Triebe in eine süchtige Fehlentwicklung einmünden können". Auch Bürger-Prinz und seine Hamburger Schüler und Mitarbeiter sind für die Einsicht offen, daß wie O. Schrappe" formuliert, „jede Richtung menschlichen Interesses süchtig entarten kann". Besonders W. Rasch hat sich in der Festschrift für Bürger-Prinz18 recht klug „über Spieler" ausgedrückt. Ich glaube genügend Autoren und Argumente angegeben zu haben, um die materialistische Auffassung der Schneiderschen Psychiatrie, die eigentlich keine Psychopathologie oder Pathopsychologie sein kann, wenigstens was die Suchtproblematik angeht, zur Diskussion stellen zu können. Mir scheint, daß der Spieler, der nicht des Geldes wegen spielt, sondern dem das Spielen Selbstzweck geworden ist, ein süchtiger Mensch ist, genau wie der Alkoholiker oder Morphinist. Anliegen der forensischen Psychiater scheint zu sein, dem Richter zu helfen die „Schuld" mit (welchem?) Maß, Zirkel oder Gewicht nach Quantität (kaum nach Qualität) im speziellen Fall festzustellen. Der Kriminologe hat andere Sorgen. Ihm liegt die Erhellung, Begreiflichmachung (nicht Erklärung) der Kriminogenese am Herzen. Diese Aufgabe ist ungleich schwieriger zu lösen. Sie ist humaner, denn sie lehnt es ab, in Regionen des gesetzten Glaubens zu transzendieren. Daß das beobachtbare Phänomen des pathologischen Spielens existiert, ist unbestritten. 12
Rohracher, S.442, 1971: Psychologie. Rohracher, S.475, 1971: Psychologie. 14 Kolle: Psychiatrie, 1970. 15 E. Bleuler, Lehrbuch der Psychiatrie, 12. Aufl., 1972. " P. Matussek, a. a. O . (Fn. 3). " O. Schrappe, in Randzonen menschlichen Verhaltens, Festschrift für B.P., 1962, S. 111 ff. 18 W. Rasch, a . a . O . (Fn.5), S. 173ff. 13
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Der Streit entflammt, wenn es um die Qualifikation geht, und den „Krankheitswert" (als ob Krankheit ein meßbarer Wert sei), um die Sucht und den ihr zugedichteten Inhalt. Gleich wer die Dichter sind und von wo sie herkommen, das Messen und Wägen, auch das Bewerten sei ihnen untersagt.
Abschaffung des Schöffengerichts und vereinfachtes Verfahren vor dem Strafrichter Korrekturen unseres Rechtsmittelsystems in Strafsachen LUTZ MEYER-GOSSNER
I. Auf dem 52. Deutschen Juristentag hat der verehrte Jubilar sein von häufigem Beifall unterbrochenes und die Tagungsteilnehmer überzeugendes Referat zu dem Thema: „Empfiehlt es sich, das Rechtsmittelsystem in Strafsachen, insbesondere durch Einführung eines Einheitsrechtsmittels, grundlegend zu ändern?" mit der Aufforderung abgeschlossen, „daß wir die Übel, die wir haben, lieber ertragen, als zu unbekannten fliehn" sollten. Er hat mit Recht darauf hingewiesen, daß derjenige, der heute dem Gesetzgeber einen Änderungsvorschlag unterbreite, eine große Verantwortung übernehme. Wenn hier doch der Versuch unternommen werden soll, eine durchführbare Änderung des Rechtsmittelsystems in Strafsachen zu beschreiben, so geschieht dies aus der Überlegung heraus, daß es betrüblich wäre, wenn die große Mühe, die in den vergangenen Jahren und zuletzt zum 52. Deutschen Juristentag um die Reform unseres Rechtsmittelsystems aufgewendet worden ist, völlig umsonst gewesen wäre. Dies wäre um so mehr zu bedauern, weil derzeit in der juristischen Meinung eine weitgehende Übereinstimmung erzielt worden ist und es daher ärgerlich wäre, wenn die gewonnenen Ergebnisse durch eine abrupte Beendigung der Reformdiskussion wieder verschüttet würden. Nachdem die Reformdiskussion seit Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre (zunächst im Zusammenhang mit dem geplanten dreistufigen Gerichtsaufbau) sehr heftig und kontrovers verlaufen war 1 , zu Reformvorschlägen der Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes und der Arbeitsgruppe A des Bundes und der Länder und zu einer Denkschrift des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer 2 geführt hatte, wurde sie durch den im Dezember 1975 veröffentlichten Diskussionsentwurf für ein Gesetz über die Rechtsmittel in Strafsachen ( D E ) der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Strafverfahrensre1 Tröndle GA 1967, 161; Schweling MDR 1967, 441; Neidhard DRiZ 1967, 106; v. Gerlacb DRiZ 1971, 86; Prüllage DRiZ 1971, 340; Jagusch N J W 1971, 2009, 2198; Pfeiffer/v. Bubnoff DRiZ 1972, 43; Knoche DRiZ 1972, 98; Kaiser ZRP 1972, 275; Fuhrmann J R 1972, 1. 2 Sämtlich abgedruckt bei Fezer, Möglichkeiten einer Reform der Revision in Strafsachen, 1975, S. 301 ff.
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form" zu einem gewissen Abschluß gebracht. Es lag daher nahe, daß sich der 52. Deutsche Juristentag mit dem Thema befaßte, nachdem der D E wiederum zu vielfältigen Meinungsäußerungen geführt hatte 3 . Das begrüßenswerte Ergebnis der Beratungen auf dem Juristentag war der mit überwältigender Mehrheit 4 gefaßte Beschluß, die bisherigen Rechtsmittel Berufung und Revision zu erhalten und nicht durch den Zwitter „Urteilsrüge" zu ersetzen. Neben diesem - vor allem den aus der Fülle der revisionsrichterlichen Erfahrung schöpfenden Ausführungen des Jubilars zu dankenden - Ergebnis hat der Juristentag eine bemerkenswerte Ubereinstimmung der Beteiligten in zwei weiteren Punkten zutage gefördert: Es wurde ein beachtlicher Konsensus darüber erzielt, daß die Berufung gegen Urteile des Strafrichters beibehalten werden müsse 5 , gegen erstinstanzliche Urteile der Strafkammern und der Oberlandesgerichte aber nicht verwirklicht werden könne 6 . Die „juristische Öffentlichkeit" befindet sich damit in Ubereinstimmung mit der nahezu einhelligen Meinung in der Literatur: Die Möglichkeit einer zweiten Tatsacheninstanz nach einem Verfahren vor dem Strafrichter erscheint allgemein unverzichtbar 7 . Der D E wollte die Berufung gegen Strafrichterurteile zwar dem Namen nach abschaffen; er sah aber gegen die von dem Strafrichter in einem vereinfachten Verfahren erlassene Entscheidung (den sog. Strafbescheid) einen Einspruch zum Schöffengericht vor 8 und eröffnete damit in Wahrheit doch eine Berufungsinstanz'. Auch Tröndle, der sich in der Vergangenheit mit am stärksten für die Abschaffung der Berufung eingesetzt hatte, hält eine Berufung in Strafrichter-Sachen für vertretbar 10 . Daß gegen Entscheidungen des auf sich allein gestellten Strafrichters, der an jedem Sitzungtag sechs, acht oder noch mehr Urteile erläßt, nicht gleich die Revision gegeben werden kann, leuchtet ohne weiteres ein und bedarf keiner näheren Begründung.
3 Benz ZRP 1977, 58; Krauth und Sarstedt in Festschrift für Dreher, 1977, S. 681 ff.; Lisken DRiZ 1976, 197; Seih DRiZ 1977, 48; Stellungnahme des Richtervereins beim BGH, teilweise abgedruckt in DRiZ 1976, 17; Otto NJW 1978, 1. 4 Beschluß A 1; Abstimmungsergebnis 113/11/4. 5 Beschluß D 1; Abstimmungsergebnis 85/3/1. 6 Beschlüsse Β 1 und 2; Abstimmungsergebnis 10/97/5 bzw. 96/11/9 und 92/3/8. Auf diesen Konsensus hat auch Rieß, ZRP 1979, 194 besonders hingewiesen. 7 Vgl. nur Benz ZRP 1977, 60; Rieß DRiZ 1976, 6 und in Verhandlungen des 52. Deutschen Juristentages (künftig abgekürzt: Verh. 52. Jt.), Band II, L 2 2 ; Sarstedt Verh. 52. Jt. Bd. II, L 4 8 ; Peters Verh. 52. Jt. Bd.I, C22. 8 §295 e DE-StPO. 9 Sarstedt Verh. 52.Jt. Bd. II, L 4 7 ; Lisken DRiZ 1976, 199; Rieß JR 1975, 229; Seib DRiZ 1977, 48. 10 GA 1967, 180.
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Was hingegen die Berufung gegen Urteile der Großen Strafkammer oder des Oberlandesgerichts anbelangt, so scheint sich nun auch allgemein die in der Literatur herrschende Erkenntnis" durchgesetzt zu haben, daß eine zweite Tatsacheninstanz gegenüber einer gut, sorgfältig und erschöpfend durchgeführten ersten Tatsachenverhandlung keine Verbesserung, sondern nur ein „gesetzlich programmierter Leerlauf"12 ist und daß - davon abgesehen - die Schaffung eines gegenüber der Großen Strafkammer oder dem Strafsenat noch umfangreicheren Spruchkörpers für eine zweite Tatsacheninstanz (denn kleiner dürfte er wohl nicht sein, wenn er bessere tatsächliche Feststellungen erbringen soll) nur zur Geburt eines ineffektiven Wasserkopfs führen würde13.
II. Aus dieser zu konstatierenden Ubereinstimmung ist nun neuerdings aber Gössel14 wieder ausgeschert. Er will den Instanzenzug und das Rechtsmittelsystem grundlegend verändert wissen: Der Strafrichter soll nur noch in einem schriftlichen Verfahren tätig werden; gegen seine Entscheidung soll - ähnlich wie im DE 15 - der Einspruch zum Schöffengericht gegeben werden, das aber stets mit zwei Berufsrichtern (wie jetzt das erweiterte Schöffengericht nach §29 Abs. 2 GVG) besetzt sein soll. Dieses Schöffengericht soll ferner als Gericht erster Instanz für den „mittleren Schwerebereich" der Kriminalität zuständig sein. Gegen die Urteile des Schöffengerichts soll es die Berufung zur - stets mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen besetzten - Strafkammer und dagegen wiederum die Revision zum Oberlandesgericht geben. Gegen die Urteile der Strafkammer als erster Instanz soll die Berufung zu einem Strafsenat des Oberlandesgerichts, dagegen die Revision zum Bundesgerichtshof statthaft sein. Gössel schlägt schließlich einen besonderen Spruchkörper beim Landgericht für „Kapitalverbrechen und Großverfahren" vor, der mit fünf Berufsrichtern und zwei Schöffen besetzt werden und gegen dessen Urteile es nur die Revision zum Bundesgerichtshof geben soll. Da 11 Seetzen ZRP 1975, 288; Tröndle in: Probleme der Strafprozeßreform, 1975, S.84; Benz ZRP 1977, 60; Peters Verh. 52. Jt. Bd. I, C 2 6 ; Sarstedt Verh. 52. Jt. Bd. II, L 48; Rieß Verh. 52. Jt. Bd. II, L 1 0 , 15, 16; so auch schon Fuhrmann J R 1972, 2 und die Denkschrift des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme des Verfahrens im Strafprozeß, 1971.
Geerds Festschrift für Karl Peters, 1974, S.278. Man stelle sich beispielsweise einmal ein Gericht aus 5 Berufsrichtern und 4 Schöffen vor - vgl. dazu schon Tröndle GA 1967, 177. 14 GA 1979, 241. 15 §295 e D E - S t P O ; §28 Ab. 2 D E - G V G . 12 13
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dieses Rechtsmittelsystem eine erhebliche Ausweitung der Spruchkörper mit sich bringt, will Gössel das Wahlrechtsmittel einführen: §333 StPO soll entsprechend § 55 J G G dahin geändert werden, daß ein auf Grund einer zulässigen Berufung erlassenes Urteil nicht mehr mit der Revision anfechtbar ist. Diese von Gössel vorgeschlagene Änderung des Rechtsmittelsystems erscheint nicht realisierbar. Die Erweiterung der Aufgaben des um jeweils einen Berufsrichter verstärkten Schöffengerichts, die Einführung einer Berufung zum Oberlandesgericht, die Verstärkung des mit einer erweiterten Zuständigkeit versehenen Schwurgerichts würde einen enormen Mehrbedarf an Richtern erfordern, der nicht zu erbringen ist. Davon abgesehen erscheinen die Vorschläge aber auch im einzelnen verfehlt: Die Verlagerung von Zuständigkeiten vom Strafrichter auf das schwerfälligere Schöffengericht würde sicher nicht zur Beschleunigung der Strafverfahren, die Gössel mit seinen Vorschlägen erstrebt, führen. Soweit Gössel gegen erstinstanzliche Urteile der Strafkammer eine Berufung zum Strafsenat des Oberlandesgerichts vorschlägt, muß ihm entgegengehalten werden, daß von einer Berufungsverhandlung vor einem mit drei Berufsrichtern besetzten Strafsenat wohl nicht -bessere Ergebnisse erwartet werden können, als von der mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen besetzten Großen Strafkammer; eine Tatsacheninstanz ohne Schöffen erscheint - soweit es sich nicht um Kleinkriminalität oder besondere Anforderungen stellende Staatsschutzdelikte handelt - ohnehin bedenklich 16 und die Berufung gegen Strafkammerurteile zuzulassen, widerspricht - wie dargelegt - den derzeitigen allgemeinen Erkenntnissen. Der von ihm vorgeschlagene neue Spruchkörper am Landgericht mit fünf Berufsrichtern und zwei Schöffen wäre eine sehr schwerfällige Tatsacheninstanz, bei der zudem die Schöffen zur Bedeutungslosigkeit verdammt wären. Die mit diesen Änderungen eintretenden Verzögerungen und Umständlichkeiten könnten auch nicht durch die Einführung des Wahlrechtsmittels wettgemacht werden: Gerade gegen ein solches Wahlrechtsmittel bestehen die größten Bedenken, da dies nach den damit bereits früher gemachten Erfahrungen 17 und dem täglich zu beobachtenden spärlichen Gebrauch der Sprungrevision18 auf den Ausschluß der
16
Sarstedt Verh. 52. Jt., Bd. II, L 3 7 f . D a z u Tröndle G A 1967, 181; ein Wahlrechtsmittel war durch die Verordnung vom 14.6.1932 (RGBl. I, 285) eingeführt worden und hatte sich nicht bewährt. 18 Sprungrevision wird nur in etwa 0,25 % aller Fälle eingelegt, vgl. dazu die Tabelle 17c der DE-Begründung, S. 162. 17
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Revision hinauslaufen würde". Die für den kleinen Bereich des Jugendstrafrechts hinnehmbare weitgehende Ausschaltung der Revision ist für den Gesamtbereich des Strafrechts eben gerade nicht zu verantworten. Die Vorschläge Gössels sollten daher insgesamt nicht dazu verleiten, den gerade gefundenen Konsensus wieder in Frage zu stellen.
III. Nicht so eindeutig wie die Entscheidung, die Berufung gegen Urteile des Strafrichters beizubehalten und gegen Urteile der Strafkammer nicht einzuführen, war die Meinungsbildung zum Schöffengericht 20 auf dem 52. Deutschen Juristentag. D a der Juristentag sich primär mit der Frage der Einführung eines Einheitsrechtsmittels zu befassen hatte, war die diesbezügliche Erörterung nur kurz; aber die Abstimmungsergebnisse 21 zeigen die dazu bestehenden Differenzen. Und in der Tat ist hier eine Unausgewogenheit unseres Rechtsmittelsystems nicht zu übersehen: Es ist widersinnig, daß als Tatrichter in den nicht so schwerwiegenden Schöffengerichtssachen das Schöffengericht und (auf Berufung) die Große Strafkammer entscheiden, bei den gewichtigeren erstinstanzlichen Strafkammersachen aber nur diese. Anders ausgedrückt: Mit den kleinen Strafsachen befassen sich - nacheinander - zwei Berufsrichter und zwei Schöffen (Strafrichter und Kleine Strafkammer), mit den großen Strafsachen drei Berufsrichter und zwei Schöffen (Große Strafkammer), mit den mittleren Fällen aber vier Berufsrichter und vier Schöffen (Schöffengericht und Große Strafkammer) oder gar fünf Berufsrichter, wenn das erweiterte Schöffengericht in erster Instanz tätig wurde. Während nun gegen Urteile des Strafrichters die Berufung gegeben werden muß, weil sein Verfahren notwendigerweise wegen der Fülle der zu entscheidenden Fälle summarisch angelegt ist, was zu verantworten ist, weil der Strafrichter eine echte Auslesefunktion erfüllt 22 , ist nicht einzusehen, warum die sonst allein als Tatsacheninstanz ausreichende Große Strafkammer hier das Verfahren des Schöffengericht noch einmal nachvollziehen soll. Gerade in schöffengerichtlichen Verfahren - und noch " Meyer-Goßner J Z 1978, 333. Rieß - Verh. 52. Jt. Bd. II, L 2 0 - bezeichnet dies als „die eigentliche Manövriermasse". 21 Einführung eines Begründungszwangs abgelehnt durch Beschluß C 1 mit dem Abstimmungsergebnis 21/59/4; Beibehaltung der Berufung durch Beschluß C 2 mit dem Abstimmungsergebnis 78/12/3 empfohlen; Beseitigung des erweiterten Schöffengerichts durch Beschluß C 3 mit dem Abstimmungsergebnis 53/34/3 abgelehnt. 22 Im Durchschnitt werden etwa 85 und mehr Prozent aller vom Strafrichter erlassenen Urteile rechtskräftig, vgl. Tabelle 17c der DE-Begründung, S. 162. 20
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mehr in den Fällen, in denen wegen des Umfangs der Sache das erweiterte Schöffengericht tätig geworden war - wird zumeist bereits eine sorgfältige Hauptverhandlung durchgeführt; es werden in der Regel eine Vielzahl von Zeugen und Sachverständigen gehört. Die Urteile sind umfangreich und können einen Vergleich mit Strafkammerurteilen eher aushalten als solche des Strafrichters. Und doch kann die ganze Arbeit des Schöffengerichts mit dem einen Wort „Berufung" zunichte gemacht werden. In der Praxis hat diese Regelung dazu geführt, daß die Staatsanwaltschaften in den Fällen, in denen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Berufung zu erwarten ist, gleich bei der Großen Strafkammer anklagen, um den Zeugen und Sachverständigen die Zumutung zweier Tatsacheninstanzen zu ersparen und diesen „Leerlauf" zu vermeiden; die Strafkammern eröffnen entgegen §209 Abs. 1 StPO in diesen Fällen das Hauptverfahren nicht vor dem Schöffengericht, weil die Sache ohnehin mit der Berufung wieder zu ihnen gelangen würde. Hieraus erklärt sich auch das Schattendasein des erweiterten Schöffengerichts23: Umfangreiche - wenn auch keineswegs besonders bedeutsame Verfahren werden vor der Strafkammer und nicht vor dem erweiterten Schöffengericht angeklagt, die Regelung in §§24 Abs. 1 N r . 3, 29 Abs. 2, 74 Abs. 1 S. 2 GVG wird also umgangen. Das legt die Folgerung nahe, die Berufung in Schöffengerichtssachen abzuschaffen. Gleichwohl erscheint es nicht angängig, gegen Urteile des Schöffengerichts nur die Revision zuzulassen: Es ist ein zu großes Risiko, die gesamte Tatsachenfeststellung einem einzigen Berufsrichter anzuvertrauen. Dieser Richter wäre nicht nur hoffnungslos überfordert, die Verantwortung wäre auch zu groß. Auch bei der Kleinen Strafkammer entscheidet zwar allein ein (allerdings besser qualifizierter) Berufsrichter (mit zwei Schöffen); hier hat aber der Strafrichter die Sache bereits „durchverhandelt" und die kritischen Punkte der Strafsache sind für das Berufungsverfahren aufgedeckt. Die Annahme jedoch, ein Berufsrichter könne allein einen - keine Bagatellen betreffenden - Sachverhalt fehlerlos aufklären und sein Ergebnis stets in einer den Anforderungen des Revisionsgerichts entsprechenden Weise darstellen, ist unhaltbar. Die Folge wäre entweder eine Fülle vom Revisionsgericht aufgehobener und zurückverwiesener Ersturteile oder eine derartig zeitlich aufwendige Arbeit beim Schöffengericht, daß dessen Effektivität in ganz erheblichem Maße sinken würde - ganz abgesehen von der Gefahr unrichtiger Sach-
23 In Bayern fanden 1975 nur 25 von 5180 erledigten schöffengerichtlichen Verfahren vor dem erweiterten Schöffengericht statt; 1976 waren es 13 von 5584; 1977 waren es 18 von 5323, 1978 nur 27 von 5329. Das bedeutet, daß im Schnitt nur etwa 0,4 % aller schöffengerichtlichen Verfahren vor dem erweiterten Schöffengericht verhandelt werden.
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Verhaltsfeststellungen durch Fehler des einzigen Berufsrichters24. Außerdem wäre, worauf· Scbünemann2i zutreffend hingewiesen hat, die Legitimationsfunktion eines solchen Spruchkörpers zu gering: Ein Urteil des derzeitigen Schöffengerichts, das allein und vollverantwortlich über die Tatfrage entscheiden würde, würde von der Rechtsgemeinschaft nicht akzeptiert werden. Folgt man der These, daß eine zweite Tatsacheninstanz nach einer gut durchgeführten ersten überflüssig, ja im Interesse der Wahrheitsfindung möglicherweise schädlich ist26, so scheint die Konsequenz zu sein, das jetzige Schöffengericht zugunsten einer Großen Strafkammer aufzugeben. Ein solcher Aufwand, alle jetzigen Schöffengerichtssachen in Zukunft bei der Großen Strafkammer zu verhandeln, wäre jedoch weder zu rechtfertigen noch durchzuführen: Wenn jetzt gar für Schwurgerichtssachen eine Besetzung mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen nach § 74 Abs. 2 S. 1 GVG für ausreichend erachtet wird und auch in allen anderen Fällen die Große Strafkammer in dieser Besetzung entscheidet, so braucht bei Strafsachen, in denen höchstens Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren27 verhängt werden können, ein so besetzter Spruchkörper nicht zur Verfügung zu stehen. Zudem würde eine Umwandlung der Schöffengerichte in Große Strafkammern einen derartigen zusätzlichen Personalaufwand erfordern, daß eine solche „Reform" schon aus diesem Grunde undurchführbar wäre. Die Folgerung muß daher lauten: Wenn für ein ordentlich durchgeführtes schöffengerichtliches Verfahren eine Berufung nicht erforderlich ist, die Besetzung des Schöffengerichts - gegen dessen Urteil nur das Rechtsmittel der Revision gegeben ist - mit einem Berufsrichter aber zu wenig, die mit drei Berufsrichtern aber zu viel ist, muß das Schöffengericht in Zukunft mit zwei Berufsrichtern (und zwei Schöffen) ausgestattet werden.
IV. Ein solchermaßen besetztes Schöffengericht wäre nur in der Zahl der Gerichtspersonen mit dem erweiterten Schöffengericht nach §29 Abs. 2 G V G identisch. Da die Schöffen nur in der Hauptverhandlung mitwir24
Dazu näher Meyer-Goßner
25
Verh. 52. Jt. Bd. II, L 1 3 1 .
26
Tröndle
J Z 1978, 334.
in Problem der Strafprozeßreform, S. 80 ff. und in G A 1967, 171;
Schüne-
mann a . a . O . F n . 2 5 ; Rieß Verh. 5 2 . J t . Bd. II, L 2 0 ; Begründung des D E S . 3 1 . 27
Wobei eine Beschränkung auf Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren durchaus erwägens-
wert ist; vgl. § 7 3 Abs. 2 D E - G V G und unten V.
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Lutz Meyer-Goßner
ken, müßte auch dieses Gericht außerhalb der Hauptverhandlung in der Besetzung von drei Berufsrichtern entscheiden, d. h. es wird außerhalb der Hauptverhandlung in derselben Besetzung wie die Strafkammer tätig28. Hieraus folgt, daß dieser Spruchkörper als Strafkammer beim Landgericht einzurichten wäre, wobei er lediglich in der Hauptverhandlung unter der Besetzung eines Vorsitzenden Richters und eines Richters am Landgericht sowie der beiden beizuziehenden Schöffen entscheiden würde. Die gegen diesen von mir bereits an anderer Stelle gebrachten Vorschlag 29 gerichtete Kritik von Rieß™, die wohl auf einem Mißverständnis beruht, erweist sich als unbegründet: Rieß meint, es sei nicht einleuchtend, warum sich die Richtigkeitsgewähr durch Eingliederung des Schöffengerichts in die Organisation des Landgerichts verbessern solle. Er hat wohl angenommen, das erweiterte Schöffengericht in seiner jetzigen Form solle an das Landgericht versetzt werden. Das wäre tatsächlich kein Fortschritt. Hier geht es jedoch darum, die Schöffengerichtssachen in Strafkammersachen zu verwandeln, mit all den Garantien, die das Verfahren vor einem mit einem besser qualifizierten Richter als Vorsitzenden und außerhalb der Hauptverhandlung mit zwei, in der Hauptverhandlung mit einem zusätzlichen Berufsrichter besetzten Spruchkörper mit sich bringt. Daß es zudem zumindest in Strafsachen - unserem Gerichtsaufbau, dem Ansehen der Gerichte und der notwendigen Legitimationsfunktion der Entscheidung31 besser entspricht, wenn nicht gegen Urteile des Amtsgerichts, sondern nur gegen Urteile des Landgerichts allein die Revision zugelassen wird, sollte auch einleuchten. Damit wird auch der zweite Einwand von Rieß, der Beisitzer werde wegen des „in bestimmten Situationen unvermeidlichen Stichentscheids des Vorsitzenden" in die bloße Rolle eines Richtergehilfen gedrängt, widerlegt: In der Hauptverhandlung können sich Stichentscheide nicht ergeben, da alle Entscheidungen mit dem Stimmenverhältnis 4 : 0 oder 3 :1 getroffen werden müssen. Außerhalb der Hauptverhandlung entscheidet der Spruchkörper - soweit nicht der Vorsitzende allein tätig wird - in der Besetzung von drei Berufsrichtern, so daß die Entscheidungen mit einer Stimmenzahl von 3 : 0 oder 2 :1 ergehen. Ein Stichentscheid kann nur bei der Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe notwendig werden, wenn sich Vorsitzender und Beisitzer nicht einigen können. Diese Situation kommt aber in der Praxis höchst selten vor und kann 28 Allerdings wäre zu überlegen, ob nicht in größerem Umfange als bisher Beschlußentscheidungen vom Vorsitzenden allein getroffen werden sollten; vgl. dazu auch § 76 Abs. 3 DE-GVG. 29 30 31
J Z 1978, 334. Verh. 5 2 . J t . Bd. II, L 2 1 . S. o. unter III.
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sich auch bei der Großen Strafkammer ergeben, wenn ein Richter an der Unterschrift verhindert ist und Differenzen zwischen dem Vorsitzenden und dem anwesenden Beisitzer bestehen. Mit der hier vorgeschlagenen Regelung würde ferner der dem jetzigen erweiterten Schöffengericht anhaftende strukturelle Mangel beseitigt. Daß sich das erweiterte Schöffengericht bisher keiner großen Beliebtheit erfreut, liegt (abgesehen von dem oben aufgezeigten Grund, daß seine Entscheidungen sehr „berufungsträchtig" sind) nicht an der Besetzung 2 :2, sondern daran, daß sich hier zwei gleichrangige Richter in die Verhandlung teilen, von denen der eine praktisch nur zur Hauptverhandlung hinzugezogen wird. Das ist in der Tat einmalig im gesamten Gerichtsaufbau der Bundesrepublik Deutschland und insofern - aber auch nur insofern - kann man von einer gerichtsverfassungsrechtlich unglücklichen Figur32 sprechen. Mit der Institution einer Strafkammer, deren einer Beisitzer lediglich in der Hauptverhandlung nicht mitwirkt, entfallen diese Mißlichkeiten. Dem deutschen Strafjuristen ist der 2 :2 besetzte Spruchkörper - auch wegen der verfehlten Konstruktion des derzeitigen erweiterten Schöffengerichts - fremd geblieben35, so daß die Vorbehalte dagegen verständlich sind. Ein Blick über den Zaun kann aber zum Abbau dieser Vorbehalte hilfreich sein: In Österreich entscheidet das nur beim Gerichtshof erster Instanz bestehende Schöffengericht gem. §13 Abs. 1 öStPO in eben dieser Besetzung von zwei Berufsrichtern und zwei Schöffen und dies funktioniert offenbar recht gut. Auch gegen die Urteile dieses Gerichtshofes wird keine volle Berufung zugelassen, sondern nur die Strafberufung (§283 öStPO) und die Nichtigkeitsbeschwerde (§281 ÖStPO)34. Wenn ein so besetzter Spruchkörper in einem uns eng verwandten Lande einwandfreie Leistungen zu erbringen vermag, so können grundsätzliche Einwände dagegen wohl auch bei uns nicht mit Erfolg vorgebracht
32
Rieß Verh. 52. Jt. Bd. II, L 2 3 . Aber nach dem Zusammenbruch im Jahre 1945 gab es beispielsweise im Land Hessen ein verstärktes Schöffengericht mit zwei Richtern und zwei Schöffen und im Land Bayern Strafkammern mit zwei Richtern und drei Schöffen; vgl. Tröndle G A 1967, 168. 34 Dabei wird das, was Strafberufung und Nichtigkeitsbeschwerde bringen, bei uns in gleicher und umfassender Weise durch die Revision geleistet, zumal auch die Revisionsgerichte bei uns in immer stärkerem Maße dazu übergehen, Urteile im Strafausspruch aufzuheben, weil die Strafe zu niedrig (vgl. etwa B G H N J W 1 9 7 7 , 1 2 4 7 ; O L G H a m m N J W 1977, 2087) oder übersetzt (vgl. Urteil des B G H vom 19.6.1979 - 1 StR 252/79) sei. 33
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werden und schon gar nicht besteht die „Unmöglichkeit einer sinnvollen Entscheidung in einem so besetzten Spruchkörper", wie Rieß behauptet".
V. Die Ersetzung des (einfachen und erweiterten) Schöffengerichts durch die Strafkammer in der hier vorgeschlagenen Form würde weitere nicht zu gering zu veranschlagende Vorteile bringen. Zum einen würde das Rechtmittelsystems in Strafsachen - und damit auch unser ganzes System des Gerichtsaufbaus in der ordentlichen Gerichtsbarkeit - überschaubarer und auch für den rechtsuchenden oder in Strafsachen verstrickten Bürger durchsichtiger: Sowohl in Zivil- als auch in Strafsachen entscheidet beim Amtsgericht ein Richter als Zivil- oder Strafrichter allein. Die Schöffenauswahl beim Amtsgericht, wo Kollegialgerichte ohnehin ein Fremdkörper sind, entfällt36. Beim Landgericht entscheidet die Zivilund die Strafkammer in der Besetzung von drei Berufsrichtern. Die Strafkammer tritt allerdings in der Hauptverhandlung in drei verschiedenen Besetzungen auf: In Berufungsverhandlungen als Kleine Strafkammer in der Besetzung mit einem Berufsrichter und zwei Schöffen; als Gericht erster Instanz in der Besetzung mit zwei Berufsrichtern und zwei Schöffen oder als Große Strafkammer mit drei Berufsrichtern und zwei
35 A . a . O . L21; wäre dem wirklich so, müßte ja auch das erweiterte Schöffengericht nach §29 Abs.2 GVG - das von 1924-1932 bestand und 1953 wieder eingeführt wurde sofort abgeschafft werden. - Ergänzend ist noch darauf hinzuweisen, daß eine Richterbank mit zwei Berufsrichtern auch in früheren Entwürfen mehrfach vorgeschlagen worden ist; so der im Jahre 1908 vorgelegte Entwurf des Reichsjustizamtes, der Entwurf des Reichsjustizministers Schiffer aus dem Jahre 1919, der von James Goldschmidt stammte, oder ein Entwurf des Reichsjustizministers Radbruch (dazu Tröndle GA 1967, 165). Interessanterweise will auch Gössel (s. o. unter II) das Schöffengericht in der Besetzung 2 :2 entscheiden lassen. 36 Beim Amtsgericht wären nur noch in der Jugendgerichtsbarkeit die Jugendschöffen für das Jugendschöffengericht auszuwählen. Das Rechtsmittelsystem im jugendgerichtlichen Verfahren, das sich bewährt hat, sollte nicht verändert werden. Zu überlegen wäre hier nur, ob nicht das Jugendschöffengericht mit qualifizierten, d. h. vorgebildeten oder jedenfalls in der Jugendarbeit tätigen Schöffen besetzt werden sollte. Es würden dann qualifizierte Laien - ähnlich wie bei den Handelskammern der Landgerichte - mitwirken; der Name „Jugendschöffengericht" müßte sodann mit Rücksicht auf diese qualifizierten Laienrichter in „großes Jugendgericht" oder in eine andere - diese Besonderheit heraushebende - Bezeichnung geändert werden. Eine Angleichung der Jugendgerichtsbarkeit an das hier vorgeschlagene Rechtsmittelsystem in Erwachsenen-Strafsachen, wie ich es in JZ 1978, 334 erwogen hatte, scheint mir nach erneutem Durchdenken der Problematik nicht mehr empfehlenswert.
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Schöffen. Gegen Urteile des Amtsgerichts gibt es die Berufung 37 , gegen Urteile des Landgerichts die Revision. Zum andern würde sich bei dieser Neuorganisation eine Entlastung der Großen Strafkammern ergeben. Die Neuverteilung der Zuständigkeiten würde dahin führen, daß der Strafrichter nur Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr, die (neue) Strafkammer Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren 38 und die Große Strafkammer darüberliegende Freiheitsstrafen verhängen dürften. Die Großen Strafkammern wären damit nur noch als Schwurgericht, Staatsschutz- und Wirtschaftsstrafkammer (§§ 74 Abs. 2, 74 a und 74 c G V G ) und für die Fälle der Schwerkriminalität zuständig. Die oben aufgezeigten Erwägungen, die die Staatsanwaltschaften heute zu Anklagen vor der Strafkammer statt vor dem an sich zuständigen (einfachen oder erweiterten) Schöffengericht veranlassen, würden nicht mehr angestellt werden. Eine Verminderung der Anklagen zur Großen Strafkammer hätte dann zwangsläufig auch eine Verminderung der beim Bundesgerichtshof anfallenden Revisionen zur Folge; denn nach wie vor würden nur die Revisionen gegen Urteile der Großen Strafkammern vom Bundesgerichtshof zu entscheiden sein, die übrigen Revisionen gegen Urteile der Landgerichte würden an die Oberlandesgerichte gehen. Damit würde die erwünschte Entlastung des Bundesgerichtshofes eintreten, die sich der Gesetzgeber durch die Wiedereinführung des erweiterten Schöffengerichts im Jahre 1953 erhofft hatte35, die aber nicht erfolgte. Schließlich würde durch die Verlagerung der schöffengerichtlichen Zuständigkeiten an das Landgericht ein weiterer heute bestehender Mißstand beseitigt: Es ist höchst bedenklich, daß vom Schöffengericht Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren ausgesprochen werden können, ohne daß dem Angeklagten ein Verteidiger zur Seite stehen muß 40 ; nunmehr wäre ohne weiteres die Notwendigkeit der Verteidigung gem. § 140 Abs. 1 N r . 1 StPO begründet. VI. Hand in Hand mit einer Abschaffung des Schöffengerichts und seiner Ersetzung durch die Strafkammer in der hier vorgeschlagenen Form D a z u näher unter VI. ' Eventuell auch nur bis zu zwei Jahren; s. o. Fn. 27. 39 Durch das 3. Strafrechtsänderungsgesetz vom 4 . 8 . 1 9 5 3 ( B G B l . I, S. 735). 40 Zwar kann auch hier gem. § 140 Abs. 2 S t P O ein Verteidiger bestellt werden, da die Strafgewalt des Amtsgerichts nach §24 Abs. 2 G V G den Maßstab für den Begriff der Schwere bildet (vgl. O L G Köln N J W 1972, 1432); über die Frage entscheidet jedoch der Vorsitzende nach pflichtgemäßem Ermessen. - Demgegenüber wird es sich wohl kaum durchsetzen lassen, die notwendige Verteidigung auch vor dem heutigen Schöffengericht einzuführen, wie Rieß (Festschrift für Schäfer, 1980, S. 203) vorgeschlagen hat. 37 3
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sollte jedoch die Vereinfachung des Verfahrens vor dem Strafrichter gehen. Wo nämlich eine zweite Tatsacheninstanz vorgesehen ist, braucht das Verfahren der ersten Instanz nicht mit all den Sicherungen ausgestattet zu werden, die notwendig sind, wenn gegen ein Urteil nur die Revision gegeben ist41. Hier bietet sich vor allem eine Vereinfachung der Regeln über die Beweisaufnahme an. Es empfiehlt sich dieselbe Regelung wie in §77 O W i G und §384 Abs. 3 StPO, wonach das Gericht unbeschadet der Vorschrift des §244 Abs. 2 StPO - den Umfang der Beweisaufnahme bestimmt; denn die strikte Einhaltung der Bestimmungen des §244 Abs. 3 bis 6 StPO ist nicht erforderlich, wenn eine zweite Tatsacheninstanz eröffnet ist, in der Staatsanwaltschaft oder Verteidigung eine im ersten Rechtszug unterbliebene Beweiserhebung durchsetzen können. Es ist nicht einzusehen, daß solche nach Auffassung des Gerichts zur Erforschung der Wahrheit nicht notwendigen Beweiserhebungen in zwei Tatsacheninstanzen - also zweimal nacheinander - über § 244 Abs. 3 bis 5 StPO erzwungen werden können. Ferner könnte das Verfahren vor dem Strafrichter dadurch vereinfacht werden, daß die Vorschriften über die Verlesung von Urkunden und Schriftstücken gelockert und der Grundsatz der persönlichen Vernehmung (§250 StPO) eingeschränkt wird. Hierzu hat der Diskussionsentwurf (im Rahmen des darin vorgesehenen Strafbescheidverfahrens) brauchbare Vorschläge entwickelt42 und zutreffend begründet43. So ist es eine unnötige Förmelei, Schriftstücke vorzulesen, deren Inhalt Staatsanwalt, Verteidiger und Angeklagtem bekannt und mit deren Verwertung ohne Verlesung sie einverstanden sind. § 249 Abs. 2 StPO enthält zwar bereits eine vergleichbare Regelung; diese Vorschrift ist aber - da sie auf die Beteiligung der Schöffen Rücksicht nehmen mußte - umständlich abgefaßt und wird daher nach den bisherigen Erfahrungen in der Praxis kaum benutzt. Gerade im Verfahren vor dem Strafrichter aber ist eine vereinfachende Regelung praktikabel. Gleiches gilt für die im Einverständnis aller Beteiligten erfolgende Verlesung nicht-richterlicher Vernehmungsniederschriften über §251 Abs. 2 StPO und schriftlicher Gutachten über §256 StPO hinaus; auch dies kann zu einer Konzentration der Verhandlung auf das Wesentliche beitragen und läßt sich durch die Existenz der Berufung rechtfertigen. Peters44, der grundsätzlich die Tendenz billigt, die Kleinkriminalität in einem vereinfachten Verfahren zu erledigen, hat nun allerdings eingewendet, auch heute werde schon trotz
41 So zutreffend die Begründung des DE, S. 35, 38; Peters Verh. 52. Jt. Bd. I, C17; Rieß ebda. Bd. II, L22; ablehnend Benz ZRP 1977, 61. 42 Vgl. §295 DE-StPO. 43 Begründung des DE, S. 62 f. 44 Verh. 52.Jt. Bd.I, C23.
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Formgebundenheit vor dem Strafrichter schneller verhandelt und langwierige Verzögerungen durch die Geltung der Bestimmungen über das ordentliche Verfahren seien nicht bekannt geworden. Das liegt aber nur daran, daß sich viele Strafrichter über die strengen Vorschriften der §§244 Abs. 3 bis 5, 250, 251, 256 StPO hinwegsetzen 45 ; es wäre vernünftig, diesen ungesetzlichen Zustand, der in der Praxis ganz offen damit begründet wird, es werde in der Regel gegen das Urteil ja doch nur Berufung und nicht Revision eingelegt, durch eine Änderung des Gesetzes zu beenden. Vor allem aber würden dadurch für die Mehrzahl der Verfahren vertretbare Erleichterungen geschaffen, ohne daß ein Ansteigen der Berufungsverfahren zu befürchten wäre. Es ist sehr bedauerlich, daß diese vom Grundsatz her vernünftige Konzeption des Diskussionsentwurfs 4 6 , mit Rücksicht auf das Vorhandensein der Berufung das Verfahren vor dem Strafrichter zu vereinfachen, dadurch verschüttet wurde, daß der Diskussionsentwurf - erfüllt von der Idee des „Einheitsrechtsmittels" - gegen die Entscheidung des Strafrichters nur den Einspruch zum Schöffengericht 47 und gegen dessen Urteile nur die „Urteilsrüge" (d. h. die erweiterte Revision) zum Oberlandesgericht geben wollte. Bei Beibehaltung der Berufung gegen Urteile des Strafrichters zur Kleinen Strafkammer 48 und der Revision gegen deren Urteile zum Oberlandesgericht - also des dreistufigen Instanzenzuges im Bereich der kleineren Kriminalität - dürften sich durchschlagende Argumente gegen eine der Rechtswirklichkeit entsprechende Vereinfachung des Verfahrens vor dem Strafrichter kaum finden lassen. Der vielfach als „Uber-Sicherung" empfundene dreistufige Instanzenzug im Bereich der kleineren Kriminalität 49 läßt sich - wie in der Reformdiskussion deutlich 45 Man braucht nur einmal zu beobachten, mit welchen manchmal geradezu abenteuerlichen Begründungen Beweisanträge abgelehnt werden; über §250 S t P O setzt man sich dadurch hinweg, daß etwa vor Aussetzung einer Hauptverhandlung zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung vereinbart wird, die Niederschriften über die Vernehmungen der Zeugen in der neuen Hauptverhandlung zu verlesen. 46 Auch in der Stellungnahme des Richtervereins beim B G H zum D E als „an sich sinnvoll" bezeichnet ( D R i Z 1976, 18). 47 D a s war eine gänzlich verfehlte Konstruktion; zur Kritik vgl. Peters a. a. O . (Fn. 44) C 2 2 ; Sarstedt Verh. 52.Jt. B d . I I , L 4 8 ; Meyer-Goßner J Z 1978, 333. 48 Nicht zur Großen Strafkammer, wie Rieß (Verh. 52. Jt. Bd. II, L 3 3 und Festschrift für Schäfer, 1980, S. 218) vorschlägt. Die Ersetzung der Kleinen durch die Große Strafkammer für Berufungsverfahren gegen Urteile des Strafrichters soll nach seinen Vorstellungen nämlich mit einer Einschränkung der Revision gegen das Berufungsurteil erkauft werden : D a s O L G soll hier nur noch über eine der Rechtseinheit und der Rechtsfortbildung dienende „Rechtsbeschwerde" entscheiden (a. a. O . L 23). Das wäre ein schlechter Tausch, da er die Masse aller Strafverfahren der revisionsrichterlichen Kontrolle entziehen und zudem zu zwei verschiedenen Revisionsarten beim O L G führen würde. 49 Vgl. die Abstimmungsergebnisse beim 52. Dt. Juristentag zu den „Rechtsmitteln gegen Urteile des Einzelrichters" (Verh. Bd. II, L 2 2 4 unter D 3 und 4).
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geworden ist - nicht durch eine Einschränkung der Berufung oder der Revision50, sondern nur dadurch reduzieren, daß die erste Instanz - ihrer Auslesefunktion entsprechend - einfacher ausgestaltet wird als bei den Verfahren, für die es nur eine Tatsacheninstanz gibt: Berufungsinstanz und einzige Tatsacheninstanz - d. h. die Instanzen, gegen deren Urteile nur (noch) die Revision gegeben ist - müssen sich in den Anforderungen, die an sie gestellt werden, entsprechen; nicht jedoch brauchen sich erste und Berufungsinstanz in derselben Strafsache zu gleichen. Das Vorhandensein der Berufung erfordert in einem weiteren wesentlichen Punkt eine besondere Regelung. Nach § 267 StPO werden an die Urteilsgründe die gleichen Anforderungen gestellt, ohne Rücksicht darauf, ob das Urteil mit Berufung oder mit Revision angefochten wird. Das ist offensichtlich verfehlt und die Praxis hat sich auch hier längst über die gesetzliche Regelung hinweggesetzt: Man braucht nur Strafkammer- und Strafrichterurteile zu vergleichen. Daß ein Urteil, das die einzige Entscheidungsgrundlage für ein Rechtsmittelgericht bildet, ganz anders aussehen muß als ein Urteil, das nur Ausgangspunkt für eine vollständig neue Tatsachenverhandlung ist, liegt auf der Hand. Für das Berufungsverfahren genügt es, wenn das angefochtene Urteil die Feststellung des für erwiesen erachteten Sachverhalts und die Angabe, ob der Angeklagte geständig war oder durch welche Beweismittel er überführt wurde, enthält51. Hier ist weder eine Beweis Würdigung noch eine Begründung für die angeordneten Rechtsfolgen erforderlich; denn eine Beweiswürdigung muß das Berufungsgericht auf Grund des Ergebnisses seiner Beweisaufnahme selbst vornehmen und die Rechtsfolgen hat es nach dem Ergebnis seiner Verhandlung festzusetzen. Wird die Berufung verworfen, so hält das Berufungsgericht nicht auf Grund einer Uberprüfung das strafrichterliche Urteil für richtig, sondern es ist auf Grund seiner eigenen Untersuchung zu demselben Ergebnis wie der Strafrichter gelangt. Die Vorschrift des §267 StPO, die sich inzwischen zur umfangreichsten Bestimmung der gesamten Strafprozeßordnung ausgewachsen hat und zu einem „Monstrum" aus sechs Absätzen geworden ist52, ist also in drei Bestimmungen zu zerlegen: In der ersten sind die Anforderungen an die Gründe eines mit der Revision, in der zweiten an die eines mit der
50 Insbesondere wäre die Einführung einer Wahl-, Divergenz- oder Zulassungsrevision kein taugliches Mittel, vgl. dazu Meyer-Goßner J Z 1978, 333. 51 Hier wird nur auf das verurteilende Erkenntnis eingegangen. Das freisprechende Urteil unterliegt anderen Regeln; in ihm ist ohnehin nur darzustellen, ob der Angeklagte aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen freigesprochen worden ist, vgl. § 2 6 7 Abs. 5 StPO und unten VIII. 52 Rieß, Festschrift für Schäfer, S. 157, hat gezählt, daß dieses Monstrum aus 608 Wörtern besteht.
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Berufung und in der dritten an die eines nicht mehr anfechtbaren Urteils zu regeln". Daß der geltende § 267 StPO an alle anfechtbaren Urteile die gleichen Anforderungen stellt, liegt an der Zulässigkeit der (Sprung-)Revision gegen Urteile des Amtsgerichts54. Die Möglichkeit einer Sprungrevision steht einer Vereinfachung des Verfahrens vor dem Strafrichter ebenso entgegen wie der gekürzten Abfassung der Urteilsgründe. Wäre die Beibehaltung der Sprungrevision erforderlich, so würde dies die hier vorgeschlagenen Änderungen für das strafrichterliche Verfahren verbieten. Die Sprungrevision ist jedoch entbehrlich: Zum einen wird von ihr ohnehin nur in verschwindend kleinem Maße Gebrauch gemacht55; denn wenn man schon die Wahl hat, so ist es eben - wie der Jubilar treffend bemerkt hat56 - regelmäßig einfach ein Fehler, die Revision der Berufung vorzuziehen. Zum andern vermag die Berufung dasselbe zu leisten wie die Revision: Wird mit der Sprungrevision nämlich erfolgreich ein Verfahrensfehler gerügt, so führt dies nur zur Aufhebung und Zurückverweisung. Diese Befugnis hat aber gem. § 328 Abs. 2 S. 1 StPO - der heute nur wenig angewendet wird57 - auch das Berufungsgericht. Hierbei bestehen gegenüber der Revision sogar zwei Vorteile: Einmal ist die Zurückverweisung nur fakultativ; bei nicht so gravierenden Fehlern kann das Berufungsgericht selbst entscheiden - eine Regelung, für die die Befürworter einer erweiterten Revision kämpfen58. Zum andern verweist das Berufungsgericht an denselben Strafrichter zurück und kann diesen damit besser disziplinieren als das Revisionsgericht, das gem. §354 Abs. 2 StPO an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückverweisen muß. Wird mit der .Sprungrevision hingegen die Verletzung materiellen Rechts gerügt, so ist die ureigene Aufgabe des Berufungsgerichts angesprochen. Geht es ausschließlich um einen Freispruch aus rechtlichen Gründen, so kann das Berufungsgericht die Verhandlung mit Hilfe des 53 Ähnlich §§ 267-267 b und 295 b Abs. 3 DE-StPO. - In einer weiteren Vorschrift wäre das freisprechende und das einstellende Urteil zu behandeln; s. unten VIII. 54 Die von der Rechtsprechung erlaubte Einlegung eines zunächst unbestimmten Rechtsmittels (BGHSt. 2, 63) und die Möglichkeit des Ubergangs von der Berufung zur Revision (BGHSt. 25,321) haben zudem dazu geführt, daß an sich jedes nicht-rechtskräftige strafrichterliche Urteil „revisionssicher" abgefaßt werden muß. In der Praxis wird dies häufig dadurch umgangen, daß der Staatsanwalt durch Einlegung der Berufung die „Notbremse" des § 335 Abs. 3 StPO zieht, wenn die Einlegung einer Sprungrevision von Seiten des Angeklagten erfolgt oder zu befürchten ist. 55 Im Jahre 1973 im Bundesdurchschnitt in 0,26 % der amtsgerichtlichen Urteile, vgl. Tabelle 17 c der DE-Begründung. 56 Verh. 52. Jt. Bd. II, L42. 57 Fuhrmann ZStW 85, 70. 58 Vgl. §§330, 336 DE-StPO; Rieß Verh. 52. Jt. Bd. II, L19.
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§325 StPO auf die Rechtsfrage beschränken. Ist das materielle Recht grob fehlerhaft angewendet worden, so wird das Berufungsgericht den Fehler erkennen und bei Berufung des Angeklagten zum Freispruch, bei Berufung der Staatsanwaltschaft zur Verurteilung kommen. Handelt es sich aber um eine diffizile Rechtsfrage 5 ', so ist es nicht von Schaden, wenn sich vor dem Revisionsgericht noch das Berufungsgericht mit dem Problem auseinandersetzt und damit die Problematik für das Revisionsgericht möglicherweise noch vertieft und erweitert. Eine Untersuchung der von zwei Strafsenaten des Bayer. Obersten Landesgerichts im Jahre 1979 entschiedenen 71 Sprungrevisionen hat hierzu folgendes ergeben: In 38 Fällen wurde die Revision als unbegründet verworfen; es ist anzunehmen, daß das Berufungsgericht zu demselben Ergebnis gekommen wäre. In 28 Fällen wurde das Urteil aufgehoben und die Sache an das Amtsgericht zurückverwiesen. Hier hätte für das Berufungsgericht die Möglichkeit bestanden, entweder selbst zu entscheiden und damit die erhebliche Verfahrensverzögerung, die durch eine zweimalige Verhandlung der Sache beim Amtsgericht hervorgerufen wird, zu vermeiden oder - falls die Aufhebung auf Grund schwerwiegender Verfahrensfehler erfolgt sein sollte - ebenfalls gem. §328 Abs. 2 StPO an das Amtsgericht zurückzuverweisen. Lediglich in zwei Fällen wurde das Urteil des Amtsgerichts aufgehoben und der Angeklagte freigesprochen, in einem Fall wurde das Verfahren eingestellt (in den übrig bleibenden zwei Fällen wurde die Revision als unzulässig verworfen). Wenn hier auch nur die Ergebnisse zweier Strafsenate ausgewertet wurden, so darf doch angenommen werden, daß die Zahlen in etwa repräsentativ für alle Entscheidungen über Sprungrevisionen sein werden. Das bedeutet aber: N u r in ganz wenigen Fällen muß bei Abschaffung der Sprungrevision möglicherweise eine weitere Instanz in Kauf genommen werden, um schließlich das richtige Ergebnis zu erreichen; in der ganz überwiegenden Mehrzahl der Fälle führt die Einrichtung der Sprungrevision dazu, daß eine zweite Tatsachenverhandlung notwendig wird und in den Fällen, in denen gegen das erneute Urteil des Amtsgerichts Berufung eingelegt wird, werden sogar drei Tatsacheninstanzen durchgeführt. Da erscheint es bei dem verschwindend geringen Bruchteil der Sprungrevisionen bezogen auf die Zahl der eingelegten Rechtsmittel gegen amtsgerichtliche Urteile und dem äußerst geringen Bruch59 Solche Fälle, in denen Freispruch oder Verurteilung allein von der unterschiedlichen Beantwortung einer Frage des materiellen Rechts abhängt, sind selten; in jüngster Zeit etwa das Problem, ob der nicht-genehmigte Einbau sog. Radarwarngeräte nach § 15 FAG strafbar ist: Verneinend u.a. LG Tübingen N J W 1979, 1839 und LG Osnabrück M D R 1979, 866; bejahend u. a. BayObLG M D R 1979, 958; KG JR 1980, 173.
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teil der ohne weiteres erfolgreichen Sprungrevisionen vernünftiger, in allen Fällen zunächst eine zweite Tatsacheninstanz vorzusehen und auf die Sprungrevision zu verzichten, um damit eine erhebliche Vereinfachung für das erstinstanzliche Verfahren zu erzielen. Wird die Sprungrevision beseitigt, die Revision gegen die Berufungsurteile der Kleinen Strafkammer jedoch beibehalten, so braucht am Rechtsmittelzug gegen Urteile des Strafrichters nichts geändert zu werden. Der Vorschlag von Rieß, die Berufungen gegen Urteile des Strafrichters statt von der Kleinen von der Großen Strafkammer entscheiden zu lassen60, dafür aber die Revision einzuschränken61, ist von SarstedtM mit Recht kritisiert worden: Bei den Oberlandesgerichten würden dann zwei verschiedene Verfahrensarten gelten, je nachdem, ob erstinstanzliche oder Berufungsurteile zu überprüfen wären. Im übrigen wäre es aber auch ein ganz unverhältnismäßiger Aufwand, jede Bagatelle in zweiter Instanz vor der Großen Strafkammer zu verhandeln. Bisher ist die Kleine Strafkammer als Berufungsinstanz allgemein als völlig ausreichend angesehen worden; warum hier ohne Not nun die Vielzahl der Berufungen durch die Große Strafkammer erledigt werden soll, um eine Einschränkung der zahlenmäßig weitaus geringeren Revisionen zu erreichen, ist nicht einzusehen. Ebenfalls unverändert sollte der Rechtsmittelzug im Jugendstrafverfahren bleiben. Diese Regelung hat sich bewährt63; die starke Einschränkung der Revision in diesem Teilbereich ist im Interesse der vorrangigen Ziele des Jugendstrafrechts hinnehmbar. Nicht nachdrücklich genug kann aber davor gewarnt werden, dieses System allgemein einführen zu wollen: Die Strafrechtspflege würde schweren Schaden nehmen, wenn der Großteil aller Verfahren der revisionsrichterlichen Kontrolle praktisch entzogen werden würde64.
VII. Jeder Reformvorschlag muß sich daran messen lassen, ob er praktisch durchführbar ist. Die beste gedankliche Reform ist nichts wert, wenn sie an tatsächlichen Gegebenheiten scheitern muß. Tatsächliche GegebenS. Fn. 48. Nach dem D E hätte sich übrigens ein ganz überladener Rechtsmittelzug mit Strafbescheidsverfahren vor dem Strafrichter, Tatsachenverhandlung nach Einspruch gegen den Strafbescheid vor dem Schöffengericht und erweiterte Revision gegen das schöffengerichtliche Urteil zum O L G ergeben. 60
61
Verh. 52. Jt. Bd. II, L 4 7 . Peters Verh. 52. Jt. Bd. I, C 9 9 f f . ; Fezer " So auch Feier a. a. O . (Fn. 2). 62 63
(Fn. 2), S.27.
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heit ist, daß die Richterstellen in der Bundesrepublik Deutschland nicht beliebig vermehrbar sind. Ein Reformvorschlag, der einen Mehrbedarf an Richtern in erheblichem Umfang erfordert, ist zum Scheitern verurteilt. D a die Bundesrepublik Deutschland mit Richtern ohnehin schon reich gesegnet ist65, werden zusätzliche Richterstellen nur in beschränktem Maße geschaffen werden können. Es ist daher zu untersuchen, wie sich eine Ersetzung des Schöffengerichts durch die - in der Hauptverhandlung mit zwei Berufsrichtern entscheidende - Strafkammer auf die Richterzahl auswirken würde. Dies soll in zweierlei Weise geschehen: Einmal wird am Beispiel des Amtsgerichts München und des Landgerichts München I dargestellt, welche Folgen eine Auflösung der Schöffengerichte haben würde, zum anderen wird an Hand der Bayerischen Justizstatistik für das Jahr 1978 66 geprüft, wie sich die Veränderung des Rechtsmittelzuges (Wegfall der Sprungrevisionen und der Revisionen gegen Berufungsurteile der Großen Strafkammern, Einführung der Revision gegen erstinstanzliche Urteile der neuen Strafkammern zum Oberlandesgericht) im Geschäftsanfall der Oberlandesgerichte bemerkbar machen würde. 1. Beim Amtsgericht München fielen im Jahr 1979 bei den drei strafrechtlichen Abteilungen insgesamt 1078 Schöffengerichts- und 35 266 Strafrichtersachen an. Im einzelnen war das Verhältnis bei der Abteilung für allgemeine Strafsachen 818 zu 6400, bei der Abteilung für Verkehrsstrafsachen 69 zu 26 111 und bei der Abteilung für Wirtschaftsund Privatklagestrafsachen 191 zu 2755. Hierbei sind alle Anklagen, alle Anträge im beschleunigten Verfahren 67 und alle Einsprüche gegen Strafbefehle gezählt worden. Prozentual ausgedrückt waren daher bei der Abteilung für allgemeine Strafsachen ca. 11 % aller Verfahren Schöffengerichtssachen, bei der Abteilung für Verkehrsstrafsachen ca. 0,26 % und bei der Abteilung für Wirtschafts- und Privatklagesachen (von den nach Abzug der 623 Privatklagen verbleibenden 2132 Verfahren) ca. 9 % . Bei Verkehrsstrafsachen ist der Anteil der Schöffengerichtsverfahren somit so gering, daß er bei der weiteren Erörterung außer Betracht bleiben kann. Bei der Abteilung für allgemeine Strafsachen waren 22, bei der Abteilung für Wirtschafts- und Privatklagesachen waren 6 Richter für Wirtschafts- und 2 Richter für Privatklagesachen eingesetzt. Berücksichtigt man, daß eine durchschnittliche Schöffengerichtssache gegenüber einer durchschnittlichen Strafrichtersache wegen des Umfangs der
Vgl. dazu Blankenburg DRiZ 1979, 197. Die Statistik für das Jahr 1979 stand dem Verfasser noch ncht zur Verfügung. 67 Außer denjenigen, die bereits von den sog. Schnellrichtern im Polizeipräsidium München oder in der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim erledigt wurden. 65
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Verfahren, der eingehenderen Durchführung der Hauptverhandlung und der Beratung mit den Schöffen etwa den doppelten Zeitaufwand erfordert, so würden bei Abschaffung des Schöffengerichts bei der allgemeinen Abteilung etwa 20 % des derzeitigen Arbeitsaufwandes entfallen, bei der Abteilung für Wirtschaftsstrafsachen etwa 1 8 % . Das bedeutet, daß mindestens vier der Richter für allgemeine Strafsachen und einer der Wirtschaftsstrafrichter entbehrlich wären. Bei den Großen Strafkammern des Landgerichts München I fielen im Jahr 1979 405 Anklagen und 560 Berufungen an. Rechnet man die Verfahren ab, die von der Schwurgerichtskammer und zwei Wirtschaftsstrafkammern bearbeitet wurden (diese Spruchkörper wurden nahezu ausschließlich als erstinstanzliche Gerichte tätig), so bleiben 345 Anklagen und 558 Berufungen, die von 11 Strafkammern zu erledigen waren. Geht man davon aus, daß erstinstanzliche Verfahren in der Regel einen größeren - wenn auch nicht ganz den doppelten - Zeitaufwand beanspruchen, da eine Reihe der Berufungen auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt werden und damit weniger aufwendig sind, so kann der Anteil des Arbeitsaufwandes für Anklagen und Berufungen etwa gleichgesetzt werden. Großzügig gerechnet - wobei noch die Tatsache, daß bei Einführung der neuen Strafkammern die Anklagen zur Großen Strafkammer abnehmen werden 68 , außer Betracht bleibt - wäre also die Hälfte der 11 Großen Strafkammern entbehrlich. Das würde eine Ersparnis von mindestens 5 Vorsitzenden und mindestens (da die Strafkammern unterschiedlich mit 1 : 2 und 1 : 3 Richtern besetzt waren) 14 Beisitzern ergeben. Zusammen mit den beim Amtsgericht freiwerdenden Richtern könnten daher 24 Richter (5 vom Amtsgericht, 19 vom Landgericht) in den neuen Strafkammern eingesetzt werden. Das bedeutet, daß acht Strafkammern mit einem Vorsitzenden und zwei Beisitzern gebildet werden könnten. Diese acht Strafkammern hätten die jetzigen 1078 Schöffengerichtssachen erledigen müssen; pro Strafkammer ergibt das rund 134 Verfahren. Nach dem derzeit geltenden Pensenschlüssel werden bei einer Großen Strafkammer für jedes richterliche Mitglied unter Einschluß des Vorsitzenden in Berufungssachen jährlich 65 Verfahren angesetzt. Diese Zahl wird ohne Bedenken auch den von den neuen Strafkammern zu erledigenden Verfahren zugrundegelegt werden können, da sich bei den jetzigen schöffengerichtlichen Verfahren ja auch viele einfach zu erledigende Sachen befinden. Eine Belastung von 67 Verfahren für jeden Beisitzer muß daher als außerordentlich günstig und ohne weiteres zu erledigen bezeichnet werden.
