Serta Romanica: Festschrift für Gerhard Rohlfs zum 75. Geburtstag [Reprint 2015 ed.] 9783110945096, 9783484500105


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German Pages 338 [340] Year 1968

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Table of contents :
Instrumentale Strukturen der romanischen Sprachen
Zur semantischen Differenzierung der romanischen Sprachen
Randbemerkungen zum Thema Dissimilation
Graeca Romanica
Zur Stellung des Adverbs in der französischen Sprache
Zur Geschichte des Begriffs le bon sens
Die Bezeichnungen für ,Weg‘ im Galloromanischen
Fr. juste f. ,Krug‘
Zum Wortschatz der albanischen Mundarten in Kalabrien
Isoglosse grecanico-serbocroate. Italia meridionale e Ragusa
Séneca y el Latín de España (aptare, subitaneus, mancipium, prauus)
Monjes, Vascos y Franceses en la Rioja medieval
Studien zum Wortschatz von Hocharagon
Amboß, Ziegenbock und betrogener Ehemann. Betrachtungen zu asturisch-galicisch cabruñar ,dengeln‘
Das Alexiuslied als Vortragsdichtung
Zur Frage der Dante-Übersetzung
Dante als Beter
Altrui bei Goldoni
Klassische Elemente in ‹A la recherche du temps perdu›
Märchenerzähler und Nacherzähler in der Romania. Fragmentarischer Beitrag zur Erzählforschung
Vertonung zweier französischer Gedichte. Maurice Maeterlinck, Chanson; Paul Valéry, Les Grenades
Verzeichnis der Schriften von Gerhard Rohlfs
Dissertationen und Habilitationsschriften der Schüler von Gerhard Rohlfs
Wortindex zu den sprachwissenschaftlichen Beiträgen
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Serta Romanica: Festschrift für Gerhard Rohlfs zum 75. Geburtstag [Reprint 2015 ed.]
 9783110945096, 9783484500105

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SERTA ROMANICA F E S T S C H R I F T FÜR G E R H A R D ROHLFS

SERTA ROMANICA FESTSCHRIFT FÜR GERHARD ROHLFS ZUM 75. GEBURTSTAG

Im Einvernehmen mit W. Theodor Elwert und Heinrich Lausberg herausgegeben von Rudolf Baehr und Kurt Wais

MAX NIEMEYER VERLAG TUBINGEN

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1968 Alle Rechte vorbehalten · Printed in Germany Satz und Druck: H . L a u p p jr Tübingen Einband von Heinr.Koch Tübingen

ET VIRIDI IN CAMPO TEMPLUM DE MABMOKE PONAM. Geórgica 111,13

HOCHVEREHRTER M E I S T E R UND K O L L E G E !

Selbstzufriedene Rückschau ist Ihrem unermüdlich nach vorwärts, auf stets neue und tiefere Erkenntnis gerichteten Wesen fremd. Wir möchten Ihnen daher einen Vergil-Vers widmen, der - selbst jenem hohen Preislied auf das Tun des Menschen entnommen - nach Art einer Devise in einer einzigen Zeile Dynamik, Wesen und Besonderheit Ihres Schaffens zu umgreifen scheint. Ihr starkes Wollen und Ihr sicheres, in stetem Fortgang begriffenes Vollbringen finden in der Doppelbedeutung der Futurform ihren sprachlichen Ausdruck. Sich selbst als pZeiw-atr-Romanisten verstehend haben Sie schon als blutjunger Student, sodann als langjähriger Mitarbeiter des AIS und seither in ungezählten Forschungsreisen die romanische Sprachwissenschaft aus einem bloßen Retortendasein in den Gelehrtenstuben hinausgeführt auf den viridis campus, der sich Ihrer „Conquistadorennatur" (Jaberg) von Griechenland und Rumänien bis an die Westküste der Iberischen Halbinsel dehnt. Auf diesem immer grünenden Felde der immittelbaren Sprachwirklichkeit hatten und haben sich für Sie alle Theorien, Thesen und Spekulationen zu bewähren. So wurden Sie in einem wissenschaftsgeschichtlich bedeutsamen Moment zum Künder eines recht verstandenen, lebensvollen „Positivismus" in der Auseinandersetzung mit der „idealistischen Neuphilologie", deren grundsätzliche Fragestellung Sie in ihrer Berechtigung nie angezweifelt haben, deren vorschnelle Schlußfolgerungen und sachlichen Unrichtigkeiten Sie aber im Dienste der Sache zurückweisen mußten. Ihre mit Selbständigkeit, Konsequenz und Strenge entwickelte Methode, die Fülle verifizierten Wissens und eine glückliche Kombinationsgabe machten Sie zu einem entscheidenden Beförderer der romanischen Dialektologie, deren überragende Bedeutung für die romanische Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts außer Zweifel steht. Auf diesem weiten Feld haben Sie ein Werk aufgerichtet, das sich uns wie ein Tempel Ihrer geliebten Magna Graecia darstellt: durchflutet von Licht und Luft, noch im kleinsten Einzelteil sinnvoll auf die Harmonie des Ganzen bezogen, der Zeit und der Mode trotzend. Wer kennte nicht die mächtigen Saiden - Ihre opera magna,

VI die Ihre Bibliographie in so imponierender Zahl ausweist - und wer sähe nicht die Hand des Meisters in jedem einzelnen Zug? Die verdiente Anerkennung für Ihre Arbeit blieb nicht aus. Sie rückten auf dem Lehrstuhl Karl Vosslers nach und nehmen Benedetto Croces Sessel in der K. Schwedischen Akademie der Wissenschaften ein. Athen, Palermo und Turin haben Ihnen die Würde des doctor honoris causa verliehen, bedeutende Akademien und gelehrte Gesellschaften haben Sie zu ihrem Mitglied oder Ehrenmitglied gewählt, verschiedene Staaten haben Sie mit hohen Orden für wissenschaftliches Verdienst ausgezeichnet, mehrere Städte Süditaliens haben Sie zu ihrem Ehrenbürger gemacht; die Fachwelt ehrte Sie zu Ihrem 60. Geburtstag mit einer Tabula gratulatoria, zu Ihrem 65. mit einer Festschrift. Mit Bewunderung, Stolz und Dankbarkeit gedenkt Ihrer auch heute die romanische Philologie in aller Welt und mit ihr ungezählte ehemalige Studenten in Tübingen und München, denen Sie akademischer Lehrer und leuchtendes Vorbild eines gelebten Wissenschaftsethos waren und sind. Die Zahl derer, die sich Ihnen verbunden fühlen, überschreitet so sehr die technischen Grenzen einer Festschrift, daß sich die Herausgeber von vorn herein auf den Grundsatz einer nur andeutungsweisen Stellvertretung zurückziehen mußten. Und wenn wir allen Beiträgern zu danken haben, so müssen wir alle anderen, die nicht eingeladen werden konnten, ebenso herzlich um ihr gütiges Verständnis für die uns gezogenen Grenzen bitten. Eine thematische Beschränkung schien im Hinblick auf den zu Ehrenden nicht gerechtfertigt, da er ja geradezu die Verkörperung der Weite unseres Faches ist. Daß die sprachwissenschaftlichen Beiträge überwiegen, ist selbstverständlich ; ebenso selbstverständlich ist es aber auch, daß Literatur und Volkskunde in einer Rohlfs-Festschrift vertreten sind. H. Lausbergs Vertonungen evozieren den Jubilar als Gründer und Protektor romanischer Chöre, mit denen sich für alle einst Beteiligten, nicht zum wenigsten für Sie als den Initiator selbst, viele schöne Erinnerungen verbinden. Es bleibt den Herausgebern zum Schluß, all denen wärmstens zu danken, die das Zustandekommen dieser Festschrift ermöglichten, ganz besonders Herrn Verleger Robert Harsch-Niemeyer, der mit ebenso raschem wie freudigem Entschluß die Drucklegung des Buches übernahm. Stellvertretend für alle Ihre Freunde und zusammen mit unseren allerbesten Wünschen legen wir, verehrter Meister, diese Festschrift als Zeichen unseres Dankes und unserer Verbundenheit in Ihre Hände. Die Herausgeber

INHALT MARIO WANDRUSZKA

Instramentale Strukturen der romanischen Sprachen

1

HANS-WILHELM KLEIN

Zur semantischen Differenzierung der romanischen Sprachen .

17

E R N S T GAMILLSCHEG

35

Randbemerkungen zum Thema Dissimilation E U G E N I O COSERIU

Graeca Romanica

45

HARALD WEINRICH

Zur Stellung des Adverbs in der französischen Sprache . . . .

59

H A N S SCKOMMODAU

73

Zur Geschichte des Begriffs le bon sens K U R T BALDINGER

Die Bezeichnungen für ,Weg' im Galloromanischen

89

MANFRED BAMBECK

F r .juste f. ,Krug'

107

EQREM ÇABEJ

Zum Wortschatz der albanischen Mundarten in Kalabrien . . .

115

M I R K O DEANOVIÓ

Isoglosse grecanico-serbocroate. Italia meridionale e Ragusa .

125

A N T O N I O TOVAR

Séneca y el Latín de España (aptare, snbitaneus, prauus)

mancipium, 133

Vili M A N U E L ALVAR

Monjes, Vascos y Franceses en la Rioja medieval

141

ALWIN K U H N

Studien zum Wortschatz von Hocharagon

157

JOSEPH M . P I E L

Amboß, Ziegenbock und betrogener Ehemann. Betrachtungen zu asturisch-galicisch cabruñar .dengeln'

171

RUDOLF BAEHR

Das Alexiuslied als Vortragsdichtung

175

W . THEODOR ELWERT

Zur Frage der Dante-Übersetzung

201

HANS RHEINFELDER

Dante als Beter

219

KURT WAIS

Altrui bei Goldoni

237

FRITZ SCHALK

Klassische Elemente in . . .

251

FELIX KARLINGER

Märchenerzähler und Nacherzähler in der Romania. Fragmentarischer Beitrag zur Erzählforschung

257

H E I N R I C H LAUSBERG

Vertonung zweier französischer Gedichte. Maurice Maeterlinck, Chanson ; Paul Valéry, Les Grenades

269

LISELOTTE B I H L

Verzeichnis der Schriften von Gerhard Rohlfs Dissertationen und Habilitationsschriften der Schüler von Gerhard Rohlfs

291 311

ULRIKE EHRGOTT

Wortindex zu den sprachwissenschaftlichen Beiträgen

315

Instrumentale Strukturen der romanischen Sprachen M A B I O WANDRTTSZKA TÜBINGEN

Die Partizipialendung -ata, -ada, -ée ist in den romanischen Sprachen bekanntlich auch auf Substantiva übertragen worden, und so auch auf Zeiteinheiten: italienisch il giorno - la giornata, il mattino, la mattina - la mattinata; französisch le jour - la journée, le matin - la matinée usw. Daraus ist ein den romanischen Sprachen eigentümliches zusätzliches Register geworden, das verwendet wird, um von der Zeiteinheit als solcher weitere Bedeutungen abzuleiten. Diese erweiterte Form hat keine einheitliche Funktion. Sie kann 1. gegenüber der einfachen Zeitangabe den betreffenden Zeitabschnitt in seiner ganzen Ausdehnung, seinem ganzen Ablauf meinen, 2. diese Zeit als erlebte Zeit kennzeichnen, 3. besondere Ereignisse, Tätigkeiten, Veranstaltungen in dieser Zeit bezeichnen, 4. den Ertrag dieser Tätigkeiten und Veranstaltungen meinen. Jede dieser Bedeutungen ist für jede Zeiteinheit denkmöglich, man könnte sie für die Stunde so gut verwenden wie für den Abend und die Nacht, für die Woche oder den Monat so gut wie für das Jahr. Aber die erweiterte Form steht uns nicht immer und überall frei zur Verfügung, sie bietet uns kein offenes Programm, das wir nach Belieben verwirklichen können, um irgendeinem Zeitabschnitt eine der erwähnten Bedeutungen zu geben. Es ist ein sehr lückenhaftes und launenhaftes Programm. Von Sprache zu Sprache finden wir die erweiterte Form unterschiedlich verwendbar und unterschiedlich geläufig, ohne daß wir sagen könnten, daß hier dafür ein größeres geistiges Bedürfnis bestehen würde als dort. Und wenn wir uns fragen, was in den Fällen geschieht, in denen sie nicht gebraucht werden kann, stellen wir fest, daß oft die einfache Form die weiteren Bedeutungen mit umfaßt - so wie ja auch im Deutschen und Englischen: f. Toute la soirée, toute la nuit, toute la matinée du lendemain, les deux équipes constituées par Antoine se relayèrent sans relâche, de trois heures en trois heures, au chevet de M. Thibault (Th. 575) d. Den ganzen Abend, die ganze Nacht und den ganzen folgenden Morgen lösten

Mario Wandruszka

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e. i. s. p.

sich die beiden Gruppen, die Antoine zusammengestellt hatte, unermüdlich alle drei Stunden an Herrn Thibaults Krankenlager ab. All that afternoon, all night, and throughout the following morning Tutta la sera, tutta la notte, tutta la mattinata seguente Durante toda la tarde, toda la noche, toda la mañana del día siguiente Durante toda a tarde, toda a noite, toda a manhâ do dia seguinte

I m Französischen, wie man sieht, eingebettet in zwei erweiterte Formen eine einfache Form: toute la soirée, toute la nuit, toute la matinée; der italienische Übersetzer gebraucht dafür nur eine einzige erweiterte Form: tutta la sera, tutta la notte, tutta la mattinata. Nicht einmal der französische und der italienische Gebrauch stimmen miteinander überein 1 : f. Ce jour-là, Jacques avait passé la matinée dans sa chambre... D'ailleurs, il était bien décidé à ne voir personne de toute la journée (Th 644) d. Jacques hatte an diesem Tage die Vormittagsstunden in seinem Zimmer verbracht ...Er war im übrigen fest entschlossen, den ganzen Tag niemand zu sehen. i. Quel giorno, Jacques aveva passato la mattinata in camera... Deciso a non vedere per tutto il giorno anima viva,... Manchmal handelt es sich auch innerhalb derselben Sprache nur um eine Stilvariante: f. d. e. p.

Tout le jour, je sentais des regards braqués sur moi (JF 74) Den ganzen Tag über fühlte ich, daß Blicke auf mich gerichtet waren All day long i. Tutto il giorno s. Durante todo el día Durante o dia todo

f. toute la journée, j'écoutais les instructions d'un prédicateur (JF 75) d. den ganzen Tag über hörte ich die Weisungen eines Predigers an e. all day long i. per tutto il giorno s. todo el día p. durante o dia enteiro Wenn auch lückenhaft und launenhaft, bietet dieses Programm doch feinere Unterscheidungsmöglichkeiten. Freilich, wo diese Möglichkeit nicht besteht, kann auch die Polysemie dasselbe leisten. I n dem folgenden deutschen Beispiel ergibt sich aus dem Kontext, daß der Tag nicht nur als Zeiteinheit, sondern als besonderes Erlebnis gemeint ist: 1

Für das Französische haben im Sommersemester 1963 die Mitglieder meines Tübinger Oberseminars mehrere Tausend Beispiele aus Texten des 19. und 20. Jahrhunderts gesammelt und gedeutet. Davon ausgehend hat Frau Ursula Liehr, geb. Reuss 1965 eine sehr gute Zulassungsarbeit zur Staatsprüfung vorgelegt. Die darauf aufbauende Dissertation steht vor dem Abschluß.

INSTRUMENTALE

STRUKTUREN

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d. Und dann begann der Tag, der erste dieser armseligen achtundzwanzig Tage, die anfangs wie eine ewige Seligkeit erschienen und, waren die ersten vorüber, so verzweifelt schnell zerrannen... (B 557) f. Puis la journée commençait, la première de ces lamentables vingt-huit journées e. the day i. la giornata s. el dia p. o dia Oder es heißt in einer italienischen Erzählung: i. I due passavano cosí quelle giornate in vagabondaggi trasognati... (Ga 192) d. So verbrachten die beiden jene Tage in verträumtem Wandern... e. those days f. les journées s. aquellas jornadas p. aqueles dios Und einige Zeilen weiter knapper zusammengefaßt: i. d. e. s.

Quelli furono i giorni migliori della vita di Tancredi e di quella di Angelica Dies waren die besten Tage im Leben Tancredis und Angélicas the best clays f. les plus beaux jours los días mejores p. os dios melhores

Die erweiterte Form kann den Arbeitstag, die Tagesarbeit bezeichnen: f.Je lui parlai de moi, la semaine suivante; je lui racontai mon ennui, et que je ne trouvais plus aucun sens à la vie. ,,ΙΙ n'y a pas besoin de tant chercher", me répondit-il gravement. „II faut faire simplement sa journée" (JF 230) d. In der darauffolgenden Woche sprach ich zu ihm von mir selbst; ich erzählte ihm von dem Gefühl der Leere, das ich oft hätte, und daß ich dem Leben keinen Sinn abgewinnen könne. ,,Da brauchst du nicht lange zu suchen", gab er mir ernst zur Antwort. „Man muß einfach sein Tagewerk verrichten." Die erweiterte Form kann auch den Reisetag, die Tagereise bezeichnen: f. ...louer une barque, et s'en aller, à petites journées, le long des côtes, jusqu'à Gibraltar (Th 52) d. .. .ein Boot mieten und in kleinen Tagreisen an der Küste entlang bis Gibraltar fahren e. by easy stages i. a piccole tappe s. por pequeñas jomadas p. em pequeñas viagens Im Englischen ist aus der Tagereise, the journey, die (Land-)Reise geworden. Die Sprache ist das Werkzeug des Geistes, sie ist nicht selbst Geist. Von den Strukturen des Erlebens, des Denkens heben sich die Werkzeugstrukturen der Sprache ab. Da ist im Französischen die formale Opposition jour-journée: in der Verwendung dieser Wörter kann man Strukturen des

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MARIO

WANDBUSZKA

Erlebens, des Denkens erkennen. Die entsprechende formale Opposition nuit-nuitée steht dafür nicht in gleicherweise zur Verfügimg: mit nuitée bezeichnet man heute gelegentlich ein Nachtfest, man kann eine Nachtschicht so nennen, im Fremdenverkehrsgewerbe bedeutet es eine Übernachtung. I m Italienischen ist dagegen la nottata auch die erlebte Nacht, das Geschehen einer Nacht: i. Don Fabrizio si accorse improvvisamente di essere stanco: erano quasi le tre, ed erano nove ore che si trovava in giro sotto il sole torrido e dopo quella nottata ! (Ga 84) d. Don Fabrizio merkte plötzlich, daß er müde war: es war fast drei Ohr, und neun Stunden schon war er in der brennend heißen Sonne unterwegs gewesen, nach dieser Nacht ! e. after that ghastly night f. après une nuit pareille s. después de aquella nochecita p. depois daquela noite i. quelle luci che si vedono ardere nelle camere degli ammalati gravi durante le estreme nottate (Ga 35) d. jene Lichter, die in den Räumen Schwerkranker schimmern, während der letzten Nächte e. during the final nights f. durant les nuits d'agonie s. durante las supremas velas p. nas noites derradeiras Auch im Portugiesischen ist a noitada die Dauer der Nacht, die schlaflose Nacht, die Nachtwache, die Nachtarbeit, die nächtliche Vergnügung. Das Spanische kennt keine *nochada, dafür eine trasnochada als durchwachte Nacht und in einer Sonderbedeutung als nächtlichen Handstreich. So wie d. Abend, e. evening meint f. soirée, i. serata nicht nur die Zeit vor Sonnenuntergang, sondern auch den ersten, mehr oder weniger ausgedehnten Teil der Nacht vor dem Zubettgehen mit seinen vielerlei Tätigkeiten und Beschäftigungen, p. a noitada. Am Tag nach einem in einer Bar verbrachten Abend, den ein fröhlicher Bummel durch die nächtlichen Straßen von Paris beschlossen hat, notiert Simone de Beauvoir in ihrem Tagebuch: f. Merveilleuse soirée! (JF 293) e. Wonderful evening! s. ¡Noche maravillosa!

à. Fabelhafter Abend! i. Meravigliosa serata! p. Maravilhosa noitada!

Im Französischen, Italienischen, Portugiesischen wird hier durch die erweiterte Form das Erlebnis dieses Abends vom Abend als solchem abgehoben. Eine besondere Bedeutung wird sprachlich explizit gemacht, die im Deutschen, Englischen, Spanischen implizit bleibt, sich aber durch den

INSTRUMENTALE

STRUKTUREN

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Kontext von selbst ergibt. Die Erlebnis-, die Denkstruktur ist zweifellos überall dieselbe, die instrumentale Struktur der Sprachen ist verschieden: s. noche - p. noitada. Und es ist für das Spanische wie für das Portugiesische ein instrumentales Problem, diese „Abende" von „Nächten" zu unterscheiden, wenn es heißt: f. d. e. s.

Mes soirées, je les passais pour la plupart au ,,Flore" (FA 488) Die Abende verbrachte ich meist im „Flore". Most evenings i. Le mie serate Mis veladas p. Minhas noitadas

„Die Nächte" wären s. las noches, p. as noites. Lückenhaftigkeit und Launenhaftigkeit des instrumentalen Programms : weder das Spanische noch das Portugiesische besitzt eine eigene erweiterte Form für den Tag, s. el día, ρ. o dia, - und das Lehnwort jornada steht nicht uneingeschränkt zur Verfügung. Aber das Katalanische besitzt die Opposition dia-diada! Auch für andere Zeiteinheiten finden wir erweiterte Formen über die Romania verstreut. Für die Stunde kennt das Katalanische eine horada, das Provenzalische eine ourado, für die Woche das Portugiesische eine semanada, das Katalanische eine setmanada, das Provenzalische eine semanado, für zwei Wochen das Katalanische eine quinzenada, das Provenzalische eine quingenado, das Lombardische eine quindesada (AlcoverMoll; Mistral; A.M.Badia Margarit, Gramatica catalana, Madrid 1962, § 326; G. Rohlfs, Historische Grammatik der italienischen Sprache und ihrer Mundarten, III. Band, Bern 1954, § 1129). Im Italienischen ist eine mesata, im Spanischen, Portugiesischen, Katalanischen eine mesada, im Provenzalischen eine mesado der Zeitraum eines Monats, der ganze Monat, der Monatsverdienst. I m Französischen nannte man bis ins 17. Jahrhundert eine monatliche Ratsversammlung eine mesée. Solche Sonderverwendungen erklären sich aus besonderen Bedürfnissen. Aber warum gibt es nicht auch im Französischen für die differenzierte Erlebnis- und Denkstruktur der Zeit so wie jour-journée konsequent ein semaine—semainée, ein mois-mesée ? Auch für die Jahreszeiten gibt es erweiterte Formen, verschiedentlich mit besonderem Bezug auf das Wetter, die Landwirtschaft, die Viehzucht: s. hablóse de la otoñada que seguía siendo muy seca (STP 92) d. Man sprach über den Herbst, der noch Iceinen Regen gebracht hatte e. of the weather that autumn f. de l'automne i. della stagione p. da outonada

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i. Ma con il cattivo tempo che quell'invernata durò mesi interi, restavamo nella stanzetta (Ciò 122) d. War das Wetter aber schlecht — und das war in diesem Winter ganze Monate hindurch der Fall -, dann blieben wir in unserer Stube. e. that winter f. cet hiver-là s. aquel invierno p. naquele Inverno Wieder anders verhält es sich beim J a h r . I m Italienischen f a ß t ein J a h r als Ergebnis z u s a m m e n :

Vannata

i. Dopo si mise a raccontare le cronache di Donnafugata... Poi vennero le notizie private che si adunavano attorno al grande fatto dell'annata :... (Ga 82) d. Danach begann er die Chronik von Donnafugata zu erzählen... Dann kamen die privaten Neuigkeiten, die sich um das große Geschehnis des Jahres rankten :... e. of the year f. de l'année s. del año p. do ano E s ist das E r n t e j a h r u n d die J a h r e s e r n t e : i. d. e. s.

E lei sa come sono i contadini : per loro tutte le annate sono cattive (C 39) Und Sie wissen, wie Bauern sind: bei ihnen sind alle Jahre schlecht. every year's a bad one f. toutes les années sont mauvaises todos los años son malos p. todos os anos sâo maus

Aber wie verhalten sich im Französischen an u n d année zueinander ? f. Si vous m'en croyez, vous enverrez Fabrice faire sa théologie, et passer trois années à Naples (ChP 134) d. Wenn Sie auf mich hören wollen, lassen Sie Fabrizio Theologie studieren und schicken ihn für drei Jahre nach Neapel. i. tre anni f. Je vais passer trois ans à l'Académie ecclésiastique de Naples, s'écria Fabrice (ChP 136) d. „Ich gehe für drei Jahre an die geistliche Akademie in Neapel", rief Fabrizio aus. i. tre anni Die erweiterte F o r m suggeriert stärker die erlebte D a u e r der Zeit, wenn es h e i ß t : f. Après trois ans de séparation, de solitude, trois années sans nouvelles des siens (Th 493) d. Nach drei Jahren der Trennung, der Einsamkeit, nach drei Jahren ohne jede Nachricht von den Seinen, i. Dopo tre anni

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STRUKTUREN

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Aber sehr bald stellt man fest, daß sich an und année meist anders zueinander verhalten als jour und journée, matin und matinée, soir und soirée. Man sagt als reine Zeitangabe ce jour, ce matin, ce soir, aber nicht cet an (was man als sept ans oder ces temps verstehen könnte), sondern cette année : f. Je n'ai pas demandé de vacances cette année (Th 367) d. Ich habe dieses Jahr nicht um Urlaub gebeten e. this year i. quest'anno s. este año p. este ano f. Cette année-là, comme les autres années, le mois d'octobre m'apporta la joyeuse fièvre des rentrées (JF 94) d. In diesem Jahre wie in den anderen bescherte mir der Monat Oktober die fieberhafte Freude des neuen Schulanfangs. e. that year i. quell'anno s. ese año p. nesse ano Man sagt de jour en jour, aber - begreiflicherweise - nicht d'an en an, sondern d'année en année: f. d. e. s.

D'année en année, ma piété en se fortifiant s'épurait (JF 135) Von Jahr zu Jahr stärkte und reinigte sich meine Frömmigkeit As year followed after year i. Di anno in anno Cada año p. De ano para ano

Man sagt zur einfachen Kennzeichnung einer regelmäßigen Wiederholung tous les jours, chaque jour ; man sagt tous les ans so gut wie toutes les années, aber man sagt nicht * chaque an, sondern nur chaque année: f. Tous les ans, mes parents passaient trois semaines à Divonne-les-Bains (JF 29) d. Alljährlich verbrachten meine Eltern drei Wochen in Divonne-les-Bains f. Chaque année, pendant le pèlerinage national, ils allaient à Lourdes (JF 119) d. Jedes Jahr nahmen sie an der nationalen Pilgerfahrt nach Lourdes teil i. Tutti gli anni... si portava in processione il Cristo crocifisso dell'altare (DC 144) d. Jedes Jahr... trug man in der Prozession den gekreuzigten Christus vom Hauptaltar, f. Toutes les années Man sagt als einfache Zeitangabe il y a un an, deux ans, trois ans, aber il y a quelques années (M 53) „vor einigen Jahren"; un an, deux ans plus tard, aber quelques années plus tard (M 116) „einige Jahre später" ; pendant un an, deux ans, aber pendant une dizaine d'années (JF 248) „etwa zehn Jahre".

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Mario Wandruszka

So bietet heute die Verteilung von an und année ein ganz uneinheitliches Bild: manchmal ist noch in der erweiterten Form ein besonderer Hinweis auf die ganze Ausdehnung, den ganzen Ablauf des Jahres enthalten ; es gibt auch Sonderverwendungen von année, für das Arbeitsjahr, das Schuljahr, den Jahrgang; oft aber wird année gesagt, wo man an sagen müßte, wenn eine Sprache ein konsequentes System wäre, oft sagt man das eine so gut wie das andere, - die semantische Opposition zwischen den beiden Formen ist partiell neutralisiert, sie sind partiell synonym geworden. Alles spricht dafür, daß eine rein lautliche Ursache dafür verantwortlich ist: annus ist im Französischen zu einem einzigen Nasalvokal zusammengeschrumpft (so wie pannus „Tuchstück" zu pan, vannus „Getreideschwinge" zu van usw.). Offenbar aus keinem anderen Grund als dem der größeren Deutlichkeit und Eindeutigkeit ist also in vielen Fällen Vannée an die Stelle von l'an getreten und hat sich von da aus immer weiter ausgebreitet, - ein ähnlicher Vorgang wie bei vis-visage, us-usage, nue-nuage, ore-orage, eé-eage, âge usw. Die Erlebnis- und Denkstrukturen, die man aus der Opposition jour-journée usw. herauslesen kann, werden am deutlichsten bei an-année durch einen instrumentalen, einen technischen Faktor durchkreuzt. Es ist verhältnismäßig einfach, die unterschiedlichen Werkzeugstrukturen unserer Sprachen zu beobachten und zu beschreiben, und der Übersetzungsvergleich ist dafür das verläßlichste Verfahren. Aber inwieweit verraten diese unterschiedlichen Werkzeugstrukturen unterschiedliche Strukturen des Erlebens, des Denkens? Wie verhalten sich überhaupt Werkzeugstrukturen und Erlebnisstrukturen, Denkstrukturen zueinander? Die beiden Schulen, die in unserem Jahrhundert am lautesten den Anspruch erhoben haben, die Sprachwissenschaft von Grund auf zu erneuern, Idealismus und Strukturalismus, haben auf diese entscheidende Frage keine befriedigende Antwort zu geben gewußt, - wenn sie die Frage überhaupt gesehen haben. Werkzeugstrukturen geben die Strukturen des Erlebens, des Denkens wieder, aber in einer sehr merkwürdigen, unvollkommenen und imberechenbaren Weise. Die romanische erweiterte Form der Zeiteinheiten läßt bestimmte Erlebens- und Denkstrukturen erkennen ; sie ist ihnen nicht eindeutig zugeordnet, denn die gleiche Form hat, wie wir gesehen haben, in verschiedenen Kontexten verschiedene Funktionen. Die erweiterte Form steht von Sprache zu Sprache für die eine oder die andere Zeiteinheit zur Verfügung, - wo das nicht der Fall ist, übernimmt meist die einfache Form die entsprechende Funktion, eine Polysemie, die meist mühelos durch den Kontext differenziert wird. I n der erweiterten Form wird also da und dort etwas explizit gemacht, was sonst

INSTRUMENTALE

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STRUKTUREN

implizit in der Aussage enthalten ist. Auch im Deutschen, wo uns eine entsprechende Werkzeugstruktur fehlt, können wir ja den Unterschied der Erlebnis- und Denkstruktur feststellen, wenn wir uns überprüfen: in der einfachen Zeitangabe „wir sind dort drei Tage geblieben" (f. trois jours) haben diese Tage eine andere Erlebnis- und Denkstruktur als in „es waren drei unvergeßliche Tage" (f. trois journées). Andererseits zeigen die angeführten Beispiele zur Genüge, welche Dienste die romanische Erweiterungsendung -ata, -ada, -ée als Werkzeug leistet, indem sie da und dort implizite Unterschiede explizit macht. Die Erkenntnis, daß die Werkzeugstrukturen unserer Sprachen nicht ohne weiteres mit Erlebnisstrukturen, mit Denkstrukturen gleichzusetzen sind, hilft uns auch, die komplexen verbalen Strukturen der romanischen Sprachen besser zu verstehen. Die romanischen Sprachen haben vom Lateinischen zwei einfache Tempora der Vergangenheit geerbt, Perfekt und Imperfekt. Diese beiden Formen haben nicht nur zwei, sondern ein ganzes Bündel verschiedener Funktionen. Das Imperfekt kann, um nur einige seiner geläufigsten Funktionen zu nennen, den zustandhaft imperfektiven Aspekt eines Geschehens ausdrücken: d. Er redete und lachte (Zb 305) f. Il parlait et riait s. Hablaba y reía

e. He was talking and laughing i. Parlava e rideva p. Falava e ria

Das Perfekt betont dagegen den vorganghaft perfektiven Aspekt: d. Er lachte verspätet und sagte: (Zb 183) f. Il rit i. Rise s. Se rió

e. He laughed p. Riu-se

Der Übersetzungsvergleich läßt erkennen, wie groß die Unterschiede zwischen den einzelnen romanischen Sprachen in der Verteilung der beiden Formen sein können, wie groß auch in vielen Fällen der Spielraum der psychologischen Interpretation sein kann. d. Und an seinen Arm gelehnt, den er besänftigend um sie gelegt hatte, weinte sie über ihr verfehltes Leben, in dem nun die letzten Hoffnungen erloschen waren (B 488) e. she weft f. elle pleurait i. pianse s. lloró p. choran d. Sie weinte bitterlich, als die Stunde herankam, da sie dem kleinen Johann Lebewohl zu sagen hatte. Er umarmte sie, legte dann die Hände auf den Rükken,... (B 618) e. She wept f. Elle pleura i. pianse s. Lloraba p. Chorou

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MARIO WANDRÜSZKA

Was Imperfekt und Perfekt in den romanischen Sprachen leisten können, zeigen besonders schön die folgenden Beispiele aus einem spanischen Roman: s. Me acomodé en una banqueta. Bebía, silbaba en sordina, fumaba. (TV 284) d. Ich machte es mir auf einer Bank bequem,, trank, rauchte und pfiff leise vor mich hin. e. I drank, whistled under my breath and smoked. f. Je buvais, sifflais en sourdine, fumais. i. Bevevo, fischiavo in sordina, fumavo. p. Bebia, assobiava em surdina, fumava. Das ist kein Nacheinander verschiedener Vorgänge, kein Aufeinanderfolgen einzelner Geschehen: die Einzelheiten dieses Tims werden miteinander zu einem Zustand verbunden. Man vergleiche damit das Aufeinanderfolgen einzelner Vorgänge im Perfekt: s. Me vestí calmosamente, fumé unos cigarrillos, encargué una ginebra, di un paseo... (TV 309) d. Ich zog mich langsam an, rauchte ein paar Zigaretten, bestellte einen Gin, machte einen kurzen Spaziergang... e. I dressed slowly, smoked several cigarettes, i. Je m'habillai tranquillement, fumai quelques cigarettes, i. Mi vestii adagio, fumai qualche sigaretta, p. Vesti-me calmamente, fumei uns cigarros, Noch feiner ist der Unterschied in den beiden folgenden Beispielen: s. Fumábamos en silencio. El local se vaciaba paulatinamente (TV 68) d. Wir rauchten schweigend. Allmählich leerte sich das Lokal. e. We smoked f. Nous fumions i. Fumavamo p. Fumávamos s. En la cala, sentados sobre la arena, volvimos a besarnos. Fumamos un cigarrillo en silencio. Me levante, porque creí oir unos pasos. Elena miraba hacia el mar... (TV 246) d. An der Bucht setzten wir uns in den Sand und küßten uns wieder. Dann rauchten wir schweigend eine Zigarette. Ich erhob mich, weil ich glaubte, Schritte zu hören. Elena schaute aufs Meer hinaus... e. then smoked f. Nous fumâmes i. Fumammo p. Fumamos Das Imperfekt drückt aber nicht nur den imperfektiven Aspekt aus. Es kennzeichnet auch die gewohnheitsmäßige Wiederholung eines Geschehens, gleichgültig, ob dieses Geschehen als solches imperfektiv oder perfektiv ist:

INSTRUMENTALE

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STRUKTUREN

d. er kaufte immer, verkaufte aber nie (Bi 222) e. he always bought f. il achetait toujours i. comprava s. compraba

p. comprava

Findet das gleiche Geschehen nur einmal statt, so wird das Perfekt verwendet: d. In Brösen kaufte Maria ein Pfund Kirschen (Bt 219) e. bought f. acheta i. comperò s. comprò

p. comprou

Im krassen Widerspruch zu der bisher an einigen Beispielen gezeigten Verteilung von Imperfekt und Perfekt steht aber nun die Tatsache, daß man seit hundert Jahren das Imperfekt immer mehr statt des Perfekts auch für ein einmaliges perfektives Geschehen gebraucht. Man hat dafür den Verlegenheitsnamen „narratives Imperfekt" gefunden 2 . f. d. e. s.

Il sauta dans un taxi. Cinq minutes plus tard, il entrait chez lui (Th 454) Er sprang in ein Taxi. Fünf Minuten später trat er in seine Wohnung. was home i. varcava la porta di casa entraba en su casa p. entrava ern casa

f. Le soir même, il donnait ses instructions à un agent privé. Et, trois jours plus tard, il recevait les premiers renseignements : (Th 507) d. Am selben Abend noch gab er einem Privatdetektiv die erforderlichen Instruktionen. Drei Tage später erhielt er die erste Auskunft : e. gave ... received i. incaricava ... riceveva s. daba ... recibía p. dava ... recebia f. Je lui répondis longuement, en essayant de la réconforter, et la semaine suivante, elle m'écrivait: (JF 349) d. Ich, antwortete ihr mit einem langen Brief, in dem ich sie aufzurichten versuchte ; in der folgenden Woche schrieb sie mir : e. wrote i. scrisse s. escribía p. escrevia Auch im politischen und historischen Bericht hat sich dieses narrative Imperfekt immer weiter ausgebreitet. Wenn etwa Simone de Beauvoir von Ereignissen des spanischen Bürgerkrieges spricht, verwendet sie in sehr ähnlichen Kontexten bald das Imperfekt, bald das Perfekt: f. dans le nord, l'offensive franquiste redoublait de violence. Le 19 juin, Bilbao tombait. Les neutralistes français de gauche commençaient à comprendre leur erreur (FA 309) 2

Zuletzt darüber Charles Müller, Pour une étude diachronique de l'imparfait narratif, Mélanges de grammaire française offerts à M. Maurice Grevisse, Gembloux 1966 pp. 253-269.

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Mario Wandruszka d. im Norden wurde die Fraìico-Offensive immer heftiger. Am 19. Juli fiel Bilbao. Die französischen Linksneutralisten sahen allmählich ihren Irrtum ein. e. feil i. cadeva s. caia p. caia f. Le 26 août les troupes italiennes étaient entrées dans Santander ; fin octobre, Gijon tomba ; les fascistes désormais étaient maîtres du charbon des Asturies, du fer de Biscaye (FA 328) d. Am 26. August waren italienische Truppen in Santander einmarschiert; Ende Oktober fiel Gijón. Die Faschisten verfügten von nun an über die Kohle Asturiens und das Eisen Vizcayas. e. feil i. cadde s. cayó p. caiu

Dieses narrative Imperfekt ist heute ein fester Bestandteil der französischen Schriftsprache, ganz besonders beliebt in der Zeitungssprache, ist aber auch in den romanischen Schwestersprachen eine Alltäglichkeit geworden. Wie immer m a n auch seine Entstehung und Ausbreitung deuten mag, es läßt sich nicht bestreiten, daß ein und dasselbe Werkzeug, das Imperfekt, sehr verschiedenen Zwecken dient: es kennzeichnet bald den zustandhaft imperfektiven Aspekt eines Geschehens, bald die gewohnheitsmäßige Wiederholung eines imperfektiven oder perfektiven Geschehens, bald wird es sogar s t a t t des Perfekts für ein einmaliges Geschehen mit eindeutig perfektivem Charakter verwendet (le 19 juin, Bilbao tombait). Die Unhaltbarkeit aller Theorien, die für jede sprachliche Form nur eine einzige Funktion postulieren, wird auch hier wieder offenkundig. Warum kann, warum darf denn eigentlich das gleiche Werkzeug nicht mehreren Zwecken dienen? Der Wortschatz unserer Sprachen ist voll von lexikalischen Polysemien: le temps „die Zeit" und „das Wetter", le jour „der Tag", „das Tageslicht", ,,das Licht" usw. Und so wie eine lexikalische gibt es auch eine grammatische Polysemie. Es genügt, ein paar Seiten eines französischen, italienischen, spanischen, portugiesischen Textes zu lesen, um die Polysemien des romanischen Imperfekts zu erleben, wobei zu den hier besprochenen auch noch die verschiedenen modalen Verwendungen des Imperfekts kommen. Die Verteilung des romanischen Imperfekts zeigt uns eine ungewöhnlich polysemische Werkzeugstruktur. Die Erlebnis- u n d Denkstrukturen verlaufen anders: ein in seinem Verlauf zustandhaft gesehener Vorgang, ein gewohnheitsmäßig wiederholter Vorgang, beide durch das Imperfekt gekennzeichnet, gehören zu zwei verschiedenen Erlebnis- u n d Denkstrukturen, ein durch das „narrative" Imperfekt gekennzeichneter Vorgang zu einer dritten. Die Polysemie des romanischen zusammengesetzten Perfekts ist nicht weniger aufschlußreich. Es dient 1. als Perfectum praesens, zur Kenn-

INSTRUMENTALB

STRUKTUREN

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Zeichnung eines Geschehens, das von der Vergangenheit in die Gegenwart mündet: f. d. i. p.

Voilà 'pourquoi je suis venue (Th 144) Deswegen bin ich gekommen e. Thai's why I've come È per questo che sono venuta s. Por eso he venido Foi por isso que eu vim

Der gleiche Satz wird ein andermal folgendermaßen übersetzt: f. d. i. p.

Voilà pourquoi je suis venue (RC 32) Deshalb bin ich gekommen e. That's why I came Per questo sono venuta s. Por eso vine Foi por isso que eu vim

Der Kontext ist nicht genau derselbe. Das erste Mal bedeutet der Satz: „Deswegen komme ich heute zu dir", das zweite Mal: „Deshalb bin ich vor einigen Wochen hierher in dieses Land gekommen". In beiden Fällen steht im Portugiesischen dafür das einfache Perfekt. Es erfüllt die Funktion eines Perfectum praesens, - auch wenn zum Beispiel eine brasilianische Negerin zu einem Regierungsbeamten sagt: p. Eu vim aquí pedir um auxilio porque estou doente... Eu sou pobre, por isso é que vim aqui (QD 43) d. Ich bin gekommen, Sie um Hilfe zu bitten, weil ich krank bin... Ich bin arm, deswegen bin ich hergekommen. e. I came here... That's why I came here f . Je suis venue ici... c'est pour ça que je suis venue ici i. Sono venuta... È per questo che sono venuta qui s. Vine aquí ...es por eso que vine aqui 2. Von dieser Funktion als Perfectum praesens aus ist dem zusammengesetzten Perfekt dann auch die Aufgabe übertragen worden, von Vergangenem zu berichten. Zuerst von Ereignissen, die nur wenige Stunden, wenige Tage zurückliegen. Das Portugiesische verwendet dafür das einfache Perfekt; aber auch im Spanischen kann man von Ereignissen, die sich am selben Tag abgespielt haben, im einfachen Perfekt berichten: s. ¿Jugaste al tenis esta mañana ? — Si. ¿ Qué hiciste tú con los niños en la playa ? - Buscamos conchas, trepamos por las rocas, construimos un castillo (TV 82) d. Hast du heute morgen Tennis gespielt ? - Ja. Und was hast du mit den Kindern am Strand gemacht ? — Wir haben Muscheln gesucht, sind auf den Felsen herumgeklettert und haben eine Burg gebaut. e. Did you play tennis this morning ? - Yes. What did you and the children do on the beach ? - We collected shells, climbed over the rocks and built a castle.

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MARIO

WANDRUSZKA

f. Tu as joué au tennis ce matin ? - Oui. Qu'as-tu fait, toi, avec les enfants sur la plage ? - Nous avons cherché des coquillages, grimpé sur les rochers, construit un château. i. Sei stato al tennis, stamattina? - Si. Tu che cosa hai fatto con i bambini al mare ? - Abbiamo cercato conchiglie, ci siamo arrampicati sugli scogli, abbiamo fatto un castello. p. Jogaste o ténis esta rnanhâ? - Joguei. Que fixeste tu, na praia, com as crian ças ? - Procurâmes conchas, trepamos às rochas, construimos um castelo. I m Italienischen, im Französischen ist das zusammengesetzte Perfekt die Form, in der man heute in der gesprochenen Sprache auch schon länger zurückliegende Ereignisse erzählt. Das Französische geht dabei noch weiter als das Italienische. Simone de Beauvoir erzählt aus ihrer Kindheit: f. Un après-midi, je me déshabillais dans le vestiaire de l'institut, quand Zaza apparut. Nous nous sommes mises à parler, à raconter, à commenter; les mots se précipitaient sur mes lèvres, et dans ma poitrine tournoyaient mille soleils ; dans un éblouissement de joie, je me suis dit:,,C'est elle qui me manquait!" (JF 95) d. Eines Nachmittags legte ich in der Garderobe des Instituts meine Sachen ab, als Zaza erschien. Wir fingen an, miteinander zu reden, uns Dinge zu erzählen und mit Kommentaren zu versehen; die Worte auf meinen Lippen überstürzten sich, und in meiner Brust kreisten tausend Sonnen; in einem Freudentaumel sagte ich mir: ,,Sie hat mir gefehlt!" e. We began to talk ... I told myself i. Ci mettemmo a parlare ...mi dissi s. Nos pusimos a hablar ...me dije p. Pusemo-nos a falar ... disse a mim mes ma Nur die ,,zusammengefaßte Vergangenheit" wird in allen unseren Sprachen mit dem zusammengesetzten Perfekt bezeichnet: p. A vida é igual um livro. Só depois de ter lido é que sabemos o que encerra... A minha, até aqui, tem sido prêta (QD 160) d. Das Leben ist wie ein Buch. Nur nachdem wir es gelesen haben, wissen wir, was es enthält... Mein Leben ist bisher schwarz gewesen. e. has been black f. a été noire i. è stata nera s. ha sido negra Grammatische Polysemien: im Portugiesischen reicht das einfache Perfekt von der unmittelbaren, in die Gegenwart mündenden Vergangenheit zurück bis zu fernsten Ereignissen ; im Französischen ist es das zusammengesetzte Perfekt, das von der Einmündung in die Gegenwart bis zur weit zurückliegenden Vergangenheit reicht. Im Spanischen und Italienischen,

INSTRUMENTALE

STRUKTUREN

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im Englischen und Deutschen ist die Verteilung jeweils verschieden; in jeder dieser Sprachen bestehen beträchtliche regionale und soziale Unterschiede, zwischen Ober- und Unteritalien, zwischen Ober- und Niederdeutschland usw. Wollte man ernstlich die Vielfalt dieser unterschiedlichen instrumentalen Strukturen mit Humboldt-Weisgerber-Sapir-Whorf als Unterschiede der Erlebnis- und Denkstrukturen, als „Verschiedenheit der Weltansichten selbst" interpretieren, käme man zu grotesken Konsequenzen. Es gibt keine Zauberformel, mit der man d a s Imperfekt oder d a s zusammengesetzte Perfekt erklären könnte. D a s Imperfekt, d a s einfache Perfekt, d a s zusammengesetzte Perfekt gibt es nicht als Erlebnis- und Denkstruktur. In keiner Sprache schließen sich das Imperfekt, das einfache Perfekt, das zusammengesetzte Perfekt zu einem strukturalistischen System zusammen. Was wir erkennen, sind Formen, deren Verwendung und Verteilung instrumentale Strukturen aufweisen, die nur sehr unvollkommen den viel reicheren und feineren Strukturen unseres Erlebens und Denkens entsprechen.

Zitiert wurde aus folgenden Werken und ihren Übersetzungen: Β Bi Bt C ChP Ciò DC FA Ga JF M QD BC STP Th TV Zb

Thomas Mann, Buddenbrooks, S. Fischer Verlag 1960 Heinrich Boll, Billard um halb zehn, Köln 1959 Günter Grass, Die Blechtrommel, Fischer Bücherei 1962 Carlo Levi, Cristo si è fermato a Eboli, Torino 151 Stendhal, La Chartreuse de Parme, Paris 1952 Alberto Moravia, La Ciociara, Milano 1964 Giovanni Guareschi, Mondo Piccolo, „Don Camillo", Milano 1948 Simone de Beauvoir, La force de l'âge, Paris 1960 Giuseppe Tornasi di Lampedusa, Il Gattopardo, Milano 1958 Simone de Beauvoir, Mémoires d'une jeune fille rangée, Paris 1958 Jean-Paul Sartre, Les Mots, Paris 1964 Carolina Maria de Jesus, Quarto de despejo, Säo Paulo 1960 Romain Gary, Les racines du ciel, Paris 1956 Pedro de Alarcón, El sombrero de tres picos, Madrid 1930 Roger Martin du Gard, Les Thibault, Paris 1940 Juan García Hortelano, Tormenta de verano, Barcelona 1962 Thomas Mann, Der Zauberberg, S. Fischer Verlag 1956

Zur semantischen Differenzierung der romanischen Sprachen HANS-WILHELM K L E I N GIESSEN

In seiner Arbeit: „Die lexikalische Differenzierung der romanischen Sprachen" 1 hat Gerhard Rohlfs als erster die Tatsachen und Gründe der lexikalischen Differenziertheit der europäischen Romania in ihrer Gesamtheit dargestellt. Es ist dies eine Untersuchung, die seit Friedrich Diez' Zeiten als Desideratum empfunden wurde, eine Frage, die Gustav Gröber lebhaft beschäftigte und die hier zum erstenmal in ihren großen Zusammenhängen beantwortet wurde. Rohlfs untersucht - um nur einige Beispiele zu nennen - wie ein Begriff wie 'essen', der in klassischer Latinität mit EDERE bezeichnet wurde, heute in der Romania durch verschiedene Wörter ausgedrückt wird. Von dem lat. EDERE hat nur die archaische Iberoromania das Kompositum COMEDERE ( > comer) bewahrt, während das vulgäre, aber affektisch ausdrucksvollere MANDUCARE (als 'essen' zum erstenmal bei Sueton, Augustus 76 belegt) nahezu die gesamte übrige Romania beherrscht. Lat. FLEBE ist (wahrscheinlich wegen der Kürze der Praesensformen) völlig untergegangen (wenn man von FLEBILIS absieht). An seine Stelle traten 2 in den romanischen linguae vulgares die ausdrucksvollen Verben PLORARE und PLANGERE, und zwar beherrscht PLORARE die gesamte Westromania, der Typ PLANGERE die gesamte Ostromania. Die aufschlußreiche Differenzierung in der Bezeichnung des Begriffes 'schön' hat Rohlfs nicht behandelt. Das lat. PXJLCHER, das wohl auch im Lateinischen kaum der Volkssprache angehörte, hat keine Spuren hinterlassen. Sein Erbe traten die Wörter FORMOSUS und BELLUS an. Die peripheren, archaischeren romanischen Sprachen setzen FORMOSUS fort (rum. frumos, span. hermoso, port, formoso), während die „innere Romania" das affektische BELLUS, das Lieblingswort Catulls, erhalten hat (it. bello, fr. beau). 1

Versuch einer romanischen Wortgeographie, München 1954. * Neben mehr literarischem LACRIMARE, das Rohlfs nicht nennt: rum. Idcrdmà, ital. lagrimare, prov. lagremar, kat. llagremar, span., port, lagrimar.

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HANS-WILHELM

KLEIN

Während so Rohlfs im wesentlichen die lexikalische Differenzierung untersucht, also die verschiedene Bezeichnung eines Begriffes, streift er hie und da auch ein anderes Problem, nämlich die semantische Differenzierimg eines lateinischen Grundwortes in der Romania. So untersucht er die Geschichte des Wortes FEMINA. Im gesamten galloromanischen Sprachraum hat es heute die Bedeutung 'Frau' (fr. femme, prov. femó), in der Iberoromania und in Zentral- bis Norditalien sowie auf Korsika hat das Wort nur die Bedeutung 'Tierweibchen', in Süditalien, Sardinien, Sizilien und einem Teil Norditaliens h a t es die doppelte Bedeutung 'Frau' und 'Weibchen', wie einst im Lateinischen. Sprachen einer feiner differenzierten Gesellschaft haben also die Doppelbedeutung des Wortes als störend empfunden und nur noch eine Bedeutung des lateinischen Etymons aktualisiert 3 . Dieses eine Beispiel zeigt, wie aufschlußreich solche Untersuchungen sein können, und in meiner Besprechung der Rohlfsschen Arbeit 4 schrieb ich: „Dieses von Rohlfs nur gestreifte Problem der semantischen Differenzierung lateinischer Grundwörter müßte in einer besonderen Arbeit ausführlicher untersucht werden." Es kommt bei einer solchen Untersuchung, deren erste Ansätze ich in „Orbis" X, 1961, S. 144-156 veröffentlicht habe, nicht darauf an, große Theorien über das Wesen des Bedeutungswandels „auf romanischer Ebene" aufzustellen. Untersuchungen über das Wesen des Bedeutungswandels fehlen nicht. Wir begnügen uns hier damit, zunächst einiges Material zu sichten, das sich in Hülle und Fülle bietet, ja, das in seiner Vielfalt verwirrend ist. Der Romanist ist in der glücklichen Lage, von einer sehr genau bekannten Sprache — der lateinischen - ausgehen zu können und die semantischen Schicksale eines Wortes in der ebenso bekannten Familie der romanischen Sprachen zu verfolgen. Die Bedeutungsfelder der lateinischen Grundwörter sind uns hinlänglich bekannt, wir stehen also auf festem Boden, und zwar auf dem Boden einer hochentwickelten Sprache, deren Wörter - wie etwa das Wort RATIO - von ihrer Grundbedeutung ('Berechnung') über zahlreiche übertragene Bedeutungen ('Angelegenheit', 'Rechenschaft', 'Erwägung', 'Vermutimg', 'Art und Weise', 'vernünftige Überlegung' u.a.) bis zu ausgeklügelten philosophischen Bedeutungen ('Vernunft') reichen. 3

4

I n Ergänzung der Ausführungen von Rohlfs sei auf D a n t e (Vita Nuova X I X ) hingewiesen, bei dem sich die beginnende Differenzierung deutlich zeigt: . ..e pensai che parlare di lei non si convenia che io facesse, se io non parlasse a donne in seconda persona; e non ad ogni donna, ma solamente a coloro che sono gentili e che non sono pure femmine. Archiv 191, 1955, S. 365.

ZUR SEMANTISCHEN

DIFFERENZIERUNG

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Es ist nun von vornherein unwahrscheinlich, daß Wörter einer so hochentwickelten Sprache wie der lateinischen mit ihrem gesamten Bedeutungsgehalt in zunächst primitivere Sprachen übergingen. Die primitiveren Sprecher (Bauern, Kolonen, Soldaten, Kaufleute) aktualisierten von den virtuellen Bedeutungsmöglichkeiten lateinischer Wörter jeweils nur wenige. Das Wort RATIO hat im alten Französisch in der Form raison zunächst nur noch die Bedeutung 'Rede' (Li emperere out sa raison fenie, Roland 193). Die Verbform RATIONARB ergibt afr. raisnier 'reden'. Diese Bedeutung hat it. ragionare noch heute, wenn auch parlare sich stark in den Vordergrund gedrängt hat 5 . Welche der zahlreichen Bedeutungen eines lateinischen Wortes aktualisiert wird oder bleibt, hängt von zahlreichen, oft sehr unterschiedlichen Umständen ab, von der Zeit der Übernahme des Wortes, von der sozialen Schicht, in der es vorzugsweise gebraucht wird, von neuen Dingen oder Begriffen, die es bezeichnet usw. Wir gehen wohl nicht fehl in der Annahme, daß zahlreiche lateinische Wörter in den romanischen Sprachen zunächst konkretisiert, das heißt auf eine ganz bestimmte Bedeutung beschränkt wurden. Lat. COLLIGERE, mit der Grundbedeutung 'zusammenlesen, einsammeln' (Nebenbedeutungen: 'Menschen sammeln': exercitum colligere, 'zusammennehmen': robur, vires colligere, 'erlangen, gewinnen': benevolentiam alicuius colligere u.a.) wird auf die Bedeutung 'ernten, pflücken' beschränkt: it. cogliere 'pflücken', 'Ähren sammeln' (ebenso span, coger), fr. cueillir 'pflücken'. Das Substantiv COLLECTA, das im klassischen Latein 'Geldbeitrag' bedeutete, nimmt unter dem Einfluß des Verbums ebenso die ausschließliche Bedeutung 'Ernte' (besonders 'Obsternte') an: fr. cueillette, span, cosecha, aportg. colheita. Auf ein Kompositum von COLLIGERE geht it. raccolta (ältere Form ricolta) zurück, das im 16. Jahrhundert als récolte 'Ernte' ins Französische übernommen wird und cueillette auf die Bedeutung 'Obsternte' zurückdrängt: „Nous disons la récolte, au lieu qu'on souloit dire la cueillette" schrieb Henri Estienne 1578. Die Beispiele für Konkretisierung lateinischer Wörter in den romanischen Sprachen sind sehr zahlreich, nur wenige besonders instruktive Fälle können hier herausgegriffen werden. In der bäuerlichen Umgebung des * Vgl. A I S 8, 1627. I m aspan. Oidepos bedeutet razón unter anderem auch 'palabras, discurso' (Menéndez Pidal, Cid 819f.). Noch das Wörterbuch der span. Akademie von 1925 führt unter razonar u.a. die Bedeutung 'hablar de cualquier modo que sea' an. Zum Schicksal von RATIO, KATIONARE vgl. H.Flasche: „Die begriffliche Entwicklung des Wortes RATIO und seiner Ableitungen i m Frz. bis 1500", Leipzig 1936. Neuerdings die Arbeit von René Chatton: „Zur Geschichte der rom. Verben für 'sprechen', 'reden' und 'sagen', Bern 1953, p. 101—110.

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Rumänischen nimmt lat. V I T A den ganz speziellen Sinn 'Lebewesen', dann 'Vieh' an. Lat. L A B O R A R E , eigentlich 'unter einer Last wanken', dann 'sich mühen', 'leiden', 'in Not sein', nimmt in zahlreichen romanischen Sprachen und Dialekten ganz spezielle Bedeutungen wie besonders 'das Feld bestellen', 'pflügen' (sogar 'nähen') an, so in span, labrar 'den Acker bestellen, pflügen' (woher labrador 'Bauer'). Im Französischen scheint L A B O R A R E zunächst nicht diese Bedeutung gehabt zu haben. Die Form láborét begegnet uns in halbgelehrter Form (-b- statt -v-) im Jonasfragment in der Bedeutimg 'sich mühen', doch ist diese Bedeutung nicht volkstümlich®. Lavorét wird hier als Latinismus in der Predigt durch penét, also ein Synonym, erklärt: Laboraverat enim, ço dicit: Jonas profeta habebat mult laborèt et mult penét7. Diese halbgelehrte Bedeutung 'sich mühen' blieb dem Wort laborer zunächst noch im Afrz. 8 , doch drängt sich auch hier bald die spezielle Bedeutung 'den Acker bestellen' in den Vordergrund und verdrängt allmählich altes arer 'pflügen' ( < ARARE). Bezeichnend aber ist, daß die Synonymie, die zu Anfang des 10. Jahrhunderts dazu gedient hatte, die gelehrte Bedeutung von laborer zu erklären, jetzt helfen mußte, laborer den Sinn von 'pflügen' zu geben. So erscheint es zunächst oft synonym mit arer und foîr gekoppelt: Arer e laborer E en tere semer (12. Jh., Ph. de Thaon, Compuz 541); N'oserent vilain L A B O R E R , Ne boes joindre, ne champs A R E R (Wace, Roman de Rou I I I , 11196). De paradis les en covint aler, Venir a terre, foïr et laborer (Couronnement Louis, 705). Vom 16. Jahrhundert an bedeutet dann labourer im Frz. ausschließlich 'pflügen'. Ein Schulbeispiel f ü r den Bedeutungswandel eines lateinischen Wortes ist die Entwicklung von lat. M I N A S I 'drohen'. Nach Walde-Hofmann (Lat. etym. Wörterb.) ist M I N A R I verwandt mit eminere und mons und bedeutet zunächst 'dräuend emporragen', dann 'drohen'. Das Wort scheint in der römischen Bauernsprache in der Bedeutung 'das Vieh mit Drohungen an' „Schon im Vulgärlateinischen scheint labor 'Arbeit', laborare 'arbeiten' nur mehr als Ausdruck der Landwirtschaft verwendet worden zu sein, s. die Belege R E W 4809, unter denen besonders das alte baskische Lehnwort labor 'Getreide' wichtig ist, das uns ein labor 'Feldfrucht' für das 4. Jahrhundert sichert. In der Verkehrssprache ist das Wort zeitweilig ungebräuchlich. Das erklärt die Erhaltung des -b- in prov. laborar, labor, spanisch labrar (neben volkstümlich entwickeltem prov. laurar 'Feldarbeit leisten')" (Gamillscheg, Frz. Bedeutungslehre 1951, p. 143). Vgl. ferner G. Keel, Laborare und Operari, Diss. Bern 1952. * Auf die Bolle der Synonymie bei der Einführung neuer oder gelehrter Wörter hat mich H . Lausberg hingewiesen. 8 Bemerkenswerterweise gelegentlich noch mit pener synonym gekoppelt: Toutes fames sers et honore, D'eie s servir POINE et LABORE (Rosenroman, 2116).