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Die hier vorgeschlagene Ersetzung des Schöffengerichts duch die Strafkammer erfordert somit für die Tatsacheninstanz keinen zusätzlichen Richterbedarf, sondern nur eine Umgruppierung und eine geringfügige Mehrzahl von Vorsitzenden Richtern69. Bei aller Vorsicht, die gegenüber der hier vorgenommenen - notwendigerweise grob vereinfachenden Rechnung angebracht ist und bei allen Vorbehalten gegenüber einer Übertragung dieser Zahlen auf andere Gerichtsbezirke, wird man sagen können, daß Schwierigkeiten bei der tatrichterlichen Abwicklung der Verfahren durch eine Umwandlung der Schöffengerichte in Strafkammern, die in der Hauptverhandlung in der Besetzung 2 :2 entscheiden, nicht entstehen würden; dabei ist zu berücksichtigen, daß hier stets nach unten abgerundet wurde, um auf keinen Fall zu unrealistischen Ergebnissen zu gelangen. 2. Hätte es das hier vorgeschlagene Rechtsmittelsystem schon im Jahre 1978 gegeben, so wäre der Anfall der zu erledigenden Revisionen beim Bayer. Obersten Landesgericht70 wie folgt gewesen: Insgesamt wurden im Jahre 1978 vom Bayer. Obersten Landesgericht 1915 Revisionen erledigt71. Hiervon betrafen 1197 Urteile der Kleinen Strafkammer und 150 Urteile der Jugendgerichte; entfallen wären 568 Revisionen, nämlich 100 Sprungrevisionen gegen Urteile des Strafrichters, 11 Sprungrevisionen gegen Urteile des Schöffengerichts und 457 Revisionen gegen Berufungsurteile der Großen Strafkammer. Dafür wären aber die Revisionen gegen die erstinstanzlichen Urteile der neuen Strafkammern angefallen. Wie viele das wären, ist schwer zu errechnen: Nach den statistischen Erfahrungen wird gegen gut 30 % aller schöffengerichtlichen Urteile Berufung eingelegt und gegen etwa 25 % der Berufungsurteile der Großen Strafkammern Revision, so daß etwa 8 °/o aller schöffengerichtlichen Verfahren durch drei Instanzen gehen. So wurden 1975 von den bayerischen Schöffengerichten 5180 Verfahren erledigt, von den Großen Strafkammern 1596 Berufungsverfahren und 383 Revisionen gegen Berufungsurteile der Großen Strafkammern. Für 1976 lauten die Zahlen 5584 : 1726 : 441; für 1977 5323 : 1832 : 438 und
69 Wogegen wohl nichts einzuwenden ist, weil damit zugleich das Ärgernis beseitigt wird, daß der bisherige Vorsitzende des Schöffengerichts zwar Vorsitzender eines Kollegialgerichts, aber nicht Vorsitzender Richter i. S. d. § 19 a Abs. 1 D R i G ist. 70 Das gem. § 9 Satz 1 E G G V G , A r t . 22 Nr. 2 B a y A G G V G in Bayern für die Revisionen in Strafsachen zuständig ist. 71 Alle Zahlen sind aus der Bekanntmachung des Bayer. Staatsministeriums der Justiz über die Justizstatistik, Bayer. Justizministerialblatt 1977, 136 ff. und 1979, 149 ff. entnommen.
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für 1978 5329 : 1947 : 45772. Nun kann nicht angenommen werden, daß gegen jedes Urteil, das mit Berufung angefochten wurde, auch die Revision eingelegt worden wäre, wenn nur dieses Rechtsmittel gegeben wäre. Umgekehrt kann nicht gesagt werden, daß nur in den Fällen, in denen gegen die Berufungsurteile Revision eingelegt wurde, die Revision erhoben worden wäre. Die Zahl der Revisionen dürfte in der Mitte liegen. Es ist also nicht von 30 % und nicht von 8 % , sondern von einem Mittelwert von ca. 20 % auszugehen. Diese Zahl erscheint auch deswegen realistisch, weil der heute vielen Berufungen zugrundeliegende Anreiz, im Berufungsverfahren einen „Strafrabatt" (vor allem bei Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch) zu erzielen73, im Revisionsverfahren nicht gegeben ist74 und der Begründungszwang für die Revision viele Rechtsmittelführer, die unbedenklich Berufung einlegen, abschreckt. Legt man die 1978 von den Schöffengerichten in Bayern erledigten Verfahren in Höhe von 5329 zugrunde, so wäre somit mit einem Anfall von ca. 1065 Revisionen zu rechnen gewesen. Hiervon sind die wegfallenden Revisionen gegen Berufungsurteile der Großen Strafkammern und die Sprungrevisionen gegen Amtsgerichtsurteile mit insgesamt 568 abzuziehen, so daß sich eine zusätzliche Belastung von 497 Revisionen ergibt. Das ist zugegebenermaßen eine nicht unerhebliche Mehrbelastung, nämlich eine Steigerung der Revisionen um etwa 26 % . Sie ist der Preis dafür, daß eine zweite Tatsacheninstanz entfällt. Dieser Preis wird aber im Ergebnis dadurch aufgewogen, daß eine erhebliche Beschleunigung des Verfahrens in den jetzigen Schöffengerichtssachen erzielt wird und läßt sich durch die Einsparung der Aufwendungen für die zweite Tatsacheninstanz rechtfertigen. Eine solche Steigerungsrate könnte von den Oberlandesgerichten durchaus noch verkraftet werden. Die als Prozentzahl sehr hoch wirkende Zahl bedeutet ζ. B. umgerechnet auf das Bayer. Oberste Landesgericht (das für alle Revisionen in ganz Bayern zuständig ist), daß statt bisher 18 Beisitzer in den Strafsenaten nunmehr 21 Beisitzer benötigt würden - also nur drei mehr als bisher. Wenn nämlich im Jahre 1978 von 6 Strafsenaten und 3 Senaten für Bußgeldsachen mit 4 Vorsitzenden und 18 Beisitzern 75 1915 Revisionen, 338 Rechtsbeschwerden nach 72 Die Überschneidungen zum Jahresende gleichen sich jeweils aus. Festzustellen ist jedoch, daß der Prozentsatz der Berufungen stark gewachsen ist: Von knapp 31 % im Jahre 1975 auf über 35 % im Jahre 1978, während der Prozentsatz der Revisionen gleichbleibend bei ca. 25 % liegt. 73
Vgl. dazu
Tröndle
in: Probleme der Strafprozeßreform, 1975, S. 82.
Denn das Revisionsgericht hat die Wertung des Tatrichters bei der Strafzumessung bis zur Grenze des Vertretbaren hinzunehmen: B G H N J W 1977, 639. 75 Die Vorsitzenden stehen jeweils mehreren Senaten vor; die Beisitzer sind in mehreren Senaten tätig. 74
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dem O W i G und 1328 Zulassungsanträge nach §80 O W i G erledigt wurden, so bedeutet der Zugang von 497 Revisionen eine Steigerung der Gesamteingänge um etwa 13,5%, die - unter Berücksichtigung des erhöhten Schwierigkeitsgrades und des Umfangs von Revisionen gegenüber Rechtsbeschwerden und Zulassungsanträgen - mit drei zusätzlichen Richtern sicher abgefangen werden könnte 76 . Bei kleineren Oberlandesgerichten würde also bereits ein Richter genügen, um den erhöhten Anfall an Revisionen zu bewältigen. Eine solche Aufstockung der Zahl der beim Oberlandesgericht tätigen Richter wäre trotz der beschränkten Anzahl von hierfür in Betracht kommenden Personen wohl noch ohne größere Schwierigkeiten zu erreichen und würde auch die Rechtseinheit gegenüber dem jetzigen Zustand nicht spürbar beeinträchtigen, zumal auf die Dauer mit einer größeren Belastung der Oberlandesgerichte eine Entlastung des Bundesgerichtshofes als dem für die Erhaltung der Rechtseinheit in erster Linie zuständigen Gericht erzielt werden würde. Schreckt man jedoch gleichwohl davor zurück, die Zahl der bei den Oberlandesgerichten in Strafsachen tätigen Richter auch nur geringfügig zu vergrößern, so würde sich noch ein anderer Weg anbieten. Die Oberlandesgerichte werden in zunehmendem Maße mit Bagatellsachen überschwemmt, da die Zahl der Zulassungsanträge nach § 80 O W i G in beängstigender Weise zunimmt: 2568 Anträgen im Jahr 1971 stehen 7761 Anträge im Jahr 1978 gegenüber77! O b sich diese Entwicklung wieder dadurch aufhalten oder gar zurückdrehen läßt, daß die Oberlandesgerichte die Anforderungen an die Zulassung verschärfen, wie Göhler kürzlich vorgeschlagen hat78, läßt sich füglich bezweifeln; denn selbst wenn in Zukunft erheblich weniger Anträge zugelassen würden als bisher, würde deswegen die Zahl der Zulassungsanträge wohl kaum merklich sinken 7 '. Es wäre aber eine verquere Situation, wenn den Oberlandesgerichten Fälle der mittleren Kriminalität deswegen nicht in verstärktem Maße zugewiesen werden könnten, weil die Oberlandesge-
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Nicht berücksichtigt sind hierbei die erstinstanzlichen Verfahren, für die das Bayer. Oberste Landesgericht gem. §9 Satz 2 E G G V G , Art. 22 Nr. 1 BayAGGVG ebenfalls zuständig ist. Hier kamen 1978 fünf Verfahren hinzu und wurden sieben Verfahren erledigt. - Die Verteilung der Aufgaben der Vorsitzenden Richter müßte bei einem Zuwachs von Revisionen natürlich auch neu überlegt werden. 77 Vgl. die Zusammenstellung bei Göhler, Festschrift für Schäfer, 1980, S.45. 78 A . a . O . S.49ff. 7 ' Zutreffend weit Göhler (a. a. O., Fn. 77 S. 50) allerdings darauf hin, daß es verfehlt ist, die Rechtsbeschwerde zuzulassen, wenn das Rechtsbeschwerdegericht erkennt, daß die Ordnungswidrigkeit bei Erlaß des angefochtenen Urteils bereits verjährt war. Hierbei wird nicht nur die Funktion des Zulassungsrechtsbeschwerdeverfahrens verkannt; auch aus dogmatischen Gründen ist die Zulassung keineswegs zwingend (vgl. Meyer-Goßner GA 1973, 372).
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richte mit Entscheidungen über Ordnungswidrigkeiten überhäuft sind. Hier wird wohl ohnehin über kurz oder lang eine Änderung erfolgen müssen80. Wenn man auch nicht so weit wird gehen können, die Uberprüfung von Bußgeldbescheiden generell den Verwaltungsgerichten zuzuweisen, wie P e t e r s 8 1 vorgeschlagen hat82, so bieten sich hier doch verschiedene Wege einer Entlastung der Oberlandesgerichte an: Sei es, daß die Anforderungen an den Zulassungsantrag verschärft werden, sei es, daß im Zulassungsverfahren nur noch ein Richter des Senats tätig wird, sei es, daß die Zahl der Bußgeldverfahren bereits in der ersten Instanz durch geeignete Maßahmen beschränkt wird. Hier kann im einzelnen auf diese Möglichkeiten nicht eingegangen werden; die Fragen sind ohnehin im Fluß. Jedenfalls ist es auf die Dauer ein unmöglicher Zustand, wenn- die Oberlandesgerichte mehr als ein Drittel ihrer Arbeitskraft auf Zulassungsanträge verwenden83. Es soll nicht verkannt werden, daß die Entscheidung eines Bagatellfalles Auswirkungen auf täglich tausendfach vorkommende Sachlagen haben kann; die Uberhäufung der Oberlandesgerichte mit unbegründeten Zulassungsanträgen bleibt gleichwohl ein Ärgernis. Die vorrangige Befassung mit gewichtigen Strafsachen würde die richtigen Verhältnisse wiederherstellen. Eine Entlastung der Oberlandesgerichte würde sich schließlich auch dann ergeben, wenn es gelingen würde, die Zahl der Revisionen gegen Urteile der Kleinen Strafkammer, die derzeit etwa ein Drittel aller anfallenden Verfahren ausmachen84, zu verringern. Dies ließe sich wiederum durch eine Einschränkung der Berufungsverfahren erreichen. Es wäre zu erwägen, das Verbot der reformatio in peius - das sich nicht zwangsläufig aus dem Rechtsstaatsprinzip ergibt85 - für das Berufungsverfahren zu lockern. Wenn nämlich das Berufungsgericht auf Grund seiner Verhandlung neue tatsächliche Feststellungen treffen darf, so erscheint es nicht unbedingt konsequent, es gleichwohl an den Rechtsfolgenausspruch des amtsgerichtlichen Urteils zu binden86. Dies ist besonders dann 80 Die "Präsidenten der Oberlandesgerichte haben im Mai 1979 bereits den Vorschlag gemacht, die Rechtsbeschwerdegrenze zu erhöhen; dazu Göhler a . a . O . (Fn.77) S.61. 81 Verh. 52. Jt. B d . I , C 1 7 und Lehrbuch des Strafprozesses, 1966, S.32. 82 Der Ubergang vom Bußgeld- zum Strafverfahren nach §81 O W i G und umgekehrt würde damit nämlich außerordentlich erschwert werden. 83 1978 waren 37,1 % aller beim Bayer. Obersten Landesgericht erledigten Revisionsund Rechtsbeschwerdeverfahren Zulassungsanträge nach § 80 Abs. 1 O W i G ; von den 1328 Anträgen wurden 1047 nicht zugelassen. 84 1978 waren es beim Bayer. Obersten Landesgericht 3 3 , 4 % , 1977 3 3 , 7 % . 85 B G H S t . 9, 332. 86 Folgerichtig sah der D E für das Einspruchsverfahren vor dem Schöffengericht nach dem Strafbescheidsverfahren (wobei das Verfahren vor dem Schöffengericht der Sache nach ein Berufungsverfahren war - s. o. unter I, Fn. 9) kein Verschlechterungsverbot vor; § 295 i DE-StPO.
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nur schwer erträglich, wenn das Berufungsgericht neue Tatsachen feststellt, die zu einer Verschärfung des Schuldspruchs führen müssen. Zumindest in einem solchen Fall sollte §331 Abs. 1 StPO nicht gelten. Das Interesse des Angeklagten „ohne Furcht vor Nachteilen darüber entscheiden zu können, ob er Berufung einlegen will oder nicht" 87 , ist dadurch gewahrt, daß er sein Rechtsmittel bis zum Beginn der Urteilsverkündung zurücknehmen kann. Vor Überraschungen ist der Angeklagte dadurch gefeit, daß er auf die Änderung des rechtlichen Gesichtspunktes - und die damit bestehende Gefahr der Verschärfung der Strafe - gem. §265 Abs. 1 StPO hingewiesen werden muß. Allerdings müßte das Zustimmungserfordernis der Staatsanwaltschaft zur Zurücknahme der Berufung nach § 303 Satz 1 StPO entfallen. Der Sinn dieses Zustimmungserfordernisses ist ohnehin nur schwer einzusehen: Seinem Zweck nach bezieht sich § 303 StPO an sieh nur auf Berufungen der Staatsanwaltschaft 88 , indem er ungerechte Benachteiligungen des Angeklagtèn verhindern will; er darf nicht als Mittel der Staatsanwaltschaft benutzt werden, eine härtere Verurteilung des Angeklagten in zweiter Instanz zu erreichen. Mit einer solchen Änderung des § 331 Abs. 1 StPO könnte die Zahl der unbegründeten Rechtsmittel zwar nicht erheblich, aber doch spürbar reduziert werden. Es gibt somit verschiedene Möglichkeiten, die - zahlenmäßig nicht allzu hohe - Mehrbelastung der Oberlandesgerichte abzufangen. Auch die Zunahme der Revisionen würde der Ersetzung der Schöffengerichte durch Strafkammern daher nicht im Wege stehen.
VIII. Die hier vorgeschlagene Reform des Rechtsmittelsystems erfordert keine großen gesetzestechnischen Änderungen. In der Strafprozeßordnung ist in den §§212, 212 b Abs. 1, 273 Abs. 2, 312 und 407 Abs. 1 das Wort „Schöffengericht" zu streichen, die §§ 335 und 408 Abs. 1 S. 3 und 4 sind ganz aufzuheben 85 . Hinter §256 StPO ist eine Vorschrift einzufügen, die die Vereinfachungen für die Beweisaufnahme im Verfah-
87
Löwe-Rosenberg/Gollwitzer 23. Aufl., Rdn. 1 zu §331 StPO. Löwe-Rosenberg/Gollwitzer Rdn. 1 zu §303 StPO. 89 Beschleunigte Verfahren (§§ 212, 212 b Abs. 1 StPO) und Strafbefehlsverfahren (§ 408 Abs. 1 Satz 3 und 4 StPO) vor dem Schöffengericht kommen in der Praxis - wenn überhaupt - ohnehin nur höchst selten vor; auch ohne eine weitergehende Reform könnte insoweit auf eine Ausdehnung auf schöffengerichtliche Sachen verzichtet werden. 88
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ren vor dem Strafrichter enthält. Dieser §256 a StPO könnte etwa folgendermaßen lauten90: „(1) Im Verfahren vor dem Strafrichter bestimmt dieser unbeschadet des §244 Abs. 2 den U m f a n g der Beweisaufnahme. (2) Im Einverständnis mit dem Staatsanwalt, dem Verteidiger und dem Angeklagten kann 1. von der Verlesung einer U r k u n d e oder eines anderen als Beweismittel dienenden Schriftstücks abgesehen werden, 2. eine Niederschrift über die nichtrichterliche Vernehmung eines Mitbeschuldigten, Zeugen oder Sachverständigen und ein Gutachten, das nach §256 Abs. 1 nicht verlesen werden darf, verlesen werden."
Die unförmige Bestimmung des §267 StPO ist in vier Vorschriften aufzulösen: Die erste Bestimmung enthält die Anforderungen an die schriftlichen Gründe eines verurteilenden Strafkammerurteils, gegen das Revision eingelegt ist. Die zweite Vorschrift bestimmt den Umfang der Begründung eines mit der Revision angefochtenen freisprechenden oder einstellenden Strafkammerurteils. Eine dritte Bestimmung stellt die Anforderungen an die Gründe eines mit der Berufung angefochtenen Strafrichterurteils fest und eine weitere Vorschrift behandelt schließlich das rechtskräftige Urteil. Diese vier Bestimmungen könnten wie folgt gefaßt werden" : •„§267 (1) Wird der Angeklagte verurteilt, so m u ß die Urteilsbegründung die erwiesenen Tatsachen, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden, angeben. Auf Abbildungen, die sich bei den Akten befinden, kann hierbei wegen der Einzelheiten verwiesen werden. (2) Die Begründung gibt die Erwägungen an, die für die Auswahl und Zumessung der Rechtsfolgen bestimmend gewesen sind, und bezeichnet die hierbei zugrunde gelegten Tatsachen. (3) Die Begründung gibt an, welche G ü n d e für die Feststellung der in Absatz 1 und 2 bezeichneten Tatsachen maßgebend gewesen sind. (4) Die Begründung bezeichnet die angewendeten Vorschriften; hierbei kann auf die Angaben nach §260 Abs. 5 Bezug genommen werden. §267 a (1) Wird der Angeklagte freigesprochen oder wird das Verfahren eingestellt, so gibt die Urteilsbegründung an, welche G r ü n d e hierfür maßgebend waren.
90 In Anlehnung an § 295 D E - S t P O , der allerdings sogar noch die Verlesung schriftlicher Äußerungen von Mitbeschuldigten, Zeugen und Sachverständigen erlauben wollte; diese im Zivilprozeß (§377 Abs. 3 und 4 Z P O ) vertretbare Regelung erscheint f ü r das Strafverfahren doch zu weitgehend und bedenklich. 91 Vgl. die ähnliche Regelung in §§ 267-267 b D E - S t P O , die die weiteren - gegenüber § 267 S t P O notwendigen - Verbesserungen enthielt: Angabe der Beweis- und Strafzumessungstatsachen und die Anforderungen an ein freisprechendes Urteil.
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(2) Ist der Angeklagte nicht überführt, so gibt die Begründung an, welche Feststellungen getroffen sind; §267 Abs. 3 gilt entsprechend. (3) Hält das Gericht eine Tat für erwiesen, aber nicht für strafbar, so ist §267 Abs. 1 und 3 sinngemäß anzuwenden. § 267 b Wird gegen das Urteil das Rechtsmittel der Berufung eingelegt, so kann die Begründung nach § 267 Abs. 2 und 3 und nach § 267 a auf die hauptsächlichen Erwägungen beschränkt werden92. §267c (1) Wird gegen das Urteil kein Rechtsmittel eingelegt und ist der Angeklagte verurteilt, so bedarf es der in §267 Abs. 2 und 3 verlangten Angaben nicht; das Gericht bestimmt den Inhalt der Urteilsgründe insofern unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nach seinem Ermessen. Wird der Angeklagte freigesprochen, so braucht nur angegeben zu werden, ob die ihm zur Last gelegte Straftat aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht festgestellt worden ist'3. (2) Die Begründung kann innerhalb der in §275 Abs. 1 S. 2 vorgesehenen Frist ergänzt werden, wenn gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird." I m G e r i c h t s v e r f a s s u n g s g e s e t z bewirkt der Wegfall der S c h ö f f e n g e r i c h t e f o l g e n d e Ä n d e r u n g e n : D i e § § 2 4 , 2 8 , 2 9 , 58 A b s . 2 u n d 7 7 G V G e n t f a l l e n . I n d e n § § 2 5 u n d 74 f f . G V G ist d i e n e u e Z u s t ä n d i g k e i t s a b g r e n z u n g zwischen Strafrichter, (neuer) Strafkammer u n d Großer Strafk a m m e r v o r z u n e h m e n . § 2 5 G V G ist d u r c h e i n e n z w e i t e n A b s a t z z u e r g ä n z e n , in d e m b e s t i m m t w i r d , d a ß d e r S t r a f r i c h t e r n i c h t a u f eine h ö h e r e S t r a f e als ein J a h r F r e i h e i t s s t r a f e u n d n i c h t auf d i e U n t e r b r i n g u n g in e i n e m p s y c h i a t r i s c h e n K r a n k e n h a u s allein o d e r n e b e n einer S t r a f e , o d e r in d e r S i c h e r u n g s v e r w a h r u n g e r k e n n e n d a r f . Z u e r w ä g e n
wäre
ferner, o b u n d inwieweit die Strafgewalt des Strafrichters bei der G e l d s t r a f e b e s c h r ä n k t w e r d e n sollte' 4 . I n d e n §§ 74 f f . G V G ist d i e Z u s t ä n d i g keit der G r o ß e n S t r a f k a m m e r f ü r Schwurgerichts-, StaatsschutzWirtschaftsstrafsachen
sowie
f ü r die V e r g e h e n
und
Verbrechen
und zu
92 Das Gericht hat hier im Fall der Verurteilung anzugeben, ob der Angeklagte geständig war oder nicht und weswegen er im letzteren Falle als überführt anzusehen ist. Im Falle des Freispruchs ist der wesentliche Grund zu nennen. Bei den Rechtsfolgen ist etwa nur näher zu begründen, warum Geld- oder Freiheitsstrafe verhängt oder warum keine Strafaussetzung zur Bewährung gewährt wurde; die Begründung wird sich hierbei also auf die „kritischen" Punkte beschränken. " Die durch das Strafverfahrensänderungsgesetz 1979 (BGBl. 1978 I, 1645) in §267 Abs. 4 StPO eingefügte Möglichkeit der Bezugnahme auf die Anklage oder den Strafbefehl bringt in der Praxis nur eine unbedeutende Erleichterung für den Richter beim Amtsgericht, führt aber andererseits dazu, daß die Urteile in sich nicht mehr verständlich sind und andere Aktenstücke ebenso lange wie das Urteil aufgehoben werden müssen; diese Änderung sollte daher wieder gestrichen werden. M Dazu P e t e r s Verh. 52.Jt. Bd. I, C 1 9 ; §24 Abs.2 DE-GVG.
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bestimmen, bei denen eine Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren' 5 oder die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in der Sicherungsverwahrung zu erwarten ist oder wenn wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Schwierigkeiten der Sache die Verhandlung vor der großen Strafkammer erforderlich ist' 6 . Die weder vom Strafrichter noch von der Großen Strafkammer zu entscheidenden Strafsachen werden der (neuen) Strafkammer zugewiesen, deren Strafgewalt auf drei' 7 Jahre Freiheitsstrafe zu begrenzen ist. Die in der Hauptverhandlung in der Besetzung 2 : 2 entscheidende Strafkammer wird in dem neuzufassenden § 76 G V G institutionalisiert; die Vorschrift müßte lauten: „§76 (1) Die Strafkammern entscheiden außerhalb der Hauptverhandlung in der Besetzung von drei Mitgliedern mit Einschluß des Vorsitzenden. (2) In der Hauptverhandlung ist die Strafkammer besetzt: mit dem Vorsitzenden und zwei Schöffen in der Verhandlung über das Rechtsmittel der Berufung (kleine Strafkammer); mit drei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Schöffen als große Strafkammer; mit zwei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Schöffen in allen übrigen Fällen."
Die Regelung des § 77 G V G ist in die §§ 30 ff. G V G einzuarbeiten, da Schöffen nun - abgesehen von den Jugendschöffen, deren Auswahl im Jugendgerichtsgesetz näher geregelt und dahin ausgestaltet werden sollte, qualifizierte bzw. auszubildende Schöffen zu finden - nur noch beim Landgericht tätig werden. Eine Ausformulierung dieser Änderungen wäre verfrüht und würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen.
IX. Wir stehen in der heutigen Situation vor der Frage, ob wir gegenwärtige Rechtsmittelsystem bis in das nächste Jahrtausend in Hoffnung beibehalten sollen, daß dann vielleicht eine Gesamtreform Strafverfahrensrechts, die immer wieder gefordert wird 98 , gelingt, so bzw. zwei Jahren; vgl. Es erscheint angezeigt, die besondere Schwierigkeit § 7 4 Abs. 2 N r . 2 D E - G V G L224. 95
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das der des wie
Fn. 38 und § 74 Abs. 2 N r . 1 D E - G V G . entgegen § 74 Abs. 1 G V G auf den besonderen Umfang und statt auf die besondere Bedeutung der Sache abzustellen; so und Beschluß des 52. Deutschen Juristentags, Verh. Bd. II,
Oder zwei Jahre, vgl. Fn. 95. Wassermann und Schreiber in Strafprozeß und Reform, 1979, S. 11 und 23; Wolter G A 1980, 81. 97 98
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es Rieß" kürzlich vorgeschlagen hat100, oder ob es nicht angezeigt ist, behebbare Mängel unseres derzeitigen Rechtsmittelsystems unabhängig von der Frage einer Totalrevision der Strafprozeßordnung zu beseitigen, wenn dies ohne größere Schwierigkeiten möglich ist. Die ins Auge springenden Mängel unseres derzeitigen Systems sind der überladene Rechtsmittelzug für die kleinere und mittlere Kriminalität verbunden mit dem weiten Anwendungsgebiet der Berufung. Wie hier zu zeigen versucht wurde, ist durch eine Vereinfachung des Verfahrens in Fällen der geringeren Kriminalität und durch eine Verbesserung der ersten Instanz bei der mittleren Kriminalität in Verbindung mit der Abschaffung der Berufung in diesem Bereich die immer wieder geforderte und bisher nicht bestehende Ausgewogenheit des Rechtsmittelsystems in Strafsachen zu erreichen. Die Bedenken gegen die Abschaffung der Berufung in den jetzigen schöffengerichtlichen Verfahren sollten fallengelassen werden: Es ist wohl unbestritten, daß die erste Instanz nicht durch die Existenz der Berufung, sondern durch die der Revision verbessert wird101. Ist gegen ein Urteil die Revision eröffnet102, so wird sich das Erstgericht peinlich bemühen, keinen Verfahrensfehler zu begehen, die Tatsachen exakt festzustellen und das Urteil sorgfältig zu begründen; die Berufung hat diese das Erstgericht disziplinierende Wirkung nicht103. Auf die Berufung kann nicht verzichtet werden, wenn die erste Instanz nicht so ausgestattet werden kann, daß ihr Urteil in der Regel in der Revision bestehen kann. Wenn aber deswegen eine zweite Tatsacheninstanz eröffnet ist, so brauchen an die erste Tatsacheninstanz nicht die gleichen Anforderungen wie an ein Verfahren gestellt zu werden, in dem das dort ergehende Urteil nur mit der Revision anfechtbar ist. Die Berufung ist aber überflüssig und möglicherweise sogar schädlich, wenn die erste Instanz den Ansprüchen an eine in jeder Hinsicht erschöpfende, einwandfreie Sachverhaltsaufklärung entspricht und ihr Urteil den notwendigerweise zu stellenden, " Festschrift für Schäfer, 1980, S. 155. 100 Wobei allerdings fraglich erscheint, ob bei dem von Rieß vorgeschlagenen Weg, Kommissionen einzusetzen und jahrzehntelang tagen zu lassen, letztlich überhaupt etwas Brauchbares herauskommen wird. Die bisherigen Erfahrungen sind insofern nicht gerade ermutigend und die Geschichte lehrt, daß das entschiedene Handeln eines Einzelnen nämlich des Reichsjustizministers Emminger im Jahre 1924 - mehr vermocht hat. 101 Tröndle Bd. II, L 4 6 .
in: Probleme der Strafprozeßreform, 1975, S. 82ff.; Sarstedt
Verh. 5 2 . J t .
102 Daß die theoretische Möglichkeit der Sprungrevision diesen Effekt nicht hat, ist oben unter VI dargelegt worden; vgl. auch F n . 5 4 . 10J Daneben werden auch Angeklagte und Verteidiger zu einer ganz anderen und effektiveren Mitarbeit gezwungen, wenn sie wissen, daß es keine zweite Tatsacheninstanz gibt. Das läßt sich tagtäglich an dem Ablauf der Verhandlungen vor dem Strafrichter und dem Schöffengericht einerseits und dem vor der Strafkammer andererseits beobachten.
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erfreulicherweise immer mehr steigenden Anforderungen der Revisionsgerichte zu genügen vermag. Eine Wiederholung der ersten Instanz auf Grund der Berufung ist daher nur dort zu verantworten, wo die erste Instanz notwendigerweise mehr oder minder summarisch angelegt ist. Ist umgekehrt die Berufung eröffnet, so darf sich die erste Instanz eines vereinfachten Verfahrens bedienen. Daher muß die Forderung lauten, das Verfahren vor dem Strafrichter wegen der Unverzichtbarkeit der Berufung in diesem Bereich zu vereinfachen, das Verfahren vor dem Schöffengericht wegen der Notwendigkeit einer eingehenden Untersuchung dem Verfahren vor der Strafkammer anzugleichen. Geschieht dies, so wird unser Rechtsmittelsystem ausgewogen und die unbefriedigenden Kompromisse - wie erweitertes Schöffengericht für umfangreiche Verfahren nach §29 Abs. 2 GVG zuständig, in praxi aber vielfach doch Anklage dieser Strafsachen bei der Großen Strafkammer; Sprungrevision gegen amtsgerichtliche Urteile gem. § 335 Abs. 1 StPO möglich, praktisch aber fast bedeutungslos; Revisionsanforderungen nach §267 StPO an amtsgerichtliche Urteilsgründe, in Wahrheit genügen diese Gründe oftmals den Anforderungen jedoch nicht - entfallen. Wagen wir also den Schritt, die Unausgewogenheit des Rechtsmittelsystems zu beseitigen; eine Qualitätsverbesserung in den jetzigen schöffengerichtlichen Verfahren, ein zügigerer Ablauf der Verfahren vor dem Strafrichter und insgesamt ein reibungsloserer Verlauf der Strafverfahren ohne überflüssige Verfahrenswiederholungen werden es uns danken. Freilich darf hierbei nicht die Frage aus den Augen verloren werden, wie das Revisionsverfahren weiter verbessert werden kann. Zwar hat bereits ein Wandel im Revisionsrecht stattgefunden, wie P e t e r s 1 0 4 erst vor kurzem wieder dargelegt hat105. Daß hier jedoch noch manches im argen liegt, hat der Jubilar auf dem 52. Deutschen Juristentag angedeutet106. Hier sei nur ein Punkt aufgegriffen, der für das behandelte Thema von großer Bedeutung ist. Nach § 349 Abs. 2 StPO kann eine Revision durch Beschluß verworfen werden, wenn das Revisionsgericht die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet. An dieser Bestimmung stört zunächst das Wort „offensichtlich". Die Revisionsgerichte, die bei Verwerfung der Revision in immer stärkerem Maße von der
Festschrift für Schäfer, 1980, S. 137. Dies haben insbesondere auch schon die Untersuchungen von Fezer, Möglichkeiten einer Reform der Revision in Strafsachen, 1975, und Die erweiterte Revision - Legitimierung der Rechtswirklichkeit? 1974, ergeben; vgl. ferner Schmid, Der Revisionsrichter als Tatrichter, ZStW 85, 360. 106 Verh. 52. Jt. Bd. II, L 4 0 . 104
105
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Möglichkeit des §349 Abs. 2 StPO Gebrauch gemacht haben107 und jetzt schon in über 9 0 % der Verwerfungen durch Beschluß entscheiden108, lassen dieses Wort im Verwerfungsbeschluß zumeist wèg oder umgehen es durch den Hinweis auf §349 Abs. 2 StPO. Das bedeutet, daß die Revision nicht nur bei „offensichtlicher Unbegründetheit", sondern in der Regel bei Unbegründetheit durch Beschluß verworfen wird. Dies ist nicht zu beanstanden; denn es läßt sich wohl behaupten, daß die Entscheidung durch Beschluß in einem im wesentlichen schriftlichen Verfahren, in dem auf Grund der Revisionsbegründungsschrift an Hand des schriftlich vorliegenden Protokolls der Hauptverhandlung des Tatgerichts der Verfahrensgang und an Hand des schriftlich vorliegenden Urteils die Urteilsgründe überprüft werden, grundsätzlich nicht unangemessen ist, wenn das Revisionsgericht keinen Fehler feststellen kann. Das ominöse Wort „offensichtlich" sollte daher in §349 Abs. 2 StPO gestrichen werden. Diese Änderung darf jedoch nicht dahin mißverstanden werden, daß die Revisionsgerichte nun in verstärktem Maße Bedenken gegen die Richtigkeit eines angefochtenen Urteils unterdrücken sollen109. Im Gegenteil: Unglücklich an der gegenwärtigen Regelung der Beschlußverwerfung erscheint nämlich, daß das Revisionsgericht in der Regel seine Gründe geheimhält. Der Revisionsführer erfährt fast nie, warum seine Revision als unbegründet verworfen wurde, da sich der Verwerfungsbeschluß in den allermeisten Fällen auf den Ausspruch der (offensichtlichen) Unbegründetheit beschränkt. Der Revisionsführer kann nur aus dem Antrag der Staatsanwaltschaft schließen, daß seine Revision unbegründet war, wobei aber offen bleibt, ob das Revisionsgericht die Revision aus den gleichen Gründen verworfen hat110. Es wäre daher wünschenswert, daß das Revisionsgericht dem Revisionsführer in seinem Verwerfungsbeschluß selbst mitteilt, warum es die Revision für unbegründet erachtet hat. Daß dies in aller gebotenen Kürze und bei Ubereinstimmung mit den Ausführungen der Staatsanwaltschaft unter 107 So ergibt sich aus der Tabelle 2 der DE-Begründung (s. 135), daß beim Bundesgerichtshof der Prozentsatz der Beschlußverwerfungen von 68,16% im Jahre 1965 auf 75,28% im Jahre 1972 gestiegen ist; wurden 1965 noch 28,50% der Revisionen durch Urteil erledigt, so waren es 1972 nur noch 12,82 %, was allerdings auch darauf zurückzuführen ist, daß die Entscheidungen durch Beschluß nach § 349 Abs. 4 StPO ebenfalls stark zugenommen haben. 108 Sarstedt Verh. 52. Jt. Bd.II, L36. 109 Diese Gefahr sieht Sarstedt (a. a. O . Fn. 108), der zwar grundsätzlich mit der Streichung einverstanden ist, um nicht unehrlich zu sein, der aber befürchtet, daß solche gesetzgeberische Ehrlichkeit zu noch weiterer Ausdehnung der Beschlußverwerfung führen würde. 1,0 Daß das keineswegs immer der Fall ist, bestätigt Sarstedt ( a . a . O . , Fn. 108, L40).
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Hinweis oder Bezugnahme auf deren Antrag geschehen könnte, ist selbstverständlich. Damit würde das Unbehagen an den Beschlußverwerfungen entfallen, die Entscheidungen der Revisionsgerichte würden an Uberzeugungskraft gewinnen und die Widerstände gegen die Beibehaltung der Berufung in ihrem jetzigen Umfang wären leichter zu überwinden.
Clarence Darrow und Earl Rogers Eine historische und kriminalpsychologische Studie zur amerikanischen Strafverteidigung
W O L F MIDDENDORFF
Ende 1975 spielte Curd Jürgens im Schwetzinger Rokoko-Theater das Einmann-Stiick „Im Zweifel für den Angeklagten", das die Lebensgeschichte des amerikanischen Strafverteidigers Clarence Darrow behandelt. Schon vorher, 1963, hatte der verstorbene hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer den jungen deutschen Juristen Clarence Darrow als Vorbild und Leitbild empfohlen. Es scheint daher der Versuch angebracht zu beschreiben, wer Clarence Darrow war; gleichzeitig soll gezeigt werden, wer sein großer Gegenspieler an der amerikanischen Westküste, Earl Rogers, war, und wie beide sich voneinander unterschieden; als Ergebnis fügt sich daraus ein ausschnittartiges Bild der damaligen amerikanischen Strafverteidigung, an das nur die Maßstäbe der eigenen Epoche angelegt werden können und das nicht auf die Gegenwart übertragen werden kann, auch wenn Traditionen weiterwirken. Was das benutzte Material anlangt, so ist die Quellenlage für Darrow wie für Rogers annähernd gleich; die Biographie Darrows schrieb Irving Stone, der durch viele Biographien berühmt geworden ist, der aber zuweilen seine Helden - vielleicht unbewußt - etwas romantisiert. Die Biographie über Rogers stammt von zwei Journalisten, Alfred Cohn und Joe Chisholm. Die Tochter von Rogers, Adela Rogers St. Johns, die die Einführung geschrieben hat, ist nicht mit allem einverstanden. Clarence Darrow hat außerdem seine Autobiographie geschrieben, „The Story of my Life", während Adela Rogers St. Johns in „Final Verdict" mit viel Engagement versucht hat, ein Lebensbild ihres Vaters zu zeichnen. Der Journalist und Gerichtsberichterstatter Alan Hynd hat beide Verteidiger porträtiert; stellenweise sind seine Ausführungen indessen mit Vorsicht aufzunehmen. In meinen folgenden Ausführungen habe ich nur Uberprüftes und Bestätigtes wiedergegeben und hoffe, daß es mir gelungen ist, die oft überschwengliche amerikanische Ausdrucksweise durch meine Ubersetzung auf das richtige Maß zurückgeführt zu haben. Zu erwähnen sei noch das Buch von Arthur Weinberg, „Anwalt der Verdammten", das einige der wichtigsten Plädoyers von Darrow enthält. Die Methode meiner Studie ist die historisch-kriminologische und biographische, wie ich sie in meinem früheren Buch „Beiträge zur
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Wolf M i d d e n d o r f
Historischen Kriminologie" dargestellt habe. Moderne Biographien betonen in verstärktem Maße den Wert der Psychohistorie, d.h. sie versuchen eine psychologische Erfassung der Gesamtpersönlichkeit, zu der auch - untrennbar - das Privatleben und das gehört, was manche Historiker und Juristen in Unkenntnis seiner Bedeutung etwas abfällig das Anekdotische nennen. Grundlage jeder Wertung und Beurteilung ist die Kenntnis der Fakten, und so liegt das Schwergewicht meiner Ausführungen auf der Mitteilung von Tatsachen aus Leben und Beruf meiner „Helden". Für ein umfassendes Urteil und die Bildung einer Theorie ist es noch zu früh, das mag vielleicht später unter Hinzufügung weiterer Lebensläufe der unten noch genannten Verteidiger erfolgen, um die Kenntnis der Vergangenheit für die Gegenwart nützlich zu machen. Ein Vergleich mit deutschen Verhältnissen ist bisher nur sehr bedingt möglich, insbesondere weil es über den deutschen Strafverteidiger viel weniger Material gibt, denn er steht ja nicht so im Rampenlicht der Öffentlichkeit und hat nicht die prozessualen Möglichkeiten wie seine amerikanischen Kollegen, die vieles getan haben und manches auch heute noch tun, was bei uns unmöglich ist.
I. Clarence Darrow: Leben und Prozesse Clarence Darrow wurde am 18.4.1857 in Kinsman, Ohio, als Sohn eines früheren Methodistenpfarrers geboren, der seinen Beruf aufgegeben hatte, um Zimmermann zu werden. Dessen Wahlspruch war „Das Ende aller Weisheit ist die Furcht vor Gott, und der Beginn des Zweifels ist auch der Beginn der Weisheit". Durch diese Erziehung wurde der junge Clarence schon bald zum Freigeist. Mit 14 Jahren beschloß er, Rechtsanwalt zu werden, denn gegenüber dem Haus seines Vaters lebte und amtete der Friedensrichter des Dorfes. Clarence beobachtete ihn sehr oft und entnahm aus der Tätigkeit des Richters für sich die Lehre, daß Recht haben nicht bedeutet, Recht zu bekommen, und er erlebte es mehrfach, daß ein Rechtsanwalt aus der nahen Stadt für seinen Klienten verblüffende Erfolge erstritt. Die zweite Lehre ging ihm während der alljährlichen Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag am 4. Juli auf: aus den Reden der Politiker, die man als so ehrlich bezeichnete wie die Anpreisungen eines Auktionators, wurde es ihm klar und allmählich zum Glaubensbekenntnis, daß die Menschen im allgemeinen dumm sind und daß sie alles glauben, was man ihnen vorsetzt, wenn es nur genügend geschickt zubereitet ist. Später bewies Darrow diese These unzählige Male als Verteidiger im Gerichtssaal.
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Darrow's normale Erziehung endete nach dem nur einjährigen Besuch der High School. Mit 16 Jahren mußte er aus finanziellen Gründen die Schule verlassen und betätigte sich drei Jahre als Volksschullehrer. Zwischendurch lernte er aus juristischen Büchern und besuchte für ein Jahr die Law School der Universität in Ann Arbor, Michigan. Ein weiteres Jahr lernte er in der Praxis eines Anwalts in Youngstown, Ohio, und bestand dann sein Examen vor einem Ausschuß aus Anwälten. Anschließend wurde er als Rechtsanwalt in Andover, Ohio, zugelassen. Nun heiratete er seine Jugendfreundin Jessie Ohl, die ihm von ihrem ersparten Geld seine ersten juristischen Bücher kaufte. Mit ihr zusammen hatte er sein einziges Kind, den Sohn Paul. Darrows erste Klienten in Andover und anschließend in der Kleinstadt Ashtabula waren Farmer, denen Milchpanschen zum Vorwurf gemacht wurde. Da man damals noch keine technischen Mittel besaß, um Wasser in Milch nachzuweisen, gelang es ihm meistens, seinen Klienten zu einem Freispruch zu verhelfen. Schon damals sagte man Darrow einen „Pferdeverstand" nach; er sei ein echter Junge vom Lande, der es vorzüglich verstehe, sich der Atmosphäre des Landes anzupassen bzw. sich in ihr zu halten. 1888 zog Darrow mit seiner Familie nach Chicago, wo es ihm in den ersten Jahren finanziell sehr schlecht ging. So verdiente er im ersten Jahr seiner Tätigkeit in der großen Stadt nur 300 Dollar. Zu seinen ersten Klienten gehörte der berühmte Hochstapler Joe Weil (Yellow Kid), dem er zu einem Freispruch verhalf. Als Weil ihn später noch einmal bat, seine Verteidigung zu übernehmen, lehnte Darrow ab, weil ihm der kalt rechnende und harte Hochstapler nicht paßte. Darrow war demgegenüber emotional, großzügig und in Gelddingen nachlässig, man kann sogar sagen, daß er überhaupt keine Beziehung zum Geld hatte. Von reichen Mandanten verlangte er ζ. B. nur ein Honorar von 5000 Dollar, wo er ohne weiteres 25 000 bis 30 000 Dollar bekommen hätte, wenn er sie nur verlangt hätte. Man weiß bis heute nicht genau, wieviel Darrow in seinem Leben überhaupt verdient hat; für viele Jahre waren es sicher mehrere 100 000 Dollar jährlich. Darrow gab sein Geld aus, wie er es verdiente, und es gelang Schwindlern immer wieder, ihm schlechte Wertpapiere anzudrehen, so daß er einmal sagte, er habe genug schlechte Aktien, um damit seine Wohnung tapezieren zu können. Mehrfach war er bankrott und mußte mit großen Schulden von ganz unten wieder anfangen. Im großen Börsenkrach von 1929 verlor er sein erspartes Vermögen und begann mit 72 Jahren noch einmal ganz von vorne. Nachdem Darrow ein oder zwei Jahre in Chicago tätig gewesen war, merkte er, daß seine Frau Jessie - wie es sein Biograph Stone ausgedrückt hat - die Wahl seiner Jugend, aber nicht die Wahl seiner reifen
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Jahre war. Sie konnte mit seiner Entwicklung nicht Schritt halten, sie war ein Heimchen am Herd, liebte es nicht, auszugehen und verstand ihren Mann allmählich nicht mehr. Darrow war ihr dankbar für das, was sie bisher für ihn getan hatte, liebte es aber immer häufiger, von zu Hause wegzubleiben und begann ein Verhältnis mit einer Reporterin in Chicago. Als er Jessie bat, ihm seine Freiheit zu geben, antwortete sie, es würde ihm in seinem Beruf wohl weniger schaden, wenn er die Scheidungsklage gegen sie einreiche als umgekehrt. Nach der Scheidung sorgte Darrow während seines ganzen Lebens großzügig für seine geschiedene Frau. In seiner Selbstbiographie vermeidet er allerdings zu erwähnen, daß sie ihm den Start als Anwalt in Andover ermöglicht hatte. Darrow wurde nun ein Apostel der freien Liebe, hatte eine Reihe von Verhältnissen, und die Frauen liefen ihm nach. 1899 lernte er nach einem Vortrag Ruby Hamerstrom kennen, die für die „Chicago Evening Post" arbeitete. Sie war damals 26 Jahre alt, er 42. Vier Jahre später heirateten sie. Die Hochzeitsreise ging durch mehrere europäische Länder, und auf dieser Reise schrieb Darrow das Buch „Farmington", das den Bericht über seine Kindheit enthält. Nach Chicago zurückgekehrt, verfaßte Darrow in seiner Freizeit Artikel über mancherlei Sachgebiete und hielt Vorträge, insbesondere über literarische Themen. In seiner Wohnung fanden regelmäßig literarische Abende statt - bei uns würde man so etwas einen Salon nennen - , zu denen Gelehrte und Philosophen, Schriftsteller und Wissenschaftler eingeladen wurden. Mehrfach äußerte Darrow, es sei eigentlich sein Wunsch gewesen, Schriftsteller zu werden, und sein großer Traum war es, später einen Roman zu schreiben; Stone erinnert in diesem Zusammenhang an das alte amerikanische Sprichwort, in der Brust eines jeden Juristen sei das Wrack eines Dichters beerdigt. Zeitweise lebte Darrow überhaupt nur von Vorträgen und Diskussionen mit Theologen in verschiedenen Städten der U S A , für die er jeweils ein Honorar von 500 Dollar erhielt. Er selbst trat bei diesen Diskussionen als Agnostiker auf. Sein politischer Standpunkt war nicht eindeutig festzustellen, er bezeichnete sich selbst als Pazifist und Sozialist, auf die Frage jedoch, ob er auch in eine sozialistische Partei eintreten würde, antwortete er, das würde er niemals tun, weil in einer solchen Partei so viele asoziale Leute seien. Manche seiner politischen Äußerungen waren widersprüchlich; auf der einen Seite kämpfte er für das Frauenstimmrecht, auf der anderen Seite hielt er nichts davon. 1928 hielt sich Darrow mit seiner Frau für ein Jahr in Europa auf, besuchte Schriftsteller und Künstler, u.a. Somerset Maugham, und schrieb in der Schweiz seine Selbstbiographie, die mehr Allgemeines als Berufsbezogenes und mehr weltanschauliche Bekenntnisse als Fakten enthält.
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In der ersten Zeit seines Aufenthaltes in Chicago war Darrow Rechtsberater der „Chicago and North-Western Railway Company". Als 1894 ein Streik gegen die Gesellschaft ausbrach, stellte sich Darrow auf die Seite der Streikenden, gab seine gut bezahlte Stellung auf und wurde Verteidiger der Streikführer. Schon früher hatte sich Darrow als Anwalt der Armen gefühlt; als Verteidiger von Gewerkschaftlern, die des Mordes am früheren Gouverneur von Idaho angeklagt waren, sagte er beispielsweise in einem elfstündigen Plädoyer: „Ich spreche für die Armen, die Schwachen und die Müden, für die vielen, vielen Menschen, die in Dunkel und Verzweiflung die ganze Last des Menschenlebens zu tragen haben." Die „Chicago Tribune" schrieb über sein Plädoyer: „Er war Meister der Schmährede, der Beleidigung und des Sarkasmus, des Pathos und vieler anderer oratorischer Kniffe; nur von sachlicher Argumentation war nichts zu verspüren. Angeblich war das Plädoyer eine Rede um das Leben Bill Haywood's, doch tatsächlich wendete sich Darrow gar nicht an die zwölf Geschworenen, die vor ihm saßen, sondern an die Sozialisten in allen Ländern." Darrow wurde berühmt durch einige besonders spektakuläre Strafverteidigungn, wie die der beiden Millionärssöhne Nathan Leopold und Richard Loeb 1924 in Chicago. Beide hatten einen 14jährigen Jungen getötet und zwar lediglich des Nervenkitzels wegen. Im Alter von 67 Jahren warf Darrow seine ganze Existenz in die Waagschale, um die Angeklagten vor der Todesstrafe zu retten. Zu dieser Zeit war Darrow der bestgehaßte Mann in Chicago, und man warf ihm vor, er verrate die Sache des kleinen Mannes, für die er bisher sein ganzes Leben gekämpft habe. Darrow's Plädoyer dauerte zwei Tage und wirkte so auf die Menschen, die es hörten, daß viele, einschließlich des Richters, weinten. Die Angeklagten wurden tatsächlich nicht zum Tode, sondern zu Freiheitsstrafen von lebenslänglich plus 99 Jahren verurteilt. Ein Jahr später trat Darrow in dem sogenannten Affenprozeß in Dayton, Tennessee, auf. In diesem Staat war ein Gesetz erlassen worden, das jedem Lehrer untersagte, eine Abstammungslehre zu vertreten, die dem in der Bibel ausgesprochenen göttlichen Schöpfungsakt des Menschen widerspreche. Mit diesem Gesetz sollte insbesondere die Abstammungslehre Darwin's getroffen werden. Ein Lehrer, Scopes, willigte ein, absichtlich die Darwinsche Lehre zu lehren, um dann angeklagt zu werden, was auch sehr rasch geschah. Die öffentliche Meinung in den USA wies darauf hin, daß es in diesem Prozeß um das Prinzip der Meinungsfreiheit gehe. Ein bekannter Politiker, William Jennings Bryan, stellte sich als Wortführer der Strenggläubigen (Fundamentalisten) der Anklagebehörde als Hilfe zur Verfügung, während Clarence Darrow unentgeltlich die Verteidigung von Scopes übernahm, da er das
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Gesetz von Tennessee als einen Angriff religiöser Fanatiker auf das gesamte amerikanische Erziehungssystem ansah. Der Prozeß erregte ungeheures Aufsehen und zog sich viele Tage hin. Höhepunkt der Hauptverhandlung war der Zweikampf zwischen Bryan und Darrow; Bryan stellte sich selbst als Zeuge zur Verfügung und ließ sich von Darrow vernehmen. Es ging im wesentlichen um die wörtliche Auslegung der Bibel, und Darrow fragte Bryan z . B . folgendes: „Wenn man nun liest, Jonas habe den Walfisch verschlungen - oder richtiger: der Walfisch habe Jonas verschlungen - wie legen Sie eine solche Stelle nun wörtlich aus?" Uber die Auslegung, ob der Fisch ein Walfisch gewesen sei oder nicht, stritt man sich nun ebenso wie über die Zeitspanne, die Jonas im Magen des Fisches verbracht habe. Auf die Frage Darrow's, ob Bryan die Geschichte von der Sintflut wörtlich nehme, antwortete dieser „Ja". Der Angeklagte Scopes war eigentlich die am wenigsten wichtige Person im Gerichtssaal, er wurde schließlich zu einer Geldstrafe von 100 Dollar verurteilt, im Berufungsverfahren wurde das Urteil aufgehoben. Die amerikanische Öffentlichkeit schrieb es dem Auftreten Darrow's zu, daß ähnliche Gesetze wie das Abstammungsgesetz von Tennessee in anderen Staaten der U S A gar nicht erst erlassen wurden. Darrow fühlte sich weder einem religiösen Glauben noch einer politischen Partei verbunden, er hatte niemals einen Lebensplan, sondern ließ sich von der Übernahme eines Falles zu der nächsten treiben. Sein Wahlspruch war, daß man eigentlich immer nur vergeben könne und tolerant sein müsse. Diese Ansichten bestimmten auch sein Auftreten als Kriminologe. Seine Gedanken über Verbrechen und Strafe waren nicht immer abgewogen, sondern manchmal unkritisch. Er lehnte nicht nur die Todesstrafe, sondern auch die Freiheitsstrafe ab, ohne sagen zu können oder zu wollen, durch was sie ersetzt werden könne. Es gab für ihn auch keinen freien Willen. 1902 sprach er in einem Gefängnis in Chicago zu den Insassen und sagte ihnen unter anderem: „Ich glaube nicht, daß die Leute im Gefängnis sind, weil sie es verdienen. Sie sind einfach deswegen da, weil sie es infolge von Umständen nicht vermeiden konnten, die ganz außerhalb ihrer Kontrolle liegen, und für die sie in keiner Weise verantwortlich s i n d . . . Wenn ich 500 Schwerverbrecher aus diesem Gefängnis oder irgendeinem anderen Gefängnis der Welt und noch 500 Prostituierte von der Straße nehme und ihnen genügend Land verschaffe, so daß sie ihren Lebensunterhalt verdienen können, so werden sie - ich garantiere dafür - ebenso anständig sein wie der Durchschnitt aller Bürger." Ein Gefangener, der nach dieser Rede von einem Aufseher auf seinen Eindruck hin angesprochen wurde, antwortete: „Er ist zu radikal."
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Wenn Darrow eindeutig Schuldigen zum Freispruch verhalf, rechtfertigte er dies vor sich und anderen damit, daß das ganze System der Justiz eben unvollkommen sei und Jury und Richter die eigentlichen Probleme wie das der Willensfreiheit ohnehin nicht verstehen könnten. In seiner Autobiographie äußerte Darrow jedoch auch Gedanken, die seiner Zeit weit voraus eilten und die man heute kriminalpolitisch als Grundsätze der Défense sociale bezeichnen würde wie ζ. B. zur Gesetzgebung, zur Todesstrafe und zur Resozialisierung.
II. Earl Rogers: Leben und Wirken Earl Rogers wurde 1870 in der kleinen Stadt Perry in der Nähe von Buffalo im Staate N e w Y o r k geboren. Sein Vater war Baptistenprediger, seine Mutter Lehrerin. Der Vater war unruhig und ging bald mit seiner Familie über Oregon nach Kalifornien und ließ sich schließlich in Los Angeles nieder. Neben seinem eigentlichen Beruf war er Grundstücksmakler. Das Geschäft ging jedoch nicht gut, so daß der junge Earl, der im Staate N e w Y o r k zurückgeblieben war, das Studium an der Universität von Syracuse nach zwei Jahren abbrechen mußte. Er hatte ohnehin nicht, dem Wunsche seines Vaters nachkommend, Theologie studiert, sondern mehrere andere Fächer. Er war hochbegabt und saugte das Wissen buchstäblich wie ein Schwamm ein. Er hatte ein phänomenales Gedächtnis und eine große Begabung sowohl für alte wie für neue Sprachen. Nachdem Earl zu seiner Familie in Los Angeles gekommen war, verdiente er sich sein erstes Geld als Landmesser und dann als Zeitungsreporter. E r wollte sich auf diese Weise sein Geld für ein Medizinstudium verdienen, brach aber auch dieses nach kurzer Zeit ab, da er heiratete und seine Frau schon bald ein Kind erwartete. Er hatte sich plötzlich einsam gefühlt und seine Studentenliebe aus dem Osten, Hazel Belle Green, nach Los Angeles kommen lassen und sie sofort geheiratet. Später wird er einmal seiner Tochter sagen: „Ich heiratete zu jung, es war sowohl für sie wie für mich eine Tragödie." Während seiner Tätigkeit als Reporter, insbesondere als Gerichtsberichterstatter, sah Earl Rogers hilflose Angeklagte, schlechte Verteidiger und skrupellose Staatsanwälte, die um jeden Preis einen Erfolg haben mußten, um wiedergewählt zu werden. Von Kollegen wurde ihm gesagt, in ihm stecke mit Sicherheit ein guter Jurist, und so bewarb er sich um eine Lehrstelle in der Praxis des ehemaligen Senators White, der einer der bekanntesten Rechtsanwälte in Los Angeles war. Daneben studierte er gerichtliche Entscheidungen und Lehrbücher mit großer Intensität. Im Büro White lernte Rogers die Wichtigkeit der genauen Vorbereitung
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einer Verteidigung und lernte auch, wie es möglich war, eine J u r y zugunsten des Verteidigers zu beeinflussen. Von einem juristischen Examen Rogers' ist nichts berichtet, es war wahrscheinlich genauso einfach wie das von Clarence D a r r o w ; auf jeden Fall wurde Rogers 1897 in L o s Angeles als Anwalt zugelassen. Er arbeitete zunächst in Bürogemeinschaft mit einem älteren Anwalt, doch als dieser ihm Vorwürfe machte, weil er morgens schon betrunken ins B ü r o käme, eröffnete er seine eigene Praxis. Von da ab blieb er immer, wie man in Amerika sagt, ein „lone Wolf". Schon bald vernachlässigte er seine Familie; seine häufigen Besuche im Dirnenviertel rechtfertigte er mit beruflicher Notwendigkeit. A u s diesem Milieu erhielt er auch seine erste spektakuläre Verteidigung, die des Arztes Crandall, der in eine Schießerei um ein Mädchen verwickelt war. In der Hauptverhandlung fehlte die Hauptbelastungszeugin; Rogers stand auf, sah die J u r y an, z o g seine Augenbrauen und Schultern hoch und setzte sich wieder hin. Drei Minuten später war Crandall freigesprochen. H y n d behauptet, Rogers habe eine ihm bekannte Prostituierte gebeten gehabt, die Belastungszeugin auf seine Kosten zu einer Reise nach Mexiko einzuladen. C o h n und Chisholm sagen, es sei niemals ganz geklärt worden, ob Rogers mit dem Verschwinden der Zeugin etwas zu tun gehabt habe, die Zeugin selbst habe jedenfalls überall behauptet, Rogers hätte hinter ihrer Reise nach Mexiko gesteckt. Wenn Rogers zu Zeiten weniger Mandate hatte, besuchte er als Zuschauer alle wichtigen Hauptverhandlungen in Strafsachen und beobachtete ganz genau das Verhalten von Richtern, Zeugen, Staatsanwälten, Verteidigern und Laienrichtern. Ihm fiel vor allem auf, daß die Laienrichter im allgemeinen von ärztlichen Zeugenaussagen und Sachverständigengutachten fasziniert waren, und daß viele Verteidiger auf diesem Gebiet wenig oder gar keine Kenntnisse hatten und insbesondere nicht in der Lage waren, Staatsanwälten auf diesen Gebieten entgegenzutreten. E r warf sich deshalb mit der bei ihm gewohnten Energie auf das Gebiet der Gerichtsmedizin und der Psychiatrie und erhielt auch einige Zeit später einen Lehrauftrag für Gerichtsmedizin an einem College in L o s Angeles. Einer der spektakulärsten Auftritte von Rogers geschah anläßlich seiner Verteidigung des Angeklagten Cole, dem zur Last gelegt wurde, im Streit einen Mann erschossen zu haben; Cole selber behauptete dagegen, der Hauptbelastungszeuge sei der Täter gewesen. A n der Schußwaffe fanden sich die Fingerabdrücke des Zeugen. D e r Belastungszeuge sagte nun aus, Cole habe erst das O p f e r erschossen und dann mit der Waffe auf ihn, den Zeugen, gezielt. Er sei jedoch ganz ruhig geblieben, und C o l e habe dann die Waffe weggeworfen, und er, der Zeuge,
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habe sie aufgenommen, und daher stammten seine Fingerabdrücke. Rogers folgte von da an nicht mehr dem Lauf der Hauptverhandlung, er machte allmählich auf alle im Saal einen etwas gestörten Eindruck, sprang plötzlich mit einem wilden Gesichtsausdruck auf, riß aus einer Aktentasche eine Pistole und legte auf den Staatsanwalt an, der sofort hinter seinem Pult verschwand und dabei noch stürzte. Dann richtete er die Waffe auf die Jury und schrie dabei so laut, daß die Laienrichter überstürzt versuchten, den Saal zu verlassen. Der Richter duckte sich hinter seinem Tisch und rief von dort, Rogers solle gefälligst die Waffe einstecken. Dieser war mit einem Schlage wieder ruhig, verbeugte sich vor dem wieder auftauchenden Richter und sagte: „Euer Ehren, ich wollte nur zeigen, daß der Zeuge gelogen hat; niemand, auf den eine Waffe gerichtet ist, verhält sich so ruhig, wie der Zeuge behauptet hat." Der Angeklagte wurde freigesprochen. Bei seinen Bordellbesuchen lernte Rogers die Prostituierte Maimie Brown kennen, die ihn einige Zeit später bat, sie zu verteidigen. Sie war angeklagt, ihren Freund erschossen zu haben, als sie erfuhr, daß dieser das Geld, das sie ihm regelmäßig abgeliefert hatte, für andere Mädchen verbrauchte. Rogers schickte die Angeklagte in den Zeugenstand, und sie hatte sich auf seine Anweisung wie ein Puritanermädchen angezogen. Sie trug ein langes, schwarzes, hochgeschlossenes Kleid mit einem weißen Spitzenkragen. Die Vernehmung durch ihren Verteidiger war sorgfältig eingeübt worden, und sie erzählte der atemlos lauschenden Jury, wie sie mit einem Heiratsversprechen von dem getöteten Verbrecher aus Montana fortgelockt und in ein Leben der Schande gezwungen worden war. Schließlich habe der Getötete sie angegriffen, und sie habe aus einem Reflex heraus die Waffe benutzt, die sie zu ihrer Selbstverteidigung in ihrem Muff bei sich trug. Nach Abschluß der Vernehmung zeigte Rogers diesen Muff der Jury, und es befand sich tatsächlich ein Loch darin, und an der Innenseite fanden sich Pulverspuren. Die Jury war entsprechend beeindruckt, und die Angeklagte wurde freigesprochen. Nach Erfolgen wie diesen betrank sich Rogers und wurde dann mehrere Tage nicht mehr gesehen; es konnte geschehen, daß er besinnungslos irgendwo in einer Kneipe oder auf der Straße gefunden wurde. Seine Familie umfaßte nunmehr vier Kinder, die älteste Tochter Adela hing mit fanatischer Ergebenheit an ihrem Vater, der sich indessen immer weniger um die Familie kümmerte. Ab und zu kam er nach Hause, nicht selten betrunken, und fing Streit an. Als er dann noch einmal versuchte, seinen jüngsten Sohn gewaltsam mit sich zu nehmen, reichte seine Frau die Scheidung ein. Er verpflichtete sich, seiner Familie monatlich 300 Dollar zu zahlen, was er in Zukunft auch tat, soweit es ihm möglich war.