ZUR SEMANTISCHEN

DIFFERENZIERUNG

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treiben' gebraucht worden zu sein. Diesen Sinn hat es noch in rum. mînà 'Vieh treiben' und kalabr. minare 'die Tiere anspornen'. Von da avis konnte es leicht die allgemeine Bedeutung 'führen' erhalten, so frz. mener, it. menare, pro ν. und katal. menar. Im Spanischen und Portugiesischen ist diese Bedeutimg nicht zu finden. Der erste altfranzösische Beleg im Leodegarlied zeigt aber, daß das Wort mener noch 'mit Gewalt führen' bedeutete: Guenes oth num cui'l comandai; La jus en cartres l'en M E N Â T (Leodegar 175f.). F ü r freundliches Führen steht dagegen einige Zeilen weiter duire ( < D U C E R E ) : Ciel Laudeberz fura huons om, Et sanct Lethgier D U I S a son dom (197f.). Auch im Altitalienischen ist menare 'mit Gewalt führen' nicht selten. Bei Odo delle Colonne klagt ein verlassenes Mädchen, wie sehr es verschmäht ist und leiden muß, und sagt: Però pato travaglia, Ed or mi mena orgoglio, Lo cor mi fende e taglia („Darum leide ich Qualen, manchmal auch beherrscht mich der Stolz und zerreißt und zerschneidet mir das Herz"). Ähnlich bei Dino Compagni: E picciola è quella favilla che a distruzione M E N A un gran regno (Cronica II, 1 ) . Sehr bald wird jedoch, wie auch im Französischen, menare auch im neutralen Sinne gebraucht: Femmina, non ho di che ti sovvenire ('helfen') d'altro; ma fa' cosi: M E N A M I alla carcere ov'è il tuo figliuolo (Il Novellino). Doch ist auch heute die Nuance des Drohens nicht ganz aus dem Wort geschwunden. Es bedeutet, im Gegensatz zu frz. conduire, it. condurre, 'jemand mit einer gewissen Autorität führen, oft gegen seinen Willen' („Mener, c'est conduire par la force, par l'autorité ou par la persuasion, faire aller avec soi quelqu'un qui s'y prête ou s'y résigne", Bailly, Diet, des Synonymes, Paris 1947, p. 304). Daher kann man nur sagen mener (nicht: conduire) par le nez, menare (nicht: condurre) pel naso9. Im Italienischen hat das Wort in der Umgangssprache sogar noch die alte Bedeutung 'prügeln, Schläge versetzen' 10. Auch bei dem Verbum N E C A R E 'töten' scheint schon im Vulgärlateinischen eine Bedeutungsbeschränkung eingetreten zu sein, wie die fast übereinstimmende Bedeutung 'ertränken' in den romanischen Sprachen zeigt. • Die Bedeutung des autoritären Führens, die in frz. mener noch steckt, wird durch moderne Beispiele bestätigt: Elle eut l'impression que ses pieds la M E N A I E N T OÙ il leur plaisait et qu'elle n'en était plus maîtresse (J.Green, Adrienne Mesurât, Pion 1927, p. 83). Les astres nous mènent peut-être, comme le croient certains (J.Romains, Les Hommes de bonne volonté, vol. X V I I ; hier ist bewußt mener und nicht guider genommen, um das willenlose Geführtwerden anzudeuten). 10 Diese Bedeutung ist sehr alt: Succurri, Maddalena; Gionta m'è adosso pena; Cristo figlio se M E N A , Como m'è annunziato (,,Zu Hilfe, Magdalena; großes Leid bricht über mich herein; mein Sohn Christus wird geschlagen, wie man mir berichtet", Iacopone da Todi, Pianto de la Madonna, 16-19).

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Nach Walde-Hofmann 1 1 erwuchs die Bedeutung 'ertränken' aus der seit Plautus für ENECO belegten speziellen Bedeutung 'erwürgen, ersticken' 12 , wie auch SUFFOCARE die Bedeutung 'ersäufen' erhalten hatte 1 3 , NECARE war in der Tat ein Verb für 'töten', das keinen Waffengebrauch voraussetzte (im Gegensatz etwa zu CAEDERE und OCCIDERE 'niederschlagen, im Kampf fällen', I N T E R F I C E R E , CONFICERE 'niedermachen', TRUCIDARE 'niedermetzeln' u.a.). Das bestätigt uns der Grammatiker Festus im 2. Jahrhundert n. Chr. sub verbo NEX: Ned ¿latus proprie dicitur qui sine vulnere interfectus est, ut veneno aut fame (Festus 158, 17, ähnlich 190, 5). Man hätte also nicht aqua occidere sagen können, wohl aber aqua necare, wie Ovid sich ausdrückt, als er einen Seesturm beschreibt: Dumque loquor, vultus obruit unda meos. Opprimet hanc animam fluctus: frustraque precanti Ore S E C A T U R A S accipiemus A Q U A S (Trist. I, 2, 34ff.). Die weitere Bedeutungsentwicklung von N E C A R E ZU 'ertränken' wird ersichtlich aus folgenden oft zitierten Stellen: Salsi imbres necant frumenta (Plin. nat. hist. 31, 52) und Aquae flammas necant (ibid. 31, 2). Bei Sulpicius Severus schließlich heißt es von Menschen: Deducti ad torrentem necati sunt. „Daß diese Bedeutungsentwicklung noch in lateinischer Zeit erfolgt ist, wird außer durch ihre weite Verbreitung auch dadurch erwiesen, daß 'ertränken' schon bei Gregor von Tours zwar nicht die einzige, aber bei weitem vorherrschende Bedeutung ist. I n den Reichenauer Glossen bedeutet necare nur noch 'ertränken'. Svbmersi: dimersi, necati (524) 14 ." Diese in F E W zitierte Stelle beweist allein noch nicht, daß necare in den 11 12

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Vgl. auch Ernout-Meillet, wo die Frage eingehender behandelt ist. Immisch (Rhein. Mus. 80, 98ff.) meint, die Bedeutung 'ertränken' auf einen u m 400 lebendigen Volksglauben zurückführen zu können, wonach die Seelen der Ertrunkenen den Körper nicht verlassen konnten. Daher, mit anderem Praeflx, ital. affogare 'ertrinken', 'ertränken', prov. k a t . portg. afogar, span, ahogar 'ertränken'. In einem italienischen Text des 14. J h . s (Il Novellino) erscheinen annegare und affogare (beide 'ertrinken') synonym nebeneinander: Allora elli (Narcissus) si lasciò cadere nella fontana, si che A N N E G Ò . . . Donne ... videro il bello Narcis AFFOGATO. Synonym noch enger verbunden erscheinen die beiden Verben bei Santa Caterina da Siena: Io Catarina ... scrivo a voi raccomandandomivi nel prezioso sangue del Figliuolo di Dio; con desiderio di vedervi AFFOCATO e A N N E G A T O in esso dolcissimo sangue suo (Lettera 223). V. Wartburg F E W VII, 76. Völlig verfehlt ist die Meinung von E.Gamillscheg: „Ohne die Einwirkung von afrz. odre, mortrir, tuer u . ä . wäre es nicht zu dem Bedeutungswandel von necare gekommen" (Frz. Bed.-Lehre, p. 173). Französische Wörter konnten necare nicht zu der Bedeutung 'ertrinken' drängen, da der Bedeutungswandel bei der Übernahme ins Frz. bereits vollzogen war!

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Reichenauer Glossen ausschließlich 'ertränken' bedeutet. Klar erwiesen wird dies erst durch zwei andere Glossen, wo necare, das im zu glossierenden Text (Gen. 31, 32) 'töten' bedeutet, nicht mehr in dieser Bedeutung verstanden wird und durch das im Afrz. fortlebende occidere erklärt werden muß: Necetur: occidetur (269), entsprechend 1048a: Necare: interficere. Auch Du Cange hat bei N E C A R E nur noch die Bedeutung 'submergere', jedoch in fast allen Fällen haben die Belege den Zusatz in aqua, aqua etc.: necetur in luto (Lex Burgund.), in aqua necabatur (Lactantius), in aqua necare (Gesta Reg. Franc.), in flumen projectors et necatos (Agobardus). Sehr wichtig ist eine Belegstelle bei Du Cange, in der N E C A R E mit S U F F O C A R E synonym gekoppelt ist (vgl. Anm. 13): Diabolus autem antiquus homicida perdidit hunc N E G A N D O (lies: necando) ; S U F F O C A V I T enirn eum in gurgitem aquae (Chronicon No vali cíense). I n den romanischen Sprachen ist daher N E C A R E von Anfang an in der Bedeutung 'ertränken' zu finden: it. annegare (s. Anm. 13), afrz. neier, nfrz. noyer, prov. negar, kat., span., portg. anegar, rum. înecà. I m Afrz. begegnet uns neier stets in der gemeinromanischen Bedeutung 'ertränken' : Alquanz ocis et Ii plusur N E I É T (Rol. 2476, wobei odre 'erschlagen' gegen neiét 'im Ebro ertrunken' steht! Entsprechend Rol. 2798, wo ebenfalls der Gegensatz von ocire und neier zu finden ist). So eindeutig wie bei N E C A R E ist die Bedeutungsentwicklung von lat. P A C A R E in spätlateinischer Zeit nicht. Die klassische Bedeutung des Wortes war 'friedlich machen, befrieden', mit der deutlichen Nebenbedeutung 'unterwerfen' (Gallia pacata bei Caesar), das heißt, die Pax Romana bringen. Das Wort muß aber, wie die altspanischen, altfranzösischen und altitalienischen Belege zeigen, sehr früh auch die Bedeutung 'beruhigen, besänftigen', dann auch 'aussöhnen, zufriedenstellen' erhalten haben. In dieser Bedeutung erscheint es schon in den Reichenauer Glossen Recuntiliabat: pacabat (2255), Pacate: leniter uel mitis (1299), Reconciliare: repacare (1593). Auch im Leodegarlied ist se paier an zwei Stellen in der Bedeutung 'sich versöhnen' belegt (Vers 108 und 110)15. I m altprovenzalischen Jaufreroman erscheint se pagar als 'sich zufriedengeben'. Auch im Altitalienischen bedeutete pagare 'zufriedenstellen', so in dem Gedicht Tradita! des Odo delle Colonne: Di te, oi vita mea, Mi tegno più PAGATO, Ca s'i i' avesse in balia Lo mondo a segnorato („Mit dir, mein Leben, bin 15

Die Bedeutung 'versöhnen' scheint speziell altfranzösisch zu sein. Sehr viele Belege bei Godefroy zeigen Synonymie mit acorder, was die Bedeutung 'versöhnen' deutlich hervortreten läßt, wie in folgendem Beispiel: Les enemis faisiens ACORDER et PAIER (Jean Bodel).

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ich zufriedener, als wenn ich die ganze Welt in meiner Macht und Gewalt hätte"). Die Bedeutung 'satisfacer, contentar' (Menéndez Pidal) ist auch die weitaus häufigste im altspanischen Cidepos. Sie findet sich Zeile 69, 498, 1960, 2065 und an weiteren Stellen. Aber an drei Stellen bietet der Cid für unser Wort eine neue Bedeutung, und zwar die von 'bezahlen' ('satisfacer la deuda'): Lo uno adebdan e lo otro PAGATIAN (1976: „Das eine blieben sie schuldig, das andere bezahlten sie"). Die Bedeutung 'bezahlen' kann wegen adebdar ( < ADDEBITARE), heute adeudar 'schuldig bleiben', nicht zweifelhaft sein. So muß pagar auch in Zeile 806 verstanden werden: ¡Dios, que bien pagó a todos sus vassallos! (ähnlich Zeile 847). Im Altitalienischen scheint 'bezahlen' von Anfang an die normale Bedeutimg von pagare gewesen zu sein: E quando avete bisogno di tònica o di mantello o di cosa veruna, comperate e io PAGHERÒ (I Fioretti di San Francesco, Cap. 37). Im Französischen taucht die Bedeutung 'bezahlen' verhältnismäßig spät auf, zum erstenmal bei Chrétien: Cel jor furent jugleor lié; Car tuit furent a gre Ρ Α Π Ε (Erec 2109f.). Aber wie bei allen Autoren seiner Zeit, so ist auch bei Chrétien das Verb soudre noch das häufigste für 'bezahlen', eine Bedeutung, die das lateinische Etymon SOLVERE ebenfalls gehabt hatte (créditas pecunias solvere, Cicero). Soudre war in der Tat bis ins 14. Jahrhundert hinein das beherrschende Verb für 'bezahlen'. Dann erst t r a t payer endgültig an seine Stelle und soudre lebte zunächst noch als Simplex, dann als résoudre in der Bedeutung 'lösen' weiter, PACARE hatte also zunächst im Italienischen, Provenzalischen und Spanischen die Bedeutung 'bezahlen' angenommen. Obwohl die semantische Entwicklung von 'befrieden, befriedigen', 'einen Gläubiger zufriedenstellen' bis 'seine Schuld bezahlen' sich leicht erklärt, scheint sie im Französischen nicht spontan erfolgt zu sein. ,,Der Bedeutungswandel ist wohl recht alt und geht, nach der Verbreitung zu urteilen, bis in die spätere Kaiserzeit zurück. Es fällt aber auf, daß Nordfrankreich davon erst gegen 1170 erreicht wird. ... Mit Nordfrankreich geht hier noch die Gascogne. Die neue Bedeutung von afrz. paier dringt wohl durch den Handel von Süden her ein 1 6 ; vielleicht ist es nicht Zufall, daß der älteste Beleg bei Chrétien de Troyes steht, wo doch Troyes als Messeort eine große Bedeutung hatte 1 7 ." Bezeichnend ist auch, daß das Wort in diesem Sinne im Altprovenzalischen früher belegt ist als im Altfranzösischen. Solange soudre als einziges Verb le

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Noch i m Diet. etym. von Bloch-Wartburg 1. Aufl. 1932 war die alte Auffassung geteilt worden, daß die Bedeutung 'bezahlen' unter Einfluß germanischen Rechts entstanden sei, „qui, comme on sait, admettait le versement d'une somme d'argent en payement d'un dommage, cf. le Wergeld". W. v. Wartburg, F E W s. verbo pacare.

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für 'bezahlen' bestanden hatte, genügte es allein, da sein Bedeutungsgehalt eindeutig war (Mult empruntout e bien soleit, Roman de Rou III, 11124; Li guerredon Ven sera sous, Tristan; reiche Belege bei Godefroy). Anders ist es bei paier, das, solange es 'befrieden, versöhnen' bedeutete, oft mit acorder gemeinsam aufgetreten war (vgl. Anm. 15). Jetzt, wo es die Bedeutung 'bezahlen' annimmt, schwenkt die Synonymie herum und paier erscheint synonymisch verbunden mit soudre, durch dieses Wort gleichsam eingeführt und semantisch gestützt. Das ist sogar in mittellateinischen Texten der Fall: Recognoscentes nos persufficienter esse PACATOS et SOLUTOS (Diploma Henrici Ducis Silesiae ann. 1338, zitiert nach Du Cange). Im Altfranzösischen ist, zumal zu Beginn der neuen Bedeutung, die Synonymie soudre et paier recht häufig. Wir zitieren nur drei Beispiele aus Godefroy: Eine Urkunde des Jahres 1283 hat promet sodre et paier, eine des Jahres 1291: II paiera et souldra aus diz acheteurs en non de poine le quint denier de la somme dessus dite. Schließlich eine Urkunde des Jahres 1313: Il li covanroit sorre et paier dou sien propre18. Besonders in juristischer Sprache, wo genaue Bedeutungsangabe erforderlich ist, war paier zur Zeit seiner ersten Verwendung für 'zahlen' allein noch nicht eindeutig genug - erst später wurde es selbständig, um dann allerdings soudre ganz zu verdrängen. So steht schon bei Wace paier häufig allein für 'bezahlen': E issi fu assëuré Que li reis l'argent paierait (Rou III, 10500f.); E il cent liures li dona; Li horns se tint pur bien paé (Rou I I I , 2392f.). Auch in den anderen romanischen Sprachen drängte die Bedeutung 'bezahlen' die alte Bedeutung 'zufriedenstellen' völlig zurück. Ital. pagare, prov., katal., span., port, pagar bedeuten heute ausschließlich 'bezahlen'. Nur einige archaische Gebiete haben die alte Bedeutung bewahrt, so das Rumänische in dem Kompositum împacà (altrum. paca) 'versöhnen'. Im Logudoresischen erscheint die Bedeutimg pagare 'rächen', die sich leicht durch 'eine Schuld büßen' erklärt. Ebenso hat Engad. für payer die Bedeutung 'vergelten' neben 'gelten, wert sein' (vgl. R E W 6132). Hatten wir bisher einige lateinische Wörter untersucht, bei denen schon in sehr früher Zeit - noch auf gemeinromanischer Basis - von den jeweiligen Bedeutungsgehalten des Lateinischen die eine oder die andere Bedeutung aktualisiert bzw. konkretisiert wurde und die semantische Entwicklung (in großen Zügen gesehen) die Gesamtromania einheitlich erfaßte, so wenden wir uns jetzt einigen lateinischen Grundwörtern zu, deren Bedeu18

La Curne de Sainte-Palaye zitiert einen (ungenannten) Dichter vor 1300, der ebenfalls die oben zitierte Synonymie hat: Il n'est nus, tard ait d'avoir, d'eritage, Qu'il le me peust ne soudre ne payer.

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tungen in den verschiedenen romanischen Sprachen verschieden aktualisiert wurden, so daß schließlich romanische Wörter mit gemeinsamem lateinischem Etymon, aber völlig verschiedener Bedeutung entstanden. Zwei solcher Fälle hat G. Rohlfs (op. cit.) bereits untersucht, so daß wir auf ihn verweisen können und diese Fälle nur summarisch anzudeuten brauchen. Das eine lateinische Wort mit semantischer Aufspaltung ist F E M I N A , das andere S A L I R E (Rohlfs, op. cit. p. 35-36). Rohlfs schreibt darüber: „Das lateinische Verbum S A L I R E bedeutete 'springen': saliunt ranae in aquam. Diese alte Bedeutung hat sich in den romanischen Sprachen nur in zwei Randgebieten erhalten: in Rumänien (säri) und im Rätoromanischen (saglir, siglir). I m übrigen ist es semantisch zu einer Weiterentwicklung gekommen, und zugleich zu einer semantischen Differenzierung. Aus dem horizontalen Springen leitet sich ab franz. saillir, span, salir, port. sahir in der Bedeutung 'hinausgehen', 'hervortreten': span, salgo de casa, franz. l'eau saillit du rocher. Aus dem vertikalen Springen ist andererseits ital. salire zu der Bedeutung 'hinaufsteigen' gelangt : ital. salire sulla torre19. Das heißt: es ist salire aus seiner ursprünglichen Bedeutimg teils zum Ersatzwort für 'exire', teils zum Ersatzwort für 'subire' geworden". Man könnte dem nur hinzufügen, daß saillir im Französischen (im Gegensatz zu den anderen romanischen Sprachen) keine Lebenskraft mehr besitzt. Es ist defektiv und lebt außer in dem oben genannten Ausdruck praktisch nur noch in Wendungen wie un angle saillant 'ein vorspringender Winkel' fort. Ein anderes Wort, das, wie E E M I N A und S A L I R E , durch Aktualisierung verschiedener lateinischer Bedeutungen semantisch differenziert worden ist, ist das lateinische Verbum Q U A E R E R E . E S sei mir gestattet, hier zu zitieren, was ich in „Orbis" X, 1961 zu dieser Frage geschrieben hatte: «Le latin Q U A E R E R E avait les trois significations principales suivantes: I o chercher; 2° chercher à obtenir, désirer, prier; 3° demander au sens d'interroger. Tous ces sens survivent dans les langues romanes, mais pas tous dans toutes à la fois ni avec la même vitalité. Le roumain cere 'prier, demander' continue l'un de ces sens, l'italien chiedere 'désirer' et 'demander, interroger' deux autres. L'évolution sémantique du logoudorien kerrere 'vouloir', proche de celle de l'espagnol, s'explique facilement et est d'ailleurs en parfait accord avec le sens principal que chiedere a toujours eu en italien, à savoir 'demander, chercher à obtenir'. Quelques exemples: Che servo non ha già bailía'n cherere 'car un serviteur n'a pas le pouvoir d'exiger quelque chose' (Guittone d'Arezzo, Dover di donna verso l'ama19

Vgl. Dante: Perchè non sali il dilettoso monte ? (Inf. I, 77).

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tore) ; Un giucolare stava a quella tavola, e non s'ardía di chiedere di quel vino 'un jongleur se tenait près de cette table, mais n'osa demander de ce vin' (Il Novellino, Di messere Rangone); Onde quindici di perseverò in amaro ;pianto de suoi peccati e in chiederne misericordia a Dio 'et après il resta quinze jours à se repentir amèrement de ses péchés et à implorer la miséricorde divine' (I Fioretti di San Francesco, chap. 25). C'est ce sens de 'chiedere per ottenere' qui est resté le plus vivant en italien moderne ; dans l'autre sens, 'interroger', chiedere est fortement concurrencé par domandare. E n espagnol et en français, les choses sont beaucoup plus compliquées qu'en italien. Commençons par l'espagnol. Ici QUAERERE, sous la forme querer, a abouti à trois sens principaux, le premier, très clair, de 'vouloir', un deuxième, qui a peu duré, de 'chercher' (Cid 3549 etc.) et un troisième plus difficile à expliquer, celui d"aimer'. Cette dernière signification apparaît dès les premiers textes: Venit acá, Albar Fáñez, el qué yo quiero e amo ('Venez ici, Albar Fanez, que j'aime tant', Cantar de mio Cid 2221);

Ya doña Ximena, la mi mugier tan complida, Commo a la mi alma yo tanto vos quería ('Ah, donna Chimène, mon épouse parfaite, Je vous aime comme mon âme', Cid 276 cf. aussi 2017). C'est le sens d"aimer' du verbe querer qui demande à être examiné, bien qu'il ait déjà été l'objet de plusieurs études. Dans son travail déjà cité, M. Rohlfs constate que le latin AMARE n'est resté vraiment vivant et populaire qu'en galloroman, où il a d'ailleurs été appuyé phonétiquement et sémantiquement, selon M. John Orr (Mel. Mario Roques, I, 1950, p. 217-227), par l'ancien français esmer, de AESTIMARE, qui survit en catalan au sens d"aimer'. Dans mon compte rendu du livre de M.Rohlfs (ASNSL 191, 1955, p. 365), j'avais exprimé l'opinion que le latin AMARE était devenu une espèce de mot-tabou, remplacé pour cette raison par d'autres verbes dans les différentes langues romanes. Dans une étude récente, M. Manfred Bambeck (Lateinisch-Romanische Wortstudien, Wiesbaden, 1959, p. 66) réfute mon opinion et il a sans doute raison. J e crois aujourd'hui que AMARE n'a pas disparu parce qu'il désignait uniquement l'amour sensuel, mais parce que, dans le domaine de l'affectivité, un mot est facilement remplacé soit par des mots plus expressifs soit par des termes plus familiers ou plus tendres. Si, en latin, AMARE exprime surtout l'amour-passion, provoqué par le dieu Amour, d'autres verbes, comme DILIGERE (AMARE est ex appetitu DILIGERE ex ratione, disait Forcellini) et plus spécialement BENE VELLE ALICTJI, expriment plutôt un

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amour tendre, basé sur l'estime. On n'a qu'à se souvenir du fameux vers de Catulle, où le poète se plaint de la trahison de Lesbie, qui le force 'à l'aimer plus passionnément encore, mais moins tendrement'. C'est ainsi que je crois rendre le sens de ce vers Cogit amare magis, sed bene velie minus (72, cf. aussi 83). Ce B E N E V E L L E , qui explique d'ailleurs le verbe italien voler bene, remonte jusqu'à Plaute et Térence, où il s'oppose, comme aujourd'hui en italien, à M A I E V E L L E (voler maie) : Tibi bene ex animo volo (Térence, Héaut. 5, 2, 6) ; Quid agit fìlius ? - Bene vult tibi (Plaute, Trin. 2, 4, 36) ; Utinam male qui mihi volunt, sic rideant (Plaute, Asin. 5, 1, 13). Mais revenons à l'espagnol querer 'aimer'. E n espagnol, tout comme en portugais, amar existe, mais, comme le dit M. Corominas dans son Diccionario crítico etimológico, 'en la actualidad el uso hablado de amar tiene fuerte sabor literario o presuntuoso'. C'est querer qui l'a supplanté de bonne heure. Leo Spitzer (Über einige Wörter der Liebessprache, Leipzig, 1918), cité d'après M.Rohlfs, croit que querer, qui selon lui signifiait d'abord 'chercher à posséder une femme', s'explique par le tempérament fougueux des peuples méridionaux ou par la sensualité des Maures. Sous une forme modifiée, Spitzer a repris cette idée en 1957 (in Syntactica und Stilistica, Mélanges Gamillscheg, Tubingue); il voit dans querer 'to love' l'influence de 'medieval philosophy of will'. Tout cela est peu convaincant ou, comme le dit M. Manuel Alvar dans sa traduction de Rohlfs: 'La interpretación 'espiritualista' de todo el pasaje parece poco probatoria'. M.Bambeck, dans le livre déjà cité, croit pouvoir affirmer, en s'appuyant sur un passage de Saint Augustin, que Q U A E R E R E pouvait à lui seul signifier 'aimer' en latin: Dicimus enim etiam praesenti alicui: Non te quaero: id est non te diligo (Bambeck, p. 64). Mais quand on étudie de près tout le passage cité, on ne tarde pas à s'apercevoir que la phrase de Saint Augustin n'est que l'exégèse du Psaume 72, 28: 'Quaerite faciem eius semper'. Mais exégèse ne signifie pas explication philologique! Même en français moderne, chercher Dieu peut avoir le sens de aimer Dieu, sans que pour autant chercher soit synonyme à'aimer, pas plus que dans u n passage du Tristan de Béroul, où querre s'approche du sens de aimer sans toutefois en devenir synonyme: Tristran autre chose ne quiert Fors la raine Ysolt, u ert (v. 996).

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J e crois donc que querer au sens de 'aimer' n'est dû ni au tempérament national des Espagnols ni à un verbe QTJAERERE qui aurait signifié 'aimer* en latin. J e penche plutôt à donner raison à M. Corominas qui dit à propos du verbe espagnol amar: 'Desde antiguo hace concurrencia a este verbo, en el uso popular, querer bien, hoy reducido a querer'. Cet avis est confirmé par l'état de choses qu'on trouve en ancien espagnol (Querié de coraçon bien à Santa Maria, Berceo) et surtout en portugais où, comme m'écrit M. Heinz Kroll, querer bem se trouve encore aujourd'hui dans d'innombrables quatrains populaires, et où il s'oppose à querer mal 'haïr'. J'irai même plus loin. Pour comprendre l'origine de ce querer bien, il suffit de se souvenir du latin BENE VELLE qui s'opposait à MALE VELLE et explique le voler bene de l'italien. Or, VOLERE, forme vulgaire de VELLE, n'a pas laissé de traces en espagnol et en portugais. C'est QTJAERERE qui l'a partout remplacé au sens de 'vouloir'. Il est donc tout naturel que QTJAERERE se soit substitué à VOLERE jusque dans la locution verbale VOLERE BENE (VOLERE MALE), donnant ainsi naissance à l'ancien espagnol querer bien. De là à querer tout court au sens de 'aimer', il n'y a qu'un pas. Les avatars de QUAERERE dans le domaine galloroman sont vite étudiés. Il semble que l'ancien provençal et l'ancien français aient seuls perpétué, à côté d'autres sens d'importance secondaire 20 , celui de 'chercher'. C'est en effet le sens de 'chercher' qui l'emporte dès le début: De quant il querent le forsfait Non fud trovez (Passion de Clermont, Bartsch-Wiese, 5, 57). Dans Saint Alexis, j'ai trouvé querre une seule fois au sens de 'prier', neuf fois au sens de 'chercher' (p. ex.: Par multes terres fait querre sun amfant, Alexis 112; de même v. 134, 174, 181, 281, 297, 314, 353, 522). Il en est de même dans la Chanson de Roland où querre, abstraction faite d'un seul vers (3202), signifie partout 'chercher', même au sens figuré (v. 3759). Ainsi s'amorce, dès les premiers textes, une spécialisation sémantique qui assure à querre la prépondérance d'un sens, celui de 'chercher', et c'est justement dans ce sens très clair et très fréquent que notre verbe se passe en général de synonymes en ancien français: preuve de sa vitalité sémantique! Mais à partir du 14 e siècle, querre semble s'affaiblir, bien que l'infinitif quérir, attesté en 1327, se soit maintenu dans des locutions littérai20

Voici quelques exemples du sens 'prier, demander': Que nom dora so qu'ieu l'ai quis tan loniamen ('car elle ne m e donnera pas ce que je lui ai demandé depuis longtemps'; Folquet de Marselha, éd. Strowski, p. 22); Tut te durai, boens hom, quanque m'as quis (Alexis 224) ; Jo vos otri quanque m'avez ci quis (Roland 3202) ; Que je ne te quier ne demani (Chrétien, Perceval 217).

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res. Mais n'oublions pas que Furetière, en 1690, qualifia quérir de 'vieux mot, qui signifiait autrefois chercher'.» Damit kommen wir zu der semantischen Differenzierung von lat. crnCARE, das seit dem 4. Jahrhundert im Sinne von 'im Kreis herumgehen', 'umzingeln' belegt ist. Das Wort ist in allen romanischen Sprachen erhalten. I n der Mehrzahl der Fälle hat sich aus der Bedeutimg 'im Kreise umhergehen' > '(suchend) durchstreifen' die Bedeutung 'suchen' ergeben. Wir finden sie in rum. cercà (auch 'versuchen', 'kosten'), it. cercare, logud. kirkare, kat. cercar, prov. cercar, nfrz. chercher. Es hat sich also ein Bedeutungsblock 'suchen' herausgebildet, der vom äußersten Osten (Rumänien) einheitlich bis ins Katalanische reicht (das auch bedeutungsmäßig meist mit dem Provenzalischen gemeinsam geht). Die eigentliche Iberoromania ist jedoch nicht bis zur Bedeutung 'suchen' gekommen. Spanisch und Portugiesisch sind bei der Bedeutimg 'im Kreis umhergehen, umzingeln' stehengeblieben und verwenden für 'suchen' das Wort buscar, das den anderen romanischen Sprachen in diesem Sinne unbekannt ist (REW 1420). Schon im Altspanischen ist für çercar nur die Bedeutung 'umringen, belagern' zu belegen, die das Wort cercar heute noch hat: Nos çercamos el escaño por curiar nuestro señor (,,Wir umringen das Ruhebett, um unseren Herrn zu sichern", Cid 3335); Moros son muchos, derredor le çercavan („Die Mauren sind zahlreich, sie umringten ihn", ibid. 2390); Prisieron so consejo quel viniessen çercar („Sie faßten den Plan, ihn zu belagern", ibid. 1099). Das galloromanische Sprachgebiet bildete im Mittelalter sozusagen die Brücke zwischen dieser Bedeutung des iberoromanischen cercar und der fortgeschrittenen italienischen Bedeutung 'suchen' 21 . Afrz. serchier (ab 16. Jahrh. durch Assimilation chercher) bedeutete in der Tat bis zum 16. Jahrhundert 'umhergehen', '(suchend) durchstreifen', hatte also den alten lateinischen Sinn noch verhältnismäßig treu bewahrt. Das war auch dadurch möglich, daß für 'suchen' noch das alte querre zur Verfügung stand, das in anderen romanischen Sprachen andere Bedeutungen hatte. So taucht cercer im Rolandslied in der Bedeutung 'suchend durchstreifen' auf: A mil Franceis junt ben cercer la vile (3661); Rollanz s'en turnet, par le camp vait tut suis, Cercet les vais et si cercet les munz (2184)22. J a , das Wort hat zuweilen auch die sonst spanische Bedeutung 'umzingeln': 21

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In tutte le sue operazioni CERCAVA l'onore e la gloria di Dio e non la propria ( I Pioretti di San Francesco, Cap. 25). Giovane, il caldo ne costrigne di CERCARE i freschi lochi (Boccaccio, Filocolo, libro V). Entsprechend im Anglonormannischen: Pur la cordree cerchier (Brut 814); Pur les bois e les vals cerchier E la cuntree espier (ibid. 11883).

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Firent les porz cergier, e gaitier e guarder (Garnier de Pont-Sainte-Maxence). Eine Stelle bei Chrétien de Troyes zeigt dann, wie das Verb ein direktes Sachobjekt zu sich nimmt und zu der allgemeinen Bedeutung 'suchen' kommen kann: Come avugles qui a tastons Vet aucune chose cerchant (Yvain 1142f.). Wie wir es schon mehrfach beobachtet haben, wird auch bei cerchier die neue Bedeutung gern durch das synonyme Verb guerre gestützt: Lors ont par tot cerchie et quis (Chrétien, Yvain 1186). Vom 15. Jahrhundert an setzt sich sercher (chercher) in der Bedeutung 'suchen' durch und verdrängt als regelmäßiges, kräftiges Verb das alte querre, quérir; der semantische Anschluß an die Westromania ist damit vollzogen. Aufschlußreich ist auch die Bedeutungsdifferenzierung von lat. M U T A R E . Dieses Verb, das auf movitare zurückgeht, hat als Grundbedeutung 'bewegen', 'fortschicken' (...ne quis invitus civitate mutetur, Cicero). Übertragen bekam es dann die Hauptbedeutung 'ändern', 'verändern' (testamentum, consilium, colorem, vestem, dann auch terram, patriam mutare). Diese beiden Bedeutungen leben in den romanischen Sprachen fort, jedoch nicht jede in jeder - meist ist nur eine Bedeutung aktualisiert. Die Grundbedeutung des 'Bewegens' steckt noch in altit. mutare 'reisen' (REW 5785), wobei freilich mutare aliquem loco oder mutare locum ('den Ort wechseln' > 'reisen') zugrunde liegen kann. Eine Stelle bei Iacopone da Todi deutet allerdings auf mutare aliquem loco hin: Succurri, donna, aiuta; Ch'ai tuo figlio se sputa E la gente lo muta: Onlo dato a Pilato (,,.. .Die Leute führen ihn hinweg, sie haben ihn Pilatus übergeben", Pianto de la Madonna). Neuitalienisch mutare hat diese Bedeutung nicht mehr (wenn man von dem Kompositum tramutarsi 'umziehen' absieht), wohl aber ist sie noch in span, mudarse 'umziehen' (auch mudanza 'Umzug', 'Wohnungswechsel') lebendig. Mudarse 'sich begeben' ist schon im Altspanischen belegt: Entonçes se mudó el Cid al puerto de Alucat („Darauf begab sich der Cid zum Paß von Olocau", Cid 951). Die semantische Brücke zwischen Altitalienisch und Altspanisch bildet aprov. mudar 'an einen anderen Ort bringen': ...elli mandat pregan que'l fezes si quel fezes M U D A R los edifizis e far traire en autra part (,,.. .und er läßt ihn bitten, er möge es so einrichten, daß er die Belagerungsmaschinen umstellen und an eine andere Stelle ziehen lasse"; Vita des Bertrán de Born, ed. Stimmig, kl. Ausg. S. 83). Im Altfranzösischen scheint hingegen muer diese Bedeutungsnuance nicht gehabt zu haben (doch siehe remuer weiter unten). Die Bedeutung 'bewegen', 'reisen' etc., die sich früher von Italien über die Provence bis nach Spanien erstreckte, lebt also heute nur noch im Spanischen fort, während die Bedeutung 'ändern, verändern' gemeinromanisch war und auch geblieben ist. Wir finden sie in rum. muta, ital. mu-

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tare23, log. mudare, prov. mudar und span., port, mudar. Auch im Altfranzösischen hat muer von den ersten Belegen an die allgemeine Bedeutung 'ändern'. Schon der Alexiusdichter klagt über die Welt: Tut est muez, perdude ad sa colur (Alex. 4). An anderer Stelle: Cum est mudede vostra bela figure (Alex. 482, vgl. auch 116). Vom Schwert Karls heißt es im Rolandslied: Ki cascunjur muet trente cïartez (2502)24. I n besonderer syntaktischer Verwendung erscheint muer in der festen Wendung ne puet muer (ne plort) („er kann nicht umhin, nicht anders", Rol. 773). Dieser Gebrauch findet sich schon bei Alexius 275: Ne puet muer ne seit aparissant25. Bis ins 16. Jahrhundert hinein behielt muer die allgemeine Bedeutung 'ändern, verändern', doch trat schon früh changer ( < vlat. cambiare) als Konkurrent auf. Es erscheint im 12. Jahrhundert und ist zunächst noch oft synonym mit muer verbunden (Tuit sunt mué et tuit changié, Wace, Rou I I I 9825), um später das Verb muer auf einige spezielle Bedeutungen, vor allem 'mausern' zurückzudrängen, die es ebenfalls - anscheinend in allen romanischen Literatursprachen - hatte. Im Rolandslied erscheinen 'gemauserte Habichte' (hosturs muez, 129), im spanischen Cidepos, wohl in Abhängigkeit vom Rolandslied, adtores mudados (Cid 5). Auch die italienische Form mudare 'mausern' weist durch das intervokalische -d- statt -t- auf Gallizismus 26 . Während MUTARE sich also vor allem in seiner Bedeutung 'ändern' in den meisten romanischen Sprachen (trotz Konkurrenz von CAMBIARE) als lebenskräftig erwiesen hat, ist es im heutigen Französisch nur noch in den genannten speziellen Bedeutungen üblich oder wird als literarischer Archaismus verwendet 27 . Einige moderne Autoren versuchen es neuerdings zu neuem Leben zu erwecken, zuweilen auch in der Form transmuer28. 43

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E guarda che tu non MUTI le parole altrimenti ch'io t'insegnerò (I Fioretti di San Francesco, Cap. 9). Ricevemmo misericordia da Dio, il quale MUTÒ la pena eterna dello inferno in pena temporale di purgatorio (Iacopo Passavanti, Lo specchio di vera penitenzia, III, II). Vgl. auch Roland 441: Li reis Marsïlies ad la culur MUEE. Dieser Gebrauch findet sich auch später noch, so Chrétien, Gral 5030. Auch andere spezielle Bedeutungen wie frz. la voix mue ('bricht') erklären sich leicht, ebenso frz. muer un officier ('in eine andere Garnison versetzen'), ital. mutare ('ablösen' von Soldaten) u. dergl. Waldensisch mianda, piem. müanda 'Alpe, Bergwiese' und andere spezielle Bedeutungen (s. R E W 5785) deuten auf den Auf- und Abtrieb des Viehs im Wechsel der Jahreszeiten. „Muer, employé transitivement, est synonyme de transformer, de changer dans le langage recherché: Muer Veau en vin; sympathie qui se mue en amitié" (Bailly, Diet, des Synon., 1947, p. 591). En effet, le sentiment de Dora avait vite mué (Drieu la Rochelle, Gilles). Un homme sur les épaules de qui allait tomber la vieillesse, esquive le fardeau et se mue en jeune

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Noch eines ist zum semantischen Schicksal von M U T A R E im Französischen zu erwähnen. Wir hatten bemerkt, daß das Französische im Gegensatz zum Altitalienischen, Altprovenzalischen und Spanischen nicht M U T A R E in der Bedeutung 'bewegen' fortsetzte. Das erklärt sich daher, daß das Kompositum remuer diese Bedeutung übernahm. Remuer, eine Intensivform von muer, bedeutete zunächst, sogar bis ins 16. Jahrhundert hinein (wie it. rimutare, prov. remudà, span, remudar noch heute) 'wieder ändern' oder 'gänzlich ändern' 2 9 . Aber sehr bald legte es sich auf die Bedeutung 'bewegen' fest: Et sa lance et s'espee nue Veez, cornant il les remue (Chrétien, Yvain 3215f.). Dazu dürfte das Verb removeir 'von der Stelle bewegen' beigetragen haben, das in manchen Formen denen von remuer sehr ähnlich war und infolgedessen formal und semantisch in remuer aufging. Wie im Spanischen mudarse 'umziehen' bedeutet, so sagte man im Französischen mit dem Kompositum remuer ménage (nfrz. 'déménager'), woraus die heutige Wendung remue-ménage 'Durcheinander, Wirrwarr' entstanden ist. Wir haben in unserer kurzen Betrachtung einige Wege der semantischen Differenzierung der romanischen Sprachen zu zeigen versucht. Wir sahen an den Beispielen R A T I O N A R E , COLLIGERE, L A B O R A R E , M I N A R I das Fortleben nur einer konkretisierten Bedeutung in den romanischen Sprachen ; wir sahen, wie die Bedeutungsbeschränkung des Verbums N E G A R E , die schon vorromanisch ist, zu der allgemeinen Bedeutung 'ertränken' führte, wie dagegen P A C A R E über verschiedene Bedeutungen erst langsam allgemein zu der von 'bezahlen' gelangte. In vielen Fällen konnten wir, vom Jonasfragment an, beobachten, wie die bisher zu wenig beachtete Synonymie den allmählichen Bedeutungswandel unterstützt, einem Wort in seiner neuen Bedeutung zur Erklärung das alte noch hinzufügend. Aus dem oft weiten Bedeutungsfeld eines lateinischen Grundwortes haben die romanischen Sprachen nicht immer gemeinsam eine Bedeutimg aktualisiert. Bedeutungsaufspaltung trat ein bei F E M I N A , S A L I R E , QTJAER E R E , CIRCARE, M U T ARE. An diesen wenigen Beispielen konnten nur einige Fälle der semantischen Differenzierung untersucht werden. Weitere Untersuchungen sind erforderlich, so die Betrachtung der Schicksale von lat. F I R M A R E , T U T A R E , P L A N G E R E , D U B I T A R E , P L I C A R E und vieler anderer. Am Beispiel des Wortes B R U M A 'kürzeste Wintertage', 'Winterkälte' (ital. bruma 'tiefer Winter', prov. brumo, frz. brume 'Nebel') könnte

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homme (Jules Romanins, Les Hommes de bonne volonté, vol. XV). L'exaltation de Justin s'allait muer en courroux (G.Duhamel, Chronique des Pasquier, Y; doppelter Archaismus durch Wahl von muer und durch Stellung des Pronomens!). Neüstrie aveit nun (seil, la Normandie) el tens d'antiquité, Mais pur la gent nuvele unt le nun REMUÉ (Wace, Roman de Rou, II 400).

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HANS-WILHELM

KLEIN

gezeigt werden, wie Italien als Kernland der Latinität die alte Bedeutung zuweilen am treuesten bewahrt, während unter anderen Verhältnissen ein Wort eine neue, spezielle Bedeutung annehmen kann. Es müßte schließlich der kulturell bedingte Bedeutungswandel besonders berücksichtigt werden. Eine andere Zeit erfüllt alte Wörter mit völlig neuem Geist. Wörter wie LATINUS oder das Adverb ROMANICE (dictum) erfahren ganz eigenartige semantische Veränderungen. Vor allem aber müßte der christliche Einfluß auf die Bedeutung von einer Reihe von Wörtern noch genauer untersucht werden, als dies bisher geschehen ist, so etwa bei BLASPHEMARE, CAPTIVTJS, CURA, FRATER (in seinem Verhältnis zu GERMANUS), PECCATUM, TALENTUM u.a. E s bleibt also auf diesem Gebiete noch viel zu tun.

Randbemerkungen zum Thema Dissimilation E K N S T GAMILLSCHEG TÜBINGEN

Über Dissimilation in den Romanischen Sprachen schreiben, heißt fast Eulen nach Athen tragen. Abgesehen von den zahlreichen Belegen, die in den verschiedensten Arbeiten zerstreut liegen, haben doch G r a m m o n t , in La dissimilation consonantique dans les langues indo-européennes et dans les langues romanes, Dijon, 1895 und unlängst Rebecca P o s n e r , in Consonantal dissimilation in the Romance Languages, Oxford, 1961, wie man meinen könnte, das Problem erschöpfend behandelt. Es kann sich also hier nur um Kommentierung verschiedener Belege handeln, die mir im Lauf der Jahre aufgestoßen sind, namentlich aus dem Gebiet der Ortsnamenkunde, die, wie in so vielen anderen Gebieten, auch hier manche neue Einblicke ermöglichen. I n den erwähnten zusammenfassenden Werken über Dissimilation werden die vokalischen Dissimilationen merkwürdigerweise nicht behandelt, obgleich diese ebenso eine Behandlung verdienten wie die konsonantischen. R. P o s n e r stellt in der Einleitung ihres Werkes einzelne Versuche einer Definition zusammen, die das Wesen der Dissimilation eindeutig bestimmen sollen. So ist nach G r a m m o n t , Dissimilation ,,une action produite V e r z e i c h n i s der n i c h t s e l b s t v e r s t ä n d l i c h e n A b k ü r z u n g e n . AA = Gamillscheg, Ausgewählte Aufsätze II, Tübingen, Niemeyer, 1962. - Fö. = Ernst Förstemann, Altdeutsches Namensbuch, 3. Auflage, hrsg. von Hermann Jellinghaus, Bonn, 1913-1916. - fr. = fränkisch. - Hofmann = Stolz-Schmalz, Lateinische Grammatik... in fünfter Auflage völlig neu bearbeitet von Manu Leumann und Joh. Bapt. Hofmann. München, 1928. - K. = Kanton. - Lux. = belgische Provinz Luxembourg. - Mèi. Grevisse = Mélanges de Grammaire Française, offerts à M. Maurice Grevisse. Gembloux, Duculot, 1966. - ML = Meyer-Lübke. - PdC = Pasde-Calais. - Petri = Franz Petri, Germanisches Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich. Bonn, 1937. — Sdlg. = B. Gamillscheg, Germanische Siedlung in Belgien und Nordfrankreich, Berlin, 1938, Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1937, Ph. hist. Klasse 12. - Wb 2 . = E. Gamillscheg, Etymologisches Wörterbuch der französischen Sprache, 2. Auflage, Heidelberg, Winter, 1967 ff.

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ERNST

(JAMILLSCHEG

par un phonème sur un autre phonème", was gewiß richtig ist, aber für zahlreiche andere Fälle sprachgeschichtlicher Entwicklung ebenso gut oder schlecht paßt. P a s s y erklärt Dissimilation als einen Vorgang ,,as if to avoid the too frequent repetition of the same sound", was niemand bestreiten wird, aber doch nur eine Beschreibung, nicht eine Erklärung ist. Das trifft auch für V e n d r y è s , Le Langage p. 75 zu: „on exécute une seule fois un mouvement articulatoire qui devrait être répété deux fois". Eher befriedigt die Darstellung bei J . B. Hofmann, S. 177 in Stolz-Schmalz, Lat. Gr. 5. Auflage unter „konsonantischer Fernwirkung". „Konsonantische Fernwirkung erfolgt innerhalb eines Wortes, seltener einer Wortgruppe, wenn mindestens über einen Vokal hinweg, in meist ähnlicher Stellung, entweder ein Konsonant sich wiederholt oder doch artikulatorisch verwandte Laute oder Lautgruppen auftreten; hauptsächlich werden r, l und auch m, η betroffen. Die Schwierigkeit, einen und denselben Laut bei kurzem Zwischenraum zweimal zu artikulieren führt dazu, daß versehentlich entweder an der einen Stelle ein artikulatorisch verwandter Laut ausgesprochen wird, sogenannte Dissimilation bzw. dissimilatorischer Lautwechsel, meist bei zwischenvokalischer Stellung, oder der Laut an der einen Stelle übergangen (ausgelassen) wird, sogenannter dissimilatorischer Schwund, meist bei angelehnter Stellung in Konsonantengruppen. Seltener ist der umgekehrte Vorgang: Statt daß zwei nur ähnliche Laute gesprochen werden, wird zweimal derselbe Laut artikuliert: sogenannte Assimilation" etc.; dazu die typischen Belege ebd. S. 178/179, die alle im Romanischen ihre Fortsetzung finden. Aufgabe dieser Zeilen soll aber nicht sein, eine alle befriedigende Definition von Dissimilation und Assimilation zu geben, das muß der experimentellen Phonetik überlassen bleiben. I n der „Einführung" von Meyer-Lübke wird in den §§121 und 147 im Überblick dargestellt, was von Erscheinungen der dissimilatorischen Wirkung in den romanischen Sprachen seine Anfänge noch im Lateinischen hat. Nach M.L. ist die Diss, l-l zu è-î schon vulgärlateinisch, ebenso o-o zu e-o. Die typischen Beispiele vïcinus-vëcïnus und retondus-rotondus (rotundus) zeigen den Hauptfall, in dem der Tonvokal erhalten bleibt, der nebentonige Vokal dem Wechsel unterliegt. Wie i-i zu e-i wurde, so wurde vor dem Übergang von kurzem ι zu -e- auch die Vokalfolge ι-ι zu e-i. Diese Stufe ist in den romanischen Hauptsprachen nicht mehr nachweisbar, da hier -i- eben zu -e- wurde, ist aber durch baskisch begiratu „beobachten" aus lat. v i g i l a r e zu erschließen, s. AA II, 26. Bei der vokalischen FernWirkung sind bei der Wahl des auszuwechselnden Vokals zwei Grundlagen zu unterscheiden. 1. Der dissimilierte Vokal

ZUM THEMA

DISSIMILATION

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steht unmittelbar vor oder unmittelbar nach dem festbleibenden Vokal in der Reihe der Grundvokale (i-f-e-ç-a-p-o-ît-u). Es gibt also eine Dissimilation α-e neben a-o, aber nie α-i oder a-u usf. Oder aber es entscheidet die akustische Wirkung des Resonanzraumes in der Mundhöhle, abgegrenzt durch die Stellung der Zunge. Dieser Resonanzraum k a n n in der gleichen F o r m ebenso im vorderen Teil der Mundhöhle (palatum) liegen wie in dem hinteren Teil (Velum). Die dissimilatorische Fernwirkung k a n n d a n n darin bestehen, daß der Resonanzraum des e i n e n Vokals in die Stellung des gleichen Resonanzraumes in der a n d e r e n H ä l f t e der Mundhöhle verlegt wird. Dies t r i t t z.B. bei dem Fall rotundus über rotondus zu retondus ein. Vgl. im einzelnen: Α-a wird zu e-a. Vlat. ferrago s t a t t farrago „Mengfutter", s. M.L. E i n f ü h r u n g § 121; ebenso sperwarium in der Lex Salica, frz. épervier, aus fränkisch sparwâri; Haranni, so im 9. J h . f ü r den ON Herne bei Recklinghausen, Fö. I I , 1, 1234, zu einem S t a m m har-; dazu a. 1136 Heran, heute Héron, K a n t o n s h a u p t s t a d t in der Provinz L ü t t i c h ; Sdlg. S. 55. Α-a wird zu o-a. Frz. malotru, afrz. malostru, d.i. *male astrutus „unter einem bösen Stern geboren" ; Halanzy, Lux. 1175 Holencey, dt. Holdingen, aus Holtland -f -iacum, vgl. Petri 275; Houmart, K . D u r b u y , Lux., 926 Halmarchia im K.Wellin; Longlier, K . Neufchâteau, Lux., 771 Longlari, d.i. *Lango-hlâri, Fö. I., 1012; Mouflières, Κ . Oisemont, Dep. Somme, 855 Masflariae, d.i. *Masohlâri ; Maulers, K . Crèvecœur, Oise, 763 Maslario; ebenso Mouflers, Κ . Ailly, Dep. Somme. Nach diesem hinlänglich belegten Gesetz der dissimilatorischen Wirkung erklärt sich nordfrz. notare f ü r natare, notale f ü r natale, d.i. afrz. noer „schwimmen", frz. noël „Weihnacht". I n beiden Fällen hat das Provenzalische die klassische α-Form bewahrt. O-o wird zu e-o, s. oben retondus. Smuid, K . S t . H u b e r t , Lux. 11. J h . Sulmodium, d.i. frk. *solmuddi „Mor a s t " , über *solmodi, *semuid die heutige F o r m ; afrz. fessoir neben fossoir aus lat. fossorium „Weinberghacke" ; die lebensfähige Variante der Dissimilation von o-o ist a-o. O-o wird zu a-o. Frz. bardot

„kleiner Maulesel", aus bordot,

zu prov. bort „ B a s t a r d " ,

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ERNST

GAMILLSCHEG

lat. burdus „Maultier"; frz. gargouille „Traufröhre" aus *gorgolja, lat. gurgulio; Caubert, K.Abbeville, Dep. Somme, 1100 Calbertum, zu Coloberi, Fö. I, 371. Beide Formen der Dissimilation zeigen nebeneinander creton „Fettstück", so wallonisch und pikardisch, afrz. auch craton, frz. crotton „Zuckergrieben", zu crotte „Kotkügelchen" ; étalon „kleiner Holzpflock", afrz. estalon, estelon, estolon, aus frk. stollo „Pfosten"; afrz. brohon, brehon, brahon, „Art Jagdhund", aus frk. *brôkhun(d) „Jagdhund, der das erlegte Wild aus dem Sumpf (brôk) dem Jäger bringt"; frz. raton „Käsekuchen", afrz. reston, raston, aus roston zu *rôtir. I-i wird zu e-i, s. oben vecinus. Frz. brésiller „zerbröckeln", aus bristlier, das westfrz. noch lebt, d.i. briser + -ïculare; lat. finire zu afrz. fenir; Hédin, Dep. PdC, 1000 Hisdinium, aus älterem *Huisdiñ, zu *hûsidûn, „Haus an der Düne", 7. J h . Huisduinen in Nord-Holland, Fö. II, 1, 1531. Ε-e wird zu i-e. Afrz. isnel „schnell"; aus frk. snëll; wohl auch afr. icest für *ecest u.ä. aus ecce istum u.ä. ; Noritel, K. Aubigny, PdC, 1119 Norestel, 1142 Noristel. Konsonantische

Dissimilation

Es sind hauptsächlich die intervokalischen Dauerkonsonanten, wie r, l, n, die betroffen werden. Die Dissimilation führt bis zum vollständigen Verstummen, vgl. d-d wird zu -d- 0. *adacidare „säuern", zu lat. acidus „sauer", in afrz. aacier les dentz „den Mund wässern", s. agacer, Wb 2 S. 17; der Schwund des 2. -d- wird nahegelegt, weil das durch Dissimilation entstehende -iare eine geläufige Verbalendung ist; Afrz. diemaine, auch diemanche „Sonntag", aus *didemaine bzw. *di-demanche aus dies dominicus bzw. dominica; afrz. dit er „einweihen", aus lat. dedicare gelehrt aufgenommen, über *dediier. S-s wird zu 0-s. Dazu aus der Bildung der -s-Perfecta, presis zu preis, fesis zu fèis, usf. ; zu afrz. grez, frz. grès „Kies" die Abi. *gresois, gresoise, daraus grèoise, frz. Schweiz groise „gravier", s. Mèi. Grevisse 128; auf dem gleichen Weg

ZUM THEMA DISSIMILATION .

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wird bei Isidor von Sevilla belegtes liciscus „Art starker Hund", über afrz. leisois „Jagdhund", in übertragener Bedeutung frz. liais „Litzenträger" in der Weberei; zu afrz. liois die Femininbildung (-issa) afrz. Hesselte „kleine H ü n d i n " ; lat. graeciscus über *greisois zu afrz. grêois. S-s wird zu s-0. Prov. soanar „verachten", „zurückweisen", dazu soan, soana „Verachtung", „Ausschuß", dazu afrz. mit Umstellung sooner „zurückweisen", „verschmähen", wie spanisch sosañar „zurückweisen", aus lat. subsannare „verhöhnen". Ts-ts wird zu 0-ts. Frz. rincer, älter rëincier, afrz. auch recincier, das in pik. rechinser die ursprüngliche Form bewahrt zeigt, aus *re-centiare (zu lat. recens, recente), das in der Volkssprache als ein Compositum von re- und einem Stamm *centiare zerlegt wurde. N-n wird zu 0-n. Frz. cuine „Retorte zur Erzeugung der Salpetersäure", 16. Jh. cuenne, aus arab. qanîna; Wb 2 290. R-r wird zu r-0. Frk. birhard „Träger", Abi. von frk. heran „tragen", wie frz. souillard zu souiller, musard zu muser usf.; in frz. bari „Tragbahre", 13.Jh. heart¡ haart, afrz. auch baiart, Wb 2 84; afrz. da er rain „letzt", aus darerain, d.i. dererain zu derrière, auch Beleg für e-e zu α-e; Fromessent, Kreis Montreuil, PdC., 1207 Fremehesem, d.i. Framharishèm, zum P N Framhari oder Hrômhari, und sächsisch hêm = heim; ebd. Hermenent, d.i. Harimarishêm, zum P N Harimar, Fö. I, S. 775. Der Schwund des einen Dauerlautes drängt sich auf, wenn der erste Laut oder beide Laute im Wort mit einem weiteren Konsonanten eine feste Gruppe bilden ; so wird br-b zu br-0, hl-l zu kl-0, lb-l zu ob-l usf. Vgl. lat. flebitis über *fleblis zu faible oder über *flebis zu afrz. fleve, floive; lat. flammula, afrz. flamble und flambe; frz. brouailles „Eingeweide" (von Fischen, Geflügel), in Glossen belegt burbalia, daher nprov. bourbaio „Bodensatz"; dagegen frz. umgestellt zu *broubaille, daher die literarische Form; frz. aveugle „blind", aus aboclus, ursprünglich alboclus „weißäugig", Wb a 65; ebenso gebaut im 16. J h . entlehntes alcade aus spanisch alcalde: frz. quincaille „Eisen-, Kupfergerät", aus clincaille; frz. gobille aus *globille, zu globe „Kugel" lat. albula „Weißfisch", in frz. able dass. Die Dissimilation drängt sich auf, wenn die aufeinander wirkenden

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ERNST

GAMILLSCHBG

Laute in einer einzigen Konsonantengruppe stehen oder zu stehen kommen, wie in able aus alble. So auch in frz. beffroi „Thronhimmel" aus afrz. berfroi „Belagerungsturm", „Feuerglocke". Entsprechend wird aus refragari „sich widersetzen" über *revrer frz. rêver; das volle unbetonte -ê- ist die Folge des Umstandes, daß dem -e- ursprünglich ein Konsonant folgte ; afrz. desver ist nur Graphie für déver, -s ist Längezeichen wie in afrz. esguiser für aiguser, ebenso wird *derefragari „sich innerlich stark widersetzen" über dervrer zu desvrer bzw. derver; vgl. einstweilen Wb 3 368 unter endêver. Häufiger als die Fälle des vollständigen Konsonanten- bzw. Vokalschwundes ist der dissimilatorische Ersatz eines Dauerlautes durch einen im gleichen Resonanzraum der Mundhöhle artikulierten verwandten Konsonant. Ganz gewöhnlich ist der Übergang von r-r zu r-l und l-r ; s. Hofmann S. 178. R-r wird zu r-l. Frz. ensorceler für *ensorcerer, zu sorcier; écarteler zu quartier; décharnel er „abpfählen" aus *descharnerer zu charnier „Rebpfahl"; entsprechend encharneler „(denWeinstock) pfählen"; frz. sommelier „Beschließer", afrz. „Saumtierführer", zu sommier; frz. palefroi aus vlat. paraveredus; prunelaie „Pflaumenpflanzung" für *pruneraie, zu prunier. In allen diesen Fällen wird das zweite -r- dissimiliert, weil daraus entweder die Endimg der Wörter eine normale Form bekommt oder bei dem Übergang des ersten r zu l eine ungewöhnliche Konsonantenverbindung entstünde; lat. frigorosus zu frz. frileux. R-r wird zu l-r. Schon vlat. ist albore für arbore, s. ital. albero, prov. albre neben arbre, nprov. avhre, ALF 51 ; dazu anderseits acer arbore über acerabre frz. érable mit dem Wandel r-r- zu r-l ; Wb 2 386; fragrare zu frz. flairer; Houdrigny, K. Virton, Lux., 10. J h . Haudregingas, aus *Hardregingas zu dem PN Hardring, Fö. I., 755, zu hdt. Hertrinc. Eine Dissimilation von Hardregingas zu *Hardlegingas ist nicht möglich, da dl keine lebendige Konsonantenverbindung ist. Der Austausch der Konsonanten r und l setzt voraus, daß -l- am Zwischengaumen und r als Zäpfchen-r artikuliert wurden. Wo aber -r- als Zungenspitzenlaut artikuliert wird, liegt Wechsel mit -s- näher. R-r wird zu s-r. Das in Glossen überlieferte inferiore „Speisenauftrager" ist in der Lex Salica als infestorem überliefert. Entsprechend ist frk. brordôn, zu ahd.

ZUM THEMA

DISSIMILATION

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brort,,Spitze" zu brosdare dissimiliert worden, so afrz. brosder, frz. broder „sticken" Wb 2 156; afrz. ros „Schilfrohr", prov. raus „Rohr", dazu frz. roseau wird gewöhnlich aus gotisch raus erklärt ; rausum ist schon in den Reichenauer Glossen in der Kollektivform rosa bezeugt; bei der Bedeutung des Wortes ist schwer verständlich, wie ein gotisches, also in Südfrankreich romanisiertes Wort ohne Verkehrswert in den Norden gewandert wäre; vielleicht ist rausum aus fränkisch-lateinisch *raurum, zu ahd. rôr, dissimiliert. L-I wird zu 1-r. Dieser Konsonantenwechsel ist verständlich, wenn l präpalatal artikuliert wurde wie vlat. nachkonsonantisch und r als Zungenspitzen-r. Schon in der lateinischen Wortbildung ist der Wechsel vorbereitet, wenn das -aleSuffix durch -are ersetzt wird, wenn das Stammwort ein -l- enthält, s. casale, cortile aber villare, afrz. viler „Weiler"; lat. brachiale, nasale aber subtelare „soulier" ; singulare, frz. sanglier, filare „pilier", altare (frz. autel) ; ferner gallorom. porci bevrales „Milchferkel", aber im 9. Jh. leare „Ferkel" zu leha „Muttersau", frz. laie. L-I wird zu r-1. brocaille „kleine Pflastersteine", aus *blocaille, zu bloc „Block", „Klumpen"; braille „Spreu", afrz. braaille, zu blé; lat. lusciniola zu frz. rossignol. L-lwirdzu n-1. Lat. colucula > vlat. conucula, frz. quenouille; lat. lumbulus, frz. nomble ,,Lendenstück". N-n wird zu 1-n. So nur möglich, wenn l präpalatal artikuliert wird. Culêtre, ON aus Côte-d'Or, 1213 Culistre, aus *Kuninster, s. Chuninhusen, Fö. I, 378; Erquelinnes, Kreis Thuin, Hennegau, zu Erchanines in der Provinz Namur; Leulinghen, K . Marquise, PdC., 776 Loningaheimum ; ebenso calontère „Kanonenboot" neben canonnière; frz. orphelin aus orfenin; vgl. spanisch carmelina, daraus frz. carmeline, zu carmenar „Wolle krämpeln". N-n wird zu r-n, unter der Voraussetzung, daß -r- als Zungenspitzen-r artikuliert wurde. Dringhem. Kr. Boulogne, PdC., 1208 Deningehem, zu dem P N Dano, Fö. I., 401 ; Tringhem, ein Lehen im K. Houdain, PdC., 1407 Teninghem. Wie n-n zu r-n, so wird Rn-n zu rl-n.

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E R N S T GAMILLSCHEG

Borlon, K . Durbuy, Lux., wie rivus Bornon im Κ . Fosse, Namur; Warlinghem, Flurname im Κ. Arras, PdC, zum P N Warning; Barlinghem, 850 Berningahem, zum P N Berinus, Fö. I, 266, PdC. N'-n wird zu n'-l Zu frz. fignon „elegant", „herausgeputzt", dazu *fignonner; daraus wall. fignoler „den Eleganten spielen", lit. „verfeinern"; daneben *finonner, dissimiliert fionner wie fignoler; dazu fion in donner le coup de fion „den letzten Schliff geben". Eine besondere Art der Dissimilation, die weder mit der vokalischen noch mit der konsonantischen Dissimilation in direktem Zusammenhang steht, zeigt sich darin, daß, wenn zwei palatale Konsonanten verschiedener Art aufeinanderfolgen, einer der beiden palatalisierten Konsonanten die Palatalisierung aufgibt, 'entpalatalisiert' wird! 1 Die Wirkung dieses Prinzips wird in der französischen historischen Lautlehre allgemein anerkannt, um die Entwicklung etwa von cavea zu cage (über kjavja), von in Glossen bezeugtem cattia (über kjattja) zu casse zu erklären. Bei dieser Art der Dissimilation wird also nicht ein Konsonant durch einen verwandten Kons, ersetzt, sondern das gemeinsame Formans kommt nur einmal zur Anwendung. Wie in anderen Fällen der Dissimilation ist diese Entpalatalisierung nicht an eine bestimmte Lautfolge gebunden. Sie kann ebenso bei dem ersten der Palatalisierung ausgesetzten Konsonanten wie bei dem zweiten eintreten. So erklärt sich z.B. die Entwicklung von lat. coriacea, gesprochen korjakja, zu corada, daher ital. corazza, spanisch coraza, R E W , 2233, im Galloromanischen aus dem Italienischen entlehnt und an cuir angeschlossen cuirasse. Ebenso erklärt sich frz. charogne aus einer Grundform *caronia, dieses dissimiliert aus karjonja, zu lat. caries „Fäulnis". Diese Entpalatalisierungstendenz trägt vielleicht auch dazu bei, die viel diskutierte Entwicklung von -arius zu frz. -ier etwas zu klären. Zwei palatalisierte Konsonanten folgen theoretisch aufeinander, wenn dem -cmws-Suffix ein Wortstamm vorangeht, der mit einem palatalisierten Konsonanten endigt. Solche Fälle sind zwar nicht so zahlreich wie die Fälle, wo -arius an ein nichtpalatalisiertes Ende des Stammwortes antritt, aber sie fehlen keineswegs im Lateinischen. Vgl. tibiarius, gesprochen tivjarju, beneficiarios, gespr. benefikjarju; entsprechend dulciarius, 1

Dieses Prinzip ist in rumänischen Mundarten streng durchgeführt ; s. Mundart von Çerbânesti S. 91 „Folgen zwei palatalisierungsfähige Konsonanten aufeinander, dann wird einer entpalatalisiert"; dazu als Beispiel v'ede aus v'ed'e, videt, neben vez' aus v'ez' = vides.

ZUM THEMA

DISSIMILATION

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gladiarius, plagiariits, miliarius, laniarius usf., calcearium, cochlearium, palearium, coriariwn usf. I n solchen Ableitungen ist der palatalisierte Konsonant Teil des Stammwortes, bleibt als solcher unverändert; dagegen ist das Suffix ein reines Formelement, eine Endung, die ebenso geändert werden kann wie das erwähnte -ale in -are. I n allen diesen Fällen führt die Entpalatalisierung zu einer Endung -arus für -arius, und diese Endung wird noch dadurch unterstützt, daß der Nom. Plur. -arii zu -ari verschmilzt und die Entsprechung des entpalatalisierten Singulars -arus zu sein scheint. Dieses -arus, das in spätlateinischen Urkunden von Svennung vielfach nachgewiesen wurde, könnte sich im galloromanischen Vulgärlatein ebenso verallgemeinert haben wie später -ier, das auch für -er eintritt, -arus wird nordfrz. zu -er, bzw., wenn der erste palatalisierte Konsonant erhalten bleibt, zu -ier. Wenn karjonja zu karonja wird, dann liegt im Grunde genommen eine konsonantische Dissimilation gar nicht vor. Die Entpalatalisierung ist ein Vorgang, der außerhalb der Wirkung der echten Dissimilation bleibt. Echte Dissimilation aber ist es, wenn auf einen Kons, derselbe Konsonant, aber in der palatalisierten Variante folgt; so z.B. bei der Bezeichnung des afrz. Vogelnamens alérion (viersilbig, s. TL I, 296), wahrscheinlich des kleinen Adlers, wie nfrz. alérion als Ausdruck der Heraldik, -ilion ist Deminutivsuffix, *aler älter -adler, ist die afrz. Entsprechung von fränkisch adalâr „Adler". *Alerillon, gesprochen aleril'on wird zu alerion dissimiliert, von dem palatalen l- bleibt nur das palatale Formans erhalten, das mit dem i des ursprünglichen Suffixes -ilion verschmilzt. Nach dem gleichen Grundprinzip wird *verarius, d.i. auf Personen bezogenes verus „wahr" (wie primarius zu primus, lenarius zu lenis, altarius zu alt us) zu veraius, usf. *verarius bedeutet also „die Wahrheit liebend" u.ä., während verum ist, was als richtig, wahr erkannt wird; daher afrz. verai, frz. vrai, E W F S s.v. Oben wurde gezeigt, daß ursprüngliches l-l zu n-l dissimiliert werden kann. Nach dem gleichen Prinzip wird l'-I zu n'l in frz. chantignole „schmaler Ziegel" (für Röhren, Ofen) u.ä. aus chantillole, d.i. deminutive Abi. von mfrz. und heute in Berry lebendem chantille. Auch in solchen Fällen ist die Reihenfolge der palatalisierungsfähigen Kons, nichts Endgültiges. Der ganze Wortbau bestimmt, wo die Dissimilierung einsetzt. So erklärt sich auch frz. cligner „blinzeln" aus *cludiculare, d.i. deminutive Weiterbildung von *cludicare „(die Augen) schließen", so prov. clucar, bedeutet also „die Augen halb schließen". Die lautgesetzlich zu erwartende Form *cluillier, sprich klûljér, wird zu cluignier, cligner, wie chantillole zu chantignole.

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GAMILLSCHEG

Wirkliche konsonantische bzw. halbvokalische Dissimilation ist es endlich, wenn schon vlat. augustus zu agustus, augurium zu agurium wird; entsprechend quinqué zu hinque. Es ist der halbvokalische -w-Laut unter dem Einiluß des entsprechenden Volltonvokals verstummt, s. M. L. Einführung § 122. Der gleiche Vorgang, aber in viel späterer Zeit, spielt sich ab, wenn oi-oi zu o-oi wird, vgl. im ON Bois-de-Borsu, K. Huy, Prov. Lüttich, 1138 Bosoith, d.i. lat. büxetum „Buchsbaumpflanzung". I n mancher Beziehung erinnern die Vorgänge bei der Dissimilation im weitesten Sinne an die Erscheinungen, denen wir im Gebiet der Bedeutungslehre begegnen. Gewisse allgemeine Tendenzen können nicht geleugnet werden, zu einer Gesetzmäßigkeit wie in der historischen Lautlehre kommt es aber nirgends. Die Dissimilation ist kein Zwang, sondern nur Ausdruck einer Tendenz. Aus der Fülle der Erscheinungen lassen sich immer wieder nur Einzelfälle herauslösen. Die Tendenz zur Dissimilation ist an keine Zeit und keinen Ort gebunden. Sie kann immer wieder eintreten, ohne sich durchzusetzen. Ihr Ausgang ist ein Einzelfall, er k a n n sich durchsetzen, wenn kein innersprachlicher Grund dagegen spricht. Dann erst kann die neue Form zur Sprachgewohnheit werden, was ursprünglich ein anspruchsloser Versuch war.

Graeca Romanica EUGENIO COSERIU TÜBINGEN

rum. antärt Rum. antärt 'vorletztes Jahr, vor zwei Jahren' wird als < anno tertio erklärt, was freilich in materieller Hinsicht auch stimmt. Aber woher die Bedeutung ? I m Lateinischen war für 'vorletztes J a h r ' abhinc (ante) duos annos der übliche Ausdruck. Dagegen bedeutete anno tertio 'im dritten Jahr'. Man konnte zwar auch tertius annus est cum... oder tertius iam annus abest cum... sagen, in diesen Ausdrücken bezog sich annus aber jeweils auf das laufende J a h r : 'es ist zwei J a h r e her, d a ß . . . ' . Dagegen bedeutete im Griechischen τρίτον ετος, τρίτω ετει nicht nur 'im dritten Jahr', sondern auch 'in zwei Jahren', 'zwei Jahre später' (also 'im dritten Jahr' vorwärts gerechnet), 'zwei Jahre zuvor' (also 'im dritten J a h r ' rückwärts gerechnet: so z.B. Herod. 6.40) und 'vorletztes J a h r ' (s. dafür z.B. Suidas, Ausg. Bernhardy, Halle 1853, col. 1219: τρίτω και τεττάρτω ετει άντί τοϋ προ τριών και τεσσάρων ετών). Vgl. außerdem die Parallelausdrücke mit τρίτη (ήμερα) 'übermorgen' und 'vorgestern'; so Aristoph., Lys. 612: ες τρίτην ήμέραν ('übermorgen') und Xenoph., Cyrop., 6.3.11: εχ&ες και τρίτην ήμέραν ('vorgestern'). Es darf daher angenommen werden, daß dem Ausdruck anno tertio > rum. antärt ein griechisches Vorbild zugrunde liegt. Dasselbe dürfte natürlich auch für tertio anno > eng. terzan gelten. frz. en avoir assez, it. averne abbastanza Diese Ausdrücke im Sinne von 'es satt haben' (z.B. ne ho abbastanza 'dies ist mir schon lästig geworden', 'ich habe es satt') entsprechen genau griech. άδην εχειν τινός 'to have enough of a thing, to be weary of it' (LiddellScott, s.v. άδην). I m Lateinischen dagegen ist diese Bedeutung weder für mihi satis est noch für satis habeo belegt, die einfach 'es genügt mir' bedeuteten.

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rum. cuminte Das rumänische Adjektiv cuminte 'artig, brav, vernünftig' ist sicherlich eu 'mit' + minte 'Verstand, Vernunft'. Ist dies aber eine rumänische Bildung? Sandfeld, Linguistique balkanique, Paris 1930, S. 213, führt dafür neugriechische Parallelausdrücke mit μέ an: με γνώσι 'intelligent', με φρόνησιν 'raisonnable'. Es sei jedoch bemerkt, daß dies keine Adjektive sind und daß sie der Bedeutung von rum. cuminte nicht genau entsprechen, daß andere adjektivische Ausdrücke dieser Art (cu stare, cu chef, cu inimä) im Rumänischen keineswegs zu echten Adjektiven geworden sind und daß auch die übrigen von Sandfeld angeführten griechischen Parallelausdrücke keine eigentlichen Adjektive sind. Hingegen funktioniert rum. cuminte als vollwertiges Adjektiv (PI. cuminti). Man darf daher eher an das Vorbild von altgriech. εχεφρων 'brav, vernünftig' denken. Es ist bekannt, daß griech. εχων 'habend' ins Lateinische mit cum, ins Romanische mit den entsprechenden Präpositionen übersetzt wird. Dies dürfte wohl auch für εχε- als Bestandteil von Komposita angenommen werden. frz. demander, it. domandare, chiedere 'fragen' und 'verlangen' Das Französische und das Italienische gebrauchen bekanntlich ihr Verb für 'fragen' (demander, bzw. domandare, chiedere) auch für 'verlangen', zwei Begriffe, die in anderen romanischen Sprachen hingegen unterschieden werden (vgl. sp. preguntar-pedir, rum. a întreba-a cere). Auch das Latein hatte dafür getrennte Verben: interrogare bzw. petere, rogare. Die im Französischen und Italienischen festgestellte inhaltliche Entwicklung ist der von griech. ερωτάω völlig analog, das in der späteren Koine ebenfalls von 'fragen' auch zur Bedeutung 'verlangen' erweitert wurde. In der Bibelübersetzung und im Neuen Testament tritt bekanntlich ερωτάω recht oft für αί'τεω ein. So z.B. 1. Regn. 30,21; Ps. 121 (122),6 (êρωτήσατε όή τ à είς ε'ιρψην την 'Ιερουσαλήμ, in der Vulgata: Rogate quae ad pacem sunt Ierusalem)·, Luc. 7,3 (ερωτών, rogans), 7,36 (ήρώτα δε τις αυτόν των Φαρισαίων, rogabat autem ilium quidam de Pharisaeis ), 8,37 (καΐήρώτησεν αυτόν απαν το πλήθος, et rogaverunt ilium omnis muUitudo) ; Joh. 16,26 (ερωτήσω, rogabo). Die aus den Psalmen angeführte Stelle übersetzt Cipriano de Valera dem Sinn völlig angemessen ins Spanische mit: Pedid la paz de Jerusalem. directiare Dem im Vulgärlateinischen von directus entwickelten Verb directiare 'richten, aufrichten' und seiner Familie (*addirectiare, *indirectiare) liegen

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höchstwahrscheinlich griechische Vorbilder zugrunde. I m Altgriechischen gab es nämlich eine ganze Reihe von Verbalentwicklungen von όρϋός, u n d zwar neben dem üblichsten όρΰόω 'set straight, set upright, make straight' noch όρϋιάζω 'set upright', ενορϋιάζω 'raise up', έπορϋιάζω 'richten, wenden' (vgl. adresser), άνορϋόω 'set straight again, set right, correct' (vgl. raddrizzare), ανορΰιάζω 'prick up'. Die verschiedenen romanischen Verben der Familie directiare entsprechen sowohl im Hinblick auf ihre materielle Bildung als auch, was ihren Inhalt betrifft, den angeführten griechischen Verben. Dies sogar in gewissen fixierten Ausdrücken; vgl. z.B. άνορΰιάζω (επορ&ιάζω) τα ωτα, frz. dresser l'oreille, it. drizzare le orecchie. I m Lateinischen ist allerdings arrigere aures seit Plautus belegt: die neueren Formen haben also das ältere Verb auch in Redensarten ersetzt. rum. a se duce S. Puçcariu, Etudes de linguistique roumaine, Klausenburg - Bukarest 1937, S. 394, meint, daß rum. a se duce 'gehen, sich begeben' (eigentlich aber Reflexiv von a duce 'tragen') ursprünglich ein „terme plaisant" gewesen sei. Von welchem Ursprung ist aber hier die Rede? P u j c a r i u behandelt nämlich dieses Verb im Zusammenhang mit anderen rumänischen Bedeutungsneuerungen u n d bemerkt ausdrücklich, daß a se duce im Rumänischen das ältere Verb i < ire ersetzt hat. Der semantische Wechsel ist jedoch sicherlich nicht erst auf rumänischem Boden erfolgt, da lat. se ducere mit der Bedeutung 'ire, abire' reichlich belegt ist. Es erscheint bei Plautus (ad regem recta me ducam; me deorsum duco de arbore; duc te ab aedibus), bei Terenz (se duxit foras) und in den Briefen Ciceros (duxit se a Gadibus). Bei Plautus u n d Terenz erscheinen auch verschiedene Komposita von ducere mit derselben Bedeutung; so: se educere, se abducere, se subducere, se subterducere. Vgl. Rönsch, Semasiologische Beiträge zum lateinischen Wörterbuch, I I I . Heft, Leipzig 1889, S. 32. Rönsch verweist übrigens ausdrücklich auf den entsprechenden rumänischen Gebrauch: „So heißt es im Wallachischen me duc a case [d.h. ma duc acasa\ = me duco ad casam (i.e. domum eo)"; vgl. auch Densusianu, Histoire de la langue roumaine, I, Paris 1901, SS. 181-182, wo die Erhaltung dieser Konstruktion im Rumänischen ebenfalls vermerkt wird. I m klassischen Latein ist bekanntlich dieser Gebrauch von se ducere nicht üblich: er wird wahrscheinlich als zu volkstümlich vermieden. Dagegen k o m m t er in der Itala wieder recht oft vor: et duxerunt se unusquisque in domum suam; duc te in domum tuam; duc te et promovere; cum se duxerit; post pusillum se ducit; ut se

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ducerent; et me duxi; ego duco me ad vestiarium (vgl. Rönsch, Itala und Vulgata2, S. 361; Sem. Beitr., 1. cit.). Diese Verwendung von se ducere ist der von griechisch φέρομαι und πορεύομαι völlig analog: φέρομαι bedeutet bekanntlich auch 'gehen' (so z.B. Soph., Oed. Tyr. 1309: ποΐ γάς φέρομαι τλάμων;) und πορεύω 'führen, tragen', 'ducere' ('make to go, carry, convey') bedeutet im Passiv nicht nur 'to be driven (carried)', sondern auch einfach und sogar am häufigsten 'go, walk, march'. Wenn hier jedoch griechisches Vorbild vorliegt, so schon für das vorklassische volkstümliche Latein. In der Itala erscheint nämlich se ducere als normale lateinische Entsprechung nicht nur für πορεύομαι, sondern auch für βαδίζω, απειμι (βάδιζε, duc te; τον άπιέναι, ut se ducerent; άπήλϋον, et me duxi; άπήλ&ον, et duxerunt se). So auch in Glossen und in den Coll. vet. graecolat., wo duc te griechisch νπαγε entspricht. Vgl. Rönsch, Beiträge, 1. cit. I n der Vulgata dagegen wird se ducere durch andere Verben ersetzt, allerdings oft durch Komposita von ducere (so : duc te - vade, se duxerit - se eduxerit, se ducit - reducit se, ut se ducerent - se educerent, duxerunt se - reversi sunt; vgl. Thes. Ling. Lat. s.v.), was wieder ein Anzeichen dafür sein dürfte, daß se ducere allein als volkstümlich, vielleicht sogar als vulgär empfunden wurde. Übrigens ist se ducere zwar nur im Rumänischen das übliche Verb für 'irgendwohin gehen, sich begeben', die Erscheinung als solche ist jedoch nicht auf das Rumänische beschränkt. Vgl. frz. se porter (und volkstümlich s'amener), it. portarsi (Gallizismus?), port, levar-se 'partir, meter-se a caminho'. Schließlich ist die Annahme des Scherzhaften und Ironischen zur Erklärung der Bedeutungsentwicklung von se ducere gar nicht notwendig. Es ist völlig normal, daß ein Verb des Führens bzw. Tragens in der reflexiven Form intransitiv wird; vgl. frz. approcher - s'approcher, éloigner s'éloigner; it. avvicinare - avvicinarsi, allontanare — allontanarsi, recare — recarsi; sp. acercar - acercarse, alejar - alejarse, trasladar — trasladarse usw. I n rum. a se cara 'fortgehen' wird das Scherzhafte nicht durch das Reflexivum gegeben, sondern durch die lexikalische Bedeutung des Verbs a cara : 'fortfahren' (transit.), 'mit einem Wagen fortbringen'. fabulari 'sprechen' I n den etymologischen Wörterbüchern der romanischen Sprachen wird das Griechische im Zusammenhang mit der Bedeutungsentwicklung von fabulari zu 'sprechen, reden', also zur Bedeutung von loqui (wie sp. hablar, port, jalar) nicht erwähnt. Diese Bedeutungsentwicklung ist zwar schon

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lateinisch, im Lateinischen ist sie aber wahrscheinlich einem griechischen Vorbild gefolgt. J . Wackernagel, „Lateinisch-Griechisches",/.F 31 (1912 und 1913), S. 262, hat nämlich gezeigt, daß der Übergang von fabulari zur Bedeutung von loqui dem von griech. λαλεΐν parallel ist, das in der Koine zur Bedeutung 'sprechen' (also zur Bedeutung von λέγω) kommt, wogegen es im Attischen 'schwätzen, sich unterhalten' (Liddell-Scott: 'talk, chat, prattle') bedeutete. rum. a lucra Wie bekannt bedeutet rum. a lucra nicht 'gewinnen' wie lat. lucrari, sondern 'arbeiten'. Sandfeld, Linguistique balkanique, SS. 42-43, führt hierzu als Parallelentwicklung, wenn auch in umgekehrter Richtung, die von griech. κάματος an, das zuerst 'Arbeit' und später auch 'Gewinn' bedeutet; er nimmt also an, das rumänische Verb sei in seinem Bedeutungswandel dem Substantiv lucru ('Gewinn' -> 'Arbeit') gefolgt. Das Griechische konnte aber auch ein verbales und zugleich besseres Vorbild liefern: griech. πονέω bedeutete sowohl 'arbeiten' als auch 'durch seine Arbeit gewinnen, erwerben'. Übrigens findet man auch für κάμνω die Bedeutung 'durch seine Arbeit gewinnen'. Auch im Falle des Rumänischen dürfte die Bedeutungsentwicklung bei dem Verb angefangen haben; vgl. die erst mittellateinisch belegte Bedeutung 'arare' von lucrari (Du Cange; auch lucrabiles terrae, 'arabiles terrae'). mangiar vivo Verschiedene romanische Sprachen kennen die Wendung (wörtlich) 'jemanden lebendig fressen' als Ausdruck einer drohenden oder aggressiven Haltung (etwa wie deutsch bei lebendigem, Leibe verschlingen). So it. mangiare (oder mangiarsi) vivo qualcuno (z.B. sembrava che lo volesse mangiare vivo) ; sp. comer vivo, das ,,el gran enojo que se tiene contra alguno o el deseo de la venganza" ausdrückt; rum. a minea pe cineva de viu 'jemanden vernichten'. Diese Ausdrücke entsprechen ganz genau dem griech. ώμόν καταφαγεΐν τίνα, ώμου εσ&ίειν τινός, wörtlich 'jemanden roh fressen'. S. z.B. Xenoph., Anab. 4,8,14, und Hist. Graec. 3,3,6. Vgl. ferner Horn., II. 4,35: ώμόν βεβοώϋοις Ποίαμον Πριάμοιό τε παϊδας, „crudum voraveris Priamum Priamique filios". Die rumänische Übersetzung von Murnu hat für letzteres sä-l înfulici pe Priam de viu (a înfulica, 'verschlingen, fressen').

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Eugenio Cosebiu più di tutto

Ital. più di tutto, 'in erster Linie, vor allem' entspricht wörtlich griech. παντός μάλλον 'more t h a n anything, above all'. Auch andere romanische Verwendungen von totus scheinen griechische Vorbilder gehabt zu haben. Vgl. z.B. rum. tot im Sinne von numai, 'lauter' (tot oaspeti rari, 'lauter angesehene Gäste') mit griech. πάς 'consisting of, composed wholly of, nothing but, only'. Ferner: παν ποιεΐν - fare di tutto; ες το πάν - in tutto ('insgesamt'); περί παντός - soprattutto, surtout, sobre todo; προ παντός - anzitutto (prima di tutto), ante todo. it. porca l'oca, porco cane E s ist bekannt, daß die nomina sacra in den Flüchen oft vermieden u n d durch materiell ähnliche, eventuell gerade zu diesem Zweck gebildete Wörter ersetzt werden (vgl. z.B. it. Cribbio für Cristo, frz. parbleu f ü r par Dieu usw.). I m Italienischen erscheinen jedoch in zwei recht üblichen Fluchformeln (porca l'oca, porco cane) die Wörter oca 'Gans' und cane ' H u n d ' , die keine materielle Ähnlichkeit zu irgendwelchen nomina sacra haben. Es gilt, dies mit einer griechischen Tradition zu vergleichen, die uns im Lexikon von Suidas bewahrt ist, nämlich daß nicht bei Göttern a m e n geschworen werden sollte, sondern bei Tiernamen, z.B. bei der Gans, beim Hund, beim Hammel: ' Ραδαμάνϋνς δε πρώτος ουκ εϊα όρκους ποιεΐσϋ·αι κατά ΰεων, αλλ' ομνύναι χήνα και κννα καΐ κριόν και τα δμοια (Ausg. Bernhardy, col. 499; vgl. außerdem cols. 585-6 und 1630). Ferner: Cratinus, 231 (οίς ην μέγιστος δρκος απαντι λόγω κνων, επειτα χην • ϋ·εους δ'εσίγων) u n d das gut bekannte sokratische νή (oder μα) τον κννα, 'beim H u n d ' (dem Sokrates wird übrigens auch die Verwendung der Formel νή [μά] τον χήνα zugeschrieben). Man wird n u n bemerken, daß zwischen χήν u n d Ζην, χήνα (κννα) und Ζήνα gerade jener lautliche Anklang besteht, der bei it. oca, cane vermißt wird. Daß ferner Eidesformeln und Flüche in engem Zusammenhang stehen, ist allgemein bekannt (vgl. engl, to swear, frz. jurer, 'schwören' und 'fluchen'). sp. prender, rum. a aprinde, 'anzünden' Das spanische Verb prender bedeutet bekanntlich nicht nur 'fangen, anfassen, ergreifen' sondern auch 'anzünden, anmachen' (z.B. prender el fuego, prender la luz), letzteres allerdings neben dem literarischen encender. I m älteren lit. Spanisch erscheint dieses Verb intransitiv gebraucht mit fuego als Subjekt (el fuego prende), im neueren Spanisch wird es auch mit

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fuego sowohl intransitiv als auch transitiv (prender fuego) konstruiert. Im Amerikanisch-Spanisch wird dann dasselbe Verb fast allgemein anstatt encender verwendet, was auf einen südspanischen Gebrauch zurückgeht. Rum. a aprinde < apprehendere bedeutet ausschließlich 'anzünden, anmachen'. Vgl. außerdem nordit. aprender (REW, s.v. apprehendere) und für das ältere Südspanisch aprender 'encender' und aprenderse 'encenderse'. Diese Bedeutung scheint im Lateinischen weder für prehendere noch für capere eindeutig belegt zu sein (das z.T. ähnliche ignem capere bedeutet eigentlich etwas anderes). Dagegen entspricht sie genau den altgriech. απτω, άπτομαι 'berühren, anfassen, ergreifen', die sowohl mit πυρ als auch absolut gleichfalls 'anzünden' bzw. 'sich anzünden' bedeuteten und mit dieser Bedeutung seit Homer belegt sind. sp. querer 'wollen' und 'gern haben' J.Corominas, DCELC, s.v., meint, daß man für die Bedeutung 'gern haben, lieben' von sp. querer wohl von querer bien ausgehen müßte („parece ser forma abreviada de querer bien"). Dafür würde an erster Stelle das Portugiesische sprechen, wo dieses Verb vor allem als „recíproco" oder als Intransitivum gebraucht wird. Corominas weiß natürlich, daß velie in süditalienischen Mundarten in ähnlicher Weise verwendet wird und daß Rohlfs, Griechisches Sprachgut in Süditalien, München 1947, S. 39, dafür Einfluß des analogen neugriechischen Gebrauchs annimmt (Μλω το κορίτσι 'ich habe das Mädchen gern'). Da aber ein ähnlicher Gebrauch auch in der Val Gardena erscheint (s'ulai 'verliebt sein'), möchte er für Süditalien eher an eine Lehnübersetzung aus dem Spanischen denken und entscheidet sich schließlich für einen polygenetischen Parallelismus. Nun kann allerdings das Neugriechische als solches für die iberoromanischen und alpenromanischen Fakten nicht verantwortlich gemacht werden. Unserer Meinung nach muß man jedoch in einem solchen Fall - also im Falle eines Parallelismus mit dem Neugriechischen, der über das Süditalienische und das Balkanromanische hinausgeht — prinzipiell an einen älteren Zusammenhang denken und nach einer Grundlage im Altgriechischen suchen. Tatsächlich wurde auch schon altgr. (ε)ϋ·έλειν im Sinne von 'gern haben' gebraucht, und als Lehnübersetzung erscheint velie aliquem 'gern haben' schon im altchristlichen Latein. So z.B. Ps. 17 (18),20: Sri ήϋέλησέν με, quoniam voluit me; Ps. 21 (22),9: δτι ΰέλει αυτόν, quoniam vult eum; Matth. 27,43: ε'ι ίίέλει αυτόν, si vult eum; s. darüber Rönsch, Beiträge III, S. 86, und A.Debrunner, „Griechische Bedeutungslehnwörter im Latein", Festschrift für Friedrich Carl Andreas, Leipzig 1916, 19-20. Cipriano de

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Valera übersetzt die angegebenen Stellen mit 'porque se agradó de mí bzw. mit puesto que en él se complacía und im letzten Fall einfach mit si le quiere. Der romanische und neugriechische Gebrauch kann von diesem altgriechischen und christlich-lateinischen Gebrauch nicht getrennt werden. Übrigens ist der spanische Gebrauch seit den ältesten Texten transitiv, genauso wie der altgriechische und der lateinische. I m klassischen und im vorklassischen Latein erscheint zwar manchmal vólo in Zusammenhängen, in denen man beim Übersetzen auch 'lieben, gern haben' setzen könnte, jedoch ist diese Bedeutung nie völlig eindeutig: überall können auch einfach 'wollen, wünschen' angenommen werden. sp. rayo, port, raio, 'Strahl' und 'Blitz' (frz. foudre) Corominas, DCELC, s.v., betrachtet die Bedeutungserweiterung von sp. rayo 'Strahl', das auch 'Blitz' bedeutet, als eine interne, leicht zu erklärende semantische Neuerung des Iberoromanischen, und zwar auf Grund eines Vergleichs zwischen dem Blitz und einem Lichtstrahl. Das ist wohl möglich. Aber liegt dieser Vergleich dem naiven Sprachbewußtsein wirklich so nahe? Es geht nämlich hier nicht um die Bedeutung 'éclair', sondern um die Bedeutung 'foudre'. In anderen Sprachen, z.B. im Deutschen, wo der Unterschied zwischen 'éclair' und 'foudre' nicht gemacht wird, könnte eine solche Bedeutungserweiterung als selbstverständlich erscheinen (vgl. Strahl und Blitzstrahl)', weit weniger dagegen in einer romanischen Sprache, die wie die übrigen Schwestersprachen diese Bedeutungen streng unterscheidet (relámpago - rayo). Man dürfte eher Vorbild des Griechischen annehmen, da griech. άκτίς gerade auch für 'Blitzschlag' stehen konnte. Es stimmt zwar, daß auch im Lateinischen etwas in gewissem Maße Vergleichbares erscheint ; so an der von Corominas aus Vergil angeführten Stelle (Aen. 8, 429). An dieser Stelle bedeutet jedoch radii eindeutig 'Strahlen', wenn auch in einem Zusammenhang, in dem vom Blitz die Rede ist (in den Übersetzungen erscheint daher sinngemäß Strahlen, rayons, rays). Dagegen sind die griechischen Beispiele viel eindeutiger und zugleich auch älter. So z.B. Soph., Tr. 1086: ώ Διός άκτίς, ηαΐσον, wo es klar ist, daß vom Blitz, der schlägt (gr. κεραυνός) die Rede ist, also von 'foudre', 'rayo', 'fulmine', nicht von 'éclair', 'relámpago', 'lampo' (gr. άστραπή). Die literarischen lateinischen Beispiele könnten daher auch schon griechischen Vorbildern folgen. Derselbe Zusammenhang mit dem Griechischen dürfte vielleicht auch für vegliot. ruaz, das allerdings 'éclair' bedeutet, und für sard, rayu 'foudre' angenommen werden, wenn für letzteres nicht eher spanisches Vorbild in Frage kommt.

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'sich erholen, sich z u s a m m e n n e h m e n '

I t . riprendere (intrans.), riprendersi, 'sich erholen' („ripigliar vigore, r a v vivarsi, riacquistare le forze o il vigore, rinvigorire"), frz. se reprendre, it. riprendersi, 'sich z u s a m m e n n e h m e n , wieder zu sich k o m m e n ' entsprechen zwar l a t . se recipere, d a s m i t ähnlicher B e d e u t u n g bei Varrò u n d Cicero belegt ist. Diesem d ü r f t e a b e r ein griechisches Vorbild z u g r u n d e liegen, d a gr. άναλαμβάνειν εαυτόν üblicherweise gerade 'recover oneself, regain s t r e n g t h ' b e d e u t e t e . sentire ' h ö r e n ' D a s Verb sentire h a t i m Italienischen, Spanischen u n d K a t a l a n i s c h e n n e b e n der B e d e u t u n g 'fühlen, w a h r n e h m e n ' a u c h die B e d e u t u n g ' h ö r e n ' . I m Italienischen ist es sogar das übliche umgangssprachliche Verb f ü r ' h ö r e n ' (neben d e m literarischen udire), eine B e d e u t u n g , m i t der es schon bei D a n t e belegt ist. So auch, u n d in n o c h h ö h e r e m Maße, i m K a t a l a n i schen u n d in g r o ß e n Teilen Spanisch-Amerikas (z.B. in Argentinien u n d U r u g u a y ) , wo f ü r ' h ö r e n ' f a s t ausschließlich sentir v e r w e n d e t wird. I n Spanien wird dasselbe Verb in der familiären Sprache als S y n o n y m v o n oir g e b r a u c h t . Vgl. O . J . T u u l i o , Miscél-lània Fabra, B u e n o s Aires 1943, SS. 283-285, u n d Corominas, DCELG, s . v . sentir. Corominas gibt keine ausdrückliche E r k l ä r u n g f ü r diese Bedeutungserweiterung, aber er n i m m t offensichtlich i n n e r e semantische E n t w i c k l u n g a n . A u c h bei B a t t i s t i Alessio ist keine E r k l ä r u n g d a f ü r zu finden. M a n darf d a r a n erinnern, d a ß dies f ü r griech. αισθάνομαι das Übliche w a r , d a dieses Verb a n erster Stelle zwar 'fühlen, w a h r n e h m e n ' bedeutete, s e k u n d ä r a b e r a u c h f ü r 'hören' g e b r a u c h t w u r d e , wogegen ακούω die B e d e u t i m g 'hören, zuhören, lauschen' h a t t e (vgl. e t w a die Opposition sentir - escuchar). spatula

'Schulterblatt'

E s b e s t e h t kein Zweifel d a r ü b e r , d a ß épaule, spalla, espalda usw. v o n l a t . spatula, D i m . v o n spatha < griech. σπά&η k o m m e n . D i e v o n M . L e u m a n n v e r t r e t e n e These (spatula < * spaila < * spacla < scapula ) h a t Corominas, DCELC, s . v . espalda, m i t g u t e n G r ü n d e n zurückgewiesen. E s darf aber noch b e m e r k t werden, d a ß a u c h schon griech. σπά&η 'Schwert, Klinge, Schaufel' einen K n o c h e n oder verschiedene K n o c h e n bezeichnete, vielleicht sogar d a s S c h u l t e r b l a t t . Ältere Ü b e r s e t z u n g e n g e b e n n ä m l i c h f ü r Hippocr., Gland. 14, die B e d e u t u n g ' S c h u l t e r b l a t t ' , frz. ' o m o p l a t e ' a n (so

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noch das griech.-frz. Wörterbuch von A.Bailly, wogegen es f ü r Rufas, De ossibus, 25, „large côte" verzeichnet). Die neueren Übersetzungen zögern, sich hierbei f ü r einen bestimmten Knochen zu entscheiden. So übersetzt E . L i t t r é , Œuvres complètes d'Hippocrate, B a n d 8, Paris 1853, S. 571, την σπάϋην mit la côte. Bei Liddell-Scott erscheint broad ribs für andere Texte u n d für Hippokrates dieselbe Bedeutung jedoch mit einem vorsichtigen „so wahrscheinlich" versehen. Der Zusammenhang, in dem σπά&η bei Hippokrates erscheint (Ισχία και ψ ποιέγ] φόίσιν, και μαθαίνεται ο άνθρωπος δδε καΐ ώδε, και ζώειν ουκ ε&έλει · ταχύ γαρ πονέει την σπά&ην, και άμα τώ πόδε, και μηρώ παρέπονται) ist wirklich gar nicht leicht zu deuten: σπάϋη könnte wohl in diesem Zusammenhang die „ R i p p e n " bedeuten, aber vielleicht auch einfach „ R ü c k e n " (vgl. rum. spate ' R ü k ken', direkt < spatha). Wie dem auch sei, der Weg von 'Rippen', 'Rücken' zu den verschiedenen romanischen Bedeutungen ist nicht weit, da diese eben zwischen 'Schulter', 'Schulterblatt' und 'Rücken' schwanken. So: sp. espalda 'Rücken', it. spalla 'Schulter' u n d spalle 'Schultern' u n d 'Rücken' (z.B. alle spalle, voltar le spalle usw.), kat. espatlla, port. espádua 'Schulterblatt'; vgl. auch alb. shpatull 'Schulter' und shpatulU 'Schulter, Schulterblatt'. M.Leumann, Vox Rom. 2, 1937, S. 471, hält einen Bedeutungswandel von 'Schwertlein' über 'Rührlöffel, R ü h r s t a b ' zu 'Schulterblatt', 'Schulter', den er wahrscheinlich auf Grund von MeyerLübke, REW, annimmt, für merkwürdig (so wieder Lingua Posn. 8, 1960, S. 4). Aber der Bedeutungswandel braucht gar nicht über 'Rührlöffel' oder ' R ü h r s t a b ' erfolgt zu sein. Die schon bei Apicius belegte Bedeutung 'Schulterblatt' (spatula porcina) könnte ebensogut direkt auf einen griechischen Gebrauch zurückgehen. temporizare 'zaudern' Frz. temporiser, it. temporeggiare sind zwar Buchwörter, die dem mittellateinischen temporizare, mit der Bedeutung 'die Zeit verbringen' belegt, entsprechen. Aber woher die Bedeutung 'zaudern' ? Diese entspricht genau der von griech. χρονίζειν, das sowohl 'Zeit verbringen' als auch 'zaudern' bedeutete. Man darf daher auch f ü r mittellat. temporizare, das offensichtlich eine Lehnübersetzung ist, die zusätzliche Bedeutung 'zaudern' annehmen. rum. a tine R u m . a tine < tenere h a t eine Reihe von Verwendungen, die eher mit dem Griechischen als mit dem Lateinischen übereinstimmen. So a-si fine gura

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'den Mund halten' (d.h. 'nicht reden' oder 'aufhören zu reden'); vgl. Χσχε στόμα, Eur., Here. Fur. 1244; Χσχε δακών στόμα σόν, Soph., Tr. 976. Weiter kann dasselbe Verb im Refiexivum 'standhalten, durchhalten' bedeuten, z.B. tineti-vä bäieti! ('Standhalten Jungs! Nicht zurückweichen!'); vgl. ϊσχεσϋ·' Άγρεϊοι, μη φεύγετε, Od. 24,54. Schließlich bedeutet es in der Wendung a o tine pe X 'mit X verheiratet sein' (von einem Mann gesagt), ' X als Ehefrau haben', ganz genau wie griech. lay ω das u.a. 'to have a wife' bedeutete. I m Lateinischen findet man nur der ersten Bedeutimg Ähnliches: risum, lacrimas tenere, sogar linguam tenere, jedoch nicht os tenere. Se tenere 'standhalten' und tenere 'als Ehefrau haben' sind im Lateinischen meines Wissens nicht belegt.

umbram suam timere Die romanischen Sprachen kennen unter verschiedenen Formen die Wendung (wörtlich) „seinen eigenen Schatten fürchten" im Sinne von 'sehr furchtsam sein, sehr leicht erschrecken'. So frz. avoir peur de son ombre, „s'effrayer très facilement"; it. aver paura (esser pauroso) della sua propria ombra; span, tenerle miedo a la propia sombra, tener miedo hasta de su [propia] sombra; port, ter medo da 'pròpria sombra, 'assustar-se por qualquer coisa' ; rum. a se teme (α-i fi frica) si de umbra lui (bzw. ei). Der Ausdruck erscheint vereinzelt schon im Lateinischen unter der Form umbras timere (Cie.) oder auch umbram suam timere bzw. metuere (Q. Cie.). Das Vorbild dafür war höchstwahrscheinlich griechisch, da diese Wendung im Altgriechischen geläufig war. Sie erscheint z.B. bei Plato, Phaed. 101 c-d, mit dem typischen das Sprichwörtliche kennzeichnenden το λεγόμενον: δεδιώς αν, το λεγόμενον, την σαντον σκιάν, (wörtlich) „fürchtend, wie man sagt, deinen eigenen Schatten".

rum. uscat 'Festland' Rum. uscat 'trocken' bedeutet als Substantiv 'Festland, Land' in Opposition zu 'Meer, Wasser' ('terre ferme'). A.Graur, BL 6, 1938, S. 172, vergleicht dies mit slav. suSa, einem vom Adjektiv suxu abgeleiteten Substantiv, und bemerkt, daß das Vorbild hierfür wahrscheinlich griech. ξηρά vielleicht sogar lat. arida war. Im Griechischen aber hat diese Bedeutimg nicht nur η ξηρά (sc. γη), sondern auch το ξηρόν, das neben το ξερόν (dieses wahrscheinlich mit σχερός zusammenhängend) ebenfalls 'terra

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EUGENIO

COSERIU

firma' bedeutete. Dazu muß man noch χέρσος erwähnen, das bei Homer ausschließlich 'Festland, Ufer' bedeutet und später auch als Adjektiv mit der Bedeutimg 'trocken' erscheint. Somit ist es nicht nötig, für das Rumänische das Slavische mit heranzuziehen. Im Rumänischen ist nämlich uscat nicht ein von 'trocken' abgeleitetes Substantiv, sondern das substantivierte Adjektiv selbst. Auch ist hier keine Ellipse - etwa (pamint) uscat - anzunehmen, da uscat sowohl als Bildung als auch dem Inhalt nach, als substantiviertes Adjektiv („das Trockene"), der griech. Form το ξηρόν genau entspricht. Auch das Latein hatte übrigens dafür das substantivierte Adjektiv aridum; vgl. ex arido tela conicere, naves in aridum subducere (Caes.). Außerdem erscheinen mit derselben Bedeutung siccum bei Livius und sicca (Neutr. PI.) bei Quintilian. Wenn hier also ein griechisches Vorbild überhaupt anzunehmen ist, so muß dieses viel eher το ξηρόν als ξηρά gewesen sein. Arida, sicca (Fem.) mit dieser Bedeutung sind spätere Formen, die dem christlichen Latein angehören (vgl. Rönsch, Itala und Vulgata2, S. 100). Es sei außerdem bemerkt, daß 'trocken' als substantiviertes Adjektiv auch in anderen romanischen Sprachen, zumindest in fixierten Redewendungen mit derselben Bedeutung erscheint. So: it. a (in) secco (tirar la nave in secco, „tirar la nave sulla riva, fuori dell'acqua"); sp. en seco ,,fuera del agua o de un lugar húmedo"; vgl. griech. νανς επί τον ξηροΰ ποιεΐν, νανς ες το ξηρόν εξωϋ·ειν, und lat. naves in aridum subducere. ventus 'Richtung, Himmelsrichtung' Die romanischen Sprachen kennen mehr oder weniger fixierte Ausdrücke, in denen das Wort für „Wind" 'Richtung, Himmelsrichtung' bedeutet. I n solchen Ausdrücken erscheint das Wort für „Wind" durch „all, alle" oder, was noch klarer die Bedeutimg 'Himmelsrichtung' unterstreicht, durch „vier" bestimmt. So z.B. it. (spargere una notizia) ai quattro venti; sp. a los cuatro vientos; frz. (semer) à tout vent; rum. (in, la, din, de la) cele patru vinturi. Dies entspricht genau dem altgriechischen Gebrauch: πάσιν άνέμοις „zu allen Winden", d.h. 'in allen Richtungen'; εκ των τεσσάρων ανέμων τον ουρανού 'aus den vier Himmelsrichtungen' (so in LXX, Za. 2,6; in der spanischen Übersetzung von Cipriano de Valera: por los cuatro vientos; in der ital. Übersetzung von Diodati: per li quattro venti) ; εκ των τεσσάρων άνεμων (Matth. 24,31; Cipriano de Valera: de los cuatro vientos; Diodati: da' quattro venti). Im Lateinischen erscheint quattuor venti mit dieser Bedeutung erst in den christlichen Übersetzungen aus dem Griechischen.

G R A E C A ROMANICA

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(mi) vien da ridere It. mi vien da + ridere, piangere (und einigen anderen Verben) bedeutet 'mi viene l'impulso di', etwa wie im volkstümlichen dt. mir kommt das Lachen für 'ich muß lachen, ich kann das Lachen kaum zurückhalten'. Den gleichen Gebrauch von „kommen" findet man im Rumänischen: imi vine sä rid (sä pling). Beides entspricht dem altgriechischen Gebrauch von επειμι + Inf., z.B. επψ.ι μοι γελάν, 'mi veniva da ridere'.

Zur Stellung des Adverbs in der französischen Sprache HARALD WEINBICH KÖLN

Diese Untersuchung knüpft an einen Aufsatz an, den ich unter dem Titel La place de l'adjectif en français in der Zeitschrift Vox Romanica 25 (1966) 81-89 veröffentlicht habe. Es ist daher unerläßlich, das dort behandelte Problem und den von mir vorgeschlagenen Lösungsversuch hier in knappen Worten zu skizzieren: Das Adjektiv steht in der französischen Sprache bald vor, bald nach dem Substantiv. Es war nun zu Tintersuchen, welche anderen Moneme der französischen Sprache vor, bzw. nach dem Substantiv stehen. Dabei zeigte sich, daß in der französischen Sprache für die meisten Moneme strenge Stellungsgesetze gelten. Sie stehen entweder ausschließlich vor oder ausschließlich nach dem Substantiv. Die ausschließlich vor dem Substantiv stehenden Moneme erwiesen sich bei näherer Betrachtung als überraschend verwandt. Es handelt sich ausnahmslos um Morpheme. Die ausschließlich nach dem Substantiv stehenden Moneme der französischen Sprache sind hingegen entweder Lexeme oder lexemhaltige Monemgruppen. Vor diesem Hintergrund war auch die variable Stellving des Adjektivs zu interpretieren. Das Adjektiv hat Morphemrang, wenn es vor dem Substantiv steht, und Lexemrang, wenn es nach dem Substantiv steht. Nun blieb nur noch, in einer zugleich semantischen und syntaktischen Untersuchung zu zeigen, nach welchen Merkmalen sich Morpheme und Lexeme grundsätzlich unterscheiden. Diese Merkmale mußten dann auch („positione" ) beim Adjektiv nachweisbar sein, je nach dem Platz, den es im Text im Verhältnis zum Substantiv einnimmt. I.

Es liegt nahe, mit gleicher Methode und gleicher Zielsetzung nun die Stellung des Adverbs in der französischen Sprache zu untersuchen. Dabei treten von Anfang an einige Schwierigkeiten auf, die das Problem der Adjektivstellung nicht an sich hatte. Die Wortart Adverb ist nicht an-

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HARALD

WEINBICH

nähernd so eindeutig und so überzeugend definiert wie die Wortart Adjektiv. Grevisse, um nur eine Grammatik herauszugreifen, unterscheidet sieben Adverbklassen. Es sind die Adverbien der Art und Weise, der Quantität oder Intensität, der Zeit, des Ortes, der Bejahung, der Verneinung, des Zweifels. Grevisse läßt aber zu, die drei letztgenannten Klassen zu einer einzigen Adverbklasse zusammenzufassen, und zwar als Adverbien der Meinung. Er räumt weiterhin ein, daß zwischen diesen Klassen keine scharfen Grenzen verlaufen 1 . Ähnliche Kategorien findet man auch in den anderen Grammatiken. Ich erspare mir, näher darauf einzugehen. Denn das Auge des Strukturalisten ruht nicht mit Wohlgefallen auf einer Klassenbildung dieser Art. Einmal mehr wird hier als Syntax angeboten, was bestenfalls Semantik ist. Für die Zwecke dieser Untersuchung kann ich jedoch auf eine grundsätzliche Kritik des Adverbbegriffes in der Grammatik verzichten. Mindestens drei Korrekturen sind jedoch von Anfang an notwendig, wenn die Struktur nicht völlig verfehlt werden soll. Zunächst ist eine Klasse Adverbien in der genannten Grammatik wie auch in allen anderen Grammatiken vollständig vergessen worden. Es ist die Klasse der Adverbien, deren Funktion darin liegt, den Text als Ganzes zu gliedern. Ich nenne sie die Klasse der makrosyntaktischen Adverbien. Ich behandle diese Klasse jedoch in meiner Untersuchung nicht und verweise auf die demnächst erscheinende Untersuchimg meiner Mitarbeiterin Elisabeth Giilich: ,,Makrosyntax des Adverbs in der französischen Sprache". Die zweite Korrektur betrifft die Adverbien der Meinung. Sie umfassen insbesondere die Morpheme der Bejahung und Verneinung, gelegentlich werden aber auch die Morpheme der Frage sowie Ausdrücke der Unsicherheit, des Zweifels usw. dazugerechnet. In dieser Klasse stellt sich die Wortart Adverb als eine Art Restkategorie dar, zu der man alles rechnet, was sonst in der Grammatik nicht recht unterzubringen ist. Diese Klasse ist ganz aufzulösen. Die Morpheme der Bejahung und Verneinung sind im Französischen keine Adverbien. Sie weisen keine gemeinsamen Strukturen mit den anderen Adverbien auf, wohl hingegen mit den Person- und Tempus-Morphemen am Verb. Ihnen sind sie also parallel zu setzen. Das gilt in gleicher Weise drittens für die gebundenen Morpheme y und en, die gleichfalls keine Adverbien sind. Für die französische Sprache ist jedoch charakteristisch, daß einige dieser Morpheme, sofern sie komplexe Zeichen sind, Adverbien enthalten können. Ich komme am Ende der Untersuchung auf diese Frage zurück. I m Augenblick ist es jedochzweckmäßig, diese angeblichen Adverbien ganz aus der Untersuchung auszuschalten. 1

Grevisse: Le bon Usage, § 832.

ZUR STELLUNG DES ADVEKBS

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Das Adverb illustriert deutlich die Gefahr, die darin liegt, daß ein grammatischer Begriff aus seinem Namen gedeutet wird. Weder steht das Adverb immer „beim Verb", noch ist es immer ein Determinane „am Verb". Sehr häufig determiniert es nämlich das Adjektiv u n d steht dann entsprechend - prädeterminierend oder postdeterminierend - beim Adjektiv. Außerdem k a n n das Adverb ein anderes Adverb determinieren u n d steht dann auch in der Umgebung dieses Adverbs. Wir können allgemein sagen, daß die Stellungsbedingungen des Adverbs, das ein Adjektiv determiniert, identisch sind mit den Stellungsbedingungen eines Adverbs, das ein anderes Adverb determiniert. Wir fassen diese beiden Fälle zusammen. Ich behandle daher nacheinander: 1. die Stellung des Adverbs gegenüber dem Adjektiv, 2. die Stellung des Adverbs gegenüber dem Verb. II. Ich gebe im folgenden eine kleine Sammlung kurzer Textstücke der französischen Sprache, in denen jeweils ein Adjektiv durch ein vorangestelltes Adverb determiniert wird (Prädetermination). Die Beispiele stammen sämtlich aus Novellen von Camus 2 : c'est un jaune un peu gris (48) le vieux prêtre à demi aveugle (48) une longue clameur à peine phrasée (212) ils étaient tout fiers (46) la ville d'ordinaire paisible (66) ils ne sont pas assez méchants (71) la nuit plus obscure (71) hommes autrefois fraternels (71) un projet sans cesse remis (65) la porte largement ouverte (57) Es bedarf keiner Demonstration, daß diese Adverbien ausnahmslos den Wert von Morphemen haben. Sie bezeichnen in den meisten Fällen einen niedrigen, mittleren oder hohen Grad der Bedeutung, die das Adjektiv hat. Das gilt auch f ü r solche Adverbien, die mittels des Suffixes -ment von Adjektiven abgeleitet sind. Das Adverb largement des letztgenannten Beispiels ist ein solches Adverb. Die meisten Adverbien jedoch, die m a n in prädeterminierender Stellung vor dem Adjektiv findet, sind nicht von der Art des Adverbs largement. 2

Ich benutze die Gallimard-Ausgabe der Novellensammluiig L'Exil et le Royaume (1957). Die Ziffern bezeichnen jeweils die Seitenzahl dieser Ausgabe.

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HARALD

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Das hat nichts mit der besonderen Wortbildung auf -ment zu tun, sondern liegt daran, daß ein Adverb dieser Bildimg für eine Morphemrolle weniger gut geeignet ist als andere Adverbien wie bien, mal, très, fort, tout, trop, peu, plus, moins. Dies sind tatsächlich diejenigen Adverbien, die man in prädeterminierender Stellung besonders oft findet. Es sind sehr kurze und fast immer einsilbige Adverbien. Zwischen ihrer Kürze und ihrer zu beobachtenden Frequenz in der Sprache besteht ferner ein Zusammenhang, wie er von G. K . Zipf unter dem Gesichtspunkt der sprachlichen Ökonomie beschrieben worden ist: jedes Zeichensystem, also auch jede Sprache, benutzt kurze Zeichen als häufige Zeichen 3 . Diese Adverbien teilen außerdem mit den anderen Morphemen der französischen Sprache nicht nur die reduzierte Bedeutung, Kürze und Frequenz, sondern auch die charakteristische Eigenart, mit anderen Adverbien der gleichen Art und Stellung ein Paradigma zu bilden. Was auch immer die genannten Adverbien in isolierter und anderer Stellung bedeuten mögen, in prädeterminierender Stellung fügen sie dem Adjektiv nichts als eine bestimmte Gradangabe hinzu. Man kann sie dann paradigmatisch ordnen, wenn auch nicht in einer genau geeichten Skala, so doch in einer solchen, die nach den drei Schwerpunkten peu, assez und très gegliedert ist. In diese Skala, die immer eine verhältnismäßig grobe Skala ist, fügen sich nun auch alle diejenigen Adverbien ein, die mittels des Suffixes -ment von Adjektiven abgeleitet sind, sofern sie nur unter Verzicht auf ein Gutteil ihrer semantischen Substanz und Nuancierung in die prädeterminierende Stellung vor dem Adjektiv eintreten. Nun die Gegenprobe. Welchen Status haben Adverbien, wenn sie postdeterminierend zum Adjektiv stehen? Ich beginne mit einer kleinen Vorüberlegung. Nehmen wir an, ein Autor wolle aus den beiden Lexemen heureux und malheureux ein Oxymoron bilden. Beide Lexeme sollen dabei ihre volle semantische Substanz behalten. Unser Autor wird nun eines dieser Lexeme vielleicht als Adjektiv in postdeterminierender Stellung verwenden, also: un homme heureux. I n dieser Stellung hat das Adjektiv ja, wie wir gesehen haben, seine ungeminderte Bedeutung. Das andere Lexem, so wollen wir annehmen, soll als Adverb in unmittelbarer Kontextnachbarschaft dieses Adjektivs stehen. Soll es aber prädeterminierend oder postdeterminierend stehen? Wird das Adverb nun vorangestellt, also: un homme malheureusement heureux, so ist die oben aufgestellte Spielregel nicht erfüllt. Das Adverb besitzt jetzt nicht mehr seine volle semantische 3

G. K. Zipf: Human behavior and the principle of least effort, Cambridge Mass. 1949.

ZUR STELLUNG DES

ADVERBS

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Substanz, sondern ist zu einem Morphem reduziert. Die reduzierte Bedeutung kann ungefähr mit dem deutschen Wort „leider" wiedergegeben werden. Soll das Wort aber trotz seiner Adverbialisierung seine semantische Substanz ungeschmälert bewahren, so muß es dem Adjektiv nachgestellt werden. Die ganze Wendung lautet dann: un homme heureux d'une façon malheureuse. Es ist für unsere Überlegungen unwichtig, ob man die Form d'une façon malheureuse noch als Adverb oder schon als adverbiale Gruppe bezeichnet. Wichtig ist hingegen, daß diese Form nicht, wie das prädeterminierende Adverb, eine reduzierte Bedeutung, sondern die gleiche volle Bedeutung hat, die wir auch für das Adjektiv in postdeterminierender Stellung zum Substantiv verzeichnet haben. Die gegenüber dem Substantiv homme postdeterminierende Adjektivform heureux und die gegenüber dem Adjektiv heureux postdeterminierende Adverbform d'une façon malheureuse sind also semantisch gleichwertig und können, wie die Spielregel unseres kleinen Denkversuches lautete, ein Oxymoron bilden. Es gibt also gegenüber dem Adjektiv nicht nur eine adverbiale Prädetermination, sondern auch eine adverbiale Postdetermination. Diese besteht in den meisten Fällen aus einer lexemhaltigen Monemgruppe, die durch eine einleitende Präpostition als Translativ im Sinne Tesnières 4 in ein Adverb transferiert wird. Wir können also formal (nicht semantisch) parallel setzen: très bon und: bon d'une façon divine; fort beau und beau d'une beauté surhumaine; très âgé und âgé de 80 ans. Daß gerade in der Postdetermination die transferierten Formen des Adverbs auftreten, hängt wieder mit dem erwähnten Ökonomieprinzip der Sprache zusammen. Die transferierten Adverbformen haben mehr phonetische Substanz als die einfachen Adverbformen und gar noch als die meistens sehr kurzen Adverbformen, die wir bevorzugt in prädeterminierender Stellung finden. Sie sind daher auch seltener und lassen sich nicht oder nur sehr schwer in Paradigmen einordnen. Sie haben nie Morphemrang, sondern immer Lexemrang. Ich gebe im folgenden eine kleine Sammlung von Beispielen, wiederum aus Novellen von Camus. I n diesen Beispielen werden auch Partizipien als Adjektive gerechnet, sofern sie im Satz Adjektivfunktion haben. large à cet endroit de plusieurs centaines de mètres (184) du sommet de la tour partait un câble métallique, invisible à son point d'attache (179) de dures épaules sèches et des muscles visibles sous le pantalon de toile et la chemise déchirée. (196) 4

Lucien Tesnière: Éléments de syntaxe structurale, Paris 1959, Kap. 201-206.