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Im Alter von 45 Jahren lernte Rogers Edna Landers, genannt Teddy, kennen, die mit ihrer Schwester nach Kalifornien gekommen war, weil diese sich scheiden lassen wollte. Rogers übernahm auf der Stelle die Vertretung der Schwester und kümmerte sich intensiv um Edna. Einige Monate später heirateten sie, und Rogers schien ein neuer Mensch zu sein. E r trank nicht mehr, blieb nur ein starker Raucher und war sehr häuslich. Teddy begleitete ihn oft ins Gericht, seine Praxis blühte auf, und sie verwaltete die einkommenden Gelder, die sonst ebenso schnell ausgegeben wurden, wie sie verdient worden waren. Rogers ging sogar am Sonntag zur Kirche, lehnte die Übernahme vieler Strafsachen ab und zog respektablere Zivilsachen vor. Dies ging einige Jahre gut, doch als er sich den Fünfzigern näherte, wurde er wieder unruhig, und es dauerte nicht lange, bis ein Polizeibeamter ihn betrunken in der Gosse fand. Nun nahm Earl Rogers wieder alle Mandate an, insbesondere die Verteidigung in seinem vielleicht umstrittensten Erfolg, die des Angeklagten McComas. McComas war angeklagt, seine Geliebte erschossen zu haben. Er behauptete, seine Geliebte habe ihm in einem Ausbruch von Eifersucht aus einer Tasse Säure ins Gesicht geschleudert, er habe gar nicht gewußt, wer ihn so plötzlich angegriffen habe, habe seine Schußwaffe gezogen und auf den Angreifer gefeuert. Rogers' Verteidigung ging dahin, der Angeklagte habe als ein Mann, der ständig mit Schußwaffen umgehe, in einem automatischen Reflex gehandelt und habe in Notwehr geschossen. Schon bald gingen in Los Angeles Gerüchte um, McComas habe sich selbst die Säure ins Gesicht geschüttet, um dem Todesurteil zu entgehen, und Rogers habe ihm dazu geraten bzw. selbst dem Angeklagten die Verletzung beigebracht. Rogers' Tochter Adela schreibt in ihrem Buch, sie sei anwesend gewesen, als McComas ihren Vater angerufen habe. Dieser habe McComas ruhig und klar das folgende gesagt: „Es ist gut, daß sie die Säure auf Dich schleuderte, mein Freund, andernfalls würden sie Dich hängen. Keine Jury würde es als Entschuldigung annehmen, daß man nur auf eine solche Bedrohung hin schießen würde. Man könnte ja zur Seite springen oder die Angreiferin überwältigen und ihr das Gefäß aus der Hand schlagen." Rogers Schloß mit den Worten: „Geh nach Hause, dann r u f die Polizei, sage nichts aus und r u f mich an, ich werde dann sofort kommen." Hauptzeuge der Verteidigung war die Schwester von McComas, die man in Arizona aufgegabelt hatte. Sie erzählte eine dramatische Geschichte über das Schicksal der Familie des Angeklagten, die von Indianern niedergemetzelt worden war, und sie berichtete eine ebenso schaurige Geschichte, wie der Angeklagte bei einer Bohrung verletzt worden war und das Augenlicht auf einem Auge verloren hatte. Rogers' Tochter Adela merkt an, niemand habe die Zeugin nach ihren Persona-
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lien gefragt und nachgeprüft, ob sie auch die Schwester des Angeklagten gewesen sei. Außerdem ließ Rogers eine Reihe von Charakterzeugen paradieren und ließ schließlich als Höhepunkt den Angeklagten vor der Jury seinen Gesichtsverband abnehmen und seine Verbrennungen zeigen. Die Jury war beeindruckt und konnte sich viele Stunden nicht einigen, wurde aber schließlich beim Stand von 1 0 : 2 zugunsten des Freispruchs vom Richter entlassen. McComas wurde noch einmal angeklagt, und hierbei gelang es Rogers, einen Freispruch zu erreichen. In erfolgreichen Jahren verdiente Rogers mehr als 100 000 Dollar jährlich. Zeitweise arbeitete er in San Francisco und erhielt auch verlokkende Angebote, nach New York zu gehen; er zog es aber vor, in seinem gewohnten Milieu in Los Angeles zu bleiben. A m 22.2.1919 starb seine Frau Teddy, und mit ihr verlor er seinen letzten, wenn auch nicht besonders starken Halt. Er war ein gebrochener Mann, seine Familie beantragte die Einweisung in eine Trinkerheilanstalt, die er jedoch abwehren konnte. Seine Praxis war fast tot, und äußerlich war er von einem Vagabunden nicht mehr zu unterscheiden.
III. Clarence Darrow als Angeklagter Im Jahre 1911 bat der amerikanische Gewerkschaftsbund A F L Darrow, in Los Angeles die Verteidigung der Brüder McNamara zu übernehmen, die beschuldigt waren, das „Times-Gebäude" in Los Angeles in die Luft gesprengt zu haben, wobei viele Menschen getötet und verletzt worden waren. Nach kurzem Einblick in die Akten kam Darrow zu der Uberzeugung, daß es besser für die Angeklagten sei, ein Schuldbekenntnis abzulegen und darauf zu bestehen, das ganze Verfahren mit Zeugen durchzuführen. Zur Enttäuschung von Darrow's Auftraggebern bekannten sich daher die Angeklagten schuldig und wurden ohne Beteiligung der Jury verurteilt. Noch während der Verhandlungen zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft wurde ein im Dienste Darrow's stehender Privatdetektiv an einer Straßenecke in Los Angeles verhaftet, als er einem zukünftigen Mitglied der für die Brüder McNamara vorgesehenen Jury, George Lockwood, einen größeren Geldbetrag, 500 Dollar, überreichte. Darrow wurde in der unmittelbaren Umgebung dieser Szene, an einer Straßenecke stehend, gesehen. Der Privatdetektiv Bert Franklin nahm das Angebot der Staatsanwaltschaft an, als Kronzeuge auszusagen, um damit zu vermeiden, wegen versuchter Bestechung angeklagt zu werden, und erklärte, Darrow habe ihm Vollmacht gegeben, für jedes Jury-Mitglied, das er kaufen könne, 5000 Dollar aufzuwenden, von denen er, Franklin, selbst 1000 Dollar behalten könne. 500 Dollar
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sollten vor dem Prozeß ausgezahlt werden, der Rest dann, wenn es durch die Abstimmung zu einem Freispruch oder zumindest einer „Hungjury", also dem Abbruch des Verfahrens, kommen würde. Darrow war sich sofort des Ernstes seiner Lage bewußt und wollte als Verteidiger den bestmöglichen Anwalt nehmen. Mit seiner Frau Ruby zusammen beobachtete er Earl Rogers, während dieser einen Angeklagten verteidigte, und beauftragte ihn dann anschließend selbst mit seiner Verteidigung. Rogers fühlte sich - zunächst - geehrt und meinte, wenn der größte Verteidiger der Nation zu ihm als Mandant käme, rücke er selber in Darrow's Klasse auf. Für die Verteidigung Darrow's wurden noch zwei andere Anwälte engagiert, darunter Jerry Giesler, der sich besonders mit den aufkommenden Rechtsfragen zu beschäftigen hatte. In der Spannung vor der Eröffnung der Hauptverhandlung im April 1912 begann Darrow zum erstenmal in seinem Leben zu trinken. Die Hauptverhandlung wurde am 15. Mai eröffnet, bis zum 24. Mai war die Jury vollzählig; sie bestand im wesentlichen aus Bauern und Apfelsinenpflanzern aus der Umgebung von Los Angeles. In seiner Eröffnungsrede beschuldigte der Staatsanwalt Darrow, das Haupt eines ganzen Bestechungskomplottes zu sein und beschimpfte ihn derart, daß Rogers aufsprang und den Staatsanwalt wütend angriff. Das Klima des Verfahrens war von Anfang an gespannt, die Hauptverhandlung dauerte nicht weniger als 90 Tage. Der Hauptzeuge Franklin gestand den Erpressungsversuch an Lockwood und fügte hinzu, Darrow habe ihm befohlen, noch fünf andere zukünftige JuryMitglieder zu bestechen, darunter einen gewissen Robert Bain. Darrow war indessen nur wegen des Bestechungsversuches an Lockwood angeklagt. Im Kreuzverhör hielt Franklin seine Aussagen im wesentlichen aufrecht, erweiterte sie sogar noch dahingehend, daß Darrow ihm freie Hand gelassen hätte, alle zukünftigen Jury-Mitglieder zu bestechen, wenn er, Franklin, es für notwendig erachte. Der wohl entmutigendste Augenblick des ganzen Verfahrens war für Darrow, als einer seiner Privatdetektive, den er mit nach Los Angeles gebracht hatte, von ihm 15 000 Dollar verlangte, und als Darrow das nicht zahlen wollte und auch nicht konnte, zum Staatsanwalt ging und aussagte, auch er wisse, daß Darrow gewünscht habe, Jury-Mitglieder zu bestechen. Es war für Darrow auch nicht ermutigend, daß seine Freunde an seine Schuld glaubten und gewissermaßen entschuldigend hinzufügten, gegenüber einer so heimtückischen Anklage, wie es die gegen die Brüder McNamara sei, habe er sich eben mit allen Mitteln wehren müssen. Darrow antwortete: „Ich bin ebenso geeignet, eine Bestechung vorzunehmen, wie ein Baptistenprediger geeignet ist, ein Barkeeper zu sein."
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Diese Umstände führten dazu, daß Darrow zeitweise völlig den Mut verlor und im Gerichtssaal ein Bild des Jammers bot. Auch sein eigener Anwalt Earl Rogers hielt ihn für schuldig. Schließlich ermannte sich Darrow wieder und griff selbst beim Kreuzverhör in die Vernehmungen ein, was dazu führte, daß Rogers auf ihn eifersüchtig wurde. Nach jedem Verhandlungstag stritten sich Darrow und Rogers über die am nächsten Tage einzuschlagende Taktik. Rogers wollte möglichst alles allein machen; es kam jedoch vor, daß er tagelang betrunken war und Darrow seinem Schicksal überließ. Zwischen den Familien Darrow und Rogers kam es schon zu Beginn des Prozesses zu Auseinandersetzungen, und Rogers beklagte sich darüber, daß das Ehepaar Darrow sich bei einer Einladung sehr taktlos benommen habe. Streitigkeiten über das Honorar, das Darrow Rogers zahlen sollte, kamen hinzu, und schließlich holte Rogers Darrow jeden Morgen in seiner Wohnung ab und drohte, nicht mit ihm ins Gericht zu gehen, wenn er vorher nicht sein Geld bekäme. Die Zeitungen in Los Angeles waren voll von den Szenen, die sich im Gerichtssaal abspielten, und nannten den Prozeß den gewalttätigsten in der Geschichte von Süd-Kalifornien. Staatsanwälte und Verteidiger beschimpften sich, wann immer sich ein Anlaß dafür bot. Mehrfach wurden sie vom Richter wegen ,contempt of court' mit Geldstrafen belegt. Rogers borgte sich das Geld für diese Geldstrafen bei Giesler und bemerkte dazu, das sei es wert gewesen. Der Richter selbst suchte die Zeitungsredaktionen auf und bat, man möge doch für die Streitigkeiten der Juristen untereinander weniger Platz aufwenden und die anderen Aspekte des Verfahrens stärker beachten. Der Richter war auch sehr um das Wohl der Jury bemüht; man hatte für sie ein ganzes Stockwerk in einem Hotel eingerichtet und für die Gestaltung ihrer Freizeit Sorge getragen. Aus den Zeitungen, die ihre Mitglieder erhielten, waren alle Berichte über den Prozeß sorgfältig herausgeschnitten worden. Keines der Mitglieder der Jury wurde bei einer Ausfahrt auch nur einen Augenblick alleine gelassen. Zusammen fuhren sie jeden Samstag von Wohnung zu Wohnung, um ihren Familien kurz „Guten T a g " zu sagen und die Wäsche auszutauschen. Einige Laienrichter kamen sich vor, als seien sie drei Monate lang in einem Gefängnis gewesen. In seinem abschließenden Plädoyer nannte der Staatsanwalt Darrow einen Feigling und hielt ihn der Bestechung für überführt. Rogers erwiderte und beschränkte sich auf die Würdigung der Zeugenaussagen. Darrow selbst hielt in eigener Sache eines seiner emotionalsten und bewegendsten Plädoyers; er sprach drei Stunden lang, rührte viele der Anwesenden zutiefst und vergoß selbst Ströme von Tränen.
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Die Jury beriet 34 Minuten, ihre Mitglieder waren offensichtlich schon vor Beginn der Beratung ihres Ergebnisses sicher, stimmten aber dreimal ab, damit man ihnen nicht nachsagen könne, sie seien zu schnell zu ihrem Urteil gekommen. Das Urteil lautete auf „nicht schuldig" ; die Zuhörer brachen in Jubel aus, der Richter kam von seinem Platz herunter geeilt und umarmte Darrow mit den Worten „Heute werden Millionen von Menschen Hallelujah rufen". Für Darrow waren damit die Schwierigkeiten noch keineswegs zu Ende. Er wurde nunmehr angeklagt, das zukünftige Jury-Mitglied Bain bestochen zu haben. Wiederum dauerte das Verfahren mehrere Monate, die Jury konnte sich schließlich nicht auf einen Urteilsspruch einigen. Die letzte Abstimmung brachte mit acht zu vier Stimmen für eine Verurteilung kein endgültiges Ergebnis. Die Staatsanwaltschaft wollte zunächst ein drittes Verfahren gegen Darrow anstrengen, ließ dann aber die Anklage fallen - angeblich gegen die Verpflichtung Darrow's, nie wieder in Kalifornien aufzutreten - , und Darrow konnte nach einem zweijährigen unfreiwilligen Aufenthalt in Los Angeles als finanziell gebrochener Mann nach Chicago zurückkehren. O b Darrow nun wirklich schuldig oder unschuldig war, läßt sich aus heutiger Sicht nicht mit Sicherheit sagen. Sein Hauptargument, er werde doch nach 35jähriger ehrenvoller Tätigkeit als Rechtsanwalt nicht eine solche Dummheit begehen, ist für den Kriminologen nicht stichhaltig, denn es gibt immer wieder Fälle, in denen tatsächlich auch sehr ehrenwerte Männer irgendwann einmal eine Dummheit begehen. Außerdem ist zu bedenken, daß zur damaligen Zeit die Bestechung einer Jury recht häufig vorkam; wenn nur ein Mitglied einer Jury sich ostentativ weigerte, einem Schuldspruch zuzustimmen, tauchte sofort der Verdacht auf, daß dieses Mitglied bestochen sei. Adela Rogers hielt Darrow für schuldig; sie fragt in ihrem Buch, was wohl geschehen wäre, wenn im Augenblick des Freispruchs Earl Rogers zu Darrow gesagt hätte „Komm mir nicht zu nahe, Du schleimiger Jury Bestecher, Du bist schuldig wie die Hölle". Es ist weiter darauf hinzuweisen, daß Darrow sich von den ihm von den Gewerkschaften überwiesenen Geldbeträgen Geld abgehoben hatte, über dessen Verwendung nichts bekannt wurde. Es ist sicher richtig, daß es von Darrow kaum anzunehmen war, er werde sich an eine Straßenecke stellen, während sein Beauftragter das Bestechungsgeld übergab. Als Erklärung für diese offensichtliche Dummheit mag indessen geltend gemacht werden, daß Darrow in dem allgemeinen Klima des Mißtrauens sicher gehen wollte, daß das Geld auch tatsächlich den richtigen Empfänger erreichte. Daß Darrow in der Hauptverhandlung zeitweise ein Bild des Jammers bot, spricht nicht für seine Schuld, die Situation war für einen Mann wie ihn
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allzu außergewöhnlich. In seiner Selbstbiographie sagt er übe;· diesen Prozeß sehr wenig, insbesondere nichts darüber, daß seine Existenz von Earl Rogers gerettet wurde. Als er später Leopold und Loeb in Chicago verteidigte, kam Adela Rogers als Reporterin zu diesem Prozeß und kehrte dann aber wieder um, weil sie sich Darrow gegenüber allzu voreingenommen fühlte. Sie fügt ihrem Bericht hinzu, sie habe Darrow auch nicht nach den 27 000 Dollar gefragt, die er ihrem Vater noch immer für Ausgaben anläßlich des Verfahrens in Los Angeles geschuldet habe.
IV. Clarence Darrow und Earl Rogers im Vergleich Darrow und Rogers unterschieden sich mehr voneinander, als daß sie sich ähnlich waren. Sie unterschieden sich schon im äußeren Erscheinungsbild; Darrow war stämmig und untersetzt, er erschien zuweilen in der Öffentlichkeit ungepflegt, seine Biographen rügen mehrfach seine schmutzigen Fingernägel, sein fettiges Haar und die Essensspuren auf seiner Kleidung. Manche Plädoyers hielt er im Gerichtssaal mit aufgekrempelten Hemdsärmeln und roten Hosenträgern, die in der Öffentlichkeit berühmt wurden, obwohl es noch kein Fernsehen gab. Rogers war dagegen groß, gut gewachsen, hervorragend aussehend und nach der neuesten Mode gekleidet. In Verhandlungspausen pflegte er sich umzuziehen und trug, was damals etwas Außergewöhnliches war, Stiefeletten. In allem betonte er den Abstand zu den Laienrichtern, während Darrow immer versuchte, sich in Kleidung und Benehmen an den Mann auf der Straße und insbesondere den Laienrichtern anzupassen. Darrow und Rogers hatten eine starke Neigung zum Milieu von Bordellwirtinnen und Prostituierten, Rogers wohl mehr noch als Darrow, und bei Rogers kam noch die ständige Neigung zum Alkohol hinzu. Der fast ebenso berühmte New Yorker Kollege Bill Fallon sagte von Rogers, er sei in betrunkenem Zustand immer noch besser als die meisten seiner stocknüchternen Kollegen. Darrow und Rogers waren keine ausgebildeten Juristen in unserem Sinne, ihnen war nicht - zum Guten oder Schlechten - das juristische Denken in Fleisch und Blut übergegangen. Rechtsprobleme außer Verfahrensfragen intressierten beide nur am Rande. Dafür heuerten sie sich Gehilfen an, so Rogers Jerry Giesler, der später zum Staranwalt in Hollywood wurde. Beide appellierten kaum je an eine höhere Instanz; Rogers zeigte nicht selten, daß er obere Gerichte verabscheute, wahrscheinlich weil er dort seine schauspielerischen Fähigkeiten nicht so entfalten konnte wie vor einer Jury. Vor den Laienrichtern konnte er mit
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seinen hervorragenden Geistesgaben, seinem scharfen, analytischen Verstand - hier übertraf er Darrow bei weitem - und seinem unfehlbaren Instinkt brillieren, mit dem er Schachzüge seiner Gegner vorwegnahm, und mit seinem psychischen Einfühlungsvermögen auf die Mentalität der Laienrichter einwirken. Rogers kämpfte in allererster Linie für seinen eigenen Erfolg, für die Stärkung seines Selbstbewußtseins und seinen persönlichen Sieg, und weniger für Freiheit oder Leben seines Mandanten. Es ist schwer zu sagen, was für Darrow in erster Linie wichtig war. Wer ihn im Gerichtssaal sah und hörte, konnte sich wohl des Eindrucks nicht erwehren, daß seine Auftritte ein Mittel zur Verbreitung seiner ideologischen und pädagogischen Ansichten über Gedanken- und Meinungsfreiheit, Schuldfähigkeit und Todesstrafe, die Ziele der Arbeiterbewegung und eine allgemeine diffuse Menschlichkeit waren. Es darf indessen nicht verkannt werden, daß er sich in einigen Fällen auch unter Gefahr für seine Existenz für seine Angeklagten einsetzte. Hynd nennt ihn eine gespaltene Persönlichkeit; auf der einen Seite sei er ein bedenkenloser Anwalt, auf der anderen Seite ein großer Menschenfreund gewesen. Auch Darrow's vorläufig letzter Biograph, der Professor der Rechte Kevin Tierney, betont Darrow's Zwiespältigkeit; er sei Idealist und Egoist und gelegentlich Opportunist gewesen; er konnte eitel, zynisch und intellektuell unredlich sein. Darrow und Rogers bereiteten sich auf einen Strafprozeß sehr sorgfältig vor, beginnend mit der Vorbereitung der Auswahl der Laienrichter. Beide beschäftigten Privatdetektive, um alle Fakten über die in Aussicht genommenen Laien zu sammeln und dieses Wissen für die Auswahl zu verwerten. Rogers ließ sich mehr von seinem Instinkt und dem Gefühl leiten, ob und wie es ihm gelingen würde, diesen oder jenen Laien zu überzeugen, - heute verwenden Strafverteidiger zu diesem Zweck Diplom-Psychologen. Darrow hatte sich sein eigenes System erarbeitet, nach dem er die Auswahl der Laien für die Jury handhabte. In einer Rede in Chicago sagte Darrow hierzu folgendes: „Laienrichter verurteilen selten jemanden, den sie schätzen, oder sprechen selten jemanden frei, den sie nicht mögen. Die Hauptarbeit des Verteidigers besteht darin, die Jury dahin zu bringen, daß sie einen Mandanten gern hat oder zumindest Sympathie für ihn bekommt; die Tatsachen bezüglich des Verbrechens sind relativ unwichtig. Ich versuche, Laienrichter zu bekommen, die möglichst wenig Bildung und möglichst viel Emotion haben. Iren sind immer die besten Laienrichter für den Verteidiger. Ich möchte keinen Schotten haben, denn er hat zu wenig menschliches Gefühl. Ich wünsche keinen Skandinavier, denn er hat zuviel Achtung vor dem Gesetz. Im allgemeinen wünsche ich mir keinen religiösen
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Menschen, denn er glaubt an Sünde und Strafe. Man sollte auch reiche Menschen meiden, weil sie einen großen Respekt vor dem Gesetz haben, das sie selbst machen und anwenden... Der Mensch, der wenig Glück und Schwierigkeiten im Leben hat, der sich mehr oder weniger als Versager fühlt, ist viel freundlicher gegenüber einem Armen und Unglücklichen als die Reichen und Selbstsüchtigen." Bei anderer Gelegenheit äußerte Darrow: „Sieh zu, daß Du die richtigen Leute in der Jury-Box hast, alles andere ist Schaukampf." Darrow akzeptierte selten einen Deutschen oder Schweden für eine Jury; er hielt die Deutschen für zu starrköpfig und die Schweden für zu eigensinnig. Nach seiner Auffassung bestand die perfekte Jury aus sechs Iren und sechs Juden. „Gebt mir diese Kombination als Jury, und ich bekäme Judas Ischariot mit einer Geldstrafe von 5 Dollar frei." Im allgemeinen bevorzugte Darrow ältere Laienrichter vor jüngeren. Er glaubte, daß ein älterer Mensch gegenüber den Fehlern anderer nachsichtiger sei. Was die Berufe der Laien anging, so bevorzugte Darrow eine möglichst weite Palette; auch sonst versuchte er, eine möglichst große Mischung menschlicher Eigenschaften zu bekommen. Wenn er, beziehungsweise seine Detektive ermittelt hatten, daß z . B . ein Laienrichter einen Körperschaden hatte oder beispielsweise ein leidenschaftlicher Angler war, dann stellte Darrow die entsprechenden Eigenschaften seines Mandanten besonders heraus, um damit wenigstens eine Stimme für sich zu gewinnen. Bezüglich der Religionszugehörigkeit von Laienrichtern bevorzugte Darrow Methodisten, weil er glaubte, ihre religiösen Gefühle könnten am besten in solche von Menschenliebe und Wohltätigkeit umgelenkt werden. Er warnte vor Presbyterianern, weil sie zu genau Recht von Unrecht unterscheiden könnten und selten einen Gerechten fänden. Lutheraner waren nach seiner Anschauung fast immer gewillt zu verurteilen. In Darrow's eigenem Prozeß war die Auswahl der Laienrichter in relativ kurzer Zeit gelungen; es gibt Prozesse, bei denen diese Auswahl monatelang dauert; in einem Prozeß in Chicago wurden 9425 Personen aufgefordert, sich zur Jury-Auswahl zu stellen, und 4821 wurden von Staatsanwalt und Verteidigung überprüft, bevor die zwölf Mitglieder der Jury endlich zusammen waren. In einem Fall in San Francisco dauerte die Auswahl 91 Tage. Im Prozeß war Darrow ein Meister des Kreuzverhörs und überhaupt der Kunst des Verhörs. Ein Beispiel hierfür ist die Vernehmung eines Professors als Sachverständiger im Eastland-Fall. Die „Eastland", ein Passagierschiff auf den Großen Seen, lag am Pier von Chicago. Plötzlich neigte sich das Schiff, und ein Teil der Passagiere fiel ins Wasser und ertrank. Der Kapitän wurde wegen fahrlässiger Tötung angeklagt und von Darrow verteidigt. Hauptzeuge der Anklage war ein Universitäts-
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professor des Schiffsbaus. Während ein Kollege von Darrow diesem riet, den Sachverständigen möglichst bloßzustellen, baute ihn Darrow sehr vorsichtig auf, bis er ihm schließlich die Aussage entlockte, er sei der einzige in der Welt, der überhaupt vom Schiffsbau etwas verstehe, außer ihm gebe es vielleicht noch einen zweiten Sachverständigen in Schottland. Es folgte die Suggestivfrage, daß in diesem Falle der Kapitän ja wohl vom Bau seines Schiffes nichts verstanden haben könne und also sicher nicht für das Unglück verantwortlich zu machen sei. Der Sachverständige bejahte arglos diese Frage, worauf der Angeklagte freigesprochen wurde. Darrow betrieb in der Hauptverhandlung hauptsächlich SympathieWerbung, die so weit ging, daß er das Ergebnis der Beweisaufnahme völlig ignorierte und mit einer Taktik der Erschöpfung aller Beteiligten stundenlang plädierte, und das manchmal unter Tränen, die sicher zu einem Teil echt waren. Rogers hielt eine derartige Taktik für gefährlich und vertraute lieber auf seine Schauspielkunst, die wahrscheinlich schlechthin überragend war; Rogers wirkte so überzeugend, weil er sich zuvor selbst von seinen Argumenten überzeugt hatte. Auch Rogers war ein Künstler des Verhör und des Kreuzverhörs, des Aufbaus der eigenen und der Zerstörung der gegnerischen Zeugen. Darrow und Rogers beschäftigten Informanten und Detektive, die ihnen Beweismaterial und Zeugen suchten - und wohl auch zuweilen produzierten - und die gegnerische Position erkundeten, um auf Überraschungen gefaßt zu sein. Rogers pflegte intensiv seine Beziehungen zur Polizei und verteidigte kostenlos Polizeibeamte - natürlich mit Erfolg und bekam dafür in anderen Fällen von Verteidigung wertvolle Tips, die unter Umständen auch der Staatsanwaltschaft vorenthalten wurden. Dieser freundschaftlichen Verbindung schadete es nicht, daß Rogers Polizeibeamte als Zeugen der Anklage um ihre Glaubwürdigkeit in den Augen der Jury brachte. Für ihn war ein Strafprozeß ein „großes Spiel" und ein Theater, in dem er die erste Rolle spielte; er war süchtig nach Erfolg. Diese Erfolge waren allerdings auch sehr zahlreich. In 25 Jahren gelang es ihm, in Mordfällen 183 Freisprüche zu erzielen, denen nur einige wenige Verurteilungen gegenüberstanden, und dies, obwohl die meisten der Angeklagten schuldig waren. Auch Darrow hatte keine Bedenken, schuldige Angeklagte vor dem Galgen zu bewahren. Ihm allerdings war zuweilen nicht wohl dabei, denn im Rückblick sagt er über seine Tätigkeit als Strafverteidiger, er sei sich im Alter von 75 Jahren nicht sicher, wieviel oder wie wenig er erreicht habe. Gegenüber einem jüngeren Juristen nannte er seinen Beruf nutzlos und absolut frei von Idealismus und echten Idealen. Auch Rogers war in stillen Stunden von seinem Beruf enttäuscht und beklagte den schlechten Zustand des
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Anwaltsberufes, und er stellte die Prognose, daß dieser Beruf als ehrenwerter Beruf am Ende sei. Rogers und Darrow bezeichneten sich gegenseitig als die größten Strafverteidiger der USA, wobei die Frage auftaucht, was Größe in diesem Zusammenhang ist. Betrachtet man die Zahl der erreichten Freisprüche, so konnten beide auf ein imponierendes Ergebnis hinweisen. Beide waren auch sicher sehr eindrucksvolle und beeindruckende Persönlichkeiten mit hinreißender Rednergabe. Was den Einsatz für Ideale und für die Allgemeinheit angeht, so war sicher Darrow der Größere. Wenn Staatsanwälte gefragt worden wären, wen sie sich eher als Gegner wünschten, so hätten sie wahrscheinlich Rogers vorgezogen, denn seinen Tricks konnte man begegnen, während es gegen die Tränenströme Darrow's kein Mittel gab. Psychologen sagen, ein Mensch sei am besten daran zu messen, wie er Konfliktsituationen und Krisen bewältige. Darrow stand mehrere berufliche und finanzielle Krisen erfolgreich durch; in seinem eigenen Prozeß versagte er weithin. Wieweit Darrow's emotionale Plädoyers als ein Ausweichen vor den harten Problemen und Konflikten des Strafprozesses anzusehen sind, muß dahingestellt bleiben. Rogers war im Prozeß der härtere Kämpfer; er fand nur den Ausweg in den Alkohol - nach einem alten amerikanischen Sprichwort ist es für einen Strafverteidiger allzu schwer, mit seiner Verantwortung alt zu werden. Diesen Dauerkonflikt bewältigte Rogers nicht. Die ersten Ehen von Darrow wie auch von Rogers gingen in die Brüche; dies kann nur verurteilen, wer nicht weiß, wieviele amerikanische College-Ehen allzu früh geschlossen werden und damit schon den Keim der Zerstörung in sich tragen. Jerry Giesler kannte sowohl Darrow wie Rogers, er bewunderte Rogers' Einsatzbereitschaft für seine Angeklagten, Darrow indessen war von Jugend auf sein Ideal.
V. Juristen und Strafverteidiger Amerikanische Strafverteidiger verdankten ihre oft spektakulären Erfolge neben der Konstruktion des amerikanischen Strafprozesses vor allem dem durchweg hohen Ansehen der Juristen, dem sich die oft sehr einfachen Laienrichter beugten. - Nur eine einzige Stimme genügte ja zur Nichtverurteilung, und die Staatsanwaltschaft klagte selten noch einmal an. - Schon in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts schrieb Alexis de Tocqueville: „In Amerika bilden die Juristen die höchste politische Klasse und die kultivierteste Gesellschaftsschicht... Würde ich gefragt, wo die amerikanische Aristokratie zu suchen ist, so würde
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ich ohne Zögern antworten, daß sie nicht aus den Reichen besteht..., sondern am Richtertisch und vor den Gerichtsschranken zu finden ist." Der amerikanische Historiker Commager schrieb, das Ansehen, der Wohlstand und der Einfluß der Juristen gehörten zu den auffallendsten Erscheinungen der amerikanischen Kultur. Es wundert daher nicht, daß die meisten der amerikanischen Präsidenten eine juristische Ausbildung hatten; im ersten Jahrhundert der amerikanischen Geschichte waren etwa zwei Drittel aller Senatoren, mehr als die Hälfte aller Abgeordneten des Repräsentantenhauses und mehr als die Hälfte aller Staatsgouverneure Juristen. Der wohl berühmteste Rechtsanwalt des vorigen Jahrhunderts war Abraham Lincoln (1809-1865), der viele Jahre eine Praxis als kleiner Landanwalt in Springfield, Illinois hatte. Ein anderer bedeutender Jurist der Frühzeit der USA war Daniel Webster (1782-1852), der es bis zum Außenminister brachte. Es gibt in der amerikanischen Geschichte jedoch auch andere Urteile über den „lawyer"; vor der amerikanischen Revolution erklärten die Regulatoren von North Carolina, Juristen seien eine wahre Plage. Eine Generation später gab es in Kentucky eine Partei der Juristengegner, und 1641 erging in Massachusetts ein Gesetz, daß jeder Kläger selbst seine Sache vor Gericht vortragen könne und daß er, wenn er Rechtsbeistand benötigte, seinem Anwalt kein Honorar geben dürfe. Auf der einen Seite ist der amerikanische Strafprozeß ein Parteiverfahren mit vielen Freiheiten, auf der anderen Seite gibt es starre Beweisregeln; der Prozeß bringt dem Anwalt viele Schwierigkeiten, aber auch Möglichkeiten und Versuchungen. Die Formalismen sind so starr, daß ihre geringfügige Nichtbeachtung selbst einem geständigen und schuldigen Mörder zu seiner eigenen Überraschung den Freispruch bringen kann. So ist z. B. in der Hauptverhandlung der Beweis vom Hörensagen (Hearsay evidence) unzulässig. Es gibt obergerichtliche Rechtsprechung, wonach ein Zeuge sogar die Frage nach seinem Alter nicht beantworten darf, weil dies „hearsay evidence" sei. Der zu seiner Zeit berühmte Judge Parker (1838-1896) in Fort Smith, Arkansas, verurteilte den vielfachen Mörder Cherokee Bill viermal nacheinander zum Tode. Dem jungen Verteidiger Warren Reed gelang es dreimal, eine Aufhebung des Urteils durch den Supreme Court zu erreichen. Cherokee Bill nutzte eine dieser Pausen zu einem Ausbruchsversuch, bei dem er einen Aufseher erschoß. Anläßlich des Aufschubs der Hinrichtung sagte Judge Parker zu dem Verteidiger: „Mr. Reed, ich habe nicht das Recht als Richter, Ihnen zu sagen, was ich jetzt sage, aber ich nehme mir dieses Recht als Jurist. Sie wissen, daß Cherokee Bill ein Mensch ist, der viele Männer getötet hat. Sie wissen auch, daß dieser Mann eine Gefahr für die Gemeinschaft bedeutet, solange er am Leben ist. Gebietet Ihnen Ihr Gewissen nicht,
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Ihren Bemühungen eine moralische Grenze zu setzen?" - „Ich habe Ihre Worte als Jurist zur Kenntnis genommen, Euer Ehren, ich bin nicht hier, um den zweifelhaften Begriff der Moral zu vertreten, sondern um meine Prozesse zu gewinnen! Legal, Euer Ehren!" Reed brachte Judge Parker schließlich über Verfahrensfehler zu Fall, stürzte selbst auf diese Weise wieder in die Anonymität und trank sich schließlich zu Tode. Die Schwierigkeiten der Verteidiger bestehen darin, daß sie ihre Entlastungsbeweise im wesentlichen selbst beschaffen müssen und damit eventuell auch Versuchungen unterliegen. In New York war die Anwaltsfirma Hummel und Howe besonders berüchtigt; die Firma konnte viele Freisprüche in Mordsachen verzeichnen, weil die Verteidiger eine Anzahl berufsmäßiger Zeugen zu ihrer Verfügung hatten, die jederzeit bereit waren, Alibis zu geben, wenn nur die Klienten genügend Geld hatten. Außerdem wurden von den Verteidigern Laienrichter bestochen. Die Freizügigkeit bietet guten Strafverteidigern die Möglichkeit, gegen einen unterlegenen Staatsanwalt, der nicht auszuwechseln ist, anzutreten, und so das Duell zu gewinnen. Die Erfolgsstatistiken auch anderer Anwälte sind imponierend. Jake Ehrlich (1900-1972) aus San Francisco verteidigte in 55 Mordfällen, 41 seiner Klienten wurden freigesprochen, die übrigen wegen eines geringeren Deliktes als des angeklagten verurteilt. Chippy Patterson aus Philadelphia (1875-1933) verteidigte von 1903 bis 1933 in 401 Mordfällen. Acht Täter wurden hingerichtet, 171 freigesprochen und 222 zu einer Freiheitsstrafe von im Durchschnitt 6 Jahren verurteilt. Hynd schrieb, es wäre wohl um die Göttin Gerechtigkeit schlecht bestellt, wenn Earl Rogers, Clarence Darrow und William Fallon (New York) (1886-1927) zur gleichen Zeit in der gleichen Gegend gearbeitet hätten. Zu den Möglichkeiten des amerikanischen Strafverteidigers gehört auch, daß er in einzelnen Fällen als Anklagevertreter bestellt werden konnte, wie es z. B. Earl Rogers einmal geschah. Schon Daniel Webster wurde 1830 mit der Vertretung der Anklage in einem Mordprozeß in Salem, Massachusetts beauftragt und erreichte das Todesurteil. Sein glänzendes Plädoyer ist in „The World of Law - The Law as Literature" nachzulesen. Andere angesehene Strafverteidiger wurden in fortgeschrittenem Alter zu Richtern ernannt, wie Michael A. Musmanno (1897-1968), der auch von Präsident Truman zum Richter im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß bestellt wurde. Samuel Leibowitz (1894-1978) wurde Richter in New York und verhängte im Alter sehr strenge Strafen. Die amerikanische Geschichte kennt viele Beispiele dafür, daß Strafverteidiger sich uneigennützig und mit großem Mut für Angeklagte
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eingesetzt haben; sie haben sich zuweilen in der Erfüllung ihrer Aufgabe der öffentlichen Meinung entgegengestemmt, auch auf die Gefahr hin, von einem wütenden Mob gelyncht zu werden. John Adams, der spätere zweite Präsident der Vereinigten Staaten, verteidigte 1770 in Boston acht englische Soldaten, die des Mordes angeklagt waren, weil sie in einen angreifenden M o b geschossen und drei Zivilisten getötet hatten. John Adams gelang es trotz des allgemeinen Hasses auf die Engländer, für sechs Angeklagte einen Freispruch zu erreichen, die zwei anderen wurden des Totschlags für schuldig befunden. Bevor das Urteil gesprochen wurde, berief sich ihr Verteidiger auf das uralte Gewohnheitsrecht des „benefit of clergy", und die zwei Soldaten wurden dann in Anwendung dieses Grundsatzes am Daumen gebrandmarkt und in die Freiheit entlassen. Der Strafverteidiger Erle Stanley Gardner war Mitbegründer und Initiator des „Gerichts der letzten Zuflucht"; in Zusammenarbeit mit Gerichtsmedizinern, Privatdetektiven, Kriminologen und Kriminalisten gelang es ihm, einer Anzahl unschuldig Verurteilter zur Freiheit zu verhelfen. Nach alledem ist es gut zu verstehen, daß der amerikanische Strafverteidiger bis heute in der Belletristik und in Kriminalromanen eine glänzende und herausragende Rolle spielt. Es sei nur auf die Romane von Traver „Anatomie eines Mordes" und von Harper Lee „To kill a Mockingbird" hingewiesen. Lee beschreibt, welcher Mut im Süden der U S A dazu gehörte, einen schwarzen Angeklagten gegen den Vorwurf eines Sittlichkeitsdeliktes oder gar eines Mordes an einer Weißen zu verteidigen. Schluß Das Ende von Earl Rogers und Clarence Darrow entsprach ihrem bei aller Ähnlichkeit doch letztlich so verschiedenen Lebensgang. Rogers hatte zuletzt nur noch einen Büroraum in einer Slum-Gegend und starb am 2 3 . 2 . 1 9 2 2 allein in einem schäbigen Zimmer, verlassen und heruntergekommen. Als Darrow am 13.3.1938 in Chicago starb, nahm die Bevölkerung überwältigenden Anteil, und ein Richter sagte an seinem Grabe: „Im Herzen Darrow's war unendliches Mitleid und viel Barmherzigkeit mit den Armen, den Unterdrückten, den Schwachen und Irrenden - mit allen Rassen, allen Farben, allen Glaubensbekenntnissen, allen Arten von Menschen. Clarence Darrow ebnete den Weg für die Menschen, er predigte nicht Doktrinen, sondern Liebe und Mitleid, die einzigen Tugenden, die diese Welt besser machen können." Darrow's Asche wurde von einer Brücke im Jackson Park in das Wasser gestreut;
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an dieser Stelle ist heute eine Gedenktafel angebracht, und der Brücke wurde der N a m e Clarence-Darrow-Bridge verliehen.
Literatur Alfred Cohn und Joe Chisholm: Take the Witness!, New York 1964. Clarence Darrow: The Story of my Life, New York 1960. Matilda Fenberg: I Remember Clarence Darrow. Chicago History, Fall - Winter 1973, 216-223. Gene Fowler: The Great Mouthpiece, A Life Story of William J. Fallon, New York 1946. Erle Stanley Gardner: Letzte Zuflucht, Frankfurt 1959. Jerry Giesler (Pete Martin): Hollywood Lawyer, New York 1962. Christopher S. Hagen: Faustrecht und Sternenbanner, Bayreuth 1967 (Judge Parker). Alan Hynd: Defenders of the Damned (Earl Rogers, Clarence Darrow, William Joseph Fallon), New York 1962. Arthur H. Lewis: The Worlds of Chippy Patterson, London 1961. Ephraim London (Hrsg.): The World of Law - The Law as Literature, New York 1966. Wolf Middendorff: Beiträge zur Historischen Kriminologie, Bielefeld 1972. Michael A. Musmanno: Verdict!, New York 1963. John Wesley Noble und Bernard Averbuch: Never Plead Guilty, The Story of Jake Ehrlich, New York 1955. Quentin Reynolds: Ich bitte um Freispruch. Leben und Wirken des großen Strafverteidigers Samuel S. Leibowitz, Berlin-Grunewald o.J. Adela Rogers St. John: Final Verdict, New York 1962. Irving Stone: Clarence Darrow for the Defense, New York 1958. Kevin Tierney: Darrow: A Biography, New York 1979. Walter Uliers: Der Strafverteidiger. Von einem Richter geschrieben, Hamburg 1962. Arthur Weinberg: Anwalt der Verdammten. Die bekanntesten Plädoyers von Clarence Darrow, Stuttgart 1963.
Statistische Beiträge zur Wirklichkeit des Strafverfahrens'1"
PETER RIESS
I. Die Justizstatistik als Quelle rechtstatsächlicher Erkenntnisse
1. Bedeutung der Justizstatistik Daß sich der Kriminologe und Kriminalpolitiker statistischer Erkenntnisse bedient, ist seit Jahrzehriten eine Selbstverständlichkeit. Die polizeilichen Kriminalstatistiken 1 sowie die Strafverfolgungsstatistiken 2 gehören zum ständigen Rüstzeug dieser Disziplinen. Diese Statistiken sind im wesentlichen Straftaten- und täterorientiert und nach Delikten aufgeschlüsselt. Sie geben Auskunft über angezeigte und aufgeklärte Kriminalität, über die Häufigkeit der Aburteilungen wegen einzelner Delikte und Deliktsgruppen, über die Höhe der verhängten Sanktionen und über verschiedene Tätermerkmale. Strafvollzugs- 3 und Bewährungshilfestatistik 4 ergänzen diese Erkenntnisquellen. Seit einem knappen Jahrzehnt, genauer seit 1971 5 , ist dieses traditionell für Rechts- und Kriminalpolitik genutzte statistische Instrumentarium durch eine verfahrensorientierte Justizstatistik in Zivil- und Strafsachen
* Das Manuskript wurde am 1. Juli 1980 abgeschlossen. Statistische Angaben sind berücksichtigt, soweit sie bis zum 1. April 1980 vorlagen. Zahlen und Entwicklungen, die bis zur Korrektur bekannt geworden sind, insbesondere die Jahresergebnisse 1979, sind in kurzer Form in den Fußnoten dargestellt. 1 Polizeiliche Kriminalstatistik, herausgegeben vom Bundeskriminalamt, zuletzt 1978, erschienen Juli 1979. 2 Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes, Fachserie 10, Reihe 3, „Strafverfolgung", Kohlhammer-Verlag, Stuttgart (bis 1972 Fachserie A, Reihe 9). 3 Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes, Fachserie 10, Reihe 4 „Strafvollzug". 4 Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes, Fachserie 10, Reihe 5, „Bewährungshilfe". 5 Bis 1967 veröffentlichte das Statistische Bundesamt in der Fachserie A, Reihe 9 I (Organisation, Personal und Geschäftsanfall der ordentlichen Gerichte) verhältnismäßig wenig differenzierte Angaben aufgrund manuell erstellter Geschäftsübersichten der Landesjustizverwaltungen. Ab 1968 wurde die Justizstatistik auf dem Sektor der Zivilgerichtsbarkeit auf Zählkartenerhebungen umgestellt, die aber erst ab 1970 vollständig vorliegen. Die auf Zählkarten beruhende Statistik in Strafsachen liegt ab 1971 (für einige Daten erst ab 1972) vollständig vor. Die neuen Werte sind mit den alten Zahlen aus den Geschäftsübersichten kaum vergleichbar.
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e r g ä n z t w o r d e n 6 . Sie m a c h t s i c h d e r G e s e t z g e b e r e b e n s o z u N u t z e 7 w i e die J u s t i z v e r w a l t u n g , beispielsweise für P e n s e n b e r e c h n u n g e n . D a g e g e n hat sie in d e r F a c h ö f f e n t l i c h k e i t , n a m e n t l i c h bei d e r s t r a f v e r f a h r e n s r e c h t l i c h e n R e c h t s t a t s a c h e n f o r s c h u n g , n o c h k e i n e allzu g r o ß e A u f m e r k s a m k e i t gefunden8.
Das
mag
an i h r e r N e u a r t i g k e i t
liegen, t e i l w e i s e a u c h
an
strukturellen Mängeln und Unvollständigkeiten', wohl aber auch daran, d a ß d i e s e S t a t i s t i k e n s c h w i e r i g e r z u h a n d h a b e n sind als die t r a d i t i o n e l l e S t r a f v e r f o l g u n g s s t a t i s t i k , d a die i n t e r e s s i e r e n d e n D a t e n o f t n i c h t u n m i t t e l b a r a b l e s b a r sind, s o n d e r n d u r c h Z u s a t z b e r e c h n u n g e n
erschlossen
w e r d e n m ü s s e n . E s lohnt sich aber, dieser Justizstatistik g r ö ß e r e A u f merksamkeit zu widmen. 2. Zweck Mit dem
nachfolgenden,
der
Darstellung
a u f die S t r a f g e r i c h t s b a r k e i t
beschränkten
B e i t r a g soll dreierlei e r r e i c h t w e r d e n : Z u n ä c h s t soll e x e m p l a r i s c h d e u t lich g e m a c h t w e r d e n , w e l c h e E r k e n n t n i s m ö g l i c h k e i t e n bei i n t e n s i v e r e r V e r w e n d u n g der Rechtspflegestatistik im Strafverfahren g e w o n n e n w e r d e n k ö n n e n . Z w e i t e n s soll d e r r e c h t s - u n d j u s t i z p o l i t i s c h e n D i s k u s s i o n , 6 Bis 1975 Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes, Fachserie A, Reihe 9 I, ab 1976 Fachserie 10, Reihe 2.1. „Zivilgerichte", Reihe 2.2. „Strafgerichte". Zu den dieser Statistik zugrundeliegenden Zählkartenerhebungen vgl. die Anordnung über die Durchführung der Zählkartenerhebung auf dem Gebiet der Zivilsachen und in Straf- und Bußgeldsachen einschließlich der Erläuterung zu den Zählkarten, abgedruckt bei Pillerl Hermann, Justizverwaltungsvorschriften, unter Nr. 1 a und 1 b. Einzelheiten zur Entwicklung der Justizgeschäftsstatistik bei Sc/)«/zJustizgeschäftsstatistikcn auf Zählkartenbasis, DRiZ 1980, 170 ff. 7 Vgl. (für das Strafverfahren) die auf dieser Statistik beruhenden umfangreichen Tabellenteile der Regierungsentwürfe eines Ersten Gesetzes zur Reform des Strafverfahrensrechts (BT-Drucks. 7/551, S. 119 ff.) und des Strafverfahrensänderungsgesetzes 1979 (BTDrucks. 8/976, S. 73 ff.) sowie den Tabellenteil des von der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Strafverfahrensreform" herausgegebenen Diskussionsentwurfs für ein Gesetz über die Rechtsmittel in Strafsachen, 1975, S. 134 ff. 8 Vgl. dazu kritisch Blankenburg, Zur neueren Entwicklung der Justiz, DRiZ 1979, 197 ff., der die unzureichende Auswertung der Statistiken beklagt. Rückgriffe auf diese Statistik dagegen z. B. bei Göhler, Empfiehlt sich eine Änderung des Rechtsbeschwerdeverfahrens in Bußgeldsachen? Festschrift für Karl Schäfer, 1980, S. 39 ff.; Jeschek/Leibinger, Funktion und Tätigkeit der Anklagebehörde im ausländischen Recht, 1979, S.681 ff. und Rieß, Vereinfachte Verfahrensarten für die kleinere Kriminalität, in Strafprozeß und Reform, 1979, S. 113 ff. Weitere Nachweise für die Benutzung bei Schulz (Fußn. 7) S. 173. ' Vgl. Blankenburg (FN 8), S. 197. Über den Aufbau und die Mängel der Statistik sowie über Vorschläge zur Verbesserung eingehend Blankenburg/von Kempski/ Lebrun/ Morasch/Schumacher, Die Rechtspflegestatistiken, Berlin, 1977. Die Lücken und Schwächen der veröffentlichten Statistik werden im nachfolgenden Beitrag noch mehrfach deutlich werden. Besonderer Aufmerksamkeit bedürfen die von Schulz (Fußn. 7) auf einer freilich sehr schmalen und in ihrer Repräsentativität zweifelhaften Basis ermittelten Hinweise auf die Häufigkeit von Ausfüllfehlern.
Statistische Beiträge zur Wirklichkeit des Strafverfahrens
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der empirischen Forschung und der Dogmatik ausgewähltes Datenmaterial zur Verfügung gestellt werden, das sich in dieser F o r m nicht aus der veröffentlichten und damit allgemein zugänglichen Statistik ergibt. D e n n einmal bedarf es vielfach Zusatzberechnungen aufgrund der veröffentlichten Statistiken und zweitens wird gegenwärtig noch nicht das gesamte, aufgrund der Zählkartenerhebungen der Gerichte und Staatsanwaltschaften erstellte Tabellenprogramm veröffentlicht 1 0 . D e r Beitrag verwendet auch unveröffentlichtes Material der amtlichen Statistiken" und teilt darüber hinaus das Material einiger eigener Erhebungen des Verfassers mit 12 . Drittens sollen mit dieser Darstellung erste Ansätze eines statistisch erfaßbaren Bildes der Strafverfahrenswirklichkeit vermittelt werden. D a ß solche statistischen Aufhellungen kein vollständiges und vielleicht nicht einmal ein in allen Punkten zutreffendes Bild der Verfahrenswirklichkeit ergeben, ist einzuräumen. D e r Rückgriff auf fortlaufend geführte Statistiken hat den Nachteil, daß er nur an diejenigen Daten anknüpfen kann, die statistisch erfaßbar sind und bei der Ausarbeitung der Zählkarte sowie bei der Aufstellung des Tabellenprogramms für erfassungswürdig gehalten wurden. Das muß nicht gerade das sein, was Jahre später interessiert 13 . Deshalb lassen sich nur mehr allgemeine, den Verfahrensablauf im Ganzen betreffende Ereignisse darstellen, hier allerdings mit dem Vorteil, daß wegen der Totalerhebung keine Repräsentativitätsprobleme auftreten und daß die Gleichförmigkeit der Erhebung über viele Jahre Zeitreihenvergleiche gestattet. Insoweit ist die statistische Auswertung der Rechtstatsachenforschung mittels gezielter, an konkreten Fragestellungen und Hypothesen orientierter Datenerhebung überlegen; im übrigen kann sie sie nicht ersetzen. D e n n o c h kann die mehr deskriptive Beschreibung auch für gezielte Rechtstatsachenforschung nützlich sein. Denn sie vermittelt Aufschlüsse darüber, mit welchen Datenmengen gerechnet werden muß und welchen Stellenwert ein Forschungsgegenstand im Gesamtgefüge des Verfahrens hat. Auch ist Rechtstatsachenforschung kosten- und zeitaufwendig; müssen 10 Die Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes (FN 6) enthalten vor allem keine gesonderten Tabellen für die einzelnen Spruchkörperarten des Amtsgerichts und des Landgerichts. 11 Zurückgegriffen wurde namentlich auf die der veröffentlichten Statistik entsprechenden Tabellen der einzelnen Länder, weil hier eine Aufgliederung nach Spruchkörpern vorgenommen wird, auf die Statistik des Bundesgerichtshofes in Strafsachen sowie auf die Zählkartenstatistik der Staatsanwaltschaft in den Ländern, wo sie bereits eingeführt ist (vgl. näher unten I 3 a. E.). 12 Verfasser dankt an dieser Stelle seiner Mitarbeiterin, Frau Margarethe Klein für die wertvolle Hilfe bei der mühsamen Zusammenstellung der Daten. 13 Zum Vorschlag, bereits in der Zählkarte Problemfelder für kurzfristige Erhebungen vorzusehen, vgl. Blankenburg u. a. (FN 9), S. 48.
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Erkenntnisse rasch verfügbar sein, so bleibt oft nur der Versuch, auf vorhandene statistische Daten zurückzugreifen. O h n e daß mit dem nachfolgenden Beitrag die gesamten Möglichkeiten der Justizstatistik ausgeschöpft werden können, orientieren sich die Schwerpunkte an zur Zeit aktuellen Fragestellungen. Nach einer ersten Ubersicht über allgemeine Strukturen in der Strafjustiz (II) wird zunächst wegen der verbreiteten Klage über den steigenden Geschäftsanfall in einem Zeitreihenvergleich die Belastungsentwicklung dargestellt (III). Hieran schließt sich eine Untersuchung des wichtigen Themas Verfahrensdauer; sie bedeutet zugleich ein Stück Erfolgskontrolle des 1. StVRG 1 4 , dessen Hauptziel es war, Strafverfahren zu beschleunigen (IV). Umfassend soll dann die Anwendung des umstrittenen § 153 a S t P O anhand des verfügbaren statistischen Materials dargestellt werden (V). Schließlich liegt ein letzter Schwerpunkt der Darstellung in einer möglichst detaillierten Erfassung der statistisch erkennbaren Revisionspraxis des Bundesgerichtshofes (VI). Wegen des Darstellungszieles, für die rechtspolitische und wissenschaftliche Diskussion statistische Daten in aufbereiteter Form zur Verfügung zu stellen, mußte ein umfangreicher Tabellenteil beigefügt werden. Aus drucktechnischen Gründen konnte hierfür nur der Weg eines Tabellenanhangs gewählt werden, der leider für den Benutzer einige Unbequemlichkeiten mit sich bringt. Doch sollte der Textteil auch ohne Rückgriff auf den Tabellenanhang verständlich sein. Deshalb sind hier die wesentlichen Zahlenangaben in kürzerer Form wiederholt worden 15 . 3. Zum Aufbau
und zur Aussagekraft
der Statistik
Bei Rückschlüssen aus dem Zahlenmaterial muß im Auge behalten werden, was mit den Zählkarten erhoben wird und folglich auch nur in die Tabellen eingehen kann. Bei der Zählkartenstatistik in Straf- und Zivilsachen handelt es sich, anders als bei der Strafverfolgungsstatistik, um eine Verfahrensstatistik, die nicht die Verfahrensergebnisse gegen einzelne Personen erfaßt, sondern die das gesamte Verfahren betreffenden Ereignisse. Auch bei einem Verfahren gegen mehrere Beschuldigte wird nur eine Art des Verfahrensabschlusses gezählt, und zwar Urteil vor Einstellung 16 . D a allerdings in allen Instanzen die Verfahren mit mehre14
Erstes Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts v. 9 . 1 2 . 1 9 7 4 ( B G B 1 . I S . 3 3 9 3 ) .
Eine Verweisung auf eine Tabellennummer ohne Zusatz (Tabelle 1) betrifft im Text befindliche Tabellen; auf Tabellen im Tabellenanhang wird mit dem Hinweis Tabellenanhang verwiesen (Tabellenanhang 1 = Tabelle 1 im Tabellenanhang). Der besseren Lesbarkeit wegen sind im Text alle Prozentzahlen kursiv gesetzt worden. 15
" Wird z. B . in einem Verfahren gegen zwei Beschuldigte gegen einen das Verfahren nach § 1 5 3 Abs. 2 S t P O eingestellt und gegen den anderen durch Urteil beendet, so zählt dieses Verfahren statistisch nur als durch Urteil erledigt. Ebensowenig wird z. B. aus der
Statistische Beiträge zur Wirklichkeit des Strafverfahrens
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ren Beschuldigten die Ausnahmen bilden 17 , fallen die hierdurch eintretenden Verzerrungen nicht allzusehr ins Gewicht. Entscheidend für den Begriff der Erledigung des Verfahrens ist weitgehend die registermäßige Behandlung der jeweiligen Erhebungseinheit (Gericht oder Staatsanwaltschaft). Deshalb werden an andere Gerichte und Staatsanwaltschaften abgegebene, nach länger als 6monatiger vorläufiger Einstellung wiederaufgenommene oder aufgrund von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand fortgesetzte Verfahren 18 als Neueingänge gezählt. Doch lassen sich diese Vezerrungen teilweise neutralisieren 19 , sie dürften insgesamt nicht beträchtlich ins Gewicht fallen20. Wesentlich nachteiliger wirkt es sich aus, daß beim Amtsgericht und Oberlandesgericht keine gesonderten Zählkarten und Tabellenprogramme für Straf- und Bußgeldsachen verwendet werden. N u r für einen Teil der Daten läßt sich aufgrund der Einzelangaben die erforderliche Trennung vornehmen 21 . Ahnliche Schwierigkeiten ergeben sich bei der vollständigen Erfassung der Strafbefehlsverfahren, für die eine Zählkarte erst dann angelegt wird, wenn es zum Hauptverfahren kommt. D a die Zahl der Strafbefehlsanträge gesondert erfaßt wird, läßt sich allerdings die Zahl der rechtskräftig werdenden Strafbefehle einigermaßen zuverlässig ermitteln 22 . Für das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren befindet sich die Zählkartenstatistik erst im Aufbau. Jedoch sind für 1977 und 1978 die Daten der 6 Bundesländer Bayern, Bremen, Hamburg, NordrheinWestfalen, Rheinland-Pfalz und Saarland vorhanden. Wegen der regioStatistik eine Verringerung des Verfahrensstoffçs erkennbar, wenn innerhalb eines einheitlichen Verfahrens einzelne Taten nach § 154 StPO eingestellt werden. Daß Ausfüllfehler in einigen Bereichen der Aussagekraft der Statistik schwächen können, macht die Untersuchung von Schulz ( F N 7) deutlich. Hier zeigen sich Fehlermöglichkeiten, die durch weitere Untersuchungen überprüft werden sollten. 17 Vgl. Tabellenanhang 11, 15. Von den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren betrafen 90% nur einen Beschuldigten, von den amtsgerichtlichen Verfahren 9 Í %, von den landgerichtlichen erstinstanzlichen Verfahren 76%. Die Werte für 1979 sind praktisch unverändert. 18 Vgl. dazu § 5 Abs. 2 der Zählkartenanweisung ( F N 6). 19 Vgl. z . B . Tabelle 3. 20 Der Anteil der Erledigungen „auf andere Weise", unter dem sich überwiegend diese Erledigungen verbergen, betrug 1978 beim Amtsgericht 4,9%, beim Landgericht erster Instanz 4,2% und in der Berufungsinstanz 2,8%. 21 In den Einzeltabellen ist jeweils angegeben, ob die Bußgeldverfahren enthalten sind. 22 Eine kleine Ungenauigkeit ergibt sich daraus, daß in der hier als rechtskräftig werdende Strafbefehle angenommenen Differenz zwischen den Strafbefehlsanträgen und der Summe der Einsprüche und Hauptverhandlungen nach § 408 Abs. 2 StPO auch diejenigen Fälle enthalten sind, in denen der Strafrichter den Strafbefehlsantrag zurückweist (vgl. dazu ζ. B. Kleinknecht, StPO, 34. Aufl., 1979, §408 Rdn. 3, 4). Doch steht aufgrund gesonderter Untersuchungen fest, daß diese Zahl vernachlässigbar klein ist.
258
Peter Rieß
nalen und strukturellen Unterschiede dürften diese 6 Länder für das Bundesgebiet einigermaßen repräsentativ sein23. Sie wurden deshalb in die Darstellung mit einbezogen; soweit Gesamtzahlen für das Bundesgebiet erforderlich sind, ist eine Hochrechnung vorgenommen worden 24 .