H a r a l d Weiniìich

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les muscles tendus et parcourus d'un frémissement continu (182f.) celui-ci, petit et maigre, appuyé contre un des piliers de bambou, avait enfoncé ses poings dans les poches d'une combinaison autrefois bleue, maintenant couverte de la poussière rouge qu'ils avaient remâchée pendant toute la journée. (184f.) l'église, avec ses murs crépis, sa dizaine de marches peintes à la chaux bleue (222)

Das folgende Beispiel läßt noch einmal beide Formen adverbialer Determination nebeneinander erkennen: Sur le talus, l'homme apparaissait, disparaissait, plus grand et plus massif à chaque résurrection. (180) Wir finden in der Umgebung des Adjektivs massif in prädeterminierender Stellung das Adverb plus (kurz, frequent, paradigmatisch: Gradangabe), postdeterminierend das Adverb-Translat à chaque résurrection (lang, selten, ohne Bindung an ein Paradigma: differenzierte Bedeutung). Wir folgen also Tesnière in seiner Analyse der sog. Adjektive mit Präposition und analysieren diese Präpositionen als Translative für ein Adverb. Tesnière schreibt speziell zu solchen Wendungen wie être fidèle à son serment, prêt au départ, étranger à une conspiration - sämtlich Wendungen des beschriebenen Typus - : „c'est en quelque sorte indiquer la façon dont on est fidèle, prêt, étranger"6. Des weiteren rechnet Tesnière sogar solche Wendungen wie vert bouteille, bleu horizon als Kombinationen aus Adjektiv und Adverb, wobei ein Null-Morphem als Adverb-Translat fungiert®. Als Nebenprodukt unserer Untersuchung können wir an dieser Stelle buchen, daß das Kapitel „Steigerung" damit in der französischen Grammatik überflüssig wird. Die Steigerungsformen des Adjektivs werden im Französischen mit prädeterminierenden Adverbien gebildet. Sie bezeichnen einen Grad des Adjektivs, sind also Morpheme. Sie sind kurz, frequent und paradigmatisch. Sie fügen sich genau in die beschriebene Struktur ein. Unter Umständen ist es jedoch zweckmäßig, zwei verschiedene Paradigmen der Gradbezeichnung anzusetzen. Zu einem Paradigma absoluter Gradbezeichnung würden dann die Steigerimgsstufen Elativ (très, peu) und Superlativ (le plus und le moins als Extrempunkte der Skala) gehören. Die komparativischen Adverbien plus und moins würde man hingegen zusammen mit anderen prädeterminierenden Adverbien in eine Skala 5 6

Tesnière: Éléments de syntaxe structurale, Paris 1959, Kap. 201. Tesnière: a.a.O., Kap. 203.

Z U R S T E L L U N G DES A D V E B B S

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relativer Gradbezeichnung einordnen. Das würde erlauben, auch alle Vergleichssätze in die beschriebene Struktur der Adverbstellung einzuordnen. Ich denke an solche Sätze wie il est aussi âgé que son frère, il est plus âgé que son frère, il est moins âgé que son frère. Dazu wiederum ein Beispiel von Camus: Son visage horrible était moins horrible que le reste du monde. (58) Das A d j e k t i v âgé bzw. horrible ist hier wieder das Beziehungswort, auf das hin wir die Stellung des Adverbs untersuchen. Wir finden in prädeterminierender Stellung die Adverbien aussi, plus und moins, die wiederum kurz, frequent und paradigmatisch sind. Demgegenüber können wir die Wendungen que son frère, que le reste du monde, die natürlich in beliebiger Ausdehnung eine semantische Auffüllung (Expansion) zulassen, als Adverb-Translate mit dem Morphem que als Translativ auffassen. Wir haben dann wieder das gewohnte Bild vor uns: morphematische Adverbien vor dem Adjektiv, lexematische (lexemhaltige) Adverbien nach dem Adjektiv. Die Struktur der Vergleichssätze paßt also genau zur Struktur und Distribution der Adverbien überhaupt sowie zur allgemeinen Ordnung der Moneme in der französischen Sprache.

III. Morpheme stehen prädeterminierend, Lexeme oder lexemhaltige Syntagmata stehen postdeterminierend: von diesem Strukturprinzip waren wir ausgegangen, und dieses Strukturprinzip haben wir auch beim Adverb bisher bestätigt gefunden. Wir haben aber bisher nur die Stellung des Adverbs in der Umgebung des Adjektivs untersucht. Sehr oft ist das Adverb indes tatsächlich ,,Ad-Verb" und steht als Determinane in unmittelbarer Umgebung des Verbs. In dieser Umgebung finden wir das Adverb nun ebenfalls bald in prädeterminierender, bald in postdeterminierender Stellung. Die folgenden Beispiele, die wiederum aus der Novellensammlung L'Exil et le Royaume von Camus genommen sind, zeigen das Adverb in der Stellung vor dem Verb : la chaleur alors s'est mise à hurler (63) la porte enfin s'est ouverte (68) les maîtres un à un sont sortis (58) le halo se dilata peu à peu et de nouveau se rétrécit (181) Le visage du coq se durcit tout d'un coup; ses yeux, pour la première fuyaient. (204)

fois,

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HARALD

WEINEICH

Grevisse schreibt zu dieser Stellung, sie sei eine poetische Inversion, die in der Prosa „ziemlich wenig gebraucht" sei 7 . Dieser Feststellung können wir nicht uneingeschränkt zustimmen. Die soeben verzeichneten Beispiele stammen ja aus französischer Prosa. Sie sind weniger selten, als Grevisse zu erkennen gibt. Immerhin sind sie auch nicht sehr häufig, nicht annähernd so häufig etwa, wie das Adverb in prädeterminierender Stellung vor dem Adjektiv zu finden ist. Da wir nun unsere Strukturanalyse nicht auf Ausnahmen und seltene Fälle gründen wollen, ist es zweckmäßig, diese Fälle im folgenden nicht mehr besonders zu berücksichtigen. Denn meistens, daran besteht gar kein Zweifel, steht das Adverb, das ein Verb determiniert, in postdeterminierender Stellung zu diesem. Der Sachverhalt ist uns so geläufig, daß ich mich mit zwei Beispielen aus Camus begnügen kann: je les aimais peut-être (51) le sel qui envahit jusqu'aux ongles, qu'on remâche amèrement meil polaire des nuits (53)

dans le som-

Es ist dabei gleichgültig, ob es sich um ein morphematisches Adverb wie peut-être handelt oder um ein Adverb-Translat wie dans le sommeil polaire des nuits, das mehrere Lexeme enthält. Dieselben kurzen, frequenten und paradigmatischen Adverbien, die wir mit Regelmäßigkeit vor dem Adjektiv gefunden haben, stehen mit gleicher Regelmäßigkeit nach dem Verb. Hier scheint die crux unserer Untersuchung zu liegen: die Stellung der Adverbien zum Verb scheint aus dem gesamten Strukturpanorama der französischen Sprache herauszufallen. Denn vom Adverb abgesehen, bestätigt sonst als Beziehungswort auch das Verb, daß es in der französischen Sprache ein umfassendes Distributionsprinzip gibt, nach dem die Morpheme vor dem Determinandum, die Lexeme nach dem Determinandum stehen. Vor dem Verb stehen demnach die folgenden Morpheme : das Personalpronomen im Nominativ, Akkusativ und Dativ (je donne, je le donne, je te le donne) - bei gelegentlichen zusätzlichen Morphemen in postdeterminierender Stellung (vous donnez) 8 ; das Negationsmorphem ne ; die gebundenen Morpheme en und y ; das Numerus-Morphem (je, tu, il gegenüber nous, vous, ils) ; viele, aber nicht alle Tempus-Morpheme (j'ai donné, je vais donner, aber: je donnais); das Morphem zur Bezeichnung des Gérondif (en donnant) ; das Relativpronomen, das eine Art neues Partizip 7 8

Grevisse: Le bon. Usage, § 631. Das ist v o n Gerhard Rohlfs schon sehr früh gesehen worden. Vgl. G. Rohlfs: Volkssprachliche Einflüsse im modernen Französisch, Berlin 1928, 8. 11.

Z u r S t e l l u n q des A d v e r b s

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Präsens bildet (qui donne); das Fragemorphem (est-ce que je donne); schließlich sämtliche Konjunktionen. E s sind dies ausnahmslos Morpheme, daran besteht kein Zweifel. D a ß einige Morpheme, wie erwähnt, auch nach dem Verb stehen, bestätigt nur, d a ß es sich bei der beschriebenen Distribution um ein Prinzip, nicht u m ein Gesetz der französischen Sprache handelt. Wenn m a n hier historisch argumentieren will, verstärkt sich dieser Eindruck übrigens noch. Solche Morpheme der französischen Sprache nämlich, von denen m a n weiß, d a ß sie sich in neuerer Zeit erst gebildet oder in der Sprache verstärkt ausgebreitet haben (z.B. das sog. futur proche und passé récent, on als 1. Person Plural usw.), bevorzugen deutlicher noch als die alten Morpheme die prädeterminierende Stellung zum Verb. Demgegenüber findet m a n in der Stellung nach dem Verb wiederum die L e x e m e und lexemhaltige S y n t a g m a t a , insbesondere alle lexematischen F o r m e n des Objekts und der Objektsätze. I m ganzen läßt also der Verbalnexus die Verteilung der Morpheme und L e x e m e auf die prädeterminierende und die postdeterminierende Stellung zum Beziehungswort zwar nicht ganz so deutlieh erkennen wie der Nominalnexus, aber doch deutlich genug, daß auch für die Adverbien eine entsprechende Distribution zu erwarten wäre. Diese E r w a r t u n g wird jedoch getäuscht, und die A d verbien stehen fast ausnahmslos nach dem Verb. Wie ist das z u erklären? E s erklärt sich recht leicht. A l s ich nämlich eben die Distribution der Moneme im Verhältnis zum Verb besprach, habe ich einen wichtigen Gesichtspunkt überschlagen. Mit dem O b j e k t , so haben wir gesehen, verhält es sich so, daß es als Morphem prädeterminierend steht (je le donne), als L e x e m postdeterminierend (je donne le cadeau). Das entspricht genau dem Distributionsprinzip, wie wir es auch sonst immer gefunden haben. Ganz anders verhält es sich nun aber mit dem Subjekt. Als Morphem steht es zwar, ebenso wie das Objekt-Morphem, prädeterminierend (je donne). A l s L e x e m jedoch, d . h . als Expansion des Personalpronomens im Nominativ, steht es nicht, wie das beim lexematischen Objekt als der Expansion des Personalpronomens im A k k u s a t i v zu beobachten ist, in der zu erwartenden postdeterminierenden Stellung, sondern ebenfalls in prädeterminierender Stellung (le donateur donne). Dies ist, wie man weiß, die „feste Wortstellung" S u b j e k t - P r ä d i k a t - O b j e k t . Ganz fest ist diese Wortstellung natürlich in Wirklichkeit nicht. Für das O b j e k t gilt sie, wie gesagt, nur, wenn das Objekt L e x e m r a n g und nicht Morphemrang hat. A b e r für das S u b j e k t gilt sie tatsächlich als ganz feste Wortstellung. Unabhängig d a v o n nämlich, ob das S u b j e k t Morphemrang oder Lexemrang hat, steht es vor dem Verb. E s ist bekannt, daß diese feste Stellung des S u b j e k t s vor

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dem Verb eine wichtige Funktion in der französischen Sprache zu erfüllen hat. Während sich nämlich die morphematischen Personalpronomina im Nominativ und Akkusativ der hörbaren Form nach unterscheiden (il-le), unterscheiden sich ihre lexematischen Expansionen der hörbaren Form nach nicht. E s ist der Form le cadeau oder der Form le donateur nicht anzusehen (genauer: nicht anzuhören), ob es sich um ein Subjekt oder Objekt handelt. Hier übernimmt die Distribution, nämlich die Stellung zum Verb, eine Signalfunktion, die von der Wortform nicht wahrgenommen wird. Das ist ein zentrales Strukturmerkmal der französischen Sprache. Man muß aber sehen, daß dies zugleich die Durchbrechung einer anderen, ebenfalls zentralen Struktur der französischen Sprache bedeutet. Wir finden hier zwei konkurrierende Strukturen, ja, zwei Strukturen im Widerspruch. Die eine verfügt für Lexeme grundsätzlich die Stellung nach dem Beziehungswort, die andere dekretiert für Lexeme, sofern sie Subjektfunktion haben, ebenso grundsätzlich die Stellung vor dem Beziehungswort. Es handelt sich gewissermaßen um ein Ausnahmegesetz für das Subjekt. Eben dieser Ausnahmecharakter gewährleistet erst, daß ein lexematisches Subjekt in prädeterminierender Stellung überhaupt sichere syntaktische Signalfunktion haben kann. Nur weil Lexeme sonst meistens nach dem Beziehungswort stehen, haben sie dadurch, daß sie unter bestimmten Bedingungen ausnahmsweise vor dem Beziehungswort stehen, einen eindeutigen Ausdruckswert. Die Konkurrenz zweier Strukturen in bezug auf die Distribution der Moneme in der Umgebimg des Verbs ist bei der Stellung des Adverbs zu berücksichtigen. Natürlich nur bei der Stellung des Adverbs zum Verb, denn nur im Hinblick auf das Verb als Beziehungswort gilt ja die beschriebene Konkurrenz zweier Strukturen. Für das Verb nun äußert sich die Konkurrenz der Strukturen darin, daß die prädeterminierende Stellung funktional wesentlich stärker belastet ist, als nach dem Distributionsprinzip der französischen Sprache zu erwarten ist. Es erscheinen ja in dieser Stellung nicht nur die Morpheme, sondern auch viele Lexeme: alle lexematischen Subjekte. Das distributioneile Gleichgewicht ist gestört. Dies ist nun der Grund für die Besonderheiten der Adverbstellung in bezug auf das Verb. Für den starken Überhang auf der Seite der Prädetermination schafft die französische Sprache den Ausgleich durch einen entsprechenden Überhang auf der Seite der Postdetermination. Wir haben schon gesehen, daß die französische Sprache, insbesondere bei den Tempora und den Personalpronomina, einige Morpheme in der Nachstellung duldet. Sie duldet ferner, und d a r a u f k o m m t es in diesem Zusammenhang an, das Adverb auch dann in postdeterminierender Stellung, wenn es Mor-

ZUR STELLUNG DES

ADVERBS

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phemrang hat. Das Gleichgewicht der Distribution, das durch die prädeterminierende Stellung des lexematischen Subjekts gestört ist, wird durch die postdeterminierende Stellung des morphematischen Adverbs wiederhergestellt. Das geschieht übrigens nicht aus Gründen einer ästhetisch zu verstehenden Harmonie, sondern um einer Ökonomie des Verstehens willen, die bei relativ gleichmäßiger Alternation von Morphemen und Lexemen in einem Text optimal ist. Aber was heißt das überhaupt: Verb? Das Satzverb (oder wenn man will: das Prädikat) kann sehr verschieden aussehen. Wir müssen unterscheiden, denn die Stellungsbedingungen des Adverbs sind weiterhin verschieden je nach der Gestalt dieses Verbs. Zunächst aber ist daran zu erinnern, daß wir das Verb in erster Linie syntaktisch betrachten. Was es im einzelnen semantisch bedeuten mag, bleibt aus dem Spiel. Für den Verbalcharakter eines Verbs ist daher nicht diese oder jene Bedeutung maßgebend, sondern ausschließlich die Determination auf die Sprechsituation hin, wie sie von den Kategorien Person, Tempus und Assertion geleistet wird 9 . Bei zusammengesetzten Verben gilt dementsprechend derjenige Bestandteil im syntaktischen Sinne als Verb, der Träger der drei genannten Determinanten ist. Dies ist dann auch das Beziehungswort, von dem wir gesagt haben, daß es die Adverbien grundsätzlich in postdeterminierender Stellung bei sich hat. Gegenüber diesem Beziehungswort steht das Adverb allemal postdeterminierend, ganz gleich ob man sagt il a bien travaillé oder il a travaillé bien. Denn das sog. Hilfsverb (il) a ist das Verb im syntaktischen Sinne dieses Begriffs. Dieses Element trägt nämlich die Determinanten für Person, Tempus und Assertion. Das gleiche gilt, wenn das Verb aus Kopula und Prädikatsnomen (il est généreux) oder aus Hilfsverb und Infinitiv (il veut donner, il va donner) zusammengesetzt ist, desgleichen wenn es ein Kompositum vom Typus il a faim, ist. Es stellt sich nun die Frage nach der Stellung des Adverbs (das immer postdeterminierend zum syntaktischen Verb steht) zu dem zweiten Element des zusammengesetzten Verbs, zum Verb im semantischen Sinne des Wortes, wenn man so will. Dieses semantische Verb, das nominalen Charakter trägt (Substantiv, Adjektiv, Partizip, Infinitiv), kann ebenfalls wieder als Beziehungswort für ein determinierendes Adverb betrachtet werden. Und hier wiederholt sich nun, was wir schon im ersten Teil dieser Untersuchung zur Stellung des Adverbs gegenüber einem Adjektiv gesagt haben. Es gibt wieder das freie Spiel der Stellung für das determinierende Element, d. h. es hat Morphemrang, wenn es vor dem Beziehungs9

Vgl. hierzu m e i n Referat in der Bochumer Diskussion „ S y n t a x als Dialektik", Poetica 1 (1967) 109-126.

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wort, und Lexemrang, wenn es nach dem Beziehungswort steht. Das ist der Unterschied zwischen den beiden Wendungen il a bien travaillé und il a travaillé bien. I m ersten Fall hat das Adverb bien Morphemrang, im zweiten Lexemrang. Nur in der doppelt postdeterminierenden Stellung, also nicht nur nach dem syntaktischen Verb, sondern auch nach dem semantischen Verb, hat das Adverb hier seine volle Bedeutung: die Arbeit wird als „ g u t " qualifiziert. Zur Illustration wiederum ein paar Sätze von Camus : Jamais un dieu ne m'avait tant possédé (60) La nuit était maintenant tombée. (209) Il s'était intéressé aux cathédrales, puis avait longuement disserté sur la sowpe aux haricots noirs. (209) Il m'a saisi par la lèvre inférieure qu'il a tordue lentement. (57) Das an letzter Stelle genannte Beispiel verdient einen besonderen Kommentar. Das Adverb lentement steht hier also postdeterminierend nicht nur gegenüber dem syntaktischen, sondern auch gegenüber dem semantischen Verb, hier einem Partizip. Es hat nun, so haben wir gesagt, im Unterschied zu dem prädeterminierenden longuement des vorhergehenden Beispielsatzes, seine volle semantische Substanz. Es ist wirkliche Langsamkeit gemeint und nicht irgendein Minusgrad. Tatsächlich ist das der Ausdruckswert, den Camus an dieser Stelle gewollt hat. Er beschreibt nämlich eine Tortur, deren langsame Ausführung die Pein verstärkt. Wir können Grevisse also nicht zustimmen, wenn er zu dieser Frage die Ansicht vertritt, die Stellung des Adverbs zum semantischen Verb richte sich nach der Euphonie und dem Rhythmus 1 0 . Wir befinden uns, wenn wir nach dem Unterschied zwischen den Wendungen on va bien manger und on va manger bien fragen, noch nicht im Bereich der Stilistik, sondern nach wie vor im Bereich der Syntax. Denn das Vermögen, ein Wort durch eine veränderte Stellung im Text bald in ein Morphem, bald in ein Lexem zu verwandeln, gehört zur innersten Zone der französischen Syntax. Diese syntaktische Struktur freilich macht Stil möglich. Ich zitiere also nicht ohne Bewunderung den folgenden Satz von Camus : Je les méprisais de tant pouvoir et d'oser si peu. (50) Das Beispiel zeigt das Adverb tant gegenüber dem Infinitiv pouvoir in prädeterminierender Stellung und das Adverb peu gegenüber dem Infini10

Grevisse: Le bon Usage, § 829. Es ist an dieser Stelle vom Infinitiv als semanti· schem Verb die Rede.

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tiv oser in postdeterminierender Stellung. Wir müssen sagen, daß Camus dem Adverb peu, das zur Voranstellung u n d zu morphematischer Funktion geradezu wie vorherbestimmt erscheint, durch die bloße Nachstellung - allerdings mit zusätzlicher Verstärkung durch das suggestive Adverb si (prädeterminierend gegenüber peu) — zum semantischen Rang eines Lexems erhoben hat. Dieses peu ist keine bloße Gradbezeichnung mehr, sondern hat die volle semantische K r a f t eines Wortes, das die ganze Verachtung des geschundenen Erzählers in Camus' Novelle Le Renégat tragen kann. IV. F ü r unsere Überlegungen h a t es sich bisher als völlig unnötig erwiesen, zwischen den eingangs erwähnten Klassen der Adverbien zu unterscheiden. N u n wollen wir aber doch unterscheiden. F ü r einige Adverbien der Zeit und des Ortes gilt nämlich, daß sie sich nicht nach dem beschriebenen Distributionsprinzip richten. Es handelt sich um solche kurzen, frequenten u n d paradigmatischen Ortsadverbien wie ici u n d là sowie u m einige Adverbien der Zeit wie hier, demain, la veille, le lendemain, gelegentlich auch aujourd'hui, die von Hans Wilhelm Klein als „bestimmte" Zeitadverbien klassifiziert werden 1 1 . Man sagt also gewöhnlich: il est venu ici, und: il est venu hier. Die Stellung nach dem syntaktischen Verb, aber vor dem semantischen Verb ist diesen Adverbien verschlossen. Warum das so ist, läßt sich im R a h m e n dieser Untersuchung nicht mehr erschöpfend zeigen. Diese Adverbien haben nämlich, zusätzlich zu ihren wortdeterminierenden Aufgaben, makrosyntaktische Funktionen im Zusammenhang des gesamten Textes. I n diesem Zusammenhang wird m a n ernstlich die Frage prüfen müssen, ob es sich dabei überhaupt u m Adverbien des Ortes und der Zeit handelt. Was die letzteren betrifft, so bin ich sicher, daß m a n sie besser Tempusadverbien nennen würde. Einige dieser Adverbien, und zwar gerade die hier in Frage stehenden „bestimmten" Tempusadverbien, weisen deutliche Strukturbezüge zum Tempussystem auf und sind eindeutig entweder der besprochenen oder der erzählten Welt zuzuordnen. E s bleibt zu untersuchen, wie weit das in Analogie auch f ü r die Adverbien ici und là gilt. Es könnte sein, daß sie gar nicht Ortsadverbien, sondern Situationsadverbien sind, also (wenigstens zusätzlich) etwas ganz anderes bezeichnen als R a u m . F ü r unsere Untersuchung ist jedoch im Augenblick n u r wichtig, daß diese Situationsadverbien ebenso eindeutig 11

Klein/Strohmeyer: Französische Sprachlehre, Stuttgart o. J., § 222.

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auf das gebundene Situationsmorphem y bezogen sind wie die Tempusadverbien auf die gebundenen Tempusmorpheme am Verb. Die Tempusund Situationsadverbien, die allesamt freie Formen im Sinne Bloomfields sind, sind jedenfalls als Expansionen der zugehörigen gebundenen Morpheme am Verb aufzufassen und haben, wenn nicht absolut, so doch relativ zu ihnen Lexemcharakter. Diese Frage bedarf jedoch einer weiterführenden Untersuchung in umfassenderem Rahmen. Wir haben am Anfang die Morpheme der Bejahung und Verneinung aus unserer Untersuchung ausgeklammert. Es soll auch jetzt dabei bleiben, daß solche Morpheme wie ne... fas, ne...rien, ne... personne usw. nicht als Adverbien angesehen werden können, ebensowenig wie ihre Partner, die freien Formen non, rien und personne. Aber es handelt sich hier um diskontinuierliche Morpheme. Ihr erstes Element, das Zeichen ne, steht jeweils vor dem Verb, das zweite Element, das Zeichen pas oder rien oder personne, steht nach. Es steht, so wollen wir genauer sagen, nach dem syntaktischen Verb, aber vor dem semantischenVerb. Es heißt: il ne donne rien und il n'a rien donné (aber: il n'a vu personne). Das Element rien als Bestandteil der Negation ne...rien verhält sich also seinen Stellungsbedingungen nach wie ein Adverb, und ich hätte nichts dagegen einzuwenden, dieses Element dementsprechend auch als Adverb zu bezeichnen. Das Verneinungsmorphem als Ganzes hingegen ist kein Adverb. Zum Schluß bleibt noch ein kurzer Blick auf die Stellung am Anfang und am Ende des Satzes zu werfen. Auch diese Stellungen stehen dem Adverb grundsätzlich offen. Die Stellung am Ende des Satzes bedarf nunmehr eigentlich keiner besonderen Erwähnung. Sie ist ja immer eine Stellung nach dem Substantiv und nach dem Verb. Für diese Stellung gilt also grundsätzlich alles das, was schon über die postdeterminierende Stellung gesagt worden ist. Anders verhält es sich mit der Stellung an der Spitze des Satzes. Sie ist die privilegierte Stellung der Adverbien mit makrosyntaktischer Funktion, die hier jedoch nicht besprochen werden soll. Wer sie untersuchen will, muß aufhören, den Satz als die oberste syntaktische Einheit anzusehen. Er muß sich zu einer Makrosyntax und Textlinguistik entschließen, von der wir hoffen, daß es sie eines Tages geben wird, wenn der Streit um eine strukturale oder nichtstrukturale Sprachwissenschaft längst historisch ist.

Zur Geschichte des Begriffs le bon sens H A N S SCKOMMODATJ MÜNCHEN

Damit ein Wort oder eine Kombination von Wörtern beim zusammenhängenden Sprechen jene Festigkeit in der Bedeutung erhalten, die es erlaubt von einem „Begriff" zu sprechen, bedarf es wohl einer gewissen Zubereitung durch die Sprache, die mit dem Begriff umgeht, und einer längeren Gewöhnung. Dem Ausdruck le bon sens wird man eine solche Begrifflichkeit, die auf eindeutigem Verständnis beruht, also eine klare Anschauung des Geistes vermittelt, zusprechen. Es scheint aber, daß le bon sens, zumindest in seiner Verwendung vor dem 17. Jahrhundert, ein nicht besonders präziser Ausdruck ist, der, um sich in der philosophischen Sprache zu etablieren, die Anlehnung an andere Begriffe brauchte, die eine gefestigtere Bedeutung schon besaßen. Le bon sens macht im 17. Jahrhundert außergewöhnlich Fortune und ließ dabei die Nachbarbegriffe, an denen es sich aufgerichtet hatte, einigermaßen in den Hintergrund treten. Dieser Begriff le bon sens trat aber auch in Beziehung zu neu aufkommenden Begriffen, besonders der ästhetischen Sphäre. Mit ganzem Nachdruck behauptete er sich nur in einem unangefochtenen Klima des klassischen Kartesianismus. Man wird sagen können, daß der Begriff le bon sens, soweit er im Rahmen der Entwicklung des Französischen interessieren kann, in Descartes seinen Kronzeugen hat. Und ohne die Bedeutung, die le bon sens für Descartes in aller Grundsätzlichkeit haben mag, schon bestimmen zu wollen, wird man an die repräsentativste Stelle denken, an der der Ausdruck bei Descartes vorkommt, nämlich an den ersten Satz des Discours de la Méthode: «Le bon sens est la chose du monde la mieux partagée, car chacun pense en être si bien pourvu, que ceux mêmes, qui sont les plus difficiles à contenter en toute autre chose n'ont point coutume d'en désirer plus qu'ils en ont. » Man t u t gut sich klarzumachen, daß zu Descartes' Zeiten (und seit dem 13. Jh.) bei sens das finale -s nicht lautete und erst seit etwa der Mitte des

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17. Jahrhunderts lautlich restituiert wurde. Es handelt sich um einen langen Restitutionsprozeß, der auch heute nicht vollkommen abgeschlossen ist. Noch im 20. J a h r h u n d e r t empfehlen manche phonetischen Lehrbücher z. B. die Aussprache [sä] commun. Sens lautete also wie sang „ B l u t " . Man k a n n auch verfolgen, wie der Anstoß zu jener s-Restitution durch eben den Ausdruck le bon sens gegeben wurde, der lautlich nicht mit le bon sang zusammenfallen sollte. Le bon sang nämlich k a m u n d kommt in verschiedenen Idiomatismen vor, wie 'bon sang ne peut mentir' oder c se faire du bon sang'. Die Schreibung S-E-N-S vermag an sich noch nicht Anfang des 17. J a h r h u n d e r t s die unbezweifelbare Bedeutung „Sinn" oder „Verstand" zu verbürgen, sondern k a n n gelegentlich auch „ B l u t " meinen 1 . Der Begriff le bon sens h a t seit dem 17. J a h r h u n d e r t eine Ausstrahlung über das französische Sprachmilieu hinaus; u n d so geben auch deutsche Entsprechungen zu denken, die Grimm aus Texten des 18. Jahrhunderts zitiert. „Gesunde Vernunft" (seit 1582) übersetzt das lat. mens sana; „gesunde und kalte Vernunft" (Cohausen, 1720) oder „die subtilste u n d kaltblütigste Vernunft" (Wieland) aber zeigen, wie außerdem frz. sang-froid als Grundlage in Frage kommt. Indikatorisch für die Neigung zu begrifflichen Assoziationen, die bei der Fixierung des Standardausdrucks le bon sens mitspricht, ist eine Stelle aus Charrons De la Sagesse, wo Montaignes Vorstellungen von der 'humaine condition' u n d der 'misere' des Menschen erörtert werden 2 . Hier wird die Konkurrenz von bon sens u n d sang (oder sens) rassis deutlich: « Voicy encores apres tout, un vray tesmoignage de la misere spirituelle, mais qui est fin & subtil, c'est que l'esprit humain en son bon sens, paisible et sain estât, n'est capable que de choses communes, ordinaires, naturelles mediocres. Pour estre capable des divines; surnaturelles, comme de la divination, prophetie, revelation, invention & comme l'on dit, entrer au cabinet des Dieux, faut qu'il soit malade, disloqué, desplacé de son assiette naturelle (...) Et ainsi faut qu'il soit miserable comme perdu & hors de soy, pour estre heureux, Ceci ne touche aucunement de la disposition divine, car Dieu peut bien à qui & quand il lui plaist se reveler, & que l'homme demeure en sens rassis, comme l'escriture raconte de Moyse & autres.»

1

2

Vgl. ein Beispiel aus einem Roman von Jean Pierre Camus, das der Verf. auf S. 104 seiner Studie Die Silbe und die Struktur des Französischen, in: Sitzungsberichte der Wiss. Ges. an der Johann Wolfgang Goethe-Univ. Frankfurt/Main, Bd. V, Wiesbaden 1967, zitiert. De la Sagesse Trois Livres par Pierre Charron, Seconde edition, Paris 1604, I, 211/12.

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Bei Descartes dürfte irgendwelche Zweideutigkeit infolge der gleichen Lautung von sens und sang nicht in Frage kommen. Man könnte zwar denken, daß Harveys Entdeckung der Mechanik des Blutkreislaufs im Zusammenhang der Anschauung von den 'esprits animaux', bei deren Darlegung Begriffe wie le sens commun und auch le bon sens manipuliert wurden, sang in gefährliche Nähe von sens bringen konnten. Aber der „Spiritualismus", an dem Descartes trotz Harvey bei der Erklärung physiologischer Vorgänge festhielt, war für ihn offenbar ein Impedimentum für die Verwendung des Wortes sang, etwa bei der Motivierung der menschlichen Temperamente 3 . - Vermuten aber muß man, daß die Notorietät des Descartesschen Bon-sens-Begriffes zu der Ausspracheregelung beigetragen hat. Ein bislang nicht ganz eindeutig gebrauchter Ausdruck wurde, cum grano salis gesagt, durch das Lautendwerden des finalen -s „latinisiert", bzw. rücklatinisiert. Daß es in anderer Beziehung aber mit der Präzision des Ausdrucks nicht besonders klar bestellt ist, könnte man bei der Lektüre des gilsonschen Kommentars zu jenem ersten Satz des Discours merken 4 : Descartes verwende den Ausdruck in zwei Bedeutungen, die interferieren könnten. Einmal könne le bon sens mit schlechtem Gewissen durch 'bona mens' übersetzt werden; ein andermal könne ein authentisches antik-stoisches 'bona mens', mit dem Sapienta-Begriff assoziiert, die vulgärsprachliche Notübersetzung mit le bon sens vertragen. - Gilsons Klarstellungen, die sich durch die Berücksichtigung von sämtlichen Schriften Descartes' sowie seiner Korrespondenten, Übersetzer und Vulgarisatoren legitimieren, sollen hier nicht im einzelnen dargelegt werden. Aber hinweisen möchte man auf Gilsons beiläufige Einräumung, daß sich die ironische Nuance dieses ersten Satzes des Discours nicht übersehen lasse. Es handle sich um eine populäre Sentenz ; und Gilson zitiert u.a. eine Variante aus Montaignes Essai 'De la présomption' : «On dit communément que le plus juste partage que nature nous ait fait de ses grâces, c'est celui du jugement (in der copie de Bordeaux: celui du sens), car il n'est aucun qui ne se contente de ce qu'elle lui en a distribué. » Hier ist ein Gewährsmann aller französischen Denker der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zitiert. Bon sens ist gar nicht gebraucht, sondern jugement, und Montaigne fand schließlich einfaches sens besser, sens für „Verstand". 3

4

Vgl. Emile Guyénot, Lies sciences de la vie aux X V I I e et X V I I I e siècles. L'idée d'évolution, Paris 1941, bes. 8. 148 ff. René Descartes, Discours de la Méthode. Texte et Commentaire par Et. Gilson, Paris 1947.

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Dieses sens ist ganz sicher die maßgebende Vokabel, u m welche sprachliche Kombination es sich auch in Texten von einigem philosophischen Tiefgang handeln mag. Die „Sentenz" findet sich aber auch bei Autoren, bei denen m a n spezifische denkerische Intentionen nicht suchen würde. E t w a in Mathurin Régniers 9. Satire: Aussi rien n'est party si bien par la nature Que le sens, car chacun en a sa fourniture. Also wiederum einfaches sens, das m a n mit „Verstand" schlechthin übersetzen würde. Wenn wir schließlich auch in D u Beilays 88. Sonett der 'Regrets' sens finden: ... aux cieux Qui volera pour moy encor'un coup Pour rapporter mon sens... ?, so geraten wir bei der allgemeineren Wortfeldbestimmung in den beson deren Bereich dichterischer Imagination: An den verlorenen Senno d'Orlando ist hier erinnert 5 ; der Beitrag des germ, SINNO zur Semantik auch des frz. sens 6 , der recht schwer zu bestimmen ist, läßt sich erkennen. Die mittelalterliche Konkurrenz von lat. SENSUS u n d germ, SINNO (in der Bedeutung „Verstand") wirkt trotz des uniform geschriebenen SENS bis in die französische Moderne. - I n lateinischen Texten, bei Cicero, Ovid und auch späteren, trifft m a n sensus gelegentlich in der ausdrücklichen Bedeutung „Verstand, der den Menschen vom Tier unterscheidet", an 7 . Jedoch darf m a n wohl diese Bedeutung weit grundsätzlicher germ, SINNO zusprechen. Auffällig ist die Parallelität afz. u n d mhd. literarischer Fügungen, die die Vorstellung vom „verlorenen Verstände" mit der sprachlichen Formel „außerhalb des Verstandes stehen" wiedergeben 8 . Vorwürfe seiner Dame bringen es zuwege, daß Yvain „aus dem sen (oder sens) heraustritt" und eine Zeitlang zum Wildmann wird, dem Tiere gleich, um 5 6

7

8

Ariost, Orlando furioso, 34. Gesang. Vgl. dagegen das von S I N N O unberührte Kastilische ; Cervantes läßt im Eingangssonett zum Don Quijote Roland sagen: como yo, perdiste el seso. \ T gl. Cicero (Leg. agr. 2,9): Quid est tantum populare quam pax? Qua non modo ei quibus natura sensum dedit sed etiam tecta atque agri mihi laetari videntur? Quid tam populare quam libertas? Quam non solum a hominibus verum etiam a bestiis expeti atque omnibus rebus anteponi videtis? Für die entsprechenden mhd. Wendungen vgl. Jost Trier, Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes, Heidelberg 1931, bes. S. 159 u. 203.

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>27 Wenn die Meinung geäußert wird, daß die coutume zur Akzeptierung solcher Meinungen nötige, die nicht verbindliche natürliche Grundanschauungen aller Menschen sein können, so kann auch gesagt werden, daß der intakt gebliebene bon sens sich vor dem Kontakt mit der menschlichen Gesellschaft hüten müsse. La Mothe Le Vayer bestimmt in dieser Weise die Position der Weisen, die der des molièreschen Misanthrope überraschend ähnelt: «Voila donc ce bon sens, ou ce bon esprit dont on se veut t a n t pre« A.a.O., I, S. LVIII/LIX. 25 Römerbrief, XIV, 5: unusquisque in suo sensu abundet. 26 Bei Horaz, Sat. II, 1,27: quot capitum vivunt, totidem studiorum milia; dazu die Variante bei Terenz, Phormio 2,4: quot homines, tot sententiae. 27 Quatre dialogues faits à l'imitation des anciens (par Orasius Tubero = Lia Mothe Le Vayer), Francfort 1606, S. 21.

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SENS>

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valoir, qui n'est plus d'usage que dans le desert et la solitude, puis que dans le cours et traffic de la vie civile, il passe pour marchandise de contre bande, ou pour monnaye deffendue.. .»28. Diese Stellen sollten zitiert werden, damit die Entschlossenheit der Philosophie Descartes' sich vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Skepsis eindrucksvoller abhebt. Descartes salviert sich in Dingen der religiösen Praxis durch das Provisorium seiner Moral. Er entwickelt im übrigen ein energisches Programm des Erkennens, das dem eben geschilderten Skeptizismus auf das entschiedenste widerspricht. Den bon sens als allen Menschen gemeinsame Grunddisposition läßt er bestehen, und gelegentlich wird deutlich, daß er den sozusagen identischen, aber expliziter definierten Begriff sens commun im traditionellen Sinne versteht. Gültige Leistungen verlangt er ihm nicht ab. Wenn er für Urteilsfähige schreibt, die übrigens kein Latein zu verstehen brauchen, so denkt er an solche, 'qui joignent le bon sens avec l'étude'. Der Argumentation Descartes' war eine ungewöhnliche Resonanz beschieden. Insbesondere sein Begriff le bon sens gelangte in der Ära des Kartesianismus zur Bedeutimg einer Norm richtiger Entscheidung. I n der Logique de Port-Royal beginnt Antoine Arnauld den Premier Discours mit dem Satz: «Il n'y a rien de plus estimable que le bon sens et la justesse de l'esprit dans le discernement du vrai et du faux. Toutes les autres qualités d'esprit ont des usages bornés ; mais l'exactitude de la raison est généralement utile dans toutes les parties et dans tous les emplois de la vie. » - Im klassischen Zeitalter der Franzosen stellt sich der Begriff le bon sens fast mit einer zwangsläufigen Regelmäßigkeit zu Beginn solcher Betrachtungen ein, bei denen die Richtigkeit anschließend vorgetragener Urteilsentscheidung schon behauptet werden soll. Le bon sens ist das unausbleibliche Stichwort der Präambeln. Verblaßt ist die mit sensus communis gegebene Vorstellung, daß eine Grundanlage des Menschen gemeint sei, die die Sinnesdaten koordiniere. Le bon sens ist jetzt ein spontanes Urteilsvermögen, die Voraussetzung für richtige Entscheidung in jedem Falle denkerischer und auch künstlerischer Initiative. Ohne sich beim bon sens rückzuversichern, kann kein Werk der schönen Literatur bestehen. So scheint dieses Postulat auch einen gewissen moralistischen Tenor der klassischen Literatur zu bestätigen oder bei dessen Ausprägung mitzuhelfen. Die Grundsätzlichkeit, mit der ein vom bon sens geleitetes Urteilen propagiert wurde, begründet eine etwas einspurige Konsequenz und damit a8

Ibid., 8. 53. - Vgl. auch Richard Henry Popkin, The History of Scepticism from Erasmus to Descartes, Assen 1964 (»1960), bes. S. 1-16 u. 93.

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wohl auch Starrheit des französischen Denkens. Die starke Faszination Descartes' wirkt noch in der unmittelbareren Moderne. Man darf etwa denken an Bergsons Sorbonne-Rede von 1895 über 'le bon sens et les études classiques' 29 . Mit erstaunlicher Gefolgschaftstreue sind hier die Descartesschen denkerischen Prämissen übernommen. Ob vom sensus communis die Rede ist, dem die äußeren Sinne den Kontakt mit den 'choses' vermitteln, oder vom gewissermaßen voraussetzungslosen bon sens schlechthin: als gegeben wird angenommen 'un subtil pressentiment du vrai et du faux', intakt vorhanden in jedem Menschen (tout entier en im chacun). Descartes' Warnung vor Übereilung bei der Urteilsbildung entspricht Bergsons Charakteristik des bon sens als einer Bremsvorrichtung des Intellekts: der bon sens garantiere ime «certaine défiance toute particulière de l'intelligence vis-à-vis d'elle-même». Es läßt sich aber auch erkennen, wie leicht dieser sich rasch aus traditionellen Zusammenhängen lösende Bon-sens-Begriff zum Vehikel neu vertretener Meinung werden kann: der bon sens bietet die Gewähr für eine öffentliche politisch-soziale Moral: «une vertu civique dans les pays libres», und er ist «instrument, avant tout, du progrès social». Das auf den bon sens sich berufende Denken, das sich mit fast verdächtiger Zuversichtlichkeit gerierte, begegnete aber auch - und schon im 17. Jahrhundert - Bedenken und provozierte spöttische Bemerkungen. Nicht überraschen kann ein solcher Vorbehalt von Seiten des religiösen Spiritualismus. Pascal spielt offenbar mit der widersprüchlichen Fülle von Voraussetzungen, die der Ausdruck bon sens, nicht nur im Sinne Descartes' gebraucht, in sich vereint. Paradox bringt er den sensus (die Intention eines Autors, hier der Bibel) mit dem florierenden bon sens-Begriff in eine Beziehung: «Tout auteur a un sens auquel tous les passages s'accordent, ou il n'a point de sens du tout. On ne peut pas dire cela de l'Ecriture et des prophètes; ils avaient assurément trop bon sens» 30 . - I n Deutschland emporte sich später Hamann gegen die Philosophie von Leibniz und Wolf, um sie als anspruchsvolles Apostolat im Sinne eines trivial gewordenen Leitworts, des Bon Sens, anzuprangern: «.. .inoculation du bon sens; pour les fous: Pour les Anges & pour les Diables (...) Avançons, Monsieur, vers ce Temple de papier maché, que le 'Bon Sens' & la 'Raison publique' 2S

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Henri Bergson, Ecrits et Paroles. Textes rassemblés par R.-M. Mossé-Bastide, Paris 1957, 84 ff. - Ohne die hier geäußerten Vorbehalte wird Bergsons Bede von Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tüb. 1960, S. 23, verwertet. A . a . O . , S. 1262.

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doit à notre philosophie (...) La Flute 'panique' du 'Bon Sens' a fait retentir les forets de l'Allemagne» 31 . Einspruch gegen den Grundsatz, daß jede geistige Initiative mit dem bon sens im Einklang sein müsse, wird man in erster Linie von der ästhetischen Doktrin erwarten. Doch in Frankreich bleibt eine entschiedenere Opposition aus. Kritiker wie der Père Bouhours möchten gerade im bon sens eine Qualität der französischen Sprache erblicken, die dieser den Vorzug sowohl vor der Melodik des Italienischen wie vor der Extravaganz des Spanischen sichere. - Dennoch gibt es Symptome der Auflehnung. Molière fühlt sich nach seiner ersten ganz selbständigen Leistung, der 'Ecole des Femmes', zu Unrecht von den Kunstrichtern unter Berufung auf die „Regeln" getadelt, und in der 'Critique de l'Ecole des Femmes' riskiert er die polemische Bemerkimg: «Il semble à vous ouïr parler, que ces règles de l'art sont les plus grands mystères du monde, et cependant ce ne sont que quelques observations aisées, que le bon sens a faites sur ce qui peut ôter le plaisir que l'on prend à ces sortes de poèmes...» Die Anzweiflung des bon sens als Prinzips überzeugender Argumentation wird um die Jahrhundertmitte deutlich in den später veröffentlichten Briefen des chevalier de Méré 32 . Um die Paradoxien der 'démonstrations géométriques' Pascals zu tadeln, beruft er sich zwar auf bon sens und sentiment naturel. Aber als Erfordernis einer Kunst des Überzeugens möchte er neben dem bon sens eine gewisse insinuierende 'habileté' des Weltmanns befürworten. Die 'faculté de penser excellemment sur les sujets qui se présentent' müsse in Wort und Schrift von einem 'goût fin' ins rechte Licht gehoben werden. Bon sens und bon goût müssen einander ergänzen: «C'est où paraît la beauté du génie, & la justesse de l'esprit & du sentiment. » - Dieser Begriff des bon goût schließt dann in der klassischen Ästhetik eine stille Ehe mit dem fast national patentierten bon sens, eine Art Staatsehe. Eine Staatsehe allerdings, die - wie Schümmer gezeigt hat 3 3 - durch eine ähnliche Verbindung von bona mens oder sapientia mit gustus oder sapor bei Quintilian und Petronius, auch bei Augustin und Isidor von Sevilla, als prädisponiert erscheinen kann. Dies sind Analogien über weite Zeiträume hin, denen Hinweise auf 31

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Johann Georg Hamann, Sämtl. Werke, Bd. II (Schriften 1758-1763) S. 282ff. Lettre néologique & provinciale sur l'inoculation du bon sens, (hist.-krit. Ausg. v. Jos. Nadler, 1950, bei Herder Wien). Les Œuvres de monsieur le Chevalier de Méré, 2 Bde., Amsterd. 1692, II 1 („faculté de penser") und II, 16f. („bon sens" usw.). Fr. Schümmer, Die Entwicklung des GeschmacksbegrifFs in der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Archiv f. Begriffsgesch., I (1955).

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Castiglione oder Gracián eine bedingte Aktualität verleihen können. Historisch einleuchtender ist vielleicht der Hinweis auf die mögliche zeitgenössische Anregung durch die bildende Kunst in der Stilepoche des Manierismus. Von dem Maler und Kritiker Roger de Piles wurde die Malerei von Philippe de Champaigne wegen zu sklavischer Nachahmung der N a t u r getadelt. Die Forderung geht auf ein «retrancher du vrai pour le rendre moelleux, léger et de bon goût und ajouter (: au vrai) ce feu qui le fait paraître animé» 3 4 . U n d im X. Band der Clélie von Mademoiselle de Scudéry findet sich das Lob des Malers Cléomine, den wir als Dekorateur von Foucquets Palais verstehen müssen. Die K u n s t dieses Malers wird anerkannt, weil er 'invention' und 'jugement', 'hardiesse' und 'bon sens' in ein ästhetisches Gleichgewicht gebracht habe und so in gleicherweise Augen und 'raison' befriedige. Die Literaturtheorie bedient sich etwas später derselben Begriffe. F ü r La Bruyère sind 'talent', 'goût', 'esprit', 'bon sens': «choses différentes, non incompatibles. E n t r e le bon sens et le bon goût il y a la différence de la cause à son effet». Dies ist kein Abweichen von der descartesschen Grundlage ; nur im P u n k t e der Vollbringung dominiert jetzt das ästhetische Moment. Der klassische Kartesianismus beruft sich auf den bon sens im Interesse der Sicherheit intellektueller Unterscheidung; die Kunsttheoretiker möchten dagegen im bon goût die Garantie für eine Unterscheidung sehen, die in der neuartigen Sphäre „geistiger Schönheit" zu treffen wäre. Von der 'beauté de l'esprit' sprach auch der chevalier de Méré; der Père Bouhours vollzieht die Übertragung des Unterscheidungsprinzips auf die ästhetische Norm deutlicher: «Car la véritable beauté consiste dans un discernement juste et délicat... »35. Der bon sens und das jugement sollen weiter als Voraussetzungen gelten ; aber der P. Bouhours äußert sich mit Unbehagen über eine gesellschaftlich nicht ansprechende Seite des bon sens (die im Hinblick auf dessen grundsätzliche Bedeutung bei intellektuellen Entscheidungen die wichtigste sein dürfte:) «...il y a une espèce de bon sens sombre et morne, qui n'est gueres moins opposé à la beauté de l'esprit que le faux brillant» 36 . Er möchte einen 'bon sens qui brille' u n d statuiert eine Art höherer Potenz des bon sens im bel esprit, dem er das 4. Kapitel der 'Entretiens d'Ariste et d'Eugène' widmet.

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Abrégé de la Vie des Peintres, S. 507. So zitiert bei André Fontaine, Les doctrines d'art en France. Peintres, amateurs, critiques. De Poussin à Diderot, Paris 1909, S. 4. 35 Les Entretiens d'Ariste et d'Eugène, 3 e éd. (Paris MDCLXXI) Le bel esprit, S. 262. »« Ibid., S. 264.

Z U R G E S C H I C H T E D E S B E G B I F F S

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So läßt sieh vielleicht sagen, daß jener neue Begriff des bon goût die Gefahren der Pedanterie, die im Prinzip des bon sens schlummern, beschwört. Dieses Prinzip bleibt erhalten (wie etwa Bergson zeigt), aber es m u ß sich zu einem gewissen Konformismus bequemen, der im Grunde diesem nie ganz präzis definierten Bon-sens-Begriff virtuell mitgegeben sein dürfte, zu einem Konformismus zunächst mondäner Natur. Der neue Kompromiß k a n n besonders eklatant erscheinen in der 3. Szene des IV. Akts der 'Femmes savantes'. Clitandre als Weltmann (bürgerlicher Herk u n f t ) argumentiert gegen den Pedanten Trissotin. Dieser ist eine Spottfigur und repräsentiert keinerlei Denken in der Nachfolge Descartes', auch wenn er das Idol von Frauen ist, die äußerst hochfahrend mit Motiven des Kartesianismus umgehen. Dennoch scheint er sich auf intellektuelles Wissen und den sensus communis berufen zu wollen: Le sentiment commun est contre vos maximes, Puisque ignorant et sot sont termes synonymes. Clitandre hingegen nennt die Pedanten mit gelehrtem Anspruch 'vides de sens commini' u n d sieht die Garantie f ü r bessere Daseinsmeisterimg im bon goût, wie ihn die mondäne Gesellschaft des Hofes beispielhaft verkörpert: Qu'elle (: la cour) a du sens commun pour se connaître à tout; Que chez elle on se peut former quelque bon goût ; Et que l'esprit du monde y vaut, sans flatterie, Tout le savoir obscur de la pédanterie.

Die Bezeichnungen für 'Weg' im Galloromanischen K U R T BALDINGER HEIDELBERG

Ein Bezeichnungsfeld ist stets Produkt einer komplexen geschichtlichen Entwicklung. Siedlungsgeschichtliche und kulturgeschichtliche Faktoren sind daran ebenso beteiligt wie sprachinterne Faktoren. An einem Beispiel soll dies wenigstens in den Grundzügen verdeutlicht werden. Die Geschichte der Bezeichnungen für 'Weg' ist nur ein kleines Kapitel für eine noch zu schreibende Geschichte des galloromanischen Wortschatzes, zu der erst die Arbeiten von Wartburg, Gamillscheg und vielen anderen den „Weg" gebahnt haben. Eine schöne erste gesamtromanische Synthese haben wir Gerhard Rohlfs zu verdanken, dem der vorliegende Beitrag gewidmet sein soll 1 . 1

G. Rohlfs, Die lexikalische Differenzierung der romanischen Sprachen. Versuch einer romanischen Wortgeographie, München (Sitzungsber. der Bayerischen Akad. derWiss., Philos.-hist. Klasse Jg. 1954, H e f t 4) 1954, 108 S. (und 50 K a r t e n ) ; in span. Übersetzung m i t zusätzlichen Bemerkungen von M. Alvar Madrid (OSIC) 1960, 193 8. ; zahlreiche Besprechungen, s. Z r P Bibl 1951-1955, Nr. 2590; 1956 bis 1960, Nr. 2746-2747 ; 1961-1962, Nr. 5252 ; besonders hingewiesen sei auf die Bespr. durch G. Colón, ZrP 74, 1958,285-294, und auf H.-W. Klein, Contribution à la différenciation sémantique de la Romania, Orbis 10, 1961, 144-156. - Hingewiesen sei auch auf G. Rohlfs, Fränkische u n d frankoromanische Wanderwörter in der Romania, Festgabe E r n s t Gamillscheg, Tübingen (Niemeyer) 1952,111-128. - Einige bibliographische Hinweise: E.Hochuli, Einige Bezeichnungen f ü r den Begriff Straße, Weg u n d Kreuzweg im Romanischen (Diss. Zürich), Aarau 1926, X I V - f 172 S. (noch immer grundlegende Arbeit f ü r die Entwicklung der wichtigsten Bezeichnungstypen in der Romania u n d die kulturgeschichtlichen Hintergründe); J . André, Les noms latins du chemin et de la rue, Rev. d'Etudes latines 28, 1950, 104-134 ; Les routes de France depuis les origines jusqu' à nos jours, hgg. von Guy Michaud, A.D.P.F., 1959 (Colloques, Cahiers de civilisation); Monique Gilles-Guibert, Noms des routes et des chemins dans le Midi de la France au moyen âge, Bull. phil. et hist, du comité des t r a v a u x hist, et scientif. 1960 (Paris 1961), 1-39 (solide Untersuchung für Südfrankreich f ü r die Zeit vom 10.-15. J h . , mit zahlreichen Literaturangaben); Robert-Henri Bautier, Recherches sur les routes de l'Europe médiévale, Bull, phil. et hist. 1960, 99-143; Franck Imberdis,

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KURT

1.

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*CAMMINUS

Normalwort für 'Weg' im Fr. ist chemin, ein Typus, der heute fast die ganze Galloromania beherrscht (ALF 262) 2 . Seine keltische Herkunft ( *camrmno- latinisiert *cammlnus mit Attraktion durch das Suffix - Ï N T J S , caminus zuerst im 7. Jh. in Spanien belegt) 3 ist unbestritten (FEW 2, 144 ; Corom; Gam) und nicht zufällig (vgl. C A R K T J S und L E T I C A ) . Seine Verbreitung „deckt sich großenteils mit dem Siedlungsgebiet der Gallier": außerhalb der Galloromania lebt es in it. cammino (fast nur obit, und Toscana), M. ciamin, engad. chamin, kat. carni, sp. camino, pg. caminho, als Reliktwort auch in lothrd. kem als Name der Römerstraße Metz-Trier (FEW 2, 147). Eine Fülle von Belegen seit dem Rolandslied dokumentiert seine Vitalität im Fr., und im Apr. spricht Guiraut Riquier von den amples camis ab trops de caminiera (caminier 'Vagabund' ist schon bei Marcabru bezeugt, Rn 2, 302). Als 1827 die ersten öffentlichen Eisenbahnlinien (St-Etienne-Andrézieux, St-Etienne-Lyon) eröffnet wurden - die Wagen wurden von Pferden gezogen und dienten dem Kohlentransport —, brach auch für chemin in der Zuss. chemin de fer ein neues Zeitalter an. Die Schiene selbst ist im Bergbau schon seit dem 16. J h . bezeugt, die Verbindung chemin de fer zur Bezeichnung der Schienen im Bergbau seit 1787 (FEW 2, 146 und Anm. 8). Der große Aufschwung setzte 1832 mit der Verwendung von Dampfmaschinen und der Zulassung von Reisenden ein. Chemin de fer als älteste Bildung triumphiert über zahlreiche Konkurrenzbildungen aus dem eigenen Lager (1824 chemin en fer, 1838 chemin à fer, 1829 chemin à ornières, 1826 chemin à barres, 1838 chemin à locomotive, 1838 chemin à vapeur, 1832 chemin à rail), aber auch über seinen Konkurrenten route (1826 route à ornières, route à barrières, 1829 route ferrée, 1826-1834 route en fer, 1834 route de fer, s. F E W 2, 147 η 8) und voie (voie de fer Proudhon 1848), von dem noch die Rede sein wird. Erst als chemin de fer die Bedeutung 'Zug' und 'Eisenbahn als Institution' (seit 1878) übernahm, konnte voie ferrée (seit 1872, F E W 14, 371b) den frei gewordenen Platz für 'Schiene' übernehmen (zum min-

2 3

Les routes médiévales coïncident-elles avec les voies romaines?, Bull. phil. et hist. 1960, 93-98; René de la Coste-Messelière, Chemins médiévaux en Poitou, Bull, phil. et hist. 1960, 207-223; zur Toponomastik jetzt Hans-Josef Niederehe, Straße und Weg in der gallorom. Toponomastik (Kölner romanist. Arbeiten, NF, Heft 38), Genf-Paris (Droz - Minard) 1967,203 S. (Unter J. M. Piel entstandene, gut fundierte Diss, zu den wichtigsten Bezeichnungstypen; umfassende Bibliographie). S. auch Hochuli 66-70 ; Niederehe 40-64 ; für Südfrankreich M. Gilles-Guibert 6-7. Später ist es in Spanien selten, s. Aebischer, R F E 35, 1951, 15.

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desten war chemin de fer doppeldeutig geworden) 4 . Die neue Blüte von chemin wirkte sich bei den Ablt. aus. Nfr. chemineau 'Vagabund, Wegelagerer' (seit Daudet 1895)5 ist ebenso wie chemineau 'Wanderarbeiter' (seit Lar 1898, auch cheminot) von altem chemin 'Weg' abgeleitet, wird jedoch von chemin de fer semantisch attrahiert, da viele Wanderarbeiter und Wegelagerer zum Bau der Eisenbahnlinien herangezogen wurden (daher cheminot 'Eisenbahnarbeiter oder -angestellter', seit ca. 1910, FEW 2, 145 und η 1)®. Chemineau 'Vagabund' und cheminot 'Eisenbahnangestellter' trennten sich ; sie wurden fortan — ähnlich wie voler 'fliegen' und voler 'stehlen' - als zwei verschiedene Wörter empfunden. Sie symbolisieren die beiden Schicksalswege des alten gallischen Wortes.

2. VIA

*CARRARIA

Wie *CAMMINUS ist VIA *CARRARIA eine lateinische Bezeichnung mit gallischem Stammwort (carr-). Elliptisches carraña ist in der Galloromania zuerst 813 in Cluny belegt; in Italien seit dem 10. Jh., in Spanien seit 804. „Die Bedeutung ist 'Weg, auf dem ein Wagen fahren kann', doch weisen die rom. Sprachen daraufhin, daß ursprünglich ein Weg ohne künstliches Bett damit gemeint war"; verbreitet ist der Typus CARRARIA von Rumänien (rum. cärare 'Fußweg') 7 bis Spanien und Portugal (sp. carrera 'Landstraße', pg. carreira, FEW 2, 414; Corom)8. Afr. mfr. charriere (12.-16. Jh.) bedeutet stets 'Fahrweg auf dem Feld oder im Wald'. Es steht in der Hierarchie zwischen dem sentier (s.u.) und dem chemin royal, wie Beaumanoir ausdrücklich bezeugt:

4

Eugen Lerch (ZrP 58, 520) sah in der Erfindung der Eisenbahn auch eine wesentliche Ursache dafür, daß quitter 'bedauernd verlassen' zum Normalwort f ü r 'verlassen' geworden ist, doch zu Unrecht, wie sehr viel ältere Belege (Ac 1694) beweisen ( F E W 2, 1476 η 38). 5 So F E W ; nach DDM ( D a u z a t - D u b o i s - M i t t e r a n d , Nouv. Diet. E t y m . 1964) cheminau schon 1853 bei Flaubert („mot de l'Ouest popularisé par le Chemineau de Richepin [1897]"). • Ang. chemineau 'Eisenbahnarbeiter' schon 1908 bei Verrier-Onillon (DDM). 7 Zum R u m . s. im übrigen E.Lozovan, Les 'Routes' de la Romania orientale, Rev. intern, d'onomastique, 9, 1957, 213-226. 8 Zu den westsp. Urkunden s. auch Wolf-Dieter Lange, Philologische Studien zur Latinität westhispanischer Privaturkunden des 9.-12. J a h r h u n d e r t s (Mittellat. Studien und Texte, Bd. III), Leiden u n d Köln (Brill) 1966, S. 201-205; zu mit. carraie, carraria, corredoria, u . a .

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sentiers (4 Fuß) ou quariere (8 Fuß) ou voie ou quemins plus grans, apelés quemins royal (16 oder 32 oder 64 Fuß) (TL s.v. chemin)9. Je nach der Gegend änderten sich allerdings die Maße. „Ein 14 Fuß breiter Weg, der Cotentin der Breite nach durchlief, hieß les Carrières Bertrán" (FEW 2, 414b). Im Süden wurde apr. carriera einerseits zu 'Gasse (in einer geschlossenen Ortschaft)' (dazu jedoch das Diminutivum apr. carrañón 'sentier, chemin de traverse'), andererseits zum 'Weg für die im Frühling und im Herbst wandernden Herden' (belegt erst npr. carrairo)10. Damit wurde das Wort semantisch von seiner etymologischen Verbindung mit C A B R U S völlig gelöst. Doch lebte apr. careira, charriera (in mit. Texten carreña, carreira, etc.) auch in der allgemeinen Bed. 'Weg, Straße' u . Mfr. nfr. carrière 'course du cheval' (seit 1534, Rabelais) und 'cours, durée d'ime vie' (seit D'Aubigné) scheinen aus dem Occit. entlehnt zu sein (so Wartburg, F E W 2, 415 a, wo die früher angenommene Entlehnung aus dem It. abgelehnt wird) ; daraus entwickelte sich seit dem 17. Jh. die moderne Bedeutung 'Karriere' (d. Karriere 'Laufbahn' ist zuerst 1769 und 1773 bei Lessing belegt, Schulz-Basler).

3.

VIA

Von den beiden Wegbezeichnungen mit gallischem Etymon blieb somit nur chemin in der ursprünglichen Bedeutung vital. Es wurde konkurrenziert durch eine ganze Reihe lateinischer Bezeichnungen, zunächst ganz besonders durch lt. VIA, das mit Ausnahme des Rum. in der ganzen Ro" 64 F u ß breit war die Julius-Caesar-Straße (A. Chéruel, Diet. hist, des institutions, mœurs et coutumes de la France 2, 1884, 1263 a); a m präzisesten ist Laurière, Gloss, du droit fr.: sentier 4 Fuß, carriere 8 F., voie 16 F., chemin 32 F., grand chemin royal 64 F. (s. Lac s.v. chemin). Lacurne zitiert weitere Stellen m i t genauen Angaben aus verschiedenen Coutumes (die Maße variieren). - S. auch Hochuli 7 4 - 7 9 (S. 75 skeptisch zur Βeaumanoirstelle) sowie eine detaillierte Beschreibung der Wege und Pfade der Baronnie v o n Troarn u m 1310 (L. Delisle, Etudes sur la condition de la classe agricole et l'Etat de l'agriculture en Normandie a u m o y e n âge, Paris 1903, 109-111). 10 Zu den „chemins réservés aux troupeaux transhumants" s. M. Gilles-Guibert 25-27. 11 S. die im F E W übersehenen Belege bei Raynouard 2, 338, und vor allem M. GillesGuibert 1 3 - 1 8 ; daneben auch apr. carral, ib. 17. - Hochuli 59-66. Zu mit. via carraricia (Lyon 1222) s. jetzt M.Bambeck, B o d e n u n d Werkwelt, BeihZrP 114, Tübingen (Niemeyer) 1967, Kap. I X Weg und Fahrzeug, Art. 4 (ib. Art. 5 auch zu mit. calceia und apik. cauchie; Art. 11 apr. camin carral 'Fahrweg' (Mars. ca. 1062), afr. (chemin) charral '(voie) praticable aux voitures' (12.-14. Jh.) etc.

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GALLOROMANISCHEN

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mania weiterlebt 12 . „Die Bedeutung ist meist 'Weg im allgemeinen', bewegt sich dann aber meist gegen 'Fußweg', besonders in den Ablt." (FEW 14, 379a). Im Fr. hat es die allgemeine Bed. 'Weg' seit dem Rolandslied (afr. veie 11.-13. Jh., voie seit Chrestien) bewahrt, doch verraten zahlreiche sekundäre und übertragene Bedeutungen die Tendenz, seinem starken Konkurrenten chemin auszuweichen (so auch im Sp., s. Corom 4, 720). Afr. mfr. voie 'pèlerinage' (13.-15. Jh.), 'expédition contre les sarrasins' (Aspremont-Joinville), 'galerie d'une maison' (VilHon) und viele andere Bedeutungen und Ablt. zeugen davon. In manchen Ablt. setzt sich der Konkurrenzkampf zwischen den beiden Wortfamilien fort: dévoyer (air. desvoier) setzt sich gegenüber nur sporadisch belegtem afr. mfr. descheminer eindeutig durch; aus dem Nebeneinander von avoier und acheminer blieb schließlich nur reflexives s'acheminer als wirklich vitale Form erhalten; enveierj envoyer (das mit etymolog. identischem I N V I A R E kollidiert) und encheminer gingen beide noch im 16. J h . unter; afr. forvoier, mfr. nfr. se fourvoyer wurden von nur einmal bei Cotgr belegtem forcheminer kaum bedrängt. Nicht durchsetzen konnte sich voie auch in der sekundären Bedeutung 'mal' (afr. voie 'fois', apr. via·, afr. totevoies 'toutefois', etc.) 13 und im Apr. bei der Entwicklung zum Ausruf via! (ebenso it.), das genetisch und semantisch dem deutschen weg! entspricht. Es wäre reizvoll, die 'Familienfehde' im einzelnen zu verfolgen - sie flammt im 19. Jh., wie wir gesehen haben, mit voie de fer und chemin de fer noch einmal auf. Der mindestens 1500 Jahre dauernde Streit zwischen den beiden Familien ist heute faktisch zur Ruhe gekommen; beide haben sich zäh behauptet und ihre Positionen bezogen. I n der alten Kernfestung 'Weg' weht allerdings unübersehbar die gallische Flagge. Darüber können auch erhaltene Wendungen wie par voies et par chemins mit einem nur scheinbaren friedlichen Nebeneinander nicht hinwegtäuschen.

4 . V I A STRATA

VIA (Kapitel 3) ist nicht nur der Ausgangspunkt für das in Kapitel 2 behandelte CAHRA R I A , sondern auch für drei weitere Weg/Straße-Bezeichnungen, die alle große Bedeutung gewonnen haben: V I A STRATA, V I A CAL12

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S. vor allem Hochuli 59-66 ; Niederehe 12-39 ; für Südfrankreich M. Gilles-Guibert 4-6. — Kit. Ï T E R 'Weg, Gang, Reise' betont die Bewegung. Im konkreten Sinn 'Weg' ist I T E R im Afr. ganz selten. Die konkrete Bedeutung ist wohl aus 'Marsch, Reise' übertragen (FEW 4, 824 a). Die Bedeutungsentwicklung von 'Weg' zu 'Mal' hat zahlreiche Parallelen, so ndl.

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c i A T A u n d VIA RUPTA. V I A STRATA (p.p. von STERNERE) bezeichnet die gepflasterte Straße (seit ca. 330 elliptisches STRATA als Substantiv) 1 4 . Die Pflasterung selbst ist seit dem 3. J h . vor Chr. bezeugt ; aber erst seit Augustus wurde sie in großem Maßstab gepflegt. Das spätere Schicksal von STRATA ist sachgeschichtlich bedingt. „ D a unter den germanischen Königen der Pflege der Straßen wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird [s. dazu auch unten, Kapitel 6], wird STRATA zwar im älteren Galloromanischen noch gebraucht, wird aber bei dem Wiederaufkommen des Straßenbaus durch andere Wörter ersetzt" ( F E W 12, 291 f.). Immerhin wurde es in Italien zum Normalwort (it. strada, wohl < Oberitalien, s. BattAl) und k a m als frühes lat. Lehnwort in germanische Gebiete (engl, street, d. Straße mit ahd. Lautverschiebung, wurde also vor 700 entlehnt) 1 5 . Außerdem lebt es mit der Bed. 'Landstraße' in ganz Graubünden (surselv. ueng. strada neben stradun, obeng. streda). Auf der Pyrenäenhalbinsel hingegen war STRATA wenig gebräuchlich: asp. estrada k a n n von Corom 2, 438a nur einmal belegt werden ; etwas vitaler scheint es im Akat. (in jurist. Texten, gestützt durch das Mit.) 16 und im Pg. gewesen zu sein. I m Afr. ist es vor allem zur Bezeichnung einer gut ausgebauten Straße immerhin vom Kolandslied bis zu Froissart belegt (afr. mfr. estree f. 'route, grand chemin') 1 7 , im Occitanischen sogar vom 12. J h . an bis in die heutigen Mundarten hinein (apr. estrada, pr. estrado, etc.). Seine Existenz wurde durch eine Reihe von Ablt. gestützt; die Zersplitterung der Bedeutungen dieser Ablt. im Afr. u n d Mfr. zeigt jedoch deutlich das Bild einer in Auflösung begriffenen Wortfamilie (s. F E W 12, 291). Unter dem Einfluß der it. Kriegstechnik wurde es im 16. J h . in lehnwörtlicher Form wieder zum Leben erweckt, ohne sich auf die Dauer durchsetzen zu können (mfr. nfr. estrade f. 'route,

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reis, d. fahrt, schweizd. dä eher 'dieses Mal' usw. (s. Spitzer, ZrP 40, 221 ; F E W 4, 379 b). Auf Meilensteinen entlang der römischen Heerstraßen schon in der 1. Hälfte des 3. Jh.s (Niederehe 64). Der Typus S T R A T A ist in den germ. Sprachen weitverbreitet, s. F E W 12, 292 a. S. noch Hochuli 26-59, 88-103; in Südfrankreich war S T R A T A sehr geläufig (auch in der Toponymie), s. M. Gilles-Guibert 7-10. S. auch Aebischer, R F E 35, 18 und 26. Zu den S T R A T A - O N s. A. Grenier, Archéologie galloromaine, in J. Déchelette, Manuel d'archéologie préhistorique, celtique et gallo-romaine VI a , Paris 1934, p. 176 bis 177 (zitiert von Aebischer, R F E 35, 26) und jetzt vor allem Niederehe 65-80 („früh erstarrt" S. 66). Nach Hochuli 41 allerdings soll streda im Mittelalter fast jeden Weg bezeichnet haben, „von der schmalen orbita bis zur breitesten Landstraße". Via und strata wechseln oft in demselben Text (ib. 42); zu Nordfrankreich s. jedoch S. 47 f., 58, 88.

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rue' (1482 - Cotgr 1611; Monet verzeichnet es 1636 noch als 'terme de guerre'). Ähnlich scheint es in jüngster Zeit dem erneuten Italianismus autostrade zu ergehen (seit 1925, DDM), das von autoroute (seit 1953, DDM) verdrängt wird.

5 . V I A CALCIATA

Besser erging es der (VIA) CALCIATA, die dafür etymologisch große Schwierigkeiten bereitet. Der älteste Beleg (iuxta calzata qui discurrit ad sala) von 800 (Kopie ca. 1095) stammt aus Spanien (RFE 35, 11; ib. weitere Belege aus dem 10. Jh., seit 946 Belege aus Katalonien, seit 898 als calciata s. f. in Südfrankreich, R F E 35, 27) 18 . Afr. chauciee (seit 12. Jh.) wurde seit Diez und noch von Wartburg als Ablt. von CALX 'Kalk' aufgef a ß t und dementsprechend definiert als 'route construite avec de la chaux' (FEW 2, 108b und 109b) 19 . Den Grund für diese neue Ablt. auf -ATA sieht Wartburg darin, daß man im Mittelalter wiederum anfing, die Straßen mit einem Steinbett zu versehen. Doch vertrat schon 1941 Dauzat die Ansicht, daß weder bei den römischen Straßen noch später Kalk als Bindemittel beim Straßenbau verwendet wurde (FiMod 9, 41-42). Aebischer untersuchte besonders die mit. Urkunden aus Spanien 20 und hob die Bedeutung der folgenden Textstelle von 988 aus Katalonien hervor: ,,iter publicum quem via calciata appellant... descendit usque in via calciata et revertitur contra solis ortu a latere meridiano recto itinere quem ad honorem et decorem transitu franchorum fuit saxorum fragminibus conculcata et diligentius confirmata" (RFE 35, 16). Etymologisch sei deshalb besser von *calciare 'mit den Füßen feststampfen' (von calcia 'Ferse', das im 5. J h . für kit. calx belegt ist, R F E 35, 22) auszugehen. Dieser Auffassung schloß sich Wartburg an (BIWtbg 1964). Gamillscheg blieb jedoch in der 2. Aufl. seines Etymologischen Wörterbuchs ( 1 1928; 21967) bei der alten Auffassung, mit der Bemerkimg, daß Wace ausdrücklich darauf hinweise, daß die Schotterung mit Kalksteinen geschehe (Aebischer hatte sich im oben 18

Ergänze einen Beleg von 819: „Per viam regiam quam stratam sive calciatam dicunt" (Musée des Archives départementales, 1878, p. 9; zitiert von P.-F.Fournier, L'origine du mot „chaussée", Bull. phil. et hist. 1960, S. 41). " S. auch Hochuli 84-88 (H. definiert 'die mit Kalksteinen gepflasterte Straße'). 80 Paxil Aebischer, Une possibilité nouvelle concernant l'origine du fr. „chaussée", esp. „calzada", R F E 35, 1951, 8-28, und L'étymologie du fr. „chaussée" et un passage du „Roman de Brut", Rev. Intern. d'Onomastique 5, 1953, 1 - 7 ; dazu F.Lecoy, R 74, 1953, 531.

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zitierten 2. Aufsatz mit diesem Beleg 2 1 auseinandergesetzt und a n seiner Auffassung festgehalten). Obwohl ich nicht sehe, wo Wace in diesem Beleg von Kalksteinen spricht, so ist doch immerhin von Steinen, von Sand u n d Kalk die Rede; auch Aebischers Beleg von 988 ist kein eindeutiger Gegenbeweis gegen die Etymologie C A L X 'Kalk'. Mit Gamillscheg von Kalksteinen zu sprechen ist doch wohl nicht so abwegig, da Aebischer selbst von einer fonte calciata (1003; fonte Calciata 1028, etc.) spricht ( R F E 35, 18f.), die zwar nicht mit der Fons de Petra (ib.) identisch zu sein braucht, auf keinen Fall aber auf *calciare 'feststampfen' zurückgeführt werden kann. Hier liegt doch offensichtlich CALX 'Kalk' vor, wie m a n auch immer die Stelle interpretiert. Aebischer selbst (!) schreibt zu fonte calciata: , , . . .le qualificatif de 'calciata' attribué à notre source, à notre ruisseau, doit signifier simplement 'caillouteux'..." ( R F E 35, 19). K a n n m a n dann nicht auch V I A CALCIATA ebenso erklären ('[mit Kalksteinen] beschotterte Straße') 2 2 ? Dazu kommt, daß die Familie von CALX ' K a l k ' in der Galloromania sehr vital weiterlebt, während C A L X 'Ferse' schon im Lt. von Tertullian an durch C A L C A N E U M ersetzt wurde (im Gallorom. lebt es nur in sekundären Bedeutungen weiter). Man wird also - vielleicht nicht zuletzt d a n k der Argumente, die Aebischer gegen seine eigene These liefert! - doch bei einem Ausgangspunkt C A L X 'Kalk' bleiben können oder müssen, obwohl P.-F.Fournier meint, ,,*calciata de calx 'chaux' s'élimine . . . sans résistance" 2 3 . Fournier selbst läßt alle bisherigen Erklärungen Revue passieren u n d wendet sich schließlich - einer Anregung von Henri Baulig folgend - einer neuen Erklärung zu, die zum mindesten nicht weniger fragwürdig ist als die früheren: Calcata / * calciata 'foulée' [Aebischer] et calceata > calciata 'buttée' [Dauzat] exprimeraient des idées non dépourvues de vraisemblance ; mais la première caractérise imparfaitement les routes empierrées, puisqu'elle convient aussi exactement aux simples chemins de terre, qui sont foulés, eux aussi; la seconde se rapporte à une particularité de la construction, qui ne se rencontre 21

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Par vais, par mores e par monz / Fist faire chauciees e ponz; / Bons ponz fist faire e chemins hauz / De pierre, od sablun e od chauz, Brut 2609-12. Aebischer hält diesen Wace-Beleg für eine sekundäre volksetymologische Ausdeutung (dazu ebenfalls skeptisch P.-F.Fournier, Bull. phil. et hist. 1960, 46). Diese Auffassung vertritt auch J.Vannérus, Calciata et calcipetra, Arch. lat. medii aevi 18, 1944, 5 - 2 4 ; dazu Aebischer, R F E 35, 26, der seinerseits noch auf die Parallele it. selciato 'route, chaussée' ( < silex) hinweist. P.-F.Fournier möchte it. strada selciata beiseiteschieben, aber ohne überzeugende Gründe (Bull. phil. et hist. 1960, S. 52 η 2). Pierre-François Fournier, L'origine du mot „chaussée", Bull. phil. et hist. 1960, 41-53 (Zitat S. 53).

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GALLOROMANISCHEN

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pas dans toutes les routes empierrées et qui ne serait observable, dans celles où elle existe, que passagèrement, durant la construction. L'épithète métaphorique calceatus 'chaussée', pour exprimer l'idée de dureté, de résistance, par comparaison du pied chaussé avec le pied nu, est attestée dès l'antiquité ; elle s'applique naturellement aux voies empierrées en les désignant par leur qualité essentielle et la plus frappante ; elle est à l'unisson de la dénomination concurrente chemin ferré, qui désigne également les voies empierrées par une métaphore relative à leur dureté (ib.).24 Es scheint mir, daß hier die Metaphorik psychologisch doch etwas überfordert wird. Hingegen sprächen der Hinweis auf befestigte Straße u n d die Parallele chemin ferré25 wiederum f ü r einen Ausgangspunkt 'Kalkstein, Schotter', eine Erklärung, die ich immer noch f ü r die wahrscheinlichste halte a e . Neben der Bed. 'gepflasterte Straße', so etwa beiWace: Par vals, par mores et par monz Fist faire chauciees e ponz (Brut 2610, Keller, Vocab. S. 221), h a t chauciee schon im Afr. häufig die Bed. 'partie empierrée et bombée d ' u n e route', eine Bedeutungsverengimg, die nach F E W 2, 109 η 5 eint r a t , als m a n begann, f ü r die Bequemlichkeit des Fußgängers durch Anlegen von Bürgersteigen zu sorgen. Deshalb ist öfters von der chaussée d'un chemin die Rede, wie z . B . im Aiol: Desfaite ert le cauchie del grant cemin plenier (V. 6581, TL). D a ß der Akzent auf der Steinpflasterung liegt (dies spricht ebenfalls f ü r die Etymologie CALX ' K a l k ' [ = 'Kalkstein'], geht auch aus d e m folgenden Beleg bei Beaumanoir hervor: il est certaine coze que cil l'empire (le quemin) qui deffet les cauchïes qui furent fetes por le quemin amender (25, 12, TL). 24

Diese These fand ihren Niederschlag im Lar 1960: chaussée 'route durcie par l'empierrement comme le pied de l'homme par la chaussure'. " S. dazu Niederehe 93-101 (gegen Dauzat nicht als Metapher, sondern sachgeschichtlich aus der Verwendung von 'scories de fer' motiviert). Vgl. auch chemin perré 'chemin empierré' etc. (Niederehe 81 ff.). •· Nach Redaktion dieses Kapitels erschien die Arbeit von H.-J. Niederehe, Straße und Weg in der galloromanischen Toponomastik, 1967, der S. 146-180 den Typus C A L C I A T A ausführlich untersucht und aus sach- und wortgeschichtlichen Gründen ebenfalls ('endgültig') zur Etymologie C A L X 'Kalk' zurückkehrt. Offen bleibt lediglich die Frage, ob von der Vorstellung 'Kalkstein, Schotter' (wie oben vermutet) oder von 'Kalk' selbst (so Niederehe) auszugehen ist.

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Hier knüpft auch die Bed. 'Damm (an einem Wasserlauf oder einem Teich)' an (seit 13. Jh.): aus chaudes que li os avoit faites pour bouchier le flum (Joinville 138f., TL). Chaussée ist, auf jeden Fall, unbekümmert darum, ob es zu C A L X 'Ferse' oder zu C A L X 'Kalk' gehört, in seiner Ausgangsbedeutung 'eine mit Schotter gepflasterte Straße', somit ein später Konkurrent von STRATA27. Erhalten ist jedoch auch chaussée nur in den beiden schon afr. (sekundären) Bed. 'Straße (im Gegensatz, zum Bürgersteig)' wie in folgendem Beleg aus J.Romains: Ils occupaient la chaussée et les trottoirs, laissant à peine le passage aux voitures (Hommes de bonne volonté, XVI, p. 169, Robert), und 'Damm, Dammstraße' 2 8 . Mit dieser Bed. fand Chaussee um die Mitte des 18. Jh.s auch in Deutschland Eingang. Die erste deutsche Chaussee wurde 1753 von Nördlingen nach Öttingen gebaut. Schlözer schreibt 1779: Wir brauchen dieses wildfremde Wort in Deutschland durchgängig, vermutlich aus Dankbarkeit gegen die Nation, die uns die Sache gelehrt hat. Sonst aber haben wir einen deutschen überaus schicklichen Namen dazu — StraßenDämme und Sulzer 1780 in seinem Tagebuch: Die ehemals schönen Dammwege (Chaussées) von Freyburg aus fangen an, wegen Mangel der Unterhaltung, etwas schlecht zu werden (Trübners Deutsches Wörterbuch 2, 1940, S. 3).

6 . V I A ETJPTA

Die 3. (bzw. 4.) aus der Verbindung mit VIA entstandene Ellipse (fr. route) ist semantisch anders gelagert und kulturhistorisch von besonderem Interesse. Ihre Entstehimg schiebt sich zwischen die römische S T R A T A und die hochmittelalterliche CALCIATA. Zwar ist V I A M RTTMPERE schon kit. belegt, doch kam ( V I A ) R U P T A erst in der Merowinger- und Karolingerzeit - mit dem zunehmenden Verfall des alten gut ausgebauten römischen Straßennetzes - recht zum Zuge. RTXPTA bezeichnete zweifellos zuerst einen Weg, 27

28

Für Überlandstraßen finden wir auf der Pyrenäenhalbinsel im 9.-10. Jh.: „strata qui discurrit ad Castella" (947), „calciata Francischa" (979), „carrera asturiana" (1080), „via castellana" (1080), s. Aebischer, R F E 35, 18, und zum Verhältnis STRATA / CALCIATA ib. 26-27. Vgl. auch den Typus LEVATA und seine sachgeschichtlichen Hintergründe (Niederehe 136 ff.).

' W E G ' IM

GALLOROMANISCHEN

99

der durch den Wald durchgebrochen wurde, indem m a n Gestrüpp u n d Niederholz niederriß (s. F E W 10, 573b, dem wir hier folgen), steht also im Zusammenhang m i t der U r b a r m a c h u n g 2 9 . I m Afr. u n d Mir. bedeutet demnach rote 'chemin percé dans une forêt' ; in der Bed. 'sentier' lebt es besonders in westfr. Mundarten weiter 3 0 . Aufschlußreich ist die präzise semantische Beschreibung von D u Fouilloux in seiner Vénerie: Il y a differences entre routes et voyes: car les voyes s'entendent pour les grands chemins, et les routes se prennent pour les petits sentiers qui traversent les for[es]ts. Et quand le veneur verra aller un cerf le long d'un grand chemin, il doit dire que le cerf va la voye; et s'il le veoit aller le long des petits sentiers, doit dire que le cerf va la route (Vénerie XXXVII, Gdf). I m Mittelalter blieb (trotz der durch chauciee dokumentierten Anstrengungen) der Zustand des öffentlichen Straßennetzes äußerst schlecht, u n d die Wagen blieben oft im Schlamm stecken: les voies publiques étaient en si mauvais état, au moyen âge, que le service de corvée imposé aux paysans pour rentrer les foins du seigneur devait, par une stipulation expresse, s'effectuer avec des chariots à quatre roues, attelés de seize et même de vingt et un bœufs [!]. S1 Cette situation déplorable se prolongea fort longtemps. Les Etats généraux de 1484 s'en plaignaient vivement: En ce royaume, disaient leurs cahiers de doléances, il y a plusieurs ponts, passages et chaussées, pour l'entretenement desquels se cueillent et sont payés coutumes, acquits, travers et péages, et néanmoins lesdits ponts et chaussées sont en ruine (A. Chéruel, Diet. hist, des institutions, mœurs et coutumes de la France 2, 1884, S. 1264a). Sprachliche Zeugen f ü r diese Zustände sind die Ablt. dérouter (desroter schon 1395) 'dégager (un char embourbé)' u n d ebenfalls noch in m a n c h e n M u n d a r t e n bezeugtes enrouler 'embourber (d'une voiture)' ( F E W 10, 571 a ; 572a). Gesetze u n d Weistümer enthielten Bestimmungen, „wonach das Überpflügen der Straßen oder die Beseitigung der E r d e . . . g e b ü ß t u n d die auf der überpflügten Straße etwa aufgegangene Saat wieder entfernt werden m u ß t e " (Hochuli S. 14). Eine semantische Wandlung u n d d a m i t ver29 30

S. auch Hochuli 79-84; Niederehe 102-109. ( V I A ) E U P T A ist aus Nordfrankreich nach dem Süden gelangt (besonders ins frpr. Gebiet, ohne indessen heimisch zu werden (s. M. Gilles-Guibert 4 und 10f.). Eine semantische Parallele liegt vor in nfr. brisée 'route dans l'intérieur de la France sur laquelle il est permis aux troupes de marcher et le long de laquelle il y a des étapes' als militärischer Ausdruck 1765 in der Encyclopédie (6, 16). Dazu noch in Fosse-lez-Namur brizéye 'route de macadam' und in vogesischen Mundarten berhie (etc.) 'sentier tracé dans la neige' (FEW 1, 532a). In Südamerika beruht sp. picada 'Pfad (durch den Urwald)' auf derselben Vorstellung. Vgl. auch schweizd. einen Weg brechen (FEW 1, 535 η 5).

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Κ ÜBT B A L D I N G E R

bunden ein neuer Aufschwung bahnte sich für route erst mit dem erneuten Ausbau des Straßennetzes seit dem 16. Jh. an (unter Sully, dann besonders unter Colbert auf Grund der Ordonnance von 1664). In afr. Zeit bezeichnet rute nur ein einziges Mal ausdrücklich einen breiten Weg: Meüe esteit sa grant gent tute, Mult esteit large e grant la rute (Wace, Brut 12462, s. Keller S. 221).32 Erst im 16. Jh. finden sich Zeugnisse für den Ausbau der Waldwege zu großen Straßen, so bei Fauchet: Il est vray que les gens de bois et de forests appellent routes ces longues allées et tranchis faits au travers des forests, comme celle que le feu roy François I e r fit faire au partir de Ville-Neufve St-George, pour tirer à Melun au travers de la forest de Senars (zitiert bei Littré, nach Lac). Der Ausbau der Straßen der „hauptsächlich mit Rücksicht auf die mehr und mehr Bedeutung erlangenden Postanstalten" erfolgte (Hochuli S. 14), führte schließlich unter Colbert zu einer weiteren Aufwertung von route : es entsteht die grande route 'route principale' (Ac 1694; später grand'route Ac 1835-1935), die route royale 'route exécutée aux frais de l'Etat' (1811Ac 1878), die route impériale (1870; Lar 1875), schließlich die route nationale (seit Lar 1875) mid in neuester Zeit die autoroute (seit 1953), die immer mehr das Lehnwort autostrade (s. oben Kapitel 4) verdrängt.

7. R U G A

Mit R U G A stoßen wir zum ersten Mal auf eine Straßenbezeichnung metaphorischer Herkunft. Trotz seiner weiten Verbreitimg, die von Portugal bis in den Balkan reicht33, liegt der geographische Ausgangspunkt der Metapher (lt. R U G A 'Runzel' > 'Furche' 34 > fr. rue 'Straße (in einer Ortschaft)' in Nordfrankreich. Der älteste Beleg findet sich (mit hyperkorrektem -C-) in einer Urkunde, die Pippin im Jahre 764 an das Kloster St-Denis gerichtet hat: „per quam illa ruca consuetudo est trahere, quam 81

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33

34

Leider sagt Chéruel nicht, um welche stipulation es sich handelt. Die Angabe ist deshalb nicht nachprüfbar. Ein zweiter Beleg (,,Ne tindrent rute ne chemin" Rou I I I 2722) besagt nichts über die Breite (s. Keller). Paul Aebischer, Ruga ,,rue" dans les langues romanes, Rev. Port, de Filologia ( = R P F ) 4, 1951, 170-185; s. auch G. Rohlfs, Italienische Straßennamen, Archiv 185, 1948, S. 99. - Hochuli 70-74; Niederehe 110-135. Diesen Übergang hat Niederehe U l f . mit Parallelen (z.B. *RICA) wahrscheinlich gemacht. Die urspr. Bed. ist also "(Weg mit einer) Karrenfurche'.

'Weg' im G a i j l o r o m a n i s c h e n

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ad ipsam villam Teudbertus tenuit" (RPF 4, 178). Im Fr. ist es seit den ältesten Texten (seit Alexius) in der Allgemeinsprache fest verankert: fr. rue 'chemin bordé de maisons, de murs, dans une ville, etc.' (FEW 10, 543b). Seine Ausstrahlung von Nordfrankreich aus nach Südfrankreich (apr. rua, F E W 10, 546 η 11), in die Pyrenäenhalbinsel (asp. rue,, ruga, arruga Corom 1, 287 b; pg. rua), nach Italien (rua, ruga seit dem 12. Jh.) und von hier aus über Albanien bis Griechenland dürfte, wie Aebischer sicher mit Recht annimmt, auf verschiedenen Wegen erfolgt sein. Nach Oberitalien kam es durch nachbarlichen Kontakt schon zu Beginn des 12. Jh.s (RPF 4, 183). Die Normannen brachten das Wort nach Süditalien (mit Roger II, R P F 4, 185). Am meisten aber dürften die Kreuzzüge zu seiner Verbreitung beigetragen haben ; nach Spanien dürfte es besonders auf dem Pilgerweg nach Santiago gelangt sein (auch Belege aus Santander und Oviedo R P F 4, 177 sprechen dafür; dies könnte auch den gask.bask. Vokalvorschlag in sp. arruga erklären ; Aebischer weist darauf hin, daß in Katalonien Belege fast völlig fehlen, trotz eines sehr alten Beleges von 1010 aus San Cugat del Valles bei Barcelona, R P F 4, 177, 179). Das Normalwort sp. calle (s. Kapitel 8) konnte rua/ruga nie bedrohen. Die ruaFormen stützen die Migrationsthese ; die ruga-Formen dürften dem Einfluß des Mit. zu verdanken sein 35 . I m Fr. wurde rue zum Normalwort für die Straße innerhalb einer Ortschaft. Rue und route, ebenso wie grand'rue (seit 1802, F E W 10, 544a) und grand'route (s. Kapitel 6), bilden sekundär somit eine semantische Opposition 'Straße in einer Ortschaft' / 'Straße über Land'. Die ältere allgemeine Bed. '(Feld)Weg' lebt jedoch in Mundarten (besonders in der Normandie) weiter. I n anderen Mundarten kam rue semantisch mit chaussée in Konflikt (FEW 10, 544 a), ebenfalls eine Folge der früheren allgemeineren Bed., die auch durch die ON gestützt wird (Niederehe 110-135). Das Diminutivum afr. ruele, mfr. nfr. ruelle bezeichnet der Grundbedeutung von rue entsprechend eine kleine, schmale Gasse (in semantischer Opposition Stadt/Land zu sentier)3e.

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Aebischer vermutet, daß in der Entlehnungszeit die semantische Verwandtschaft mit ruga 'Runzel' noch bewußt gewesen sei (RPF 4, 181), was ich für höchst unwahrscheinlich halte. S. noch Niederehe 111. Im Norm, (entsprechend der norm. Bed. von rue) konnte ruelle auch 'sentier' bedeuten (1508, Gaillon); in diesem Falle unterscheiden sich sentier und ruelle in anderer Weise ("freier Pfad' / 'von Hecken eingefaßter Pfad'), vgl. morv. ruelle 'chemin étroit bordé de haies et très ombragé' (FEW 10, 544 a). - S. auch Hochuli 19-22; für Südfrankreich M. Gilles-Guibert 12 f.

102

KURT BALDINGER 8 . Η A Τ,Τ,TS

Dem fr. rue entspricht im Sp. als Normalwort calle37, das auf lt. C A L L I S 'schmaler Fußweg' zurückgeht (aus dem Sp. entlehnt bask. kale). Die lat. Ausgangsbedeutung ließ andere semantische 'Wege' offen. Rum. cale f. reicht von 'Weg, Straße' (auch calea robilor 'Milchstraße') bis zu 'Bahn' (auch cale feratä 'Eisenbahn'), 'Reise' und 'Ausweg'. In Italien setzt calle m. als provinzielles (und poet.) Wort neben dem Normalwort strada mit der Bed. 'strada campestre piuttosto stretta' die lat. Bed. fort. I n Katalonien bedeutet call m. mundartlich 'Bergpfad' (ALCa 428), nach Corom 1, 604 η 1 'camino estrecho entre dos paredes'. I n der Galloromania ist JUSTE< F .

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'KRUG'

justitia vor allem in der Zuerteilung dessen bestehe, was einem gerechterweise nach Maßgabe der christlichen Liebe zustehe, hat u . a . der heilige Ambrosius unter Zugrundelegung u n d Ausgestaltung von Ciceros E t h i k in seinen weit verbreiteten u n d viel gelesenen „De officiis ministrorum" entwickelt: Si n u d u m vestías, te ipsum induis justitiam3i. An einer anderen Stelle heißt es weiterhin mit Bezug auf die Armen: Denique David ait: Dispersit, dedit pauperibus, justitia eius manet in aeternum. Justus miseretur, justus commodat 3 5 . Nach dem rechten Maße und zur rechten Gelegenheit zu geben wird als Wesensmerkmal aus dem Begriff der justitia selbst hergeleitet: Justitiae autem pietas est prima in Deum, secunda in p a t r i a m . . . item in omnes quae et ipsa secundum naturae est magisterium. Siquidem ab ineunte aetate, . . . vitam amamus t a m q u a m Dei munus, patriam parentesque diligimus, deinde aequales, quibus sociari cupimus. Hinc Caritas nascitur, quae alios sibi praefert, non quaerens, quae sua sunt ; in quibus est principatus justitiae ... opportunitatem noscere et secundum mensuram reddere, sit justitiae36. Di e justitia wird im weiteren Verlauf der Ausführungen zum Oberbegriff für Freigebigkeit: Justitia igitur ad societatem generis humani et ad communitatem refertur. Societatis enim ratio dividitur in duas partes, justitiam et beneficentiam quam eamdem liberalitatem et benignitatem vocant ; justitia mihi excelsior videtur, liberalitas gratior 3 7 . Die justitia besteht in guten Werken: in operibus autem aut malis ini quitas aut bonis justitia est 3 8 . Justitia als Freigebigkeit in guten Werken wird noch einmal besonders f ü r die Priester eingeschärft. Doch sollen sie dabei auch das richtige Maß beachten: Liquet igitur debere esse liberalitatis modum, ne fiat inutilis largitas. Sobrietas tenenda est, maxime sacerdotibus, u t non pro jactantia sed pro justitia dispensent. Nusquam enim maior aviditas petitionis. Veniunt validi, veniunt nullam causam nisi vagandi habentes et volunt subsidia evacuare pauperum, exinanire s u m p t u m ; nec exiguo contenti, maiora q u a e r u n t . . . His si quis facile deferat fidem, cito exhaurit pauperum alimoniis profut u r a compendia. Modus largiendi adsit, u t nec illi inanes recedant neque transscribatur vita pauperum in spolia fraudulentorum. E a ergo mensura sit, u t neque humanitas deseratur nec destituatur necessitas 39 . Solche Sätze sind bezeichnend für die frühchristliche Praxis der Liebestätigkeit. Neben den wirklich Bedürftigen gab es auch andere, die sich gute Gaben im N a m e n der christlichen justitia auf unredliche Weise ergaunern möch81 88 88

Ambrosius, De officiis ministrorum I, 11, 39. Ibid. I, 27, 127, 129. Ibid. I, 29, 142.

86

Ibid. I, 25, 118. Ibid. I, 28, 130. 8 » Ibid. II, 16, 76.

112

MANFRED

BAMBECK

ten. Besonders hervorgehoben wird vom heiligen Ambrosius die Gastfreundschaft ; schon ein gereichter Trunk kalten Wassers wird einst von Gott belohnt werden: Tanta autem est apud Deum hospitalitatis gratia, ut ne potus quidem aquae frigidae a praemiis remunerationis immunis sit 40 . Natürlich begegnet auch sonst in der frühchristlichen Literatur justitia in Kontexten, die zeigen, daß das Wort hier die konkrete Ausübung der Gerechtigkeit meint, die konkrete Ausübung der Gerechtigkeit durch die Schenkung von Kleidern, durch die Speisung mit Brot u.ä. So liest man z.B. in einem Briefe des Sulpicius Severus: Dicis forsitan: doce me ergo quid sit justitia ... Hoc est quod dicit: recede a malo et fac bonum ... qui dixit „recede a malo", ipse dixit ,,et fac bonum". Si a malo recesseris et non feceris bonum, transgressor es legis, quae non t a n t u m in malorum actuum abominatione, sed et in bonorum operum perfectione completur. Neque enim hoc solum tibi praecipitur ut vestitum suis non spolies indumentis, sed et u t spoliatum operías tuis, neque ut habenti panem non auferas suum, sed et non habenti tuum libenter impertías 41 . Bei der Lektüre solcher Texte wird klar, wie es im Mittelalter dann zu den Bedeutungen justitia pañis, justitia vini, justa pañis, justa vini kommen konnte (s. oben Belege). Auch bleibt dabei zu beachten, daß bereits in der Bibel gelegentlich justitia konkret die aus der Gesinnung der Gerechtigkeit entspringende gute Tat in der Form des Almosens meint 4 2 : Nil proderunt thesauri impietatis: justitia vero liberabit a morte (Prov. 10,2). Oder: Attendite ne justitiam vestram faciatis coram hominibus, ut videamini ab eis... (Mat. 6,1). Beachtet man also die lateinische und die mittellateinische Überlieferung, müssen zur Erklärung von ft. juste f. „ K r u g " und apr. justa f. „id." sowohl einerseits lt. justa η. pl. und mit. justa f. als auch anderseits lt. und mit. justitia in ihrer hierher gehörigen semantischen Entwicklung herangezogen werden. Bei fr. juste apr. justa handelt es sich also um die Konkretisierung und Spezialisierung eines ursprünglichen Abstraktums: justa bedeutet ja von Haus „Gerechtsame". Im Laufe der Zeit fand eine Einengung der Gerechtsame auf die Gerechtsame auf Brot und die Gerechtsame auf Wein (Bier) statt 4 3 . Das heißt, die Brotgerechtsame und die « Ibid. II, 21, 107. 41 Sulpicius Severus, ep. II, Ausg. Halm, Vindobonae 1866, 231, 10. " Albert Biaise, Dictionnaire latin-français des auteurs chrétiens, Strasbourg 1954 sub justitia. 18 E s wäre reizvoll, den kulturgeschichtlichen und rechtshistorischen Hintergrund dieser semantischen Entwicklung einmal deutlicher herauszuarbeiten. Schon die hier vorgeführten Zeugnisse lassen auf einen maßgeblichen Anteil der Klöster

F R . )JUSTE< F. ' K R U G '

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Weingerechtsame (Biergerechtsame) war eben von einem gewissen Zeitpunkt an eine ganz bestimmte Ration an Brot und ein ganz bestimmtes Quantum an Wein. Bis in die Volkssprache gedrungen ist dabei lediglich die Spezifizierung auf den Wein (Bier) 44 : ein bestimmtes Maß an Wein (Bier), ein Gefäß, das dieses bestimmte Maß an Wein (Bier) in sich faßt, eben ein Krug. Den hier aufgezeigten semantischen Weg durchläuft nun nicht nur justa, sondern, wie die Texte zeigen, parallel daneben auch justitia. Dabei ist justitia gleichfalls in der Bedeutung „ K r u g " in die Volkssprache übergegangen: adauph. justises „esp. de brocs", lang .justice „pot à vin" (Mén. 1650-1694) (FEW 5, 88b) 45 . Demzufolge gehen fr. juste und apr. justa auf lt. justa η. pl. „Gerechtsame" zurück. Das fr. und apr. Wort müssen also im F E W unter einem eigenen Etymon J U S T A η. pl. „Gerechtsame" aufgeführt werden. Desgleichen sind adauph. justises „esp. de brocs" und lang, justice „pot à vin" von dem Etymon J U S T U S ZU trennen und zum Etymon J U S T I T I A ZU stellen; denn, wie wir gezeigt haben, handelt es sich bei der Bed. „Behälter" in der Tat um eine Konkretisierung der Bed. „Gerechtigkeit" aus christlicher Provenienz. Auch sollte bei juste auf die parallele semantische Entwicklung unter J U S T I T I A hingewiesen werden und unter adauph. justices und lang .justice (s. oben) auf die Entsprechung unter J U S T A η. pl. Bei beiden Wörtern handelt es sich um den interessanten Reflex von Kulturgeschichte und religiöser Gesinnung, wobei Antikes {justa, Cicero) und Christliches (justitia, Bibel) einander durchdrungen haben.

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schließen. Übrigens h a t auch caritas „Liebe" im Mit. die konkrete Bedeutung „Liebeserweisung" angenommen, insofern mit dieser Liebeserweisung gleichfalls ein bestimmtes Getränkemaß gemeint ist. F ü r das alte England hat W . H . Prior (Archivium Latinitatis Medii Aevi 1, 1925, 155) geltend gemacht: „Moreover a t Abingdon a gallon and a half were equal to rather more t h a n 2 caritates." Und er f ä h r t fort: „The justa, when used for the a m o u n t of the daily allowance, seems to have been generally 1 % gallons of ale." Ibid. A. 2 aus Dugdale I I , 30: duas justas cervisiae, quarum quaelibet continebit duas caritates, quarum caritatum sex faciunt sextarium regis. Anscheinend wurde von einem gewissen Zeitpunkt ab in den Klöstern und auch sonstwo ausschließlich in Wein (Bier) die Gerechtsame gegeben. Charles Boucaud, Les pichets d'étain, mesures à vin de l'ancienne France, Paris 1958, 255: „ L a J U S T I C E ; au X V e siècle, contenait 3 chopines à la mesure de St.-Denis, on appelait aussi 'justice' la ration journalière de vin que recevaient, dans u n couvent ou dans u n chapitre, les religieux ou les chanoines." F ü r diese Angabe bezieht sich Boucaud auf Victor Gay (Glossaire archéologique du Moyen Age et de la Renaissance, t . II, texte revu et complété par Henri Stein, P. 1928), der sich auf Du Cange beriefe. Eine Nachrüfung ergab, daß weder Du Cange noch Gay ein hierher gehöriges fr. justice kennen.

Zum Wortschatz der albanischen Mundarten in Kalabrien E QUEM Ç A B E J TIRANA

In seinen bahnbrechenden, die Beachtung der Wörter und Sachen mit der Terrain- und der historischen Forschung in vorbildlicher Weise verbindenden und von dem Geist eines wahren Humanismus beseelten Arbeiten hat Gerhard Rohlfs bei dem Studium der Sprachen der Apennin- und der Balkanhalbinsel mit Recht auch das Albanische öfters herangezogen. Diese Sprache erscheint tatsächlich durch ihren altertümlichen Charakter, ihre Lage gleichsam in der Mitte zwischen den beiden Gebieten und ihre Ausläufer einerseits nach Griechenland, andrerseits nach Süditalien und Sizilien hinüber geschichtlich wie geographisch in besonderem Maße geeignet, die mannigfachen Beziehungen der zwei Halbinseln zu beleuchten. Die vorrömischen Sprachverhältnisse in Süditalien und ihre sporadischen Reste in den jetzigen Mundarten dieses Gebiets finden hier so in manchem ihre Entsprechung. Die dorisch-nordwestgriechischen Lehnwörter des Albanischen stimmen in ihrer Form zum Teil mit deren Fortsetzern in Unteritalien überein, sind daher nicht ohne Bedeutung für die Frage der Kontinuität des altgriechischen Sprachguts in jenen Landen. Von den lateinisch-griechischen Sprachbeziehungen der Antike und den späteren romanisch-byzantinischen des Mittelalters haben sich in dieser Sprache Spuren erhalten, die auch für die Nachbaridiome von Belang sind. Endlich gehören die Erscheinungen des Balkansprachbundes hieher, die auch das Albanische umfassen und - wie gerade Gerhard Rohlfs gezeigt hat sich bis nach Süditalien erstrecken. Hier will ich nicht auf diese Fragen eingehen und den Beitrag unseres Jubilars zu ihrer Lösung zu beleuchten versuchen 1 , sondern an eine andere Seite seines wissenschaftlichen Werkes anknüpfen. Bekanntlich hat der 1

Vgl. dazu Giotto XXV (1936) 50ff., Studii si Cercetäri lingvistice X (1959) 4 554 ff., Buletin i Universitetit Shtetëror të Tiranës. Seria Shkencat Shoqërore XVI (1962) Nr. 4, 120f., 137f., Studia albanica I (1964) 172f., Rendiconti 1st.

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Eqrem Ç a b e j

verehrte Meister in seine f ü r den „Sprach- u n d Sachatlas Italiens u n d der Südschweiz" vor J a h r e n durchgeführten Dialektaufnahmen auch eine albanische Sprachinsel, die Mundart von Acquaformosa in der Provinz Cosenza in Kalabrien ( P u n k t 751) einbezogen u n d ein reiches Material zutage gefördert. Aus diesen mit seltener Akribie angestellten Erhebungen möchte ich n u n einige Elemente des Wortschatzes herauslesen u n d sie im Zusammenhange betrachten. Die Wahl ist in der Überzeugung getroffen, d a ß in der v o m J u b i l a r vertretenen Auffassung der Sprache als ein E r zeugnis der volkstümlichen K u l t u r der Wortschatz als ein getreues Zeugnis der materiellen u n d geistigen Entwicklung eine überragende Stellung im Sprachsystem einnimmt. Die M u n d a r t e n der vorwiegend im 15. u n d 16. J a h r h u n d e r t , also zur Zeit der ersten Türkenkriege gegründeten, in Unteritalien u n d Sizilien verstreuten albanischen Siedlungen sind f ü r die Geschichte des Albanischen v o n besonderer Bedeutung. Sie reichen einerseits in eine Sprachstufe zurück, in der die Dialektgliederung nicht bis zur jetzigen Entwicklung gelangt war. Andrerseits leben sie als Sprachinseln mit n u n m e h r zweisprachiger Bevölkerung fort, in denen die lange u n d dauernde Trennung von dem ursprünglichen Grundstock u n d der Einfluß der romanischen Umgebung zu einer eigenständigen Entwicklung geführt haben. D a s alles spiegelt sich n u n besonders im Wortschatz wider. Auch da h a t sich aus E r haltung u n d Neuerimg, aus mitgebrachtem, selbständig geschaffenem u n d neuerworbenem Sprachgut ein eigener Dialekttypus ergeben, der keiner der M u n d a r t e n des Mutterlandes vollständig gleich ist. Hinzu kommen die Verluste, indem m i t der Ansiedlung in einer neuen, von der der alten Heim a t recht verschiedenen Umwelt mit der Aufgabe einiger Elemente der früheren Lebensweise, des Landlebens u n d der materiellen K u l t u r , des H a u s h a l t s u n d Hausgewerbes, der Kleidung usw. mit den Objekten zusammen auch deren Bezeichnungen verlorengingen. Der albanische Wortschatz dieser Kolonien, auf den ich mich in diesem Aufsatz beschränke, geht in der H a u p t s a c h e auf die im südwestlichen Teil des Mutterlandes heimischen südtoskischen M u n d a r t e n des ausgehenden Mittelalters zurück, welche auch f ü r das in Griechenland gesprochene Albanisch die Grundlage bilden. Darauf weisen in dialektgeographischer Hinsicht Wortformen wie die in Acquaformosa üblichen mê merr slsh „mi ha d a t o il malocchio", dreq „gerade" (sonst drejt), xerku „der N a c k e n " Lombardo di Scienze e Lettere Yol. 99, 1965, 216ff., Les probèmes fondamentaux de la linguistique balkanique, I e r Congrès International des Etudes Balkaniques et Sud-est Européennes Sofia 1960, S. 47 ff.

D I E ALBANISCHEN MUNDARTEN IN

KALABBIEN

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(für sonstiges xverhu zverku), fendia „die Ahle", gjishtl'a „der Fingerhut" mit veshl'at „die Nieren", „das Kreuz" („Leitsuffix" -le), hënza honza „der Mond", kul'ish „junger Hund", mbrizim „Mittagsrast des Viehs", ngahër „immer", pishJc „Fisch" PL pishqit, i zgaval'isin „rammontare la terra intorno alla pianta" usw. ; in zeitlicher Hinsicht die an Zahl geringen türkischen Elemente wie manushaqe „Veilchen", masür „Spule" in hékuri masûrëvet „Spulrad", sndüqi „Truhe, Kiste", trokomél „Mais" (eig. „Türkenhirse"), die zur ältesten Schicht des türkischen Lehnguts des Albanischen gehören. Neben dieser spezifischen, mehr für die Herkunftsfrage relevanten ist nun aber im kalabrischen und sonstigen Italoalbanisch eine andere Wortschicht vertreten, die auf einer älteren und breiteren Grundlage beruht, für die Sprachgeschichte daher bedeutender ist. Dahin gehören unter anderem Wörter wie bari dellit „Wegerich" (eig. „Aderkraut"), bars „schwanger; trächtig", lopa bonet „die K u h ist stierig", dorza „Büschel", girdhu „der Abgang beim Sieben", grériza „Hornisse", grïfçi „Elster", gjithséj „alles", gjùfêza „Klöppel der Kuhglocke", hesèt „ist brünstig", karoqa „Melkeimer", mrüri „Messerstiel", rondi „Lab", i reshkt „ranzig", shkilqén „lustrare (le scarpe)", shkrêpa „feine Kleie, mit Kleie vermischtes Mehl", shura „Sand", verr verre „Weißpappel; Erle". Es ist wortgeschichtlich von Interesse, daß lexikalische Elemente dieser Art im Griechisch-Albanischen wiederkehren, im Toskischen selbst oft nur sporadisch auftreten, andrerseits aber in früheren und jetzigen nordalbanischen Mundarten erscheinen, daher als gemeinsprachlich betrachtet werden können. Von diesen Bestandteilen sind nun einige, wie krip „Haar", prirem „wende mich", regj „König", shtúara „aufrecht (stehend)", tekú „wo, wohin", tètim „kalt, Kälte", Inèzót „Gott", gjeile in der Bedeutung „Leben" usw. in bemerkenswerter Weise dem kalabrischen (und sonstigen) Italoalbanisch und dem nordalbanischen Schrifttum des 16. und 17. Jahrhunderts gemeinsam, die beide den extremen Randgebieten, Bartolis aree laterali, angehören. So ist es auch wohl kein Zufall, daß der Palmsonntag in den kalabroalbanischen Mundarten „Lorbeersonntag" (e díala dhafnis) heißt wie im katholischen Nordalbanien (e díelja e larit) und daß die Gevatterschaft (Taufpatenschaft) in beiden Dialektgebieten „hl. Johannes" (seil, der Täufer), in Kalabrien jemi shinjánj „siamo compari", in den nordalbanischen Berggauen jemi shnjon genannt wird. Man geht wohl nicht fehl, hier Reste der altalbanischen Kirchensprache zu erblicken, welche die Konfessionsunterschiede (griechisch-orthodox, römisch-katholisch) überdauert hat. In den albanischen Mundarten in Kalabrien haben sich ältere Formen erhalten. So werden beim Nomen linter anderem auch noch ballt „Stirn"

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Eqrem Ç a b e j

und hart „Gras, H e u " als Neutra, djepja „Wiege" und Icriqja „Kreuz" als feminine konsonantische Stämme gebraucht. Singular und Plural werden in asht eshtrat „Bein, Knochen", derlc dirqit „Schwein", lealiu kâlëz „Ähre" gut auseinandergehalten ; das zeigt, daß die anderswo geltenden Singulare eshtèr, dirk und Icallëz vom Plural herkommen. Aus dem femininen Adjektiv des Plurals tè rèa „nuove" darf man folgern, daß das in den jetzigen südalbanischen Mundarten übliche té ra vielfach erst nach der Abwanderung unserer Siedler nach Italien aufkam. Beim Possessivum hat sich das von Norbert Jokl (IF 49, 276 Anm. 1) behandelte, im Mutterland stark zurückgegangene maskuline täj „eure", wie in nipt täj „eure Neffen" gerettet. Vom Verbum ist namentlich die Klasse der auf eine Liquida endenden Fälle vom Typus rribiel „säe", tiar „spinne", vier „hänge" usw. zu nennen, die gegenüber den jetzt in Albanien schriftsprachlichen, meines Erachtens nach dem Partizipium gebildeten mbjell, tjerr, vjerr eine ältere Stufe darstellen. Die Formen väte „er ging" und kúarin „er erntet" treffen in allem mit vote und kùorên des ältesten bekannten nordalbanischen Schriftstellers Gjon Buzuku (1555) zusammen. Für die Geschichte von lej „gebäre; entstehe, werde geboren, gehe auf (von der Sonne)" und Und „gebäre, werde geboren" und seine Zugehörigkeit zu der Sippe von nhd. legen liegen, lat. lectus, gr. λέχεται „legt sich schlafen" etc. ist es nach meiner Ansicht entscheidend, daß dieses Wort in Kalabrien und der übrigen albanischen Diaspora in Italien, ferner in Griechenland, in den konservativen Mundarten des Mutterlandes und in dessen älterem Schrifttum durchweg als mediopassives lehern „werde geboren" u lé „wurde geboren" erscheint. Dasselbe ist wahrscheinlich mit bij mbij „keime" der Fall, wofür sich in unserer kalabrischen Mundart das mediale grurt bihet „il grano germoglia" findet. Von den zur Erhellung der zahlreichen Einzelfragen des Wortschatzes geeigneten Formen seien noch etwa exet „man wetzt" εχα „die Messerklinge" (sonst preh- aus për-eh), fshíasa „Besen", grîfèza „Blindschleiche", pirmíst „bocconi, aufs Gesicht", thuprënët „gedeckt werden (von der Ziege)" sonst thërpehet, üu „Hunger", zjarm „Feuer" erwähnt. So ein Wort wie udhria „Weinstock", in anderen albanischen Mundarten Kalabriens urdhî, dhri, in Sizilien daneben urdhî „Efeu", zeigt uns, daß der Name des Weinstocks im Albanischen, ardhí, hardhi, mit dem des Efeus (urth, urdh) zusammenhängt. Daß indessen in so weit verschlagenen Sprachinseln neben Erhaltungserscheinungen auch Neuerungen in den Wortformen begegnen, ist von vornherein zu erwarten. So gilt in Kalabrien für urith „Maulwurf" buri, buríth, für njerith „Halszäpfchen" (eig. „Menschlein") harithi, für dèftón „zeigt" buthtén, für lemzë, léhmêzë „Schlucken" ka hélmëzin „avere il singhiozzo, den Schluchzer haben",

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KALABRIEN

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wobei heim „Schmerz" volksetymologisch eingewirkt haben mag. Gemeinalb. nepërkë „Viper, Natter" erscheint hier als nepromtja, wohl in Anlehnung an Prende, den wahrscheinlichen Namen einer alten Liebesgöttin, zu dem auch e premie „Freitag" als „dies Veneris" und ShnaPremte, Shnas Prende „hl. Veneranda" gehören 2 . Nicht weniger aufschlußreich als die Formen sind die Bedeutungen, mit denen manche Wörter in diesen entlegenen Mundarten auftreten. Mich hier gleichfalls auf wenige Beispiele beschränkend, erwähne ich, daß aus dem Gebiete der Kleidung abweichend von anderen Mundarten petk das Tuch, tirqit die Hosen bezeichnet, und daß ein sonst unbekanntes kandüshi „veste, sottana, Rock" gebraucht wird. Aus der landwirtschaftlichen Sphäre vereinigt thúmbeza die Bedeutungen „Knospe" und „Knopf", genauso wie frz. bouton und in ähnlicherWeise wie im Deutschen, wo Knopf und Knospe miteinander verwandt sind, s. Kluge-Mitzka 19 , S. 384. Die Identität des Namens der Distel, kr ofari, mit dem gemeinalbanischen Namen des Kamms (krahên, krehër) ist f ü r die Geschichte dieses Wortes bemerkenswert. Die Redensart vête pir vesh „Trauben nachlesen, racimolare, grappiller" beweist mit anderen Zeugnissen, daß vesh eine kleine Traube bezeichnet und wahrscheinlich mit vesh „Ohr" identisch ist. Dem in der jetzigen südalbanischen Frauensprache als Schimpfwort für Weiber gebrauchten fëllegë entspricht aus Kalabrien fuleg „Bohnenschote; leere Kastanie", in Frascineto des näheren „cascame del baco da seta, dell'uva, spurgo ; buccia" 3, das mit seiner konkreten Verwendung gewiß den älteren Stand erhalten hat. Aus dem Gebiete der Tierwelt und der Viehzucht zeigt der Umstand, daß ndirzénj „(den Hund) hetzen" als mediales ndirzenet „(das Schaf) ist brünstig" bedeutet, daß dieses Wort in seiner Geschichte und Herkunft bisher unrichtig beurteilt wurde und vielmehr innersprachlich mit ndez „zünde a n " ndizem „brenne, habe Hitze" verwandt ist. F ü r das in seiner Geschichte noch undurchsichtige rrëzôj „stürze herab, haue ab, u m " findet sich in unsrer Mundart rezón lopt „die Kühe auslassen", das in der Tschamëria, dem äußersten Süden des albanischen Sprachgebiets, als rrëzoj dhëntë „treibe die Schafe auf die Weide" wiederkehrt. Das bisher nur für die kalabroalbanischen Mundarten bezeugte borsi, ,Buch-

2

3

Über die ethnographischen Beste dieser Liebesgöttin und ihre Namen vgl. M. Lambertz, Albanische Märchen und andere Texte zur albanischen Volkskunde, Ak. d. Wiss. in Wien, Schriften der Balkankommission Läng. Abteilung XII, 1922, Sp. 48f. B.Giordano, Fjalor i Arbëreshvet t'Italisë — Dizionario degli Albanesi d'Italia, Bari 1963, S. 116.