II. Allgemeine Strukturen der Strafjustiz 1.
Überblick
Strafjustiz läßt sich in ihrer sozialen Dimension nur dann richtig einschätzen, wenn die quantitative Größenordnung, in der sie sich abspielt, mit ins Blickfeld genommen wird. Wenn man das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren mit einbezieht, so wird erkennbar, daß die Strafrechtspflege Massenerscheinungen zu bewältigen hat. Die Erledigungszahlen für 1978 vermitteln hier folgendes Bild25: Staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren Gerichtliche Verfahren erster Instanz Erste Rechtsmittelinstanz Zweite Rechtsmittelinstanz
2 503 10026 1 005 600 74 200 7 900
Damit zeigen sich Strukturierungsansätze, die das Bild einer Erledigungspyramide nahelegen und das Strafverfahren als einen Ablauf nacheinandergeschalteter Prozeßstationen von abnehmender Erledigungskapazität zu deuten gestatten. Es kann schon nach dieser ersten Ubersicht gesagt werden, daß die Funktionsfähigkeit des sozialen Kontrollsystems Strafverfahren davon abhängig ist, daß nur ein Bruchteil der auf der jeweils unteren Stufe anfallenden Verfahren in die nächste Instanz weitergereicht wird.
a
Bei der Summe der Anklagen und Strafbefehlsanträge, die als Ausgangsmaterial bei der Staatsanwaltschaft und als Eingang bei Gericht auftreten, ergibt sich zwischen den hochgerechneten Werten und den Angaben der gerichtlichen Statistik in den Jahren 1977 und 1978 eine durchschnittliche Differenz von 2,5 %. Vgl. auch die Differenzen zwischen Tabellenanhang 26 und den hochgerechneten Werten in Tabellenanhang 28, Spalte 8. 24 Dieser Hochrechnung wurden verschiedene Werte der letzten bundesweiten alten Geschäftsübersicht der Staatsanwaltschaft zugrunde gelegt. Daraus ergibt sich, daß die Länder Bayern, Bremen, Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Saarland damals erledigten: 52,58% der Eingänge an Anzeigesachen, 54,98% der Erledigungen, 55,50 % der Einstellungen und 53,57 % der Anklagen. Als Mittelwert dieser vier Werte ergibt sich ein Hochrechnungsfaktor von 1,85. 25
Näher Tabellenanhang 1. 1979 haben die Ermittlungsverfahren auf 2 568 400 zugenommen, die erledigten gerichtlichen Verfahren erster Instanz sind auf 1 005 000 gesunken; die Verteilung auf die einzelnen Spruchkörper hat sich nicht geändert. 26 Ohne Verfahren gegen unbekannte Täter (ca. 2 200 000).
259
Statistische Beiträge zur Wirklichkeit des Strafverfahrens
2. Gerichtliches
Verfahren
a) Das Bild der Erledigungspyramide wird bei einem näheren Blick auf die Verteilung der erstinstanzlichen Verfahren auf die unterschiedlich besetzten Spruchkörper verstärkt 27 . Von allen erstinstanzlichen Verfahren erledigen die beiden nur mit einem Berufsrichter besetzten Spruchkörper des Amtsgerichts (Strafrichter und Jugendrichter) fast 9 0 % , etwa 1 0 % werden vor den Schöffengerichten anhängig und nur etwa 1 % wird in erster Instanz vor der Strafkammer verhandelt. Wie sich aus Tabelle 1 ergibt, unterscheiden sich dabei die Fallzahlen pro Richter exorbitant.
Tabelle
1:
Durchschnittliche Richter
Spruchkörper
Zahl
Erledigungszahl der
Richter
je Fallzahl
Verfahren Strafrichter
und
Jugendrichter Schöffengericht
1 479
1 760
851
104 000
635
164
11 600
795
15
und
Jugendschöffengericht Strafkammer
300*
und
Jugendkammer * Mit B u ß g e l d s a c h e n
(ohne E r z w i n g u n g s h a f t a n t r ä g e )
und
Straf-
befehlen
Es ist offensichtlich, daß Fallzahlen in der Größenordnung von 1000 nicht allein im normativen Normalverfahren der Strafprozeßordnung bewältigt werden können, sondern daß es dazu des Einsatzes von Strategien vereinfachter Erledigung bedarf. Es kann vermutet werden, daß diese unterschiedlichen Fallzahlen, die ja nichts anderes sind als Erledigungsvorgaben der Justizverwaltungen, zum unterschiedlichen Einsatz dieser Erledigungsstrategien führen müssen. Dabei bietet das Verfahrensrecht zwei Mittel an: einmal stellt es, und zwar fast ausschließlich auf der Ebene des Amtsgerichtes, komplette vereinfachte Verfahrensmodelle zur Verfügung, wie etwa das Strafbefehlsverfahren, das beschleunigte Verfahren oder das vereinfachte Jugendverfahren; zum anderen ermöglicht es ohne Rücksicht auf die Art der Verfahrenseinleitung namentlich durch die vielfältigen Einstellungsmöglichkeiten nach den §§153 ff.
27
Vgl. Tabellenanhang 1.
260
Peter Rieß
StPO den informellen Verfahrensabschluß28. Sowohl in der Eingangs-29 als auch in der Erledigungsstruktur30 ergibt sich aus der Statistik, daß beide Strategien genutzt werden. Der Anteil der vereinfachten Verfahrensarten an allen erledigten Verfahren beträgt mehr als 50 % 31 , dabei wird innerhalb dieser wiederum mehr als die Hälfte ohne Hauptverfahren erledigt32. Beim Amtsgericht werden nur 46 % aller Verfahren durch Urteil abgeschlossen, weitere 35 % werden durch (sogleich oder infolge Einspruchrücknahme) rechtskräftig werdenden Strafbefehl beendet, ca. 15% durch Einstellungen nach den §§153 ff. StPO. Dagegen erledigt das Landgricht mehr als 9 0 % aller Verfahren durch Urteil, nur 5 °/o durch Einstellungen nach Ermessensvorschriften33. b) Daß die justitielle Praxis durch die Handhabung informeller Erledigungsstrategien auch elastisch auf steigende Eingangszahlen zu reagieren vermag, läßt sich durch einen Zeitreihenvergleich der nach Hauptverhandlung und durch Urteil erledigten Verfahren belegen34. Von 1972 bis 1978 ist in allen Tatsacheninstanzen bei steigenden Erledigungszahlen die Urteilsquote zurückgegangen. Von allen Strafverfahren35 wurden 1978 beim Amtsgericht und in der Berufungsinstanz nur knapp zwei Drittel durch Urteil erledigt, beim Landgericht in der ersten Instanz etwas mehr als drei Viertel. c) Von den sonstigen zahlreichen allgemeinen Strukturdaten, die die Justizstatistik hergeben würde, soll hier angesichts der Aktualität des Themas36 nur noch auf die Bedeutung der Mitwirkung eines Verteidigers in den Bereichen eingegangen werden, in denen die Verteidigung nicht
28 Die angesichts der Fallzahlen naheliegende Frage, in welchem Umfang die Spruchkörper niedrigerer Ordnung durch die Art ihrer Verfahrensgestaltung auch in Sachen, die mit Urteil abgeschlossen wurden, eine vereinfachte Verfahrensstrategie praktizieren, läßt sich mit Hilfe der Statistik nicht beantworten. 29 Tabellenanhang 2. Die Werte für 1979 sind fast unverändert. 30 Tabellenanhang 3. 31 Der Rückgang von 62,6 % (1971) auf 51,5 % (1978) und 51,0 % (1979) ist bemerkenswert; er beruht auf dem Rückgang der Abschichtungswirkung des Strafbefehlsverfahrens (s. unten III 1 und Kurve 2). 32 Tabellenanhang 2, 1971 waren es 69%, 1978 55 %. 33 Tabellenanhang 3. 34 Einzelheiten vgl. Tabellenanhang 10. Die Entwicklung hat sich 1979 im wesentlichen fortgesetzt. Die Hauptverhandlungsquote sank beim Amtsgericht auf 80,5 % und beim Landgericht erster Instanz auf 78,3 %; in der Berufungsinstanz stieg sie auf 82,7%. Die Urteilsquote sank beim Amtsgericht auf 58,5 %, in der Berufungsinstanz auf 62,7% und beim Landgericht erster Instanz auf 74,4%.
Bei dieser Zählung ohne rechtskräftig werdende Strafbefehle. Vgl. z.B. die Vorschläge des Arbeitskreises „Strafprozeßreform" „Die Verteidigung", Karlsruhe, 1979. 35 36
im Gesetzentwurf
261
Statistische Beiträge zur Wirklichkeit des Strafverfahrens
nach § 140 Abs. 1 N r . 1 StPO notwendig ist. Hier läßt die Differenzierung nach Spruchkörpern für das Jahr 1978 auffällige Unterschiede erkennen 37 (Tabelle 2); erst in der Rechtsmittelinstanz wird die Mitwirkung eines Verteidigers nahezu zur Regel.
Tabelle
2:
Anteil der Mitwirkung
Hauptverhandlungen eines Verteidigers,
Spruchkörper
Anteil
unter 1978 in
Strafrichter
57,4
Schöffengericht
59,6
Jugendrichter
24,0
Jugendschöffengericht
47,8
Große
81,4
Kleine
Strafkammer* Strafkammer*
Jugendkammer* *
Als
X
76,8 80,9
Berufungsgericht
3. Staatsanwaltschaftliches
Ermittlungsverfahren
a) Die Abschlußverfügung der Staatsanwaltschaft, d.h. die Entscheidung über Erhebung der öffentlichen Klage (und hierbei die Auswahl zwischen Normalverfahren und vereinfachter Verfahrensart) oder Einstellung des Verfahrens hat erhebliche Selektionswirkung; Veränderungen in der Handhabung sind mitentscheidend für die Belastung der gerichtlichen Instanzen. Wie Tabellenanhang 4, 16 zeigt, überwiegen die Einstellungen mit insgesamt 51 % die Anklagen und Anklagesurrogate mit rund 40 %. Unter den Einstellungen dominiert nach wie vor die nach § 170 Abs. 2 StPO (mangels genügenden Anlasses zur Erhebung der öffentlichen Klage) mit 61 %, obwohl die Einstellungen nach den sogenannten Ermessensvorschriften einen nicht unbeträchtlichen Anteil (25%) erreicht haben 38 . In Tabelle 3 sind die Erledigungen staatsanwaltschaftli-
Zur Entwicklung von 1971 bis 1978 vgl. Tabellenanhang 12. Über die Verteilung auf die einzelnen Einstellungsgründe vgl. näher Tabellenanhang 16. Neben der Verneinung des öffentlichen Interesses bei Privatklagedelikten 23%), dominieren die Einstellungen nach § 153a Abs. 1 StPO (21 %), § 153 Abs. 1 StPO (18%) und § 154 StPO (15 %). Erwähnenswerte Bedeutung haben auch noch die Einstellung nach § 4 5 Abs. 1 und 2 J G G (15%) und nach § 153 b Abs. 1 StPO (5%). Dagegen fallen die 37 58
262
Peter Rieß
cher Ermittlungsverfahren um diejenigen Formen bereinigt, die vorläufigen oder unklaren Charakter haben3'.
Tabelle
3: Verhältnis von Anklage und Verfahrenseinstellung bei der Staatsanwaltschaft, 1978
Erledigungsart
Zahl*
Summe ^ Erhebung der öffentlichen Klage Einstellung nach § 170 Abs.2 StPO Einstellung gg.Auflagen u.Weisunge^ sonstige Einstellung nach Ermessen
2 107 600 1 004 700 776 300 91 9 0 0 234 700
X 100,0 47,7 36,8 4,4 11,1
* Hochgerechnete Werte (vgl. Fn.24) 2 Mit Strafbefehlsanträgen Hit Verweisungen zur Privatklage
Danach wird in knapp der Hälfte der Fälle die öffentliche Klage erhoben; von den Einstellungen beruhen 70% auf §170 Abs.2 StPO, 30 % auf sog. Ermessensvorschriften3''. Faßt man die Einstellungen gegen Auflagen und Weisungen mit der Erhebung der öffentlichen Klage zu einer Gruppe zusammen, in der der Staatsanwalt eine Sanktionierung für erforderlich hält, und stellt dem die folgenlosen Einstellungen gegenüber, so zeigt sich in Tabelle 4 ein leichtes Ubergewicht der mit einer Sanktion beendeten Verfahren40. Der Anteil der folgenlosen Einstellungen an allen Verfahren mit bekannten Beschuldigten dürfte etwas niedriger liegen als bisher verbreitet angeübrigen Einstellungsmöglichkeiten ( § § 1 5 3 c , 154b, 154c u n d 154d S t P O ) zahlenmäßig k a u m ins Gewicht (3 %). 39 Abgaben an Verwaltungsbehörden (§§41, 43 O W i G ) , Abgaben an andere Staatsanwaltschaften, vorläufige Einstellungen u n d „sonstige Erledigungen". 39a 1979 stieg die Zahl der (bereinigten) Erledigungen auf 2 174 200. D a v o n entfielen auf E r h e b u n g der öffentlichen Klage 46,6%, Einstellung nach §170 A b s . 2 S t P O 37,1%, Einstellung gegen Auflagen und Weisungen 4,8 % und sonstige Einstellungen nach Ermessen 11,5%. 40 Eine Zählweise nach Beschuldigten (vgl. Tabellenanhang 15) ergibt ein ähnliches Bild, w e n n m a n die dortige Sammelgruppe der sonstigen Erledigungen entsprechend der hier v o r g e n o m m e n e n Bereinigung u m Abgaben, vorläufige Einstellungen u. ä. (nach Tabellenanhang 4 15,9%) vermindert. Auf Beschuldigte bezogen beträgt der Anteil der Sanktionierungen dann 42,5 % (1979 41,7%).
Statistische Beiträge zur Wirklichkeit des Strafverfahrens
263
nommen41; etwa die Hälfte aller Beschuldigten wird durch die Erhebung der öffentlichen Klage oder durch Auferlegung von Auflagen und Weisungen sanktioniert. Tabelle
k : Verhältnis genloser waltschaft,
von Sanktionierung Einstellung bei der 1978
und folStaatsan-
Erledigungsart
Zahl
X
Summe
2 107 600
100,0
Sanktionierung
1 096 600
52,0
folgenlose
1 011 000
48,0
Einstellung
b) Die Verweisung auf den Privatklageweg durch die Staatsanwaltschaft (§ 376 StPO) hat, wie Tabelle 5 zeigt, im wesentlichen die Bedeutung einer Einstellung des Verfahrens42. Berücksichtigt man den nicht exakt feststellbaren Anteil der Privatklagen, die ohne vorherige Anrufung der Staatsanwaltschaft erhoben werden, so läßt sich die Einstellungswirkung der Verneinung des öffentlichen Interesses in privatklagefähigen Delikten auf etwa 90 % veranschlagen43. Tabelle
5:
Einstellungswirkung den Privatklageweg,
Verweisungen zur Erhobene
Privatklage
Privatklagen
der Verweisung 1978 Zahl
X
75 200
100,0
12 400
16,5
auf
41 Vgl. etwa Peters, Strafprozeß, 2. Aufl., 1966, S.395 („zahlenmäßig weit größere Rolle"); Roxin, Strafverfahrensrecht, 15.Aufl., 1979, S.207 („Mehrzahl der Fälle"); Riiping, Theorie und Praxis des Strafverfahrens, 1979, Rdn.282. 42 Vgl. auch Tabellenanhang 2 und 4. 43 Das weitere Schicksal der bei Gericht anhängig werdenden Privatklagen ist ebenfalls bemerkenswert. Von den 12 400 erledigten Privatklagen wurden 1978 17 % durch Zurückweisung, IS,6 % durch Rücknahme und 16 % durch Vergleich erledigt. Zum Urteil kam es nur in 10,3 % aller Fälle. Es entspricht dieser Entwicklung, daß in der Berufungsinstanz der Anteile der Privatklageverfahren, der in erster Instanz 2,4 % beträgt, auf 0,8 % zurückgeht und daß hier die Urteilsquote in Privatklagesachen nur 20 % beträgt.
264
Peter Rieß
c) Die staatsanwaltschaftliche Zählkartenstatistik enthält Häufigkeitsangaben über eigene Ermittlungstätigkeit der Staatsanwaltschaft, insbesondere über Beschuldigten- und Zeugenvernehmungen. Trotz der Tendenz des l . S t V R G 4 4 , die Staatsanwaltschaft namentlich durch Einräumung von Zwangsbefugnissen ( § § 1 6 1 a , 163 a Abs. 3 StPO) stärker in die Ermittlungstätigkeit zu integrieren, zeigt sich bezogen auf die Gesamtzahl der Verfahren eine verhältnismäßig geringe eigene Ermittlungsintensität45. In den 6 ausgewerteten Ländern sind 1978 je rund 25 000 Beschuldigte und Zeugen von der Staatsanwaltschaft vernommen worden46, das entspricht einem Anteil von rund 1,6 % aller Beschuldigten. Bemerkenswert sind die signifikanten regionalen Unterschiede; in Nordrhein-Westfalen ist die Quote eigener Ermittlungstätigkeit der Staatsanwaltschaft fast fünfmal so hoch wie in Bayern. d) Entgegen dem gesetzlichen Leitbild der Strafprozeßordnung kann weder davon gesprochen werden, daß die Staatsanwaltschaft regelmäßig Initiator des Ermittlungsverfahrens ist, noch daß die Polizei stets dem Normbefehl des §163 Abs. 2 StPO gerecht wird, bei eigener Ermittlungstätigkeit ihre Verhandlungen ohne Verzug der Staatsanwaltschaft zu übersenden*7. Etwa 85 % aller Ermittlungsverfahren werden von der Polizei eingeleitet, nur 58 % der Akten werden innerhalb eines Monats an die Staatsanwaltschaft übersandt, mehr als 6 % werden ihr später als drei Monate nach Beginn der Ermittlungen bei der Polizei zugänglich gemacht.
III. Zur Entwicklung des Geschäftsanfalls
1. Eingänge und
Erledigungszahlen
Die Annahme unablässig steigender Geschäftsbelastung der gesamten Justiz, die zu einem Stillstand der Rechtspflege zu führen drohe, findet
44
V g l . B e g r ü n d u n g z u m R e g i e r u n g s e n t w u r f des l . S t V R G , B T - D r u c k s . 7 / 5 5 1 , S . 4 0 f f .
45
E i n z e l h e i t e n vgl. T a b e l l e n a n h a n g 14. 1 9 7 9 sank die Zahl der B e s c h u l d i g t e n v e r n e h -
m u n g e n auf 1 7 2 3 5 ( 1 , 0 8 je 1 0 0 B e s c h u l d i g t e ) , die der Z e u g e n v e r n e h m u n g e n stieg auf 3 4 8 4 7 ( 2 , 5 auf je 1 0 0 E r m i t t l u n g s v e r f a h r e n ) . 46
F ü r das B u n d e s g e b i e t ergibt sich n a c h H o c h r e c h n u n g eine Zahl v o n rund 4 5 0 0 0
B e s c h u l d i g t e n v e r n e h m u n g e n u n d 4 7 0 0 0 Z e u g e n v e r n e h m u n g e n , ein W e r t , der t r o t z seiner relativen G e r i n g f ü g i g k e i t absolut gesehen n i c h t u n b e t r ä c h t l i c h ist. 47
T a b e l l e n h a n h a n g 1 3 . 1 9 7 9 stieg der Anteil der bei der Staatsanwaltschaft eingeleiteten
E r m i t t l u n g s v e r f a h r e n auf 14,7%;
der Anteil der innerhalb eines M o n a t s an die Staatsan-
w a l t s c h a f t ü b e r s a n d t e n V e r f a h r e n sank auf 56, J % .
Statistische Beiträge zur Wirklichkeit des Strafverfahrens
265
sich nicht nur im Fachschrifttum 48 , sondern auch in der Tagespresse49. Für die Strafjustiz wird diese Annahme bei einem flüchtigen Blick in die Statistik scheinbar bestätigt. Bei genauerer Analyse zeigen sich allerdings zwei ausgeprägte Ursachen, die sich als Belastungsverscbiebungen darstellen; eine Zunahme gerichtlich abhängig werdender Strafverfahren insgesamt ist dagegen kaum feststellbar50. Eine zusammengefaßte und undifferenzierte Betrachtung aller erledigten Geschäftsvorfälle beim Amtsgericht, Landgericht und Oberlandesgericht, wie sie in Tabelle 6 dargestellt ist, vermittelt in der Tat das Bild
Tabelle
6: Entwicklung der Erledigungszahlen der Strafjustiz*, 1971 bis 1978
Jahr
Erledigte in a l l e n
Verfahren
Zunahme gegenüber
Instanzen
Zahl
in Vorjahr %
1971
832 672
1972
919 096
86 424
1973
981 885
62 789
6,8
1974
1 091 932
110 047
11,2
10,4
1975
1 182 559
90 627
8,3
1976
1 337 020
154 461
13,1
1977
1 429 733 1 507 797
92 713
6,9
78 046
5,5
1978 * Amtsgericht
(einschließlich
Bußgeldverfahren),
e r s t e I n s t a n z und B e r u f u n g s i n s t a n z ,
schwerden ( e i n s c h l . Z u l a s s u n g s a n t r ä g e n ) ohne S t r a f b e f e h l s v e r f a h r e n ,
Landgericht
als
R e v i s i o n e n und R e c h t s b e beim
Oberlandesgericht,
die ohne H a u p t v e r h a n d l u n g
erledigt
wurden
48
Vgl. z.B. statt vieler Wannagat, ZRP 1980, 121. Vgl. etwa Müller, Stuttgarter Zeitung vom 17.5.1980 und namentlich Kuhnert, DIE ZEIT vom 4.4.1980. Gegen ihn sehr viel differenzierter Vogel, DIE ZEIT vom 6.6.1980. 50 Zuverlässige Zeitreihen für die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren nach der neuen Statistik stehen noch nicht zur Verfügung. Die aus Tabellenanhang 4, Sp. 5 und 8 erkennbare Zunahme von erledigten Ermittlungsverfahren um ca. 60 000 (=2,.5%) von 1977 bis 1978 ermöglicht noch keine sicheren Rückschlüsse. Von 1978 bis 1979 stieg die Zahl der erledigten Verfahren um 65 200 (= 2,5 %) auf 2 568 400. Die alten Geschäftsübersichten der Staatsanwaltschaft lassen von 1971 bis 1975 keine Steigerungstendenz erkennen. 49
266
Peter R i e ß
eines ständig wachsenden Geschäftsanfalles von 1971 bis 1978. Hiernach hat die Gesamtzahl der von der Statistik erfaßten Erledigungen bei der Strafjustiz der Länder 51 um 92 % der Ausgangszahl oder jährlich rund 100 000 zugenommen". Doch ist diese Globalbetrachtung verhältnismäßig unscharf. Differenziert man nach Gerichtsstufen, wie in Tabelle 7, so zeigt sich, daß der Geschäftsanfall beim Landgericht in erster Instanz fast konstant geblieben ist, während die Steigerungen beim Amtsgericht und beim Oberlandesgericht auffällig hoch sind.
Tabelle
7: Entwicklung der Erledigungszahlen in der Strafjustiz nach Instanzen, 1971 bis 1978
Jahr
1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 Zunahme 1978 g e g e n 1971
Erledigte Verfahren Amtsgericht Landgericht Landgericht 1.Instanz Berufung
1 1 1 1 1
759 5 9 9 840 9 9 3 903 7 1 0 009 272 094 585 241 6 0 9 330 202 403 344 84,7%
10 10 10 10 11 11 11 12
612 869 471 822 565 843 746 705
19,7%
52 55 55 58 61 66 68 72
168 534 939 558 709 468 458 085
38,2%
Oberlandesgericht 10 11 11 13 14 17 19 19
234 700 757 219 700 100 150 673
92,2%
Hier ist der Zuwachs, wie eine Aufschlüsselung nach Strafverfahren und Bußgeldverfahren zeigt, ganz überwiegend auf die überproportionale Steigerung von Bußgeldverfahren zurückzuführen. So sind die Revisionen in Strafsachen beim Oberlandesgericht von 1971 bis 1978 von 6858 auf
Zur Geschäftsbelastung des Bundesgerichtshofes vgl. unten, V I 2. Ein fast übereinstimmendes Bild ergibt sich bei der Betrachtung der Neueingänge (vgl. Tabellenanhang 5), die jedoch der Untersuchung nicht zugrunde gelegt werden konnten, weil sie keine ausreichende Differenzierung ermöglichen. 1979 zeigt sich bei den kumulierten Zahlen erstmals ein leichter Rückgang uni 9966 Verfahren auf 1 497 831 Verfahren. 51
52
(= 0,7"«}
Statistische Beiträge zur Wirklichkeit des Strafverfahrens
267
8859 um 2001 (= 29,2%) gestiegen; die Rechtsbeschwerden (einschließlich Zulassungsanträge) in Bußgeldsachen im gleichen Zeitraum von 3390 auf 10 731 um 7341 (= 216,5 %)". Beim Amtsgericht stieg die Zahl der Strafverfahren mit Hauptverfahren von rund 540 000 auf 695 000 um 156 000 (=28,9%), die der Einsprüche gegen Bußgeldbescheide von rund 186 000 auf 482 000 um 296 000 (= 159,1 %)54 (vgl. dazu Kurve 1). Kurve
1:
Alle
Erledigungen
beim
Amtsgericht
Verfahren
Strafsachen
(einschließlich
Strafbefehlsverfahren)
Bußgeldsachen
Auch der noch deutlich erkennbare Zuwachs an erstinstanzlichen Strafsachen insbesondere beim Amtsgericht ist im wesentlichen eine Belastungsverschiebung. Er beruht auf einem Rückgang der Abschich-
55 Tabellenanhang 8. Nähere Angaben, insbesondere zum Verhältnis von Rechtsbeschwerden und Zulassungsanträgen bei Göhler ( F N 8), S. 45 f. 1979 entfielen von den 19 230 Verfahren 8978 (46,7%) auf Revisionen, 10 525 (53,3 %) auf Rechtsbeschwerden und Zulassungsanträge. 54 Tabellenanhang 6, 7. 1979 entfielen von den 1 207 152 Verfahren (wie Tabellenanhang 7) 713 967 (59,1 %) auf Strafverfahren und 495 185 (40,9%) auf Einsprüche gegen Bußgeldbescheide.
268
Peter Rieß
tungswirkung des Straßefehlsverfahrens. Betrachtet man dieses als Filter mit der Aufgabe, die unproblematischen Fälle vom Zugang zur urteilsmäßigen Entscheidung aufgrund der Hauptverhandlung abzuschichten, so ergibt ein Zeitreihenvergleich, der in Kurve 2 graphisch dargestellt ist55, daß die Filterwirkung durch Steigerung der Einspruchsquote und Rückgang des Anteils der Strafbefehlsanträge in 8 Jahren von ca. 40 % auf unter 30 % zurückgegangen ist56. Bezieht man die Strafbefehlsanträge in die Gesamtzahl der erledigten Strafverfahren mit ein, so hat die Zahl der Strafverfahren beim Amtsgericht von 1971 bis 1978 lediglich von 900 000 auf 981 000 um 81 000 ( = 9 % ) zugenommen 57 . Kurve
2:
Entwicklung fahrens
des
Strafbefehlsver-
X
75
1971
1972 -Anteil
1973 der
1974
1975
Strafbefehlsanträge
1976 an
1977
1978
Verfahrenseinleitungen
Entlastungsquote E inspruchsguote
55
Einzelheiten Tabellenanhang 9. Zu den hieraus möglicherweise zu ziehenden legislatorischen Konsequenzen Rieß (FN 8), S. 131 f. 57 Tabellenanhang 6. Diese Entwicklung hat sich 1979 fortgesetzt. Bei einer Zunahme aller erledigten Strafsachen auf 993 895 sank der Anteil der Strafbefehlsanträge auf 41,7 % (414 194), die Einspruchsquote stieg auf 31,9% (132 116) und der Anteil der ohne Hauptverhandlung rechtskräftig werdenden Strafbefehle sank auf 28,2 % (279 928). 56
Statistische Beiträge zur Wirklichkeit des Strafverfahrens
269
Die sehr differenzierte Steigerung des Geschäftsanfalls in derStrafjustiz im Vergleich 1978 zu 1971 wird aus Tabelle 8 im einzelnen erkennbar.
Tabelle
8:
Differenzen Instanzen,
der Erledigungszahlen 1971 bis 1978
Erledigungsart und Instanz
Erledigungen 1971 1978
Erstinstanzliche Strafsachen insgesamt davon Landgericht 1.Instanz Amtsgericht mit Hauptverfahren Amtsgericht ohne Hauptverfahren Einsprüche gegen Bußgeldbescheide Berufungen in Strafsachen Revisionen in Strafsachen beim 0 L £ zum BGH Rechtsbes^hwerden in B u ß g e l d sachen
nach Zunahme bzw Abnahme in !
910 354 10 612
994 074 12 705
+ 9,2 + 19,7
539 949
659 572
+ 22,2
359 803
285 795
- 20,6
186 370 52 168
481 718 72 085
+158,5 + 38,2
6 858 3 017
8 859 3 687
+ 29,2 + 22,2
3 390
10 737
+216,5
Rechtskräftig werdende Strafbefehle Vgl. näher Tabellenanhang 30 Einschließlich Z u l a s s u n g s a n t r ä g e n
2.
Rückstandsentwicklung
Ein wichtiger Indikator zur Beantwortung der Frage, ob die insgesamt steigende, wenn auch an wenigen Punkten lokalisierbare Geschäftsbelastung das Funktionieren der Strafjustiz gefährdet, ist neben einer Verfahrensdaueranalyse 58 die Rückstandsentwicklung 5 '. Sie bietet sowohl abso-
Zu dieser naher unten, IV 3. Die den Rückstand kennzeichnende Restequote wird hier definiert als der Prozentanteil der unerledigten Sachen am Ende eines Berichtszeitraumes an den Neueingängen während des Berichtszeitraumes. 58 59
270
Peter Rieß
lut als auch im Zeitreihenvergleich keine H i n w e i s e d a f ü r , daß die S t r a f j u s t i z i n s g e s a m t v o m Z u s a m m e n b r u c h b e d r o h t ist 60 . E n d e 1978 b o t die R e s t e q u o t e , g e m e s s e n in P r o z e n t w e r t e n u n d M o n a t s p e n s e n bei den einzelnen G e r i c h t s s t u f e n das aus T a b e l l e 9 ersichtliche Bild 6 1 .
Tabelle
9·' Restequote Instanzen,
Gericht Amtsgericht Landgericht, 1.Instanz Landgericht, Berufungen Oberlandesgericht
bei den 1978
verschiedenen
Restequote
Monatspensen
28,7% 45,6% 30,0% 9,0%
2,4 3,8 2,5 0,8
I m Zeitreihenvergleich zeigt sich d u r c h g e h e n d , daß die R e s t e q u o t e k o n s t a n t bis r ü c k l ä u f i g ist 62 (Tabelle 10).
Tabelle
10:
Zeitliche
Gericht
Amtsgericht Landgericht, 1.Instanz Landgericht, Berufungen Oberlandesgericht
Entwicklung Restequote 1972
der
Restequoten
1975
1978
38,7% 48,6% 34,0%
34,4% 50,1% 35,1%
28,7% 45,6% 30,0%
8,8%
9,6%
9,0%
60 Die bundesweite Zusammenfassung der Werte schließt nicht aus, daß an besonders neuralgischen Schwerpunkten die Werte wesentlich ungünstiger sein können. 61 Einzelheiten und Zeitreihenvergleich Tabellenanhang 5, Sp. 6, 11 und 16. 1979 betrug die Restequote beim Amtsgericht 27,1 %, beim Landgericht erster Instanz 44,9 %, in der Berufungsinstanz 28,9% und beim Oberlandesgericht 8,8%. 62 Der auffällig starke Rückgang der Restequote bei den Amtsgerichten dürfte allerdings in erster Linie auf den überproportionalen Anstieg der Bußgeldsachen zurückzuführen sein.
Statistische Beiträge zur Wirklichkeit des Strafverfahrens
271
IV. Zur Verfahrensdauer 1. Erkenntnismöglichkeiten
und ihre
Grenzen
Aufgrund der allgemeinen Annahme, daß Strafverfahren vielfach zu lange dauern63, haben in den letzten fünf Jahren gesetzgeberische Maßnahmen zur Verfahrensbeschleunigung mit im Zentrum der legislatorischen Aktivität gestanden64. Nicht selten stehen im Brennpunkt des öffentlichen Interesses spektakuläre Fälle überlanger Verfahrensdauer. Sie prägen in nicht unbedenklicher Weise das öffentliche Bild der Strafjustiz als insgesamt von unerträglicher Langsamkeit beherrscht. Dies kann den Gesetzgeber veranlassen, das Beschleunigungsziel zu einseitigzur Richtschnur seines Handelns zu machen. Eine differenzierte Untersuchung der Verfahrensdauer ermöglicht eine realistische Einschätzung der Situation. Zugleich kann ein Zeitreihenvergleich zur Erfolgskontrolle der auf Beschleunigung zielenden legislatorischen Maßnahmen beitragen. Die Justizstatistik weist aus, welcher Anteil aller Verfahren bei den jeweiligen Spruchkörpern 65 innerhalb bestimmter Zeiträume erledigt wird, und zwar bei den gerichtlich anhängig gewordenen Strafverfahren ab Eingang bei Gericht und einschließlich des Ermittlungsverfahrens 66 . Für das Ermittlungsverfahren allein sind erst Teilwerte ab 1977 vorhanden, die noch keinen Zeitreihenvergleich ermöglichen. Diese Häufigkeitsverteilung ermöglicht nicht, die Durchschnittsdauer aller Strafverfahren (oder bestimmter Gruppen) anzugeben, ein Wert, der ohnehin allenfalls plakative Bedeutung, aber wenig Aussagekraft hätte. Leider läßt sich aus der allgemeinen Statistik auch nicht die Dauer einzelner Verfahrensabschnitte zuverlässig ermitteln; auch die Gruppierung nach bestimmten Erledigungsarten ist nur in geringen Grenzen möglich. Besonders nachteilig ist, daß bei den Spruchkörpern, die sowohl Strafsachen als auch Bußgeldsachen erledigen67, keine Trennung der beiden Verfahrensarten möglich ist68. Ebensowenig läßt sich die Verfahrens" Vgl. statt Vieler ζ. B. Peters, Beschleunigung des Strafverfahrens und die Grenzen der Verfahrensbeschleunigung, in Strafprozeß und Reform, 1979, S. 82. 64 Namentlich das l . S t V R G (FN 14) und das Strafverfahrensänderungsgesetz 1979 (StVÄG 1979) v. 5.10.1978 (BGB1.I, S. 1645) sind vorwiegend durch das Beschleunigungsziel gekennzeichnet. 65 Die veröffentlichte Bundesstatistik unterscheidet nicht zwischen den einzelnen Spruchkörperarten beim Amtsgericht und Landgericht und hat daher nur eine begrenzte Aussagekraft. Dagegen lassen sich aus den unveröffentlichten Landesergebnissen die Werte für die verschiedenen Spruchkörper ableiten. 66
Ab Eingang der Akten bei der Staatsanwaltschaft, vgl. dazu aber auch Tabellenanhang
13. Strafrichter, Jugendrichter, Oberlandesgericht. Infolge des überproportionalen Anstiegs der Bußgeldverfahren muß daher damit gerechnet werden, daß in diesem Bereich eine im Zeitreihenvergleich erkennbare Verfah67 68
272
Peter Rieß
dauer bei Strafbefehlsverfahren angeben, wenn der Strafbefehl ohne Hauptverfahren rechtskräftig wird. Für den für die Verfahrensdauer besonders bedeutsamen Zeitreihenvergleich von 1971 bis 1978 wurde als Eckwert für kurzfristig erledigte Verfahren generell eine Erledigung innerhalb von 6 Monaten gewählt, als solcher für langdauernde Verfahren eine Verfahrensdauer von mehr als 12 Monaten. Eine Verfahrensbeschleunigung wird dadurch erkennbar, daß der Anteil der kurzfristig erledigten Verfahren steigt und der der langdauernden sinkt, eine Verfahrensverzögerung wird durch umgekehrte Werte deutlich 69 . Alle Verfahrensdaueranalysen aufgrund des groben Rasters der Justizstatistik stellen massenstatistische Phänomene dar70. Sie sagen nichts darüber aus, ob einzelne Verfahren nach Sachlage zu lange dauerten oder angemessen zügig verlaufen sind; sie ermöglichen kaum Aussagen über die Dauer einzelner Verfahrensabschnitte oder über korrelative Zusammenhänge zwischen Verfahrensdauer und bestimmten Verfahrensereignissen. Solche Erkenntnisse könnten nur durch gezielte rechtstatsächliche Untersuchungen gewonnen werden 71 . 2.
Uberblick
Eine allgemeine Ubersicht für 1978, wie sie Tabelle 11 enthält, macht deutlich, daß von einer unvertretbar langen Dauer von Strafverfahren jedenfalls nicht allgemein gesprochen werden kann, sondern daß in allen Instanzen der ganz überwiegende Anteil aller Verfahren innerhalb von 6 Monaten erledigt wird 72 . Extrem lange Verfahren sind nach dieser Statistik, abgesehen vom Zeitraum Eingang bei der Staatsanwaltschaft bis Abschluß des Berufungsverfahrens, wo sich die kumulierende Wirkung mehrerer Instanzen auswirkt, verhältnismäßig seltene Ausnahmen, freilich in absoluten Zahlen doch von einigem Gewicht 73 .
rensbeschleunigung ihre Ursache auch darin haben kann, daß Bußgeldverfahren (und insbesondere Erzwingungshaftanträge) regelmäßig schneller erledigt werden. 69 Eine ausführlichere Aufgliederung der Verfahrensdauer in einer Gegenüberstellung der Jahre 1971 und 1978 ist in Tabellenanhang 2 0 bis 23 dargestellt. 70 Wegen der zu geringen absoluten Zahlen ist von einer Darstellung der Verfahrensdauer bei den erstinstanzlichen Verfahren vor dem Oberlandesgericht abgesehen worden. 71 Vgl. dazu für die Zivilgerichtsbarkeit Baumgärtel-Mes, Zivilprozesses (erste Instanz), Köln, 1971.
Rechtstatsachen zur Dauer des
Näher Tabellenanhang 17. Einschließlich der Ermittlungsverfahren dauerten immerhin rund 21 0 0 0 Verfahren länger als zwei Jahre bis zum Abschluß der ersten Instanz. 72
73
Statistische Beiträge zur Wirklichkeit des Strafverfahrens
Tabelle
11:
Verfahrensdauer,
Überblick Anteil
Verfahrensabschnitt
273
1978
in %
innerhalb von 6
Dauer
länger
12 Monate
als
24 Monate
Monaten erledigt 92,6
1,9
0,5
- bei Gericht
88,7
3,4
0,7
- bei
78,2
6,6
1,5
Alle
Ermittlungsverfahren
Erstinstanzliche
gerichtliche
Verfahren ab Eingang Staatsanwaltschaft
Berufungsverfahren - beim - bei
ab
Eingang
Berufungsgericht
85.3
4,2
0,8
Staatsanwaltschaft
11.4
41,4
10,1
Eine Aufgliederung dieser Werte für die verschiedenen Spruchkörper der ersten Instanz ergibt erwartungsgemäß, daß die Verfahrensdauer bei den unterschiedlichen Spruchkörpern recht verschieden ist" (Tabelle 12). Sie ist am größten bei den erstinstanzlichen Verfahren vor der allgemeinen Strafkammer und dem erweiterten Schöffengericht; die Spruchkörper der Jugendgerichtsbarkeit brauchen durchweg eine kürzere Verfahrensdauer als die gleichrangigen Spruchkörper der Erwachsenengerichtsbarkeit.
3. Gerichtliche
Verfahrensdauer,
Zeitvergleich
1971 bis 1978
Ein nach den verschiedenen Spruchkörpern differenzierender Zeitreihenvergleich, der die Eckwerte der innerhalb von 6 Monaten erledigten und länger als 12 Monate dauernden Verfahren als Indikatoren verwendet74", ergibt, wie auch aus der graphischen Darstellung in den Kurven 3 bis 10 deutlich wird, ein uneinheitliches Bild".
Tabellenanhang 18, 20, 21. 74. 1979 hjben s j c h in der Entwicklung der Verfahrensdauer keine auffälligen Veränderungen gezeigt. Beim Strafrichter, Jugendrichter, Jugendschöffengericht, der Großen Strafkammer und in der Berufungsinstanz wird eine leichte Beschleunigung deutlich; beim Schöffengericht, erweiterten Schöffengericht und Schwurgericht ist die Dauer konstant bis leicht ansteigend. 75 Tabellenanhang 18 (erste Instanz) und 19 (Berufungsinstanz). 74
274
Tabelle
Peter Rieß
12: Verfahrensdauer bei Spruchkörpern erster
Spruchkörper
Anteil
in
innerhalb von 6
verschiedenen Instanz, 1978 'o
Dauer
l ä n ger
12 Monate
als
24 Monate
Monaten erledigt Strafrichter
Jugendrichter
Schöffengericht
88,9
3,0
0,6
79,1
6,4
1,4
a
92,3
1,8
0,3
b
82,9
3,7
0,6
a
75,5
9,4
2,3
b
42,2
26,0
7,7
a
87,3
3,5
0,8
b
64,5
10,3
2,0
Schöffengericht a
62,0
17,1
5,7
b
18,4
50,6
21,5
a
70,8
12,6
3,9
b
30,4
41,1
19,3
a
82,6
5,3
1,2
b
23,8
34,7
9,9
a
84,8
5,2
1,4
b
39,1
25,4
6,1
Jugendschöffengericht
Erweitertes
a b
Strafkammer
Schwurgericht
Jugendkammer
a = Verfahrensdauer
ab E i n g a n g b e i
b = Verfahrensdauer
ab E i n g a n g b e i der
Gericht Staatsanwaltschaft
Verglichen mit den W e r t e n 1971 hat sich 1978 beim Strafrichter, Jugendrichter und der Jugendkammer die Verfahrensdauer leicht beschleunigt, beim Jugendschöffengericht ist sie etwa gleich geblieben, beim Schöffengericht, bei der Strafkammer und bei den drei Berufungsspruchkörpern hat sie sich etwas verlangsamt, beim erweiterten Schöffengericht deutlich. Dagegen ist beim Schwurgericht eine auffallende Beschleunigung eingetreten, bei der als gesichert angenommen werden
Statistische Beiträge zur Wirklichkeit des Strafverfahrens
275
kann, daß sie eine Folge seiner Umwandlung in eine besondere Strafkammer des Landgerichts durch das 1. StVRG darstellt76. Innerhalb des achtjährigen Beobachtungszeitraumes ist der zeitliche Verlauf unterschiedlich. Von 1972 bis 1973 ist bei allen Spruchkörpern eine Verfahrensverlangsamung nach allen Indikatoren erkennbar; danach verläuft die Entwicklung unterschiedlich. Beim Strafrichter, dem Jugendrichter, dem Jugendschöffengericht und der Jugendkammer" tritt nach allen Indikatoren 1973/74 eine bis heute anhaltende Trendwende in Richtung auf eine Verfahrensbeschleunigung ein, durch die die Verfahrensdauerwerte von 1971 überall wieder erreicht, teilweise verbessert worden sind. Beim Schöffengericht flacht sich der Verlangsamungstrend ab 1974 ab; ein 1976 deutlicher Einbruch wird im Folgejahr wieder ausgeglichen, so daß ab etwa 1975 die Verfahrensdauer einigermaßen stabil erscheint78. Beim erweiterten Schöffengericht 79 hält die Verfahrensverlangsamung bis 1976, nach einigen Indikatoren bis 1977 an; seit dieser Zeit ist eine Stabilisierung und leichte Verbesserung erkennbar. Die Entwicklung bei der großen Strafkammer ist bis heute uneinheitlich 80 ; während einige Indikatoren weiterhin eine leichte Verfahrensverlangsamung signalisieren, deuten die das Ermittlungsverfahren mit einbeziehenden seit 1976 auf eine gewisse Verfahrensbeschleunigung hin81. Die Verfahrensdauerentwicklung beim Schwurgericht ist durch eine auffallende Trendwende in Richtung auf eine Beschleunigung in der Mitte des Beobachtungszeitraums gekennzeichnet 82 . Auch bei den Berufungsspruchkörpern haben sich die Verlangsamungstendenzen von 1971 bis 1973 inzwischen deutlich abgeflacht. Bei dieser Sachlage ist eine gesicherte Aussage zur Erfolgskontrolle der auf Beschleunigung zielenden gesetzgeberischen Maßnahmen durch das 1. StVRG allein aufgrund des statistischen Materials nicht möglich. Immerhin ist bemerkenswert, daß sich seit seinem Inkrafttreten keine ausgeprägte Tendenz zur Verfahrensverlangsamung mehr zeigt, von kurzzeitigen Schwankungen bei einzelnen Spruchkörpern abgesehen. Die durch Praxisbefragungen vermittelten Ergebnisse, daß das 1. StVRG 76 Zusätzlich dürfte hier die Beseitigung der gerichtlichen Voruntersuchung durch das 1. StVRG eine Rolle spielen, die nur noch in Schwurgerichtsverfahren eine nennenswerte Rolle spielte (vgl. Regierungsentwurf zum 1. StVRG, BT-Drucks. 7/551, S. 130). 77 Kurven 3, 4, 6 und 10. 78 Kurve 5. 79 Kurve 7. 80 Kurve 8. " Als eine freilich nur als vorsichtige H y p o t h e s e formulierbare Interpretation k o m m t in Betracht, daß die Beschleunigungsmaßnahmen des 1. StVRG sich stärker im Ermittlungsverfahren bemerkbar gemacht haben als im Hauptverfahren. 82 Kurve 9.
276
Peter Rieß
dieses Teilziel 83 wenn auch eher in bescheidenem Umfang erreicht hat, wird durch die statistische Verfahrensdaueranalyse jedenfalls nicht widerlegt sondern eher gestützt.
Kurve
J:
Entwicklung Strafrichter
der
Verfahrensdauer.
75
50
25
1971
•
83
1972
1973
1974
Erledigung
innerhalb
Erledigung
mit
Erledigung
nach
Erledigung
mit
von
1975 6
als
12
1977
1978
Monaten
Ermittlungsverfahren mehr
1976
innerhalb
von
6
Mon.
nach mehr
a l s 12 M o n .
Monaten
Ermittlungsverfahren
Zu weiteren Teilzielen des 1. StVRG vgl. Rieß, ZRP 1977, 69.
Statistische Beiträge zur Wirklichkeit des Strafverfahrens
Kurve
h:
Entwicklung Jugendrichter
der
277
Verfahrensdauer.
X
75
50
25
1971
1972
Kurve
5:
1973
1974
1975
Entwicklung der Sch o f f e n gerich t
1976
1977
1978
Verfahrensdauer.
X
75
50
25
1971
1972
Legende
wie
1973 Kurve
1974 3
1975
1976
1977
1978
278
Peter Rieß
Kurve
6:
%
Entwicklung der Jugendschöffengericht
Verfahrensdauer.
75
50
1971 Kurve
1971
1972
1973
7 · ' Entwicklung Erweitertes
1972
1973
Legende wie Kurve 3
1975
1974 der
1974
1976
197
1978
Verfahrensdauer. Schöffengericht
1975
1976
1977
1978
Statistische Beiträge zur Wirklichkeit des Strafverfahrens
Kurve
8: Entwicklung der Große Strafkammer
279
Verfahrensdauer.
%
75
50
25
1971
1972
Kurve
1973
1974
3: Entwicklung Schwurgericht
1975
der
1976
1977
1978
Verfahrensdauer.
X
75
50
s
s
mφ
25
— 1971
1972
Legende
wie
1973 Kurve
3
1974
1975
1976
1977
1978
280
Peter Rieß
Kurve
10:
Entwicklung Jugendkammer
der
Verfahrensdauer.
75
50
25
1971 Legende
1972 wie
1973 Kurve
1974
1975
1976
1977
1978
3
4. Verfahrensdauer
bei der
Staatsanwaltschaft
Obwohl einige in der Öffentlichkeit besonders beachtete Fälle besonders umfangreicher Verfahren den Eindruck erwecken könnten, als ob staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren überaus lange dauern, vermittelt die Statistik das gegenteilige Bild84. Rund drei Viertel aller staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren werden innerhalb von drei Monaten abgeschlossen, etwa die Hälfte innerhalb eines Monats 85 ; der Anteil der länger als ein Jahr dauernden Ermittlungsverfahren liegt um 2 % . Eine Aufgliederung nach verschiedenen Erledigungsformen zeigt, wie Tabelle 13 deutlich macht, daß von den Einstellungen ein überproportional hoher Anteil innerhalb des ersten Monats erledigt wird, andererseits macht der Vergleich mit den Strafbefehlsanträgen deutlich, daß teilweise auch Verfahren erst nach längeren Ermittlungen eingestellt werden86. 84 Aussagekräftige Zeitreihenvergleiche sind zur Zeit noch nicht möglich. Die Gegenüberstellung der Werte für 1977 und 1978 in Tabellenanhang 24 und 25 deutet eher auf eine Beschleunigung hin. Die Entwicklung 1979 weist in die gleiche Richtung. 85 Tabellenanhang 25. 86 Einzelheiten Tabellenanhang 24.
281
Statistische Beiträge zur Wirklichkeit des Strafverfahrens
Tabelle
13 : Dauer staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsverfahren nach Erledigungsarten, 1978
Erledigungsart
Anteil
in %
innerhalb von einem
Dauer l ä n g e r 6 Monate
als
12 Monate
Monat erledigt Anklagen
46,2
6,1
1,5
Strafbefehlsanträge
49,6
1,9
0,4
Einstellungen
64,1
4,8
1,4
V. Zur Anwendung des § 153 a StPO Die mit dem E G S t G B 1974 durch den neuen §153 a StPO auch außerhalb des Jugendstrafrechts geschaffene Möglichkeit der Einstellung des Verfahrens gegen Auflagen und Weisungen gehört unverändert zu den umstrittensten Neuerungen im Strafverfahrensrecht 87 . Die vielfach prognostizierten Gefahren dieses neuartigen Konzepts bedürfen zu ihrer Bestätigung oder Widerlegung zweifellos gezielterer rechtstatsächlicher Untersuchungen 88 , als sie durch bloße Auswertung der allgemeinen Statistik möglich sind. Die absolute und relative Häufigkeit der Anwendung des § 153 a StPO ist unter Berücksichtigung der verhältnismäßig kurzen Zeit seit dem Inkrafttreten der Bestimmung beträchtlich; sie zeigt eine steigende Tendenz 88 '. So stieg die Verfahrensbeendigung durch Einstellung nach § 153 a Abs. 2 StPO bei gerichtlichen Verfahren von 1975 bis 1978 kontinuierlich von 12 885 (=2,0% der erledigten Verfahren) auf 4 1 8 3 1 87 Vgl. zuletzt die scharfe Kritik bei Hirsch, Zur Behandlung der Bagatellkriminalität in der Bundesrepublik Deutschland, ZStW, Bd. 92 (1980), 218 ff. m. weit. Nachw. 88 Vgl. dazu Ahrens, Die Einstellung in der Hauptverhandlung gem. §§ 153 Abs. 2,153 a Abs. 2 StPO, Göttingen, 1978, Kunz, Die Einstellung wegen Geringfügigkeit durch die Staatsanwaltschaft, 1980, und Hertwig, Die Einstellungspraxis nach den §§153, 153 a StPO (erscheint demnächst). 88> Die steigende Anwendungstendenz des § 153 a StPO hat sich auch 1979 fortgesetzt, wobei die Binnenstruktur unverändert geblieben ist. Die Einstellungen durch das Gericht stiegen auf 45 895 (= 5,79%), die durch die Staatsanwaltschaft (hochgerechnet) auf 78 500 f = 3,1 %) aller Ermittlungsverfahren. Damit wurden 1979 rund 124 400 Verfahren nach § 153 a StPO eingestellt, gegenüber 1977 eine Zunahme von 32 500 Verfahren (35,4 % der Ausgangszahl).
282
Peter Rieß
(= 5,3 %)89. Der kurze Zeitvergleich bei der Staatsanwaltschaft von 1977 auf 1978 läßt (hochgerechnet) eine Zunahme von 55 000 (= 2,3 % aller Ermittlungsverfahren) auf 68 500 (= 2,7%) erkennen90. Rund ein Viertel aller staatsanwaltschaftlichen Einstellungen nach sogenannten Ermessensvorschriften stellen heute Einstellungen gegen Auflagen und Weisungen dar; davon entfallen 75 % auf § 153 a StPO, 25 % auf § 45 Abs. 1 JGG 91 . Insgesamt ist 1978 das Verfahren gegen rund 110 000 Beschuldigte gegen Auflagen und Weisungen nach §153 a StPO eingestellt worden' 2 . Welche Bedeutung damit diese Einstellungsart im Gesamtsystem der Kriminalpolitik 93 bereits heute zukommt, zeigt Tabelle 1493\
Tabelle
lk:
Anteil der Einstellungen gegen lagen und Weisungen an den nierungen, 1978
Sanktionierungsart Sanktionierung|n
insgesamt
Verurteilungen Einstellungen
AufSanktio-
Zahl
X
872 000
100,0
739 000
84,7
110 000
12,6
23 000
2,6
gegen A u f l a g e n und Weisungen
-
nach § 153a StPO
-
nach § 45 A b s .
2 Angaben nach der
1 JGG
Strafverfolgungsstatistik
G e r i c h t und S t a a t s a n w a l t s c h a f t
(für
Staatsanwaltschaft
Hoch-
rechnung) Staatsanwaltschaft 89
(Hochrechnung)
Tabellenanhang 26. Tabellenanhang 27. " Tabellenanhang 16. 92 Die Zahl dürfte etwas höher liegen, weil die Justizstatistik nur die insgesamt das Verfahren beendenden Einstellungen nach § 153 a StPO erfaßt und die Fälle unberücksichtigt läßt, in denen nur bei einem von mehreren Beschuldigten nach § 153 a StPO verfahren wird. 93 Die Einstellung gegen Auflagen und Weisungen muß unter einem doppelten Aspekt gesehen werden. Einerseits stellt sie eine der zahlreichen Formen der Anwendung von Opportunitätsgesichtspunkten in einem prinzipiell vom Legalitätsprinzip beherrschten Verfahren dar und steht damit in unmittelbarer Beziehung zu den übrigen Einstellungsgründen nach den §§153 ff. StPO. Andererseits bedeutet aber die Auferlegung von Auflagen und Weisungen eine der Strafe verwandte Art der Sanktion. Deshalb läßt sich die Einstellung nach §153 a StPO (§45 Abs. 1 J G G ) von den folgenlosen Einstellungen abschichten und in Verbindung mit der Verurteilung (bzw. der staatsanwaltschaftlichen Sanktionierung durch Erhebung der öffentlichen Klage) bringen. 1979 betrug der Anteil der Verurteilungen an den Sanktionierungen (868 000) nur 90
Statistische Beiträge zur Wirklichkeit des Strafverfahrens
283
Bei einer näheren Analyse der Einstellungen nach § 153 a StPO sind folgende drei Erkenntnisse hervorzuheben: - Das verhältnismäßig breite Angebot verschiedener Auflagen und Weisungen in § 153 a Abs. 1 Nr. 1 bis 4 StPO wird bei staatsanwaltschaftlichen Einstellungen 94 kaum genutzt. Rund 95 % aller Auflagen haben eine Geldbuße zum Gegenstand' 5 . Die Praxis verwendet offenbar die Vorschrift nicht als ein differenziertes Instrumentarium zu Resozialisierungszwecken, sondern in der Funktion einer Denkzettelsanktion. - In der Berufungsinstanz wird § 153 a StPO fast ebenso häufig (4,5 % der erledigten Verfahren) angewandt wie in der ersten Instanz beim Amtsgericht (5,5 %)96. Die daraus ableitbare Hypothese, daß §153 a StPO als „Notbremse" für die Erledigung von Beweisschwierigkeiten dienen könnte, sollte näher untersucht werden. - Die Anwendungshäufigkeit des § 153 a StPO ist, wie Tabelle 15 zeigt, regional ebenso unterschiedlich wie die Verteilung der Anwendung auf Staatsanwaltschaft und Gericht. Eine gleichmäßige Anwendung der Vorschrift im gesamten Bundesgebiet ist erkennbar noch nicht erreicht worden 97 .
Tabelle
15: Regionale Unterschiede des § 153a StPO, 1978
Bundesland
A n t e i l der E i n s t e l l u n g e n erledigt. ErmittlVerf. i n s g e s ., d u r c h durch StA Gericht
Bayern Bremen Hamburg Nordrh-Westf. Rheinl-Pfalz Saarland
7,1 2,7 2,7 3,3 5,9 4,6
5,4 1,5 2,1 1,3 4,3 4,0
1,7 1,2 0,6 2,0 1,6 0,6
bei
Anwendung
in % a n gerichtl. Verf. durch Gericht
Verteilung d. Einstellungen nach § 1 5 3 a StA Gericht
5,3 4,4 1,8 5,4 5,2 2,2
75,2 55,2 78,3 38,9 72,9 86,1
24,8 44,8 21,7 61,1 27,1 13,9
noch 82,8 % (719 000), der der Einstellungen nach § 153 a StPO stieg auf 14,3 % (124 000), der nach § 4 5 Abs. 1 J G G auf 2,9% (25 000). 94
Für gerichtliche Einstellungen nach § 153 a Abs. 2 StPO enthält die Statistik hierüber keine Angaben. 95 Tabellenanhang 27. 1979 hat sich die Tendenz zur Geldauflage noch verstärkt; sie macht jetzt 95,5 % aus. % Tabellenanhang 26. 97 Einzelheiten Tabellenanhang 28, 29.
284
Peter Rieß VI. Zur Revisionstätigkeit des Bundesgerichtshofes
1. Datenmaterial In der veröffentlichten Justizstatistik finden sich bis 1977 nur wenige globale Angaben über die Revisionstätigkeit des Bundesgerichtshofes; sie sind auch 1978 nur geringfügig erweitert worden 98 . Für das streng formalisierte Revisionsverfahren, das sich für statistische Erfassungen recht gut eignet, ist aber wesentlich mehr statistisches Material vorhanden. Vom Bundesgerichtshof selbst wird seit seinem Bestehen eine detaillierte Geschäftsübersicht geführt. Eine davon unabhängige Zählkartenstatistik mit weiteren Angaben besteht seit 1971, sie ermöglicht nunmehr Zeitreihenvergleiche über fast ein Jahrzehnt". Darüber hinaus sind vom Verfasser in einer eigenen Erhebung seit Anfang 1976 alle Entscheidungen des Bundesgerichtshofes mit Ausnahme der unbegründeten Beschlußentscheidungen nach § 349 Abs. 2 StPO unter verschiedenen Gesichtspunkten untersucht worden, namentlich wurden hierbei alle Revisionsentscheidungen erfaßt, die auf Aufhebung oder Abänderung lauteten. Die nachfolgende Darstellung beruht auf diesen drei unterschiedlichen Datengrundmengen 100 .
2. Geschäftsanfall, Rückstandsentwicklung und Verfahrensdauer a) Im Jahresdurchschnitt 1951 bis 1979 sind beim Bundesgerichtshof jährlich rund 2980 Revisionsverfahren angefallen. Dabei läßt ein Zeitreihenvergleich deutliche Belastungsschwankungen erkennen 101 . Von 1951 bis 1953 zeigt sich zunächst eine die Belastungsgrenze überschreitende Zunahme von Revisionsverfahren von 3170 auf 3930, die die Wiedereinrichtung des erweiterten Schöffengerichts als gesetzgeberische Maßnahme zur Entlastung des Bundesgerichtshofes erforderlich macht102. Danach geht rasch und verhältnismäßig kontinuierlich der jährliche Eingang auf etwa 2500 Verfahren zurück und bewegt sich von 1957 bis 1966 in dieser Größenordnung. Von 1967 bis 1974 steigen die jährlichen Eingänge auf etwa 3000. Von 1974 bis 1979 ist ein weiterer Anstieg auf über 3700 zu verzeichnen. Im Durchschnitt der Jahre 1975 bis 1979 liegt
Vgl. Tabelle 9 der Statistik (FN 6). " Die Zählkarten wurden bis 1977 manuell ausgewertet; seit 1978 erfolgt die Auswertung mittels EDV-Anlagen. 100 Auf die unterschiedlichen Quellen, bei denen sich teilweise auch die Erhebungseinheiten unterscheiden, wird in den einzelnen Tabellen hingewiesen. 101 Tabellenanhang 30. 102 Drittes Strafrechtsänderungsgesetz v. 4.8.1953 (BGBl. I, S. 735). Vgl. Löwe-Rosenberg-Schäfer, 23. Aufl., § 2 9 GVG, Rdn.3. 98
Statistische Beiträge zur Wirklichkeit des Strafverfahrens
285
die Belastung an Revisionsverfahren um 51 % über der im günstigsten Jahrfünft von 1961 bis 1965103. Von Anfang an unverändert stehen zur Erledigung der Revisionen 5 Strafsenate zur Verfügung. b) Trotz dieser Belastungssteigerung bei unverändertem Personaleinsatz in den letzten Jahren ist der Bundesgerichtshof seit 1954 rückstandsfrei. Seit dieser Zeit hat der unerledigte Rest an Revisionen am Jahresende in keinem Fall über 10 % (= 0,8 Monatspensen) gelegen; in der Zeit der geringsten Belastung bewegte er sich zwischen 7 % und 8 %104. Der steigende Geschäftsanfall ist beim Bundesgerichtshof bisher weitgehend durch eine entsprechende Steigerung der Beschlußentscheidungsquote 105 aufgefangen worden106. c) Die Rückstandsfreiheit des Bundesgerichtshofes wird durch die Verfahrensdauer des eigentlichen Revisionsverfahrens ab Eingang beim Bundesgerichtshof bzw. beim Generalbundesanwalt bestätigt107. 1979 erledigte der Bundesgerichtshof 86 % aller Revisionen innerhalb von 2 Monaten; nur 0,7% blieben länger als 6 Monate anhängig. Ahnlich günstig sind die Werte ab Eingang der Akten beim Generalbundesanwalt. 70 % aller Revisionsverfahren werden innerhalb von 2 Monaten, 87 % innerhalb von drei Monaten erledigt, nur 2,5 % bleiben länger als 6 Monate anhängig. Zur Zeit bestehen damit weder beim Generalbundesanwalt noch beim Bundesgerichtshof „Warteschlangen"108. Das Bild wird erheblich ungünstiger, wenn man den Zeitraum von der Verkündung des angefochtenen Urteils bis zur Entscheidung des Bundesgerichtshofes ins Auge faßt. Dann wird nur die Hälfte aller Revisionen innerhalb von 6 Monaten erledigt; zwischen 5 % und 10% bleiben länger als ein Jahr anhängig109. Der Zeitreihenvergleich (Tabelle 16) läßt eine deutliche Verbesserung der Situation ab 1975/76 erkennen. Sie ist 103 1961 bis 1965 betrug der durchschnittliche jährliche Eingang 2390 Revisionen, 1975 bis 1979 3615. 1980 betrug die Zahl der Eingänge 3551, die der Erledigungen 3574. Der Rückstand ging auf 345 = 9,7%) zurück. Die Beschlußentscheidungsquote erreichte mit 90,8% (3134 Beschlußentscheidungen gegen 3 1 7 Urteile) ihren bisher höchsten Stand. 104 Daß die steigende Geschäftsbelastung in den letzten 5 Jahren zu gewissen Problemen führt, wird aus der Rückstandsentwicklung seit 1975 (Tabellenanhang 30, Sp. 5) erkennbar. Es gelingt dem B G H offenbar nicht mehr, die Restquote - wie früher - innerhalb eines Jahres auf den optimalen Stand von 7-8 % zu senken. 105 Darüber näher unten, VI 3. 106 Tabellenanhang 30, Sp. 9. 107 Tabellenanhang 31. 10» Allerdings läßt der Vergleich der Werte für 1978 und 1979 in Tabellenanhang 31 erkennen, daß der B G H an seine Belastungsgrenzen zu stoßen droht. So hat sich die Zahl der innerhalb eines Monats erledigten Revisionen von 67,3 % auf 55,4 % verringert, die der länger als drei Monate anhängigen ist von 2,9 % auf 4,2 % gestiegen. 109
Tabellenanhang 32.