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EQREM

ÇABEJ

fink" erscheint auch in Mittelalbanien, in der Stadtmundart von K r u j a als vdorsi wieder; es gehört somit ebenso zu bore „Schnee" wie das letztere zu dessen Dialektform vdorë, ist daher in der inneren Wortform mit nhd. Schnee fink, frz. pinson de neige usw. vergleichbar. Die Bezeichnimg der Nisse als „Eier" (vêt) ist im Zusammenhalt mit dem Umstand, daß die Insektenlarven im Albanischen oft kurzweg „Eier" genannt sind, mit eine Stütze dafür, daß auch vem venie „Raupe; Eleischmade" und dhemje „Raupe" mit dem Namen des Eis, nicht, wie bisher gedacht wurde, mit dhë „Erde, L a n d " zusammenhängen. F ü r die Charakteristik des Wortschatzes dieser Mundarten sind besonders jene Elemente bedeutsam, die - unabhängig davon, ob sie auf Erhaltung oder Neuerung beruhen - durch eine eigene Entwicklung des Überkommenen auf verschiedenen Wegen dazu gelangt sind, für diese Mundarten eigentümlich zu werden. Da ist zumal durch Wortverlust (s. oben S. 116) Wortersatz und Neubenennung eingetreten. So heißt die Schlehe móliza, eig. „Äpfelchen", die Mähne lesht e xerkut „Halshaare" oder einfach qimja „das H a a r " . Die Bezeichnung des Ringelbrezels, kulaçi, hat auch die Bedeutung „Jochdeichselverbindung, unterer Ring" angenommen, vielleicht im Anschluß an kulár „gebogenes Holz, welches dem Ochsen um den Hals läuft und ihn an das Joch schirrt". Der alte Name der Blindschleiche, kakzöza, ist auf den Regenwurm übertragen worden und an seine Stelle das schon erwähnte grîfèza eingetreten. Durch eine Wortgabelung, eine „thérapeutique verbale", ist bretku als Name des Frosches verblieben, die Nebenform bretkösa aber zur Bezeichnung der Kröte geworden. Eine tabuierende Vermeidung des eigentlichen Namens hat zur Benennung der Schleiereule als zogu keq „böser (unheilbringender) Vogel" geführt, ebenso wie der Teufel i ligu „der Böse" (wie in der deutschen Bibelsprache) genannt wird. Zu den von unserem Jubilar auch für das Albanische erforschten Tiernamen aus Lockrufen ist hier das dem Italienischen entlehnte rikaz, rikza-t „Ferkel" zu zählen. Von besonderem onomasiologischen Interesse ist es, daß der Ahorn der „Breitblättrige" (fjetgjér), das Mark der Pflanzen „Brot" (bukiz, Deminutivum), die Biene äriz mjal'i „Honigwespe" oder „Bienenfliege" (miz biete, vgl. frz. mouche à miel), das Herrgottkäferchen „Gevatterin" (kumarza, ein Hypokoristikon auf -zê), der Regenbogen „Altweibergürtel" (brèzi pjáJcavet), die Puppe „Bräutchen" (nüseza), das erste Frühstück „Knoblauch" (%üdhra) genannt ist. Es muß in diesem Zusammenhang bemerkt werden, daß in der geschichtlichen Erforschung dieses Wortschatzes die Frage nach der verschiedenen etymologischen Herkunft seiner Bestandteile (ob Erb- oder

D I E ALBANISCHEN M U N D A R T E N IN

KALABRIEN

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Lehnwörter) nach meiner Ansicht hinter die andere zurücktritt, welche von diesen - unabhängig von ihrem Ursprung - aus der alten Heimat mitgebracht, welche in der neuen - als Entlehnungen oder selbständige Neubildungen - erworben wurden. Es ist klar, daß zumal bei der lückenhaften Kenntnis des mundartlichen Wortschatzes des Albanischen diese Frage häufig offenbleibt. Trotzdem kann man durch innere Vergleichung dennoch zu manchem annehmbaren Ergebnis gelangen, namentlich was das gegenseitige Größenverhältnis der zweiWortschatzteile betrifft, das natürlich für die verschiedenen Sachgebiete verschieden ist. An Hand einer vor Jahren angestellten Untersuchung über das von unserem Jubilar gesammelte Material gestaltet sich für mich das Verhältnis Mitgebrachtes zu in Italien Erworbenes ungefähr folgendermaßen: (Familie) Verwandtschaftsnamen 20:3, Altersstufen 18:2, Geburt, Liebe, Ehe und Tod 11:3, Vornamen 0:5; (Menschlicher Körper) Körperteile 61:9, Körperliche Funktionen 13:0, Körperliche Eigenschaften 10:7 ; Handwerk und Handwerkszeug 26:35, Geld und Handel 3:9, Zahlen alles mitgebracht, Jahr, Jahreszeiten und Monate alles mitgebracht, Zeit- und Ortsadverbien alles mitgebracht, Wetter 18:5, Metalle 5:6, Mineralien 5:1, Bodengestaltung und Gewässer 8:5; (Tiernamen) wildlebende Säugetiere 5:8, Reptilien 5:0, Amphibien 2:1, Würmer und Molusken 2:2, Insekten 16:4, Vögel 12:12, Jagd und Fischfang 7:4, Waldbau und Werkzeuge des Holzhauers 11:12, Pflanzen 37:12; Schlaf und Toilette 19:1, Krankheit und Heilung 14:10, Moralische Eigenschaften und Affekte 16:6; (Religiöses und soziales Leben) Menschliche Beziehungen 4:1, Spiel und Unterhaltung 8:7, Musikinstrumente 0:2, Raucher 1:5, Schule 2:5, Kirchenfeste 4:7, Kirche 9:5, Klerus 2:3, Christlicher Kult und Glaube 12:0, Volkskundliches 2:2, Dorf und Markt 17:10; (Haus und Hausrat) Wasserversorgimg 1:3, das Haus und seine Teile 7:24, Mobiliar 6:6, Beleuchtung 5:3, das Feuer 10:4, Herd und Herdgeräte 4:2, Heizung 1:1, Küche und Küchenarbeiten 11:0, Küchengeräte und Tischgeschirr 15:11, Speisen 13:10, Essen und Trinken 16:4; (Groß- und Kleinviehzucht) Großviehzucht 28:1, Kleinviehzucht 28:11, Haustiere 10:2, Hühnerzucht 22:9, Bienenzucht 6:1, Seidenraupenzucht 0:3; (Weide- und Alpwirtschaft) Stall 4:9, Weidewirtschaft 7:4, Milchverarbeitung 13:11, Wagen, Joch und Geschirr 10:15; (Ackerbau) Fruchtbäume und Früchte 28:19, Weinbau und Weinbereitung 16:17, ölbereitung 2:5, Garten und Gemüse 18:12, Kartoffeln 3:0, Heuerei 6:3, Heuereigeräte 6:2, Feld und Wiese 7:3, Bewässerung und Feldarbeiten 10:3, Getreide und Getreidebau 18:3, Drescherei 3:1, Reinigimg und Aufbewahrung des Korns 10:1, Körbe 1:2, Hanf- und Flachs Verarbeitung 6:3, Spinnen und Weben 18:5, Wäsche und Näharbeit 15:6, Kleider und

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Eqrem Ç a b e j

Schuhe 22:11, Adjektiva 9:1, Farbennamen alles mitgebracht. Wie man aus dieser summarischen, das Material keineswegs erschöpfenden, dennoch aber den größeren Teil des Wortschatzes umfassenden Rechnung ersieht, überwiegt in dem ländlichen Leben dieser Sprachinsel auch noch nach fünf Jahrhunderten im großen und ganzen der überkommene Wortschatz, und Ähnliches darf man für die anderen albanischen Mundarten der Provinz Cosenza annehmen. Dabei sind hybride Bildungen, zweifelhafte Fälle, wie die in Albanien und Süditalien gleichlautenden romanischen und griechischen Wörter usw. ausgelassen worden. Griechische Lehnwörter dieser Art sind z.B. manganisin „den Hanf (Flachs) brechen", sesklja „Mangold; Runkelrübe", sirku „Seidenwurm", sporta „Ackerbeet", vasilikó „Basilienkraut' '. An sonstigen in dieser Hinsicht zweifelhaften, für unsere Mundart kennzeichnenden Elementen seien noch etwa genannt barlcal'arta „rücklings", biibaVeshi Scherzname des Raben im Lied (lesh „Haar"), forriçka „kleiner drehbarer Holzriegel zum Verschließen von Fenstern, Türen etc., la nottola", in den übrigen Mundarten Kalabriens ferckëz, fërrliç (Giordano 110), grikmádh „Schlemmer, Freßsack, Leckermaul", gjufgjäta „Schwätzerin", hret „miaut", nëmërén „schimpft", opnút „Ackerwerkzeuge", piçka „Sommersprossen", pil'ikàçç „nackt", pingula „Versteckenspiel", skrôqula vës „Eierschale", shkerdet „Hobelspäne", tricka „Schaukel", thikza „Taschenmesser". Diese, wie schon eingangs gesagt, auf den albanischen Teil beschränkte, per summa capita angestellte Betrachtung des kalabroalbanischen Wortschatzes würde zu einseitig ausfallen, wenn man nicht dem Einfluß der romanischen Umgebung wenigstens auf seinen indirekten Wegen kurz nachgehen würde. Dazu gehört in erster Linie die Lehnübersetzung im weitesten Sinne, mit Einschluß namentlich der Übersetzungs- und der Bedeutungsentlehnung. So ist wohl nach dem Vorbild des italienischen Wortpaares cane:cagna zu qen „ H u n d " das movierte Femininum qëne gebildet worden, das im Mutterlande vorwiegend in übertragener Verwendung fortlebt. Ganz neugebildet ist régjëthi „Zaunkönig", das als „kleiner König" (regj-th) auf it. reattino und seine mundartlichen Entsprechungen zurückgeht. Zahlreicher sind die Bedeutungsentlehnungen, die Fälle also, in denen albanische Wörter und Formen nach dem Vorbild der italienischen Entsprechungen meistens unter Beibehaltung der ursprünglichen Geltung auch zu einer neuen gelangt sind. So wird shpîa „das Haus" nach kalabresisch a kâsa auch für „Schneckenhaus", shpátula „Schulterblatt", nach kalabres. spatula auch für „Schwanzriemen", dosa „Sau" auch für „ H u r e " gebraucht, vgl. it. troia oberit. porca mitteilt, na màyalîna. gjel i egir eig. „wilder H a h n " bezeichnet den Specht, wohl nach

D I E ALBANISCHEN MUNDARTEN IN

KALABBIEN

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dem Muster des kalabres. gallúcc i muntáúd, vjersh „Vers, Gedicht" hat in Sizilien die Bedeutung „Art und Weise" angenommen, nach it. verso in per questo verso „nach dieser Richtung, auf diese Art". Eine teige Birne heißt nji dardh e shküar, eig. „eine vergangene Birne", nach kalabres. un prüs pa-sá (schriftitalienisch aber uva passa), das Unkraut hart e lik „schlechtes Gras", vielleicht nach dem it. malerba, „entwöhnen" i nxlar sisin nach kalabres. livá la minna, „der Teller ist ganz" tal'üri osht i târ, nach it. è intero. Dagegen müssen Yogelnamen wie bishtekuqja „Rotschwänzchen" und bishtegjäta „Bachstelze" nach dem Ausweis gleicher Benennungen im Mutterlande nicht nach den entsprechenden la kuôarussa und kuòaloyga der kalabresischen Mundarten gebildet sein 4 . Dasselbe gilt von Fällen wie véshëza „Streichbrett" (it. l'orecchio dell'aratro), shgjedza „Weberschiffchen", mbjedh „garnwinden", mezdîta „Mittag" u.a., die trotz der entsprechenden a riccçdda, a sayitta, k$ggd, mezzodì der romanischen Umgebung mitgebracht sein dürften. Ungewiss ist auch dosez „Kellerassel", in Albanien „Maulwurfsgrille". Durch solche Übersetzungen h a t auch das Formensystem, besonders das verbale, Veränderungen erfahren, auf die für die albanischen Molisemundarten Maximilian Lambertz aufmerksam gemacht hat. So gilt in Kalabrien für it. bisogna che si vestano: kan veshen, nach dem kalabres. sana v^std. Formen wie diese rühren auf engerem Gebiete an die Frage der Entstehung des habeo-Futurums im Italoalbanischen und im Albanischen überhaupt, in den anderen Sprachen und Dialekten der südlichen Apennin- und der Balkanhalbinsel, eine Frage, die Gerhard Rohlfs auf breiter historischer Grundlage gleichfalls untersucht hat. Dagegen ist bei jêe e fjóo „dormi già", u jam e t e jap „io sto dandotelo, je suis en train de te le donner", isht e bun te tirku „sta facendo la calza" der kalabrischen und sizilischen Mundarten die Annahme eines italienischen Einflusses (sto + Gerundium) 5 mit den Tatsachen schwer in Einklang zu bringen, da die jeweilige Struktur eine verschiedene ist, auf der einen Seite die balkanische Parataxe, auf der anderen die westromanische Hypotaxe. Zahlreich sind endlich in diesen Sprachinseln, wie von vornherein zu erwarten ist, die zweigliedrigen hybriden, halb albanischen, halb italienischen Dingnamen und Ausdrücke, wie dëga furkút „il ramo forcuto, Astgabel", löku shträtit „Schlafzimmer", mura dirq „Schweineherde" (kalabres. a mfrra), mer adür „riechen", i vjen minu „ohnmächtig werden" (nach vini minu), döpu ngrön nach doppa mangätd usw. 4

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Über die Namen der Bachstelze im Albanischen vgl. 0. Tagliavini, Revue Internationale des Etudes Balkaniques I (1934) 165 ff. Eric P. Hamp, I e r Congrès International des Etudes Balkaniques et Sud-est Européennes, Sofia 1960.

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Eqreji ÇABBJ

Wie diese Probe wohl zeigt, kann ein Vergleich der im Mutterland fortbestehenden mit der frühzeitig nach Italien verpflanzten Sprachform des Albanischen interessante Ergebnisse zeitigen, namentlich im Hinblick auf das hüben und drüben Bewahrte, auf das in der alten Heimat Gerettete und in den Neusiedlungen in Verlust Geratene, wie umgekehrt auf das dort Untergegangene, in der area seriore aber lebendig Erhaltene. Unser verehrter Jubilar hat sich, wie man sieht, durch die vorbildliche Aufnahme einer von den Mundarten dieses Gebiets bleibende Verdienste um die Albanienkunde erworben. E s ist der Zweck dieser Zeilen, durch eine kleine, aber freundschaftliche Gabe die Verehrimg ihres Verfassers für den Meister zu zeigen und ihm auf altalbanische Art pleqëri tè bardha zu wünschen.

Isoglosse grecanico-serbocroate Italia meridionale e Ragusa MIRKO DEANOVIC ZAGREB

La recente pubblicazione dell'imponente seconda edizione del Lexicon Graecanicum Italiae Inferioris del nostro festeggiato maestro e amico Gerhard Rohlfs 1 ci rende possibile una più chiara visione d'insieme dello stato linguistico delle colonie greche nella Magna Grecia. Inoltre si potranno ora studiare meglio anche le relazioni fra codeste parlate e i dialetti italiani limitrofi nonché le loro concordanze con i dialetti slavi delle coste orientali dell'Adriatico. Alla ventina di esempi di analogie lessicali fra queste due aree linguistiche, rilevate già dallo stesso autore (v. a p. 622 anche nel «Wortindex», 10. «Slavische Sprachen» del citato Lexicon2), ora posso aggiungere anche altri esempi, talché il quadro complessivo, così allargato, risulterà alquanto diverso da quello che generalmente si crede. Si t r a t t a di contatti fra parlate geneticamente assai diverse, di contatti il cui studio interessa notevolmente i linguisti d'oggi. Infatti, l'elemento lessicale greco penetrato nel serbocroato è stato oggetto di studio di parecchi studiosi a cominciare da F.Miklosich fino a K . Strekelj, M. Bartoli, P. Skok, G. Maver, M. Vasmer, I. Popovic 3 , V. Vinja, ecc. Nella conclusione della serie dei suoi contributi intitolati Zum Ballcanlatein4, nel capitolo VII 0 col titolo «Gemeinsame lexikalische Elemente im Balkanlatein und Süditalien», P.Skok annovera 29 voci grecaniche pas1

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Etymologisches Wörterbuch der unteritalienischen Gräzität, 2., erweiterte und völlig neubearbeitete Auflage. Mit drei Übersichtskarten, Tübingen. M. Niemeyer, 1964, X X X + 6 2 9 pp. L'autore ha fatto bene di non accettare alcune dubbie etimologie di voci slave, per es. di duga, grah, hora, kosir. Cfr. il suo ultimo volume Geschichte der serbokroatischen Sprache, Wiesbaden, 1960, 595 pp. ZRPh 36, 38, 41, 48, 50, 54, dal 1912 al 1934.

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MIRKO

DEANOVIÓ

sate anche nei dialetti serbocroati dell'Adriatico orientale 5 . Nella sua monografia Die griechischen Lehnwörter im Serbo-Kroatischenβ, M.Vasmer indaga i prestiti diretti e indiretti fatti dal greco nell'area del serbocroato orientale, balcanico, lontano dal dall'Adriatico, e specialmente quelli della nomenclatura dotta ed ecclesiastica greco-ortodossa; ai quali prestiti ho potuto aggiungere a quelle citate dalVasmer altre 71 voce di origine greca nel dialetto slavo di Ragusa (Dubrovnik)7. Inoltre V.Vinja, già da anni, si occupa degli elementi greci nei dialetti serbocroati dell'Adriatico8. Per dare una prova di codesti riflessi linguistici degli intensi e secolari contatti attraverso l'Adriatico fra la Bassa Italia e Ragusa, valendomi del citato volume di G.Rohlfs e seguendone l'ordine, darò un elenco di voci greche, specialmente grecaniche, che vivono tuttora nella parlata ragusea. La quale parlata differisce alquanto dagli altri dialetti slavi della zona adriatica, perché la detta città-stato è stata per secoli una repubblica indipendente. άβυσσος αγγαρεία 5

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abisso angheria

abis® angarija D.

Z R P h 54, 1934, 480-491. Cfr. anche i suoi articoli „Sur l'élément grec de l'ancien dalmate", R L i R X I X , 1955, 227-230, e „Les origines de Raguse", Slavia X , P r a h a , 1931, 449-500. Abhandl. der Preus. A t a d , der Wiss., Phil.-hist. Kl. Nr. 3, Berlin, 1944. Eccone l'elenco secondo l'ordine alfabetico (il numero che precede le voci indica la pagina nel citato volume di Vasmer): 49 bastah, zipo, 56 lefanat, 59 fener, 60 gajtan, 61 galija, 62 Grk, 63 haran, hil'ada, 65 igalo, fvalo, 06 ìnkuniza, 68 gùstijerna, 69 jastog, 72 kàlnd'er, kàmara, 74 kantor, 75 gàrofo, 78 cempres, 79 Misura, 80 kòmarda, 81 komostre, 82 korabl'a, kokodrio, kositer, 86 kùkumar, kuto, 90 letanije, litra, 92 mad'ije, mad'upak, 93 maher, 100 mitra, mànastijer, 101 mramor, mùrina, 102 navo, 105 orhan, 106 pagar, 107 e 120 pòlanda, 110 parango, 113 pedepsat, 114 peleg, 115 perpera, 116 papar, pipun, 118 pladan, plima, 119 poganin, 123 prcija, trigla, 127 prova, 129 eamar, 130 sarag, seien, 131 sidro, senapa, 133 skando, 134 skrpijun, skupio, 135 sopa, sotona, 136 spila, 137 stomak, 140 tamjan, 142 tigan, 143 trap, trpefa, 144 trigla, 146 tuna, 148 fàhara. Vedine l'ultimo contributo «L'Italia meridionale come centro d'irradiazione degli elementi greci nei dialetti serbo-croati della Dalmazia», Studi in onore di E. Lo Gatto e G.Maver, Firenze, 1962, 685-692. Le seguenti voci ragusee provengono da ricerche f a t t e sul posto, da un'inchiesta per l'Atlante Linguistico Mediterraneo (Studia Romanica et Anglica Zagrabiensia 5, 1958, 3-31), d a uno spoglio di scrittori ragusei e dal Dizionario serbocroato dell'Accademia Jugoslava di Zagabria (Rjecnik hrvatskoga ili srpskoga jezika, I - X V I I I , A - T , 1880-1966) ; gli esempi confermati in codesto dizionario vengono indicati con l'abbreviazione D. Le voci slave figurano qui nella trascrizione fonetica e non nella loro solita grafia.

ISOGLOSSE GRECANICO-SERBOCROATE

άγγελος άγριόμωρον άήρ αιγιαλός αιμορροΐδες άμόργη άμνγδαλον ¿ΰΐοΰήκη απόστημα άπ ατονία αρωμα άσπάραγος άστρολόγος άχερνα βαλλίζω βαμβάκων βάρβαρος βασιλικόν βαστάσιος βανκάλιον Βλάσιος βλασφημία βορέας βρώμα γαργαρίζω γάστρα

angelo mora aria spiaggia emorroidi morchia mandorlo ven. botega postema dial, togna aroma asparago astrologo pesce cernia ballare bambagia bárbaro basilisco ant. bastagio boccale Biagio bestemmia bora fetore gargarizzare vaso panciuto

γιστέρνα γλνκνρριζα γόγγρος γνρενω γύψος δελφίνος διάβολος δρόμος εΐκών

cisterna liquirizia grongo girare gesso delfino diavolo strada immagine, quadro

ελέφας εμπλάστ ριον επίϋημα επίσκοπος εργάτης

elefante impiastro pittima vescovo attrezzi barra del timone

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andio D. mur va D. arija, arcaico ajer, jajer igalo, / v alo D. morojde, maravele D. murga D. mjenduo D. butiga D. postima D. tuna D. aroma sparoga D. strolig D. kijerna D. balat D. bumbak D. barbar D. bosiok are. bastah 'portatore' D. bokar D. Vlaho, are. Vlasi bj estima bura abrum 'esca per il pesce' gargarizat gostara 'vaso', grasta 'vaso da fiori' D. gustijerna D. likorica, likviricija gruj D. d'iravat d'es dolfin D. d'avo D. drum D. ink una, inkuniza 'santino' D. lefanat D. impjastar pitima biskup D. argati argutla D.

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Mibko D e a n o v i ó

ερεμος ερυσίπελας εσχάριον ευνούχος ζίζυφον Ινδικός κάλαμος

eremo erisipela ven. squero eunuco zizzolo, giuggiolo dindio canna

καλόγερος κάλυξ καμάρδα κάμηλος κάμινος κάνϋαρος κανϋός κάνναβις κάνουλα

monaco calice tenda cammello camino cántaro (recipiente) càntero (pesce) cantone canapa canna, cannula

καράβιον καρνόφυλλον κάστανον καταρράκτης

specie di nave ven. garofolo castagno cateratta

κατοϋνα

abitazione

καΰμα κέλευσμα κερασία κέφαλος κηρίον κιστέρνα κλίμα κλίτσικα κόγχυλον κόλλα κολλώ κολόκυν&α

calma ciurma ciliegia cefalo cereo cisterna clima lippa conchiglia colla collare zucca

κόλπος

seno di mare

κόλυμβος κοράλλιον

ven. colomba, chiglia corallo

are. remeta D. ri/ipjela skar, skver D. eunuh cicimak D. indiota D, vintusa kalamuca 'canna da pesca' D. kalud'er D. kale/ v D. komarda'macello' D. (?) arc. kamila D. koxnin 'cucina' D. kantoriza D. kantor D. kan tun D. konoplika D. kantula, e topon. Kantule D. korabl'a D. garofo D. kostañ D. katarata (dell'occhio), are. kotorad'a 'canale'D. katun 'dimora estiva di pastori' D. kalma curma D. krijesva D. zipo D. cèro/ v ina 'candela' gustijerna D. klima klicak D. (?) konkil'a kola D. inkolat golokud 'granturco' D. (?)

kolap 'onda', kulaf 'golfo' D. kolumba D. koral' D.

ISOGLOSSE GRECANICO-SERBOCROATE

κουκουβάγια κουκούμαρον κρεμάστρα κύκνος κϋμα λαμπάς λάμπω λιβάδιον λιβυκός λ,νκειος μαγεία μαίνη μαλακία μάνδρα μάραϋ·ον μάρμαρον μαστός μαναστήριον μύραινα μύρτος νάννος ναύκληρος ναυσία νηρίτης οίστρος όργάνιον όρφός πεζονλιον πέλαγος πεπόνιον πετ

ροσέλινον

πηδώτης πηλαμύς πν&άριον πιπεριά πλάγιον πλάτανος πλατεία

civetta fragola catena del focolare cigno cerchio ven. zima 'cima di fune' cimolo lampo lampare prato libeccio ven. liza, pesce leccia magia pesce mènola bonaccia ven. mandracio finocchio marmo mastello monastero murena mirta nano nocchiero nausea ven. narídola, conchiglia nàtica estro fune leccia banco di pietra pelago mellone prezzemolo pilota palamita vaso di terra pepe spiaggia platano piazza

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kukuvjela D. kukumar 'cetriolo' D. ( ?) komostre D. kuf D. krklo 'orlo delle gonne' D. zima cimula lamp, lanap D. lampat, lanpat D. livada D. lebic liza D. màd'ija D. menula D. mlakaiza D. mandrac D. 1. morac 'id.', 2. motar 'finocchio marino' D. mramor D. mastio D. manastijer D. murina D. mrca D. nano arc. naukijer D. nau/eja nàrikla D. estar arganio orhan D. pi/ v uo D. pelega D. pipun D. petrusin D. pilot D. polanda D. pitar 'vaso di fiori', 'vaso da notte' D. papar D. spjad'a platan D. plaza D.

130 πολνάγκιστον πλήμη προίξ πρώτος πνξίς ραφάνιον ρόμβος σαλαμίϋ-ιον σέλινον σήτα σίδηρον σινάπιον αίφων σκαλμός

MIRKO

DEANOVIÍS

σκάφος σκόπελος σκόρπαινα σπάρα σπήλαιον σπογγιά σπογγίζω σνκώτιον ταχαρία

palangaro alta marea dote proto bussola ravanello pesce rombo salamandra sedano setaccio aciaio senape scione scalmo pesce luccio marino pesce cántaro vaso da notte scafo scoglio ven. scarpena cercine grotta spugna pulire con la spugna fegato canestro

τεϋ&ος τήγανον τράχονρος τρίγλη τρνπανον τρυπάω τσίρος νσσωπος φάγρος φλέγμα φουστάνιν χαλάω χαμ αίμηλον χάννος χάρις

tòtano tegame scombro tracuro triglia tràpano trapanare piccolo scombro issopo pagro flemma fustagno calare camomilla sciarrano grazia

σκάν&αρος

parango D. (o)plima D. prcija D. proto D. bùsula D. rovanela romb D. salamandra D. seien D. sito D. sidro 'ancora' D. sènapa Sijun D. skaram D. skaram, skaram D. kantor D. kantoriza D. Skaf D. skol' D. skrpina D. spara D. spila D. spenga D. spengat D. pikat D. tèharica 'specie di focac· eia' D. to tan tigan D. tragal' D. triglia D. trapan D. trapanat D. lira (?) are. sipont pagar D. flegma D. fustán (?) kalat D. komomila D. kanaz D. (?) haran 'grato', harnos 'gratitudine' D .

ISOGLOSSE GRECANICO-SERBOCROATE

χαρτίον χελώών ώρα

carta rondine ora

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karta D. ciopa D. (?) ura

Le voci citate si riferiscono a soggetti tanto disparati che sarebbe difficile raggrupparle secondo il loro significato. Un gran numero ne appartiene alle Kulturwörter accanto alle quali si trovano anche voci più interessanti dal punto di vista linguistico. Dai loro t r a t t i fonologici e morfologici si potrà rilevare la convergenza dei due sistemi, del greco e dello slavo, fra i quali alle volte si è frapposto anche quello dell'Italia dialettale meridionale. Beninteso, codeste 170 voci non furono t u t t e assimilate nello stesso tempo né allo stesso modo: alcune sono prestiti diretti e altre indiretti (anche attraverso il dalmatico, il veneto o perfino il turco). Ci sono inoltre altri prestiti greci a Ragusa che non provengono dalla Bassa Italia. In alcuni altri dialetti slavi alle coste dell'Adriatico ci cono anche altre voci di origine greca le quali non si trovano a Ragusa, per es. άμάρακον κάναστρον πλά&ανον

maggiorana canestro spianatoia

ma/"vurana konistra pladañ

I n altre aree del serbocroato, specialmente nell'ortodossa Serbia, passarono parecchie parole greche le quali però non rientrano nel nostro quadro. Infine, nel dialetto raguseo si trovano anche prestiti latino-romanzi che sono pure comuni alle colonie grecaniche, per es. κολλάριον κονκονλλον κονπερτονριν λαρδίον λονκανικόν δφέλλιον σίτλα

collare cucullus cooperire laridum lucanicum offella situla

kolar kukul'iza koperta lardo luganika fjeliza siglo

Merita la pena di approfondire codeste ricerche di geografia linguistica le quali potranno gettare nuova luce sulle complesse relazioni fra le par-

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MIRKO

DEANOVIC

late delle due grandi penisole, quella appenninica e quella balcanica, attraverso i secoli10. Esse potranno anche avvalorare la plausibile tesi di G.Rohlfs ruguardante l'antica origine di codesta Italia grecofona11.

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11

Si vedano per es. i numerosi grecismi nel Dizionario dialettale delle T r e Calabrie (Halle-Milano, I—III, 1932-1939) e nel Vocabolario dei dialetti salentini, Terra d'Otranto (I—III, München, 1956-1961) di G.Rohlfs i quali grecismi si possono riscontrare pure in altre lingue balaniche. Ofr. anche Stam. C. Caratzas, L'origine des dialectes néo-grecs de l'Italie méridionale, Paris, 1958, passim.

Séneca y el Latín de España (aptare, subitaneus, mancipium,

prauus)

ANTONIO TOVA® TÜBINGEN

Con la libertad que da escribir para un maestro tan poco dogmático como el Prof. G. Rohlfs, vamos a atrevernos a tocar un tema que bien puede calificarse de desesperado: el del «hispanismo» de la lengua de Séneca. El lector crítico se preguntará: ¿cómo Séneca, que dejó España en su infancia o al comienzo de la juventud 1 , va a conservar algún rasgo local? Jamás volvió a la provincia de que procedía, y sólo su mundo familiar pudo mantener en él algo del ambiente cordobés. Córdoba, la ciudad que se enorgullece de haber sido su cuna, era una colonia romana con profundas raíces. La metrópoli (Ptol. I I 4, 9) de Bética había sido organizada como residencia de romanos por el cónsul M. Claudio Marcelo en 152, durante el invierno que pasa allí en sus campañas contra los celtíberos (Posidonio en Estrabón I I I 2, 1 p. 141, cf. Polibio XXXV 2). A pesar de las palabras de ese texto, que atribuye la fundación a Marcelo, el nombre de colonia no se halla atestiguado para Córdoba sino a partir de monedas de Augusto, si bien debió de ser colonia desde antes, al no llevar los sobrenombres de Iulia o Augusta. E.Hübner RE IV 1222 piensa en la posibilidad de que Pompeyo o sus hijos le confirieran esa categoría. De la profunda romanización de Córdoba nos da idea Cicerón al recordar (Pro Arch. 26) a los poetas que celebraron a Q. Metelo Pío, el procónsul que luchó contra Sertorio, los cuales, nos dice, eran pingue sonantes atque peregrinum en su latín. Un conocedor como Varrón, que había vivido en España, según él dice, «muchos años» (r. rust. I I I 12), y que como legado de la Ulterior en 49 residió en Córdoba (César b. du. 1

No sabemos sobre elio sino lo que él mismo nos cuenta (Cons. ad Helu. 19, 2): fue su tía materna, la misma que siempre le protegió y ayudó, y la que lo llevó consigo a Egipto y educó, la que lo trasladó a Roma: iUius manibus in Vrbem per-

lalus sum.

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ANTONIO

TOVAB

I I 17-20, cf. H. Dahlmann RE Suppl. VI 1177), compara a esta ciudad con Lanuvio y el resto del Lacio y con Falerii en el uso de una palabra latina 2 . Buen ejemplo ciertamente para ilustrar las viejas raíces del latín hispano según la teoría de Groeber, que ahora sabemos fue precedida por ciertas observaciones de Ascoli3. El padre del filósofo, de familia cordobesa en la que si el cognomen Séneca puede ser celta 4 , el nombre Annacus es de importación italiana 5 , tuvo gran influencia en la educación de sus hijos 6 . El gran conocedor de la retórica romana, aunque ya de edad avanzada, pudo trasmitir a su hijo, junto con su excepcional dominio de la oratoria de su tiempo, el sabroso latín que había mamado en las orillas del Guadalquivir, por Varrón comparado al de Lanuvio o el resto del Lacio. Precisamente en su afán de renovar la lengua latina y de crear un estilo nuevo, el filósofo cordobés habría de acudir alguna vez al latín hablado que habría oído en su casa, a su padre, a su madre y su tía, a otras personas de la familia, incluso esclavos, que procedieran de Córdoba. Por eso para él las fronteras de la prosa y el verso eran distintas que para los escritores nacidos en otra parte, y también eran diferentes los límites de lo vulgar o de lo arcaico. Por lo demás, sabemos que si por un lado el filósofo guardaba el mayor respeto por su padre, y ensalzaba de él el antiquus rigor, que completaba sus rasgos como uirorum optimus {Cons. ad Helu. 17, 3 y 4), por otro hubiera querido que estuviera minus maiorum consuetudini deditus (ibid.) y que hubiera concedido más importancia a la filosofía, que odiaba (Ep. 2

De ling. Lat. V 162 ubi cenabant cenaculum uooitabant, vi etiarn nunc Lanuui a/pud aedem Iunonis et in cetero Lotio ac Faleriis et Cordubae dicuntur. 3 G.Bonfante en Studi di lingua e letteratura spagnola, Turin, Facoltà di Magistero 1965, 44. 4 Sin duda es la palabra indoeuropea que tenemos en lat. senex, ai. sanaká-, gót. sineigs, gaio Seno-, etc. Cf. mi nota en Humanitas (Coimbra) I I 249-253 (también en Estudios sobre las primitivas lenguas hispánicas, Buenos Aires 1949, 148-153). La posibilidad de u n a coincidencia en la romanización con el nombre africano snk, que se halla en inscripciones bereberes, h a sido señalada por J . Alvarez Delgado, Inscripciones líbicas de Canarias, La Laguna 1964, 134. Pero sin duda que esta coincidencia se reduce al Africa, y explica la presencia de Sénecas en las inscripciones romanas de las provincias africanas, m a s no tiene que ver con los Sénecas de Córdoba y del resto de Europa. 5 Por ima p a r t e parece ilirio, por otra, etrusco, ν . W.Schulze, Zur Geschichte der lateinischen Eigennamen, Berlin 1904, 32, 345 s. y 478, H. Krähe, Lexikon altillyrischer Personennamen 6. • Los tres hermanos, Novato, Séneca y Mela, aparecen nombrados en la dedicatoria de casi todos los libros de las Suasorias.

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108, 22) 7 . Esto explica que en sus gustos el filósofo se encuentre muy lejos del admirador de Cicerón que fue su padre. Pero esto no excluye que, para su léxico, las palabras que oyera al tradicionalista cordubense le ayudaran a renovar la lengua literaria en su intento modernista. Vamos a fijarnos en unos pocos ejemplos, en los que podemos descubrir que Séneca está dentro de la corriente del latín hispánico que se había iniciado con la conquista, dos siglos antes de su nacimiento. aptare Este verbo sólo ha pervivido entre las lenguas romances en esp. y port. atar, y en u n cat. deixatar 'desleír' (Meyer-Lübke REW 563, Corominas Dicc. I 313). El Thesaurus linguae Latinae (II 323-327) nos permite seguir su historia: podemos decir que es palabra derivada y tardía, que se usa en la poesía, pero es evitada en la prosa clásica. Quizá la idea de 'atar' resultaba tal vez demasiado concreta para la prosa literaria. Falta en absoluto en César y hallamos sólo u n ejemplo en Cicerón (De orat. I I I 163 hoc uerbum ad id aptatum), repetido en el único que tenemos en el ciceroniano Séneca padre (Contr. X praef. 2 uoltus habitusque corporis mire ad auctoritatem oratoriam aptatus). Estos ejemplos de uso abstracto parece que nos orientan sobre la razón de que la palabra fuera evitada. E n la época preclásica no se halla sino una vez, en Pomponio (Atell. 54, p. 280 Ribbeck): aptate ... conuiuium, con el significado general de 'preparar, disponer'. Pero el desarrollo del verbo ha de estudiarse a partir de los usos de aptus, que tiene una historia curiosa. El Thes. I I 327, 59 dice «primum legitur apud Ennium. Deest apud Plaut., Ter., Catonem, Rhet. ad Her. » Desde el principio se halla aptus con el significado concreto 'atado' : Enn. 340 Y. uinclis uenatica ueloz apta 'una veloz perra de caza atada con cadenas', Lucil. 1060 M. (1025 Warmington) unus consterni nobis uetus restibus aptus 'sernos preparada una vieja (cama) atada con cuerdas', id. 389 M. (419 Warmington) tonsillas quoque praeualidis in funïbus aptas 7

Ciertos pasajes del tratado De beneficile podrían interpretarse como referentes a la relación entre el padre y el hijo: los diez últimos capítulos del libro I I I están dedicados a señalar si los hijos pueden hacer a los padres más favores que han recibido, por ejemplo, haciéndose tan sabios que puedan decirle al padre: (dedi)

ego tibi filium, qualem genuisse gauderes (31, 5). Diríase que Séneca se arrepiente

al cabo de haber sentido sólo el lado duro del gobierno de su padre, sin haber llegado quizá a poder pagarle sus desvelos, sus admonitiones, seueritatem et in-

consultas adulesceriiiae diligentem custodiami el padre suele desaparecer antes que el hijo pueda empezar a apreciar lo que ha hecho por su educación (De benef.

V5,2).

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ANTONIO

TOVAR

'los proíses también atados con muy fuertes cuerdas', id. 536 M. (561 Warmington) pellicula extrema exaptum pendere onus. Nonio IV 234, 37, dando estos y otros ejemplos, unos adecuados y otros no, explica que apturn rursum conexum et conligatum signifiait. De los poetas arcaicos pasa la palabra naturalmente al lenguaje poético de Cicerón: Arat. 243 orbis ... uinctos inter se et nodis caelestibus aptos. Naturalmente que desde el principio hay en aptus, como en el verbo apiscor, un sentido general y nada concreto: Ennio trag. 403 V. (389 Warmington) o Fides alma apta pinnis, y el famoso y repetido (también en Virgilio) caelum ... stellis fulgentibus aptum de Ann. 29 V. (59 Warmington). Pero el sentido concreto 'atar' no carece de testimonios en la época clásica: así en Cie. Hort, en el cit. pasaje de Nonio (IV 235, 18) altera est nexa cum superiore et inde apta atque pendens, y donde cuenta (Tuse. V 62) que Damocles mandó e lacunari saeta equina aptum demitti 'dejar colgando del techo atada con una crin' la famosa espada. De este valor concreto de aptus es contagiò desde el principio el verbo derivado aptare, sobre todo en la poesía. El significado 'atar' parece indudable en Virg. A en. I X 364, donde se cuenta que Euríalo haec (las armas de Rhamnes) rapit atque umeris nequiquam fortibus aptat (lo cual imitan Valerio Flaco I I 544, V I I I 126, Silio I I 453 s., V 138, etc.). E n otro pasaja del mismo poema (XI 8) Eneas ofrenda en trofeo las armas deMezencio: aptat... cristas telaque ...et... thoraca... clipeumque... subligat atque ensem collo suspendit. También el mismo sentido está claro en Ovidio Met. X 381 aptabat uincula collo (para ahorcarse), con imitaciones en Lucano V I I I 655, Valerio Flaco VI 669 ; y se halla asimismo en Marcial I X 93, 5 sutilis aptetur rosa crinibus, y continúa en la poesía hasta ejemplos tardíos cual Coripo loh. I I 129 uaginas aptant nudis pendere lacertis, y el anónimo epigrama (de autenticidad dudosa, ya que lo publicó Burmann de u n ms. de Rodrigo Caro) de los Poet. Lat. min. V 89 (p. 405 Baehrens) te cuperet Phoebus roséis aptare cuadrigis, dirigido a un caballo. En Séneca podríamos comenzar por un ejemplo que hay que poner en esta línea poética: Med. 85 aptat... iuga tigribus. E n prosa nos inclinaríamos a proponer se entienda en el mismo sentido un pasaje de Nat. q. V I I 22, 1 donde hablando de la naturaleza del fuego de los cometas dice: fieri non potest ut ignis certus in corpore ungo sedeat et tarn pertinaciter haereat quam quem (corr., los mss. quae) natura, ne umquam excuteretur (corr., los mss. excuterentur), aptauit. Otros 9 casos hemos visto en el Thés, de las tragedias de Séneca donde aptare tiene significados más abstractos: Phaedr. 319, 533, Oed. 96, 935, Ag. 425, Here. f . 1300, Here. O. 194, 1033, Med. 175. E n la prosa, si près-

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cindimos de unos cuantos ejemplos (10 registramos en el Lex. Liuianum de F.Fügner, Leipzig 1897) que corresponden a los poetismos de Livio, el primer autor que usa aptare es Séneca, con 18 ejemplos (De ben. I I I 25, 1, VI 35,3; Ep. 5,8; 24,14; 30,3; 59,5; 64,8; 65,8; 71,1; 86,8; 87,12; 90,24; 93, 6; 101,10; 108, 2 y 11; 109, 7; Cons. ad Helu. 5, 3). Si dejamos a un lado la frecuencia con que la palabra, nunca con el sentido concreto de 'atar' se halla en poesía (Horacio, los épicos, Ovidio, Persio, una vez Fedro, Nemesiano), en la prosa no aparece sino en Celso (en general como tecnicismo), en Quintiliano y Columela (este una vez en su libro en verso), en la Historia Augusta, Amiano Marcelino y otros autores tardíos. El carácter vulgar de aptare en el significado concreto de 'atar' parece convenir en dos pasajes de Petronio : en la descripción del esqueleto de plata que en el banquete de Trimalción es presentado para recordar la muerte (34, 8), laruam argenteam ...sic aptatam, ut articuli eius... flecterentur, y en las palabras de Encolpio cuando ve que en plena tormenta en el barco Gitón se ha atado a él y dice: patior uinculum extremum, et ueluti ledo funebri aptatus expecto mortem iam non molestam (114, 12). Véanse también los usos de la Vulgata, Levít. 8, 8 y Éx. 28, 27. Séneca usa, pues, en prosa un vocablo que fue incorporado a la lengua literaria por Virgilio. Es posible que la palabra tuviera mayor vitalidad en Hispania, singularmente reforzada por el significado concreto de aptus 'atado' que hemos señalado ya en autores arcaicos. La preferencia por una palabra poética o técnica, evitada por los prosistas clásicos, si responde a las tendencias personales de Séneca, podría estar apoyada por la vitalidad de ella en el latín hablado de su patria de origen, cual se acredita en la supervivencia románica. subitaneus > esp. supitaño Esta palabra ha sido señalada como un neologismo que Séneca ha puesto en circulación 8 ; el propio Oltramare la señala también en Columela y cree que será por imitación o influencia de Séneca. Pudiera ser una palabra del latín hispánico que surge en ambos al mismo tiempo: Nat. q. VII 22, 1 en la expresión subitaneus ignis y respectivamente I 6, 24 si subitaneus imber incesserit. A falta del Thes., no puedo aducir otros ejemplos que los de Vulg. Sap. 17, 14 subitaneus ...et insperatus timor y 19, 16 subitaneis... tenebris, Theod. Prise. Emp. 2, 37 subitanei uomitus, y Aug. Serm. 232, 8 (PL XXXVIII, 1111) mortem subitaneam non timetis? 8

Observación de P. Oltramare en Sénèque Quaest. nat. II, París 1929, 323.

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La forma esp. supitaño (en el Calila, 1251), sopitaño (en el A polonio), más antigua que súpito (Coraminas IV 295 a cita el primer ejemplo de 1403), podría ser la supervivencia de una palabra usada desde la antigüedad en el latín peninsular. Ello parece confirmarse viendo los otros derivados románicos: ait. subitano, avenec. sotan, fr. soudain, prov. soptan, que se remontan a un lat. subitanus, atestiguado ya en el siglo V (W. von Wartburg FEW X I I 334 s., cf. para derivados de subitare y subito HEW 8365 s.). La forma subitaneus representa una vez más, frente a subitanus de Galia e Italia, el área «colonial» y «aislada» de Hispania 9 . mancipium Es curioso que esta palabra no haya dejado descendencia en románico sino en esp. y port, mancebo 'muchacho' y en occit. masip 'criado', alang, mancip 'ayudante de notario', mascip 'empleado', aland, macip 'criado', gasc. del Ariège macipoun 'niño' (Meyer-Lübke REW 5284, Wartburg FEW VI 137, Coraminas I I I 237 a). Coraminas parece además indicar que en los textos peninsulares más antiguos tiene el sentido general de 'esclavo, criado', y lo mismo manceba es 'muchacha' en Berceo, y 'concubina' no antes de J u a n Ruiz. Sin embargo este sentido ya se halla en abearn. macipa 'prostituta', como en el lat. mancipa de los Statut. Massil. que cita Du Cange. El viejo término jurídico, esencialmente abstracto, ganó ya desde antiguo valor concreto, así en Plauto Epid. 686 mancupium scelestum, o Capt. 954 lepidum mancupium meum. Pero el valor abstracto predomina aún, y en el poco vulgar Terencio tenemos (Eun. 274) que la pregunta quid uidetur hoc tibi mancupium? se refiere a una esclava, como hace notar el comentarista Donato. Sin embargo, el valor concreto se marca ya con el masculino mancipius dominicus en la importante inscripción de Villafranca de los Barros (Badajoz) publicada en Eph. epigr. I X p. 69 n. 176. El mase, mancipius aparece también en Jord. Get. 134. Pero querríamos además señalar que los sentidos desfavorables que tiene la palabra en románico se hallan preludiados ya en la antigüedad, y precisamente en Séneca: De benef. I I I 28, 4 adulterae immo adulterarum commune mancipium (dirigiéndose al que es esclavo de los vicios), Ep. 47, 17 ostendam nobilissimos iuuenes mancipia pantomimorum, 65, 21 mí mancipium sim mei corporis. La misma tentación de ver en la palabra los sentidos romá9

Uso estos términos siguiendo a G.Bonfante en su citado trabajo en Studi di lingua e lett. spagn., titulado «L'Iberia nelle norme areali di Matteo Bàrtoli».

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nicos sentimos en este otro texto de otro hispano, Quintiliano Inst. V 12, 17: quo (uitio) mancipiorum negotiatores formae puerorum uirilitate excisa lenocinantur. prauus > esp. bravo El tema de la etimología de bravo ha sido muy discutido, y no pretendemos afrontarlo en su integridad, ni resolver una cuestión para la que se han aducido muchos argumentos y muchos textos. Vamos a aportar algún argumento más en favor de la derivación de prauus, propuesta por Diez y apoyada por Menéndez Pidal Orig.3 p. 325. Si las dificultades fonéticas han sido subrayadas con admirable conocimiento de la documentación medieval por el romanista P. Aebischer en un artículo en que se defiende de nuevo la derivación bravo de barbarli con la solución portuguesa de un intermedio *barbalu (Rev. Port, de Filol. VI 37-50) 10 , las dificultades semánticas que resultaban de no haber en latín antiguo textos donde prauus significara bravo desaparecen con un texto de Séneca en su tratado De ira I 18, 3 donde Cn. Pisón, el severo cónsul del año 7 a. C. que luego se enfrenta duramente como legado de Siria con Germánico (Groag RE I I I 1380-82) es calificado de uir a multis uitiis integer, sed prauus et cui placebat pro constantia rigor11. Para este sentido de prauus recordaré también una inscripción pompeyana de tema amoroso cuya segunda parte, en tono de desafío, dice contra un rival: inuidiose, guia rumperes, sedare noli formonsiorem, et qui est homo prauessimus et bellus (CIL IV 8259). Este prauessimus es un 'bravucón' que no se deja sedare : recordemos que la palabra bravo es de los romances peninsulares, de Italia y de la lengua de oc.

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Las IIIe' equas brauuas que aduce Aebischer de un documento portugués de 1102 parecen una prueba en favor de prauus, y por ello me parece que el insigne romanista tuerce un poco la interpretación de la curiosa grafía, como si correspondiera a *brauaas, es decir, a *barbalas. Es posible que tengamos el mismo sentido en un pasaje de Horacio Serm. I I 7 , 70 s.: quae bellua ruptis, quum semel effugit, reddit se praua catenís Ï Los comentaristas interpretan praua como 'stulta, incauta' (Porcellini), o bien entienden que obraría 'aus Verkehrtheit' (Kiessling-Heinze), pero que la fiera 'embravecida' no quiera volver a las cadenas sería ima expresión viva que no desmerecería entre los numerosos «elementos populares» horacianos que señaló Bonfante.

Monjes, Vascos y Franceses en la Rioja medieval MANUEL ALVAE GRANADA

1. La Rioja es una región de transición: se divide claramente en dos zonas geográficas y la historia anduvo condicionada por tal hecho. En la época de Constantino y en la primera división eclesiástica de Hispania, la Rioja pertenecía a la Tarraconense1, por más que — en tiempos del reino visigótico - Cantabria se extendiera hasta nuestra región, de donde habían de salir más tarde los primeros caudillos de la Reconquista: Pelayo, Alfonso I 2 . La ocupación árabe no pasó, de una manera estable, de la ciudad de Nájera, que se convirtió en la plaza fronteriza más importante que los árabes tenían frente a las últimas estribaciones del reino asturiano 3 . Por más que Nájera fue conquista leonesa (923), la plaza fue pronto cedida a Navarra (924), ya que la dinastía pamplonesa se sentía heredera de la tradición romana 4 . El P. Serrano, poco afecto a la acción oriental en Rioja, juzga intrusismo la presencia de Navarra o Aragón en estas tierras, sin tener en cuenta los hechos históricos que la condicionaban; sin embargo, acierta, probablemente, cuando interpreta las donaciones de García de Navarra a San Millán como una medida política para asegurarse la fidelidad del importantísimo monasterio6, al mismo tiempo que sus concesiones 1 2 3

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Menéndez Pidal, Orígenes, p. 468. Cf. Menéndez Pidal, DL, p. 107. SMC, pp. X X I - X X I I . AI usar por vez primera en este estudio las transcripciones del P. Serrano, me veo obligado a recordar el juicio adverso que han merecido a los historiadores (vid. J . M . Lacarra, El vascuence en la edad media, apud Geografía histórica de la lengua vasca, II. Zarauz, 1960, p. 54). Cf. Menéndez Pidal, DL, p. 108 ; Orígenes, p. 468. L a génesis y desarrollo de los hechos narrados aparece en Fr. Justo Pérez de Urbel, Los primeros siglos de la Reconquista, apud R. Menéndez Pidal, Historia de España, VI pp. 111-118, y 300-301. SMC, p. X X I V . El P. Serrano no considera que Sancho I I I había dado a su hijo García Navarra con los otros «territorios de lengua vascuence» (R. Menéndez Pidal, L a España del Cid. Madrid, 1929, p. 250, y Fr. Justo Pérez de Urbel, San-

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MANUEL

ALVAR

en Rioja, Navarra y Aragon trataban de borrar el límite del río Naj erill a situando a la Rioja occidental dentro del marco territorial de Navarra®. Justamente, este carácter fronterizo de la Rioja volveremos a verlo jugar un importante papel cuando Fernán González, en rebeldía contra León, ayuda al monasterio de San Millán tratando de granjearse de este modo el apoyo de Navarra 7 . Por más que Castilla, en la persona de su primer conde independiente, consiguiera situar sus límites entre los ríos Oja y Najerilla (no lejos de San Millán)8, Navarra nunca cedió en su pretensión de dominar toda la Rioja y llevar sus posesiones hasta las regiones castellanas donde se sentía la influencia riojana: así, en 1052, García de Navarra fundó Santa María de Nájera, iglesia episcopal que extendería su jurisdicción por los terrenos burgaleses de la Bureba, Oca y la más vieja Castilla 9 . Sin embargo, las aspiraciones navarras no siempre lograron buen fin: Fernando I (1062) dominaba la Bureba y la cuenca del Oja, Alfonso VI llegó a ocupar todo el territorio (1076)10, que fue castellano hasta 110911. Algún testimonio de 1114 muestra a Alfonso I el Batallador como señor de la Rioja 12 ; hecho que no extraña puesto que el dominio aragonés se extendió hasta la provincia de Burgos, donde Belorado era límite extremo

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cho el Mayor de N a v a r r a . Madrid, 1950, p. 233). Los problemas históricos y jurídicos que p l a n t e a la sucesión de Sancho I I I h a n sido aclarados brillantemente por A. Ubieto, E s t u d i o en t o r n o a la división del reino por Sancho el Mayor de N a v a r r a , P V , n ú m e r o s 78-81. H a y volumen a p a r t e : P a m p l o n a , 1958. P o é t i c a m e n t e , los hijos de Sancho I I I tuvieron acceso a la poesía épica, según estudió, de m a n e r a definitiva, J . M a R a m o s , Relatos poéticos en las crónicas medievales, Fil, I I , 1950, p p . 45-64. E s la m i s m a c o n d u c t a q u e seguirán los hijos de Sancho I I I el Mayor: F e r n a n d o I de Castilla d i s p u t a r á la Rioja a su h e r m a n o García de N a v a r r a . P a r a asegurarse los límites en la f r o n t e r a , García h a r á (1045-1053) i m p o r t a n t e s concesiones en Castilla al cenobio emilianense (SMC, p p . X L V I - L , y Pérez de Urbel, Sancho el Mayor, p p . 259-260). P a r a u n análisis circunstanciado de los hechos, vid. F r . J . Pérez de Urbel, a p u d Historia de E s p a ñ a , y a cit., VI, p p . 309-313. Téngase en cuenta, t a m b i é n SMC, p. XXVI. SMC, p. X X V I I . Grañón y Pazuengos pertenecían a Castilla (Menéndez Pidal, Orígenes, p. 469). SMC, p. X L V I I I . Desde los tiempos de Sancho I I I el Mayor, N á j e r a significó la región occidental de Rioja, donde los reyes n a v a r r o s t e n í a n u n r e p r e s e n t a n t e (vid. F r . J . Pérez de Urbel, a p u d . Historia de E s p a ñ a de Menéndez Pidal, V I , p p . 303-304). Vid. Pérez de Urbel, Sancho el Mayor, p. 262. SMC, p p . L V I - L V I I I y Menéndez Pidal, DL, p. 110; Orígenes, p. 469. SMC, p. L X X I I . Vid., t a m b i é n , u n a de las referencias de la n o t a siguiente.

LA RIOJA

MEDIEVAL

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de las tenencias aragonesas 13 . Sin embargo, un solo monasterio riojano, el de Valbanera, fue hostil al gran rey 14 . Después de la derrota de Fraga (7-IX-1134), donde Alfonso I perdió la vida, Alfonso VII reconquistó Najera (antes del 10-XI-1134) y, luego, toda la región 16 . Esta dominación duró hasta 1162 y, más tarde, en 1176, la Rioja se incorporó definitivamente a Castilla 16 . 2. Vemos, pues, que la fluctuación de la Rioja hacia el centro o hacia el oriente peninsular es una herencia de los tiempos romanos y visigóticos. De estas vacilaciones anteriores a la Reconquista, habían de salir las rivalidades medievales. Y es que la Rioja es tierra de paso, y tierra de contrarias fisonomías. De ahí esa Rioja Alta - desde el Iregua hasta Logroño - que gravita hacia Castilla y por la que discurrió el «iter francorum» (vid. §§ 13-16) ; de ahí esa Rioja Baja, vertida hacia Navarra y Aragón, y en la que la Diócesis de Calahorra fue sufragánea de Zaragoza hasta 1574 y Alfaro, hito oriental de la región, perteneció siempre al obispado de Tarazona. Esta partición geográfica y eclesiástica hemos de ver que tuvo también sus consecuencias para la lingüística 17 . L o s

MONASTERIOS

RIOJANOS

3. El monacato fue muy importante en la Rioja medieval. Sobre todo en el occidente de la región donde los cenobios de Albelda, San Millán y Valbanera fueron focos de irradiación cultural. En Albelda (siglo X) hubo residencia episcopal (el monasterio se fundó el año 924) y una comunidad benedictina 18 : en su época de florecimiento, llegó a competir con San Mi13

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Los documentos repiten una y otra vez el señorío de Alfonso I (todas las referencias que siguen proceden de los Documentos para la reconquista del valle del Ebro, editados por J. M> Lacarra en los EEMCA): «regnante adefonsus r e x . . . de Bilforato usque Murella» (II, n° 152, año 1128), «regnante [Adefonsus]... de Barbastro usque Uiliforato» (II, n° 157, año 1129), «...de Montson usque Bilforat» (II, n° 180, año 1134), «Rege Adefonso regnante... in toto riuo de Oia usque Beiforato» (III, n° 332, año 1133). SMC, p. L X X I I I . ib., p. LXXIV. Menéndez Pidal. DL, p. 110; Orígenes, p. 469. Algo se insinúa en el artículo de Suzanne Dobelmann, Étude sur la langue des chartes de la Haute-Rioja au X I I I e siècle. Β Hi, X X X I X , 1937, pp. 208-214, aunque sea éste un trabajo de poco fiar. SMC, pp. X V y X X X I I . Una referencia de carácter divulgador sobre Santa María de la Real de Náj era, Valbanera, San Millán de la Cogolla y San Martín de Albelda, se puede ver en el libro de Fr. Justo Pérez de Urbel, Las grandes abadías benedictinas. Madrid [1928?]. La historia de estos monasterios ha sido trazada por

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llán y en él - doblada ya la mitad del siglo X I — se redactó el cronicón que lleva el nombre del monasterio y en el que se insertó la ya famosa «Nota emilianense»19. En cuanto a Valbanera, fue un monasterio de no relevante significado, pero esto mismo hizo que allí se escribieran tinos documentos que suelen considerarse como de carácter más vulgar 20 ; resulta obvio decir que -desde un punto de vista lingüístico- estas escrituras tienen para nosotros un interés mucho mayor 21 que las redactadas en un latín más correcto. Pero, sin duda, es San Millán el más famoso de los cenobios riojanos: su origen remonta al año 574 en que murió el eremita San Millán; sobre el oratorio que él mismo había levantado, vino a erigirse el monasterio de San Millán de Suso 22 . La tumba del santo gozó tanto de abundantísimos favores regios como de la generosidad de toda clase de donantes y, a pesar de su localización, era lugar al que venían a peregrinar los castellanos. Así, para que las disputas de Alfonso VI y Sancho el de Peñalén no afectaran a la vida espiritual de estas regiones, el conde Gonzalo Salvadórez, gobernador del alfoz de Lara, hizo ver a Sancho de Na-

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D. Mecolaeta, Desagravio de la verdad en la historia de San. Millán de la Cogolla. Madrid, 1724; T. Minguella y Arnedo, San Millán de la Cogolla. Madrid, 1883; F . Fita, S a n t a María la Real de Nájera. BRAHist., X X V I , 1895, p p . 155-198; T. Minguella y Arnedo, Valvanera. Imagen y santuario. Estudio histórico. Madrid, 1919; L. Serrano, Tres documentos logroñeses de importancia. EMP, I I I , pp. 171-177 ; A. Urcey P a r d o , Historia de Valvanera. Logroño, 1932. Materiales para u n a historia sucinta de alguna de estas abadías (San Millán, Albelda) se encuentran en M. Gómez Moreno, Iglesias mozárabes. Centro Est. Hist. Madrid, 1919, pp. 288-309. Se conoce así porque el códice a que perteneció - y ahora pertenece— ea el códice Emilianense 39 de la Real Academia de la Historia. E n el folio 245 v. de ese manuscrito comienza el llamado Cronicón Albendense (Vid. Dámaso Alonso, La primitiva épica francesa a la luz de una nota emilianense C.S.I.C., Madrid, 1954, p. 8, y, también, R F E , X X X V I I , 1953 pp. 1-94). E n opinión de Serrano (SMC, p. X X X I I I ) el Albendense es una copia de u n original de San Millán. (Bien es verdad, que, cinco años antes, había dicho todo lo contrario, HMP, I I I , p. 175). Nueve años después de la fundación de Albelda, debían acudir abundantes peregrinos al monasterio, pues García Sánchez I le concede la villa denominada Unión para que los monjes puedan atender a los peregrinos y subvenir a su propio sustento («in cultura peregrinorum adque in alimonia monachorum »j Alb., 933, p. 31). SMC, p. X I V . Fueron publicadas por Manuel Lucas Alvarez, El becerro de Valbanera. EEMCA, IV, 1950, pp. 451-617. Sobre esta edición Manuel Alvar redactó su estudio El becerro de Valbanera y el dialecto riojano del siglo X I . AFA, IV, 1952, pp. 153-184, que se cita Alvar, Valb. SMC, p. X V I I . E n las páginas que siguen a ella, se pueden encontrar materiales con la biografía del santo y la historia del monasterio.

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varra cuan dañado resultaba el honor de San Millán por los impedimentos que el rey navarro ponía a las gentes que iban a adorar al santo. Como el monarca se arrepintió de su conducta, visitó el sepulcro en compañía de Gonzalo y rectificó su comportamiento dando licencia para que cualquiera pudiera venir («con sportella vel ferrone») de donde quiera que fuese, sin sufrir ninguna clase de molestias y estableció - además - severas penas para quienes atentaran contra tal libertad 2 3 . De estas peregrinaciones hubo de salir la superchería conocida como «los votos de San Millán»: las limosnas al Santo eran recogidas por unos colectores que - a s í - facilitaban la caridad, pero en el siglo X I I I decayó mucho la generosidad de las gentes, y, en vista de ello, se inventó un testimonio escrito en el que Fernán González establecía la contribución en especie que debián de pagar los pueblos de Castilla para corresponder a la ayuda que San Millán había prestado en las guerras contra los moros 2 4 . 4. El monasterio, ya en el siglo X, debió tener una buena biblioteca, parte de ella copiada en el propio convento: comentarios de Esmaragdo a la Regla de San Benito, una «famosa» colección de vidas y tratados monásticos, recopilación de concilios y decretos, bibliografía de autores religiosos, historias eclesiásticas, repertorios jurídicos y los tesoros de cualquier cenobio medieval: la Biblia, las Etimologías de San Isidoro, las colaciones de los Santos Padres 2 5 , el antifonario, el «liber ordinum». Como una necesidad cultural -lectura de textos latinos- aquí se redactó el m á s viejo testimonio de una lengua peninsulara; las Glosas emilianenses2e. Son éstas anotaciones para aclarar diversos problemas-ordinariamente léxicosempleándose para ello otras equivalencias latinas, románicas o vascas 2 7 . 23

SMC, pp. 221-222. SMC, pp. X X I X - X X X I . Berceo contó la historia de los votos en las estrofas 458481 de la Vida de San Millán, tras haber narrado el triunfo sobre la morisma. 25 SMC, pp. X X I I - X X I V . Vid., también, M. Gómez Moreno, Iglesias mozárabes, ya citadas, pp. 348-349 y 363-364.También Albelda posejó un famoso scriptorium. Aparte el Códice vigiliano dels. X, que se conserva en El Escorial, sabemos que el monasterio tenia en el año 951 «una escuela de calígrafos con su correspondiente biblioteca, bien surtida en obras de Padres españoles » (Serrano, Tres documentos logroñeses de importancia. HMP, III, p. 173). Allí florecieron, en el siglo X, monjes famosos en las letras: Vigila, Gómez, Salvio, Maurelo, García. 29 Las glosas son de mediados del siglo X (Menéndez Pidal, Orígenes, p. 2) y se añaden a un manuscrito de finales del siglo IX o comienzos de la centuria siguiente, cuyo contenido es: Consistorio de demonios (cuentecillo tomado de las Vitae Patrum), señales que precederán al fin del mundo, dos sermones y una homilía de San Agustín y un tercer sermón del santo obispo de Hipona. La mejor e dición de las glosas es la de Menéndez Pidal, Orígenes, pp. 3-9. " Vid. pp. 7-8.

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Las últimas líneas del sermón de San Agustín que se copia en primer lugar, ya no son glosadas, sino íntegramente vertidas. Pero el escritor no se conforma con traducir el «adjubante domino nostro Jhesu Christo cui est honor et jmperium cum pâtre et Spiritu Sancto jn sécula seculorum» 28 , sino que ex imo choráis, añade unas emocionadas palabras de oración: «conoajutorio de nuestro dueño, dueño Christo, duenno Salbatore, qual dueño get ena honore, equal duenno tienet eia mandatjone cono Padre, cono Spiritu Sancto, enos sieculos delosieculos. Facanos Deus omnipotes tal serbitjo fere ke denante eia sua face gaudioso segamus. Amen». Primer testimonio de una lengua peninsular, nacido, precisamente, en u n cenobio riojano, con las peculiaridades idiomáticas (cono, enos) de la región, sin excluir la de una impronta navarro-aragonesa que había de ser muy duradera (get, honore femenino). Como al santo de Silos, al viejo escriba le «fue saliendo a fuera la luz del corazón» 29 . Y le brotó en forma de rezo en su dialecto local: primer temblor de una lengua peninsular, nacido, precisamente, para hablar con Dios 30 . 5. Este florecimiento cenobítico hizo que los monasterios riojanos conocieran viejas acciones cultizantes o corrientes culturales extranjeras. Cuando el anotador de San Millán debe glosar los términos oscuros, muchas veces recurre al propio latín: partit jones por diuisiones, uerecundia por pudor, sicut por quomodo, etc. 31 , y es que la tradición latina no se agostaba en un solo venero. Y aquí - t a m b i é n - Munio, el copista de la Nota emilianense32, demostraba conocer ima tradición épica «no cronística, sino legendaria, y casi seguramente poemática» 33 , a la que podría traducir en un latín bárbaro. Pero cualquiera que sea el valor de estas transmisiones, lo cierto es que, junto a San Millán de Suso, vinculado a la tradición del monasterio, iba a florecer Gonzalo de Berceo, artista de valor inestimable y el poeta de intención más latinista de toda nuestra historia literaria 34 . 28

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Estas líneas, y las que siguen poco después, pueden leerse en la p. 7 de los Orígenes. Berceo, Vida de Santo Domingo de Silos, estrofa 40 d. Vid. Dámaso Alonso, El primer vagido de nuestra lengua, apud De los siglos oscuros al de oro. Edit. Gredos. Madrid, 1958, pp. 13-16. Vid. § 34 en la p. 29 de ELH, II. «ese escriba es -probablemente- el mismo Munio que exavarit una serie de documentos de San Millán, desde el año 1048 al 1070» (D.Alonso, La primitiva épica,

p. 9).

ib., p. 38. Cf. § 35 en las pp. 29-31 de ELH, II.

L A R I O J A MEDIEVAL

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LOS ELEMENTOS VASCOS

6. Por los siglos IX y X, el río Najorilla fue el límite del vascuence 35 . Así, pues, hace mil años, todo el occidente de la provincia de Logroño no hablaba romance ; y en esas tierras se alzaban, o habían de alzarse tiempos después, cenobios y poblados en los que identificamos buena parte de las características de la región: Naj era, Berceo, San Millán de la Cogolla, Valbanera y, el más tardío, Santo Domingo de la Calzada. Sin embargo, J. J. MERINO ha venido a demostrar cómo el vascuence llegó muy al sur en la provincia de Logroño, hasta una línea cuyos hitos se fijan en Villavelayo - Mansilla - Viniegra de Arriba - Brieva de Cameros - Villanueva de Cameros — Laguna de Cameros y Enciso 36 . Estos hechos nos explican las numerosas voces vascas que encontramos en los documentos riojanos, y que no son sino eslabones de una cadena que, en los testimonios toponímicos, nos llega hasta hoy. 7. Así, las Glosas emilianenses (c. 950) 37 tienen un par de ellas en vasco, no en romance o con sinónimos latinos, según es norma 38 : «jnueniri meruimur» = 'jzioqui dugu' (glosa 31), «precipitemur» = 'guec ajutuezdugu' (glosa 42). La segunda de estas aclaraciones se documenta también en romance: 'nos nonkaigamus'. El vasco recién transcrito no es demasiado fácil de identificar. Menéndez Pidal 39 recurrió a ilustres vascólogos (Echegaray, Ugarte, Campión, Urquijo) que tradujeron así: 85

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Menéndez Pidal, Orígenes, mapa frente a la p. 464, y J . Caro Baroja, Materiales para una historia de la lengua vasca en su relación con la latina. «Acta Salmanticensia», I, 3. Salamanca, 1946, mapa frente a la p. 18. Vid. sus estudios El vascuence hablado en Rioja y Burgos. RIEV, XXVI, 1935, pp. 624-626 ; El vascuence en el valle de Ojacastro (Rioja Alta). BSGeogr, L X X X I , 1931, pp. 254-264; Más sobre el vascuence en el valle de Ojacastro (Rioja Alta) ib., L X X I I , 1932, pp. 451-473. y E l vascuence en la Rioja y Burgos. R D T P , V, 1949, pp. 370-405. Manuel de Lecuona publicó un documento de 1279 del que se pretende inferir que se hablaba vasco en Murillo de Frecha en el siglo X I I I . Creo que no puede deducirse otra cosa que el empleo de apellidos o apodos vascos y la existencia de algún topónimo del mismo origen. Tampoco se puede asegurar que sean infanzones los portadores de los nombres vascos. Algunas grafías del documento son navarras (conceyllo dos veces) o responden a evolución fonética navarro-aragonesa (freyta, fillos). Cf. M. de Lecuona, El vascuence en la Rioja. E n Murillo del Río Leza, apud Geografía histórica de la lengua vasca. I I . Zarauz, 1960, pp. 60-66. Menéndez Pidal, Orígenes, pp. 2 y 5. E n u n documento navarro, procedente de San Miguel Excelsis (papel del s. XIV, que copia un texto de 1076) hay una glosa trilingüe: «In partibus Iberiae, iuxta aqua curentis, soto lino que dicitur a rrusticis Aker ÇaUtua. Nos possumus dicere Saltw ircorum». Y una letra coetánea interlinea: «Nos possumus dicere Soto de

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glosa 31: 'hemos encendido', Ίο hemos [solicitado] ardientemente', Ίο hemos ahuyentado' o alguna frase semejante, que no coiciden con el original latino. glosa 44: 'nosotros no nos arrojamos', 'nosotros no lo hemos adaptado a nuestra conveniencia', con las mismas dificultades de la glosa anterior. 8. R E S U R R E C C I Ó N M A R Í A AZKTTE 40 anotó unos cuantos elementos léxicos del vasco que se incorporan a las obras de Berceo, pero su lista es insegura: de una parte, hay que eliminar voces como bren*1, entecada42 y jeme43 y, por otra, hay que añadir alguna que falta. Así, pues, son vasquismos de nuestro viejo poeta las azconas {Duelo, 81), relacionadas con el vasco az, a i t z 'piedra' 44 , los zaticos (Sacrificio, 275) < z a t i 'pedazo' + -ko 4 5 , gäbe (Milagros, 197) < g ä b e 'privado' 46 y algunos que se pueden añadir a los escasos de Azkue: don Bildur (Milagros, 292) < b i l d u r 'miedo', socarrar (SMillán, 388) < s u 'fuego' — karr(a) 'llama' y, tal vez, amodorrido

(Milagros,

528) y cazurro

(Milagros,

647), si es que t i e n e

algo que ver con z a k u r r 'perro'. Entre estos dos hitos -las Glosas, Berceo- la documentación notarial permite enriquecer el parvo manojuelo.

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ueko». Esto es, 'rebeco' era aker en vasco, ircus en latín y ueko en romance; mientras que 'soto' equivalía, respectivamente, a çaltua, saltus y soto. Triple glosa comparable a la 42 de San Millán: guec ajutuezdugu, precipitemur, non kaigamus. (Cf. J.M. Lacarra, El vascuence en la edad media, apud Geografía histórica de la lengua vasca, II. Zarauz, 1960, p. 47). Orígenes, p. 467. P a r a la interpretación de las glosas emilianenses en vasco hay que recurrir a J . de Urquijo (GureHerria, X I I I , 1933, pp. 11-13), y, sobre todo, a L.Michelena (Textos arcaicos vascos. «Biblioteca vasca», VIII. Madrid, 1964, pp. 42-44). Según este investigador, el autor de las glosas pudo ser alavés, riojano o navarro. Leyendo el viejo romance, HMP, II, pp. 87-92. Bren no tiene nada que ver con irin 'harina' ( < f a r i n a ) sino que es probablemente un celtismo tomado del provenzal (DCELC, s.v.). La voz no es ni el vasco enda 'casta', de donde endeka 'degenerarse' (AZKUE), ni el indigus de la Academia; Corominas (DCELC, s.v. entecarse) postula un hipotético *heticarse < hético 'tísico' < gr. hektikós pyretós 'fiebre constante, tísico'. Del lat. s e m i s 'medida de medio pie' (DCELC, s.v.). Según el DCELC, en vasco es azkon; ancona, sigo a la misma autoridad, se docum e n t a en vasco del siglo X I I . Azkue cita el proverbio 563 de Oihenart («el mal caldedero, para t a p a r unos agujeros, le quita zaticos» [ = pedazos al caldero]) donde considera la voz como aumentativo, pero no creo necesario este sentido. No es t a n seguro silo (SDomingo, 704) pues el vasco zulo o zilo 'agujero' es probable que venga del celta s i l o n 'semilla' > 'depósito de grano' ; aunque el sentido de la voz ayude a dar la razón a Azkue. Poseo una documentación más antigua de la palabra en textos riojanos: silos (SMC, 988, p. 74).

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9. En los documentos riojanos -por ejemplo- los tratamientos de respeto son con frecuencia de origen vasco. Se repiten hasta la saciedad eita ( < e i t a , a i t a 'padre') y ander (a) 'señora'. En cuanto a los testimonios del primero, son de señalar las formas Aita*7, que aparece en un documento de Valbanera (« Aita Gomiz», 1068), y Eita, atestiguada con más frecuencia 48 : «Eita Valeriz» (SMC, 996-1020, p. 60), «Eita Didaco» (ib., 988, p. 74), «Eita Johannis» (ib., 998, p. 79), «Eita Alarice» (ib., 1009, p. 85), «Eita masciacon» (Valb., 1035, p. 466), «Eita Iohannes» (ib., 1037, p. 467), «EitavitsL» (SMC, 1063, p. 186), «Eita Gomiz» (Valb., 1067, p . 515)49. Las formas con it hay evolucionado a eh, transcrita normalmente con gg50: «Eggabita, Moriellez» (SMC, 1065, p. 195), «Eggagolen» (ib., 1067, p. 199), «Egga Lacine» (ib., 1077, p. 238), « % g a u i t a z » (Valb., 1078, p. 530), «Duen Eggav ita» (SMC, 1079, p. 247), «Agga Sango » ( Valb., 1081, p. 569), «Egga de Millan» (SMC, 1083, p. 255). Una fòrmula de compromiso entre las formas con i y con g debe ser -si no se trata de un yerro de transcripción- «Eigiga don Nunnu» (SMC, 1048, p. 145). Comoquiera que en el dialecto se conoce la solución it del grupo latino - K T - , se han cometido ultracorrecciones como «Acta Fanni» (SMC, 1035, p. 121), «Ecta Albaro» ( Valb., 1073, p. 508, passim), «Acta Santio» (ib., 1081, p. 570, passim). La voz vasca se usó «como título de respeto o de amor» y desde allí pasó a convertirse en nombre propio. 10. La correlación femenina del vasco eita es - e n los documentos riojanos- anderazo: Anderazo (SMC, 1009, p. 85), «Anderazo de Fortes» (Valb., 1035, p. 465), «Anderazo de Clementi» (ib., 1071, P. 500, passim), Anderazu (SMC, 1074, p. 223) y más testimonios en ALVAR, Valb., § 29. La voz es la misma con la que hoy se designa a la 'señorita' en bajo navarro y suletino (andere) y a la 'señora' en el resto del dominio lingüístico vasco (andra en Vizcaya, andre en las otras provincias) 51 . En su origen, la voz equivalía al tratamiento romance de domna, según podemos atesti-

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Vid. R. Menéndez Pidal, Modo de actuar el sustrato lingüístico. RFE, X X X V , 1951, pp. 1-7. Todas las formas de Valbanera se toman del § 29 de Alvar, Valb. ; en ellas consigno la fecha del documento y la página de la edición de M. Lucas Alvarez. La misma forma reaparece en otros dos textos que el editor de SMC sólo da en el Complemento (número 22): «Eita Hequito» y «Eita Meteri» (1079, p. 378). Sólo tengo un cado de grafía eh·. «Acha Vita» (SMC 1022, p. 102). Vid. J. Caro Baroja, Materiales, ya citados, p. 157. En la p. 159 de esta obra se encontrará documentación antigua de la voz. Algún testimonio de Lizasoain (cuenca de Pamplona) es aducido por J. M. Lacarra en La Lengua vasca en la edad media, apud Geografía histórica de la Lengua vasca, I I . Zarauz, I960, p. 27.

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guar: en un documento de Ramiro I 6 2 , se lee endregoto (año 1052), nombre que tuvo cierta buenandanza en aragonés pirenaico 63 . Se trataba de un 'doña Goto', según justifican otros documentos 54 , y aunque hubiera redundancias como la de «donna Andre goto» 65 , bien que no sea distinta del «domina domna» de cualquier documento estrictamente romance. El becerro de Valbanera autoriza a dar a la voz anderazo el significado de 'uxor', pues la «mugier de Brasko Roman» de un documento del año 1081 (p. 562) es la «anderazo de Blasco Roman» en otro lugar del mismo instrumento jurídico. E n cuanto a la terminación azo creo que es la misma palabra que el vasco moderno atso, que en la lengua común significa 'anciana' y en bajo navarro 'abuela' δ β , tal como hace inferir algún documento riojano: «[damus] duas eras: una in uallego de Padul, circa de sancta Maria de Azo» ( Valb., 1081, p. 578). La advocación mariana que aquí se cita es un híbrido que valdría tanto como 'Santa María la Antigua', tan abundante en España. E n otro cartulario puede leerse «Bal de Azu» (SMC, 1078, p. 242) que, si no es un error 67 , equivale a 'Valle Viejo' 68 . Concluyendo: Anderazo es, en su origen, una fórmula de tratamiento respetuoso en la que entran dos elementos (andrea 'señora' -f- azo 'anciana'), con el mismo valor, semántico e histórico, que el español señora doña. Después, como Eita, se convierte en nombre propio, y si no lo encontramos formando apellido es por la preponderancia familiar del varón; de este modo Eita sirve -incluso— para formar gentilicios: Aitaz, Eytaz. 11. Otros vasquismos en documentos riojanos son: ama ( < a m a 'madre' 69 ), documentado en SMC (1069, p. 204) y Valb. (1079, p. 543); amuña ( < a m u ñ a 'abuela' 6 0 ), en Valb. (1061, p. 484) o el difundidísimo anaya61: 52

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R. Ibarra, Documentos correspondientes al reinado de Ramiro I. Zaragoza, 1904: «Gigelmus filius endregoto » (p. 97). Vid. A.Ubieto, Doña Andregoto Galíndez, reina de Pamplona y condesa de Aragón. Actas Primer Congr. Int. Est. Pirenaicos. C.S.I.C. Zaragoza, 1952. Por ejemplo, Valb., donde puede leerse: «et proinde damus nos, suas filias: Goto et Anderazo et Urraka» (1092, p. 595). Caro, op. cit., p. 160. Según el Diccionario vasco-español-francés de Azkue, s.v., acepciones I a y 5 a . El editor puso Valdaza en el resumen que encabeza el texto, pero la localización de los otros pueblos que en él se citan me hace pensar en el actual Valdazo, part. Briviesca (prov. Burgos). En el partido de Riaza (Segovia) se documenta el topónimo Valvieja. Azkue, Diccionario, s.v. Azkue, Diccionario, recoge otras formas actuales de la voz, pero todas con idéntico significado: amona, amuna, amona. Cf., también, Caro, op. cit., p. 158.

L A R I O J A MEDIEVAL

151

«Annata Monnioz» (SMC, 1042, p. 130), « A n n a t a Moriellez» (ib., 1065, p. 195), «Annata Ferrerò» (Valb., 1073, p. 506), etc. 62 . De este último, se forman apellidos: «Garcia Annaiaz» (SMC, 1083, p. 256), «Semeno An63 naiaz» (ib., 1090, p. 280) . Obsérvese que todos estos testimonios, como los de eita o anderazo son fórmulas de respeto o cariño que con cierto carácter fósil se usan, a veces, en los documentos medievales ; en ello radica su capacidad de pervi vencía: rara vez se identifican con los usos románicos y, de ese modo, pueden subsistir en un nivel de lengua que se mantiene incontaminado. Naturalmente, el empleo cortés o afectivo de estas fórmulas no impide que se usen como apelativos comunes (campo del que salieron), o, incluso, como nombres propios: de ahí, también, la capacidad de algunos de estos términos para formar derivados gentilicios. 12. Con excepción de los hechos anteriores, los demás elementos vascos de los cartularios riojanos se reducen a hechos de onomástica (toponimia, antroponimia), que si son valiosos para la historia lingüística no muestran en modo alguno su grado de vitalidad en las hablas vivas 64 . L o s FRANCOS EN LA R l O J A

13. La presencia de los francos en la Rioja es inseparable de la historia de las peregrinaciones. Al parecer, fue Sancho I I I el Mayor (1000-1035) quien decidió bajar la via francígena desde los altos montañeses a la llanura de Rioja. Buscaba en ello «una nueva ruta política, militar y económica, de acuerdo con los nuevos reinos cristianos de la Reconquista» 65 . Así 61 62 63

e4

65

Cf. Menéndez Pidal, Mio Cid, p. 1216; Orígenes, § 67,3, y R F E , X X X V , ρ. 6. Más ejemplos en Alvar, Valb., p. 176, nota 65. E n los dialectos vascos actuales se documentan: anai, anata, (en guipuzcoano y vizcaíno), anaie (en vizcaíno y suletino), añaje (en vizcaíno de Isorierri), añase (en bajo navarro). E n vizcaíno, exceptuando Ondarroa, anae significa 'hermano de varón', pues 'hermano de hembra' es neba (todos estos materiales en el Diccionario de Azkue). Vid. Alvar. Valb., p. 176. Creo que son muy exactas las palabras de Lacarra referidas al becerro de Valbanera: «da impresión de un vasquismo por contagio de zonas próximas de habla vasca, o como supervivencia de repobladores vascos, absorbidos en una masa de población románica » (El vascuence en la edad media, apud Geografía histórica de la lengua vasca, II. Zarauz, I960, p. 54). Acaso no fuera necesaria la disyuntiva o: puede tratarse de dos hechos concomitantes. Vid. Peregrinaciones, II, pp. 17-18, y, para la cronología, la nota 20 de esas páginas. Pérez de Urbel, Sancho el Mayor, p. 264, expone unas causas que podrían haber hecho bajar el camino a la tierra llana: facilitar el tránsito del Duque de Aquitania en su peregrinación. Me parece una causa demasiado liviana para la gran reforma que se lleva a cabo.

152

Manuel Alvab

Nájera, que en 1052 tenía un mercado en manos de judíos y francos, y, parece plausible la hipótesis de que, a partir de 1079, se incrementaría la emigración francesa por donación de Alfonso V I al Cluny de la iglesia y alberguería de Santa María: hubo aquí una comunidad francesa, que sustituyó a la española, y un prior francés. Hasta el s. X I X llegó la vida de esta abadía que aún sostenía tres camas, mermados restos de la que fue -todavía en el siglo X V - generosa hospedería de peregrinos66. Así otra ciudad famosa en los anales riojanos, Santo Domingo de la Calzada, debió su vida toda, al «iter francorum». El santo que dio nombre al pueblo, construyó la calzada entre Nájera y Redecilla, movido por las penalidades que vio sufrir a los peregrinos que atravesaban el río Oja, en las cercanías de su ermita. Allí levantó un puente, erigió una alberguería y, gracias a la generosidad de Alfonso V I , vio nacer la población que llevó su nombre67 y que se pobló después (en 1207) con el fuero de Logroño, «ad forum de francos»68. Así, también, Logroño, que había de acabar siendo la capital de la Rioja: en 926, García Sánchez de Navarra podía ceder a San Millán la villa, esto es, 'explotación agraria', de Logroño «cum omnibus hominibus, terris, vineis, ortis, pomariis, montibus ac defensis et pascuis, cum exitu et regressu, et cum suas pescheras, cum omnibus mobilibus et inmobilibus» 69 ; pero siglo y medio después, esta villa era poblada con gentes «tan Francigenis quam etiam Ispanis»70 y estos francos son quienes dieron resonancia extrapeninsular al naciente núcleo urbano71 o quienes deter$e

67

118

βί

Ib., I , p. 473, y , sobre todo, I I , pp. 155 y ss. E n 1126, algún documento muestra cómo por la corporación de francos testifican unos cuantos vecinos de N á j e r a (Menéndez P i d a l , D L , p. 112, línea 16). Ib., I I , pp. 162-163, y J. M. Lacarra, L a repoblación del camino de Santiago, apud L a reconquista española y la repoblación del país. Zaragoza, 1951, p. 227. R A H [Muñoz y R o m e r o ] , Colección de Fueros. Catálogo. Madrid, 1852, p. 227. E l Fuero de L o g r o ñ o se extendió hasta los puertos cantábricos: así Bermeo (1236), Plencia (1299), Bilbao (1300), Portugalete (1322), etc. (cfr. A.TJbieto, Un mapa de la diócesis de Calahorra en 1257. R A B M , L X , 1954, pp. 382 y 385; J.M a . Lacarra, N o t a s para la formación de las familias de fueros navarros. A H D E , X , 1933, pp. 229-232. SMC, año 926, p. 25.

70

Muñoz, Colección, p. 335. Los datos constan en las líneas 4 y 5 del original del Fuero.

n

A las referencias que recoge Langlois en su Table des noms propres dans les chansons de geste (Paris, 1904), añádase ésta de J.Bédier ( L a «Prise de Pampelune» et la route de Saint-Jacques de Compostelle. R F o , X X I I I , 1907, p. 810): «4. L e Groing. Après avoir réduit Estella en leur puissance, les chrétiens 2416. S'en istrent de la ville sens nule destourbance E tant esploiterent ou la Jesu sperance Qu'au Groing furent venus...

LA RIOJA

MEDIEVAL

153

minaron la construcción de u n puente sobre el río Ebro, obra que coronó San J u a n de Ortega en 1183 72 . 14. Sin entrar en pormenores sobre otros núcleos menos importantes, vemos como Nájera, Santo Domingo y Logroño debieron su florecimiento a la venida de estos francos que -incluso- determinaron el nacimiento de un nuevo estatuto jurídico, establecido para fomentar las nuevas poblaciones. E n 1092, el Cid destruyó Logroño y suele decirse que de este hecho derivó la repoblación del conde García Ordóñez, que intentó crear un núcleo urbano denso y vinculado a Castilla. Según esta hipótesis en 1095 se concedió a la población un fuero para que en él se ampararan t a n t o las gentes venidas del otro lado de los Pirineos como las peninsulares 7 3 . Por fortuna, sobre este fuero y sus consecuen cias jurídicas tenemos un t r a b a j o fundamental debido a mi maestro RAMOS Y LOSCERTALES 74. Gracias a esto podremos con todo rigor determinar el sentido de esta puebla: la desviación del camino de Santiago hizo que el fundo agrario que García Sánchez de Pamplona cedió a San Millán, pasara - o t r a v e z - a la honor real, como fin de etapa importante en las peregrinaciones jacobeas 7 5 . De este modo, el rey, pensó atraer gentes extrañas a las de su tierra para que, con u n estatuto jurídico poco gravoso y con garantías suficientes, trocaran el lugar de su vivienda 7 6 ; de ahí que ese nuevo estatuto tuviera una personalidad m u y definida: la franquicia; es decir «integración de una libertad y una ingenuidad, como u n a capacidad del ejercicio de todos los derechos inherentes al status libertatis y como una exención de las cargas que debían levantar, al igual de los siervos, los hombres libres que poseían un predio

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74 75

C'est Logroño a 40 Km. d'Estella ». La forma vulgar del nombre aparece en otros muchos textos: ilio granio (Flogroño, p. 337), «Petrus de Gronno» (Docs. Ebro, II, año 1173, n° 270, p. 644, y, con ligera variante, en III, 1175, n° 392, p. 604); «in ilio gronio» (ib., III, 1130, n° 325, p. 548, y 1143 n° 351, p. 572), «don Laco del Gronio» (Valb., 1110, n° 196, p. 603); Ogronium (1151, HMP, III, p. 178, II). Vid. nota 6, p. 503, de la traducción del Codex Calixtinus hecha por A.Moralejo, C.Torres y J.Feo (C.S.I.C. Santiago de Compostela, 1951). Cf., también Peregrinaciones, II, pp. 149 y ss. San Juan de Ortega fue discípulo de Santo Domingo de la Calzada y a él se atribuye la construcción o reparación del puente de Nájera (Peregrinaciones, II, pp. 155-156). Vid. Peregrinaciones, II, pp. 149 y ss. Ramos, art. citado en la nota siguiente rechaza que el fuero tenga nada que ver con la devastación del Cid: son hechos independientes y de sucesión puramente casual: «Logroño seguía, pues, poblado despues de la cabalgada cidiana de 1092 y era solamente el crecimiento de su población lo que se buscaba» (p. 349). Menéndez Pidal (España del Cid. II, p. 443) tampoco cree en la relación directa entre la destrucción y el fuero. El derecho de los francos de Logroño en 1095. Berceo, II, 1947. Ib., pp. 347-349. " Ib., p. 350.

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MANUEL ALVAR

en el dominio ajeno, cuya tenencia les imponía, además, una limitación de su libertad»77. Así pues, lo que fue un mero adjetivo de carácter étnico, francus, se convirtió en un estado social. Y su motivación fue, incuestionablemente, la atracción de gentes que tuvieran facilitades para ejercer el comercio y para desenvolver una vida segura, gracias a unos privilegios reales. Aunque el fuero dice específicamente que a Logroño podían venir francigenis, ispanis o ex quibuscumque gentibus, sin duda -al legislar- se pensó en los franceses y por eso en su capítulo III se explica el significado de una expresión que allí se usa: «foro de francos»78 ; esto es, algo que motivado por gentes ultrapirenaicas iba a tener aplicación para las de montes adentro. Baste recordar, por ejemplo, que cuando Sancho, conde de Castilla, ofrece la villa de Quintanilla al cenobio de San Millán (1003) la franquitas no se designa, por más que el hecho jurídico se formule: la cesión se hace genua et libera79, es decir, franca, según la terminología que -más tarde- había de acuñar el fuero de Logroño80. 15. A pesar de estos hechos, no abundan los franceses en los documentos riojanos. He leído cuidadosamente los textos transcritos por D. LU81 CIANO SERBANO y no he obtenido ningún fruto: idéntico resultado se infiere al estudiar los que editó M. Lucas Alvarez (Valb.)82. No es mucho 77

78

79

80

81 82

E n el mismo sitio de la nota naterior. Por tanto en la franquitas entraban dos conceptos: uno de carácter positivo (la libertas)·, otro, de carácter negativo (la ingenuitas). O sea, el hombre franco podía hacer determinadas cosas, en uso de su libertad; y no tenía que hacer otras, en uso de su ingenuidad. Vid., especialmente, las pp. 350 y 359 del artículo de Ramos. P a r a francos 'franceses', cf.: «in Torsantos villa unam ferraginem iuxta caminum de Francost, (SMC, 1084, n° 257, p. 260). En el Fuero de Toledo (1118), francos siguen siendo, todavía, los franceses: «ad omnes cives Toletanos, scilicet, Castellanos, Mozarabes atque Francos » (Muñoz, Fueros, p. 363). Y así persistía en la misma ciudad por 1137: «Mozarabes, Castellanos, Francos, quod non dent portaticum» (ib., p. 375). Otro testimonio en la p. 380 de la misma obra. E n el fuero de Belorado se distingue, también, entre «francos et castellanos» (Muñoz, Fueros, pp. 410 y 411) y los francos tenían un juez de tal nacionalidad, elegido libremente ib., p. 411). Recuérdese como el Fuero de Logroño distinguía entre francigenis (gentilicio) y francos (clase social) (Muñoz, Fueros, p. 335). SMC, p. 80, n° 71. El sintagma se hizo tópico: liberos et ingeníeos (ib., 1009, p. 88, n ° 77), «ingenuam hac liberam eam habeatis» (Alb., 1062, p. 103). Sin embargo en el fuero que Alfonso I dio a los pobladores mozárabes de Mallén (1132), se diferencia claramente cada uno de los conceptos: «sedeatis ingenuos, et liberos et francos» (Muñoz, Fueros, p. 503). SMC, pp. 79-293, docs, de 1001 a 1099. Según consideraciones de Charles Higounet, Nouvements de population dans le Midi de la France du X I au XV e siècle. «Anales», I, 1953, p. 3, y nota 6 en la misma página.

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MEDIEVAL

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conseguir en más de doscientas páginas de lectura la documentación de u n Monnio Peregrino83 y el topònimo Covadegallecos 84; que debe remontar a g a l l i c u 'de Galia' (aunque no es imposible que fuera 'de Galicia'), cf. río Gallego, en Aragón 8 5 . No es m u y claro por qué esta ausencia de francos en la documentación, cuando t a n t o - l o sabemos- abundaron en las ciudades riojanas 8 8 . L a única explicación plausible es la de pensar que los documentos de San Millán y Valbanera son de carácter rural (compras, ventas, cesiones, etc. de predios más o menos en proximidad de los cenobios o de gentes que se relacionan o buscan su amparo en ellos), mientras que los franceses, cuando se establecían para afincarse en un sitio, lo hacían tent a n d o el lugar donde pudiera prosperar el comercio ; esto es, en las ciudades con importante núcleo urbano o a las que iba a rendirse el final de una etapa de peregrinación. 16. Que la presencia de estos franceses fue abundante, por más que la lingüística lo silencie, está acreditada por el testimonio de la literatura. E n Rioja se conocieron las gestas francesas y u n a nota, copiada en San Millán, precisamente, ha venido a revolucionar los estudios de la épica rolandiana 8 7 . E s t a nota es fechada por su editor entre 1065 y 1075; es decir, coindice con los años que otros documentos señalan ya como de abundante presencia de franceses: recuérdense los comerciantes que domin a b a n el mercado de Nájera en 1052, y a quienes he aludido en líneas anteriores 8 8 .

83

Que, naturalmente, podía no ser francés (SMC, 1068, p. 159 n ° 148). E n Alb. (1074, p. 133) aparece u n «domno Heric», que, es de presumir sea francés. 81 Así en un doc. de 1008, p. 84; Covagallecis en otros de 1058 pp. 170, 171, y 172. E s t e lugar estaba en tierras de Pancorvo, actual provincia de Burgos (SMC, p. LV). 85 Geográficamente, m e parece m á s difícil que los Gallegos, Galleguillos, etc. de Salam a n c a remonten a Galia y no a Galicia, según supone M. Legendre en E l camino francés de Santiago, apud Santiago en la historia, la literatura y el arte. t. II. Madrid, 1955, pp. 69-70. 86 Menéndez Pidal, D L , p. 110, señala a un francés como otorgante de un documento de Logroño en 1199 y francés es, también, u n signatario de otro documento de Santo Domingo de la Calzada en 1212. 8 ' Dámaso Alonso, La primitiva épica francesa a la luz de una nota emilianense. C.S.I.C. Madrid, 1954, y R F E , X X X V I I , 1953, pp. 1 - 9 4 . 88 !Las páginas precedentes son u n anticipo de u n libro que he dedicado al Dialecto riojano medieval y que se publicará por la Universidad Nacional de Méjico.

Studien zum Wortschatz von Hocharagon ALWIN K U H N INNSBRUCK

Vor genau 80 Semestern habe ich - schon mit einer Verspätung von sechs Jahren — meine erste Vorlesung gehört, und zwar in dem damals noch stilleren Tübingen, im verwinkelten und heimeligen Romanischen Seminar in der Münzgasse. Wir Studenten staunten, daß der jung berufene Professor - Gerhard Rohlfs - schon einen so stattlichen Band von Sonderdrucken eigener wissenschaftlicher Arbeiten in die Seminarbibliothek stellen konnte. Fünf Jahre später traf ich, verehrter Jubilar, während meiner Pyrenäenwanderungen wiederholt auf Ihre Spur. Sie hatten die Freundlichkeit, ein Bild Ihrer 'berittenen Dialektgeographie' aus Hecho in Ihren Beitrag von 1962 zur 'Weltoffenen Romanistik' einzufügen. Dazu traf ich in den Pyrenäen auf die Namen zweier anderer 'Hocharagonesen', W. D. Elcock und Rudolf Wilmes, die heute nicht mehr unter uns sind. So ist es kein Wunder, wenn in den folgenden Zeilen, die ursprünglich als 5. Kapitel der 'Studien zum Wortschatz von Hocharagon' (ZrP 55, 561 ff.)1 konzipiert waren, die Namen von Ihnen drei 'pireneistas' immer wieder genannt werden. Das letzte Kapitel, über die Pflanzennamen, sei - Dios mediante einer späteren Veröffentlichung vorbehalten.

TIERWELT SÄUGETIERE 2 : Die Maus trägt in Hocharagon Bezeichnungen, die sich

sp. ratcm u n d kat. rata gegenüber an das Südfranz, anschließen. Dem Grundwort SOREX, -ICE entspricht zorz in Hecho, dazu stellt sich asp. sorze, in den Worterb. auch sp. sorce. Die Form súri im gleichen Ort lehnt sich wohl unmittelbar an die gase. Entsprechungen von frz. souris < SORICUS 1

2

Der leichteren Drucklegung halber sind in dieser Wortschatzstudie die Dialektformen in normaler Orthographie gegeben worden. Nur der stimmlose palatale Reibelaut ä (wie in dt. schon) und der stimmlose propalatale Reibelaut á (wie dt. ich) wurden mit phonetischen Zeichen wiedergegeben. Namen der Haustiere s. ZrP 55, 609 ff.

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ALWIN

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an (suri, súris ALF 126); Ansò éorigué < S O R I C A R I U S 'ratón' zeigt im anschließenden Hochribagorza ixorigué 'gavilán' (Ferraz y Castán) sowie im K a t . soriguer 'Turmfalke' noch seine adjekt. Herkunft. Mintsoso Ypiés 'rata montesa blanca' stellt sich wohl mit Suffixwechsel zu Burgos micharro 'ardilla', das nach Rohlfs 'Le Gascon' 22 zu bask. michara 'marmota, lirón', lumicharra 'lirón' gehört. Wahrscheinlich meint Ypiés damit das Hermelinchen, das in Panticosa almiño heißt: 'animal blanco que se cria dentro de la nieve, en las tarteras grandes de las peñas'. Ais 'blinde Maus' gilt auch hier die Fledermaus. Neben sp. murciélago begegnen arag. murciégalo Ansò, Hecho, Salient, murciélaro Hecho, murciálago Torla, murciácalo Biescas, dann mit suffixähnlicher Tonverlagerung auf die Pänultima murcialago, murciagalo Ypiés, morcialago Loarre, 3 < M U E E C A E C U L Ü ('etwas blind'; R E W 1460, 5764a) . Auf die Farbe der Fledermaus spielt ursprünglich an barcino Ansò, span, als Adj. bekannt: 'dícese de los animales de pelo blanco y pardo y a veces rojizo' ; vgl. dazu salm. arag. bardino Hecho 'se aplica al perro u otro animal que tiene el pelo de un color dudoso, entre plomizo y gris; también se dice bardeno', was der Definition nach noch besser auf die Fledermaus passen würde als barcino4. Ein vielbehandeltes Wort dient zur Benennung des Wiesels in ganz Hocharagon bis südl. Teruel und, an das Baskenland sich anschließend, auf dem ganzen nördl. Ebroufer bis über Vitoria hinaus: paniquesa, alav. paniquesilla 'comadreja' (Baráibar), in der Gase, pankèro, pankéze (vgl. Karte Menéndez Pidal, Orig. 432). Die Behandlung des etymologischen Problems (ib. 417 ff.) wurde durch Rohlfs in die richtige Bahn gelenkt (Archiv 160, 243ff.) und schließlich endgültig gelöst 6 . Statt Brot und Käse setzte man dem Tier zur Besänftigung auch Brot und Milch vor die Tür: panllet, apalè, apalèt (Palay). Der südliche Teil der Gascogne schlägt sich hier ohne jeden Rückhalt in der Galloromania zu Teilen der iberischen Halbinsel. Gerade das Beispiel der Wieselnamen, wie ähnlich 3

4

5

Auf Grund des salm. burdégano wohl schließt Unamuno HomPidal II, 59 auf 'analogía de burriciego y de morrar o dar de morro tropezando', doch ist der Wechsel von 6 und m in Nordspanien und Südfrankreich rein lautlich möglich, ohne daß wir unsere Zuflucht zu Analogie und Wortkreuzung zu nehmen brauchten. Typen mit Einschlag lautmalenden Charakters, wie sie sich beiderseits des Baskenlandes finden: alav. chiribito, chibirito (Baráibar), gase, cheberiscaube, chiriscaube, charriscabe (Palay) etc., fehlen in Hocharagon. Archiv 161, 232; vgl. bes. auch die schöne Arbeit von E.Schott, 'Das Wiesel in Sprache und Volksglauben der Romanen'. Tübingen 1935; sowie MPidal Orígenes 419f.

Z U M WORTSCHATZ VON

HOCHARAGON

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schon oben die der Maus, in ihrer örtlichen Mannigfaltigkeit zeigt, wie sehr rein wörterbuchmäßige Gegenüberstellungen des Wortschatzes, etwa sp. ratón, kat. rata, pr. soritz oder sp. comadreja, kat. mostela, pr. mostela, (ML K a t 139) den Verhältnissen Zwang antun müssen und keine geeignete Vergleichsgrundlage für die Zusammengehörigkeit oder das Fremdsein zweier Idiome bilden können. Das Eichhörnchen, sp. ardilla, ist in ganz Hocharagon wie in Katalonien und der Galloromania durch den Typus * S K X J E , I O L U , nach S C T J R I U S , vertreten, wobei die arag. Wörter (esquirol Borao, Ferraz gibt sich sofort als katalanische Ausstrahlung zu erkennen) der Lautform nach bodenständig sind: esquiruelo Hecho, Aragüés, Embún, Panticosa, Linas, Torla, Fiscal, Aineto, Bolea, Huesca, esquirgüélo Loarre, esquirïbelo Ansò, esquirigûelo Salient, Biescas, esquirgüello, esquirguoïlo Lanuza; beam, eslcirúl, esleirán, skiró (ALF 450; Rohlfs, Le Gascon, 59). Der Marder: arag. fuíña (FEW), juina Hecho, Panticosa, Aineto, Loarre, wie auch sp. und kat. (k. neben fagina), anschließend bearn. fuino, hajino, bigorr. hayino, gahino, frz. fouine, < F A G I N A adj. R E W 3144, F E W III, 370; gegen sp. marta, garduña. Der Fischotter nutria 'es como un gato, come las truchas' heißt in Hocharagon wie im Prov. meist loyra, allgemein in den Hochtälern von Ansò bis Torla, Buerba aloyra (Wilmes) ; anschließend bearn. luéyro, südfrz. lúyro (ALF 1614), gase, lèyre, loèyre (Palay). Daneben steht das schriftspr. nutria und hat in Panticosa nóyra als Kreuzung hervorgerufen ; auch sonst in der Iberoromania haben sich die von R E W 5187 genannten Formen des Etymons gekreuzt und eine reiche Skala von Kontaminationen hervorgebracht; so gelten im Westen galiz. ludra, nudra, neben lontre(g)a; westleon. lundre, lunària (im Bierzo, García Rey), salm. londriga, montañ. santand. luntria, londriga (García Lomas); im Osten: arag. loyra, noyra (s.o.), hochribag. luria (Ferraz), kat. lludria, llúdriga. westastur. llóntriga, llóndriga. Bei der Benennimg des Dachses schlägt sich wiederum Südfrankreich (Gase., Langued., Prov., Zentralmass., Frankoprov.) zur ganzen Iberoromania mit Ableitungen von dem aus dem Germ, sich herleitenden T A X O , -ONE: tajón, tasan Hecho, Aragüés entsprechen lautlich genau kast. tejón, kat. teixó, prov. taisó; daneben vom Nominativ galiz. teiSo, prov. tais und der gase. Typus tàchou, tach, tatch (ALF 134; Palay); schließlich gilt auf der Halbinsel noch mit Suffix® arag. tasubo Aragüés (mit Wechsel g-b), 6

Nach Gamillscheg, Germ. Rom. 1,27 germanisch; nach Rohlfs Archiv 167, 72 aus mehrfach gebräuchlichem Wortausgang entstanden.

160

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dem tajudo Nerin, taSur Buerba (Wilmes) und für die Litera tajugo (Coll, Slaby) sowie montañ. santand. tasugo, pg. teixugo entsprechen; span. tasugo statt des zu erwartenden *tejugo (wie tejón) ist als nordspanisches Wanderwort anzusehen. Den eigentlichen lat. Ausdruck MELES, allerdings in der TAXONEM entsprechenden Weiterbildung MELONEM, treffen wir nur noch in melón Aragüés, Aineto, das nach Acad. im Span, noch als meloncillo in der Bedeutung von 'lirón' ('Ratz, Siebenschläfer, Bilchmaus') weiterlebt, und schließlich in bask, mierle R E W 5474. Ein nur mundartliches Wort ist wieder furnaca Hecho, jamaca Aineto, auch Borao 'cría de liebre', letzteres auch 'mujer torpe' (arab. Herkunft, vgl. M.L.Wagner, R F E 21, 244). Ebenso mundartlich ist lorica Hecho 'conejo', < *LAURICA (zu LATJREX, R E W 4941), mit Metapher in Borao: 'aro de hierro para sostener los pucheros en el hogar'. Vom gleichen Wortstamm leitet sich die Bezeichnung für den Bau des Karnikels her: arag. lorca Borao 'nido en donde crían los conejos', dann nach Coll llorigada 'conjunto de conejillos recién nacidos', lloriguera 'sitio o lugar donde ha nacido la llorigada' aus der Litera, daher mit katal. Anlaut; letzteres, arag. *loriguera, würde mit Metathese oliquera Hecho 'idem', dann mit Einfluß etwa von DOLUM 'Faß, Bütte' (also 'Hohlraum', nach F E W 3, 199 als dojo 'Bienenkorb' in Altkastilien, Burgos und Segovia lebendig) arag. doliquera Aineto 'donde se crían los pequeños conejos' ergeben ; cf. Buerba duliquera 'wildes Kaninchen' (Wilmes) ; zu diesem umgestellten Typus gehört südfrz. ourigado 'Wurf Kaninchen'. F ü r 'madriguera, huronera' begegnet in Aragon noch cado Hecho, Nerin, calo Aineto, die mit falscher Redression nach der Partizipialendung -ado oder mit Hiattilgung auf kat. cau aus CAVTTS 'Höhle' zurückgehen (vgl. R F E 7, 25). Gänzlich vereinzelt steht tramacal Aineto 'grande agujero de los conejos', wohl zu TRAMES R E W 8848, 'Weg, Gang' ; vgl. gase, tràme, tram 'sentier' (Rohlfs, Le Gascon 71) 7 . Zu sp. raposo 'Fuchs' stellt sich arag. reposo Bolea, meist jedoch raboso, -a Ansò bis Loarre, genannt nach dem auffälligen Merkmal des buschigen Schwanzes, zu rabo < RAPUM. Das anschließende Südfrankreich zeigt für den Fuchs ganz andere Typen: bup (ALF 1147 p. 697,699), mándro Ariège, Aude (ZrP 47, 403), g il a Pyr.-Or, kat. auch guineu; vgl. noch die Wendung a feyto una rabosa o carro Torla 'el carro se ha atascado en un foráu y no puede sacarse', fer rabosa Hecho 'no ir a la escuela'. Ähnlich bei Coll für die Litera ; Bolea kennt den Flurnamen Monte Rabosal, auf dichte Bewachsung mit Buschwerk anspielend (oder auf zahlreiche Füchse). 7

N i c h t zu TRAMPA, w i e R L i R 11, § 66 e r w o g e n .

Z U M W O R T S C H A T Z VOM H O C H A R A G O N

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Die Farbe ist wiederum ausschlaggebend für den Namen des Hirsches in Linas, pardo; das Reh, definiert als 'especie de cabra montesa', wird in Aragüés und Embún cuerzo genannt, mit sp. corzo, pg. corço, kat. corso 'Reh' (wegen des kurzen Schwanzes) zu C U R T I A R K , vgl. dazu abruzz. leur ce 'Ziegenbock'. Die eigentliche 'cabra de monte, gamuza' trägt gegenüber dem etwa in den kantabrisch-asturischen Bergen üblichen rebezo ein ausgesprochenes Pyrenäenwort als Namen: sarrio in unserem ganzen Gebiet. Loarre definiert 'cabra roya' ; dazu sisardo Borao 'cuadrúpedo; capra rupicapra' ; jenseits der Grenze lebt das Wort in bearn. sárri Lescun, Agnos, Arrens (vgl. auch A L F 1491), östlicher dann beiderseits des Gebirgskammes mit i-Vorschlag: chizardo Bielsa, isarso Benasque (auch Ferraz y Castán), im Bigorre izar Campan, auch Gavarnie, idart (mit stimmhaftem Interdental) St.-Lary, im Ariège izart, izar (Rohlfs ZrP 47, 401 und Le Gascon 21). Es ist ein baskisches Reliktwort, mit dem Tier auf die Pyrenäen beschränkt und als isard, isart ins Kat., als üzart, üzarn ins Prov. gekommen. Als 'especie de sarrio' wird auch der bucardo Panticosa, Linas, auch bei Borao, 'Steinbock' bezeichnet, der im Bearn boucardou ( F E W 1, 587b), boucardou (Palay 1, 164) heißt; zu gall. * B T T C C U . Der Name des Wildschweins zeigt typisch aragonesische Lautform : sabalin Hecho, chabalín Ansò, Aragüés, Embún, Torla, Fiscal, Fabio, Ypiés, Loarre, jabalín Biescas, Bolea, während sich das reichssprachliche jabalí in Lacanal, Panticosa und Aineto durchgesetzt hat; R E W 3940. Der angeführte Auslaut beruht auf Analogie zu Wörtern mit dem Suffix -in, -ino, da der Wortausgang auf betontes -i dem Sprachbewußtsein des Aragoniers vollkommen fremd ist 8 . Entsprechend erscheint der Name des weiblichen Tieres als sp. jabalina, pg. javalina, wo das Suffix noch deutlicher aufgepfropft wurde. Arag. onso Ansò, Hecho, Panticosa, Biescas, Torla, Bolea, Loarre 'Bär' zeigt gegenüber sp. oso (Lacanal, Aineto), gase, us (in einem Streifen längs der Grenze auf A L F 960) und dem Etymon TTRSTJS falsche Redression nach dem selten gewordenen Beispiel der Erhaltung oder Wiederherstellung von η vor s: ansa Ansò, Hecho gegen sp. asa; arag. panso Borao gegen sp. paso 'seco' < P A S S U S , 'verwelkt' ist eine ähnliche Erscheinung. Unter den Bezeichnungen für Schlangen fällt neben der umgelauteten Form sirpiente Hecho, im Nordosten cullebra 'culebra vidriosa, serpiente menos mala que la gripia' auf; die Mouillierung des I deu-

KRIECHTIERE.

8

Zu dieser Tendenz in span. Umgangssprache und Mundarten vgl. M.L.Wagner, R F E 21, 240.

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t e t vielleicht den ehemaligen Diphthong an: < *culuebra < COLQBRA für COLUBRA, vgl. afr. coluevre; span. kat. mit culebra haben ihn vereinfacht; daneben pr. colovra, akat. Jcalobre, arag. Iculobra. Als 'culebra que no pica' wurde in Salient barbacanes genannt. Die eben mit erwähnte gripya ist in Aragon weit verbreitet als 'serpiente mala, venenosa', jenseits des Gebirgskammes gripo in Lescun 'serpent venimeux' ; imbekannt in E m b ú n u n d Bolea. Übertragene Bedeutung gibt Panticosa mit 'cosa temible, m u j e r con mala lengua', wie es auch Borao andeutet: 'mujer díscola y pendenciera', das Tier selbst erklärt er allgemeiner als 'reptil' ; dazu stellt sich die Definition von Aineto 'reptil con patas, negruzco, a la traza de la salamanquesa, no venenoso'. Das E t y m o n ist nicht klar. Die zuletzt genannten Bedeutungen weisen auf k a t . gripáu 'Kröte', das grapaud zum Synonym hat, oder auf poit. dauph. grapyet 'Eidechse', R E W 4760; spielt ev., frk. * GRIP AN herein ? S t a t t picar 'stechen' begegnet auch firn Ansò, cizar Hecho (m'a cizáu la cullebra), nach Wbch. der Akad. nur arag. ; vgl. apr. fisar 'piquer' ; dazu der Giftzahn: cizón Hecho, fizón ibid., Aragüés, Salient, Torla, Eiscal 'diente ponzoñoso de la gripia', in Panticosa 'lengua bifurcada' 9 ; auch vom Stachel der Insekten: Aineto 'aguijón de las abejas', eine Bedeutung, die auch F E W 3, 586 für arag. gibt und die sich im anschließenden Bearn wiederfindet: hisu 'aiguillon de guêpe' (ALF 15; R L i R 7, 165), gase. hisü, npr. fissoun; daneben nun arag. cizón Hecho, Aragüés, cizó Ansò 'aguijón de la culebra', < FIXARE, F E W . Eine Fülle von Bezeichnungen besteht f ü r die Eidechsenarten, nicht nur in Aragon, sondern auf der ganzen Halbinsel, wie der Aufsatz von Griera (Anuari I) und die bekannte Arbeit von Elcock, sowie in Frankreich u n d Italien, wie ein Blick in die Sprachatlanten und die Arbeit von Klett 'Die romanischen Eidechsennamen' (Tübingen 1929) lehren; vgl. dazu besonders die meist ostaragonesischen Formen auf S. 20 u n d 23 ; den weißen Fleck Aragons auf der K a r t e S. 94 wollen wir, soweit es nicht schon durch Elcock geschehen ist, versuchen mit unseren Formen auszufüllen. lagartija : Ansò Hecho Aragüés Embún

sargantana id. sargantano

lagarto: algardacho id. id.

* Auf den gleichen Bedeutungsübergang macht F E W 1, 26 Aum. 1 auch für LEO in den fz. Mundarten aufmerksam.

*ACU·

ZUM WORTSCHATZ VON

Salient Panticosa Biescas Linas Torla Fiscal Aineto Ypiés Bolea Loarre

Huesca Jaca

sangardana sangrandana salangrana sagardana id. id. changardana chardagana sardagana zagardyana zargallana sargallana sargadyana cergallana zargallana

HOCHARAGON

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zargalgacho sangrandacho, sangardacho, fardacho sagardacho sagardayso sagardaéo sangardaso algardacho zalamanquesa langarto id., algardacho

E s ist also schon auf dem relativ kleinen Gebiet wie Hocharagon (von Sobrarbe u n d Ribagorza abgesehen) die Zahl der mundartlichen Varianten in den Eidechsennamen außerordentlich groß. Dabei wird, wie die Tabelle zeigt, genau geschieden zwischen der kleinen Mauereidechse lagartija u n d der größeren, bis 40 cm langen, d e m grünen lagarto 'que encorra (sic!) a las mujeres', -ana, im Süden -yana ist das die kleine charakterisierende Suffix, -acho, -aso, -ayso das der größeren. Der S t a m m ist im ersten Fall sargant- mit vielen lautlichen u n d auf volksetymologischer Umbildung beruhenden Varianten, wobei vor allem der häufige Wechsel im Anl a u t (z, s, s, ch) auf baskischen Einfluß weist 1 0 . Andererseits fällt auch die durchgehende E r h a l t u n g des anlautenden s- in den Hochtälern auf. Der S t a m m dringt n u n auch in die N a m e n der grünen Eidechse, fardacho, algardacho ein u n d bringt Bildungen wie sangardacho, sagardayso etc. zustande. Der Anlaut affiziert schließlich auch das Wort f ü r den Molch oder Salamander salamanquesa Hecho, Torla, zu zalamanquesa Linás, Ypiés, Aineto, Solanilla, < SALAMANDRA m i t volksetymologischer Umd e u t u n g nach paniquesa. Arag. zapo als Bezeichnung der K r ö t e (allg. von Ansò bis Loarre) geht m i t sp. pg. sapo auf ein vorlat. Wort zurück, R E W 7593 ; es ist ursprünglich auf die Pyrenäenhalbinsel beschränkt, da die gase. F o r m e n der franz. P y r e n ä e n sàpou, chàpou (Rohlfs, Le Gascon 64) entlehnt sind. E s fehlt

10

Vgl. Rohlfs, ZrP 47, 405 und Le Gascon 22; R E W 4821, 4042; Palay chancaline,

cMngraulete, chichangete etc.