286
Peter Rieß
mit Sicherheit eine positive Folge der Neufassung des § 275 StPO durch das l.StVRG, mit der eine durch einen absoluten Revisionsgrund sanktionierte Urteilsabsetzungsfrist geschaffen wurde.
Tabelle Jahr
16: Dauer des Revisionsverfahrens kündung des erstinstanzlichen Anteil
an
innerhalb 6 Monaten
erledigten Revisionen von
länger
in % als
12 Monate
1971
46,9
8,6
1972
44,2
10,7
1973
41,1
9,7
1974
38,5
9,9
1975
44,6
11,1
1976
56,0
6,8
1977
56,7
4,5
1978
55,3
5,2
1979
54,5
5,2
3.
ab VerUrteils
Erledigungsformen
Bei der Form der Erledigung der Revisionen durch den Bundesgerichtshof dominiert die Beschlußentscheidung nach §349 StPO ganz eindeutig110. Während nur etwa 10 % der Revisionen durch Urteil entschieden werden, erledigt der Bundesgerichtshof 87 % durch Beschluß. Hiervon entfallen wiederum 90 % auf Verwerfungen als offensichtlich unbegründet nach § 349 Abs. 2 StPO, etwa 10 % auf Aufhebungen nach § 349 Abs. 4 StPO und auf kombinierte Beschlüsse. Die Verwerfung als unzulässig hat keine nennenswerte Bedeutung111. Der auf der Geschäftsübersicht des Bundesgerichthofes beruhende Zeitreihenvergleich seit 1951112 zeigt den konstanten Anstieg der Beschlußentscheidungen seit 1954 (52%) bis 1979 (90%). Die Änderung des §349 StPO durch das
110 Über die Situation bei den Oberlandesgerichten in der Revisionsinstanz vgl. DERechtsmittelgesetz (FN 7), Tabellen 3 a-c. 111 Tabellenanhang 34. 112 Tabellenanhang 30, Sp.9. Die Differenzen zu den Werten in Tabellenanhang 34 beruhen auf unterschiedlichen Erhebungseinheiten.
Statistische Beiträge zur Wirklichkeit des Strafverfahrens
287
StPÄG 1965113 hat eine deutliche Steigerung der Beschlußentscheidungsquote bewirkt, die teilweise, aber nicht allein, darauf zurückzuführen ist, daß bis 1965 eine Beschlußaufhebung nicht zulässig war114. In der heutigen Revisionspraxis des Bundesgerichtshofes hat sich, wie Tabelle 17 deutlich macht, die Entscheidung durch Beschluß für die unbegründeten, die durch Urteil (trotz § 349 Abs. 4 StPO) überwiegend für die begründeten Revisionen durchgesetzt.
Tabelle
17: Entscheidungsform nis, 1978, 1979
Entscheidungsform
Ergebnis begründet
und
Revisionsergeb-
u n b e g r ü n d e t * Summe (N)
Urteil
1978 1979
56,0% 57,8%
44,0% 42,2%
495 512
Beschluß
1978 1979
11,9% 10,8%
88,1% 89,2%
3 974 4 080
* Einschließlich unzulässiger
4. Revisionsführer
Revisionen
und
Erfolgsquoten
Die Revision ist vorwiegend ein Rechtsmittel des Angeklagten. Rund 95 % aller Revisionen werden von ihm eingelegt, etwa 4 % von der Staatsanwaltschaft 115 , nur 1 % von Nebenklägern oder sonstigen Nebenbeteiligten116. Allerdings sind, wie sich aus Tabelle 18 ergibt, die Revisionen der Staatsanwaltschaft signifikant häufiger erfolgreich als die des Angeklagten117.
111 Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes v. 19.12.1964 (BGBl. I, S. 1067). 114 Bei den Beschlußverwerfungen allein (§349 Abs. 1, 2 StPO) lag die Quote 1969 mit 7 7 , 7 % nur um 9,5 % über der des Jahres 1964. 115 Staatsanwaltschaftliche Revisionen zugunsten des Angeklagten kommen kaum vor. 116 Tabellenanhang 33. 117 Vgl. dazu N r . 147 Abs. 1 RiStBV, wonach die Staatsanwaltschaft ein Rechtsmittel nur einlegen soll, wenn wesentliche Belange der Allgemeinheit oder der am Verfahren Beteiligten es gebieten und wenn das Rechtsmittel aussichtsreich ist.
288
Tabelle
Peter Rieß
18: Erfolgsquoten 1979
Revisionsführer
nach
Revisionsfiihrern,
Ergebnis erfolgreich*
erfolglos
Angeklagter
15,7% (697)
84,3% (3 749)
Staatsanwaltschaft
59,5%
40,5% (77)
(113) * Auch
Summe (N) 4 446
190
Teilerfolge
Die Erfolgsquote der Revisionen ist, selbst wenn man alle Teilerfolge118 mit berücksichtigt, verhältnismäßig gering. Sie lag in den Jahren 1975 bis 1979 zwischen 15 % und 19 %119. Bei den erfolglosen Revisionen dominieren die unbegründeten, während unzulässige Revisionen keine nennenswerte Rolle spielen120.
5. Aufl>ebungsumfang und Aufhebungsgründe Bei rund einem Drittel aller erfolgreichen Revisionen beschränkt sich der Erfolg auf den Rechtsfolgenausspruch, bei zwei Dritteln umfaßt er auch den Schuldspruch mit121,122. 78 % der Aufhebungen beruhen auf sachlich-rechtlichen Fehlern des angefochtenen Urteils, 22 % auf Verfahrensfehlern123. Diese führen allerdings in erheblich größerem Umfang zur Aufhebung auch des Schuldspruchs, nur selten wird bei einem Verfahrensfehler allein der Rechtsfolgenausspruch aufgehoben (Tabelle 19). 118 Z.B. Erfolge nur im Strafmaß oder nur hinsichtlich der Gesamtstrafe oder der Anordnung einer Maßregel der Besserung und Sicherung oder nur wegen einzelner von mehreren Taten. Der Anteil solcher bloßen Teilerfolge ist beträchtlich. " ' Tabellenanhang 35. 120 Die Erfolgsquote der Revisionen zum O L G ist deshalb nicht zuverlässig zu ermitteln, weil die Statistik nicht zwischen Revisionen und Rechtsbeschwerden (und Zulassungsanträgen) im Bußgeldverfahren trennt. Insgesamt ergibt sich hier aus der Statistik eine Erfolgsquote von 22,8%. Dagegen betrug die Erfolgsquote (einschließlich sämtlicher Teilerfolge) im Berufungsverfahren 1978 45,1%; sie ist signifikant höher. 121 Darunter sind in beiden Fällen auch Teilerfolge, selbst wenn sie verhältnismäßig geringfügig waren. Lediglich bloße Schuldspruchberichtigungen, die auf den Rechtsfolgenausspruch keinerlei Auswirkungen hatten, wurden den erfolglosen Revisionen zugerechnet und in diese Auswertung nicht mit einbezogen. 122 Tabellenanhang 36. 123 Davon wiederum entfielen 52 % auf relative Verfahrensfehler, 31 % auf absolute Revisionsgründe und 17 % auf Verfahrenshindernisse.
Statistische Beiträge zur Wirklichkeit des Strafverfahrens
Tabelle
19:
Umfang der Aufhebung nen Aufhebungsgründen,
Aufhebungsgrund
Aufhebung
289
bei verschiede1976 bis 1979
betraf
auch .Schuldspruch
nur
Rechtsfolgen-
ausspruch sachlich-rechtlich
60,0%
kO, 0%
relativer
Verfahrensfehler
89,6%
10,4%
absoluter
Revisionsgrund
99,2%
0,8%
97,0%
3,0%
Prozeßhindernis
6. Zur Häufigkeit und Bedeutung von
Verfahrensrügen
Aus dem Zeitreihenvergleich von 1971 bis 1979 ergibt sich, daß die Zahl der erhobenen Verfahrensrügen stärker zugenommen hat als die Zahl der Revisionen124. Während 1970 in insgesamt 3668 erledigten Revisionen 1695 Verfahrensrügen erhoben wurden (durchschnittlich 0,46 je Revision) stieg die Zahl 1979 bei 4685 Revisionen auf 2818 Verfahrensrügen (durchschnittlich 0,60 je Revision), wobei der Anteil der absoluten Revisionsgründe von 17,4 % auf 29,6 % aller Verfahrensrügen zunahm125. Gemessen an der Erfolgsquote von Revisionen insgesamt ist die Erfolgsquote von Verfahrensrügen außerordentlich gering. Von 11 000 erhobenen Verfahrensrügen in den Jahren 1976 bis 1979 führten nur 337 zur Aufhebung des Urteils, eine Erfolgsquote von 3,1 %m. Ein wohl signifikanter Unterschied besteht dabei zwischen den relativen Verfahrensfehlern und den absoluten Revisionsgründen, die auch untereinander erhebliche Unterschiede aufweisen (Tabelle 20)127.
Tabellenanhang 37. Zur Verteilung und zur Erfolgsquote der absoluten Revisionsrügen vgl. Tabellenanhang 38 und 39. Die Einführung einer Rügepräklusion bei der Besetzungsrüge durch das StVAG 1979 ( F N 64) kommt in der Statistik noch nicht zum Ausdruck. Dazu näher Rieß, Die Besetzungsrügepräklusion (§§ 222 a, 222 b StPO) auf dem Prüfstand der Rechtsprechung, J R 1981, 89. 126 Hieraus kann nicht geschlossen werden, daß 96,9 % der Verfahrensrügen erfolglos waren, da die Revisionspraxis bei durchgreifenden sachlich-rechtlichen Rügen vielfach die Begründetheit von Verfahrensrügen offenläßt. 127 § 338 Nr. 8 StPO stellt eigentlich keinen absoluten Revisionsgrund dar. Ordnet man ihn den relativen Revisionsgründen zu, so ergibt sich für die relativen Revisionsgründe eine Erfolgsquote von 2,5 %, für die absoluten Revisionsgründe eine solche von 5,1%. 124
125
290
Peter Rieß
Tabelle
20: Erfolgsquote von 1976 bis 1979
Verfahrensrügen,
Zahl der Rüg en erfolgreich erhoben
Art der Rüge
Erfolgsquote
relativer Verfahrensfehler
7 939
212
2,7%
absoluter Revisionsgrund
3 041
130
4,3%
896
57
6,4%
33
1
3,0%
davon b e t r e f f e n d § 338 Nr.l
(Besetzung)
Nr.2
(Ausschließung)
Nr.3
(Ablehnung)
449
6
Nr.4
(Zuständigkeit)
145
3
1,3% 2,1%
Nr.5
(Abwesenheit)
350 347
26
7,4%
25
7,2%
210
6
2,9%
611
6
1,0%
Nr.6 ( Ö f f e n t l i c h k e i t ) Nr.7 ( k e i n e , v e r s p ä tete Gründe) Nr.8 (Behinderung der Verteidigung)
7. Zur Handhabung
des Wahlrechts in §354 Abs. 2 StPO
Nach § 354 Abs. 2 StPO kann das Revisionsgericht die Sache an einen anderen Spruchkörper des Gerichts, dessen Urteil aufgehoben wird, oder an ein anderes Gericht des gleichen Landes zurückverweisen. Die Auswertung von 1235 Entscheidungen der Jahre 1977 bis 1979, bei denen das Wahlrecht der Sache nach in Betracht kam128, hat ergeben, daß generell mit 88% zu 12 % die Zurückverweisung an eine andere Kammer des gleichen Gerichts ganz eindeutig überwiegt. Urteile der Jugendkammer werden signifikant häufiger (25 %) als solche der allgemeinen Strafkammer (10%) an ein anderes Gericht zurückverwiesen 129 . Bei Zurückverweisungen auch wegen des Schuldspruchs wird signifikant häufiger (15,4%) an ein anderes Gericht zurückverwiesen als bei Zurückverweisungen nur wegen des Rechtsfolgenausspruchs (7,9 %) oder allein wegen Neufestsetzung der Gesamtstrafe (4,5 %). Haben sowohl Angeklagter als auch die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt, so wird häufiger (19,4 %) an ein anderes Gericht zurückverwiesen, als wenn nur die Staatsanwaltschaft (15,6%) oder der Angeklagte (11,0%) Revision eingelegt hat. 128
Tabellenanhang 40. Als Erklärungshypothese f ü r dieses (auffällige) Ergebnis bietet sich an, daß n a m e n t lich bei kleineren Landgerichten n u r eine J u g e n d k a m m e r besteht und daß der Bundesgerichtshof auf diese ihn bekannte tatsächliche Situation reagiert. 129
Statistische Beiträge zur Wirklichkeit des Strafverfahrens
291
Tabellenanhang 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24.
Erledigungsstruktur im Strafverfahren, 1978 Struktur des erstinstanzlichen gerichtlichen Verfahrens, 1971, 1978 Erledigungsstruktur erstinstanzlicher gerichtlicher Verfahren, 1978 Struktur staatsanwaltschaftlicher Erledigungen, 1977, 1978 Entwicklung der Neueingänge in Straf- und Bußgeldsachen in der Tatsacheninstanz, 1972-1978 Erledigte Straf- und Bußgeldsachen beim Amtsgericht, 1971-1978 Erledigte Straf- und Bußgeldsachen nach Hauptverfahren beim Amtsgericht, 1971-1978 Erledigte Revisions- und Rechtsbeschwerdeverfahren beim Oberlandesgericht, 1971-1978 Durch Strafbefehl erledigte Strafverfahren beim Amtsgericht, 1971-1978 Hauptverhandlungs- und Urteilsquote in der Tatsacheninstanz, 1971-1978 Zahl der Beschuldigten je Verfahren, 1972-1978 Mitwirkung von Verteidigern an der Hauptverhandlung, 1971-1978 Einleitungsbehörde bei Ermittlungsverfahren und Dauer bis zur Abgabe an die Staatsanwaltschaft, 1977, 1978 Staatsanwaltschaftliche Ermittlungstätigkeit, 1977, 1978 Beschuldigte im Ermittlungsverfahren, 1977, 1978 Staatsanwaltschaftliche Verfahrenseinstellungen nach Einstellungsgründen, 1977, 1978 Verfahrensdauer, 1978, Gesamtübersicht Entwicklung der Verfahrensdauer, erste Instanz, 1971-1978 Entwicklung der Verfahrensdauer, Berufungsinstanz, 1971-1978 Verfahrensdauer bei verschiedenen Spruchkörpern, erste Instanz, 1971 Verfahrensdauer bei verschiedenen Spruchkörpern, erste Instanz, 1978 Verfahrensdauer bei verschiedenen Spruchkörpern, Rechtsmittelinstanz, 1971 Verfahrensdauer bei verschiedenen Spruchkörpern, Rechtsmittelinstanz, 1978 Verfahrensdauer verschiedener Arten staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsverfahren, 1977, 1978
25. Verfahrensdauer bei Ermittlungsverfahren, 1977, 1978 26. Entwicklung der Einstellungen nach §153 a Abs. 2 StPO durch die Gerichte, 1975-1978 27. Einstellungen gegen Auflagen und Weisungen bei der Staatsanwaltschaft, 1977, 1978 28. Regionale Verteilung der Einstellungen nach § 153 a StPO, 1977, 1978 29. Staatsanwaltschaftliche Einstellungen nach § 153 a im Verhältnis zu §§ 153,153 b StPO, regionale Verteilung, 1977, 1978 30. Geschäftsanfall und Erledigungsformen bei Revisionen zum BGH, 1950-1979 31. Dauer des eigentlichen Revisionsverfahrens, Revisionen zum BGH, 1978, 1979 32. Verfahrensdauer von der Verkündung des erstinstanzlichen Urteils bis zur Revisionsentscheidung in Revisionen zum BGH, 1971-1979 33. Revisionsführer in Revisionen zum BGH, 1978, 1979 34. Erledigungsformen bei Revisionen zum BGH, 1978, 1979 35. Erfolgsquote bei Revisionen zum BGH, 1975-1979 36. Aufhebungsgründe in den Revisionsentscheidungen des BGH, 1976-1979 37. Entwicklung der Verfahrensrügen in Revisionen zum BGH 1971-1979 38. Absolute Revisionsgründe in Revisionen zum BGH, 1971-1979 39. Erfolgreiche absolute Revisionsrügen in Revisionsentscheidungen des BGH, 1976-1979 40. Zurückverweisungsadressat bei Revisionsentscheidungen des BGH, 1977 bis 1979
292
Tabelle
Peter Rieß
1: Erledigungsstruktur 1
Art der E r l e d i g u n g 1.2 Ermittlungsverfahren ' irstinstanzl.gerichtl.Verfahren davon erledigt von Strafrichter u.Jugendrichter Schöffengericht und Jugendschöffengericht erweitertem^Schöffengericht Strafkammer Oberlandesgericht Erstes R e c h t s m i t t e l davon Berufungen^ Revisionen Zweites R e c h t s m i t t e l
in Strafsachen, 2 Zahl
1978
3
4
5
6
X
X
X
X
2 5 0 3 100 100,0 1 00 5 600 40,2 100,0 100,0 8 8 8 000
35,5
88,3
104 000 1 900 11 600 > 100 74 200
4,2 0,1 0,5
10,3 0,2
69 700 4 500 7 900
—
3,0
1,2 —
7,4 100,0 93,9
0,3
0,8
6,1 10,6
Q u e l l e : L ä n d e r e r g e b n i s s e der Z ä h l k a r t e n s t a t i s t i k in S t r a f s a c h e n (bereinigt durch Daten d. Z ä h l k a r t e n s t a t i s t i k , S t r a f s a c h e n , abgerundet). ^Ohne V e r f a h r e n gegen u n b e k a n n t e T ä t e r . ^ H o c h r e c h n u n g (vgl. F n . 2 4 ) . ,0hne B u ß g e l d v e r f a h r e n , m i t S t r a f b e f e h l s a n t r ä g e n . 4 Einschließlich Schwurgericht und Jugendkammer. 5 g S p r u n g r e v i s i o n e n zum O L G u n d R e v i s i o n e n zum B G H . R e v i s i o n e n gegen Urteile der B e r u f u n g s i n s t a n z zum O L G .
Statistische Beiträge zur Wirklichkeit des Strafverfahrens
Tabelle
2: Struktur fahrens,
des erstinstanzlichen 1971, 1978
1
2
3 1 9 7 1
293
gerichtlichen
Ver-
6 1 9 7 8
4
5
%
Zahl
7
Verfahrensart
Zahl
Erledigte Verfahren insgesamt^ d a v o n waren
928 565 100,0
Anklagen Vereinfachte Vet*fahrensarten
345 401 582 453
37,2 62,7 100,0
486 060 516 704
48,4 51,5 100,0
d a v o n erledigt ohne Hauptverfahren hiervon rechtskr.Strafbefehle rechtskr.StrafVerfügung mit Hauptverfahren hiervon Strafbefehlsverfahren Strafverfügungen Beschleunigte Verfahren Vereinfachte Jugendverf. Privatklageverfahren
400 359 40 182 93 2 43 28 14
43,1 38,8 4,3 19,6 10,0 0,3 4,7 3,1 1,5 0,1
285 795 285 795 N4 230 909 136 Ν4 40 452 41 180 12 421 655
28,5 28,5
55,3 55,3
23,0 13,6
44,7 26,5
4,0 4,1 1,2 0,1
7,8 8,0 2,4
besondere Verfahren
092 803 289 361 101 454 771 840 195 711
d a v o n waren Sicherungsverfahren objektive Verf..Nachverfahren
121 590
0,0 0,1
156 499
0,0 0,1
%
%
%
1 0 0 3 419 100,0
68,7 61,8 6,9 31,2 16,0 0,4 7,5 5,0 2,1 —
— —
—
— —
Quelle: Zählkartenstatistik, Strafsachen Amtsgericht, Landgericht und Oberlandesgericht ohne Bußgeldverfahren und ohne ^Verweisungen und Vorlagen nach §§ 209, 270 StPO. ^Einschließlich jugendrichterlicher Verfügungen. ,Nach Einspruch und nach § 408 Abs.2 StPO. 4 Seit dem 1.1.1975 abgeschafft.
294
Peter Rieß
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Statistische Beiträge zur Wirklichkeit des Strafverfahrens
Tabelle 1
6 : Erledigte Strafbeim Amtsgericht,
Jahr
2 Erledigte Straf- und BuBgeldsachen insgesamt
1971
1.114.459
214.707
1972
1.205.676
1973
und 1971
3
4 d a νρ η Bußgeldsachen* % Zahl v.Sp.2
297
Bußgeldsachen - 1978 5 6 w a r e n Strafsachen"
X Zahl
v.Sp.2
19,3
899.752
80,7
264.594
21,9
941.082
78,1
1.255.059
313.499
25,0
941.560
75,0
1974
1.340.867
402.127
30,0
938.740
70,0
1975
1.365.881
469.176
34,3
896.705
65,7
1976
1.506.261
566.091
37,6
940.170
62,4
1977
1.538.105
612.510
38,7
970.595
61,3
1978
1.639.771
658.402
40,2
981.367
59,8
Quelle: Zählkartenstatistik, Strafsachen ^Einschließlich Erzwingungshaftanträge. Einschließlich Strafbefehlsverfahren.
298
Peter Rieß
Tabelle
1
Jahr
7: Erledigte Strafund nach Hauptverfahren 1971 - 1978 2 Straf- und Bußgeldverf. mit H a u p t v e r f . insgesamt
Bußgeldverfahren beim Amtsgericht,
3
4 d a ν ρ η Bußgeldsachen*
5 6 w a r e η Strafsachen
Χ
% Zahl
v.Sp.2
Zahl
v.Sp.2
1971
726.319
186.370
25,7
539.949
74,3
1972
774.581
222.366
28,7
552.215
71,3
1973
814.723
256.194
31,4
558.529
68,6
1974
888.153
317.944
35,8
570.209
64,2
1975
948.585
362.510
38,2
586.075
61,8
1976
1.069.457
432.890
40,5
636.567
59,5
1977
1.132.548
462.439
40,8
670.109
59,2
1978
1.177.290
481.718
40,9
695.572
59,1
Quelle: Z ä h l k a r t e n s t a t i s t i k ,
Strafsachen
Nur Einsprüche gegen B u ß g e l d b e s c h e i d e . Ohne S t r a f b e f e h l s a n t r ä g e , die ohne H a u p t v e r f a h r e n eri. wurden.
299
Statistische Beiträge zur Wirklichkeit des Strafverfahrens
Tabelle 8: 1
Jahr
Erledigte Revisionsund deverfahren beim OLG, 1971 2
Erledigte Revisionen und Rechtsbeschwerden insgesamt
Rechtsbeschwer- 1978
3
4 5 6 d a ν οη w a r e n Revisionen in Rechtsbeschwerden Strafsachen (einschl. Zulassungsanträge) in Bußgeldsach en % % Zahl ν .Sp.2 Zahl ν • Sp.2
1971
10.248
6.858
66,9
3.390
33,1
1972
11.561
7.258
62,8
4.303
37,2
1973
11.651
7.113
61,1
4.538
38,9
1974
13.132
7.479
57,0
5.653
43,0
1975
14.427
7.567
52,5
6.860
47,5
1976
16.999
8.260
48,6
8.739
51,4
1977
19.044
8.955
47,0
10.089
53,0
1978
19.596
8.859
45,2
10.737
54,8
Quel le : Zählkartenstatistik, Strafsachen
300
Peter Rieß
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311
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Peter Rieß
316
Tabelle 1
Nr. 1 2 3 4 5 6 7 8
25:
Verfahrensdauer ren, 1977, 1978
2 Dauer von der Einleitung der Ermittlungen bis zur A b s c h l u ß v e r f ü g g der StA Ermittlungsverf.insges.^ davon dauern bis 3 Hon. über 3 bis 6 Hon. über 6 bis 12 Mon. über 12 bis 18 Mon. über 18 bis 2 4 Mon. über 2 4 bis 36 Mon. über 36 Mon.
Quelle: Länderergebnisse der
bei
Ermittlungsverfah4
3 19 77 Zahl
%
26:
Zahl
1.319.878 100,00 984.907 74,62 234.339 17,15 76.702 5,81 1,00 13.261 4.429 0,34 0,25 3.268 2.972 0,23
1.353.029 100,00 1.021.592 75,50 231.846 17,14 74.063 5,47 14,607 1,08 4.396 0,32 0,24 3.314 0,24 3.211
Rheinland-Pfalz,
Entwicklung der Einstellungen § 153a Abs.2 StPO durch die 1975 bis 1978 1975
E i n s t e l l u n g e n insgesamt
Zahl
12.885 1,96 Zahl 11.478 % 1,96 Zahl^ 52 % 0,49 Zahl 1.355 % 2,28
%
davon A m t s g e r i c h t Landgericht erste Instanz L a n d g e r i c h t , Berufung
Quelle: Zählkartenstatistik,
%
Zählkartenstatistik,Staatsanwaltsch.
^Bayern, Bremen, H a m b u r g , N o r d r h . - W e s t f a l e n , Saarland.
Tabelle
6
5 19 78
1976
nach Gerichte, 1977 1978
26.188 34.846 3,68 4,66 23.793 32.151 3,74 4,80 73 104 0,67 0,96 2.322 2.591 3,62 3,92
41.831 5,30 38.569 5,45 128 1,11 3.134 4,49
Strafsachen
^Bezogen auf die erledigten g e r i c h t l i c h e n Verfahren (ohne B u ß g e l d verfahren und ohne S t r a f b e f e h l s v e r f a h r e n , die ohne H a u p t v e r f a h r e n erledigt wurden).
317
Statistische Beiträge zur Wirklichkeit des Strafverfahrens
Tabelle
27:
Einstellungen gegen Auflagen und Weisungen bei der Staatsanwaltschaft,
1977, 1978
1 Einstellungsgrund Einstellungen insgesamt' d a v o n nach § 1 5 3 a Abs.l StPO mit W e i s g . u . A u f l . n a c h Nr.l ( S c h a d e n s wiedergutmachg) Nr.2 ( G e l d b u ß e ) Nr.3 ( G e m e i n n ü t z i g e Leistungen) Nr.4 ( E r f ü l l g . v o n Unterhaltspf1) nach § 4 5 Abs.l J G G
2 Zahl 43.340
4
3 1977
%
5
6
7
1978 %
Zahl 49.699
100,0
%
%
100,0
29.738
68,6 100,0
37.015
74,5 100,0
432 28.050
1.0 64,7
1,5 94,3
492 35.103
1,0 70,6
1,3 94,8
754
1,7
2,5
962
1,9
2,6
502 13.602
1,2 31,4
1,7
458 12.684
0,9 25,5
1,2
Quelle : L ä n d e r e r g e b n i s s e der Z ä h l k a r t e n s t a t i s t i k , S t a a t s a n w a l t s c h . ^Länder B a y e r n , B r e m e n , H a m b u r g , N o r d r h . - W e s t f a l e n , Saarland.
Rheinl.-Pfalz,
318
00
IN.
Peter Rieß
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L·.
Statistische Beiträge zur Wirklichkeit des Strafverfahrens
327
Tabelle 39: Erfolgreiche absolute Revisionsrügen in Revisionsentscheidungen des BGH, 1976 - 1979 1 Nr. R e v i s i o n s g r u n d
2
3 4 5 6 7 8 9 1976-•1979 Lnsgesj davon e n t f . a u f Zahl X Q u o t è * 1976 1977 1978 1979
2 1 Erfolgreiche absol.Rev.gründe insges. Von diesen Rügen b e r u h t e n a u f 2 § 3 3 8 Nr.l ( B e s e t z u n g ^ 3 davon B e r u f s r i c h t e r 4 Schöffen 5 § 338 Nr.2 (Ausschließung) 6 § 338 N r . 3 ( A b l e h n u n g ) 7 davon Berufsrichter 8 Schöffen 9 § 338 N r . 4 ( Z u s t ä n d i g k e i t ) 10 § 338 N r . 5 ( A b w e s e n h e i t ) 11 davon A n g e k l a g t e r 12 Verteidiger 13 andere P e r s o n e n 14 § 338 N r . 6 ( Ö f f e n t l i c h k e i t ) 15 § 338 N r . 7 ( K e i n e / v e r s p ä t e t e G r ü n d e ) 16 davon keine Gründe 17 v e r s p ä t e t e Gründe 18 § 338 N r . 8 ( B e h i n d e r u n g der V e r t e i d i g g ) ι Q u e l l e : Eigene U n t e r s u c h u n g d e s Verf.
130 100,0 57 18 39 1 6 6 0 3 26 22 2 2 25 6 0 6 6
43,8
4,3
33
33
33
31
6,4
10 2 8 0 1 1 0 0 12 9 1 2 9 0 0 0 1
15 4 11 1 2 2 0 1 4 3 1 0 7 1 0 1 2
17 6 11 0 3 3 0 1 4 4 0 0 3 4 0 4 1
15 6 9 0 0 0 0 1 6 6 0 0 6 1 0 1 2
—
—
—
—
0,8 4,6
3,0
—
—
—
—
2,3 20,0
1,3
2,1 7,4
—
—
—
—
—
—
19,2 4,6
7,2 2,9
—
—
—
—
4,6
1,0
C
E r f o l g s q u o t e : A n t e i l der d u r c h g r e i f e n d e n R ü g e n an den im g l e i c h e n Z e i t r a u m e r h o b e n e n (vgl. Tabelle 3 8 ) . ^Auch, soweit m e h r e r e in einem V e r f a h r e n für d u r c h g r e i f e n d e r a c h t e t w u r d e n . Auch den g e s a m t e n S p r u c h k ö r p e r b e t r e f f e n d . £vgl. § 275 Abs.1 StPO. Alle A u f h e b u n g e n b e t r a f e n U r t e i l e , bei d e n e n d i e e r s t i n s t a n z l i c h e H a u p t v e r h a n d l u n g vor dem 1.1.1979 b e g o n n e n hatte (vgl. §§ 222a, 222b, 3 3 8 N r . l StPO i . d . F . d . S t V Ä G 1979 v. 1 4 . 1 0 . 1 9 7 8 ) .
328
Tabelle
Peter Rieß
kO: Zurückverweisungsadressat scheidungen des BGH,
1
bei Revisionsent1977-1979 3
2
4
5
6
7
ZurückVerweisungen d a v o n andere
anderes
Kammer
Gericht
des g l e i c h ,
desselben
Gerichts
Landes
% v.
Nr. 1
Aufhebende und z u r ü c k v e r w e i s e n d e Von d i e s e n
2
e i n U r t e i l der
Zahl S p . 3
1235
1089 8 8 , 2
146. 11,8
947
852 9 0 , 0
95
10,0
82
61 74,4
21
25,6
206
176 85,4
30
14,6
998
875 87,7
123
12,3
237
214 9 0 , 3
23
9,7 15,4
Entsch.^
Strafkammer
des S c h w u r g e r i c h t s Von d i e s e n e r f o l g t e n auf Grund e i n e r
5
sachlich-rechtRichen
6
Verfahrensrüge betrafen
Rüge
4
7
den S c h u l d s p r u c h
8
nur den
Rechtsfolgenausspruch
9
nur d i e
Gesamtstrafe
Von d i e s e n g i n g e n ^ z u r ü c k 10
Angeklagten
11
Staatsanwaltschaft
12
A n g e k l a g t e n und
A l l e Zurückverweisungen gerichte Berlin
571 8 4 , 6
104
455 9 2 , 1
39
7,9
66
63 9 5 , 5
3
4,5
1050
934 8 9 , 0
116
11,0
154
130 8 4 , 4
24
15,6
31
25 8 0 , 6
6
19,4
durch
Staatsanwaltschaft
(Summe der Jahre 1977 -
durch den BGH ohne U r t e i l e
1979)
der OLGe ( 4 ) und der
( 4 8 ) , Bremen ( 1 0 ) , Hamburg ( 4 1 ) , S a a r b r ü c k e n
^Zurückverweisungen
Einschließlich (außer i n den F ä l l e n deg Z e i l e gesetzlicher
Vertr.
(27).
Verfahrenshindernisse.
9).
Einschließlich
Land-
(24) sowie ohne
an e i n G e r i c h t n i e d r i g e r e r Ordnung nach § 354 A b s . 3
74 A b s . 2 GVG. Einschließlich
675 494
, 4
auf R e v i s i o n
Q u e l l e : Eigene Untersuchung des V e r f .
j.Auch t e i l w e i s e
v.
Zahl Sp.3
der Jugendkammer
Von d i e s e n
X
insges.
betrafen
3 4
an
Nebenkläger
(2).
Ankläger und Verteidiger im schwedischen Strafprozeß
G E R H A R D SCHMIDT
I. Vorbemerkungen 1. Der Charakter eines Strafverfahrens als eines rechtsstaatlichen Verfahrens wird entscheidend geprägt durch die Stellung, die Gesetz und Rechtswirklichkeit dem Ankläger und dem Beschuldigten sowie dessen Verteidiger einräumen. Das Strafprozeßrecht der Bundesrepublik Deutschland darf in dieser Hinsicht wohl als vorbildlich angesehen werden; es schützt die Rechte des Beschuldigten in einem sehr weitgehenden Umfang, wird aber auch den staatlichen Strafverfolgungsinteressen gerecht. Die Tatsache, daß der Verteidiger Rechtspflegeorgan wie das Gericht und der Staatsanwalt ist, und damit auf die Prinzipien des Rechtsstaats und dessen Tendenzen auf Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichtet ist, prägt das deutsche Strafverfahren in besonderem Maß und zeichnet es vor den Verfahrensrechten anderer Staaten aus. 2. Unter den Verfahrensrechten der europäischen Staaten verdient das schwedische Prozeßgesetz (rättegängsbalk, abgekürzt: R B ) insofern Beachtung, als es sowohl das Zivil- als auch das Strafprozeßrecht regelt. Beide Verfahrensarten stehen in einem sehr viel engeren aus der geschichtlichen Entwicklung zu verstehenden Zusammenhang als in anderen Ländern 1 ; sie beide werden von den Grundsätzen des Parteiprozesses und der Verhandlungsmaxime beherrscht. Deutlich wird dies durch die Tatsache, daß das Gesetz im Hinblick auf den Ankläger und den Beschuldigten von den Parteien spricht und sie formell für die Hauptverhandlung gleichrangig gegenüberstellt. In der schwedischen 1 Zum schwedischen Prozeßrecht allgemein : N. Dillen, Föreläsningar i straffprocessrätt enliegt den nya rättegingsbalken, 1947; P.O. Ekelöf, Rätteging, Hefte I (5.Aufl.), II (5. Aufl.), III (3. Aufl.), IV (4. Aufl.), V (5. Aufl.), 1970-1979; K. Olivecrona, Rätteglngen i brottmâl, enl. RB, 2. Aufl. 1961. Das Prozeßgesetz (rättegängsbalk) wird abgekürzt RB bezeichnet; RB 1 : 2 bedeutet § 2 im 1. Kapitel des Prozeßgesetzes. Das Kriminalgesetzbuch wird abgekürzt BrB (brottsbalk) bezeichnet; es ist ebenfalls in Kapitel und Paragraphen unterteilt. Beide Gesetzbücher sind von Gerhard Simson übersetzt worden; vgl. Sammlung außerdeutscher Strafgesetzbücher in deutscher Ubersetzung Nr. 58 (Prozeßgesetz) und Nr. 96 (Kriminalgesetzbuch). Das Prozeßgesetz wird, soweit es die Fassung vom 1.1.1948 betrifft, nach der Ubersetzung von Simson zitiert. - Hinzuweisen ist ferner auf N. Gärde/T. Engströmer u.a., Nya rättegingsbalken. Med kommentar (1949), zitiert: Gärde/E., und auf Maths Heuman u. Bengt Lassen, Brottets beivrande (1952), zitiert: Heuman. - Zum Text vgl. Simson, Prozeßgesetz Seite 24 f.
330
Gerhard Schmidt
Prozeßrechtsliteratur wird auch übereinstimmend das Strafverfahren als ein Parteiverfahren bezeichnet 2 . Es stellt sich die Frage, ob die Bezeichnung des schwedischen Strafverfahrens als eines Parteiprozesses auch berechtigt ist, wenn man nicht nur allein die Ausgestaltung der Hauptverhandlung betrachtet, sondern das Strafverfahren in seiner Ganzheit - vom Beginn der Ermittlungen bis hin zum Urteil - überblickt. Nur wenn sich Ankläger und Beschuldigter in allen Verfahrensteilen als formell und materiell gleichrangige Gegner gegenüberstehen, kann man auch insoweit auch von einem echten Parteiprozeß sprechen. Im folgenden soll die Stellung des Anklägers und des Verteidigers im schwedischen Strafverfahren dargestellt werden. Dabei wird sich zeigen, daß von einer Gleichrangigkeit der Stellung dieser beiden Verfahrensbeteiligten nur für die Hauptverhandlung gesprochen werden kann, nicht aber auch für das ganz vom Gedanken der Offizial- und Inquisitionsmaxime beherrschte Ermittlungsverfahren.
II. Ankläger und Verteidiger Anklagewesen und Verteidigung können in verschiedenster Weise ausgestaltet werden. So kann die Erhebung einer öffentlichen Anklage einer privaten Person anvertraut werden, wie andererseits auch eine Verteidigung durch staatliche Bedienstete denkbar ist. Bevor daher die Stellung und Aufgaben von Ankläger und Verteidiger im Verfahren behandelt werden, ist eine kurze Darstellung der Organisation des schwedischen Anklagewesens und der Verteidigerhabilität nötig.
1. Die Organisation der schwedischen
Anklagebehörden
Mangels eines besonderen Gerichtsverfassungsgesetzes werden im schwedischen Prozeßgesetz nicht nur die Aufgaben und die Stellung des Anklägers im Strafverfahren, sondern auch die Organisation und der Aufbau des Anklagewesens geregelt. Die gesetzlichen Bestimmungen ( R B kap. 7) werden durch die Anklägerinstruktion ( = AI) vom 2 9 . 1 1 . 1 9 7 4 ergänzt. Danach ist das Anklagewesen in Schweden wie in der Bundesrepublik Deutschland durch einen hierarchisch-monokratischen Aufbau gekennzeichnet in dem Sinne, daß jede Anklagebehörde nach außen durch ihren „Ersten Beamten" repräsentiert wird und die 1 Dies geschieht vor allen Dingen durch den Hinweis auf die das Verfahren beherrschende Verhandlungsmaxime und die Bezeichnung des Anklägers und des Beschuldigten als Parteien.
Ankläger und Verteidiger im schwedischen Strafprozeß
331
unteren Beamten der Anklagebehörden weisungsgebunden gegenüber den oberen Beamten sind. a) Das schwedische Prozeßgesetz kennt in größerem Umfang als das deutsche Recht eine Anklagebefugnis des Verletzten, es spricht aber primär die Klagebefugnis dem öffentlichen Kläger zu, da die öffentliche Klage die größere Garantie für die Vollständigkeit der Ermittlungen bietet. Im folgenden sollen nur die öffentlichen Ankläger in ihrer Organisation und ihrer prozessualen Stellung behandelt werden 3 . Neben ihnen kennt das schwedische Prozeßgesetz (RB 7 : 8 ) noch Sonderankläger, deren funktionelle und sachliche Zuständigkeit auf die Verfolgung bestimmter Straftaten vor besonderen Spruchkörpern beschränkt ist. In R B 7 : 8 werden als solche Sonderankläger der Justizkanzler und der Justizombudsmann genannt, die als einzige Sonderankläger die Befugnis haben, die Erhebung einer Anklage oder Einlegung eines Rechtsmittels beim Obersten Gerichtshof zu beschließen. b) An der Spitze des öffentlichen Anklagewesens und für dieses verantwortlich steht der Reichsankläger, der als oberster Ankläger Schwedens von der Regierung ernannt wird. Er wird in der Erfüllung seiner Aufgaben von einem weiteren Reichsankläger (biträdande riksâklagare) und mehreren Abteilungsleitern unterstützt 4 . Seine Aufgabe als verantwortlicher Leiter des gesamten schwedischen Anklagewesens nimmt der Reichsankläger durch Inspektionen und andere, seiner Unterrichtung über die Verhältnisse bei den einzelnen Anklagebehörden dienenden Maßnahmen, sowie durch die Herausgabe von Rundschreiben an die untergeordneten Behörden wahr. Als weitere öffentliche Ankläger folgen im hierarchischen Aufbau die Staatsankläger (RB 7: 1 Nr. 2), die ebenfalls von der Regierung ernannt werden und die die dem Reichsankläger untergeordneten verantwortlichen Leiter des Anklagewesens innerhalb ihrer Bezirke sind (RB 7 : 2 Abs. 2). Von den 27 schwedischen Staatsanklägern führen die für das Anklagewesen in den 24 schwedischen Provinzen ( = Län) verantwortli3 Zum Privatkläger vgl. G. Schmidt, die Stellung des Verletzten im schwedischen Strafprozeß (Festschrift f. Paul Bockelmann, 1979, S. 847 ff.). Zur primären Klagebefugnis des öffentlichen Anklägers s.a. Olivecrona S.63ff., Dillén S.78ff.; Processlagsberedningens förslag tili rättegängsbalk II (SOU 1938 :44), S. 29. 4 Von den Abteilungen sind hier zu nennen die Abteilung für Dienstaufsicht und die Verwaltungsabteilung (Kanzleiabteilung). Der weitere Reichsankläger ist Stellvertreter des Reichsanklägers; ist er an der Vertretung verhindert, fallen den beiden genannten Abteilungsleitern Stellvertretungsfunktionen in einem in der AI bestimmten Umfang zu. Die Abteilungsleiter, mit Ausnahme des Leiters der Verwaltungsabteilung sowie der weitere Reichsankläger sind befugt, als Ankläger in den zur Zuständigkeit des Reichsanklägers gehörenden Fällen für dessen Behörde aufzutreten.
332
Gerhard Schmidt
chen Staatsankläger die Bezeichnung Länsankläger (Provinzankläger), während die für die Anklagebehörden in den Großstädten Stockholm, Göteborg und Malmö zuständigen Staatsankläger als Oberankläger bezeichnet werden. Diese unterschiedliche Bezeichnung hängt mit der verschiedenen Struktur des Anklagewesens in den Provinzen und in den drei genannten Großstädten zusammen. Während nämlich in letzteren es jeweils nur eine in Anklagekammern aufgeteilte Anklagebehörde gibt, an deren Spitze der Oberankläger steht, sind in den Provinzen dem Länsankläger weitere Anklagebehörden, die sog. Bezirksankläger, nachgeordnet. Zur Anklagebehörde eines Läns gehören außer dem Leiter der Behörde, dem Länsankläger, weitere angestellte Länsankläger und Assistenzankläger (AI § 14). Dem Behördenleiter obliegen nicht nur die in der A I näher bezeichneten Verwaltungsaufgaben, sondern auch die Aufsicht über die nachgeordneten Bezirksanklagebehörden; über die alljährlich durchzuführende Dienstnachschau bei Bezirksanklagebehörden hat er dem Reichsankläger Bericht zu erstatten (AI § 18). An der Spitze der Bezirksanklagebehörden steht ein Bezirksankläger als Chefankläger (AI § 3 4 ) ; ihm zur Seite stehen weitere Bezirksankläger. Den den Bezirksanklagebehörden entsprechenden Anklägerkammern in den Großstädten Göteborg, Malmö und Stockholm ist jeweils ein Chefankläger vorgesetzt, dem Kammerankläger und Assistenzankläger zugeordnet sind (AI § 30,33) 5 . In seiner Dreigliederung entspricht das Anklagewesen der dreistufigen Gerichtsorganisation Schwedens. Die Bezirksanklagebehörden entsprechen den Untergerichten, die Länsanklagebehörden den Hofgerichten und der Reichsankläger dem Obersten Gerichtshof 6 . Allerdings ist zu
5 Die Aufgaben der Behördenleiter - Länsankläger, Oberankläger, Chefankläger werden in der AI näher beschrieben. So haben sie neben der eigentlichen Dienstaufsicht auch für eine gleichmäßige Verteilung der Geschäfte unter den Angehörigen ihrer Behörde zu sorgen. Die Chefankläger bei den Anklagekammern und den Bezirksanklagebehörden sollen solche Verfahren selbst bearbeiten, die an einen Ankläger besondere Anforderungen stellen oder die aus anderen Gründen von dem Chefankläger geführt werden sollten. Ferner sollen die Behördenleiter - dies gilt auch für den Reichsankläger - besonders auf die Anwendung der Vorschriften über die Unterlassung der Anklageerhebung (vgl. R B 20 : 7 ) und über Strafbescheide (RB kap.48) achten; die Durchbrechung des Legalitätsprinzips und die Strafverfolgung in einem summarischen Verfahren, die ja beide eine Besserstellung des Beschuldigten gegenüber einem Verfahren mit Anklageerhebung darstellen, werden so besonders unter Kontrolle gehalten. - Den Länsanklägern obliegt es auch, den Bezirksanklägern mit Rat und Aufklärung zur Seite zu stehen; das gleiche gilt auch für den Chefankläger bei den Bezirksanklagebehörden. 6 Schwedische Bezeichnungen: tingsrätt, hovrätt, högsta domstol. Die Gerichtsverfassung ist in R B kap. 1 - 3 geregelt. Häufig wird hovrätt mit O L G übersetzt; dies ist m. E. irreführend, da das hovrätt im Gegensatz zum O L G eine Tatsacheninstanz ist.
Ankläger und Verteidiger im schwedischen Strafprozeß
333
beachten, daß den 6 Hofgerichten 24 Länsanklagebehörden sowie die Anklagebehörden in den Städten Göteborg, Malmö und Stockholm gegenüberstehen. Hieraus wird deutlich, daß die dem deutschen Recht eigentümliche Zuordnung einer Staatsanwaltschaft zu einem bestimmten Land- bzw. Oberlandesgericht in Schweden kein Gegenstück findet. Dies wirkt sich auch auf die Zuständigkeit der Ankläger aus. Die örtliche Zuständigkeit der Anklagebehörde bestimmt sich nach dem Gerichtsstand. Grundsätzlich ist auch in Schweden der Gerichtsstand am Tatort gegeben und hat die für den Tatort zuständige Anklagebehörde die Ermittlungen zu führen und die Anklage zu erheben. Ist für die Erhebung der Anklage eine Zuständigkeit mehrerer Anklagebehörden gegeben, so haben sie sich darüber zu einigen, welche Behörde das Verfahren übernimmt; kommt eine solche Einigung zwischen ihnen nicht zustande, haben sie die Entscheidung der übergeordneten Behörde einzuholen (AI § 39)7. c) Die Aufgaben der öffentlichen
Anklagebehörde
aa) Die Erhebung der Anklage - Legalitätsprinzip und Opportunitätsprinzip. Öffentliche Ankläger bei den Untergerichten und bei den Hofgerichten sind die Staatsankläger (Länsankläger, Oberankläger) und die Bezirksankläger (RB 7:4 Abs. 1). Letztere können also wie der Staatsankläger Anklage beim Untergericht erheben und das Verfahren in der Rechtsmittelinstanz vor dem Hofgericht betreiben - die dem deutschen Verfahren eigene Aufgabenverteilung zwischen den Staatsanwaltschaften bei den Landgerichten und bei den Oberlandesgerichten ist dem schwedischen Recht fremd. Dies ist damit zu erklären, daß die Hofgerichte Berufungsgerichte, also Tatsacheninstanzen sind, vor denen der mit dem zu verhandelnden Fall vertraute Ankläger die von ihm erhobene Klage regelmäßig am sachgerechtesten wird vertreten können 8 . Das Prozeßgesetz gibt keine Regeln für die sachliche Zuständigkeit von Bezirks- und Staatsanklägern; allerdings bestimmt AI §20, daß der Länsankläger die Anklage in Fällen zu erheben hat, in denen an den Ankläger besonders hohe Anforderungen gestellt werden oder sonst ein Anlaß dazu gegeben ist. Öffentlicher Ankläger beim Obersten Gerichtshof ist der Reichsankläger. Er ist jedoch auch der allein zuständige öffentliche Ankläger vor dem Untergericht oder Hofgericht in bestimmten, in RB 7 :4 Abs. 2 genannten Verfahren gegen höhere Richter, Amtsträger und Soldaten. Darüber hinaus ist er befugt, auch in sonstigen Fällen Anklagen vor diesen Gerichten zu erheben; dies ergibt sich aus RB 7 :5 Abs. 1, wonach der 7 8
Heuman S.38; Ekelöf II S. 29 ff., Olivecrona S.35. Ekelöf I S. 138 f., Dillen S.64, 71.
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Reichsanhänger und die Staatsankläger die den untergeordneten Anklägern zukommenden Aufgaben übernehmen dürfen - ein deutliches Zeichen für den hierarchischen Aufbau des Anklagewesens in Schweden. Regelmäßig wird der Bezirksankläger in den in seine Zuständigkeit fallenden Verfahren selbst entscheiden, ob er Anklage erheben wird oder nicht. Denkbar ist jedoch, daß die Entscheidung hierüber auch von einem höheren Ankläger getroffen wird, z. B. in einem Fall, in dem der Bezirksankläger eine Anklage nicht erhoben hat und der Verletzte sich beim Staatsankläger darüber beschwert hat; dann entscheidet dieser über die Anklageerhebung und kann mit der Durchführung der Anklage den Bezirksankläger oder aber auch einen außerordentlichen Ankläger (extraäklagare) beauftragen 9 . Hier stellt sich die Frage, inwieweit der untergeordnete Ankläger die Anweisung zu befolgen hat. Ekelöf0 vertritt die Auffassung, daß er sich in einem Fall, in dem ihm die Weisung durch den Reichsankläger, den Justizkanzler oder den Justizombudsmann erteilt worden sei, nicht weigern könne, die Anweisung zu befolgen, weil diese Ankläger keine Möglichkeit hätten, selbst die Anklage zu vertreten. Da der Reichsankläger aber nach R B 7 :5 Abs. 1 die dem unteren Ankläger zustehenden Aufgaben übernehmen darf, kann diese Äußerung Ekelöfs nur so verstanden werden, daß der Reichsankläger de facto - z . B . aus Zeitmangel - dazu nicht in der Lage ist. Weigert sich der Bezirksankläger, eine ihm von dem Länsankläger erteilte Weisung zur Erhebung einer bestimmten Anklage zu befolgen, weil er der Auffassung ist, daß keine hinreichenden Verdachtsgründe vorliegen würden oder daß das angezeigte Verhalten nicht strafbar sei, so muß der Länsankläger selbst die Anklage erheben und vor Gericht vertreten". bb) Das Legalitätsprinzip hat in R B 20 : 6 („Der Ankläger hat die Anklage wegen strafbarer Handlungen, die unter die öffentliche Anklage fallen, zu erheben") und R B 23 :1 Abs. 1 („Eine Voruntersuchung ist einzuleiten, sobald aufgrund einer Anzeige oder aus sonstigen Gründen Anlaß zu der Annahme vorliegt, daß eine strafbare Handlung begangen wurde, derentwegen die öffentliche Anklage zu erheben ist") seinen Ausdruck gefunden. Unter die öffentliche Anklage fallen nach R B 20 : 3 alle strafbaren Handlungen, die nicht ausdrücklich davon ausgenommen 9 Olivecrona S. 31, Ekelöf I S. 139, Heuman S. 33 f., 40. Zum Begriff des außerordentlichen Anklägers vgl. auch Anmerkung 18; er ist Ausdruck des Devolutionsprinzips. Er darf nicht mit den Sonderanklägern verwechselt werden; s. im Text II 1 a. 10 Ekelöf l S. 140. 11 Diese Auffassung vertritt Ekelöf m einem an mich gerichteten Brief. Eine Entscheidung oder Literaturmeinung zu diesem Problem ist mir nicht bekannt geworden. Man wird aber davon ausgehen dürfen, daß wie im deutschen Recht die Weisungsbefugnis des vorgesetzten Staatsanwalts nicht soweit geht, daß er einen untergeordneten Staatsanwalt gegen dessen Gewissen zu einer Anklage zwingen kann.
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sind. Wie nach §152 Abs. 2 StPO entsteht die Pflicht der Anklagebehörde zum Einschreiten wegen einer Straftat im Einzelfall dann, wenn ein Anfangsverdacht gegeben ist. Uber die Stärke dieses Anfangsverdachts äußert sich R B 23 :1 Abs. 1 nicht; Ekelöf 12 spricht davon, daß das vorliegende Beweismaterial nicht von nennenswerter Stärke sein müßte. Aus der Formulierung von R B 23 :1 Abs. 1 ergibt sich jedoch, daß konkrete Tatsachen für die Annahme einer strafbaren Handlung gegeben sein müssen, bloße Vermutungen also nicht ausreichen. Die Erhebung der Anklage setzt, wie die Motive zu R B 2 0 : 6 sagen, voraus, daß der Ankläger aufgrund objektiver Gründe eine Verurteilung des Beschuldigten erwarten darf. In R B 23 : 2 wird darüber hinaus als Ziel des Ermittlungsverfahrens genannt die Feststellung eines begründeten Tatverdachts und hinreichender Gründe für die Erhebung einer Anklage gegen den Tatverdächtigen 12 '. Das schwedische Recht fordert somit wie das deutsche Recht für die Erhebung der Anklage einen hinreichenden Tatverdacht, der im übrigen nicht nur für die öffentliche Klage, sondern auch für die Klage des Verletzten gefordert wird. Von der Erhebung der Anklage darf abgesehen werden, wenn die in R B 20 : 7 Abs. 1 genannten Voraussetzungen vorliegen. Dies ist der Fall, wenn eine andere Rechtsfolge als Geldstrafe nicht zu erwarten ist und die Verurteilung des Beschuldigten aus öffentlichem Interesse nicht erforderlich erscheint (RB 20 : 7 Abs. 1 Nr. 1), wenn der Beschuldigte wegen einer anderen Straftat eine Verurteilung zu erwarten hat oder bereits zu einer Strafe verurteilt worden ist und die anzuklagende Tat im Hinblick auf ihre Rechtsfolge daneben keine nennenswerte Bedeutung hat (a. a. O . Nr. 2), oder wenn die Tat im Zustand einer solchen seelischen Abnormität, wie in BrB kap. 33 beschrieben, begangen worden ist und eine Einweisung in geschlossene psychiatrische Pflege oder in ein Spezialkrankenhaus für psychisch Entwicklungsgestörte ohne ein vorausgehendes Strafverfahren in Betracht kommt und die Anklage nicht aus besonderen Gründen erforderlich erscheint ( a . a . O . N r . 4 ) . In diesen Fällen trifft die Entscheidung, von einer Anklage abzusehen, der zuständige Ankläger. Allein der Reichsankläger ist zu einer solchen Entscheidung befugt, wenn es in einem sonstigen Fall aus besonderen Gründen offenbar ist, daß eine Rechtsfolge nicht erforderlich ist, um den Beschuldigten von weiteren Straftaten abzuhalten, und es unter Berücksichtigung 12 Ekelöf V S. 94; zum deutschen Recht vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht (16. Aufl.) S.205. u " Wie der deutsche Staatsanwalt hat auch der schwedische Ankläger dem Beschuldigten gegenüber eine objektive Haltung einzunehmen. Gesetzlich ist das Objektivitätsprinzip in RB 23 : 4 festgelegt, wonach auch die für den Beschuldigten sprechenden Umstände im Ermittlungsverfahren zu erforschen sind. Vgl. Heuman S. 121 ff., Olivecrona S.40, 183; Dillén S. 68.
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der Umstände auch nicht erforderlich ist, daß eine Anklage erhoben wird (RB 20 :7 Abs. 1 Nr. 3; Abs. 2)13. Neben diese im Prozeßgesetz geregelten Ausnahmen vom Legalitätsprinzip stellt das Kriminalgesetzbuch in zahlreichen Fällen Bedingungen auf, die gegeben sein müssen, damit eine Anklage erhoben werden darf. Hier kann man folgende Fallgruppen unterscheiden: Anklage darf nur erhoben werden, wenn 1. dies aus besonderen Gründen aus öffentlichem Interesse erforderlich erscheint, 2. der Verletzte wegen der Tat Strafantrag gestellt hat oder die Anklageerhebung aus öffentlichem Interesse erforderlich erscheint, 3. der Verletzte wegen der Tat Strafantrag gestellt hat und die Anklageerhebung aus öffentlichem Interesse erforderlich erscheint. Während in den in RB 20 :7 Abs. 1 genannten Fällen das öffentliche Interesse dafür spricht, von einer Anklage abzusehen, gebietet in den im Kriminalgesetzbuch aufgeführten Fällen das öffentliche Interesse die Anklageerhebung, wobei es entweder fakultativ oder alternativ zum Strafantrag des Verletzten steht. Es handelt sich um Straftaten, für die der Gesetzgeber eine gerichtliche Verfolgung nur unter besonderen Umständen für erforderlich hält14. cc) Die Einlegung von Rechtsmitteln. Wie dargelegt darf der Ankläger in von ihm zum Untergericht angeklagten Verfahren auch Rechtsmittel (Berufung, Beschwerde) zum Hofgericht einlegen und in der Hauptverhandlung vor dem Hofgericht die Anklage vertreten (RB 7 :4 Abs. 1). Anderes gilt für Verfahren, in denen Rechtsmittel (Revision, Beschwerde) gegen Urteile des Hofgerichts, sei es, daß dieses in 1. Instanz, sei es, daß es in 2. Instanz entschieden hat, eingelegt werden sollen. Hier ist zu beachten, daß das zuständige Rechtsmittelgericht, der Oberste Gerichtshof, als Revisionsgericht nur in von ihm zur Entscheidung angenommenen Fällen tätig wird. Die Entscheidung über die Annahme wird vom Obersten Gerichtshof in einer Besetzung von 3 Richtern geprüft (RB 3:6); die Genehmigung zur Führung des Rechts-
13 Für ein Absehen von der Anklage gem. der Generalklausel des RB 20 :7 Abs. 1 Nr. 3 spielen prozeßökonomische Gründe keine Rolle. Der Reichsankläger wird eine solche Entscheidung nur dann treffen, wenn im Fall der Anklageerhebung das Gericht zu der Auffassung kommen würde, daß es aufgrund besonderer Umstände offenbar ist, daß eine Sanktion für die Straftat nicht erforderlich ist, und daher von einer solchen völlig absehen würde (BrB 33 :4 Abs. 3). Nach EkelöfV S. 119 ergehen jährlich nur wenige Entscheidungen gem. RB 20 :7 Abs. 1 Nr. 3. - Die Tatsache, daß es sich hier um eine Generalklausel von sehr weitgehendem Umfang handelt, ist wohl der Anlaß, daß die Entscheidung allein dem Reichsankläger vorbehalten worden ist. 14 EkelöfV S. 119 f., Olivecrona S.49f.
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mittels wird unter den in RB 54 :10 genannten Voraussetzungen erteilt15. Dieses vorgeschaltete gerichtliche Prüfungsverfahren entfällt bei Rechtsmitteln, die vom Reichsankläger zum Obersten Gerichtshof eingelegt werden (RB 54 :9 Abs. 2). Die Entscheidung, ob ein Rechtsmittel vor dem Obersten Gerichtshof zu verhandeln ist, trifft hier der Reichsankläger16. Für den Staats- oder Bezirksankläger, der Rechtsmittel gegen ein Urteil des Hofgerichts einlegen will, bedeutet das, daß er nicht einen Antrag auf Führung der Revision beim Obersten Gerichtshof zu stellen hat, sondern daß er binnen der in AI § 42 festgesetzten Frist dies dem Reichsankläger mitzuteilen hat, der dann entscheidet, ob Revision eingelegt und durchgeführt werden soll. Der Reichsankläger soll nach AI § 42 Abs. 1 das Rechtsmittel nur einlegen, wenn „besondere Gründe" dafür vorliegen. Bei der Entscheidung darüber, ob solche besonderen Gründe gegeben sind, wird sich der Reichsankläger an den in RB 54 :10 genannten Voraussetzungen orientieren. Nach Ekelöf erfolgt die Revisionseinlegung im allgemeinen, wenn ein oberstgerichtliches Präjudikat zu einer bestimmten Rechtsfrage herbeigeführt werden soll17. Die Entscheidung über die Einlegung des Rechtsmittels trifft der Reichsankläger, sein Stellvertreter oder einer der Abteilungsleiter, die Anklägerfunktionen ausüben dürfen. Regelmäßig wird aufgrund dieser Entscheidung einer der Abteilungsleiter beim Reichsankläger die Revision einlegen und vor dem Obersten Gerichtshof vertreten; eine Delegation auf einen Staats- oder Bezirksankläger ist nicht zulässig (RB 7 : 5 Abs. 2; AI §6 Abs. 2). Ist die Revision jedoch allein vom Angeklagten eingelegt worden, so darf der Reichsankläger nicht nur einen seiner Abteilungsleiter, sondern auch einen unteren Ankläger, und zwar regelmäßig den, der die Anklage vor dem Hofgericht vertreten hat, mit der Abgabe einer Revisionsgegenerklärung und der Vertretung der öffentlichen Anklage vor dem Obersten Gerichtshof beauftragen (RB 7 : 4 Abs. 4); er darf damit auch einen außerordentlichen Ankläger beauftragen (RB 7 :5 Abs. 1 Satz 2)18. 15 Nach RB 54 :10 darf die Genehmigung nur erteilt werden, wenn es für die einheitliche Rechtsanwendung von Bedeutung ist oder ein besonderer Grund vorliegt wie das Vorhandensein von Wiederaufnahmegründen, Verfahrensfehlern, oder daß der Ausgang des Verfahrens vor dem Hofgericht offensichtlich auf einem schweren Fehler oder Irrtum beruht. 16 Olivecrona S.28. 17 Ekelöf I S . 139; Olivecrona S.28. 18 Olivecrona S. 29. - Der Begriff „außerordentliche Ankläger" (extraaklagare) sagt hier, daß es sich hier um einen Ankläger handelt, zu dessen dienstlichen Aufgaben die Abgabe einer Gegenerklärung nicht gehört, es sei denn, er wird damit besonders beauftragt. - Ein außerordentlicher Ankläger ist auch der Ankläger, der an Stelle eines
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2. Der
Verteidiger
a) Rechtsanwalt und Prozeßbevollmäcbtigter. Das schwedische Prozeßgesetz kennt weder ein Anwaltsmonopol noch einen Anwaltszwang. Grundsätzlich kann jeder Bürger seine Prozesse selbst führen und sich selbst vor Gericht gegen eine öffentliche Klage verteidigen. Da aber das schwedische Prozeßrecht weitgehend durch die Verhandlungsmaxime gekennzeichnet ist, wird es als wünschenswert angesehen, daß eine Partei sich durch einen sachkundigen Repräsentanten vor Gericht vertreten läßt". Für derartige Parteivertreter, die nicht Rechtsanwälte zu sein brauchen, enthält das Gesetz in Kap. 12 über die Prozeßbevollmächtigten Bestimmungen, die, soweit für die Verteidigung in einem Strafverfahren einschlägig, später erörtert werden sollen. Im Gegensatz zu den Rechtsanwälten wird für einen Prozeßbevollmächtigten eine juristiche Ausbildung nicht vorausgesetzt; sie ist jedoch in der Praxis regelmäßig gegeben. Einen eigentlichen Rechtsanwaltsstand als einen festen, durch eine öffentlich-rechtliche Standesorganisation gekennzeichneten Berufsstand gibt es in Schweden erst seit dem 1.1.1948 20 . Rechtsanwalt ist, wer Mitglied des öffentlichen Rechtsanwaltverbandes (.advocatsamfund) ist. N u r schwedische Staatsbürger, die die Befähigung zum Richteramt besitzen und die in den Satzungen des Verbandes vorgeschriebene praktische Ausbildung erhalten haben, können Mitglieder des Verbandes werden; sie müssen in Schweden ihren Wohnsitz haben und das 25. Lebensjahr vollendet haben. Uber die Standespflichten des Rechtsanwalts sagt das Gesetz (RB 8 :4) nur wenig. Der Anwalt hat die ihm anvertrauten Aufträge redlich und pflichteifrig auszuführen und in allen Dingen gute Anwaltssitte zu wahren. Was unter guter Anwaltssitte zu verstehen ist, ergibt sich im einzelnen nicht aus dem Gesetz, wird aber in den vom Rechtsanwaltsverband aufgestellten „Wegweisenden Regeln für gute Anwaltssitten" dargestellt21. Der Rechtsanwaltsverband übt eine Standesaufsicht und eine Disziplinargerichtsbarkeit über seine Mitglieder aus; ihm stehen gegen einen seinen Standespflichten zuwiderhandelnden Advokat als Sanktion der Ausschluß aus dem Anwaltsverband, die Warnung und die Ermahnung zu (RB 8 :7). Gegen den Ausschluß aus dem Verband ist dem Mitglied abgelehnten Anklägers die Anklage vertritt (Ekelöf I S. 138), oder der mit der Erhebung der Anklage in einem bestimmten Verfahren das nicht in seinen Zuständigkeitsbereich fallen würde, beauftragt wird, Heuman S. 40. Der Begriff des außerordentlichen Anklägers bringt somit das Devolutionsprinzip zum Ausdruck. " Simson Prozeßgesetz S. 12, Ekelöf I S. 142 f., II S. 77. 20 Simson a. a. O . S. 12, Ekelöf I S. 145 ff. 21 Ekelöf I S. 149.
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das Rechtsmittel der Beschwerde zum Obersten Gerichtshof gegeben (RB 8 :8) 22 . Wie das deutsche unterscheidet auch das schwedische Recht in Kap. 21 des Prozeßgesetzes zwischen den vom Beschuldigten gewählten ( R B 21 :3) und dem ihm vom Gericht bestellten (öffentlichen, R B 21 :4) Verteidiger. Jedoch besteht zum deutschen Recht insoweit ein Unterschied, als die Anforderungen, die an die Qualifikationen beider gestellt werden, unterschiedlich sind23. b) Der Wahlverteidiger. R B 2 1 : 3 spricht von dem gewählten Verteidiger und erklärt die in R B 12 : 2 - 5 und 6 Abs. 2 enthaltenen Vorschriften über Prozeßbevollmächtigte für anwendbar. Die in R B 1 2 : 8 - 1 6 enthaltenen Vorschriften über die Vollmacht für einen Prozeßbevollmächtigten werden nicht als unmittelbar anwendbares Recht erwähnt; eine bestimmte Form ist für die Benennung des gewählten Verteidigers nicht vorgesehen 24 . Der Verweis auf die Vorschriften über Prozeßbevollmächtigten bedeutet, daß als gewählter Verteidiger auch ein Nichtanwalt auftreten darf, den das Gericht aufgrund seiner Rechtschaffenheit (hier im Sinne von Ehrlichkeit gemeint), Einsicht und früheren Tätigkeit für diese Funktion für geeignet hält. Er muß schwedischer Staatsbürger sein und seinen Wohnsitz in Schweden haben; er darf nicht geschäftsunfähig oder in Konkurs gefallen sein. Rechtskundige Richter dürfen ebensowenig wie juristisch vorgebildete Gerichtsbeamte, öffentliche Ankläger und Vollstreckungsbeamte als Verteidiger gewählt werden, es sei denn, daß ihnen seitens der Regierung oder der von ihr dazu beauftragten Behörde eine Erlaubnis für den Einzelfall gegeben wird25. Ein Schöffe kann als Verteidiger gewählt werden, jedoch nicht in Verfahren, die bei dem Gericht, dem er angehört, anhängig sind (RB 12 :3 Abs. 2). Auch wenn eine juristische Ausbildung nach dem Gesetz für den gewählten Verteidi22 Svenska Dagbladet vom 2 7 . 4 . 1 9 8 0 teilt mit, daß 1979 234 Anzeigen gegen Anwälte beim Rechtsanwaltsverband eingingen. In 139 Fällen wurden gegen den Anwalt keine Maßnahmen ergriffen, in 30 Fällen erfolgte eine Zurechtweisung durch den Verband. 65 Fälle wurden dem Disziplinarausschuß vorgelegt (28 % ) ; in 54 bis zum Gerichtstag behandelten Fällen kam es zu 30 Ermahnungen, 7 Warnungen und einem Ausschluß. - Dem Rechtsanwaltsverband gehören zur Zeit ca. 1500 Rechtsanwälte an. 21 Diese unterschiedlichen Anforderungen werden im Text soweit erforderlich dargestellt. Zu bemerken ist, daß das schwedische Prozeßgesetz neben dem Rechtsanwalt und dem Prozeßbevollmächtigten auch noch den Prozeßbeistand (RB 12 : 2 2 ) kennt, für den die Bestimmungen R B 1 2 : 2 - 5 und 6 Abs. 2 entsprechend gelten. Er darf jedoch nur in Gegenwart der Parteien vor Gericht auftreten. Im Strafverfahren darf sich der Verletzte durch einen Prozeßbeistand unterstützen lassen; Ekelöf II S. 83.
Garde/E. S.265, Ekelöf II S.85. Sie dürfen jedoch dann als Prozeßbevollmächtigte auftreten, wenn sie, vom Dienst beurlaubt, zu Ausbildungszwecken als Gehilfen eines Anwalts tätig sind (RB 12 : 3 Abs. 1 Satz 2). 24 25
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ger nicht erforderlich ist, wird man davon ausgehen dürfen, daß die Prozeßbevollmächtigten bzw. zu Verteidigern gewählten Personen in der Regel eine juristische Ausbildung haben 2 '. Selbstverständlich kann auch ein Rechtsanwalt zum Verteidiger gewählt werden. Soweit für den Verteidiger, der nicht Rechtsanwalt ist, auf seine Rechtschaffenheit, Einsicht und frühere Tätigkeit abgestellt wird, wird hier dem Gericht die Möglichkeit gegeben, im einzelnen Fall eine vom Beschuldigten zum Verteidiger gewählte Person abzuweisen 27 . Die Qualifikationsmerkmale „Einsicht" und „frühere Tätigkeit" sollen unter Berücksichtigung des anhängigen Verfahrens beurteilt werden, wie sich aus dem Wortlaut des Gesetzes „geeignet in dem Verfahren" ( R B 12 : 2 Abs. 1) ergibt. „Einsichten" sind nicht nur juristische Kenntnisse, sondern auch Kenntnisse z . B . technischer, künstlerischer, medizinischer Art, die für das jeweilige Verfahren von Bedeutung und für die Verteidigung des Beschuldigten von Nutzen sein können. Dasselbe gilt für die „frühere Tätigkeit", worunter jede durch eine praktische Tätigkeit gewonnene Erfahrung zu verstehen ist, die den vom Beschuldigten gewählten Prozeßbevollmächtigten/Verteidiger als besonders geeignet für die Verteidigung erscheinen läßt28. Das Gericht hat den gewählten Verteidiger zurückzuweisen, der die im Gesetz aufgestellten Qualifikationen nicht besitzt ( R B 12 :2 Abs. 1). Es kann einen Verteidiger darüber hinaus auch zurückweisen, wenn dieser Unredlichkeit, Untüchtigkeit oder Unverstand (Unverständnis) beweist oder sich sonst ungeeignet zeigt; hier handelt es sich um Umstände, die für das Gericht erst im Verfahren, z. B. in der Hauptverhandlung aufgrund des Verhaltens des Verteidigers, sichtbar werden ( R B 1 2 : 5 1. Halbsatz) 28 *. Handelt es sich bei dem gewählten Verteidiger um einen Prozeßbevollmächtigten i. S. R B kap. 12, darf das Gericht ihn auch für eine bestimmte Frist oder bis auf weiteres für unbefugt erklären, sich bei ihm als Prozeßbevollmächtigter zu betätigen ( R B 12 : 5 2. Halbsatz). D a 26 Nach mir von schwedischen Richtern erteilten Auskunft werden regelmäßig Rechtsanwälte zu Verteidigern gewählt. 27 EkelöfU S. 76 führt das Beispiel an, daß ein wegen eines schweren Vermögensdelikts Verurteilter als Prozeßbevollmächtigter vom Gericht wohl zurückzuweisen ist, während ein wegen eines Sittlichkeitsdelikts oder Körperverletzung Verurteilter nicht als Prozeßbevollmächtigter disqualifiziert anzusehen sein dürfte („Rechtschaffenheit", also nicht im Sinne einer allgemeinen sittlichen einwandfreien Lebensführung, sondern lediglich im Sinne von Ehrlichkeit). Für einen Prozeßbevollmächtigten in einem Zivilverfahren mag das gelten. O b man aber bei einer zum Verteidiger gewählten Person dieselbe Ansicht vertreten dürfte, erscheint mir zweifelhaft. Ekelöf a. a. O. erwähnt den privaten Verteidiger in diesem Zusammenhang nicht.
Ekelöf II S. 77. Dazu wird man auch den Verdacht der Tatbeteiligung oder der Begünstigung rechnen dürfen; vgl. Die Rechtsstellung des Verteidigers im Strafverfahren. Ein europäischer Vergleich (hrsg. vom Bundesminister der Justiz), S. 17. 28
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das Gesetz hinzufügt „wenn Gründe hierfür vorliegen", sind an den Ausspruch einer solchen Sanktion gegen den als Verteidiger gewählten Prozeßbevollmächtigten noch weitergehende Anforderungen zu stellen; es muß sich um ein Verhalten des Verteidigers handeln, das durch ein erhebliches Maß an Unredlichkeit oder sonstiger Nichteignung gekennzeichnet ist. Da die Zurückweisung des Verteidigers prozessuale Schwierigkeiten, insbesondere für den Beschuldigten, der nunmehr ohne Verteidiger ist, mit sich bringt, soll die Frage der Zurückweisung eines Verteidigers aus den genannten Gründen möglichst frühzeitig behandelt werden 2 '. R B 12 : 6 Abs. 1 zieht vor, daß das Gericht der Partei, wenn sie nicht anwesend und gewillt ist, ihre Sache selbst zu führen, die Bestellung eines neuen geeigneten Bevollmächtigten aufzugeben hat mit der Folge, daß die Partei, die dies unterläßt und auch nicht persönlich erscheint, als ausgeblieben anzusehen ist. Diese Vorschrift, die die Regeln über das Ausbleiben der Parteien im Zivilprozeß (RB kap. 44) ergänzt, findet auf das Strafverfahren keine Anwendung, was die Folgen eines Ausbleibens betrifft, da die Hauptverhandlung grundsätzlich in Anwesenheit des Angeklagten oder aber doch eines von ihm bevollmächtigten Verteidigers zu erfolgen hat (RB 4 6 : 2 Nr. 2). Das Gericht wird aber dem Angeklagten aufgeben, sich einen neuen geeigneten Verteidiger zu wählen, oder ihm einen öffentlichen Verteidiger bestellen. Die Zurückweisung kommt auch gegenüber als Verteidiger gewählten Rechtsanwälten in Betracht; allerdings ist hier die Zurückweisung dem Vorstand des Anwaltsverbandes (RB 12 : 6 Abs. 2) mitzuteilen. Die Zurückweisung tritt sofort mit Verkündung der gerichtlichen Entscheidung in Kraft ( R B 1 7 : 1 4 Abs. 2 Nr. 1). Gegen sie ist die Beschwerde gegeben (RB 49 : 4 Abs. 1 Nr. 1), die binnen zwei Wochen einzulegen ist ( R B 52 : 1 ) ; sie ist durch einen Protest anzumelden 30 . c) Der öffentliche Verteidiger. Das schwedische Prozeßrecht vertritt das Prinzip, daß jede Partei, die eine Unterstützung im Verfahren benötigt, eine solche aus öffentlichen Mitteln in Anspruch nehmen kann31. Dies gilt auch für das Strafverfahren. 2' Gärde/E. S. 115. - RB 12 : 5 findet analoge Anwendung auf private Verteidiger, die nicht Prozeßbevollmächtigte im Sinne von RB kap. 12 sind, also auch auf als Verteidiger gewählte Rechtsanwälte. Diese Rechtsansicht vertritt Ekelöf in einem an mich gerichteten Brief; sie ist mir auch von schwedischen Richtern mitgeteilt worden. 30 Der Protest (missnöje) ist in solchen Fällen zu erheben, in denen die durch Gerichtsbeschluß entschiedene Frage Einfluß auf das übrige Verfahren hat. Der Protest gibt dem Gericht Anlaß zu erwägen, ob es im Verfahren fortfahren oder ob es die Entscheidung, über die durch den Protest angekündigte Beschwerde abwarten soll; Gärde/E. S.731. 31 Ekelöf II S. 76 f., 84 f. - In Straßenverkehrssachen wird nur selten ein öffentlicher Verteidiger beigeordnet, Ekelöf II S. 86 Anm. 49, Olivecrona S.96 Anm. 2.
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Im Gegensatz zum Wahlverteidiger kann als öffentlicher Verteidiger nur ein dem schwedischen Anwaltsverband angehörender Rechtsanwalt bestellt werden; das Gesetz verlangt darüber hinaus in RB 2 1 : 5 Abs. 1, daß dieser „hierfür geeignet erscheint" 32 . Mit dieser Beschränkung der öffentlichen Verteidiger auf den Kreis der in einem Berufsverband zusammengeschlossenen Rechtsanwälte werden wie im deutschen Recht sowohl die Interessen des Beschuldigten an einer qualifizierten und sachkundigen Wahrnehmung seiner Rechte als auch das staatliche Interesse an der Mitwirkung von Personen, die die durch die Notwendigkeiten der Rechtspflege rechtlich gebotenen Schranken zu würdigen wissen und die überdies standesrechtlich gebunden sind, berücksichtigt". Ein öffentlicher Verteidiger ist dem Beschuldigten, der keinen Verteidiger hat oder dessen Verteidiger zurückgewiesen worden ist, ex officio zu bestellen, wenn sich wegen der Art der Sache oder aus sonstigen Gründen ergibt, daß er seine Rechte nicht ohne Beistand wahrnehmen kann 34 . Entscheidend für die Bestellung eines öffentlichen Verteidigers ist allein die prozessuale Situation, die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage; die wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschuldigten spielen für die Entscheidung darüber, ob er seine Rechte allein wahrnehmen kann oder nicht, keine Rolle35. O h n e Rücksicht auf die Schwierigkeit des Verfahrens ist dem Beschuldigten auf seinen Antrag ein öffentlicher Verteidiger zu bestellen, wenn er festgenommen oder verhaftet worden ist; die Freiheitsentziehung wird als eine so schwere Behinderung der Verteidigungsmöglichkeiten angesehen, daß eine Prüfung der sonstigen prozessualen Situation nicht erforderlich ist (RB 23 :3 Abs. 3 Satz 2). Das Gericht ist aber auch hier nicht gehindert, dem verhafteten oder festgenommenen Beschuldigten von Amts wegen einen öffentlichen Verteidi-
32 Ekelöf IS. 147 erwähnt die Spezialisierung einzelner Anwälte auf bestimmte Rechtsgebiete. Sie kann bei der Auswahl eines öffentlichen Verteidigers gem. RB 21 :5 Abs. 1 berücksichtigt werden. Die Nichteignung eines Anwalts für die Bestellung eines öffentlichen Verteidigers kann sich aus der Entfernung seiner Kanzlei zum Gericht (hohe Reisekosten) ergeben; vgl. Anm. 37. Zur Geschichte des öfftl. Vert. vgl. K. Â. Modéer, Den offentliga försvararen, Lund 1977 (in Rättchistorisca studier (Serie II) Band 5). 33 Eberhard Schmidt, Deutsches Strafprozeßrecht (1967) Rdnr. 83. - Daß bei einem schwedischen Rechtsanwalt angestellte junge Juristen nicht zu öffentlichen Verteidiger bestellt werden können, wird in der schwedischen Literatur gelegentlich bedauert (Thomasson in SvJT 35 (1950) S. 783). 34 Es ist denkbar, daß dem Beschuldigten ein öffentlicher Verteidiger auch gegen seinen Willen beigeordnet werden kann, wenn dies notwendig erscheint; Olivecrona S.96, Heuman S. 290. 35 RB 21 :3 Abs. 3 entspricht dem §140 Abs.2 StPO; eine katalogartige Beschreibung der Fälle wie in § 140 Abs. 1 StPO, in denen ein öffentlicher Verteidiger zu bestellen ist, kennt RB nicht.
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ger zu bestellen, wenn es der Auffassung ist, daß die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage dies erfordert 36 . Bei der Beiordnung eines öffentlichen Verteidigers sollen die Wünsche des Beschuldigten berücksichtigt werden, es sei denn, daß der vom Beschuldigten vorgeschlagene Verteidiger so weit vom Gerichtsort entfernt wohnt, daß seine Heranziehung als öffentlicher Verteidiger eine beträchtliche Erhöhung der Kosten verursachen würde37; auch aus anderen besonderen Gründen kann von seiner Beiordnung Abstand genommen werden, z . B . wenn er in einer Beziehung zum Gegenstand des Verfahrens steht, die ihn als Verteidiger ungeeignet erscheinen läßt. Gegen den Beschluß, durch den dem Beschuldigten ein anderer als der von ihm vorgeschlagene Anwalt beigeordnet wird, kann der Beschuldigte Beschwerde beim Hofgericht führen (RB 49 : 4 Abs. 1 Nr. 7), die aber durch einen fristgerechten Protest angekündigt werden muß38. Der zum öffentlichen Verteidiger bestellte Rechtsanwalt ist verpflichtet das Amt anzunehmen. Ein Widerruf der Beiordnung ist möglich, wenn triftige Gründe (giltigt skäl) dafür vorliegen (RB 21 : 6 Abs. 1); das kann der Fall sein, wenn der Verteidiger den Prozeß nicht mit genügender Sorgfalt führt oder sonst seine Verteidigerpflichten vernachlässigt. Damit sind nicht nur Pflichten gegenüber dem Beschuldigten, sondern auch die allgemeinen Standespflichten gemeint, deren Einhaltung auch von dem Verteidiger gefordert wird 38 '. Anträgen des Beschuldigten auf Abberufung des ihm beigeordneten öffentlichen Verteidigers muß das Gericht nicht ohne weiteres stattgeben 38b ; dies ergibt sich schon daraus, daß es dem Beschuldigten auch gegen seinen Willen einen öffentlichen Verteidiger bestellen darf. Legt der Beschuldigte jedoch dar, daß zwischen ihm und dem Verteidiger ein Vertrauensverhältnis nicht gegeben ist, wird das Gericht dem Antrag stattgeben; insoweit ist ein triftiger Grund für den Widerruf der Beiordnung gegeben39. Wählt der Beschuldigte einen anderen Verteidiger, so ist die Beiordnung des öffentlichen Verteidigers zu widerrufen; allerdings muß die vom Beschuldigten gewählte Person die Vorausset-
36 Auch im Privatklageverfahren kann ein öffentlicher Verteidiger beigeordnet werden; Olivecrona S. 96. 37 E s sind wohl Kostengründe, die den Gesetzgeber veranlaßt haben, darauf hinzuweisen, daß ein Anwalt als öffentlicher Verteidiger herangezogen werden soll, der als Prozeßbevollmächtigter bei dem Gericht tätig zu sein pflegt ( R B 21 : 5 Abs. 1 Satz 2). 38
R B 49 : 4 Abs. 2 Satz 2. Z u m Protest vgl. Anm. 30.
Gärde/E. S . 2 6 9 . - Auch ungebührliches Verhalten gegenüber dem Gericht kann unter diese Vorschrift fallen. 381
38b 39
Heuman S. 164. Olivecrona S . 9 8 .
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zungen zum Auftreten als Verteidiger haben 40 . Von dem Widerruf der Beiordnung kann bei Wahl eines anderen Verteidigers auch abgesehen werden, wenn durch den Widerruf besondere Schwierigkeiten entstehen würden. Das wird man z. B. dann bejahen dürfen, wenn das Verfahren schon so weit vorangeschritten ist, daß ohne erhebliche Zeitverzögerung eine Übernahme der Verteidigung durch eine andere Person nicht möglich ist. Auch der Widerruf der Bestellung eines öffentlichen Verteidigers kann durch eine selbständige Beschwerde gemäß R B 49 : 4 Abs. 1 N r . 1 angefochten werden 40 '. Zuständig für die Beiordnung eines öffentlichen Verteidigers und für den Widerruf der Beiordnung ist das Gericht, das zur Entscheidung in der Sache zuständig ist. D a aber die Beiordnung eines öffentlichen Verteidigers schon im Ermittlungsverfahren notwendig werden kann zu einem Zeitpunkt, zu dem noch nicht sicher feststeht, bei welchem Gericht Anklage erhoben werden wird, kann die Bestellung eines öffentlichen Verteidigers durch irgendein mit der Sache befaßtes Gericht erfolgen. Sobald dieses Gericht einen öffentlichen Verteidiger bestellt hat, erlischt die Befugnis zur Bestellung für die anderen Gerichte. Aus dem Gesagten geht hervor, daß der gewählte Verteidiger Vorrang vor dem öffentlichen Verteidiger hat. Das schwedische Prozeßgesetz enthält keine Bestimmungen darüber, ob dem Beschuldigten neben dem gewählten Verteidiger auch ein öffentlicher Verteidiger bestellt werden kann, um z. B. den Verfahrensablauf zu sichern. In der mir zugänglichen schwedischen Prozeßrechtsliteratur wird diese Frage nicht erörtert; sie ist, wie ich aus Gesprächen mit schwedischen Richtern entnommen habe, in Schweden auch noch nicht akut geworden. Es ist jedoch denkbar und zulässig, daß der Wahlverteidiger, falls er Rechtsanwalt ist, dem Beschuldigten während des Verfahrens als öffentlicher Verteidiger beigeordnet wird40b.
d) Das Verhältnis des Verteidigers zu dem Beschuldigten. Wie nach deutschem Recht, so übt auch nach schwedischem Recht der Verteidiger seine Verteidigungsbefugnisse unabhängig vom Willen des Mandanten aus; seine Unabhängigkeit diesem gegenüber ergibt sich schon aus der Forderung des Gesetzes, daß er „die Rechte des Beschuldigten mit Eifer und Umsicht wahrzunehmen und zu diesem Zweck für die richtige Klärung der Sache zu wirken" hat ( R B 21 : 7 A b s . l ) . Nach R B 21 : 7
40 40 '
Garde/E. S. 269.
Auch diese Beschwerde muß durch Protest angekündigt werden; vgl. Anm. 30. Ekelöf II S. 87 f. - Auf die Frage der Vergütung der Tätigkeit des Anwalts vor der Bestellung zum öffentlichen Verteidiger kann hier nicht eingegangen werden. 40b
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Abs. 2 soll der Verteidiger die Verteidigung sobald wie möglich durch Beratung mit dem Beschuldigten vorbereiten 41 . Notwendig ist aber auch nach schwedischer Auffassung ein Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Beschuldigten. Fehlt es an diesem Vertrauensverhältnis, so ist dies ein Grund, die Beiordnung eines öffentlichen Verteidigers zurückzunehmen und dem Beschuldigten einen anderen Verteidiger, dem er sein Vertrauen schenkt, beizuordnen. Daß eine unterschiedliche Auffassung über die Führung der Verteidigung nicht ohne weiteres auch einen Mangel an gegenseitigem Vertrauen bedeuten muß, liegt auf der Hand, wird allerdings häufig diese Folge haben, insbesondere wenn dem Verteidiger durch den Beschuldigten ein standes- oder gesetzwidriges Verhalten angesonnen wird. Brodin*2 vertritt die Auffassung, daß das Gericht in einem solchen Fall nicht durch eine Forderung nach näherer Erläuterung dessen, was den Mangel an Vertrauen zwischen Verteidiger und Beschuldigten begründet habe, das Recht des Verteidigers, sich von einem derartigen Mandantschaftsverhältnis zu lösen, noch schwieriger machen sollte, indem es den Verteidiger dadurch zwingt, Ansichten des Beschuldigten mitzuteilen, die diesen bei dem Ankläger und bei dem Gericht in ein schlechtes Licht setzen könnten.
III. Die Stellung von Ankläger und Verteidiger im Strafverfahren 1. Das
Ermittlungsverfahren45
Ein Ermittlungsverfahren ist einzuleiten, sobald Anlaß zu der Annahme vorliegt, daß eine strafbare Handlung begangen wurde, derentwegen die öffentliche Anklage zu erheben ist (RB 2 3 : 1 Abs. 1). Während der Voruntersuchung ist zu ermitteln, gegen wen ein begründeter Tatverdacht vorliegt und ob hinreichende Gründe vorhanden sind, um Anklage gegen ihn zu erheben; ferner ist das Verfahren so vorzuberei41 Die Unabhängigkeit in der Verteidigung geht aber nicht soweit, daß er ohne ausdrückliche Bevollmächtigung des Beschuldigten einen Vergleich mit dem Verletzten schließen oder einen Rechtsmittelverzicht erklären kann; Dillén S. 20. 42 In Heuman S. 164. 43 Das Ermittlungsverfahren - schwedisch: Voruntersuchung (förundersökning) - ist in RB kap. 23 und in der Bekanntmachung über die Voruntersuchung (Förundersökningskungörele, abgekürzt FUK) vom 19.12.1947 geregelt. Vgl. EkelöfV S.90ff.; Olivecrona S. 197 f., Dillén S. 133, Heuman S. 84 ff. - Das Gericht wird im Ermittlungsverfahren nur auf Antrag tätig; abgesehen von der Verhaftung des Beschuldigten, die vom Gericht beschlossen werden muß (RB 24 :13 f.), wird es bei Zwangsmaßnahmen gegen Zeugen und Sachverständige und bei Vernehmungen zur Beweissicherung tätig (RB 23 :13-15)1 vgl. EkelöfV S. 93, 101 f.
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ten, daß die Beweiserhebung bei der Hauptverhandlung zusammenhängend erfolgen kann (RB 23 :2). a) Die Stellung des Anklägers im Ermittlungsverfahren. Nach deutschem Recht ist der Staatsanwalt Herr des Ermittlungsverfahrens; ihm obliegt die justizgemäße Sachleitung der polizeilichen Ermittlungen. Einen staatsanwaltsfreien Raum gibt es im Ermittlungsverfahren nicht. Daran ändert auch nichts die Tatsache, daß die Polizei die Ermittlungshandlungen im großen Umfang vollzieht, ohne konkrete Einzelweisungen durch den Staatsanwalt zu erhalten. N a c h schwedischem Recht wird das Ermittlungsverfahren von der Polizei oder dem Ankläger - in der Regel von dem Bezirksankläger, oder wenn an den Ankläger besondere Anforderungen gestellt werden, von dem Länsankläger - eingeleitet (RB 23 :3 Abs. 1 Satz l)44. In von der Polizei eingeleiteten Ermittlungsverfahren hat - soweit es sich nicht um einfach gelagerte Fälle handelt - der Ankläger die Leitung der Ermittlungen zu übernehmen, sobald gegen jemand ein begründeter Tatverdacht vorliegt, aber auch sonst, wenn es aus besonderen Gründen erforderlich erscheint (RB 23 :3 Abs. 1 Satz 2 und 3). In von der Polizei geführten Ermittlungsverfahren hat der Ankläger ferner das Recht, Weisungen zu erteilen wie er auch in den von ihm eingeleiteten Verfahren die Hilfe der Polizei in Anspruch nehmen kann (RB 23 :3 Abs. 2 und 3). In der von ihm nicht geleiteten Voruntersuchung ist der Ankläger über den Gang des Verfahrens zu unterrichten, wenn dies nach der Art oder den Umständen des Delikts erforderlich ist (FUK § 2). Ferner darf der Ankläger den Beschuldigten auch in einem von der Polizei geleiteten Ermittlungsverfahren persönlich vernehmen, wenn dies für die Ermittlungen von Bedeutung sein kann (FUK § 3 Abs. 2). RB 23 :3 zeigt, daß das schwedische Recht einen „staatsanwaltsfreien Raum" im Ermittlungsverfahren kennt. In einfach gelagerten Fällen wird das Ermittlungsverfahren ganz von den Polizeibehörden geführt; hier wird der Ankläger grundsätzlich erst tätig, wenn die Entscheidung zu fällen ist, ob Anklage erhoben werden soll. Allerdings wird auch in diesen Fällen der Ankläger die Leitung des Ermittlungsverfahrens übernehmen müssen, wenn „besondere Gründe" vorliegen. Zu diesen ist die Anwendung prozessualer Zwangsmittel ebenso zu rechnen wie die N o t wendigkeit der Bestellung eines öffentlichen Verteidigers für den Beschuldigten, also Maßnahmen, die die Bestellung des Beschuldigten in 44 Unter „Polizei" im Sinne RB 23 :3 sind nur höhere Polizeidienstgrade zu verstehen. RB 7 :9 rechnet zu ihnen den Chef der Länspolizei. Im übrigen treffen das Gesetz über die Polizeibehörden vom 8.9.1972 und die dazu ergangenen Verordnungen und Instruktionen Bestimmungen über die Zuständigkeit der Polizeidienstgrade. §1 des Gesetzes 8.9.1972 versteht unter Polizei (polismyndighet) die Polizeileitung in einem Bezirk.
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stärkerem Maß berühren; unter Umständen kann aber auch schon die Notwendigkeit einer effektiveren Voruntersuchung den Ankläger zur Übernahme der Ermittlungen auch in einfach gelagerten Fällen veranlassen45. Aber auch in Verfahren die nicht einfach gelagert sind, gibt es einen „staatsanwaltsfreien Raum". Erst wenn gegen eine bestimmte Person ein begründeter Tatverdacht vorliegt, hat der Ankläger die Leitung der Ermittlungen zu übernehmen. Eine bloße Vermutung oder ein Anfangsverdacht, daß eine bestimmte Person die angezeigte Straftat verübt hat, zwingt den Ankläger noch nicht zur Übernahme der Leitung der Ermittlungen, es sei dann, daß dies aus besonderen Gründen erforderlich erscheint. Andererseits braucht der Verdacht auch nicht so stark zu sein, daß hinreichende Gründe für die Erhebung einer Anklage (RB 23 :22) d.h. nach den Motiven der Prozeßkommission objektive Gründe, bei deren Vorliegen die Verurteilung des Beschuldigten zu erwarten ist vorliegen. Aus R B 23 : 3 Abs. 1 Satz 1 ergeben sich somit für diese Fälle zwei Phasen des Ermittlungsverfahrens: das polizeiliche Verfahren, in dem ermittelt wird, ob überhaupt eine Straftat verübt wurde und wer als Täter hierfür in Frage kommt, d.h. in schon erheblicher Weise verdächtigt ist, und das Ermittlungsverfahren des Anklägers, dessen Ziel die Feststellung eines hinreichenden Tatverdachts für die Erhebung einer Anklage ist. Die erste Phase kann wegfallen, wenn vom Beginn der ersten Ermittlungen an ein begründeter Tatverdacht gegen jemand vorliegt; dies wird allerdings in nicht einfach gelagerten Fällen verhältnismäßig selten vorkommen, führt dann aber dazu, daß die Ermittlungen sofort vom Ankläger übernommen und geleitet werden. Daß bei Vorliegen eines begründeten Tatverdachts der Ankläger die Leitung der Ermittlungen übernehmen soll, ist eine Garantie für eine objektive, die Rechte des Beschuldigten ebenso wie das Strafverfolgungsinteresse des Staates berücksichtigende Durchführung der Ermittlungen46. Selbstverständlich wird auch in den Fällen, in denen der Ankläger die Ermittlungen leitet, die eigentliche Ermittlungstätigkeit bei der Polizei liegen. Ebenso selbstverständlich ist, daß der Ankläger im Fall eines von der Polizeibehörde geführten Ermittlungsverfahrens nicht verpflichtet ist, die Erhebung der Anklage aufgrund der ihm vorgelegten Ermitt45 Heuman S.93. - Als einfach gelagerte Fälle werden angesehen: Straßenverkehrsdelikte, einfacher Diebstahl, betrügerisches Verhalten, einfache Körperverletzung; EkelöfV S. 95 f. - Auf das Recht des Anklägers, gegen den Beschuldigten einen Festnahmebeschluß zu erlassen, soll hier nicht näher eingegangen werden; vgl. dazu G. Schmidt, in Die Untersuchungshaft in deutschen, ausländischen und internationalen Recht (rechtsvergleichende Untersuchungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft, N.S. 45, 1971), S. 574 f. 46
EkelöfV
S. 96, Heuman
S.93 f.
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lungsergebnisse zu beschließen; er ist berechtigt und verpflichtet, mit den von ihm weiter für nötig gehaltenen Ermittlungen die Polizei zu beauftragen oder sie selbst durchzuführen. h) Die Stellung des Verteidigers im Ermittlungsverfahren. Hinsichtlich ihrer Befugnisse im Strafverfahren unterscheiden sich der gewählte und der öffentliche Verteidiger nur in einer Hinsicht: nur der öffentliche Verteidiger hat das Recht, unter vier Augen mit dem festgenommenen oder verhafteten Beschuldigten zu sprechen; für den gewählten Verteidiger, der ja auch eine durch anwaltliche Standesregeln nicht gebundene Person sein kann, von welcher nicht ohne weiteres erwartet werden darf, daß sie die durch die Interessen und Notwendigkeiten der Rechtspflege gebotenen Schranken zu würdigen weiß, gilt die allgemeine Regel, daß ein solches Gespräch von der Erlaubnis des Anklägers oder des Untersuchungsführers oder des Gerichts abhängig ist, die nur dann gegeben wird, wenn durch das Gespräch unter vier Augen die Ermittlungen oder die Ordnung und Sicherheit am Gewahrsamsort nicht gefährdet werden kann (RB 21 :9 Abs. 1 Satz 2). Verweigert der Ankläger oder Untersuchungsführer dem gewählten Verteidiger ein Gespräch mit dem Mandanten unter vier Augen, kann der Verteidiger die Entscheidung des Gerichts einholen. Im übrigen darf aber dem gewählten Verteidiger ein Zusammentreffen mit dem festgenommenen oder verhafteten Beschuldigten ebensowenig wie dem öffentlichen Verteidiger verweigert werden 47 . Zur Frage des Briefverkehrs zwischen dem festgenommenen oder verhafteten Beschuldigten und seinem Verteidiger bestimmt das Gesetz über die Behandlung verhafteter und festgenommener Personen vom 20. Mai 1976, daß Briefe des Beschuldigten an schwedische Behörden und an seinen öffentlichen Verteidiger ohne Kontrolle weiterzuleiten sind. Daraus ergibt sich, daß der Briefwechsel des Beschuldigten mit seinem Wahlverteidiger grundsätzlich einer Kontrolle unterzogen werden kann. Jedoch darf ein Brief an den Wahlverteidiger nur kontrolliert werden, wenn der Beschuldigte dies genehmigt. Erteilt er die Genehmigung nicht, wird der Brief nicht befördert. Telefongespräche zwischen dem festgenommenen oder verhafteten Beschuldigten und seinem öffentlichen Verteidiger dürfen nicht abgehört werden (Gesetz vom 20.5.1976 § 12 Abs. 2 Satz 3). Die Entscheidung über die Briefkontrolle und die Genehmigung von Telefongesprächen trifft nach § 16 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes vom 20.5.1976 der Untersuchungsführer oder der Ankläger47". 47
Gärde/E. S.272. Die in der Broschüre des BJM (vgl. Anm.28a) S.23 vertretene Ansicht, daß der
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J e früher der Beschuldigte bzw. sein Verteidiger Gelegenheit erhalten, im Interesse des Beschuldigten bereits im Ermittlungsverfahren tätig zu werden, desto größer ist die Chance eine unbegründete Anklage zu vermeiden. Das schwedische Recht kennt daher ebenso wie das deutsche Recht die Möglichkeit einer Mitwirkung des Verteidigers im Ermittlungsverfahren; für den festgenommenen oder verhafteten Beschuldigten ergibt sich dies bereits aus R B 21 :3 Abs. 3 Satz 2, wonach ihm ein öffentlicher Verteidiger zu bestellen ist, wenn er dies beantragt. Aber auch der auf freiem Fuß befindliche Beschuldigte darf sich schon während des Ermittlungsverfahrens eines Verteidigers bedienen; nach R B 21 :3 Abs. 1 soll er zur Vorbereitung seiner Verteidigung durch einen Verteidiger unterstützt werden. Hierüber ist er zu belehren, sobald ein begründeter Verdacht sich gegen ihn ergeben hat ( F U K § 12). Unabhängig hiervon kann er bereits zu einem früheren Zeitpunkt einen Verteidiger mit der Wahrnehmung seiner Interessen beauftragen. Die Belehrung nach § 12 F U K hat sich auch darauf zu erstrecken, daß unter bestimmten Voraussetzungen ein öffentlicher Verteidiger bestellt werden kann. Beantragt der Beschuldigte die Beiordnung eines öffentlichen Verteidigers, hat der Ankläger oder Untersuchungsführer einen entsprechenden Antrag an das Gericht zu richten (RB 23 :5). Eine vernünftige Mitwirkung des Beschuldigten bzw. seines Verteidigers im Ermittlungsverfahren setzt voraus, daß sie über den Stand der Ermittlungen unterrichtet sind, ferner daß sie an Ermittlungshandlungen auch teilnehmen können. Der Beschuldigte, gegen den ein begründeter Tatverdacht vorliegt, hat ebenso wie sein Verteidiger das Recht, vom Verlauf und dem Ergebnis der Ermittlungen Kenntnis zu nehmen, ihm wünschenswert erscheinende Ermittlungen zu beantragen und ihm sonst nötig erscheinende Ausführungen zu machen ( R B 23 :18 Abs. 1 Satz 2). Beschuldigter und Verteidiger sind hierüber zu unterrichten, und es ist ihnen ein angmessener Zeitraum zu Überlegungen einzuräumen (RB 23 : 1 8 Abs. 1 Satz 3). Beantragt der Beschuldigte oder sein Verteidiger weitere Ermittlungen, ist dem Antrag stattzugeben, falls sie für die Untersuchung von Bedeutung sind; ein ablehnender Bescheid des Untersuchungsführers oder Anklägers ist mit Gründen zu versehen (RB 23 : 1 8 Abs. 2). Der Verteidiger - nicht der Beschuldigte - hat ferner ein Recht auf Gegenwart bei der Vernehmung von Zeugen (RB 23 : 1 0 Abs. 2 Satz 3). Allerdings sind diese Befugnisse an die Voraussetzungen geknüpft, daß durch ihre Ausübung die Ermittlungen nicht gefährdet werden. Ein unbedingtes Anwesenheitsrecht des Beschuldigten und seines VerteidiRichter den Briefverkehr überwacht, findet im Gesetz keine Stütze, Zumindestens nicht für das Ermittlungsverfahren.
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gers besteht nur hinsichtlich der Teilnahme an Vernehmungen von Zeugen, die der Beschuldigte selbst beantragt hat (RB 23 : 1 0 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit R B 23 : 1 8 Abs. 2 Satz 1), wobei es aber nach dem Gesetz ohné Bedeutung ist, ob diese Vernehmungen durch einen Ankläger oder durch die Polizei geschehen. Die Tatsache, daß bei der Vernehmung von Zeugen, die nicht auf Antrag des Beschuldigten erfolgt, nur der Verteidiger zugegen sein darf, und er auch nur, wenn dies ohne Gefährdung der Ermittlungen geschehen kann, bedeutet nicht, daß er bezüglich des Ergebnisses der Vernehmung seinem Mandanten gegenüber zum Schweigen verpflichtet wäre. Der Ausschluß des Beschuldigten von diesen Vernehmungen könnte dahin verstanden werden. Jedoch wird man der von Ekelöf8 vertretenen Auffassung folgen müssen, daß dem Verteidiger eine Schweigepflicht gegenüber dem Beschuldigten nicht obliegt; sein Recht auf Anwesenheit bei Zeugenvernehmungen wäre völlig bedeutungslos, wenn er das Ergebnis dieser Vernehmungen nicht mit dem Beschuldigten besprechen dürfte. Das Prozeßgesetz enthält keine besonderen Regeln über die Anwesenheit des Verteidigers bei Vernehmungen des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren. Vielmehr gelten auch insoweit die Bestimmungen in R B 23 : 1 0 Abs. 2 Satz 2 und 3, wonach der Verteidiger ein unbedingtes Recht auf Anwesenheit nur bei vom Beschuldigten gemäß R B 23 :18 Abs. 2 beantragten Vernehmungen hat. Das bedeutet, daß der Untersuchungsführer bei Vernehmungen des Beschuldigten die von Amts wegen erfolgen, die Anwesenheit des Verteidigers nur zu gestatten braucht, wenn dies ohne Nachteil für die Ermittlungen geschehen kann. Allerdings wird hier die Frage eines Nachteils für die Ermittlungen wesentlich großzügiger zu behandeln sein als bei der Vernehmung von Zeugen. Bei einem auf freiem Fuß befindlichen Beschuldigten ist sowieso nicht zu erkennen, wieso durch die Anwesenheit des Verteidigers die Ermittlungen gefährdet werden können. Ekelöf ' spricht insoweit auch von einem „im Ganzen genommenen unbedingtem Recht" auf Anwesenheit des Verteidigers bei Vernehmungen seines Mandanten; bei einer Befragung von Anklägern ist nach Ekelöf kein Fall mitgeteilt worden, in dem dem Verteidiger die Anwesenheit bei der Vernehmung seines Mandanten abgeschlagen worden ist, während in einzelnen Fällen die Anwesenheit bei Zeugenvernehmungen verweigert worden ist49a. R B 2 3 : 1 1 gibt dem anwesenheitsberechtigten Verteidiger auch das Recht, an die Person, die vernommen wird, Fragen zu stellen. Allerdings Ekelöf V S. 107. Ekelöf V S. 107. 4 " Ekelöf Ν S. 107 Anm.62a. 48 49
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ist dieses Fragerecht insoweit eingeschränkt, als es an dem Untersuchungsführer liegt, die Form, in welcher die Fragen gestellt werden dürfen, zu bestimmen 50 . Von besonderer Bedeutung ist dieses Fragerecht des Verteidigers insbesondere bei Vernehmungen, die auf Antrag des Beschuldigten gemäß RB 23 :18 Abs. 2 durchgeführt werden. Lehnt der Untersuchungsführer oder Ankläger, der seine Ermittlungen abgeschlossen hat, einen Antrag des Verteidigers gemäß RB 23 :18 Abs. 2 auf weitere Ermittlungen ab, kann dieser dies dem Gericht anzeigen, das sobald wie möglich über die Anzeige zu entscheiden hat; das Gericht darf die beantragten Vernehmungen vornehmen oder die sonst geboten erscheinenden Maßnahmen ergreifen (RB 23 :19 Abs. 1 und 2); solche gerichtlichen Vernehmungen sind offensichtlich selten, wie die von Ekelöf mitgeteilte Befragung von Anklägern ergeben hat51. Nach RB 2 3 : 1 8 Abs. 1 Satz 2 ist dem Beschuldigten und seinem Verteidiger Gelegenheit zu geben, vom Verlauf der Ermittlungen Kenntnis zu nehmen. Das Gesetz bestimmt nicht, auf welche Weise dies im einzelnen zu geschehen hat; dies wird vielfach von der Art des Verfahrens und von dem Untersuchungsführer abhängen. D e m Verteidiger können Abschriften der Vernehmungsniederschriften sowie andere Aktenteile überlassen werden; auch können dem Verteidiger Akten zur Einsicht übergeben werden. Nach RB 23 :21 Abs. 4 hat der Beschuldigt oder sein Verteidiger das Recht auf Überlassung einer Abschrift des Protokolls oder der Aufzeichnungen über das Ermittlungsverfahren 52 . Aufgrund des Ergebnisses der Ermittlungen hat der Ankläger eine Entscheidung darüber zu treffen, ob er Anklage erheben will oder nicht. Diese Entscheidung darf nicht getroffen werden, ohne daß vorher der Beschuldigte und sein Verteidiger Gelegenheit erhalten haben, von dem Ermittlungsergebnis Kenntnis zu nehmen (RB 2 3 : 1 8 Abs. 1 Satz 4). Dieses Recht des Beschuldigten ist unbedingt; nachdem die Ermittlungen abgeschlossen sind, können sie auch nicht mehr gefährdet werden, und ein anderer Grund als die Gefährdung der Ermittlungen ist für eine Verweigerung der Kenntnisnahme vom Ermittlungsergebnis nicht denkbar. Auch hier ist dem Verteidiger und seinem Mandanten ausreichend Zeit zu Überlegung und Stellungnahme zu gewähren 53 . In schwierigen 50
Gärde/E. S. 302. Ekelöf V S. 108 Anm. 66. 52 Es wird ein Protokoll über den Verlauf der Ermittlungen aufgenommen (RB 23 :21 Abs. 1); in kleineren Verfahren dürfen statt dessen kurzgefaßte Vermerke über den wesentlichen Verlauf der Voruntersuchung gefertigt werden (RB 23 :21 Abs.3). FUK §§21-23 enthalten hierüber nähere Bestimmungen. Das Protokoll ist als Grundlage für die Prüfung der Frage, ob Anklage erhoben werden soll, und für die Vorbereitung der Hauptverhandlung gedacht; Heuman S. 101. » Ekelöf \ S. 106. 51
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Verfahren kommt es vor, daß Ankläger und Verteidiger sich treffen, um das Verfahrensergebnis zu erörtern, bevor die Entscheidung über die Anklageerhebung getroffen wird; auch geschieht es, daß der Ankläger dem Verteidiger einen Entwurf der Anklageschrift zusendet und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme gibt54. Der Verteidiger und der Beschuldigte haben die Gelegenheit eine Ergänzung der Ermittlungen zu beantragen, wobei sie das unbedingte Recht auf Anwesenheit bei den von ihnen beantragten Vernehmungen haben (RB 23 :10 Abs. 2 Satz 2). 2. Die Erhebung der Anklage Der von Simson5i hervorgehobene enge Zusammenhang des schwedischen Zivilprozesses und des schwedischen Strafprozesses und ihrer Ausgestaltung als Parteiverfahren kommt nicht nur darin deutlich zum Ausdruck, daß in mehreren gesetzlichen Bestimmungen über die H a u p t verhandlung in Strafsachen nach Erhebung der öffentlichen Klage von den „Parteien" in bezug auf den Ankläger und den Angeklagten gesprochen wird, sondern auch darin, daß die O r d n u n g der Hauptverhandlung im Strafverfahren mit der der Hauptverhandlung in Zivilsachen im großen und ganzen übereinstimmt und daß die Erhebung der öffentlichen Klage Ähnlichkeit mit der Klageerhebung im Zivilprozeß aufweist. a) Der Abschluß der Ermittlungen. Aufgrund der von der Polizei oder von ihm geführten Voruntersuchung hat der Ankläger darüber zu beschließen, ob er Anklage erheben wird oder nicht (RB 23 :20). In den Fällen, in denen die Polizei die Ermittlungen geführt hat56, hat er das Recht und die Pflicht, gegebenenfalls eine Ergänzung der Ermittlungen von der Polizei zu fordern oder selbst herbeizuführen; auch wird er in geeigneten Fällen polizeilicher Ermittlungen selbst eine abschließende Vernehmung des Beschuldigten durchführen 57 . Reichen die Ermittlungen für eine Anklage nicht aus, so wird das Ermittlungsverfahren entweder eingestellt (RB 23 :4 Abs. 2 Satz 2) oder beschlossen, daß eine Anklage nicht erhoben wird (RB 23:20) 5 8 ; in beiden Fällen sind der aufgrund eines begründeten Tatverdachts vernommene Beschuldigte und der Verletzte, der die Tat angezeigt oder einen Privatanspruch aufgrund der strafbaren Handlung angemeldet hat, zu unterrichten (FUK §14). 54
EkelöfV S. 106 Anm. 57 a. Prozeßgesetz S. 24. 56 Siehe oben im Text zu Anm. 45. 57 EkelöfV S. 108. 58 Eine Einstellung erfolgt z . B . dann, wenn unklar geblieben ist, ob überhaupt eine Straftat verübt worden ist; der Beschluß, daß eine Anklage nicht erhoben wird, ergeht, wenn die Ermittlungen einen hinreichenden Tatverdacht nicht ergeben haben. 55
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Beschließt der Ankläger die Erhebung der Anklage, so schließt das eine Fortsetzung der Ermittlungen nicht aus; führen sie dazu, daß die Anklage zurückgenommen wird, ist der Angeklagte freizusprechen ( R B 2 0 : 9 Abs. 2)". Das schwedische Recht kennt keine Uberprüfung der Anklage durch das Gericht in einem zwischen der Anklageerhebung und der Hauptverhandlung liegenden Zwischenverfahren (vgl. §§199 ff. S t P O ) ; jedoch hat der Angeklagte das Recht, bei dem übergeordneten Ankläger (Läns- oder Reichsankläger) eine Überprüfung des Beschlusses über die Anklageerhebung zu beantragen, mit der Folge eines Aufschubs der Hauptverhandlung bis zur Entscheidung des höheren Anklägers. Dieser im Gesetz nicht näher geregelte Rechtsbehelf ist nicht fristgebunden 60 . b) Die Erhebung der Anklage. Im Zivilverfahren wird die Klage durch eine Prozeßladung erhoben (RB 1 3 : 4 ) , d.h. es muß bei dem Gericht ein Antrag auf Prozeßladung des Beklagten gestellt werden ( R B 42 :1). Dieser Antrag hat die klagebegründenden Tatsachen, die Klageanträge sowie die Beweisurkunden auf die der Kläger sich beruft, zu enthalten (RB 42 :2). Mit dem Eingang des Antrags auf Prozeßladung bei Gericht gilt die Klage als erhoben (RB 13 : 4 Abs. 3). Uber die Erhebung der öffentlichen Klage bestimmt das Prozeßgesetz, daß der Ankläger beim Gericht einen schriftlichen Antrag auf Prozeßladung des Anzuklagenden einzureichen hat ( R B 35 :1 Abs. 1), der den Angeklagten und den Verletzten, falls ein solcher vorhanden, zu bezeichnen und Ort und Zeit der Tat sowie sonstige zu ihrer Kennzeichnung erforderlichen Umstände und schließlich die gesetzlichen und die anderen anzuwendenden Bestimmungen und die zu benennenden Beweismittel anzugeben hat (RB 45 : 4 Abs. 1). Die weitgehende Übereinstimmung der Zivilklage und der öffentlichen Strafklage in der Form ihrer Erhebung und ihrem Inhalt ist offenbar. Dem Vortrag der klagebegründenden Tatsachen in der Zivilklage entspricht die in R B 45 : 4 Abs. 1 Nr. 3 vorgeschriebene Angabe der Straftat und der gesetzlichen Bestimmungen. Daß R B 45 :4 Abs. 1 Nr. 4 neben der Angabe der Beweise, die der Ankläger benennen will, auch noch die Angabe des Beweisgegenstandes jedes einzelnen Beweismittels verlangt, während nach R B 4 2 : 2 in der Zivilklage nur die Beweisurkunden, auf die sich der Kläger beruft, angegeben werden müssen, erklärt sich aus dem unterschiedlichen Beweisverfahren im Zivil- und im Strafprozeß. Im Zivilverfahren verteilt sich die Beweislast auf die Parteien, während im Strafverfahren den Angeklagten keine 39 60
Ekelöfil S. 133. Ekelöf V S. 109.
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Beweislast trifft, sondern diese nach schwedischer Auffassung allein beim Ankläger liegt". Das allein erklärt allerdings nicht, wieso der Kläger im Zivilprozeß mit der Klage nur die Beweisurkunden vorlegen, nicht aber zugleich auch die anderen Beweismittel für seine Behauptungen vortragen muß. Auch vermag die in den Motiven zum R B gegebene Erklärung zu R B 42 : 2 Nr. 3, daß bei einer Pflicht des Zivilklägers zur Angabe auch der Zeugen dies „einen weniger genauen Beklagten dazu verleiten würde, seine Klageerwiderung den Beweisangaben des Klägers anzupassen und wider besseres Wissen Umstände zu bestreiten, bezüglich derer der Kläger keinen Beweis benennen konnte", nicht den Unterschied zu erklären. Dieser ergibt sich meines Erachtens daraus, daß der Hauptverhandlung im Zivilverfahren regelmäßig eine Vorbereitung vorangeht. In diesem Vorbereitungsverfahren haben die Parteien die Beweise, auf die sie sich beziehen wollen, und den Beweisgegenstand jedes einzelnen Beweismittels anzugeben (RB 4 2 : 8 ; der Wortlaut entspricht insoweit R B 4 4 : 1 Nr. 4). Für das Verfahren, in dem eine öffentliche Anklage erhoben wird, ist eine solche Vorbereitung der Hauptverhandlung, wie sie das Zivilverfahren kennt, nicht vorgesehen. Sie ist auch nicht erforderlich, da die Erhebung der Anklage ja aufgrund der polizeilichen oder vom Ankläger geführten Ermittlungen beschlossen worden ist, dem Ankläger es also auch möglich ist, das zur Überführung des Angeklagten in der Hauptverhandlung nötige Beweismaterial dem Gericht zu benennen und vorzulegen; hierzu ist er im übrigen nach R B 45 : 7 verpflichtet. Dem Angeklagten wäre die Möglichkeit genommen, sich auf die Hauptverhandlung sachgerecht vorzubereiten, wenn der Ankläger nicht zur Bekanntgabe aller seiner Beweismittel gezwungen würde62. 3. Die Hauptverhandlung
(RB kap. 46)
Züge eines Parteiprozesses trägt auch die Hauptverhandlung im Strafverfahren. Sie zerfällt in die drei Abschnitte Sachdarstellung, Beweisaufnahme, Schlußvorträge. In der sich an den Aufruf der Sache und an die Feststellung der Anwesenheit der Beteiligten anschließenden Sachdarstellung haben die Parteien ihre Standpunkte darzulegen und ihre Anträge zu entwickeln (RB 46 : 6 Abs. 1). So wie in der Zivilverhandlung der Kläger (RB 43 : 7 Abs. 1) hat auch der Ankläger in der Hauptverhandlung seine Anträge zu stellen. Dazu trägt er in der Regel vor, was er in dem Antrag auf Prozeßladung gemäß R B 45 : 4 bereits über die Straftat " EkelöflY S. 113. 62 Ekelöf V S. 134. Nach R B 4 5 : 1 0 wird dem Beschuldigten vom Gericht bei der Mitteilung der Anklageschrift aufgegeben, die Beweismittel, auf die er sich berufen will, und die Beweisgegenstände dem Gericht mitzuteilen.
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angegeben hat; er darf dies aus dem eingereichten Antrag vorlesen. Die Antragstellung beschränkt sich nämlich nach allgemeiner Meinung nicht auf die bloße Erklärung, daß die Verurteilung des Angeklagten aufgrund einer Vorschrift des Kriminalgesetzbuchs verlangt wird - ζ. B . : Ich stelle den Antrag, den Angeklagten X wegen Diebstahls gemäß B r B 8 :1 zu verurteilen - sondern die Antragstellung soll auch eine Beschreibung der Tat, die dem Antrag zugrunde liegt, enthalten. Diese Antragstellung entspricht der Verlesung des Anklagesatzes nach §243 Abs. 3 Satz 1 StPO. Im Anschluß an die Antragstellung ist der Angeklagte zu befragen, ob er die Tat zugibt oder bestreitet (RB 4 6 : 6 Abs. 1). Hieran schließt sich sodann der Vortrag der Anklage, in welchem der Ankläger die Umstände, auf die er die Anklage stützt, wiederzugeben hat. Alsdann ist der Verletzte zu vernehmen. Dem Vortrag der Anklage (RB 46 : 6 Abs. 2), in dem der Charakter des Parteiprozesses deutlich zutage tritt, kommt große Bedeutung zu62ä. Er ist die eigentliche Sachdarstellung aus der Sicht der Anklage. Sie soll in freier Rede vorgetragen werden, wobei der Ankläger jedoch nicht gehindert ist, schriftliche Aufzeichnungen zur Stützung seines Gedächtnisses zu verwenden. Technische Hilfsmittel, wie Skizzen und Fotografien dürfen während des Anklagevortrages dem Gericht vorgelegt werden, wenn dies zur Verständlichmachung der Anklage beiträgt. Der Vortrag darf keine Schilderung des Ermittlungsverfahrens sein; das „wie" der Ermittlung kann nicht Gegenstand der Urteilsfindung sein. Gegenstand des Anklagevortrages ist der historische Geschehensablauf, in dem die Tat ein Glied ausmacht. Die Einlassung des Angeklagten, die dieser im Ermittlungsverfahren gegeben hat, darf grundsätzlich nicht vom Ankläger vorweggenommen werden; um aber dem Gericht einen leichteren Zugang zu der Sache zu ermöglichen, darf der Ankläger bei entscheidenden Fragen darauf hinweisen, daß der Angeklagte hierzu einen anderen Standpunkt vertritt. Auch darf er in seinem Vortrag grundsätzlich nichts vorbringen, was rechtlich gesehen zur Beweisaufnahme gehört, auch nicht, was einzelne Zeugen im Ermittlungsverfahren gesagt haben. Er darf nur das bringen, was er glaubt beweisen zu können; soweit Zweifel und Ungewißheiten zu bestimmten Fragen bestehen, hat er diese mitzuteilen. Dies ergibt sich auch daraus, daß auch nach schwedischer Rechtsauffassung der Ankläger sich in seinen Ermittlungen von Objektivität leiten lassen muß (RB 23 : 4 Abs. 1). Die Forderung nach Objektivität bedeutet, daß der Ankläger auch die für den Angeklagten günstigen Umstände vortragen muß. Rechtliche Ausführungen haben in dem Vortrag grundsätzlich keinen Platz. Zum Vortrag der Anklage vor allem Heuman Ekelöf V S. 144 ff.
S. 147 ff. ; zur Hauptverhandlung siehe
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An den Vortrag des Anklägers schließt sich die Vernehmung des Angeklagten an. Nach R B 4 6 : 6 Abs. 3 ist dieser zu ersuchen, sich zusammenhängend über die Sache zu äußern und hierbei zum Vortrag des Anklägers Stellung zu nehmen; dabei dürfen mit Erlaubnis des Gerichts der Ankläger und der Verletzte Fragen an ihn richten, ebenso der Verteidiger, dessen Recht zur Fragestellung an den Angeklagten unabdingbar ist (RB 46 : 6 Abs. 3 Satz 3). Ekelöf berichtet, daß in der Praxis sich aber anstelle des nach dem Willen des Gesetzgebers vom Richter geleiteten Verhörs das Kreuzverhör des Angeklagten durch den Ankläger und den Verteidiger gesetzt hat, falls der Angeklagte die Tat bestritten hat". Nach der Vernehmung des Angeklagten und des Verletzten erfolgt die Beweisaufnahme. Uber die Vernehmung von Zeugen wird in R B 36 :17 bestimmt, daß sie durch das Gericht zu erfolgen hat, das den Zeugen auffordert, einen zusammenhängenden Bericht zu geben, wonach er vom Gericht und sodann von den Parteien, d. h. vom Ankläger und Verteidiger befragt wird. Jedoch kann das Gericht die Zeugenvernehmung auch ganz den Parteien überlassen, wobei zunächst der Ankläger den Zeugen vernimmt, sodann der Verteidiger. Dieses Kreuzverhör bei der Zeugenvernehmung hat sich in der Praxis durchgesetzt. Bei der Vernehmung dürfen keine führenden bzw. suggestiven Fragen gestellt werden, es sei denn, daß besondere Gründe dafür vorliegen. Fragen, die offensichtlich nicht zur Sache gehören, sowie verwirrende oder sonst ungebührliche Fragen dürfen nicht gestellt werden; das Gericht hat sie zurückzuweisen64. An die Beweisaufnahme schließen sich die Schlußvorträge an. Aus dem Gesetzestext ist zu entnehmen, daß die Plädoyers für die Parteien nicht zwingend vorgeschrieben sind: „Nach der Beweisaufnahme dürfen die Parteien vorbringen, was sie für notwendig halten, um ihre Sache zu Ende zu führen" (RB 46 :10). Nach Heuman65 soll ein Schlußvortrag vom Ankläger nur gehalten werden, wenn er wirklich etwas von Gewicht zu sagen hat. Dies ist aber nicht dahin zu verstehen, daß der Ankläger - gleiches muß auch für den Verteidiger gelten - von vornherein völlig auf seinen Schlußvortrag verzichten darf. Insbesondere zur Frage der Rechtsfolge der Tat werden beide sich äußern müssen, zumal sie aus dem Ermittlungsverfahren her den Angeklagten besser kennen als das Gericht und daher dem Gericht wertvolle Hinweise für eine Entscheidung in der Frage der Rechtsfolge geben können.
65 63 65
Ekelöf V S. 147. Heuman S. 311 f. Heuman S.155.
Ankläger und Verteidiger im schwedischen Strafprozeß
357
IV. Sonderfragen 1. Ablehnung
des Staatsanwalts
Im Gegensatz zum Gerichtsverfassungsgesetz der Bundesrepublik Deutschland, das eine Ablehnung eines Staatsanwalts wegen Besorgnis der Befangenheit nicht kennt 66 , bestimmt R B 7 : 6 Abs. 1 Satz 1, daß ein öffentlicher Ankläger sich nicht mit den Ermittlungen oder der Anklage befassen darf, wenn bei ihm hinsichtlich einer strafbaren Handlung Umstände vorliegen, die nach R B 4 :13 und 14 Abs. 1 die Befangenheit eines Richters herbeiführen würden. Die in R B 4:13 aufgeführten Verhältnisse entsprechen im wesentlichen den in § § 2 2 , 23 S t P O aufgeführten Ausschlußgründen. Sowohl für den Richter ( R B 4 : 1 3 Abs. 1: „ . . . i s t durch Befangenheit verhindert, an einem Verfahren mitzuwirken") als auch für den Ankläger ( R B 7 : 6 : „ . . . so darf er sich nicht mit der Voruntersuchung oder Anklage b e f a s s e n . . . " ) bedeutet nach dem Wortlaut der Bestimmung das Vorliegen dieser Verhältnisse die Ausschließung von der Ausübung des Richter- oder Anklägeramtes. Für den Richter ist in R B 4 : 1 4 Abs. 1 bestimmt, daß er Umstände, die vermutlich seine Befangenheit herbeiführen, aus eigenem Antrieb mitzuteilen hat; die Partei, die den Richter wegen Befangenheit ablehnen will, hat alsbald nachdem sie von dem Ablehnungsgrund Kenntnis erlangt hat, den Einwand der Befangenheit zu erheben. Für den Ankläger sind entsprechende Vorschriften nicht aufgestellt, jedoch wird der Ankläger, der Umstände kennt, die die Besorgnis seiner Befangenheit herbeiführen können, dies zu melden haben; dies ergibt sich aus seiner Verpflichtung zur Objektivität. Uber die Frage seiner Befangenheit entscheidet sein nächster Dienstvorgesetzter (RB 7 : 6 Abs. 3). Die Besorgnis der Befangenheit darf sich nicht auf Maßnahmen gründen, die der Ankläger dienstlich vorgenommen hat, oder auf Handlungen, die gegen ihn in Ausführung oder wegen seines Dienstes vorgenommen worden sind ( R B 7 : 6 Abs. 1 Satz 2). So darf er nicht als befangen angesehen werden, weil er den Beschuldigten bereits in einem anderen Verfahren angeklagt hat oder weil der Beschuldigte ihn tätlich angegriffen oder beleidigt hat, soweit dies anläßlich einer dienstlichen Maßnahme (ζ. B. bei einer Vernehmung) oder wegen einer dienstlichen Maßnahme erfolgt ist. Auch der ausgeschlossene Ankläger darf noch Maßnahmen treffen, die nicht ohne Gefahr aufgeschoben werden können ( R B 7 : 6 Abs. 2). " Vgl. aber § 11 B w A G G V G (GesBl. Bad.-Württbg. 1975, 870) und § 7 N d s A G G V G , abgedruckt bei Kleinknecht,
S t P O (34. Aufl., 1979) R d n r . 4 vor § 2 2 StPO, die einen
Ausschluß des Staatsanwalts von Amtshandlungen und (so Nds) eine Selbstablehnung des Staatsanwalts kennen.
358
G e r h a r d Schmidt
Diese Regelung entspricht der für die Richter geltenden Vorschrift in RB 4 : 1 5 Abs. 1 Satz 1, wo allerdings darauf abgestellt wird, daß die Maßnahme nicht ohne besondere Ungelegenheit aufgeschoben werden kann und keine Entscheidung des Verfahrens enthält. Dillén ist der Auffassung, daß für den Richter eine stärkere Notwendigkeit zur Vornahme der Maßnahme vorliegen muß als für den Ankläger 67 . 2. Ordnungsmaßnahmen
gegen
Verteidiger
Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß der Rechtsanwaltsverband eine Standesaufsicht und eine Disziplinarbefugnis gegenüber seinen Mitgliedern ausübt. Im folgenden soll dargelegt werden, welche Maßnahmen das Gericht gegen Verteidiger ergreifen kann, die durch ungebührliches Verhalten die O r d n u n g vor Gericht stören. Es ist schon dargelegt worden, daß das Gericht die Möglichkeit hat, einen vom Beschuldigten gewählten Verteidiger zurückzuweisen, wenn dieser die vorgeschriebenen Qualifikationen nicht besitzt oder sich im Verfahren als ungeeignet zeigt (RB 12 :2 Abs. 1, 12 :5). Die allgemeine Ordnungsvorschrift in RB 9 :568, wonach mit Geldstrafe bestraft werden darf, „wer bei einer Sitzung vor Gericht die Verhandlung stört, im Gerichtssaal fotografiert, sich weigert einer Vorschrift nachzukommen, die zur Aufrechterhaltung der O r d n u n g erlassen ist, oder sich bei einer Sitzung oder in einem Prozeßschriftsatz unangemessen äußert oder sonst die "Würde des Gerichts verletzt", ist auf einen als Verteidiger gewählten Prozeßbevollmächtigten angewendet worden, und es ergibt sich m. E. nichts aus dem Gesetz dagegen, diese Vorschrift auf jeden gewählten Verteidiger und auch auf den öffentlichen Verteidiger anzuwenden 69 . Allerdings besteht diesem gegenüber die Möglichkeit des Widerrufs der Beiordnung, wenn triftige Gründe vorliegen (RB 21 :6). Die nach RB 9 : 5 festzusetzende Geldstrafe beträgt mindestens 10, höchstens 500 schwedische Kronen (RB 9 : 9 ) . Neben der bereits erwähnten nach RB 12 :5 gegebenen Möglichkeit 70 , einen gewählten Verteidiger von der Hauptverhandlung auszuschließen, ist damit dem schwedischen Gericht eine stärkere Ordnungsgewalt gegeben als dem Richter in der Bundesre67
Dillén S . 6 7 f . Die A u f r e c h t e r h a l t u n g der O r d n u n g im Gerichtssaal u n d die Sachleitung obliegt d e m Vorsitzenden. N a c h mir von schwedischen Richtern erteilter A u s k u n f t w ü r d e allerdings einem A n t r a g eines Verteidigers auf U b e r p r ü f u n g einer O r d n u n g s m a ß n a h m e des Vorsitzenden mit der Folge stattgegeben werden, daß das Gericht die Zulässigkeit der getroffenen Maßnahme überprüft. 68
69
Dies haben m i r schwedische Richter bestätigt. Allerdings soll es in Schweden sehr selten v o r k o m m e n , daß ein A n w a l t sich derart ungebührlich vor Gericht a u f f ü h r t , daß zu den nach RB 9 : 5 u n d 12 : 5 gegebenen Sanktionen gegriffen werden m u ß . 70 S. o. zu A n m . 29.
Ankläger und Verteidiger im schwedischen Strafprozeß
359
publik Deutschland. Auch gegenüber dem öffentlichen Verteidiger ist die Stellung des Gerichts stärker, da seine Beiordnung bei Vorliegen triftiger Gründe vom Gericht widerrufen werden kann; das Gesetz steht einer Anwendung dieser Vorschrift auch während der Hauptverhandlung nicht entgegen. 3.
Mehrfachverteidigung
Mehrere Beschuldigte können einen gemeinsamen - auch öffentlichen - Verteidiger haben, soweit eine Interessenkollision nicht zu befürchten ist; von einer solchen ist das Gericht zu unterrichten, das dann den Verteidiger abberufen und einen anderen öffentlichen Verteidiger bestellen oder einen Beschuldigten auffordern wird, sich einen anderen Verteidiger zu wählen71. Eine Begrenzung der Zahl der Verteidiger für einen Beschuldigten kennt das schwedische Recht nicht.
Schlußbemerkung Die Stellung von Ankläger und Verteidiger ist im schwedischen Strafverfahren anders ausgestaltet als im deutschen Recht, wobei hinsichtlich des Anklägers der Unterschied stärker im organisatorischen Bereich, hinsichtlich des Verteidigers stärker in der Stellung im Ermittlungsverfahren hervortritt. Welche der beiden Rechtsordnungen letztlich den Zielen eines rechtsstaatlichen Verfahrens besser gerecht wird, konnte hier nicht untersucht werden. Dies kann auch nicht durch einen bloßen Vergleich gesetzlicher Vorschriften festgestellt werden, sondern es bedarf dazu auch umfangreicher rechtssoziologischer Untersuchungen, vor allem auch zur Einstellung der Verfahrensbeteiligten zu den jeweiligen Verfahrensrechten und rechtlichen Grundwerten. Hier dürfte man möglicherweise zu dem Ergebnis kommen, daß der allgemeine Consensus in den entscheidenden Fragen des Rechtsstaats in Schweden größer ist als in der Bundesrepublik Deutschland. Vielleicht ist die Äußerung eines schwedischen Richters in einem zu Fragen des Strafverfahrens geführten Briefwechsel zutreffend: „Sverige är nog alltjämt i mânga avseenden en idyll, jämfört med continenten..
Olivecrona S.97, Ekelöf II S.88, Broschüre des BJM S. 11. „Schweden ist immer noch in vieler Hinsicht ein Idyll, verglichen mit dem Kontinent. . . " 71 72
Die Beurteilung der Schuldfähigkeit bei nicht-stoffgebundenen Abhängigkeiten (Spielleidenschaft, Fetischismen, Hörigkeit)
WILLI
SCHUMACHER
Die zunehmende Beachtung des Schuldprinzips im Strafprozeß hat dazu geführt, daß der Kreis der seelischen Auffälligkeiten, die unter dem Aspekt einer möglichen Einschränkung oder Aufhebung der Schuld zu prüfen sind, an Umfang ständig zunimmt. Auf der anderen Seite ist zu beobachten, daß die zunehmende Psychologisierung der verschiedenen Lebensbereiche es mit sich gebracht hat, in jedem abartigen Täterverhalten krankhafte oder krankheitswertige Züge zu vermuten. Dies insbesondere aus dem Blickwinkel der Verteidigung. Auf diesem Hintergrund sieht sich der forensische Psychiater einer steigenden Anzahl von Fragen gegenüber, deren gutachtliche Klärung von den Prozeßbeteiligten verlangt wird1. Eine gewisse Neuartigkeit der Fragestellung ist hierbei im Hinblick auf den Kreis der süchtigen Verhaltensweisen festzustellen. Kriminelles Verhalten, das den Charakter des Dranghaften trägt und von daher eine gewisse Triebähnlichkeit oder Triebnähe aufweist, läßt die Frage aufwerfen, ob nicht hier ein süchtiges Verhalten vorliege, das ebenso zu privilegieren sei wie etwa ein Tathandeln im Rahmen der Beschaffungs- oder Konsumkriminalität bei echt stoffgebundenen Abhängigkeiten. Diese Thematik angestoßen hatte H. Giese mit seinem Begriff des süchtigen Sexualverhaltens2. Soweit erkennbar, hat Giese als erster den Suchtbegriff von der bis dahin engen, zumeist sogar spezifisch gemeinten Stoffgebundenheit losgelöst und auf stoffungebundenes Verhalten, zunächst das Sexualverhalten, ausgedehnt. An einer Reihe eindrucksvoller Fälle, entwickelte Giese bestimmte Kriterien, die ein sexuell-süchtiges Verhalten von einer bloßen sexuellen Deviation oder einem 1 So beauftragte z . B . das Amtsgericht Mainz in einem Verfahren 9 Js 18689/79 22 Ds den Verfasser, gutachtlich zu klären, ob die „Einlassung des Angeklagten, er habe ausgesprochene Selbstbestrafungstendenzen, begehe Straftaten, um sich selbst zu bestrafen und trinke auch deshalb Alkohol" zutreffend seien. 2 H. Giese, Psychopathologie der Sexualität, Stuttgart, 1962. Die Ausweitung erfolgte u. a. im Rückgriff auf die von v. Gebsattel zum Thema Sucht aus psychiatrisch-anthropologischer Sicht gemachten Ausführungen. V. v. Gebsattel, Prolegomena einer medizinischen Anthropologie, Berlin 1954. Unter forensischen Aspekten wurde zu dieser Ausweitung des Sucht- bzw. Abhängigkeitsbegriffes auch auf sexuelle Verhaltensweisen vielfach kritisch Stellung genommen. So u. a. P. H. Bresser, Gerichtliche Psychiatrie, 4. Aufl., Berlin, New York 1976, S.225, ebenso J.E. Meyer, Nervenarzt 45, 223. 1974.
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Willi Schumacher
sexuellen Fehlverhalten abgrenzen sollten3. In bezug auf die Indikation zur freiwilligen Kastration bzw. Antiandrogenbehandlung sexueller Hangtäter haben sich diese Kriterien weiterhin durchgesetzt. Aber auch in bezug auf die Frage der Schuldfähigkeit ist man, zumindest in einigen Obergerichtsentscheidungen, Giese und seiner Argumentation gefolgt4. Die forensische Bedeutung dieser Ausweitung, die sich anfänglich mehr als eine Frage des Ubertragens von Begriffen von einem Gebiet auf ein anderes darstellte, wurde zunächst kaum erkannt 5 . In der jüngsten Entwicklung sieht sich der psychiatrische Sachverständige indes zunehmend häufiger vor die Aufgabe gestellt, die Frage der nicht stoffgebundenen Süchtigkeit - oder, wie man heute sagt, Abhängigkeit - bei Straftätern zu beurteilen und zum Problem einer eventuell hieraus sich ergebenden Minderung oder gar Aufhebung der Schuldfähigkeit gutachtlich Stellung zu nehmen. In einem Verfahren, das 1978 vor einer Strafkammer des Landgerichts Frankfurt/M. verhandelt wurde 6 , ging es darum, den psychischen Zustand eines Angeklagten zu beurteilen, der nach dem Vorbringen der Verteidigung einer Spielleidenschaft mit Suchtcharakter erlegen sei. Zur Befriedigung seiner Abhängigkeit vom Kartenspielen hatte er schwere kriminelle Handlungen im Sinne mehrfacher räuberischer Erpressungen begangen. Innerhalb von 6 Monaten hatte der Angeklagte dreimal die Filiale einer Frankfurter Bank überfallen und hierbei Beträge von insgesamt 72 000 D M erbeutet. Die Geldmittel habe er jeweils sofort zum Kartenspiel bzw. zur Abdeckung von Spielschulden verwendet. Nach sorgfältigen Untersuchungen gelangte 3 Giese a . a . O . (Fn.2) hatte im wesentlichen folgende Merkmale genannt: Der Verfall an die Sinnlichkeit, eine zunehmende Frequenz der Handlung bei abnehmender Triebbefriedigung, das wachsende Bedürfnis zur lustvollen Betätigung bei gleichzeitiger Hinentwicklung zur Anonymität und Promiskuität, der zunehmende Ausbau der perversen Phantasien in Richtung immer raffinierterer Arrangements. Das Auftreten körperlich vegetativer Sensationen beim Ausbleiben der Betätigung, die dranghafte Unruhe bei Verhinderung ihrer Durchführung. 4
N J W 1970, 524-527. H. "Witter bemerkt allerdings (HdB d. Forensischen Psychiatrie II, Berlin, Heidelberg, N e w York 1972, S. 1072): „Suchtähnliche psychologische Entwicklungen sind nicht etwa nur eine Besonderheit der sexuellen Perversionen. Sie kommen im Bereich aller Triebphänomene vor und stellen darüber hinaus ein ubiquitäres psychologisches Verlaufsprinzip dar, welches auch ganz außerhalb der Sexualität beobachtet werden kann. . . . psychologisch unterscheidet sich beispielsweise die Getriebenheit des dem Glücksspiel Verfallenen in seiner existentiellen Bedeutsamkeit nicht von der suchtähnlichen sexuellen Triebentgleisung. In sublimeren geistigen Ebenen findet man vergleichbare Persönlichkeitsentwicklungen bei der Ausbildung von überwertigen Ideen, die sich in progressiven, sensitiven und expansiven abnormen Persönlichkeitsentwicklungen entfalten und alle Kriterien einer suchtähnlichen psychopathologischen Verlaufsform zeigen." ' Az. 72 Js 262/77 LG Ffm. 5
Schuldfähigkeit bei nicht-stoffgebundenen Abhängigkeiten
363
der Sachverständige zu der Feststellung, daß psychiatrischerseits die Voraussetzungen zur Anwendung des § 2 1 S t G B nicht mit der dazu erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden könnten 7 . In einem anderen, ebenfalls beim Landgericht Frankfurt/M. angängigen Verfahren 8 , wird einem früheren Buchhalter zur Last gelegt, in einem Zeitraum von 1972 bis 1976 insgesamt 820 000 D M veruntreut zu haben. Der gleiche Angeklagte war in einem früheren Verfahren' bereits wegen Veruntreuung von insgesamt 450 000 D M verurteilt worden. Der Angeklagte trägt vor, daß er von frühester Jugend an und später in immer ausgeprägterem Maße der Leidenschaft erlegen sei, mit Frauen Umgang zu haben, die mit Strapsen bekleidet seien. Bei völligem Fehlen oder doch weitgehender Ausblendung normaler sexueller Interessen habe ein übermächtiger Drang in ihm bestanden, Frauen dazu zu bringen, sich Strapsen anzuziehen und sich in diesem Zustand von ihm betrachten und berühren zu lassen. Der Gedanke an Strapsen, genauer gesagt, an jenen Bereich der O b e r schenkel, der von Strapsen und dem oberen Strumpfrand umgrenzt werde, habe ihn völlig ausgefüllt. Er habe an nichts anderes mehr denken können. O f t habe es schon genügt, sich in Gesellschaft einer Frau zu befinden, von der er gewußt habe, daß sie Strapsen trage. Den größten Teil des veruntreuten Geldes habe er für diese Leidenschaft verbraucht. Auch in diesem Falle, der deskriptiv der Gruppe der Bekleidungsfetischismen zuzuordnen wäre, wurde seitens der Verteidigung die Frage des Suchtcharakters im Sinne einer nicht-stoffgebundenen Abhängigkeit aufgeworfen. Im Hintergrund steht auch hier das Problem einer möglichen Schuldminderung oder gar Schuldaufhebung. An diesen wenigen Beispielen mag die Bedeutung der nicht-stoffgebundenen Abhängigkeiten auch in ihren forensischen Aspekten erkennbar werden 10 . Immer häufiger wird bei Straftaten, die die Merkmale des 7 Auf Seite 18 des Gutachtens v o m 1 0 . 2 . 1 9 7 8 zu 72 Js 2 6 2 / 7 7 wird u. a. ausgeführt: „Dies bedeutet zwar nicht, daß H e r r S. die Kontrolle über sein Verhalten völlig verlor, es läßt uns andererseits mit letzter Sicherheit nicht ausschließen, daß die Zahl seiner Freiheitsgrade für solche Handlungen, die aus seiner Spielleidenschaft unmittelbar heraus verstehbar sind, eingschränkt war. In einem solchen Sinne wäre die Spielleidenschaft des Beschuldigten dann als schwere andere seelische Abartigkeit aufzufassen, die Herrn S. in seiner Fähigkeit, gemäß vorhandener Unrechtseinsicht zu handeln, möglicherweise erheblich verminderte, so daß die Voraussetzungen zur Anwendung der Bestimmungen des § 2 1 Strafgesetzbuch mit letzter Sicherln. it jedenfalls nicht ausgeschlossen werden können." 8 10
9 23 Js 3 0 4 / 6 9 . 2 Js 1434/76. In einem etwas anderen Zusammenhang untersuchen B. Pauleikhoff
und D.
Hoff-
mann (Fortschr. Neurol. Psychiat. 43, 254, 1975) das - nach Meinung der Autoren nosologisch abgrenzbare Syndrom der „Diebstähle ohne Bereicherungstendenz". Kritisch hierzu P.H. Bresser, Fortschr. Neurol. Psychiat. 47, 617, 1979.
364
Willi Schumacher
dranghaft Sich-Wiederholenden zeigen, die Frage gestellt, ob hierbei der Charakter einer Süchtigkeit oder Abhängigkeit besteht und wenn ja, welche Konsequenzen sich daraus für das Problem der Schuld ergeben. In der Zukunft wird sich möglicherweise bei jedem lustbetonten menschlichen Verhalten, das diese Merkmale erkennen läßt und zu Normverletzungen führte, die Frage der Abhängigkeit und von daher der Schuldeinschränkung stellen. Dem forensischen Psychiater fällt dabei die Aufgabe zu, Kriterien anzugeben, die dem Richter bei der Beurteilung der inneren Situation eines solchen Täters helfen können. Im folgenden seien einige dieser Gesichtspunkte zur Diskussion gestellt. Wenn speziell unter forensischen Aspekten von Sucht oder Abhängigkeit die Rede ist, dann deshalb, um darzutun, daß die Freiheitsgrade des davon Betroffenen aufgehoben oder doch erheblich eingeschränkt waren. Ohne auf das differenzierte Feld der stoffgebundenen Abhängigkeiten und insbesondere der Definition dessen, was mit den Begriffen Sucht, Süchtigkeit oder Abhängigkeit gemeint ist, eingehen zu müssen, läßt sich für di e forensische Seite des Problems feststellen, daß gleichgültig ob Stoff- oder nicht-stoffgebunden, dann von Abhängigkeit oder Sucht gesprochen wird, wenn es zu einer Einschränkung von Handlungsfreiräumen bzw. positiv ausgedrückt zum Zwang des Sich-Zuführens bestimmter Mittel bzw. - bei nicht-stoffgebundenen Formen - zur Vornahme bestimmter Handlungen gekommen ist. Je mehr die Möglichkeiten zu einer Steuerung, zu einem inneren „Wenn und Aber-Denken" verlorengegangen ist, desto mehr wird man von Abhängigkeit oder Sucht sprechen können. Als Kriterien für einen solchen Zustand hatte man immer schon das Angewiesensein auf ein bestimmtes Mittel, dessen Uberwertigkeit für den Betroffenen, der ansteigende Konsum und das Auftreten von physischen und psychischen Entzugserscheinungen nach Absetzen des Mittels genannt. Eben diese Kriterien übertrug Giese auch auf bestimmte sexuelle Verhaltensstörungen, um auch diesen damit den Charakter der Süchtigkeit oder Abhängigkeit zuzusprechen. N u r dann, wenn sich bei sexuell Devianten diese Merkmale nachweisen ließen, sei von süchtigem oder abhängigem Verhalten zu sprechen. Es liegt nun nahe, diese Kriterien auf alle Fälle nicht-stoffgebundener Abhängigkeiten auszudehnen und sie zur Beurteilungsgrundlage für die Frage der Handlungsfreiheit und damit der Schuldfähigkeit zu machen 11 . Folgt man diesem Gedanken, so wird zunächst festzustellen sein, daß bei allen nicht11 Die Frage der Schuldfähigkeit, um die es hier geht und die in der Praxis hinter all diesen Überlegungen zumeist im Vordergrund steht, hatte Giese ursprünglich nicht oder nur indirekt behandelt. Ihm ging es zunächst mehr um das Problem der Rechtfertigung zur Durchführung eines derart verstümmelnden und irreversiblen Eingriffs wie den der Kastration.
Schuldfähigkeit bei nicht-stoffgebundenen Abhängigkeiten
365
stoffgebundenen Abhängigkeiten allein psychologische und nicht auch toxikologische Momente eine Rolle spielen. Bei den stoffgebundenen Formen besteht ja die schwierige Frage immer darin, abzuschätzen, was als Folge der psychologischen Seite, etwa der primären Suchtstruktur, zu werten und was der physisch-toxischen Langzeitwirkung des Stoffes zuzuschreiben ist. Wenn man im übertragenen Sinne auch von der „Droge Roulett oder Kartenspiel" oder der „Droge Sexualität" sprechen kann, so ist doch nicht zu verkennen, daß es sich hier ausschließlich um psychische Erscheinungen und nicht um Stoffwirkungen handelt. Bekanntlich werden ab einem gewissen Stadium einer Stoffabhängigkeit die toxischen Einflüsse bestimmend für den Ablauf des Geschehens, auch was die forensische Seite betrifft. Besonders deutlich wird dies bei Opiatabhängigen sichtbar. Hinsichtlich der nicht-stoffgebundenen Formen engt sich damit die Problematik ein auf die Frage, welche psychologischen Kriterien es gibt, die für eine Abhängigkeit sprechen und welche Relevanz diese für die Frage der Schuldfähigkeit haben. Eine Analyse der dem bisherigen Erfahrungskreis zugänglichen Fälle läßt/««/Kriterien herausstellen, die auch bei nicht-stoffgebundenen Formen den Charakter einer Sucht begründen können. Dabei ist festzustellen, daß grundsätzlich jedes lustbetonte menschliche Verhalten nach Wiederholung drängt und potentiell auch süchtig entarten kann. In diesem übertragenen Sinne läßt sich dann auch vom Drogencharakter einer bestimmten Verhaltensweise sprechen. Unter forensischen Aspekten spielen praktisch jedoch nur wenige Formen eine Rolle. Neben gewissen Erscheinungen eines lustbetonten Stehlens und bestimmten Handlungszwängen, die zum Kreis der fetischistischen Störungen gehören, ist es vor allem die Spielleidenschaft, die zur Sucht entarten und dann auch strafrechtlich in Erscheinung treten kann. Eine weitere Gruppe von Auffälligkeiten, die - worauf noch einzugehen sein wird - ihrem Aufbau und ihrem Erscheinen nach den hier betrachteten Verhaltensstörungen zuzurechnen sind, stellen bestimmte Formen süchtig entarteter Sexualbetätigung dar. Gemeint sind jene Störungen, die unter dem Begriff der sexuellen Abhängigkeit oder Hörigkeit zusammengefaßt werden. Ihre kriminogene Bedeutung ist deshalb nicht gering, weil sie mit einer gewissen Häufigkeit im Rahmen der Tötungsdelinquenz eine Rolle spielen und dann regelmäßig zur Prüfung der Schuldfähigkeit Anlaß geben. Als führende Merkmale für eine Abhängigkeit lassen sich die folgenden Kriterien angeben, wobei diese natürlich nicht immer vollzählig vorhanden sein müssen. 1. Der Symptomcharakter eines Verhaltens. D.h. der Aufbau der Störung gleicht dem eines neurotischen Symptoms (Unerwehrbarkeit, Persönlichkeitsuneingebundenheit etc.).
366
Willi Schumacher
2. Der Wiederholungszwang. Ebenfalls wie bei neurotischen Symptombildungen ist ein zwanghaftes Sich-Wiederholen der Verhaltensauffälligkeit beobachtbar. 3. Das Merkmal der Progredienz, d. h. mit fortschreitender Entwicklung ist eine zunehmende Intensität des Verhaltens, ein Stärkerwerden der inneren Anteilnahme und Bedeutung sowie eine Zunahme der zeitlichen Ausdehnung, die hierfür aufgewendet wird, zu erkennen. 4. Eine Entdifferenzierung der Persönlichkeit. Es ist eine zunehmende Einengung aller sozialen Bezüge, ein Verlust an Interessen, soweit sie außerhalb des dranghaft angestrebten Betätigungsfeldes (ζ. B. Kartenoder Roulettspielen) liegen, zu beobachten. In ausgeprägten Fällen läßt sich hierbei von einer Art sozialer Defektbildung sprechen. 5. Das Auftreten von psychischen, u. U . auch physischen Entzugserscheinungen bei Hinderung an bzw. bei Nicht-Ausführen-Können der angestrebten Betätigung. Im Hinblick auf ihre forensische Bedeutung seien diese Merkmale noch etwas näher untersucht. Im Hintergrund mag dabei der Fall eines süchtigen entarteten Spielers stehen, eines Menschen, der der Spielleidenschaft mit Ausschließlichkeit verfallen ist12. Unter dem Aspekt der Minderung der Fähigkeit zur Steuerung und Selbstbestimmung erscheint das Merkmal der Symptomwertigkeit von besonderem Gewicht. Im Hinblick auf forensische Fragen ist dies das führende Merkmal. Bei echten Abhängigkeiten ist die Störung aufgebaut in Art einer neurotischen Symptombildung, spezieller noch: in Art eines Zwangssymptoms. Solche Störungen treten bekanntlich auf mit dem Charakter der Abgespaltenheit, der Persönlichkeitsfremdheit, der Unerwehrbarkeit, des Starr-Automatischen und Ständig-Sich-Wiederholenden in entsprechenden Versuchungs- oder Versagungssituationen 13 . Wenn also - um ein gegenteiliges Beispiel zu nennen - ein Spieler zwar mit Engagement, vielleicht auch mit Leidenschaft spielt, dennoch sein Verhalten erkennbar auszurichten vermag nach den Erfordernissen der Realität, nach situativen Gegebenheiten, nach der Plazierung des Verhaltens im Gesamtfeld des Vorgegebenen, wird man nicht von Symptomhaftigkeit und damit auch nicht von erheblicher Einschränkung der Handlungfrei12 Psychologisch anschaulich beschrieben in der Figur des Spielers in F. M. Dostojewskys gleichnamigem Roman. 13 Hierzu z . B . R. Waelder, 1963, S . 4 3 : Patienten mit neurotischen Symptomen haben Gefühle, Ängste, Gedanken und Impulse, oder begehen Handlungen, die sie als ich-fremd empfinden, die sie aber trotzdem fühlen, denken oder tun müssen, wie ζ. B. Zwangsgedanken und Zwangsimpulse oder private Rituale, die ein Mensch befolgen muß, obgleich er sie als sinnlos erkennt.
Schuldfälligkeit bei nicht-stoffgebundenen Abhängigkeiten
367
heit sprechen können. Erst die Zwanghaftigkeit, das Nicht-mehr-vomIch-Beeinflußbare, die Eigengesetzlichkeit und Automatik, mit der das Geschehen abläuft, indiziert den Symptom- und damit den Suchtcharakter eines Verhaltens. Entscheidend ist die Beteiligung des Ich am Ablauf des Geschehens. Sie ist abschätzbar an der Art der Eingefügtheit des Verhaltens in das Gesamtfeld der sozialen Rücksichten und Erfordernissen sowie der Eingebundenheit in die auch sonst typischen Handlungsmuster der Persönlichkeit. Umgekehrt kennzeichnet sich die Symptomhaftigkeit eines Verhaltens an der Eigenständigkeit und Uneingebundenheit in die sonstigen als maßgebend empfundenen Wert- und Handlungsnormen der Persönlichkeit. Hinzu kommt die Sexualisierung oder Triebgeladenheit des Symptoms. D . h . der Vollzug der isoliert und abgespalten ablaufenden Handlungssequenzen ist lustbetont. Er ist dranghaft und nach Abfuhr verlangend. Die neutralisierenden und sublimierenden Kräfte des Ich vermögen die Symptombildung nicht mehr zu erfassen. Dabei kann der Lustcharakter - wie auch bei stoffgebundenen Abhängigkeiten - mit der Zeit abnehmen, wobei der Drang nach immer weiterer und ausgedehnterer Betätigung zunimmt (zunehmende Frequenz bei abnehmender Triebbefriedigung). Die hier genannten Merkmale zielen darauf ab, dann - und nur dann von Abhängigkeit zu sprechen, wenn sich die inkriminierten Verhaltensteile als neurotische Symptombildungen festmachen lassen. Die subjektiven Schilderungen von Abhängigen belegen diese Auffassung deutlich. So wird von einem übermächtigen Geschehen gesprochen, vom einzigen Sinnen und Trachten, dem man dann, wenn es auftrete, keinen Widerstand entgegenzusetzen vermöchte. Die Ausschließlichkeit und Uberwertigkeit des Geschehens wird in allen Fällen betont. Kommt es zu kriminellen Handlungen, so läßt sich übrigens - wie auch bei stoffgebundenen Abhängigkeiten - zwischen Beschaffungskriminalität und Konsumkriminalität unterscheiden. Geht es - wie im Falle des süchtig entarteten Spielers - darum, Geldmittel zu erlangen, um der Abhängigkeit zu frönen, so hätte man, wie bei Rauschmittelabhängigen, den Typus der Beschaffungskriminalität vor sich. Bei Tathandlungen im Sinne des § 2 8 4 a S t G B , des süchtig entarteten Glücksspielens also, könnte man von konsumativer Kriminalität sprechen. Das Merkmal des zwanghaften Wiederholens der Handlung bedarf keiner weiteren Erörterung. Es ist charakteristisch für neurotische Symptombildungen etwa im Sinne von Zwangsdenken, Zwangsimpulsen und Zwangshandeln. Es ist ebenso charakteristisch für die hier gemeinten Verhaltensstörungen vom Typus der nichtstoffgebundenen Abhängigkeiten. Bedeutsam erscheint auch das Merkmal der Progredienz. So nimmt das suchtartige Geschehen - obwohl in den meisten Fällen als
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Willi Schumacher
störend und persönlichkeitsfremd empfunden - allmählich das gesamte Erlebnisfeld ein. Es kommt zu einer Ausfüllung aller Gedanken, einer Hinordnung und Unterordnung aller Erlebnisvollzüge unter die Herrschaft des Symptoms. Alle anderen Bezüge, Familie, Beruf etc., werden in ihrer Bedeutung relativiert und schließlich mehr und mehr randständig14. Dies auch was den zeitlichen Aufwand betrifft. Ahnlich wie bei schweren Zwangsneurosen kommt es zu einem Ubermächtigwerden des Symptoms, das zugleich erlebt wird als etwas Fremdes, Krebsartiges, das mehr und mehr Besitz ergreift. Ein schließlich imperatives VollziehenMüssen des ursprünglich lustbetonten, später mit immer weniger Befriedigung erlebten Symptoms ist typisch 15 . Auch hier zeigt der Vergleich mit stoffgebundenen Abhängigkeiten eine auffallende Ähnlichkeit. Auch bei stoffgebundenen Formen, ζ. B. dem Alkoholismus, kommt es fast regelmäßig zur Ausweitung des Konsums mit Unterordnung schließlich aller Lebensvollzüge unter die Herrschaft des Suchtmittels. Das Merkmal der Entdifferenzierung der Persönlichkeit ist gleichfalls in hohem Maße charakteristisch für die Entwicklung süchtiger Verläufe. Es kommt zur Einebnung und Verarmung des Interessenfeldes, zum Abschleifen aller individuellen, vielleicht früher einmal hochdifferenziert ausgefaltet gewesener Persönlichkeitszüge. Die Welt des Betroffenen schrumpft mehr und mehr zusammen, bis sie schließlich im Suchtmittel und dessen Beschaffung ihren einzigen Inhalt findet. Ähnlich gewissen Endzuständen bei Geisteskrankheiten kann man auch hier von Defektbildungen, in diesem Falle sozialen Defektbildungen, sprechen. Auch finden sich die typischen Unlusterscheinungen bei Verhinderung des angestrebten Verhaltens. Wie beim Entzug des Suchtmittels kann es neben psychischen Wirkungen auch hier zu vegetativ-physischen Auffälligkeiten (Schwitzen,
14 Hierzu treffend: J. Zutt, 1975 S. 1/41 : „Die Eigenart der Sucht besteht ja darin, daß sie die Periodik des Genusses auf ein Minimum oder besser, auf ein Continuum zu bringen sucht. Damit verflachen sich die A u s s c h l ä g e . . . Der verwahrloste Süchtige ist zu einem wahrhaften Rausch, einem festlichen E x z e ß oder einer festlichen Ekstase gar nicht mehr fähig. F ü r den Zustand des süchtigen Trinkers ist die richtige Bezeichnung „er sei betrunken". Betrunkenheit ist aber etwas anderes als Trunkenheit oder B e r a u s c h t h e i t . . . Versuchen wir das Wesen der Sucht zur Anschauung und zur Sprache zu bringen, so wie wir das Wesen des Rausches als E x z e ß oder als Ekstase zur Sprache gebracht haben, so ist daran - an der Sucht - nichts v o m Wagnis, das in den Räuschen sich ereignet und verwirklicht, sondern ein dauernder Freiheitsverlust, ein Verfallensein, am besten zum erfassen im Bilde des Versumpftseins. Der Süchtige ist in Sumpf geraten. E r watet im Sumpf. Aus eigener Kraft kann er sich nicht befreien." 15 Teilweise läßt sich dies zurückführen auf die - offenbar physiologisch bedingte Tatsache, daß die Schwelle der euphorisierenden Wirkung steigt, während die der Berauschtheit sinkt. A b einem gewissen Stadium gelangt ein solchermaßen Süchtiger nur noch bis zum Stadium der Berauschtheit, dann meistens der Dauerräusche. Das angestrebte lustvoll-euphorische Erleben als Zustand wird kaum noch erreicht.
Schuldfähigkeit bei nicht-stoffgebundenen Abhängigkeiten
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Zittern) kommen". Es wird über das Auftreten unerträglicher Drangzustände, starker innerer Unruhe sowie über ein mit hoher Unlust erlebtes Suchtverhalten berichtet. Man kann sich fragen, inwieweit diejenigen Erscheinungsweisen, die man als sexuelle Hörigkeit zusammenfaßt, hierher gehören. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß auch hier ein Suchtcharakter vorliegen kann, und zwar erkennbar an eben den hier genannten Kriterien. Das fixierte Sexualobjekt hat gewissermaßen Drogencharakter angenommen. Im Sinne der Progredienz ist es zu einem Verfall an die Sinnlichkeit gekommen. Auch die übrigen Merkmale bis hin zum Auftreten von Entzugserscheinungen mit Unruhe, Drang, Suchverhalten usw. sind vorfindbar. Wichtig ist auch die Feststellung, daß derartige - wie man paradoxerweise sagen könnte - sexualisierte Sexualbeziehungen Symptomcharakter tragen. D . h. auch sie sind aufgebaut in Art einer neurotischen Symptombildung, fast vom Typus der Zwangshandlungen. Isoliert und unintegriert steht das süchtige Erleben da wie ein verselbständigter, vom übrigen Ich abgetrennter neurotischer Symptomenkomplex 17 . A m treffendsten sind die hier gemeinten Verhältnisse vielleicht dargestellt in der Figur des Prof. Unrat in Heinrich Mann's gleichnamigem Roman. Die genannten, wenn im einzelnen auch nur skizzenhaft ausgeführten Merkmale können, wie gesagt, als Indizien gelten für den Sucht- oder Abhängigkeitscharakter eines bestimmten Verhaltens. Je deutlicher diese Kriterien hervortreten, d. h. je imperativer, starrer und automatischer ein solches Verhalten abläuft, desto mehr läßt sich von echter Abhängigkeit sprechen. Entsprechend eingeengt sind die Freiräume des Handelns, die Fähigkeiten zum Widerstand und Entgegensteuern. Umgekehrt läßt sich sagen, daß je persönlichkeitseingebundener ein Verhalten ist, je mehr die organisierenden und integrierenden Einflüsse des Ich zur Geltung kommen, desto weniger wird man von Abhängigkeit und Sucht sprechen können. Entlang dieser Indizienlinie ist auch die forensische Wertung abzustekken. Im ausgeprägten Falle wird man einem so entarteten Verhalten Krankheitswert zusprechen. Bei hieraus erfließenden kriminellen Handlungen würde man keine Bedenken tragen, sie im Sinne der vierten Alternative der §§20 und 21 StGB als schwere andere seelische Abartig-
16 D i e auffallenden Parallelen zwischen stoffgebundenen und stoffungebundenen Suchtformen, besonders auch, was die Erscheinungen beim Entzug anbetrifft, weisen auf die hohe Bedeutung gemeinsamer psychologischer Mechanismen hin. Offenbar ist die süchtige Entartung in ihren verschiedenen Erscheinungsformen primär ein psychisches und weniger ein von physisch-toxischen Vorgängen bestimmtes Geschehen (wie gelegentlich angenommen). 17
Näher hierzu: W. Schumacher,
1971 S.186, Psyche 3, 161-191.
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keiten zu bezeichnen. In der Regel wäre eine erhebliche Einschränkung der Steuerungsfähigkeit - wohl kaum je der Einsicht - anzunehmen. Diese Bewertung stützt sich auf die Tatsache, daß, wie beim Ablauf neurotischer Symptome, die Eingriffs- und Steuerungsmöglichkeiten des Ich gering, im Falle eines völlig vom Ich losgelösten Handlungsautomatismus sogar gleich null sind. In der Praxis wird man jedoch nur selten zum letzteren Ergebnis kommen. Speziell bei den stoffungebundenen Formen ist der Grad der Vertrieblichung eines Symptomenkomplexes in aller Regel nicht so hoch, daß von einer völligen Ausblendung der Möglichkeiten zum Entgegensteuern (entsprechend §20 StGB) auszugehen wäre. Vielfach jedoch wird eine auch erhebliche Einschränkung (§21 StGB) vorliegen. Dies gilt in gleichem Maße wie die o. gen. Kriterien hervortreten. Sie erlauben den Grad der Einschränkung der Handlungsalternativen und damit der Schuldfähigkeit abzuschätzen. Die für die forensische Praxis wichtigen Merkmale lassen sich in folgende Punkte zusammenfassen: 1. Zu prüfen ist die Frage, inwieweit die inkriminierte Handlung vom Ich abgespalten oder hierin eingebunden ist (Symptom versus Struktur). Wenn z.B. das Spielen oder das Sich-unrechtmäßig-Geld-hierfürBeschaffen Ausdruck einer allgemeinen Verwahrlosung ist, wenn sich bezogen auf die Gesamtpersönlichkeit - die Handlungsweise als struktureingebunden und damit persönlichkeitstypisch darstellt, wird man nicht von Symptomcharakter und damit auch nicht ohne weiteres von Steuerungsunfähigkeit oder -einschränkung sprechen können. Das gleiche gilt für das Problem der Hörigkeit. Handelt es sich hierbei um ein Verhalten, das sich als Teil eines allgemeinen sexuellen Vagierens darstellt, also nicht abgespalten von einer ansonsten andersartig beschaffenen Persönlichkeit dasteht, wird man weniger an isoliert ablaufende Geschehnisse außerhalb des potentiellen Steuerungsraumes des Ich denken. Es ist eher umgekehrt so, daß Menschen mit echt süchtigen Verhaltensweisen (Spielbesessene, Hörige etc.) in ihrer übrigen Persönlichkeit gerade nicht verwahrlost, willensschwach, bequem, sexuell umtriebig oder dergl. sind. Eben hieran wird ja der Symptomcharakter einer Verhaltensstörung deutlich. Das genannte Merkmal der Progredienz steht hierzu nicht im Gegensatz. Wenn beispielsweise auch die Figur des Prof. Unrat schließlich restlos in Abhängigkeit geriet, seine frühere Differenziertheit sich mehr und mehr einebnete, so bleibt dennoch eine deutliche Fremdheit und Unstimmigkeit zu den Grundmustern seiner Persönlichkeit spürbar. Ist m. a. W. die infrage stehende Handlung Teil einer allgemeinen Verwahrlosungsstruktur, steht das Geldbeschaffen im Dienst einer Bequemlichkeit, ist die sexuelle Verhaltensstörung Ausdruck einer allgemeinen Triebhaftigkeit, so wird die Annahme einer
Schuldfähigkeit bei nicht-stoffgebundenen Abhängigkeiten
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Abhängigkeit und damit einer Schuldeinschränkung fraglich, wenn nicht eher unwahrscheinlich' 8 . 2. Ein weiterer Gesichtspunkt ist der der Unmittelbarkeit des Handelns. Die Zwang- und Dranghaftigkeit eines echt Süchtigen läßt diesem keinen Raum für zwischengeschaltete Überlegungen. Das innere Wägen, das Wenn-und-Aber-Denken, die Prüfung von Gefahr und Risiko, dies alles sind Zeichen einer ich-gesteuerten Handlungsweise. Das von Sucht und Zwanghaftigkeit bestimmte Handeln läuft impulshaft, meist wider alle Vernunft und auch sofort ab. 3. Bei Beschaffungsdelikten, z . B . im Falle des eingangs erwähnten Spielers, besteht ein weiteres, für die forensische Bewertung wichtiges Merkmal im Gesichtspunkt der Ausschließlichkeit der Geldverwertung. Bei Abhängigen wird das Geld sofort und ausschließlich für die Betätigung der dranghaft angestrebten Handlung verwendet. Es fehlen alle sonstigen Bereicherungsmotive. Die Verhältnisse liegen hier ähnlich wie bei der Beschaffungskriminalität im Rahmen stoffgebundener Abhängigkeiten (z.B. Drogenabhängigen) 19 . Die hier genannten Merkmale mögen genügen, um im konkreten Falle als Anhalt zu dienen für die Beurteilung derjenigen delinquenten Verhaltensweisen, für die der Charakter der Süchtigkeit und damit der Schuldeinschränkung oder gar -aufhebung in Anspruch genommen wird. Daß es stoffungebundene Formen von Abhängigkeit und Sucht gibt, die auch zu einer erheblichen Einschränkung der Schuldfähigkeit (ausnahmsweise vielleicht auch einmal der Schuldunfähigkeit) führen können, steht außer Zweifel. Es ist Aufgabe des Psychiaters - und dieser Aufgabe sollten die hier gemachten Überlegungen dienen - Kriterien zu entwickeln, die dem Richter helfen können, im Einzelfalle das Ausmaß der Steuerungseinschränkung zu erkennen und damit zu einer schuldangemessenen Beurteilung zu gelangen.
Zusammenfassung Die Beurteilung der Schuldfähigkeit bei nicht-stoffgebundenen Abhängigkeiten beschäftigen in zunehmendem Maße Gerichte und psychiatrische Sachverständige. Von kriminogener Bedeutung sind vor 18 Wobei natürlich - wie bei allen neurotischen Symptombildungen - ein sekundärer Krankheitsgewinn auch im Sinne der Ausbildung von Bequemlichkeits- und Vermeidungshaltungen nicht auszuschließen ist. " Hierzu auch Arthur Kreuzer, Jugend-Rauschdrogen-Kriminalität, aus: Theorie und soziale Praxis Bd. 5. Akadem. Verlags-Gesellschaft Wiesbaden 1978.
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allem ausgeprägte Formen von Spielbesessenheit, gewisse fetischistische Handlungszwänge sowie Zustände sexueller Hörigkeit. Der Sucht- oder Abhängigkeitscharakter derartiger Verhaltensstörungen läßt sich an folgenden Merkmalen erkennen: 1. Der Symptomcharakter der Störung. 2. Der Wiederholungszwang. 3. Die Progredienz. 4. Die Entdifferenzierung der Persönlichkeit. 5. Das Auftreten von Entzugserscheinungen bei Verhinderung der dranghaft angestrebten Betätigung. Bei kriminellen Handlungen läßt sich auch hier eine Beschaffungs- von einer konsumativen Delinquenz unterscheiden. Bei Beurteilung der Schuldfähigkeit sind folgende Gesichtspunkte zu beachten: 1. Die Symptomhaftigkeit der Störung versus ihrer Struktureingebundenheit. 2. Die Unmittelbarkeit und Zwanghaftigkeit mit der das Handeln abläuft. 3. Bei Geldbeschaffungsdelikten die Ausschließlichkeit der Geldverwendung, das Fehlen sonstiger Bereicherungsmotive. Je deutlicher diese Merkmale hervortreten, desto eher ist eine Einschränkung der Handlungsfreiheit und damit der Schuldfähigkeit anzunehmen.
Zur Wahrunterstellung in der strafrechtlichen Revision
C U R T FREIHERR VON STACKELBERG
I. Zu den Segnungen der französischen Revolution gehört auch die Abkehr vom Prinzip der Beweisregeln und der Beweiswürdigungsregeln und die Zuwendung zu den Prinzipien der Sachaufklärung vom Amts wegen und der freien Beweiswürdigung. Aber Beweisregeln und Beweiswürdigungsregeln sind eine Fundgrube richterlicher Weisheit. Die Abkehr von ihnen darf deshalb nur mit Vorsicht erfolgen. Heute darf ein Beweisantrag nur nach den §§ 244 Abs. 3 und 245 StPO abgelehnt werden. Also unter anderem nach § 244 III StPO „wenn eine erhebliche Behauptung, die zur Entlastung des Angeklagten bewiesen werden soll, so behandelt werden kann, als wäre die behauptete Tatsache wahr". Dagegen kann der Antrag auf Vernehmung eines präsenten Zeugen gemäß §245 S t P O in der Fassung des Art. 1 N r . 20 StVÄG 1979 nicht mit Wahrunterstellung abgelehnt werden, weil dieser grundsätzlich die Sachaufklärung vorgeht 1 . Mit der Unterzeichnung der M R K im Jahre 1950 hat die Bundesrepublik Deutschland auch den Artikel 6 M R K in das deutsche Recht aufgenommen. Dieser gibt dem Angeklagten und dessen Verteidigung ganz bestimmte prozessuale Rechte, die sich im Rahmen der §§ 244 und 245 StPO auswirken. Die Verfahrensbeteiligten haben einen Anspruch auf die Benutzung der von ihnen geforderten Beweismittel. Die Ablehnung von Beweisanträgen ist die Ausnahme und muß deshalb kraft Gesetzes zulässig sein (Art. 6 Abs. 3 d M R K ) . Bestimmungen über die Wahrunterstellung waren im Gesetz ursprünglich nicht enthalten. §244 StPO bestand anfangs aus seinem auch heute noch geltenden Absatz 1, einem Absatz 2 der dem heutigen Absatz 6 entspricht, und einem Absatz 3, der dem Gericht die Befugnis gab, die Ladung von Zeugen und Sachverständigen sowie die Herbeischaffung anderer Beweismittel anzuordnen. In Ermangelung einer gesetzlichen Regelung hat das Reichsgericht in seiner Rechtsprechung Grundsätze für die Beweisaufnahme im Allgemeinen und für das Verfahren gegenüber Beweisanträgen der Beteiligten im Besonderen entwik1
K l e i n k n e c h t StPO 34. Aufl. §244 Rdn.63, 64; BVerfGE 33, 367 insbes. 383.
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kelt. Demgegenüber hat Artikel 3 § 1 des Kapitels I des Ersten Teils der Verordnung vom 14.6.1932 für die Amtsgerichte und die Landgerichte in der Berufungsinstanz die Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahmen „nach freiem Ermessen" zugelassen. Erst Artikel I N r . 3 des Gesetzes vom 28.6.1935 statuiert als Gesetz gewordenes Richterrecht in § 245 StPO Rechte der übrigen Beteiligten, den Umfang der Beweisaufnahme mitzubestimmen. Zwar sollte es bei den Amtsgerichten und den Landgerichten in der Berufungsinstanz bei dem „freien Ermessen" verbleiben. Für die übrigen Verfahren, bei denen eine zweite Tatsacheninstanz fehlt, enthielt §245 StPO einen erschöpfenden Katalog für die Ablehnungsgründe, der dem heutigen §244 Abs. 3 StPO entspricht. Dorthin wurde auch der bisherige Absatz 2 des §244 StPO übernommen, während Absatz 3 als überflüssig entfiel. Die strengen Grundsätze des Reichsgerichts sind durch § 24 der Vereinfachungsverordnung vom 1.9.1939 völlig verlassen worden. Das „freie Ermessen" des Gerichts wurde für allein maßgebend erklärt. Erst Artikel 3 N r . 112 des Vereinheitlichungsgesetzes hat 1950 an den früheren Rechtszustand angeknüpft und die Wahrunterstellung nunmehr in §244 Abs. 3 StPO aufgenommen.
II. Es gibt kaum eine Darstellung des Rechts der Wahrunterstellung, in der nicht die Gefährlichkeit dieses Rechtsinstituts betont und Bedenken gegen ihre Handhabung in der Praxis erhoben werden 2 . Es sei durch einige Beispiele aus der Rechtsprechung belegt. 1. Eine Wahrunterstellung muß die behaupteten Tatsachen in ihrem wirklichen Sinn und vollen Inhalt ohne jede Einengung, Verschiebung oder sonstige Änderung erfassen. Das Tatsachengericht darf insbesondere nicht von irgendwelchen im Beweisantrag nicht erwähnten Möglichkeiten ausgehen, durch die das als wahr unterstellte Beweisvorbringen seiner Bedeutung entkleidet wird 3 . Ein Verstoß gegen diesen Grundsatz ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung wiederholt mit der Folge angenommen worden, daß das Urteil aufgehoben worden ist. a) Die als wahr unterstellten Tatsachen sind der Beweiswürdigung entzogen. Manches Tatsachengericht meint, der Wahrunterstellung Genüge zu tun, wenn es annimmt, daß der Zeuge das, wofür er benannt 2 Grünwald, „Die Wahrunterstellung im Strafverfahren" in Festschrift für R. Honig S. 53 ff. 5 B G H Urteil v. 3. 7.1979 - 1 StR 137/79; ständige Rechtsprechung.
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ist, bestätigen wird, daß er aber nicht glaubwürdig ist und daß damit der Wahrunterstellung der Boden entzogen ist. Das ist in Wirklichkeit eine unzulässige Beweisantizipation, aber keine Wahrunterstellung4. Denn die Wahrunterstellung verlangt, daß „die behauptete Tatsache" (also nicht die Aussage) so behandelt wird „als wäre sie wahr". Die Beurteilung der persönlichen Glaubwürdigkeit eines Zeugen ist ohnehin von dem persönlichen Eindruck des Zeugen auf das Gericht abhängig5. b) Eine als wahr unterstellte Tatsache darf also nicht durch beweiswürdigende Erwägungen wieder aus den Angeln gehoben werden. Dagegen ist es oft Sinn der Wahrunterstellung, die als wahr unterstellte Tatsache in die weitere Beweisaufnahme einzubauen. Das gilt vor allem von sogenannten Indiztatsachen6, Tatsachen also, aus denen vermittels allgemeiner Erfahrungssätze auf bestimmte Tatsachen geschlossen werden kann. Ob dieser Schluß „zwingend" sein muß - wie etwa beim Alibi - ist streitig, jedoch zu verneinen. Es ist durchaus möglich, daß mehrere Indiztatsachen, die jede für sich dem Gericht die nötige Uberzeugung nicht vermitteln könnte, dahin zusammenwirken, daß das Gericht nunmehr von dem Vorliegen der zu beweisenden Tatsache überzeugt ist. Wenn also bei einem Einbruchdiebstahl ein Zeuge bekundet, den Angeklagten erkannt zu haben, so mag ein Hinweis auf die Entfernung, aus der der Zeuge seine Beobachtung gemacht hat, noch nicht ausreichen, um ernsthafte Zweifel an der Aussage zu begründen. Das ändert sich, wenn noch dazu kommt, daß es zur Tatzeit bereits dunkel war. Hier ist der Sinn der Beweisangebote (Entfernung, Dunkelheit), daß eine etwaige Wahrunterstellung der weiteren Beweislage und Beweiswürdigung zu Grunde gelegt wird, aber wie eine erwiesene und nicht erst zu beweisende Tatsache. Eine Indiztatsache muß also, wenn sie schon als wahr unterstellt wird, zum Gegenstand der weiteren Beweiswürdigung gemacht werden. Jedoch darf dies nur zu Gunsten des Angeklagten geschehen7. c) Ändert das Gericht seine Meinung und will es von der Wahrunterstellung abrücken, so muß es das sofort bekannt geben8. Solange der Beschluß über die Wahrunterstellung nicht aufgehoben ist, besteht er weiter'.
4 RG HRR 1939, 1565; B G H M D R 1970, 778; Alsberg/Nüse, 4.Aufl. S.81.
B G H N J W 1976, 1742. So die h . M . ; abl. Grünwald a. O . (Fn. 2). 7 Gollwitzer, Loewe-Rosenberg, 23. Aufl. § 2 4 4 StPO Rdn.209. 8 Art. 103 G G ; vgl. B G H S t . 21, 38. ' Alsberg J W 1929, 977, 981. 5
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Der Beweisantrag,
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d) Gelegentlich wird ein Beweisangebot durch Wahrunterstellung abgelehnt und dann nicht mehr verwertet. Aus den Urteilsgründen erfährt man dann, daß die als wahr unterstellte Tatsache vom Tatsachengericht als „für die Entscheidung ohne Bedeutung" (§244 Abs. 3 StPO) behandelt worden ist. Eine solche Vertauschung der Ablehnungsgründe ohne den Verteidiger und den Angeklagten zu unterrichten, wird vom B G H zugelassen10. Dem muß entschieden widersprochen werden. In der Ablehnung wegen Wahrunterstellung liegt das Anerkenntnis des Gerichts, daß es sich um eine „erhebliche Behauptung, die zur Entlastung des Angeklagten bewiesen werden soll" handelt (§244 Abs. 3 StPO). Davon dürfen also Verteidiger und Angeklagte ausgehen. Die Verfahrenslage ändert sich sofort, wenn dem Verteidiger und dem Angeklagten bewußt wird, daß das Gericht eine Tatsache nicht als entlastend sondern als für die Entscheidung bedeutungslos wertet. Der Verteidiger und der Angeklagte müssen möglicherweise die Verteidigung ganz anders aufbauen. Sie müssen deshalb dazu Gelegenheit erhalten und von einer solchen Änderung der Betrachtungsweise durch das Gericht umgehend unterrichtet werden". e) Einige Verwirrung hat die Entscheidung des 5. Senats des Bundesgerichtshofes vom 30.4.1976 12 gestiftet. Nach dem - wohl zu weit gefaßten Leitsatz - soll eine Wahrunterstellung auch dann zulässig sein, wenn der Tatrichter hieraus andere Folgerungen zieht als der Antragsteller erwartet. Die als wahr unterstellte Tatsache soll auch straferschwerend berücksichtigt werden können. Diese Sätze erschrecken und begründen die Befürchtung, daß die Grenzen der ständigen Rechtsprechung und der Grundsatz „in dubio pro reo" verletzt sind13. MeyerH hat bereits klargestellt, daß der B G H beides nicht gewollt hat. Vielmehr bleibt anerkannt, daß die Wahrunterstellung ein Ergebnis der Urteilsberatung vorwegnimmt 15 und der Sache nach eine vorweggenommene Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo" ist16. Deshalb darf selbstverständlich nach diesem Grundsatz keine den Angeklagten belastende Folgerung aus der nicht zur Überzeugung des Gerichts erwiesenen sondern nur als wahr unterstellten Tatsache gezogen werden.
10
B G H H A 72, 272, 273. Vgl. dazu Schröder, Die Ablehnung von Beweisanträgen aufgrund Wahrunterstellung und Unerheblichkeit, N J W 1972, 2105 und Gollwitzer a . a . O . (Fn.7), §244 StPO Rdn.219. 12 5 StR 481/75 - N J W 1976, 1950. 13 So Tenckhoff N J W 1976, 1951. 14 N J W 1976, 2355. 15 Gollwitzer a. a. O . (Fn. 7), § 244 Rdn. 211. 16 Kern/Roxin, Strafverfahrensrecht 14. Aufl. S.223. 11
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D a s ist aber auch nicht geschehen. Vielmehr sah das Landgericht als straferschwerend an, daß der Angeklagte „seine Funktionen im öffentlichen Leben Berlins zur Unterstützung der Straftat hergab" 17 . Diese Kenntnis hatte aber das Gericht nicht der Wahrunterstellung entnommen, sondern dem Eingeständnis des Angeklagten, das im Beweisantrag lag. 2. Gelegentlich setzt die Pflicht zur Sachaufklärung der Wahrunterstellung Grenzen. Behauptet beispielsweise der Täter, zur Tat angestiftet worden zu sein, und bietet er dafür Beweis an, so darf diese Behauptung im allgemeinen nicht als wahr unterstellt sondern muß aufgeklärt werden, weil erst der wirkliche Hergang in der Regel Aufschluß über das Schuldmaß des Täters gibt, das die Strafzumessung mit bestimmt 1 8 . Die Sachaufklärung geht grundsätzlich der Wahrunterstellung vor19. Das Gericht darf also von der Wahrunterstellung nur Gebrauch machen, wenn dies ohne Verletzung seiner Pflicht, die Wahrheit zu erforschen, möglich ist. Es muß daher feststehen, daß die Beweisaufnahme nicht mehr zu einem Ergebnis führen kann, welches die wahrunterstellte Behauptung zu widerlegen geeignet ist. Insbesondere darf auch das im Beweisantrag bezeichnete Beweismittel keine Handhabe hierzu bieten20. 3. Die gesetzwidrige Ablehnung von Beweisanträgen und die Nichteinhaltung der Wahrunterstellung kann mit der Revision gerügt werden. Die Revisionsbegründung muß dann die „den Mangel enthaltenden Tatsachen angeben" (§344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Dazu gehört, daß der Beschwerdeführer den Inhalt seines Antrags - also Beweistatsache und Beweismittel - und des gerichtlichen Ablehnungsbeschlusses möglichst wörtlich mitteilt und die Tatsachen darlegt, aus denen sich die Fehlerhaftigkeit des Beschlusses oder des Verfahrens ergeben soll21. Die Rüge, ein Beweisantrag sei nicht beschieden worden, muß dartun, daß ein ordnungsgemäßer Beweisantrag gestellt worden ist, über den in der Hauptverhandlung zu entscheiden gewesen wäre22. Schließlich muß dargelegt werden, daß das Urteil auf dem Fehler beruhen kann. Die Rüge, daß der Tatrichter sich nicht an eine zugesagte Wahrunterstellung gehalten habe, setzt voraus, daß in der Revisionsbegründung N J W 1976, 1950. " B G H S t . 1, 137 insbes. 139. " B G H N J W 1961, 2069. 20 RGSt. 41, 424, B G H S t . 13, 326. 21 B G H S t . 3, 213. 22 O L G Stuttgart, N J W 1968, 1733. 17
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Curt Freiherr von Stackelberg
selber nicht etwa im Wege der Verweisung mitgeteilt wird, welche Behauptung als wahr unterstellt werden sollte. Sodann muß im einzelnen dargelegt werden, worin der Rechtsmangel gesehen wird. Dabei sind die den Mangel enthaltenden Tatsachen anzugeben ( § 3 4 4 Abs. 2 Satz 2 StPO). Allein beim Bundesgerichtshof scheitern jährlich Hunderte von Revisionsbegründungen daran, daß diese Bestimmung übersehen wird. Die Anforderungen sind überaus scharf. Schließlich muß dargelegt werden, daß das Urteil auf dem Mangel beruhen kann. D a die Sachaufklärung Vorrang vor der Wahrunterstellung hat23, wird eine entsprechende Rüge stets Erfolg haben. Das Urteil verfällt der Revision weiter mit Sicherheit, wenn das Gericht sich im Urteil nicht an die zugesagte Wahrunterstellung hält oder Feststellungen zu Grunde legt, die mit der Wahrunterstellung nicht vereinbar sind. Dazu genügt es, daß in den Urteilsgründen das Gericht eine durch Beschluß als wahr unterstellte Tatsache nicht mehr als wahr behandelt hat. Es kann auch ausreichen, daß das Gericht sich mit der als wahr unterstellten Tatsache im Urteil nicht auseinandergesetzt hat24.
B G H N J W 1961, 2069 insbes. 2070; R G S t . 41, 424. B G H vom 1. 7 . 1 9 7 1 - 1 StR 362/70. Vgl. Dahs/Dahs, S. 254 ff. 23
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Die Revision im Strafprozeß,
Zur strafrechtlichen Erfassung des Musikdiebstahls
ULRICH WEBER
I. Erscheinungsformen und Ausmaß des Musikdiebstahls Das Urheberstrafrecht, das seit Beginn des 20. Jahrhunderts praktische Bedeutung und wissenschaftliches Interesse weitestgehend verloren hatte1, erlebte durch die Raubdruckbewegung der späten sechziger und der siebziger Jahre eine Renaissance2. Einen erheblichen Bedeutungszuwachs erlangen die Strafbestimmungen gegen die unerlaubte Verwertung urheberrechtlich geschützter Werke und gegen unerlaubte Eingriffe in verwandte Schutzrechte in den §§ 106 und 108 UrhG 3 gegenwärtig durch das verstärkte Umsichgreifen des Musikdiebstahls, auch als Musik- oder Tonträgerpiraterie, Raubpressung oder Tonträgerfälschung bezeichnet. Einen ähnlichen Aufschwung scheint neuerdings die Film- und Videopiraterie zu nehmen, auf die hier jedoch nicht weiter eingegangen werden kann4. Der Begriff Musikdiebstahl umfaßt verschiedene illegale Verhaltensweisen: das Nachpressen von Schallplatten (einschließlich der Nachbildung der Hüllen), die Überspielung von Bändern (MusiCassetten), den Mitschnitt von musikalischen Darbietungen (sog. Bootlegs5) und Rundfunksendungen sowie die - für die Rechtsinhaber eigentlich schädliche massenweise Verbreitung der dergestalt rechtswidrig hergestellten Vervielfältigungsstücke. Der Kreis der vom Musikdiebstahl betroffenen Rechtsgutträger ist weit gezogen. Bei den bevorzugten Tatobjekten, Platten und Cassetten 1 Vgl. dazu und zu den Gründen der Abwanderung des Urheberrechtsschutzes vom Straf- ins Zivilrecht - u. a. wurden im L U G von 1901 und im K U G von 1907 nicht mehr fahrlässige, sondern nur noch vorsätzliche Urheberrechtsverletzungen unter Strafe gestellt Weber, Der strafrechtliche Schutz des Urheberrechts. - Unter Berücksichtigung der bestehenden zivilrechtlichen Schutzmöglichkeiten, Tübingen 1976, S. 2 f. (im folgenden zitiert: Urheberstrafrecht). 2 Zu den Motiven und zum Ausmaß sowie zu weiteren Rechtstatsachen der Raubdruckbewegung Weber, Urheberstrafrecht, S. 46 ff. ; Nachdruckdokumentation des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, 1978. 1 Gesetz über das Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (Urheberrechtsgesetz) vom 9.9.1965 (BGBl. I S. 1273). 4 S. dazu ζ. B. Flechsig, Zum Bedürfnis einer Verschärfung des Urheberstrafrechts, Film und Recht 1980, 345, 346 r. Sp. 5 Der Ausdruck „Bootlegs" stammt aus der Zeit der Alkoholprohibition in den USA, als Spirituosen in „Stiefelschäften" geschmuggelt wurden.
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Ulrich Weber
des sog. Hit-Repertoires (nicht nur aus der populären, sondern auch aus der ernsten Musik), sind es neben den unmittelbar geschädigten legalen Tonträgerherstellern, deren Absatzchancen durch den Vertrieb illegaler Produkte geschmälert werden, die Komponisten, Texter, Arrangeure und Produzenten, weiter die ausübenden Künstler sowie die Gestalter der äußeren Aufmachung (Fotografen und Grafiker), denn ihre Vergütung orientiert sich wesentlich am Absatz der legal hergestellten Vervielfältigungsstücke. Da die illegal arbeitenden Tonträgerhersteller keine Steuern entrichten, wird durch den Musikdiebstahl darüber hinaus die öffentliche Finanzwirtschaft geschädigt. Vermögensschäden erleiden weiter die gutgläubigen Erwerber von Nachpressungen, weil diese in der Regel nicht die Qualität der Originalausgaben aufweisen - ein Umstand, der für den Musikliebhaber stärker ins Gewicht fällt als etwa für den Käufer wissenschaftlicher Werke, der drucktechnische Mängel von Raubdrucken eher in Kauf nimmt. Der Raubdruck ist auch in der Regel als solcher erkennbar, so daß es an einer Täuschung des Erwerbers fehlt; illegal hergestellte Tonträger dagegen sind zumeist den Originalausgaben in der äußererf Aufmachung derart perfekt nachgebildet (sog. counterfeits) und im Kaufpreis so angeglichen, daß sie nur der Experte als Fälschung erkennt. Die bislang vorliegenden Informationen deuten darauf hin, daß die Musikpiraterie den Raubdruck an Masse, Schadensumfang und erzielten Gewinnen noch übertrifft. Charakteristisch ist dabei die Internationalität dieser Kriminalität, die mit den bei Musikwerken fehlenden Sprachbarrieren leicht erklärbar ist6. Nach der Dokumentation „Musikdiebstahl" 7 sollen in den Jahren 1977 und 1978 weltweit (ausgenommen Ostblock und kommunistische Staaten Asiens) 411 Millionen illegal hergestellte Tonträger abgesetzt worden sein, davon 67 Mio. in Nordamerika, 28 Mio. in Westeuropa, 53 Mio. im Mittelmeerraum, Nahen Osten und Afrika, 250 Mio. in Asien und Australien, 13 Mio. in Lateinamerika. Für die Bundesrepublik Deutschland, wird der Anteil illegaler Langspielplatten auf 2 - 3 % vom Wertumsatz aller Schallplatten geschätzt 8 . Der Anteil illegaler Produkte am Wertumsatz der MusiCasset6 S. zu den Rechtstatsachen - Arbeitsweise und Kalkulation der Musikdiebe, Kreis der Täter und der Geschädigten, Schadensumfang - insbesondere die Dokumentation „Musikdiebstahl" - Technische, wirtschaftliche und rechtliche Aspekte der illegalen Herstellung und Verbreitung von Tonträgern, von Wolfgang Nick, hrsg. von der Deutschen Landesgruppe der I F P I e . V . , 1979, S . 3 5 f f . ; weiter Flechsig, Zum Bedürfnis einer Verschärfung des Urheberstrafrechts, Film und Recht 1980, 345, 3 4 6 f f . ; Rochlitz, Der strafrechtliche Schutz des Urhebers und Leistungsschutzrechtsinhabers, Film und Recht 1980, 3 5 1 , 3 5 2 ff. - jeweils mit weiteren Nachweisen. 7 8
A . a . O . (Fußn.6), S.45. A . a . O . S.48.
Zur strafrechtlichen Erfassung des Musikdiebstahls
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ten soll sogar 8-10 % betragen9. Für das Jahr 1978 wird der Umsatz der Hersteller illegaler Tonträger in der Bundesrepublik mit 75-105 Millionen DM angegeben ,0.
II. Zuordnung zur Wirtschaftskriminalität. Stimmen für eine Verschärfung des Urheberstrafrechts 1. Auch wenn man berücksichtigt, daß die vorstehend wiedergegebenen Zahlen zwangsläufig auf mehr oder weniger groben Schätzungen beruhen, muß festgestellt werden, daß der Musikdiebstahl deutliche Züge der Wirtschaftskriminalität" aufweist: (1) Herbeiführung großer Schäden, die für die unmittelbar Betroffenen zur Existenzbedrohung führen können. (2) Der Kreis der wirtschaftlich Geschädigten ist nicht begrenzt auf die Inhaber der urheberrechtlich geschützten Rechtsgüter, sondern es werden darüber hinaus Dritte tangiert: der gutgläubige Handel sowie die Verbraucher durch die Überschwemmung des Marktes mit qualitativ minderwertigen Tonträgern (§263 StGB) 12 , weiter der Staat durch Hinterziehung von Steuern (§ 370 AO) seitens der im verborgenen arbeitenden Tonträgerpiraten. (3) Sog- oder Ansteckungswirkung des illegalen Tonträgervertriebes: Zunächst gesetzestreue Händler beteiligen sich bewußt an der Verbreitung rechtswidrig hergestellter Vervielfältigungsstücke, um sich das damit zu machende Geschäft nicht entgehen zu lassen. (4) Herbeiführung eines über die materiellen Schäden hinausgehenden immateriellen Schadens: Erschütterung des Vertrauens der Konsumenten in die Belieferung mit einwandfreien Produkten. 2. Angesichts der gewachsenen Bereitschaft des Gesetzgebers, durch Reformen auch im materiellen Strafrecht zu einer wirksameren Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität beizutragen13, ist es verständlich, daß in ' A . a . O . S.48. 10 A . a . O . S.48. 11 Zu den Kriterien der Wirtschaftskriminalität Arzt/Weber, Teil, L H 4, 1980, Randbem. 5 ff. mit weiteren Nachweisen.
Strafrecht, Besonderer
12 In einem Verfahren vor dem LG Hamburg (Urteil vom 1 2 . 1 0 . 1 9 7 8 - (85) 3 0 / 7 7 N S - ) wurde sogar die Verfolgung der Tat gemäß § 154 a Abs. 2 (i. V. mit Abs. 1) StPO auf den neben § § 1 0 6 , 108 Nr. 5 U r h G angenommenen § 2 6 3 StGB beschränkt und der Angeklagte ausschließlich wegen Betruges verurteilt. Mit Beschluß vom 2 8 . 3 . 1 9 7 9 hat das OLG Hamburg die dagegen gerichtete Revision als offensichtlich unbegründet verworfen. 13 Vgl. das Erste Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität - 1. W i K G - vom 2 9 . 7 . 1 9 7 6 (BGBl. I S.2034), weiter den Referentenentwurf eines 2. W i K G .
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jüngster Zeit verstärkt die Forderung erhoben wird, auch den geschilderten wirtschaftskriminellen Verhaltensweisen im Geschäft mit Platten und Bändern mit einer Verschärfung des Urheberstrafrechts zu begegnen. Die insoweit im wesentlichen - zuletzt auf einer Arbeitssitzung des Instituts für Urheber- und Medienrecht im April 1980 in München14 unterbreiteten Vorschläge lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: a) Angleichung der Strafdrohungen in §§106 und 108 UrhG an die Strafdrohungen für Eigentums- und Vermögensdelikte, z.B. in §242 StGB, also Anhebung der Höchststrafe von jetzt einem auf fünf Jahre Freiheitsstrafe15. b) Umgestaltung der Straftaten gegen das Urheberrecht und die Leistungsschutzrechte von Antragsdelikten (§109 UrhG) in Offizialdelikte (damit verbundener Verzicht auf die Privatklagefähigkeit nach §374 Abs. 1 Nr. 8 StPO) 16 . c) Schaffung eines umfassenden Straftatbestandes, „der sämtliche vorsätzliche rechtswidrige Verletzungsformen im Urheberrecht und im Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes" erfaßt". III. Stellungnahme zu den Reformvorschlägen 1. Zum strafrechtlichen
Schutz der persönlichen (Werke, §2 UrhG)
geistigen
Schöpfungen
a) In Art. 14 Abs. 1 GG ist das Eigentum verfassungsrechtlich garantiert. Es ist heute außer Streit, daß Art. 14 Abs. 1 Satz 1 G G nicht nur das Sacheigentum, sondern alle Vermögenswerten Rechte schützt18. Das BVerfG hat demgemäß unmißverständlich ausgesprochen, daß die verwertungsrechtlichen Befugnisse des Urhebers (§§15-22 UrhG)" der Eigentumsgarantie unterfallen20. Wie ernst gerade das BVerfG den Schutz der verwertungsrechtlichen Befugnisse nimmt, zeigt neben der Schulbuch-Entscheidung20 der Beschluß zur Verfassungsmäßigkeit des Urhe14 Die dort erstatteten Referate von Weber, Flechsig, Rochlitz, Walter und Knap sind zusammen mit anderen einschlägigen Beiträgen abgedruckt in Heft 7/80 der Zeitschrift Film und Recht. 15 In diesem Sinne vor allem Flechsig Film und Recht 1980, 345, 349 f. mit weiteren Nachweisen. 16 Vgl. auch dazu Flechsig Film und Recht 1980, 345, 350 mit weiteren Nachweisen. 17 Rochlitz Film und Recht 1980, 351, 359. 18 S. zuletzt BVerfG N J W 1980, 682 f. mit weiteren Nachweisen. " Auf seine persönlichkeitsrechtlichen Befugnisse und die Vernachlässigung ihres strafrechtlichen Schutzes im geltenden Recht kann hier nicht eingegangen werden ; vgl. dazu Weher, Urheberstrafrecht, S. 391 ff. 20 BVerfG E 31, 229.
Zur strafrechtlichen Erfassung des Musikdiebstahls
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ber-Vergütungsanspruches gegen die Hersteller von Tonbandgeräten 21 . Ganz auf dieser Linie liegt ein Urteil des OLG Bremen von 197622 zu den Grenzen des persönlichen und des sonstigen eigenen Gebrauchs nach §§53 und 54 UrhG im Hinblick auf die Vervielfältigung geschützter Werke für den schulischen Gebrauch, eine Entscheidung, die später vom BGH voll bestätigt worden ist23. Ganz im Sinne der Tendenz in der Judikatur, die in §§ 45 ff. UrhG normierten Schranken des Urheberrechts urheberfreundlich zu interpretieren, hat der Gesetzgeber in der Novelle von 197224 den Urheberrechtsschutz gegenüber dem 1965 erreichten Rechtszustand noch verstärkt durch die Anordnung der Vergütungspflicht für die Aufnahme urheberrechtlich geschützter Werke in Sammlungen für den Kirchen-, Schulund Unterrichtsgebrauch (§46 Abs. 4 UrhG) und die Einführung des sog. Bibliotheksgroschens in § 27 UrhG. Diese dem Verfassungsrang des „geistigen Eigentums" Rechnung tragende Rechtsprechung und Gesetzgebung verdienen Zustimmung. Das Interesse der Werknutzer am möglichst ungehinderten Zugang zu den geistigen Schöpfungen darf nicht auf Kosten der Werkschöpfer gehen. Einer angemessenen Vergütung der Urheberleistung ist nach meiner Überzeugung allemal der Vorrang zu geben vor Sozialleistungen an die geistig Schaffenden 25 . b) Obwohl aus seiner verfassungsrechtlichen Garantie nicht ohne weiteres auf die strafrechtliche Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit eines Rechtsgutes geschlossen werden kann26, herrscht heute weitgehende Einigkeit darüber, daß die persönliche geistige Schöpfung (§2 Abs. 2 UrhG), die das Werk charakterisiert, einen derart hohen Rang aufweist, daß der Urheber in seinen verwertungsrechtlichen Befugnissen strafrechtlich geschützt werden muß27. Für einen strafrechtlichen Schutz sprechen darüber hinaus zwei weitere Gesichtspunkte: (1) Wenn der Urheber sein Werk der Öffentlichkeit übergeben hat, hat er so gut wie keine faktischen Möglichkeiten mehr, die unerlaubte Verwertung zu verhindern; er ist wehrlos, im Gegensatz zum Sacheigentümer, der sich häufig durch die mannigfachsten SchutzBVerfGE 31, 255. JZ 1976, 597 mit zustimmender Anm. v. U. Weber. 25 JZ 1978, 480 = UFITA Bd. 83 (1978), 227. 24 Gesetz vom 10.11.1972 (BGBl. I S. 2081). 25 Vgl. Weber in JZ 1976, 602 1. Sp. (2). - Auf das Ende der 8. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages verabschiedete, aber an Einwänden des Bundesrates vorläufig gescheiterte Künstlersozialversicherungsgesetz kann hier nicht eingegangen werden. 26 Dazu näher unten 2 b. 27 Grundsätzliche Bedenken, soweit ersichtlich, nur bei Burger Film und Recht 1978, 796, 801 f. - Dagegen Weber Film und Recht 1980, 335, 340. 21 22
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Vorrichtungen tatsächlicher Art gegen Schadenszufügungen sichern kann. (2) D e m Urheber ist es häufig aus eigener Kraft unmöglich, die Täter von Urheberrechtsverletzungen zu ermitteln, sondern er ist dabei auf die Hilfe der Strafverfolgungsorgane angewiesen. Dieser prozessuale Gesichtspunkt kann sicher für die Frage nach Gewährung von Strafrechtsschutz nicht allein ausschlaggebend sein, aber er bedarf doch der Berücksichtigung und kann jedenfalls zugunsten eines Strafbedürfnisses mit ins Gewicht fallen28. c) Im Hinblick auf den den Einsatz des Strafrechts beherrschenden Ultima-ratio-Grundsatz 2 9 erscheint es allerdings geboten, Bagatellfälle möglichst schon aus dem Tatbestandsbereich der strafrechtlichen Schutznorm herauszunehmen. Im Gegensatz zu anderen Delikten, etwa zum Diebstahl und Betrug sowie zur Körperverletzung, läßt sich dieser Weg einer bereits tatbestandlichen Ausscheidung nichtstrafwürdiger Fälle bei der Urheberrechtsverletzung verhältnismäßig einfach beschreiten 30 . Der eigentlich gravierende, den Urheber an seinem Vermögen schädigende Eingriff liegt in der unerlaubten Verbreitung von Vervielfältigungsstükken des Werkes. Die unerlaubte Herstellung von Vervielfältigungsstükken steht dazu im Verhältnis einer vermögensgefährdenden Vorbereitungshandlung. Der Strafrechtsschutz würde zwar m. E. zu spät einsetzen, wenn man die unerlaubte Vervielfältigung in allen Fällen straflos lassen und erst die Verbreitung pönalisieren würde. Das Strafrecht würde nämlich dann keinerlei abschreckende Wirkung mehr auf die Hersteller ausüben. Es genügt jedoch andererseits eine tatbestandsmäßige Erfassung derjenigen Vervielfältigungshandlungen, die auf eine spätere Verbreitung der hergestellten Exemplare abzielen, also eine Vervielfältigung in der Absicht, daß verbreitet werde. Da der Hersteller von Vervielfältigungsstücken, vor allem der Drucker, der Nachpresser von Platten und der Uberspieler auf Bänder, in der modernen arbeitsteiligen Wirtschaft in aller Regel nicht die Absicht hat, selbst zu verbreiten, sollte §106 U r h G so formuliert werden, daß ausreichend ist die Absicht, daß überhaupt verbreitet wird. §106 müßte also in seinem Kernbereich lauten: „Wer . . . ein Werk . . . 1. in der Absicht vervielfältigt, daß es verbreitet werde, oder 2. (ein Werk) verbreitet...". 28
Dazu näher Weber, Urheberstrafrecht, S. 424 ff. Vgl. dazu z. B. BVerfGE 39, 1 ff. (Leitsatz 4 sowie Begründung S. 46/47); Baumann/ Weber, Strafrecht Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 1977, S.636; Weber Film und Recht 1980, 335, 339. 10 Dazu näher Weber, Urheberstrafrecht, S. 434 ff. 29
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Diese auch vom Alternativentwurf (§204) übernommene Fassung31 des § 106 U r h G hätte insbesondere den Vorteil, daß geringfügige Ubertretungen der Schranken des Urheberrechts, etwa nicht gebotene Vervielfältigungen zum eigenen Gebrauch ohne Verbreitungsabsicht, straflos blieben. Das ist ja gerade die Hauptmasse der Bagatellfälle, die nicht strafwürdig erscheinen. Strafprozessuale Beweisschwierigkeiten dürfte diese materiellrechtliche Absichts-Lösung nicht mit sich bringen. Kein Strafrichter wird einem Hersteller von mehreren hundert Vervielfältigungsstücken die Einlassung abnehmen, an Verbreitung sei nicht gedacht gewesen. d) Gerade wenn der Tatbestand der Urheberrechtsverletzung in der vorstehend c) geschilderten Weise von Bagatellen entlastet würde, wäre nichts Grundsätzliches gegen die von Flechsig15 geforderte Angleichung der Strafdrohung des § 106 U r h G an die in § 242 StGB für den Sachdiebstahl vorgesehene Höchststrafe von fünf Jahren Freiheitsstrafe einzuwenden, insbesondere im Hinblick auf eine befriedigende Erfassung gravierender Rückfalltaten. Die Annahme erscheint jedoch wenig realistisch, daß der Gesetzgeber einer solchen Forderung nachkommen wird. Aber selbst wenn dies der Fall sein sollte, könnte kaum ernsthaft erwartet werden, daß ein Strafrahmen bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe für Urheberrechtsverletzungen in Fällen wie den bisher bekanntgewordenen, die durchweg mit Geldstrafe geahndet wurden, von den Strafgerichten auch wirklich ausgeschöpft wird. Die Strafzumessungspraxis beim Diebstahl nach § 242 StGB spricht insoweit eine deutliche Sprache. Der Alternativentwurf schlägt auf Grund derartiger Erwägungen lediglich eine Strafe von drei Jahren Freiheitsstrafe vor32. e) Die verstärkt geforderte Ausgestaltung der strafbaren Urheberrechtsverletzung zum Offizialdelikt33 hätte zwar keine unmittelbare praktische Auswirkung in dem Sinne, daß die Strafverfolgungsbehörden Urheberrechtsverletzungen von sich aus erforschen und verfolgen würden. Ein Einschreiten von Staatsanwaltschaft und Polizei wäre vielmehr nach wie vor von einer Initiative des Verletzten abhängig, ebenso wie heute Sachdiebstähle in ihrer ganz überwiegenden Mehrzahl nur auf Anzeige des J1 Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches. Besonderer Teil: Straftaten gegen die Wirtschaft, vorgelegt von E.J. Lampe, Tb. Lenckner, W. Stree, K. Tiedemann, U. "Weber, 1977, S. 114 bis 126 (Eingriffe in das Urheber- und Erfinderrecht). - Zustimmend Flechsig G R U R 1978, 289 r.Sp. 32 §204 Abs. 1 AE Straftaten gegen die Wirtschaft, Begründung S. 117 unten / 118 oben. 33 Meiner Forderung, §109 UrhG zu streichen (Urheberstrafrecht, S.438 bis 441), haben sich Flechsig (GRUR 1978, 291; Film und Recht 1980, 345, 350) und Rochlitz (UFITA Bd. 83 (1978), 86f.; Film und Recht 1980, 351, 360) angeschlossen.
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Opfers verfolgt werden. Sie wäre aber in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Mit der Beseitigung des Antragserfordernisses müßte auch die Privatklagefähigkeit (§ 374 Abs. 1 Nr. 8 StPO) der Urheberrechtsdelikte fallen, und es könnte erwartet werden, daß Verletzungen des geistigen Eigentums von den Strafverfolgungsbehörden ernster genommen würden, als dies in der Vergangenheit mitunter der Fall gewesen ist34. Überdies wären die Strafverfolgungsbehörden dagegen geschützt, daß der Verletzte - wie es auch geschehen ist - nach aufwendigen polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen den Antrag zurücknimmt (§ 77 d StGB), nachdem er sich mit dem Verletzer zivilrechtlich geeinigt hat. Dem Berechtigten die Möglichkeit nicht abzuschneiden, mit einem das Werk ohne Einwilligung nutzenden Verwerter eine Vereinbarung über eine angemessene Vergütung zu treffen, war nun gerade für den Alternativ-Entwurf 35 das hauptsächliche Argument für die Beibehaltung des Antragserfordernisses. - Ich hielte es nach wie vor für die glücklichste Lösung, bereits im materiellen Recht eine möglichst weitgehende Konkordanz von (Urheber-)Zivil- und Strafrecht dergestalt herzustellen, daß der Urheber oder sonstige Inhaber eines Nutzungsrechts die Werkverwertung auch mit Wirkung für das Strafrecht (nachträglich) genehmigen kann36. Stünde dem Verletzten dieser matriellrechtliche Weg zur wirksamen Durchsetzung seiner Interessen offen, so könnte auf das Antragserfordernis verzichtet werden. Wenn Bagatellen, wie oben c) vorgeschlagen, bereits aus dem Tatbestandsbereich der Urheberrechtsverletzung ausgeschieden würden, blieben zwar nur noch wenige Geringfügigkeitsfälle übrig, für die eine Antragslösung in Betracht kommt - etwa die Verbreitung nur weniger Vervielfältigungsstücke. Für sie sollte auf § 248 a StGB bei der Urheberrechtsverletzung (§ 106 U r h G ) ebenso verwiesen werden wie bei anderen Vermögensdelikten (vgl. z . B . §§263 Abs.4, 266 Abs.3 StGB). 2. Zum strafrechtlichen Schutz der verwandten
Schutzrechte
a) Während der Einsatz des Strafrechts zum Schutze von persönlichen geistigen Schöpfungen (Werken i. S. von § 2 UrhG) jedenfalls prinzipiell gebilligt wird (dazu vorstehend 1), wird die Frage nach dem Bedürfnis einer Pönalisierung von Eingriffen in verwandte Schutzrechte (§108 U r h G ) schon im Grundsätzlichen unterschiedlich beantwortet. Meinem 34 Siehe dazu Weber, Urheberstrafrecht, S.66f.; Flechsig GRUR 1978, 292 l.Sp.; Roch lit ζ UFITA Bd. 83 (1978), 86. 35 AE Straftaten gegen die Wirtschaft §204 Abs. 4 mit Begründung S. 119. 36 Weber, Urheberstrafrecht, S. 273 ff., insbes. 276ff.; ders., Zur strafrechtsgestaltenden Kraft des Zivilrechts, in: Festschrift für Fritz Baur zum 70. Geburtstag, 1981.
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Vorschlag37 eines völligen Verzichts auf urheberstrafrechtlichen Schutz in diesem Bereich sind der Alternativ-Entwurf 38 sowie Lampe39 und Burger,4° gefolgt. Dagegen treten Rochlitz41 und Flechsig42 dezidiert für die Beibehaltung von § 108 U r h G ein. b) Gewiß unterfallen über die Verwertungsrechte des Urhebers hinaus (dazu oben III 1 a) auch die vermögensrechtlichen Befugnisse der Inhaber verwandter Schutzrechte (§§ 70-87 UrhG) und des Film- und Laufbildherstellers (§§94 und 95 UrhG) der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG 43 . Aber daraus läßt sich entgegen Flechsig44 nicht ohne weiteres auf ihre strafrechtliche Schutzwürdigkeit und -bedürftigkeit schließen. Eine derartige Automatik besteht nicht einmal für das überragende Rechtsgut (werdendes) menschliches Leben, wie das BVerfG in seinem Urteil vom 25.2.1975 zur sog. Fristenlösung des Schwangerschaftsabbruches 45 dargelegt hat46. Daß es die Gleichung Verfassungsschutz = Strafrechtsschutz nicht gibt, zeigt im übrigen auch das Vermögensstrafrecht: Obwohl das Sacheigentum in Art. 14 Abs. 1 G G verfassungsrechtlich garantiert und in §§823 Abs. 1, 903, 985, 1004 BGB zivilrechtlich umfassend geschützt ist, ist sein Strafrechtsschutz nicht lückenlos. Straflos ist die reine Sachentziehung, die nicht als Diebstahl, Unterschlagung oder Sachbeschädigung erfaßt wird47. Schon gar nicht umfassend strafrechtlich geschützt ist das Vermögen schlechthin, obwohl es ebenfalls in den Garantiebereich des Art. 14 Abs. 1 G G fällt. Pönalisiert sind vielmehr nur handfeste Angriffe, die als besonders sozialschädlich empfunden werden, so der Angriff durch Täuschung im Betrugstatbestand (§263 StGB) und der Angriff durch Gewalt oder Drohung im Erpressungstatbestand (§ 253 StGB), ferner die Vermögensschädigung durch Verletzung 37
Weber, Urheberstrafrecht, S. 382-391. AE Straftaten gegen die Wirtschaft, S. 119, 121. 39 UFITA Bd. 83 (1978), 35 f. und 61. 40 Film und Recht 1978, 796, 800. 41 UFITA Bd. 83 (1978), 81 ff.; Film und Recht 1980, 351, 358f. 42 G R U R 1978, 290; Film und Recht 1980, 345, 349. 43 Dazu näher Weber Film und Recht 1980, 335, 337 l.Sp. 44 G R U R 1978,290 r. Sp.: Art. 14 Abs. 1 Satz 1 G G habe eine Leitbildfunktion im Sinne einer „Gleichstufigkeit des Strafrechtsschutzes", so daß „sämtliche Vermögenswerten Rechte des Privatrechts, soweit sie vermögensrechtliche Ausstrahlungen zeitigen, gegen Eingriffe strafrechtlich geschützt sein" müßten. Die „Schärfe der Sanktionen bei der Verletzung von materiellem und immateriellem Eigentum" müsse „gleich sein". - Ahnlich in Film und Recht 1980, 349. 45 BVerfG E 39, 1 ff. (= JZ 1975, 207 ff. mit Anmerkung von Kriele S. 222 ff.). 46 Dazu näher Weber Film und Recht 1980, 339. 47 Der in §251 des Entwurfs eines StGB 1962 vorgesehene Tatbestand der Sachentziehung ist nicht geltendes Recht geworden. 38
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der Pflicht, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen, im Untreuetatbestand (§266 StGB) und die Schadenszufügung durch Ausbeutung bestimmter Schwächesituationen des Opfers beim Wucher (§ 302 a StGB). Auch für die strafrechtliche Erfassung von Verletzungen der Leistungsschutzrechte in § 108 U r h G müssen mithin über ihre verfassungsrechtliche Garantie hinaus weitere Argumente beigebracht werden. Kriterien sind insbesondere die Bedeutung des auf dem Spiele stehenden Rechtsgutes und die Schwere des gegen dieses Rechtsgut gerichteten Angriffs. Zum Rechtsgut ist festzustellen, daß die einzelnen Nummern des § 108 U r h G so heterogene Interessen schützen, daß ein einheitlicher und umfassender Strafrechtsschutz von vornherein stutzig machen muß. Allen verwandten Schutzrechten fehlt vor allem ein dem Werkbegriff (§2 Abs. 2 UrhG) vergleichbares übergreifendes Merkmal, welches das Urheberrecht deutlich für einen Strafrechtsschutz prädestiniert 48 . Naturgemäß darf man sich mit dieser negativen Aussage nicht begnügen, denn es ist ja denkbar, daß jedes einzelne Schutzrecht ein ganz spezifisches Kriterium aufweist, das kriminalrechtlichen Schutz nahelegt. Daran fehlt es indessen unter jedem denkbaren Gesichtspunkt z. B. bei dem in § 108 N r . 3 U r h G genannten Lichtbild. Das Strafrecht verliert seine Glaubwürdigkeit als Instrument zur Bekämpfung sozialschädlicher Verhaltensweisen, wenn es sämtliche Amateuraufnahmen schützt, die allein 1979 auf 12Ó Mio. Filmen geknipst wurden 4 ', und zwar gerade auch dann, wenn der kriminalrechtliche Schutz insoweit nur auf dem Papier steht. Wie ich an anderer Stelle50 näher dargelegt habe, pönalisiert § 108 U r h G darüber hinaus eine ganze Reihe von anderen Sómtxrtchtsverletzungen, die die Schwelle der Strafwürdigkeit aus verschiedenen Gründen nicht erreichen. Im Ergebnis ist jedenfalls an der These vom perfektionistischen, ja teilweise skurrilen Schutz der benachbarten Schutzrechte in §108 U r h G festzuhalten 51 . c) Mit dieser Kritik an § 108 U r h G und dem Vorschlag seiner Streichung sind indessen die Würfel noch keineswegs zugunsten einer Straflosigkeit des Musikdiebstahls mit seinen eindeutig wirtschaftskriminellen Zügen (dazu oben I) gefallen. Vielmehr würden die geschilderten Verhal48
Dazu näher Weber, Urheberstrafrecht, S. 383 ff. Tagesspiegel vom 12.4.1980, S. 16. 50 Urheberstrafrecht, S. 385 ff. 51 Ebenso spricht Lampe UFITA Bd. 83 (1978), 35 f. und 61 von einem geradezu grotesken Umfang des strafrechtlichen Schutzes der verwandten Schutzrechte, der mit dem rechtsstaatlichen Übermaßverbot nicht zu vereinbaren sei. 49
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tensweisen bei einem Verzicht auf § 108 U r h G nach wie vor in verschiedener Hinsicht strafrechtlich erfaßt: (1) Handelt es sich bei dem rechtswidrig vervielfältigten Musikstück um ein (noch52) urheberrechtlich geschütztes Musikwerk (§2 Abs. 1 N r . 2 UrhG), wie das bei Stücken des modernen HitRepertoires der Fall ist, so sind dessen Komponist und Texter nach § 106 UrhG abgesichert. Dasselbe gilt für die Werkbearbeiter (§ 23 UrhG), auch wenn das bearbeitete Werk selbst nicht mehr geschützt ist. Neben dem Urheber bzw. Bearbeiter steht das Strafantragsrecht (§ 109 UrhG) in diesen Fällen dem gleichfalls verletzten Inhaber des ausschließlichen Nutzungsrechts (§31 Abs. 1 UrhG), also etwa der dergestalt autorisierten Plattenfirma zu". § 106 U r h G greift im übrigen auch zugunsten der Gestalter der äußeren Aufmachung von Platten und MusiCassetten (Grafiker und Fotografen) und der Inhaber entsprechender Nutzungsrechte ein, soweit Werke der bildenden Kunst (§2 Abs. 1 Nr. 4 UrhG) bzw. Lichtbildwerke (§ 2 Abs. 1 Nr. 5 UrhG) hervorgebracht wurden. Kein durchschlagendes Argument für einen zusätzlichen, vom Urheber unabhängigen Schutz des Tonträgerherstellers bilden die von Rochlitz54 angeführten Schwierigkeiten bei der Klärung der Antragsberechtigung und der damit eventuell verbundene finanzielle Aufwand. Derartige Gesichtspunkte allein vermögen zusätzliche Strafbestimmungen mindestens ebensowenig zu legitimieren wie bloße Beweisschwierigkeiten bei der Bekämpfung bestimmter krimineller Verhaltensweisen mit dem unangefochtenen strafrechtlichen Instrumentarium 55 . (2) Unabhängig vom urheberrechtlichen Werkschutz nach § 106 UrhG, der auch dem ausschließlich nutzungsberechtigten Werkverwerter zugute kommt, ist der Tonträgerhersteller in seinen wettbewerbsrechtlichen Belangen durch das U W G geschützt. Werden die von ihm rechtmäßig hergestellten Platten und MusiCassetten auch in der äußeren Aufmachung kopiert (counterfeits), so greift §4 Abs. 1 U W G (strafbare Werbung) ein: Täuschung über geschäftliche Verhältnisse (Beschaffenheit, Ursprung der Waren). 52
S. zur Dauer des Urheberrechts §§ 64 ff. UrhG. Weber, Urheberstrafrecht, S. 374. - Zum Antragsrecht der Verwertungsgesellschaften ( G E M A ) vgl. § 6 Abs. 1 Gesetz über die Wahrnehmung von Urheberrechten und verwandten Schutzrechten (Wahrnehmungsgesetz) vom 9 . 9 . 1 9 6 5 (BGBl.I S. 1294). 54 Film und Recht 1980, 357. 55 Vgl. zu dieser Problematik im Wirtschaftsstrafrecht allgemein Arzt/Weber, Strafrecht Besonderer Teil, Lehrheft 4, 1980, Randnr. 28 mit weiteren Nachweisen. 53
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Ein weiterreichender strafrechtlicher Gewerbeschutz der Tonträgerhersteller nach §108 N r . 5 U r h G , der unabhängig vom Täuschungsgehalt der rechtswidrigen Vervielfältigung und Verbreitung eingreift, begegnet Bedenken, weil dadurch ein strafrechtlicher Sonderschutz eingeräumt wird, der anderen Gewerbetreibenden, z.B. den Verlegern, versagt wird 56 . Eine Beschränkung des strafrechtlichen Gewerbeschutzes für Tonträgerhersteller auf das Wettbewerbsrecht kann um so eher hingenommen werden, wenn es zu der geplanten Änderung des §4 U W G kommt 57 , die an die subjektiven Strafbarkeitsvoraussetzungen der täuschenden Werbung weniger strenge Anforderungen stellt als das geltende Recht. - Der reformierte §4 U W G würde im übrigen besser als das geltende Recht auch dem Verbraucherschutz Rechnung tragen58. (3) Einen ganz spezifischen, vom Recht der geistig Schaffenden (Urheberrecht) getrennten Schutz gewährt den Tonträgerherstellern über das allgemeine Wettbewerbsrecht hinaus das Warenzeichenrecht in §§24 (Abs. 3) und 26 WZG 59 . d) Ein Verzicht auf §108 U r h G würde also keineswegs zu einer strafrechtlichen Schutzlosigkeit der Tonträgerhersteller gegen Musikdiebstahl führen. Vielmehr wären sie durch das Wettbewerbs- und Warenzeichenrecht über ihre Teilhabe am Urheberrechtsschutz hinaus in ihren spezifischen wirtschaftlichen Belangen ausreichend und wie alle anderen Gewerbetreibenden auch geschützt. Weder § 106 U r h G , noch die Strafvorschriften des Wettbewerbs- und Warenzeichenrechts greifen jedoch für die ausübenden Künstler ein. Wenn also f ü r die Beibehaltung von § 108 U r h G überhaupt ein Bedürfnis besteht, so allenfalls für dessen N r . 4. Die Leistung des ausübenden Künstlers kommt - als Nachschöpfung - , anders als die des Tonträgerherstellers, der primär eine organisatorisch-wirtschaftliche Leistung erbringt, der des Werkschöpfers (Urhebers) noch am nächsten. Sein strafrechtlicher Schutz über § 108 U r h G ist also sicher diskutabel. Er müßte allerdings in der H ö h e der angedrohten Strafe hinter der echten Urheberrechtsverletzung zurückbleiben, weil der Darbietung des ausübenden Künstlers allemal das wichtige Element der eigentümlichen geistigen Schöpfung (§2 Abs. 2 U r h G ) fehlt 60 . 56 Dazu näher Weber, Urheberstrafrecht, S. 389 f. sowie AE Straftaten gegen die Wirtschaft, S. 121. 57 Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb, BT-Drucks. 8/2145. 58 Vgl. den in Fußnote 57 genannten Regierungsentwurf und seine Begründung. 59 Dazu näher die Dokumentation „Musikdiebstahl" (Fußn.6), S.49. 60 Dazu näher Weber, Urheberstrafrecht, S.390 und Film und Recht 1980, 344.
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3. Umfassende Strafvorschrift gegen Ausbeutung fremder Leistungen ?61 a) Im Vermögensstrafrecht des StGB werden einerseits spezialisierte Vermögenswerte geschützt (Vermögensdelikte im weiteren Sinne), so das Eigentum ζ. B. gegen Zueignung in §§ 242, 246 StGB und gegen Beschädigung in §§303, 305 StGB; Aneignungsrechte in §§292, 293 StGB; Nießbrauch, Pfand-, Gebrauchs- und Zurückbehaltüngsrechte in §289 StGB. Die Vermögensdelikte im eigentlichen Sinne zum anderen schützen zwar das Vermögen schlechthin, aber nicht lückenlos, sondern nur gegen ganz bestimmte gravierende Angriffe, wie etwa Täuschung (§ 263 StGB) und Nötigung (§253 StGB)62. b) Aus den obigen Darlegungen (1 und 2) erhellt, daß der Strafrechtsschutz im Bereich des kulturellen Schaffens in gleicher Weise konzipiert ist. - § 106 U r h G : Schutz der spezialisierten Vermögenswerte Vervielfältigungs-, Verbreitungs- und Wiedergaberecht des Urhebers; §§4 UWG, 24, 26 W Z G : Schutz des Vermögens des Wettbewerbers gegen täuschende Verhaltensweisen von Mitbewerbern. Auch der von mir (oben 2 b) in Frage gestellte §108 U r h G schützt, wie §106 UrhG, nur (im Urheberrechtsgesetz) spezialisierte Vermögenswerte. Nichts anderes gilt für das Erfinderrecht: der spezialisierte Vermögenswert Erfindung wird in § 49 PatG gegen ganz bestimmte Benutzungshandlungen abgeschirmt. c) N u r diese an konkreten Rechtsgütern und präzise umschriebenen Verletzungshandlungen orientierte Konzeption des Strafrechts ist unter dem Gesichtspunkt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (ultima-ratioGedanke 63 ) erträglich. Der von RochlitzM geforderte „allgemeine Straftatbestand . . . , der sämtliche (!) vorsätzliche rechtswidrige Verletzungsformen im Urheberrecht und im Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes umfaßt", würde demgegenüber das Vermögen aller durch das rechtswidrige Verhalten irgendwie Betroffenen gegen alle denkbaren Angriffe schützen, also eine Reichweite aufweisen, die nicht einmal der Zivilrechtsschutz in § 823 BGB besitzt. Darüber hinaus ist schwer vorstellbar, wie eine solche Vorschrift dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 G G genügen könnte. Vor der Verwirklichung der Anregung von Rochlitz durch den Gesetzgeber kann nach alledem nur dringend gewarnt werden. Auf einem anderen Blatt steht selbstverständlich die gesetzestechnische Frage, ob es empfehlenswert ist, etwa die strafwürdige Urheber- und Patentrechtsverletzung in einer Strafvorschrift mit verschiedenen Tatbe61 62 65 64
Vgl. den oben II 2 c wiedergegebenen Vorschlag von Dazu bereits oben III 2 b. S. oben III 1 c. Film und Recht 1980, 359.
Rochlitz.
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ständen zusammenzufassen und ins StGB einzustellen, wie das in § 204 AE Straftaten gegen die Wirtschaft vorgeschlagen wird.
IV. Zusammenfassung Die Ergebnisse der Überlegungen zur strafrechtlichen Erfassung des Musikdiebstahls lassen sich kurz wie folgt zusammenfassen: 1. Nach der Raubdruckbewegung hat neuerdings die Musikpiraterie die praktische Bedeutung des Urheberstrafrechts wesentlich erhöht. 2. Das massenweise Umsichgreifen von Musikdiebstählen und die dadurch verursachten beträchtlichen Schäden legen eine Verschärfung der Strafdrohung in § 106 UrhG für Urheberrechtsverletzungen nahe (Anhebung der Höchststrafe auf drei Jahre Freiheitsstrafe, insbesondere zur wirksamen Bestrafung von Wiederholungstätern). 3. Dem wirtschaftskriminellen Gehalt des Täterverhaltens wird die Ausgestaltung der Urheberrechtsverletzung als Antragsdelikt nicht gerecht. § 106 sollte Offizialdelikt werden. 4. a) Die Hersteller von Tonträgern sind als Inhaber absoluter Nutzungsrechte an Werken i. S. von §2 UrhG durch § 106 UrhG mit geschützt. b) Die Ausbeutung ihrer spezifischen organisatorisch-wirtschaftlichen Leistung wird angemessen von § 4 UWG und den vergleichbaren Bestimmungen des Warenzeichengesetzes strafrechtlich erfaßt. c) Ein darüber hinausgehender Strafrechtsschutz nach §108 Nr. 5 UrhG ist entbehrlich. 5. Eine Beibehaltung des §108 UrhG kommt lediglich zugunsten der ausübenden Künstler (§ 108 Nr. 4 UrhG) in Betracht, die anderweitig strafrechtlich nicht geschützt sind. 6. Die Schaffung eines allgemeinen Straftatbestandes, der sämtliche vorsätzlichen rechtswidrigen Verletzungsformen im Urheberrecht und im Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes erfaßt, ist wegen verfassungsrechtlicher Bedenken (Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und gegen das Bestimmtheitsgebot) abzulehnen.
Verzeichnis der Schriften von Werner Sarstedt
Zusammengestellt von
REGINA MICHALKE
1948 1. Presse und Justiz Schriftenreihe Recht und Zeit, Heft 8, Bleckede 1948 1952 2. Betrug durch Amtserschleichung Juristische Rundschau, 1952, S. 308-309 1953 3. Die Revision in Strafsachen. - Das Recht des Revisionsverfahrens in Strafsachen für den praktischen Gebrauch bearbeitet von Kurt Gage, Kammergerichtsrat 2. neubearb. Aufl., Essen 1953 1954 4. Die Revision in Strafsachen. - Das Recht des Revisionsverfahrens in Strafsachen für den praktischen Gebrauch bearbeitet von Kurt Gage, Kammergerichtsrat 3. neubearb. Aufl., Essen 1954 5. Anmerkung zu BayObLG vom 5. 8.1953, RevReg 1 St 63/53 Juristische Rundschau 1954, S. 114 6. Anmerkung zu BGH vom 13.11.1953, 5 StR 496/53 (BGHSt. Bd. 5, S. I l l = NJW 1954, S. 1127) Lindenmaier/Möhring Nr. 30 zu §154 StGB 7. Anmerkung zu KG vom 6.1.1954, 1 Ss 427/53 Juristische Rundschau 1954, S. 232 8. Anmerkung zu KG vom 20.1.1954, 1 a Vs 22/53 Juristische Rundschau 1954, S. 192 9. Anmerkung zu BGH vom 6.4.1954, 5 StR 89/54 (BGHSt. Bd. 6, S. 117 = NJW 1954, S. 1210) Lindenmaier/Möhring Nr. 2 zu § 45 GVG 10. Anmerkung zu BGH vom 18.5.1954, 5 StR 653/53 (BGHSt. Bd. 6, S. 141 = NJW 1954, S. 1497) Lindenmaier/Möhring Nr. 6 zu § 249 StPO
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11. Anmerkung zu KG vom 20.5.1954, (2) 1 Ss 139/54 (6/54) Juristische Rundschau 1954, S.272 12. Anmerkung zu KG vom 9.6.1954, (1) 1 Ss 281/54 (328/54) Juristische Rundschau 1954, S. 391 13. Anmerkung zu KG vom 16.6.1954, (1) 1 Ss 227/54 (203/54) Juristische Rundschau 1954, S.431 14. Anmerkung zu B G H vom 29.6.1954, 5 StR 207/54 (BGHSt. Bd. 6, S. 199 = NJW 1954, S. 1415) Lindenmaier/Möhring N r . 15 zu § 140 StPO 15. Anmerkung zu B G H vom 14. 7.1954, 5 StR 324/54 (BGHSt. Bd. 6, S. 206 = NJW 1954, S. 1377 = JZ 1954, S.709) Lindenmaier/Möhring N r . 1 zu § 59 J G G 16. Anmerkung zu KG vom 6.10.1954, 1 Ss 318/53 (Β) 400/53 Juristische Rundschau 1954, S.471 1955
17. Bindung des Vorderrichters (§ 358 Abs. 1 StPO) trotz Verletzung der Vorlagepflicht (§121 Abs. 2 GVG) durch das Revisionsgericht Neue Juristische Wochenschrift 1955, S. 1629-1630 18. Anmerkung zu BayObLG vom 21.12.1954, 2 St 711/1954 Juristische Rundschau 1955, S. 152 19. Anmerkung zu O L G Hamburg vom 23.3.1955, Ss 2/55 Juristische Rundschau 1955, S.233 20. Anmerkung zu B G H vom 6.4.1955, 5 StR 471/54 (BGHSt. Bd. 7, S.314 = NJW 1955, S.997) Lindenmaier/Möhring N r . 10 zu § 121 GVG 21. Anmerkung zu KG vom 23.5.1955, 1 Ord AR 30/55, 2 Ws 43/55 Juristische Rundschau 1955, S. 351 22. Anmerkung zu KG vom 26.5.1955, 2 Vs 10/55 Juristische Rundschau 1955, S. 311 23. Anmerkung zu O L G Hamburg vom 15.6.1955, Ss 53/55 Juristische Rundschau 1955, S.433 24. Anmerkung zu B G H vom 8.2.1955, 5 StR 561/54 (BGHSt. Bd. 7, S. 205 = N J W 1955, S.680) Lindenmaier/Möhring zu §338 N r . 1 StPO 25. Anmerkung zu B G H vom 2.11.1954, 5 StR 492/54 (BGHSt. Bd. 7, S. 26 = NJW 1955, S.273 = JR 1955, S. 104 = JZ 1955, S.219 = M D R 1955, S. 180) Lindenmaier/Möhring Nr. 2 zu §338 Nr. 4 StPO 26. Anmerkung zu B G H vom 23.11.1954, 5 StR 301/54 (NJW 1955, S. 191) L i n d e n m a i e r / M ö h r i n g N r . 7 zu § 254 S t P O
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27. Anmerkung zu B G H v o m 3 0 . 1 1 . 1 9 5 4 , 5 StR 280/54 ( B G H S t . Bd. 7, S. 75 = N J W 1955, S.510) Lindenmaier/Möhring N r . 17 zu § 2 6 7 Abs. 1 S t P O 28. Anmerkung zu B a y O b L G v o m 3 . 9 . 1 9 5 4 , R R e g 2 St 668/54 Juristische Rundschau 1955, S . 2 9 1956 29. In welcher Weise empfiehlt es sich, die Grenzen des strafrichterlichen Ermessens im künftigen Strafgesetzbuch zu regeln (Ermessensfreiheit oder gesetzliche Bindung des Richters bei der Verhängung der Strafe und sonstiger Unrechtsfolgen)? - Referat Verhandlungen des 41. Deutschen Juristentages, Band I I / D : Zweite Abteilung, S. D 29 - D 53, Berlin 1956 30. Rundfunkaufnahmen im Gerichtssaal Juristische Rundschau 1956, S. 121 31. Vorwort zu Blaese: Die Förmlichkeit der Revision in Strafsachen, 1956 32. Anmerkung zu K G v o m 5 . 1 2 . 1 9 5 5 , 2 Ws 257/55 (1 Ss 516/55) Juristische Rundschau, 1956, S. 112 33. Anmerkung zu K G v o m 2 3 . 2 . 1 9 5 6 , (2) 1 Ss 352/55 (223/55) Juristische Rundschau 1956, S. 310 34. Anmerkung zu H a m b u r g v o m 2 9 . 2 . 1 9 5 6 , Ss 6/56 Juristische Rundschau 1956, S.274 1957 35. Rundfunkaufnahmen im Gerichtssaal - Referat Tonbandaufnahmen, Zulässigkeit und Grenzen ihrer Verwendung im Rechtsstaat Bericht über eine Arbeitstagung am 16./17.11.1956 in Weinheim a. d. B., Institut zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten Mannheim 1957 36. Die Uberbelastung des Richters Deutsche Richterzeitung 1957, S. 60-61 37. Anmerkung zu K G v o m 2 7 . 9 . 1 9 5 6 , (27) 1 Ss 164/56 (106/56) Juristische Rundschau 1957, S . 2 7 2 38. D i e Kontrolle der Ermessensfreiheit des Richters bei der Festsetzung von Strafen und sichernden Maßregeln Deutsche Beiträge z u m VII. Internationalen Strafrechtskongreß in Athen v o m 26. September bis 2. Oktober 1957, S.133-147
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1958 39. Anmerkung zu KG vom 15. 8.1957, (2) 1 Ss 185/57 (141/57) Juristische Rundschau 1958, S.270 40. Anmerkung zu OLG Köln vom 3.1.1958, Ss 434/57 Juristische Rundschau 1958, S. 351 41. Anmerkung zu OLG Neustadt a.d. W. vom 26.1.1958, Ss 2/58 Juristische Rundschau 1958, S. 352 42. Anmerkung zu BGH, 5 StR 219/58 vom 20.6.1958 (BGHSt. Bd. 11, S. 361 = NJW 1958, S. 1309 = MDR 1958, S.785) Lindenmaier/Möhring Nr. 1 zu § 359 StPO 43. Anmerkung zu BGH vom 5.8.1958, 5 StR 160/58 (NJW 1958, S. 1692) Lindenmaier/Möhring Nr. 12 zu § 63 GVG 1959 44. Anmerkung zu BayObLG vom 2.10.1958, RReg 1 St 455 a-b/1958 Juristische Rundschau 1959, S.69 45. Anmerkung zu KG vom 15.1.1958, (1) 1 Ss 386/57 (208/57) Juristische Rundschau 1959, S. 106 46. Anmerkung zu BGH vom 28.10.1958, 5 StR 419/58 (BGHSt. Bd. 12, S. 94 = NJW 1959, S.56 = MDR 1959, S. 139) Lindenmaier/Möhring Nr. 24 zu § 358 StPO 47. Anmerkung zu OLG Neustadt a. d. W. vom 29.10.1958, Ss 119/58 Juristische Rundschau 1959, S. 72 48. Besprechung zu Karl Heinrich Bode: Die Entscheidung des Revisionsgerichts in der Sache selbst, Berlin 1958 Juristische Rundschau 1959, S. 119 1960 49. Uber offensichtlich unbegründete Revisionen Juristische Rundschau 1960, S. 1 50. Anmerkung zu BayObLG vom 18.9.1959, RReg 1 St 503/59 Juristische Rundschau 1960, S. 146 51. Strafverfahren Deutsche Richterzeitung 1960, S. 349-352 1961 52. Besprechung zu Joachim Ganske: Der Begriff des Nachteils bei den strafprozessualen Verschärfungsverboten, Berlin 1961 Juristenzeitung 1961, S. 103
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53. Anmerkung zu B a y O b L G vom 2 3 . 2 . 1 9 6 0 , RevReg 2 St 763/1959 Juristische Rundschau 1961, S . 2 2 5 54. Anmerkung zu K G vom 1 2 . 1 2 . 1 9 6 0 , 3 Vs 3/60 Juristische Rundschau 1961, S. 106 1962 55. Die Revision in Strafsachen 4., verbesserte und wesentlich erweiterte Auflage des von Kammergerichtsrat Kurt Gage begonnenen Werkes Essen 1962 56. Der Strafrechtler und der psychiatrische Sachverständige Die Justiz 1962, S. 110-179 57. § 398 I S t P O in der Praxis Juristenzeitung 1962, S. 775 1963 58. Besprechung zu Hans-Jürgen Bruns: Teilrechtskraft und innerprozessuale Bindungswirkung des Strafurteils, Köln 1961 Neue Juristische Wochenschrift 1963, S. 753 59. Reform der Untersuchungshaft Die Justiz 1963, S . 1 8 4 60. Gegen die Todesstrafe In: Dokumentation über die Todesstrafe (Hrsg. Armand Mergen), S. 5 4 1 - 5 4 2 Darmstadt 1963 61. Die Revision in Strafsachen. - Eine Erwiderung auf Frank (Anwaltsblatt 1963, S. 163) Anwaltsblatt 1963, S . 3 2 7 1964 62. Gebundene Staatsanwaltschaft? Neue Juristische Wochenschrift 1964, S. 1752-1758 63. Besprechung zu Ursula Panhuysen: Die Untersuchung des Zeugen auf seine Glaubwürdigkeit, Berlin 1964 Juristische Rundschau 1964, S. 276 64. Besprechung zu Schwarz/Kleinknecht, Strafprozeßordnung 24. Aufl. 1963 Neue Juristische Wochenschrift 1964, S. 1664 65. Der Beweisantrag im Strafprozeß Deutsches Autorecht 1964, S. 307-314
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1965 66. Richterliche Aufklärungspflicht und die Rüge ihrer Verletzung Kraftfahrt und Verkehrsrecht 1965, S. 50-69 67. Verspätete Absetzung von Strafurteilen Juristenzeitung 1965, S. 238-242 68. Anmerkung zu B a y O b L G vom 17.11.1964, RReg 2 a 638/63 Juristenzeitung 1965, S.292 69. Anmerkung zu B a y O b L G vom 15.12.1964, RReg 2 a 496/64 Juristenzeitung 1965, S. 372 70. Zeugnisverweigerungsrecht nicht Sache der Länder Zeitschriftenverlag und Zeitungsverlag, Ein Organ für Presserecht, 1965, S. 1170 1966 71. Anmerkung zu BVerfG vom 3 . 3 . 1 9 6 6 , 2 BvE 2/64 Juristenzeitung 1966, S. 314-316 72. Geleitwort zu Harold Percy Romberg: Die Richter Ihrer Majestät 2. Aufl., Stuttgart 1966 73. Beweisverbote im Strafprozeß - Referat Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Band II Teil F, S. F8-F29 Essen 1966 74. Konkurrenz von Revisionsrügen In: Festschrift für Hellmuth Mayer, S. 529-542 Berlin 1966 75. Im Paragraphenturm. Rezension zu Xaver Berra: Streitschrift zur Entideoplogisierung der Justiz Deutsche Richterzeitung 1966, S. 337-339 1967 76. Besprechung zu Eb. Schmidt: Lehrkommentar zur StPO und zum G V G , Nachträge und Ergänzungen zu Teil II, 1. Lieferung Juristenzeitung 1967, S.229 77. Der Vorsitzende des Kollegialgerichts Juristen-Jahrbuch Bd. 8, 1967-1968, S. 104-119 78. Beweisregeln im Strafprozeß In: Berliner Festschrift für Ernst E. Hirsch, S. 171-186 Berlin 1968 79. Wandlungen des Strafrechts In: Ehrengabe für Bruno Heusinger, S. 342-354 1968
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80. Auswahl und Leitung des Sachverständigen im Strafprozeß (§§ 73,78 StPO) Neue Juristische Wochenschrift 1968, S. 177-182 81. Besprechung von Hermann Weinkauff: Deutsche Justiz und Nationalsozialismus Der Spiegel 1968, N . 52, S. 134 82. Nochmals: Die verspätete Verfassungsrüge Neue Juristische Wochenschrift 1968, S. 925-927 83. Was erwartet die Praxis von einem neuen Strafrecht? In: Justiz im Wandel der Gesellschaft (Heft 36, Schriftenreihe Kirche und Gesellschaft - Beiträge zur Sozialethik) Stuttgart 1968
1969 84. Der forensische Beweiswert ärztlicher Befunde und naturwissenschaftlicher Untersuchungsmethoden - Referat In: Beiträge zur gerichtlichen Medizin Band XXV, S. 14-28 Wien 1969 85. Postglosse (zu der Glosse „Beratungsgeheimnis und Richterbildung", Juristenzeitung 1969, S.33) Juristenzeitung 1969, S. 116 86. Anmerkung zu O L G Nürnberg vom 27.8.1968, Ws 366/68 und 367/68 Juristenzeitung 1969, S. 152
1970 87. Die Angst und das Recht, Vortrag In: Evangelische Zeitstimmen, S. 19-32 Hamburg 1970 88. Paulheinz Baldus | Juristenzeitung 1971, S. 287 89. Steht der Richter unter dem Druck der öffentlichen Meinung? Archiv für Presserecht 1971, S. 146-150
1972 90. Fragen zur Rechtsbeugung In: Festschrift für Ernst Heinitz zum 70. Geburtstag, S. 427-444 Berlin 1972
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1973 91. Tendenzen in der Entwicklung des heutigen Strafrechts aus der Sicht der Strafrechtsprechung In: Horstkotte/Kaiser/Sarstedt: Tendenzen in der Entwicklung des heutigen Strafrechts, Schriften der Evangelischen Akademie in Hessen und Nassau, Heft 103, S. 51-65 Frankfurt 1973
1974 92. Die Entscheidungsbegründung im deutschen strafgerichtlichen Verfahren In: Die Entscheidungsbegründung in europäischen Verfahrensrechten und im Verfahren vor internationalen Gerichten, S. 8 3 - 9 9 W i e n - N e w Y o r k 1974
1977 93. Zur Reform der Revision in Strafsachen In: Festschrift für Eduard Dreher zum 70. Geburtstag, S. 6 8 1 - 6 9 6 Berlin 1977 94. Mehr Mühe mit dem Rechtsstaat - Spiegel Essay Der Spiegel 1977, Nr. 22, S. 54 + 55 95. Fragen des Sachverständigenbeweises zur Zurechnungsfähigkeit In: Festschrift für Erich Schmidt-Leichner zum 65. Geburtstag, S. 171-183 München 1977
1978 96. Empfiehlt es sich, das Rechtsmittelsystem in Strafsachen, insbesondere durch Einführung eines Einheitsrechtsmittels, grundlegend zu ändern? Sitzungsbericht L zum 52. Deutschen Juristentag, S. L 35 - L 49 Wiesbaden 1978 97. Max Alsberg, ein deutscher Strafverteidiger Anwaltsblatt 1978, S. 7 - 1 4
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98. Die Situation des Strafprozesses: Richter, Strafverteidiger, Staatsanwalt In: Richter-Rechtsanwalt-Staatsanwalt. Selbstverständnis und gegenseitiges Verständnis, Tagung vom 6. bis 8. Oktober 1978 in Bad Boll Bad Boll 1978 1979 99. Vorwort zu Barbara Just-Dahlmann: Stuttgart 1979
Tagebuch einer Staatsanwältin
1980 100. Nachwort zu Rudolf Gerhardt: Von Fall zu Fall - Notizen aus der Residenz des Rechts Baden-Baden 1980 1981 101. Vom Richter zum Anwalt In: Strafverteidiger, Jahrgang 1, Heft 1, Seite 42-46 Februar 1981