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sogar dem Katalanischen, das gripau, grapaut hat, letzteres im Anschluß an prov. grapaud. Ebenfalls auf ein Gebiet begrenzt, wenn wir von I t a lien absehen, ist in derWestromania *LIMACUS s t a t t LIMAX, -ACE als Grundwort zu dem in seinen Entsprechungen und Ableitungen an sich verbreiteteren *LIMACEUS, -A. SO begegnet in Aragon limaco von Ansò bis nach Loarre, limarca in Lacanal de E m b ú n ; es setzt sich fort in k a t . Iiimach, gase, limale (ALF 481, 770), alav. limalco, lumaka u n d astur, llimagu, lumiaco (REW), westastur. llimaco (Acevedo). Ebenfalls die 'limaco', 'limaza sin cascara' bezeichnet tamalluco Hecho, dessen Entsprechung in E m b ú n tallamuco uns auf die Spur des E t y m o n s führen könnte, TALIARE, vgl. R E W 8542 gen. taggakoe, siidfrz. tayosebo 'Ohrwurm', dazu sp. tajamoco 'Bockkäfer' (Tolhausen). I s t diese Deutung richtig, so entspricht hier Mucous 'Schleim' dem LIMUS 'Schlamm' das LIMAX u n d *LIMACEA zugrunde liegt ; es handelte sich also in der Benennung um ein Tier, das im weichen Boden oder überhaupt auf dem Boden eine Spur hinterläßt. Ein weiteres Synonym ist das umschreibende caracol de burro Aineto, caragol Buerba; dazu Bearn, Bigorre karkol, escargoll (ALF 481), escaragol, von dem R E W 7658 das spanische Wort über kat. caragol als Entlehnung herleitet. Daneben gilt in Aragon carat'ina Ansò, carachina E m b ú n , Salient, Loarre 'caracol', vgl. bask. karatS Biscaya 'piedra caliza', Guip. 'verruga, proeminencia tosca de los árboles', karatso Guip. 'verruga' (Azkue). S t a t t concha de caracol begegnet in Hecho, Salient, Aineto casca (Ansò, Hecho auch 'Eierschale'), in Panticosa cáscara del caracol; zum E t y m o n * Q U A S SICARE vgl. A. Castro in R F E 5, 41 und MPidal 'Sufijos átonos' in der Mussafia-Festschrift. F I S C H E . Von ihnen läßt sich naturgemäß im Alto Aragón, wo die klaren Gewässer nur die truchas beherbergen (Hecho kennt als altes Wort truyta) wenig berichten. E m b ú n nennt einen 'pesquito' namens zaramugo, Hecho mit Metathese zamarugo, ein Wort, dessen Entsprechung samarugo Borao und das Akademiewörterbuch als Aragonesismus bezeichnen; über das unsichere E t y m o n diskutiert ausführlich Corominas 4, 134b; daß es nicht bei Steiger 'Contribución a la fonética á r a b e . . . ' von 1932 behandelt wird, ist fast ein sicheres Zeichen, daß die u. a. von der Akademie vorgeschlagene Herleitung aus dem Arabischen nicht zu Recht besteht ; auch Corominas spricht sich dagegen aus. - Ansò, Hecho arengue s t a t t arenque < prov. arene ist ein Beispiel jener in Oberaragon u n d Bearn auftretenden Sonorisierung der Tenuis nach Nasal oder Liquid. - Anguila erscheint mit dem häufigen Wechsel zwischen vortonigem a und e als enguila in Hecho u n d Embún.

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I N S E K T E N . Die Schmetterlinge haben oft Bezeichnungen anderer geflügelter Tiere auf sich gezogen. Das kann von Fall zu Fall der jeweiligen Ähnlichkeit entsprechend geschehen sein, aber vielleicht auch nur einmal, und die übrigen Namen sind Synonymalableitungen. So heißen Schmetterlingsarten gallo Salient, pajarel Fabio, der Endung nach aus dem Katal. herübergekommen, pasarella Torla wie westastur. paxarúa 'mariposa grande' (Acevedo); paloma in Salient bezeichnet wie sp. palomilla neben der Motte den kleinen Schmetterling (vgl. zum Verhältnis beider R E W 11, 280) ; auf die Tätigkeit hinzielend viravolas Torla, als Imperativ (oder 3. sing, präs.) zu VIRARE und VOLARE, vgl. nordital. Maria-vola, vola-vola, messin. bula-bula, sard, bola-bola, kors. ähnlich, 'Marienkäfer' R E W 9431 ; der Auslautkonsonant des arag. Wortes könnte darauf hindeuten, daß im zweiten Teil eine deverbale Rückbildung steckt im Sinn von 'Flügel' oder 'Flug'. Im Valle de Tena gilt, noch unbekannter Herkunft, pilazana Panticosa, pitazana Biescas 'mariposa'. Für 'abeja' gilt in Fabio, Loarre abejeta, das in Panticosa 'avispa' bedeutet, während die Wespe sonst brispa Embún, Panticosa, bispa Ansò byespra Hecho, bei Wilmes briaspa heißt. Das Wort zeigt in den Mundarten (arag., astur., bürg., sor.) noch den altspanischen Diphthong vor s plus Konsonant (RFE 3, 301), während das Kastilische ihn weitgehend ebnet, vgl. noch arista, níspola etc. ; anderseits hat man das i in neuspan. avispa durch Kreuzung von VESPA und APICULA erklärt ( R F E 9, 149), auch das r verschiedener Formen scheint auf dieses APICULA hinzuweisen: galiz. vespera, westastur. abrespa, dann die genannten arag., gase, brèspo, brèspe, weitere aus Südfrankreich (und Italien) in ZrP 40, 609 und R E W 9272, wo die Frage offengelassen wird. Embún nennt die Biene obeja, obejeta < APICULA, vermeidet aber Homonymie mit der Bezeichnung des Lammes, das dort obella heißt. Die lästige Schmeißfliege ist in Hecho moscallón, wie kat. moscalló zu MUSCA (vgl. dazu noch R F E 6, 124), daneben auch, wohl nachlässig verallgemeinernd, mosquito und tubano, tabán Ansò, Hecho, Panticosa, pl. tabanis, dazu Graus tabán, gase. tabâ. In Hecho und Bolea bezeichnet Garapatillo sowohl ein Insekt (sp. garrapatillo, garrapata) als auch 'enfermedad de trigo causado por este animalito', dazu arag. Litera, Fonz galapatiïlo 'insecto que ataca a las mieses' (Borao, Coll, ALCat 592), arag. garapatillo 'insecto hemióptero; enfermedad de los trigos ocasionada por aquel insecto' (Borao), Fraga garrapatel, Mequinença calapatell, Barbastro calapatillo (ALCat 592, 'el cuc del blat'), kat. campateli; Tarragona, Maestrat, Valencia, Alicante caparra 'garrapata' (Aleover), letzteres auch arag. (Borao), und gase, gabàr 'pou de mou-

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ton' (Palay), das Rohlfs, Le Gascon 20, zu bask, kaparra 'tique des brebis' stellt. I n die erste Gruppe hat sich zweifellos die volksetymologische Vorstellung der raschen Bewegung mit den Beinen des Tieres eingemischt und das Wort mit garra und pata in Beziehung gesetzt, vgl. Hecho garrapatyar 'mit den Beinen strampeln', sp. 'kritzeln', also auch im Sinn von 'rasche Bewegungen machen'; übertragen arag. garrapata 'se dice de la sección más joven y desaplicada en las escuelas de niños, y de la parte menos distinguida en cualquiera reunión.' Von den Erdinsekten ist unseren Gewährsleuten das bekannteste die Ameise: orniga Salient, Fabio, meist forniga im ganzen Gebiet, daneben aber auch fornica Panticosa, Torla; dazu orniguero Salient, Torla, forniguero in den übrigen Orten, pl. fornigués Ansò, Hecho, Torla, 'hormiguero' ; es bedeutet außerdem in Hecho, Embún, Panticosa, Loarre 'montón de yerbas y zarzas que se encienden en el campo para femarlo', zu F O R M I C A . Von den Grillen- und Heuschreckenarten sind an auffallenden Namen zu nennen cicala und cigala, die beide nebeneinander in Hecho leben; 'cigarra', kat. prov. cicala, gase, cigale, cigalhe, < C I C A L A . Weiterhin begegnet gricha Panticosa, grichón ibid., Lanuza 'langusta, grillo' ; zu té aus -II- vgl. R L i R 11 § 23, wo auch die südfranz. Formen; ferner sancheta Panticosa 'grillo que vive dentro de la tierra, se hace agujero y canta dentro'. Zu noch kleinerem Getier übergehend nennen wir als linguistisch bemerkenswert den 'Ohrwurm, Ohrenzwicker' : cortachicha, cortapicJia, cortapisa Hecho, Aineto (picha, pisa 'pene', sp. chicha in der Kindersprache 'Fleisch'), vgl. die ähnliche Bildung im (Dt. und) Span.: punza-orejas. In Lanuza heißt er nach seinen Beißwerkzeugen forcancha, zu FTJRCA. Hecho nennt den Holzwurm quera und schließt sich damit gegenüber sp. cárcoma an den Norden und Osten an: südfrz. keiro, quèro; Ribagorza und Katalonien k(ra Aran, Esterri, kéra Campo, Benabarre, Fonz, Andorra, Mequinença etc. here Fraga (ALCat 593), < * C A R I A < C A R I E S . Die Laus, sp. piojo, so auch in Lacanal, Salient, Aineto, heißt sonst in Hocharagon pegollo Ansò, Hecho, Embún, in Hecho daneben als 'gente noble' ; der in P E D U C U L U durch Abschleifen und Fall des Dentals entstandene Hiat wurde durch g (gesprochen als stimmhafter velarer Reibelaut), getilgt, eine auch sonst zu beobachtende Erscheinung, bei kat. poll hingegen durch Kontraktion. Erhalten ist die ursprüngliche dentale Media in peduls Bielsa, ferner jenseits der Grenze in pedút Aramits, Lescun (Rohlfs, R L i R 7, 166), pedoulh (Palay), nach A L F 1067 ist der Typus in Südfrankreich weit verbreitet. Als Synonym wird in Embún alicancáno gegeben, das Borao in der Form alicáncano mit 'piojo aludo' kennzeichnet, Slaby-Gr. nennt es arag., < ala -f cáncano, ebenfalls taucht es in anderer

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Zusammensetzung, ave + cáncano, im Salm, auf als avicancano 'papanatas, soso'. Diese übertragene Bedeutung findet sich nun ähnlich beim arag. Wort: 'cosa incòmoda de que uno se liberta'. Chinche kehrt, wie auch sonst in den Mundarten der Halbinsel, (westastur.) arag. als chincha wieder mit der ausgesprochen femininen Endung, die arag. dalla, aloda, adoba gegen sp. dalle, alode, adobe auch aufweisen. ALF 1105 'punaise' zeigt den Typus C I M I C E anschließend weit herum in Südfrankreich, im Zentralmassiv, Languedoc, östl. Gascogne, Dordogne, teilweise mit dem präpalatalen Anlaut s-, meist jedoch mit s-. Aineto garabacho 'microbio' fehlt sonst in unserem Gebiet und würde sich wohl am ehesten zu der oben besprochenen Gruppe garapatillo stellen. Das Spinnennetz, telaraña, hat infolge der im Valle de Tena und im Val de Ordesa mehrfach auftretenden, wohl aus der Gascogne eher als aus Katalonien herüberstrahlenden Eigenheit, die Mouillierung 'vorwegzunehmen', in Panticosa die Wortform telarayna, daneben titaraña Embún, ein Typus, der auch sonst, aber meist mit Bedeutungsübergang auf die Spinne selbst gilt (vgl. ALCat 137; ALF 50, 1722; R E W ; Palay). Hierher auch titarañero Hecho 'pájaro, trepador' ? V Ö G E L . Die Drossel heißt ähnlich wie im Sp. torda Panticosa, chordo, chorda Hecho, Loarre ; vgl. im Hochribagorza charro 'tordo grande' (Ferraz : Coll 15); daneben torda nadadera 'ave que está siempre dentro del río, con papo blanco', also wohl die Bachstelze. Die relative Ähnlichkeit von Amsel, Drossel und Star bringt es mit sich, daß tordo in Aineto mit 'esternino', zarzal in Ansò mit 'mirlo' definiert wird, in Torla jedoch mit 'tordo', also gleich 'zorzal' < arab. Z U R Z A L R E W 9633a 'Star, Drossel' mit dem Stammvokal unter Einwirkung von zarza etc., ähnlich wie das Synonym barzal Torla 'zorzal' volksetymologische Einmischung vom Namen des Dorngebüschs erfahren hat; 'se llama tal porque canta en las barzas o zarzas' ; zur Diskussion der Etymons vgl. Corominas 4, 853. Volksetymologie spielt auch eine Rolle bei den Namen von Nachtigall und Zaunkönig. So geben Biescas und Nerin für 'ruiseñor' reyseñor mit Einmischung von rey, und in Aineto hat ruyseñor völlig die Bedeutimg 'reyezuelo'. Eine Entlehnung aus dem nahen Südfrankreich hat Panticosa für den Zaunkönig mit repetí 'ave muy pequeñica, cabe en ima concha de caracol' 11 ; es schließt sich nach ALF 1697 'roitelet' an beam, reypetit an, ein Typus, der dann östlich wieder im Ariège auftritt und bis zur 11

Der Gewährsmann erklärt weiter: 'Canta muy bien; cuando las aves volaban alto a cuanto más, él se ponía al buitre y, no pudiendo ése más, se despegó y ganó el precio'.

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Rhone reicht. - Gegenüber dem entlehnten sp. pinsón, kat. pinsó bewahrt die Mundart erbwörtliche Form in pinchón, mit (auch in kat. pinsá hervortretendem) Suffixwechsel in pinchan Panticosa, Loarre, was Embún - wohl irrtümlich - mit 'engañapastores' erläutert, denn die Bachstelze bekäme so den Namen des Finken ; mundartliches Suffix, aber span. Lautgestalt zeigt pinzán Aineto. Das Rotkehlchen erhält verschiedene Namen, paparoyo Panticosa, papiroyo Ansò, Embún, papiróy Hecho, Salient, Biescas. Aineto, vgl. alav. papirrojo, in Biescas noch pedrolé ( < ? ) , während petoy Torla wohl nur Verstümmelung von petiroy ist 12 . Ansò nennt es auch pajarel, das in Biescal den Hänfling, in Fabio einen Schmetterling bezeichnet, wie pasar ella in Torla ; dazu noch kat. passarell 'Distelfink' (REW). Der nombre genérico gibt hier also zu ganz verschiedenen spezialisierten Bedeutungen Anlaß; er wird auch mit Zusätzen verwendet: pasarico de niéu Hecho 'aguzanieve', pasarico à'agua Hecho 'andarríos', also synonym mit torda nadadera Panticosa; zum genus fem. vgl. R F E 18, 7; im allgemeinen masc. pasarico Hecho, Fiscal, Torla, Loarre, pásaro Loarre, pájaro weit herum üblich 'pájaro'. Die Definition von papiblanco Panticosa 'ave pequeña, se hace los nidos bajo de las piedras' (eigentlich ' Weißkehlchen') trifft sich mit der von pedigüelo Torla 'pajarico muy pequeño, sabe cantar carrañoso, tiene seis o siete crios, hace sus nidos debajo del terreno de las matas' (zu * P E D I C T X S , eigentlich 'Kleinfuß, Trippier'?). I n beiden Fällen ist wohl die Lerche gemeint. Sie heißt sonst aloda in Ansò, Hecho, Salient, Panticosa, Aineto, auch alodo Panticosa; neben sp. üblichem alondra, calandria gibt Tolhausen noch alode, Acad. als veraltet alauda, alaude, asp. aloa, alav. aloya, kat. alosa, gase, alause, alaude, auv. lauvo (vereinzelt noch in Nordfrankreich, vgl. F E W 1, 58, A L A U D A ) . Hierher stellt sich auch picopar Panticosa 'ave de la traza del alodo, hace los nidos en las barzas' ; vgl. in Guarda (Pg.) picopar 'Specht', R E W 6495. F ü r den Distelfink begegnet das sp. provinzielle cardelina Hecho, Embún, Biescas, auch in Borao, dann in Hochribagorza und Binéfar, daneben an der kat. Grenze cardelino, cardalina Arán, Maella, Mequinença, carderola Litera, und Peralta zeigt beide Suffixe in carderolina, entlehnt, zu C A R D E L L T J S , vgl. auch Meyer Lübke, Kat. 140. Die Kohlmeise heißt in Hecho carbonero. Der Kuckuck erfreut sich auch in Aragon zahlreicher, schallnachahmender Benennungen, wobei das lat. CTJCULTJS Pate gestan12

Die zahlreichen parallelen gase. Bildungen vgl. bei Palay : cot- (ar )rouy, gol-arrouy, gabè-rous, guíbe-rouy, roupìt, arpit, pitrày (pittarrey auch 'roitelet'), ferner gouloch, ricoutchêt, tchule.

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den hat: cuculo Ansò, Biescas, Loarre, cuculio Aineto, cuculo Hecho, coculo Salient, caculo Embún, cucú Torla, cocú Panticosa ; die beiden letzten "wie auch Hecho lehnen sich an südfranz. Formen an, wie coucùt etc. (Palay). KLETTERVÖGEL, K R Ä H E N . In Biescas wird aguacero mit dem etymologischen Hinweis 'va a llover, cuando canta' als Synonym zu picaverde, dem Namen des Grünspechts gegeben ; dazu picoverde Aineto, alav. picaverde entsprechend frz. pivert als 'pico' (Specht), Nerin picagace.ro, picacerdos, ebenso picatronco Hecho, Loarre, auch Álava, zu *PICCARE, während picaraza Ansò, Hecho, Aineto (auch Tolhausen) 'picaza', Embún 'huraca' nach García de Diego 455 von *PICCARE nur die Tenuis bewahrt, sonst aber von PICA R E W 6476 herrührt. Für 'cuervo' begegnet curbeta Loarre, zu CORBTJS, Borao hat corvatiello 'ima de las variedades del cuervo'. Dem j in kast. graja entspricht sonst auf der Halbinsel muilliertes l: grolla Hecho, Panticosa, auch Hochribagorza (Ferraz), graya Ansò, Panticosa, grajo Nerin 'Kolkrabe' gegen gralla im gleichen Ort 'Dohle' ; kat. grolla, port. prov. gralha, < GRACULA. Hecho, Buerba gruda 'Kranich', R E W 3896, u n d gruya Panticosa hingegen stellen sich zu span, grulla < *GRTJILLA '(kl.) Kranich'; vgl. jedoch Corominas 2, 794. Wilde Tauben heißen paloma de monte, paloma montes (sic) Ansò oder aber mit dem älteren iberoromanischen TORQTTAX R E W 8797 (wo für arag. noch turcasu): turcazo Hecho, Salient, los turcaces Panticosa, sp. paloma torcaz, dann trucazo Ansò, Embún, Aineto, pg. pombo trocaz. Zu kat. tudo, prov. ramier vgl. Meyer-Lübke, K a t . 141. Von den Seglern seien erwähnt gulondrina Loarre, gulundrina Panticosa als verwaschene Formen des kast. golondrina, wofür Torla gorroya, gorloya hat. Den Mauersegler nennt man in Hecho auch pimpán (vgl. frz. pimper 'sich zieren', pg. pimpar 'prahlen', pimpäo 'kokett'); sonst arag. falcino Embún, auch in Borao und Tolhausen, falsino Hecho, falcino Panticosa, Biescas, falcilla Nerin (Wilmes), Litera (Coll), falsilla Hochribagorza (Ferraz) 'vencejo', sicher eine Metapher nach falcino Aineto, falceño Loarre 'hoz con hoja corta con que se corta mimbre etc.', zu FALX. vgl. F E W 3, 380, wo unter FALCICULA die Metapher ähnlich verwendet wird, 'queue de coq composée de grandes plumes arquées', so auch in unserem Falle die Schwalbennamen durch die dem Sichelblatt ähnliche scharfe Silhouette jedes Flügels (vgl. auch Riegler 108). Arag. gurrión Ansò, Hecho, Salient, Panticosa, Torla, Loarre, mit diesem Umlaut nach Garcia de Diego R F E 3, 303 'tan frecuente en León como en Castilla, tan regular como murió', entspricht genau sp. gorrión. F ü r 'mausern' schließlich gilt permudá Ansò, premudar Hecho.

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ALWIN

KUHN

RAUBVÖGEL, NACHTVÖGEL. Der häufigste ist der Geier, güeytre Ansò, Hecho, Embún, Loarre, güeytr Hecho, buéytre Fiscal, boytre Torla, buitre Salient, Panticosa, burbutre Loarre, anschließend bearn. boùtre, bùtre; in Fiscal dient das Wort als Synonymalableitung zur Bezeichnung der Doppelschar des eisernen Pfluges (ZrP 55, 569), < VULTURE. Ähnlich dem Geier ist die boleta, allgemein arag., auch Borao, Wilmes, 'ave como el buitre', zu VOLARE. F ü r den Sperber, span, gavilán, begegnen zwei Bezeichnungen, erstens espargüé Panticosa, esparvel Hecho, < got. SPARAWEIS, R E W 8126, dazu sp. arag. esparver, esparvel, beide augenscheinlich nicht bodenständig; Acad gibt sp. esparverán, zweifellos eine Kreuzung zwischen dem vorhergehenden Typus und dem sonst üblichen gavilán; dann aber heißt das Tier auch alforrocho Hecho, Aragüés, Embún, Suffixableitung zu asp. alhorre 'halcón' (Arcipreste de Hita) und akat. alforre 'lliure, franch de Servitut' und damit zu arab. HURR 'frei' Steiger 254. Daneben h a t Borao alferraz 'una de las variedades del halcón', aus arab. FARRAS Steiger 115, Als 'especie de alforrocho' bezeichnet Embún den levantagüesos, einen Raubvogel, wie schon sein Name sagt ; in Hecho heißt er crebantagüesos. Bei den Namen der Nachtvögel treten wieder verschiedene volksetymologisch beeinflußte Definitionen auf: bóbón Ansò 'buho', sp. 'Dummkopf', vgl. alav. buharro 'buho, buharro'; babueso Hecho, bagüeso Ansò, babyaca Biescas alt. Fiscal 'especie de buho', letzteres in Torla 'lechuza', sp. babieca wieder 'Dummkopf' ; das Wort ist weiter verbreitet, sowohl in Nordspanien: babueca Plan, babyeca Bielsa, dem sich lautlich wie geographisch Hochribagorza mit fabiaca (Ferraz) anschließt, als auch in Südfrankreich, vgl. dazu Rohlfs Lescun 22 oder die Formen bei Palay babè 'chouette', cabèc 'chat-huant', cabèque, cayèque, chabèque, chohèque 'chouette', ferner ALF 69 ρ 678; ALF 1502. Die ersten beiden Formen (babueso, bagüeso) haben ihr -s- vielleicht von der Berührung mit dem naheliegenden levantagüesos. In Hecho wird bagüeso mit 'engaña-pastor, porque grita fuegooo!, especie de buho' interpretiert, wogegen Ansò einwendet: 'Engaña-pasor es otro, es pájaro pequeñico, no canta, come de la escudilla del pastor, el que quiere cogerle y se corta el dedo', also Ansò meint augenscheinlich die Bachstelze, 'engaña-pastor, chotacabras', die in Hecho wiederum burla-pastor heißt, vgl. Bearn abuse-pastoù (Palay). Der Uhu wird mitunter noch crapero Torla oder cabrero Aragüés, Salient, Lanuza, crabero Nerín, clabero Buerba genannt, 'porque canta por las noches como una cabra', also eine gegenüber sp. buho, kat. duc wieder recht selbständige Namengebung der Mundart.

Amboß, Ziegenbock und betrogener Ehemann Betrachtungen zu asturisch-galicisch cabruñar 'dengeln' JOSEPH M . P I E L KÖLN

Astur, cabruñar, mit dem Verbalsubstantiv cabruño, bezeichnet das Dengeln, d. h. das Schlagen u n d Schärfen der Sichel- oder Sensenschneide mittels eines Hammers auf einem kleinen, pflockförmig in die Erde eingelassenen Amboß. I m Galicischen ist auch die Variante c(a)rabuñar, in der nordportugies. Provinz Trás-os-Montes acabrunhar gebräuchlich. Gegen Corominas' schon von F . K r ü g e r in seinem Sanabriabuch 1 angedeutete Verbindung dieser Ausdrücke mit span, clavo 'Nagel' (DCEC I, p. 265 b ) meldete bereits G. Rohlfs Bedenken: „Die Herleitung aus einem *clavuñar 2 (zu clavar) ist in keiner Weise überzeugend, da die Endung -uñar und auch das sachliche Verhältnis zu clavo keine Erklärung findet" ; vgl. R L i R X X I , 1957, p. 309. Diese Zweifel bestehen gewiß zu Recht. Wenn Corominas bemerkt: ,,Es paso de cl- a er- es regular en Asturias y Galicia, y es natural que cravuñar pasara a cabruñar por ultracorrección de eraba 'cabra'", so h a t er n u r eine gewisse Schicht von Formen im Auge, in denen die normale, bodenständige Entwicklung von CL-, wie sie in den CLÄV-TT (-E)-Ableitungen pg. chandra 'Schafpocken', nordsp. llavija 'clavícula' u. a. sichtbar ist, einer H e m m u n g unterlag 3 . Zum zweiten sei bemerkt, daß der kleine, mit zwei 1

2

3

Die Gegenstandskultur Sanabrias und seiner Nachbargebiete, Hamburg 1925, p. 234f. Für das Westasturische verzeichnet Braulio Vigón clabuñar, und enclavuñar ist für Cespedosa de Tormes bezeugt; vgl. R F E XV, p. 170 und 270. Andere lautliche Varianten sind bei Krüger, a. a. O., zusammengestellt. Die Gründe dafür sind nicht leicht zu erkennen. Möglicherweise liegt das daran, daß eiserne Nägel in einer primitiven Bauernkultur keineswegs etwas so Selbstverständliches waren, wie man gemeinhin annehmen könnte. Der lautliche Dualismus in exAvus > clavo ¡eravo, gegenüber CLAVIS > chave¡llave könnte seine Wurzel noch im hispanischen TJmgangslatein haben.

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seitlichen Ringen versehene Sensenamboß sich zwar grundsätzlich mit einem großen Nagel vergleichen ließe (vgl. die Abbildung bei Krüger, a.a.O., p. 231), daß jedoch Form und Funktion des Gerätes wiederum so speziell sind, daß ein solcher Vergleich in einem reich differenzierten Bauernvokabular, wie es das asturisch-galicische zweifellos ist, als zu blaß erscheinen muß. Es fragt sich darum, ob es überhaupt notwendig ist, den Umweg über clavus-clavo zu nehmen, wenn ein primär anzusetzender Stamm cabr- uns, wie sich zeigen wird, die Richtung zu einer befriedigenden Erklärung von cabruñar weist. Es ist bekannt, daß lat. * c a p r o , - ö n e 'Ziegenbock', Nebenform von c a p e r , - p r i - R E W , F E W und D E E H verzeichnen jene Form ohne Stern, doch scheint sie nach Maßgabe der lateinischen Wörterbücher nicht belegt zu sein - im Romanischen zu manchen metaphorischen Benennungen Anlaß gegeben hat. Wenn frz. chevron 'Dachsparren' eine -10, -IÖNE-Ableitung zu * c a p r - e t t s voraussetzt (vgl. kapriun in den Kasseler Glossen sowie kapriones im Polyptyque de saint Rémy, F E W II, p. 306-7), so scheint frz. cabrón 'sorte de brunissoir' (Poliergerät im Goldschmiedgewerbe), ein offenbar aus dem Okzitanischen stammender technischer Ausdruck, genau sp. cabrón, pg. cabräo, it. caprone usw. zu entsprechen. I n Unkenntnis der Natur dieses Instruments wagte W. von Wartburg, F E W II, p. 310 die Vermutung: „wohl weil solche Haut (gemeint ist Ziegenhaut) für dieses Polierwerkzeug verwendet wurde". Was ein brunissoir, also auch ein cabrón ist, kann man jetzt an einer entsprechenden Abbildung im Petit Larousse erkennen. Es ist ein mit einer hornähnlichen Krümmung versehenes Gerät, wodurch die Art des semantischen Zusammenhangs mit * c a p r o klar wird. Auf eine andere übertragene Bedeutung von sp.-pg. cabrón ¡cabräo, und zwar die von 'wissentlich betrogener Ehemann' - sekundär auch ein generelles Schimpfwort - , kann ich hier nur kurz eingehen. So verpönt pg. cabräo und wohl auch sp. cabrón in der guten Umgangssprache ist, um so geläufiger ist es in der angedeuteten Verwendung und auch als Kraftausdruck in der weniger guten. Es ist gewiß auf diese Doppeldeutigkeit zurückzuführen, daß cabräo auch in der eigentlichen Bedeutung 'Bock' völlig vor dem jüngeren — die ersten Belege stammen erst aus dem 16. J h . - und etymologisch noch undurchsichtigen Synonym bode zurückgewichen ist. I n nächster semantischer und formaler Nähe von cabrón steht sp. castrón (auch trasm. casträo), das im Galicischen, der eindeutigen Etymologie zum Trotz, nicht nur den kastrierten, sondern auch den unkastrierten Bock bezeichnet, ähnlich wie frz. mouton 'Hammel' im Afrz. und in heutigen südlichen und westlichen Mundarten im Sinne von 'Widder' gebraucht

AMBOSS, ZIEGENBOCK Ü N D BETROGENER

EHEMANN

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wird 4 . Auf cabrónjcabräo 'Hahnrei' 5 zurückkommend, wäre zu überlegen, ob diese ominöse sekundäre Bedeutung nicht schon uralt ist und auf eine Zeit zurückgeht, wo CAPER im Gegensatz zu HIRCUS 6 den verschnittenen Ziegenbock meinte, wie aus einem Zeugnis von Varrò bzw. Gellius hervorgeht: I S DEMUM LATINE DICITTJR, QUI EXCASTRATUS EST (9.9.9)7, Womit übrigens das künftige sp. castrón bereits angedeutet ist. Ich glaube nicht, daß wir den Weg zum 'Hahnrei' finden, wenn wir nicht von *CAPRO in der Bedeutung des zeugungsuntüchtigen Tieres ausgehen. Was den begrifflichen Zusammenhang zwischen 'Ziegenbock' und 'Amboß' betrifft, so wird er ganz deutlich im Blick auf *BI-CÖRNIA, zu BICORNES, R E W 3 1084, d.h. die Urform von frz. bigorne, sp. bigornia, pg. bigorna usw. Frz. bigorne 'chacune des pointes qui forment les extrémités d'une enclume', 'cette enclume même' (Petit Larousse) 8 wird von prov. bigorno hergeleitet. Im Hispanischen ist das Wort vielleicht nicht so alt wie Corominas meint und trotz bocornia im arabischen Vokabular von Pedro de Alcalá wahrscheinlich ein Gallizismus 9 . Ein noch sprechenderes Zeugnis für die enge Verflechtung der beiden Vorstellungen dürfte auch it. caprùggine ablegen, das offenbar auf einer paronymischen Kontamination von 3 *CAPRÖNE und *INCÜGINE = I N C U D I N E R E W 4367,3, beruht. So können wir jetzt mit gutem Gewissen für nordwest-hisp. cabruñar eine Ableitung *CAPRÖN-EÄRE 'auf dem Amboß bearbeiten' ins Auge fassen, wobei wir im Hinblick auf die erste Bedeutung von frz. cabrón nicht einmal auf das Postulat angewiesen sind, daß der Name des zweispitzigen Amboß auf die rudimentäre Form des Schnitteramboß übertragen worden sei. 4

Selbst der Stier m u ß es sich im Span.-Portugies. unter b e s t i m m t e n B e d i n g u n g e n gefallen lassen, buey /boi g e n a n n t zu werden. 5 Über das weitverbreitete C Ö R N U S 'Horn' als S y m b o l für den betrogenen Mann vgl. u . a. M. L.Wagner, Phallus, H o r n und Fisch, in Karl-Jaberg-Festschrift, 1937, p. 77 ff. Diese B e d e u t u n g m a c h t derselbe Gelehrte auch für kontroverses arietillus bei P e t r o n wahrscheinlich; vgl. H u m a n i t a s , I I I (1951), p. 3 7 5 - 3 7 8 . 6 Spuren v o n H I R C Ü S finden sich nur in einigen Pyrenäentälern; vgl. Rohlfs, Le Gascon § 108, sowie A r c h i v 160, p. 316, u n d A . K u h n ZrPh 57, p. 355 u n d 362. ' Ich e n t n e h m e dieses Beispiel d e m Wörterbuch v o n Emout-Meillet. 8 Eine ähnliche Animalisierung läßt sich in lat. CAPREÖLTJS beobachten, in der doppelten B e d e u t u n g v o n 'Rehbock' und 'zweizinkige Hacke'. Solchen B e z i e h u n g e n ist R o h l f s , Ü b e r H a c k e n u. B ö c k e , ZrPh 45 (1926), p. 662ÍF. nachgegangen. 9 Selbst w e n n diese hisp.-arab. F o r m n a c h Marokko u n d Algerien als buqörnia bzw. buqurnîya (Simonet) gelangt ist, bleibt die Möglichkeit eines alten Gallizismus offen. Man k a n n vermuten, daß bigorn(i)a m i t denselben kulturellen Einflüssen (Zisterzienser?) in das Hispanische gelangte, die u . a . a u c h d a s spätestens i m 15. J h . belegte forja = frz. forge auf K o s t e n der einheimischen F o r m v o n F A B R Ï C A , d.h. fragua, b z w . v o n ferreira/herrera verbreiteten. Dies gilt z u m i n d e s t für d e n Nordwesten.

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Ich möchte noch auf ein vor Jahren von mir angeschnittenes Problem zurückkommen. Es betrifft pg. acabrunhar 'oprimir, humilhar, entristecer, afligir', acabrunhado 'oprimido, quebrantado' (Caldas Aulete), mit Ableitungen auf -ante, -amento und -ador. Diese sehr lebenskräftige Wortsippe hatte ich versucht, mit lat. CAPRÖNAE, - Ä R U M , 'EQTTORUM I U B A E I N F R O N T E M DEXTEXAE QUASI A CAPITE P R O N A E ' (P.Festus 42,4), mit Nebenform CAPRONEAE bei Apuleius, in Zusammenhang zu bringen, wobei mir der bildhafte deutsche Ausdruck „den Kopf hängen lassen" vorschwebte. Auch den für den Menschen melancholisch-finster wirkenden Anblick eines Ziegenbocks bezog ich in die Überlegung ein. Die Fragwürdigkeit beider Erklärungsversuche kam mir aber noch so rechtzeitig zu Bewußtsein, daß ich mich in einem Nachtrag von ihnen distanzieren und andeuten konnte, daß eher das mundartl. nordportugies. acabrunhar 'dengeln' den Schlüssel zur Lösung des etymologischen Problems bieten müßte 1 0 . Diese Erklärung ist mir inzwischen zur Gewißheit geworden. I n pg. estar acabrunhado steckt dasselbe Bild wie im d. zerschlagen sein oder im frz. être courbattu = court-battu, d.h. 'battu à bras raccourcis' ; vgl. F E W I, p. 293 und 297 b , Anm. 23. Es ist durchaus möglich, daß auch hier speziell das Hämmern der Sense mit dem Unterarm das Bild ausgelöst hat. Auch die Vorstellung des Schleifens führt zu ähnlichen sekundären Bedeutungen, wie in sp. amolar 'fastidiar, molestar con pertinacia', pg.-bras. amolar 'maçar, molestar, falando', ganz abgesehen vom d. schleifen in der Soldatensprache. I n denselben Zusammenhang gehört weiter frz. moulu 'rompu, brisé de fatigue', zu moudre, und manches andere. Ist *CAPKO, - Ö N I S auch nicht unmittelbar im Lateinischen bezeugt, so hat es doch ein Gegenstück in umbr. abrons = * A P R O N E S (vgl. WaldeHofmann) und läßt sich vielleicht auch aus dem Gentilnamen C A P R Ö N I U S , entsprechend A P R Ö N I U S , erschließen, wenn es sich nicht hier, wie Schulze, Zur Gesch. lat. Eigennamen p. 111 und 124f., möchte, um verschüttetes etruskisches Wortgut handelt 1 1 . Der Eigenname C A P R Ö N I U S findet sich u. a. auch in der asturischen Toponomastik: Cabruñana, in der Prov. Oviedo (Gem. Grado) = villa Capruniana a. 870 12 , mit schon altem Umlaut o > u. 10

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Vgl. Miscelánea de Etimologia portuguesa e galega, 1953, p. If. und 327. Die einzelnen Meinungen zu unserem etymologischen Problem sind von Y. Malkiel, N R F E XIII, 1959, p. 263, Anm. 76 zusammengefaßt, der, ähnlich wie Corominas, eher an eine Ableitung von clavo, *clavuñar, glaubt. E s ist aber nicht einzusehen, warum die überraschende Fülle der von A P E R und C A P E R abgeleiteten Cognomina nicht auf echt latein. Sprachboden gewachsen sein sollen. Sie könnten durchaus ein Zeugnis sein für „l'importance du sanglier dans la faune italique, et sans doute l'existance d'anciennes croyances" (Emout-Meillet). Vgl. Archivum, IV, 1954, p. 5.

Das Alexiuslied als Vortragsdichtung RUDOLF BAEHR SALZBURG

Sunt autem alii, qui dicuntur joculatores, qui cantant gesta principimi et vitam sanctorum. Thomas Càbham, X I I I . Jh.1

Im J a h r e 1936 veröffentlichte E.R.Curtius in der Zeitschrift für romanische Philologie den für die weitere Forschungsentwicklung richtungweisenden Aufsatz Zur Interpretation des Alexiusliedes2. Das Ergebnis seiner Untersuchungen, die besonders dem Aufbau, den rhetorischen Elementen und in geringerem Maße der Metrik galten, faßte er wie folgt zusammen: Das Alexiuslied „ist die einheitlich gebaute und wohlabgewogene Komposition eines gelehrten Kunstdichters. Mit der volkstümlichen' Ependichtung hat es nichts zu tun. Es steht einsam und unvermittelt in der volkssprachlichen Literatur des mittleren elften Jahrhunderts da" 3 . Das ist eine klare, in den beiden letzten Sätzen freilich auch etwas programmatisch gefärbte Absage an „tradicionalismo" und „Volkstümlichkeit" und ein ebenso eindeutiges Bekenntnis zum geniegläubigen Individualismus. Zwar blieb dieser Beitrag zunächst - soweit ich sehe - ohne stärkeren Widerhall, doch scheinen sich seine Grundthesen, die an eine ganz ähnliche Betrachtungsweise des Rolandsliedes anknüpften, später allgemein durchgesetzt zu haben. Jedenfalls nehmen die mit dem Jahre 1952 einsetzenden Formstudien zum Alexiuslied vielfach die von Curtius vertretene Auffassung ohne weitere Diskussion oder Einschränkung als Grundlage und Ausgangspunkt. Da gibt es nun nichts mehr, was dem „gelehrten Kunstdichter" und seiner „bewußt gehandhabten Technik 1

2 3

Zitiert nach E. Farai, Les jongleurs en Prance au Moyen Age. Bibliothèque de l'Ecole des Hautes Etudes, Sciences histor. et philol. 187 e fascicule. Paris 1910, S. 67, Anm. 1. Ζ R P h 56 (1936), S. 113-137. Ebd. S. 135.

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des Erzählens und Komponierens" 4 nicht zugetraut werden dürfte. Auf der recht prekären Basis der 125 Strophen von L B baut A. Granville Hatcher ihre 'mathematical demonstration'β, E.Webster Bulatkin ihre 'arithmetic structure'7 und Η. Lausberg sein Fünferschema als maßgebliches Strukturelement des Alexiusliedes auf 8 . Mathematik, Zahlensymbolik, theologische Spekulation, rhetorische Technik und die doch wohl etwas anachronistische Apotheose des Dichtergenius drohen durch Vereinseitigung und Ubersteigerung die wirklichen Dimensionen früher volkssprachlicher Dichtung zu verzerren und den Blick für das Wesen und damit auch für die spezifischen künstlerischen Bedingungen und Möglichkeiten des Alexiusliedes zu verstellen. Zu ihnen gehört wesenhaft - wie schon W.Foerster zweifellos richtig erkannt hat 9 - auch der mündliche Vortrag. Aufgabe der folgenden Untersuchung soll es daher sein, ergänzend und allenfalls berichtigend neben den bisher von der Forschung erzielten Ergebnissen oder vorgeschlagenen Lösungen in einer historischen Betrachtungsweise den merkwürdig vernachlässigten Aspekt der mündlichen Darbietung vor einem lateinunkundigen Laienpublikum10 und die sich daraus 4

Ebd. S. 116. Die Handschriften des Alexiusliedes werden mit ihren Siglen sowie kurzer Charakterisierung vorgestellt bei G. Rohlfs, Sankt Alexius. Altfranzösische Legendendichtung des 11. Jh.s, 4., verbesserte Auflage, Tübingen 1963 (Sammlung romanischer Übungstexte 15), S. 4-6. - Die Vatikanhandschrift (V) wird dort noch dem wallonischen Sprachgebiet zugewiesen, wozu neuerdings zu vergleichen ist H. Stimm, Zur Sprache der Handschrift V des Alexiusliedes. In: Medium Aevum Romanicum, Festschrift f ü r Hans Rheinfelder, hrsg. von H. Bihler u. A. NoyerWeidner, München 1963, S. 325 ff. 0 A. G. Hatcher, The Old French Poem St. Alexis: a Mathematical Demonstration. In: Traditio V I I I (1952) S. 111-158. ' E.W. Bulatkin, The Arithmetic Structure of the Old-French Vie de Saint Alexis. In: Publications of the Modern Language Association of America 74 (1959) S. 495 bis 502. 8 H. Lausberg, Zur altfranzösischen. Metrik. I n : Archiv f ü r das Studium der Neueren Sprachen ( = Archiv) 191 (1955) S. 204ff.; Ders., Zum altfranzösischen Alexiuslied. Ebd. 194 (1958) S. 161ff. Ders., Zur altfranzösischen Metrik. I n : Romanica, Festschrift für Gerhard Rohlfs, hrsg. von H. Lausberg u n d H.Weinrich, Halle/Saale 1958, S. 308ff. 9 „Das Gedicht ist offenbar zum Spielmannsvortrag bestimmt". Foerster-Koschwitz, Altfranzösisches Übungsbuch, 4. Auflage (die einzige mir zugängliche) Leipzig 1911, S. 99. 10 Mit dem Hörerpublikum des altfranzösischen Alexiusliedes u n d seinem Einfluß auf die spezifische Gestaltung dieser Legende hat sich unter gesellschaftsgeschichtlichen Gesichtspunkten beschäftigt Matthias Waltz, Rolandslied-WilhelmsliedAlexiuslied. Zur Struktur und geschichtlichen Bedeutung. Heidelberg 1965 (Studia Romanica 9), S. 176 ff. 5

D A S A I . E X I U S L I E D ALS

VOBTRAQSDICHTUNG

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hinsichtlich der künstlerischen Gestaltung ergebenden Konsequenzen für Aufbau, Stil und Metrik zur Geltung zu bringen. Zu einigen aktuellen Fragen der Alexiusforschung ist im Sinne einer Abgrenzung des eigenen Standpunktes, aber auch zur Entlastung der zu besprechenden Einzelprobleme vorweg Stellung zu nehmen. Wie üblich, so wird auch hier als T e x t die Fassung der Hs. L als die beste und vollständigste zugrunde gelegt. Numerierung und Zitate folgen der oben in Anmerkung 5 genannten Ausgabe von G. Rohlfs u , die gleichzeitig bemerkenswerte Varianten aus anderen Handschriften berücksichtigt. Die berechtigte Vorrangstellung von L ist jedoch nicht mit Infallibilität gleichzusetzen, denn auch L ist - entgegen Otto Pächts Vermutung12 - weder die Originalfassung noch deren unveränderte Abschrift. Einen Beweis dafür sehe ich in dem vom Geschehen in L her völlig unmotivierten Einschub der eindeutig als Schluß gestalteten Strophen 109 und 110 mitten in den Fortgang der Erzählung. Mit diesen Strophen, die in den Hss. SV bzw. PSV fehlen, endet bekanntlich Hs. A und dort sind sie zweifellos — vielleicht als Notschluß, wie Pio Rajna meinte 13 - am Platze. Da 11

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Vgl. dazu die sehr anerkennende Besprechung durch Peter F . Dembowski in Romance Philology X I X (1965) S. 627ff. The St. Albans Psalter (Albani Psalter) ed. by Otto Pacht, C.R.Dodwell, Francis Worrnald. The Warburg Institute, London 1960 (Studies of t h e Warburg Institute vol. 25). S. 126-146, bes. 143-144. = Pacht, Psalter. Un nuovo testo parziale del Saint Alexis primitivo. In: Archivum Romanicum X I I I (1929) S. 13 ff. - Sie mit H.Sckommodau (Zum altfranzösischen Alexiuslied. In: Ζ R P h 70 [1954] S. 161-203, bes. S. 172) als den Schluß einer ursprünglicheren, heute nur noch durch A repräsentierten Fassung zu betrachten und somit in den Str. 111-125 eine zwar alte, aber doch spätere Zutat zu sehen scheint mir — abgesehen von der chronologisch höchst unsicheren Stellung von A - angesichts der Quellenlage und der Geschlossenheit aller übrigen Fassungen nicht gut vertretbar. Wenn es gewiß lateinische Viten gibt, die auf Berichte über Heilungswunder und das weitere Schicksal von Alexius' Allgehörigen verzichten, so enthalten doch gerade die sonst dem Alexiuslied nächststehenden lateinischen Lebensbeschreibungen alles einschlägige Material, und zwar in einer sprachlichen Formulierung, die noch in der altfranzösischen Fassung transparent bleibt, wie m a n nunmehr bequem a n H a n d der Quellenzusammenstellung bei Manfred Sprissler (Das rhythmische Gedicht »Pater deus ingenite« [11. J h . ] u n d das altfranzösische Alexiuslied. Münster/Westf. 1966 [Forschungen zur romanischen Philologie, hrsg. von H. Lausberg, H e f t 18] S. 149f.) feststellen kann. I n inhaltlicher und künstlerischer Hinsicht ist es k a u m denkbar, daß derjenige Dichter (und auf ihn greift natürlich auch A zurück), der von sich aus die Rolle der Angehörigen so stark hervorgekehrt hat, mit den Str. 109/110 geschlossen h ä t t e ; denn dadurch wäre vor allem die B r a u t um die im Gedicht selbst sichtbare Sinnerfüllung ihres Lebens gebracht worden und die ganze Dichtung wäre nichts anderes als ein höchst unbefriedigen-

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ihre Verlegung an das Ende nicht möglich ist - das dreistrophige Exordium hat in der Conclusio der Strophen 123-125 seine inhaltlich adäquate und formal symmetrische Entsprechung - , bleibt keine andere Wahl, denn sie als Interpolation zu betrachten. Wenn somit an dem Originalcharakter von L nicht festgehalten werden kann, erledigt sich auch die darauf beruhende, von 0 . Pacht suggerierte Verfasserschaft des Geoffroy de Maine 14 , die aus chronologischen Gründen nur dann vertretbar wäre, wenn die Abfassung von L praktisch mit der Niederschrift (1119-1123?) zusammenfiele, was Pacht ja in der Tat auch postuliert 15 . Wenn ferner die Zahl von 125 authentischen Strophen für L nicht aufrechterhalten werden kann, dann werden auch alle auf der Fünfzahl und deren Potenzen gründenden mathematischen und zahlensymbolischen Deutungen hinfällig. Der Versuch H. Lausbergs, die beiden genannten Strophen dadurch als echt für L zu retten, daß er sie als „Lückenbüßer, die das Fünferschema füllen müssen", betrachtet 1 6 , hätte nur dann einige Überzeugungskraft, wenn wenigstens sonst das Fünferschema als Strukturelement deutlich ausgeprägt wäre. Das ist jedoch nicht der Fall. Lausberg selbst spricht von „Elastizitäten, Überlappungen, Durchbrechungen" u.a. 1 7 , und die Gliederungsvorschläge von Curtius, Hatcher, Bulatkin und P.R.Vincent 1 8 decken sich nur gelegentlich mit Lausbergs Fünferschema. Wie wenig dieses dem Dichter wohl selbst am Herzen lag, mag statt vieler Beispiele die Strophe 32 zeigen. Hier endet mit der 2. Zeile eine lange Digressio und mit der 3. Zeile springt die Erzählung wieder von Rom nach Alsis zurück. Es besteht keine überzeugende Möglichkeit, diesen tiefen Einschnitt mit einem auf der Fünfzahl beruhenden Aufbauplan des Autors in Einklang der Torso mit großen Ansätzen, die ins Leere zielen. Zu diesen Argumenten gesellt sich als weiteres Indiz ursprünglicher Einheit die stilistisch enge Verknüpfung des Schlußteiles mit dem Gesamtwerk, wie sie aus dem Auftreten der gleichen oder gering modifizierten Verse und Halbverse diesseits und jenseits der Str. 109 und 110 ( = Vs. 541-550) hervorgeht; z.B.: Vs. 101/2 = 591/2; 128 = 573; 156 = 580; 185 = 508 = 599; 204 = 564; 236/7 = 496/7 = 601/2; 500 = 570 (Makarismos) ; 505 = 622; 517 = 573; 519 = 571. 14 Pacht, Psalter S. 144. 16 , , I f . . . there are no objections from the linguistic side to dating the French original as late as 1120 - i.e. not much earlier than the date at which it was written down at St. Albans - there would be a strong case for regarding St. Albans... as the birth-place of the Alexis Poem in Old French." Ebd. S. 143. 19 Vgl. Archiv 191 (1955) S. 208, § 47. " Ebd. S. 204 ff. 18 The Dramatic Aspect of the Old-French „Vie de Saint Alexis". In: Studies in Philology L X (1963) Nr. 3, S. 525-541.

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zu bringen. Ähnliches gilt unter diesem Gesichtspunkt auch für Lausbergs Hypothese, das Alexiuslied sei der „ m o r i t a t h a f t e " Begleittext eines Bilderzyklus 1 9 ; denn auch hier würden 10 von den angenommenen 25 Bildern das postulierte Fünferschema durchbrechen. Gewiß ließe sich auch über die Echtheit sowie über die Anordnung einiger anderer Strophen diskutieren, doch bliebe das Ergebnis weithin Ansichtssache u n d würde wohl auch keine wesentlich neuen Gesichtspunkte eröffnen. Hingegen schien es im Rahmen dieser präliminaren Textsicherung angezeigt, die in der Fassung L offenkundig zu Unrecht stehenden Strophen 109 u n d 110 auszuschließen 20 u n d damit auch den störenden doppelten Schluß zu beseitigen. Daß damit die vielseitig interpretationsfähige Zahl 125 aufgegeben werden muß, erscheint mir kein wirklicher Verlust, da sie mit den Intentionen des Autors wohl k a u m etwas zu t u n haben konnte, wie weiter unten noch näher auszuführen sein wird. Die D a t i e r u n g s f r a g e ist seit einigen J a h r e n in Fluß geraten, ohne daß es jedoch bislang zu einer neuen Einigung gekommen wäre. O.Pächts Vorschlag (um 1120) wurde oben bereits zurückgewiesen. Man könnte dem dort Gesagten noch hinzufügen, daß Hs.V möglicherweise älter u n d in manchem sogar besser ist als Hs.L 2 1 und daher unabhängig von dieser auf eine Vorlage zurückgeht, die gegenüber L die Priorität besitzt. Die Ortsnamenform 'Lalice' (Al. Vs. 81 u n d 190), auf die Pacht und in seiner Nachfolge H.Sckommodau 2 2 eine Abfassungszeit von L nach dem ersten Kreuzzug gründen wollten, h a t sich als Argument nicht tragfähig erwiesen 2 3 . Der in zwei Hss. des 11. Jh.s(?)überlieferte lateinische Alexius-Rhythmus ( = Rhythmus) Pater deus ingenite 24 f ü h r t in der Datierung des Alexiusliedes derzeit nicht weiter, da m a n lediglich f ü r seine früheste uns bekannte Niederschrift einen terminus post quem — nach 1064 - wahrscheinlich machen kann 2 5 , womit natürlich noch nichts Genaueres über die E n t stehungszeit gesagt ist. M.Sprisslers an E. Assmann anknüpfende These, im Rhythmus ein Werk P a p s t Leos I X . zu sehen u n d dieses auf etwa 1050 18 20

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Archiv 191 (1955) S. 202ff. u. S. 308. Auch E.B.Curtius (ZRPh 56 [1936] S. 115) hat sich - gestützt auf V - klar für die Streichung dieser beiden Strophen ausgesprochen. Vgl. dazu die beiden genannten Untersuchungen von P. Bajna und E. R. Curtius. Das Alexiuslied. Die Datierungsfrage und das Problem der Askese. In: Medium Aevum Romanicum, Festschrift für H. Rheinfelder, München 1963, S. 298-324, bes. S. 304 u. 322, Anm. 20 u. 21 ( = Festschr. Rheinfelder). Vgl. G.A.Beckmann in Romanistisches Jahrbuch X V (1964) S. 206. Vgl. dazu jetzt die oben in Anm. 13 angeführte Untersuchung von M.Sprissler. Vgl. E. Assmann, Ein rhythmisches Gedicht auf den heiligen Alexius. In: Festschrift für Adolf Hofmeister, Halle/Saale 1955, S. 32.

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zu datieren, beruht infolge Übersehens der einschlägigen Literatur 2 8 auf falschen Voraussetzungen u n d ist daher auch hinsichtlich der daraus gezogenen, zum Teil sehr weitgehenden Folgerungen unzutreffend. Andererseits ist es aber keineswegs nötig, mit Sckommodau 2 7 in sponsula, verbula usw. des Rhythmus „eine etwas rührselig-süßliche Stiliserung der Legende" zu sehen, die nicht mehr dem 11. J h . angehören könne; denn solcherlei Diminutiva finden wir - wie mir Herr Dr. Karl Forstner (UB Salzburg) dankenswerterweise mitteilt - z.B. schon im 9. J h . bei Gottschalk von Orbais, TJt quid iubes. — Auch auf linguistischer Seite wurden Zweifel an der üblichen, sehr frühen Datierung (1040-1050) laut, die sich ja vor allem auf sprachliche Befunde stützt und im wesentlichen auf Gaston Paris (1872) zurückgeht. H. Stimms bereits erwähnte Untersuchung zur AlexiusHs. V 2 8 deckt nicht nur eine jahrzehntelang unbezweifelte u n d daher auch nie nachgeprüfte Fehldiagnose P . R a j n a s u n d K. Hahneis 2 9 auf, sondern legt darüber hinaus die Frage nahe, ob nicht auch in L die vermeintlich ehrwürdigsten und daher für die frühe Datierimg ausschlaggebenden Archaismen in Wirklichkeit sprachgeographisch zu erklären sind und dadurch ein chronologisch völlig anderes Bild ergeben oder doch ermöglichen. Wenn aber eines Tages - wie sich abzuzeichnen scheint - sprachliche Gründe die Datierung vor oder auf die Mitte des 11. J h . s nicht mehr zwingend fordern, dann bekommen die stilistischen und metrischen Indizien entscheidendes Gewicht. Das Fehlen aller Züge eines stilistischen Primitivismus im Alexiuslied sowie die dem Oxforder Roland durchaus ebenbürtige Handhabung des epischen Zehnsilbers - auf beides h a t H . Sckommodau mit Recht aufmerksam gemacht 3 0 - sprechen f ü r eine spätere Datierung. Auch der unbestreitbar große künstlerische Abstand des Alexiusliedes gegenüber den der Mitte des 11. J h . s angehörenden altfranzösischen Dichtungen (Passion du Christ, Leodegar) bedarf einer Erklärung. Man k a n n sich mit Curtius und Lausberg auf die einmalige Genialität des Alexiusdichters berufen und in ihm den Schöpfer des Zehnsilbers sowie den formkünstlerischen Wegbereiter, ja die formgeschichtliche Voraussetzimg des Rolandsliedes sehen. Man kann aber auch - u n d das schiene 26

Bes. A. Amelli, S. Leone I X e il suo ultimo carme inedito composto a Benevento nel 1054. In: Casinensia. Miscellanea di studi cassinesi pubblicati in occasione del X I V centenario della fondazione della Badia di Montecassino, Bd. 1, Montecassino 1929, 8. 5-15. " Festschr. Rheinfelder S. 322 f. 28 Vgl. o. Anm. 5. 29 Sprachliche Untersuchungen zur Alexius-Handschrift ,,V". Diss. Jena 1934. 30 Festschr. Rheinfelder S. 303 f.

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mir in jeder Hinsicht organischer - den Unterschied einer Generation annehmen, der es erlauben würde, das Alexiuslied zeitlich in jene letzte Ausbildungsphase der chanson de geste zu stellen, die ihrer uns überlieferten schriftlichen Fixierung vorausging. Der Alexiusdichter hätte somit auf eine bereits vorhandene epische oder - wenn man will - spielmännische Technik zurückgreifen und diese für seine hagiographische Dichtung nutzbar machen können. So fände auch die recht merkwürdige Tatsache eine Erklärung, daß zwar die literarische Technik des Alexiusliedes auf Schritt und Tritt an das Rolandslied erinnert, daß aber wörtliche Anklänge nur in geringer Anzahl zu finden sind 31 ; denn in keinem Falle handelt es sich dabei um die Nachahmung eines bestimmten Vorbildes, sondern um die Übernahme eines Prinzips. Für das Q u e l l e n p r o b l e m des Alexiusliedes sind durch die Arbeit von M. Sprissler neue Materialien erschlossen und leicht zugänglich gemacht worden. Obgleich eine systematische Untersuchung auf diesen neuen Grundlagen noch aussteht, läßt sich doch schon jetzt sagen, daß es lateinische Texte des 11. Jh.s gibt, die dem altfranzösischen Alexiuslied näher stehen als die sogenannte Bollandisten-Version. Dies gilt im Bereich der Prosaviten für die Fassung des Cod. Casanat. 719 ( = B H L 290) der Biblioteca Casanatense in Rom und in ganz besonderer Weise für den bereits erwähnten lateinischen Alexius-Rhythmus. Zwischen ihm und dem Alexiuslied sind - bei Divergenzen hinsichtlich Umfang und Anordnung des Stoffes - die wörtlichen Übereinstimmungen und Anklänge wenigstens streckenweise so zahlreich 32 , daß sehr enge Beziehungen zwischen diesen beiden Texten vernünftigerweise nicht in Abrede gestellt werden können. Kontrovers ist jedoch die Richtung der Filiation. C.A. Robson - offenbar in Gesprächen mit 0 . Pacht 3 3 - , B. Bischoff 34 und H.Sckommodau 3 5 sehen im Rhythmus eine lateinische Bearbeitung des altfranzösischen Alexius31

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Vgl. II. Lausberg, Zur Metrik des altfranzösischen Rolandsliedes. In: Romanische Forschungen 67 (1956) S. 310ÍF. Das Wenige, was Lausberg dort an wörtlichen Anklängen zusammenstellt, wird in seiner Bedeutung negiert von J. R. Smeets, Alexia et la Bible de Herman de Valenciennes. In: Cahiers de Civilisation médiévale ( = CCM) VI (1963) 8. 320. - Vgl. ferner P.Zumthor, Langue et techniques poétiques à l'époque romane, Frankfurt - Paris 1963, S. 65-66. Eine vollständige, in Einzelheiten vielleicht manchmal etwas zu weit gehende Übersicht darüber bietet M. Sprissler in seinem Buch. Vgl. Pächt, Psalter S. 129. Die lateinische Umwelt der ältesten französischen Dichtungen. Von diesem Akademievortrag vom 7.6.1957 besteht leider nur eine äußerst knappe Zusammenfassimg in den Sb der Bayer. Akad. d. Wiss., Phil.-hist. Kl. Jg. 1957, S. 12-13. Festschr. Rheinfelder, S. 322, Anm. 21.

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liedes. O. Pacht und mit gewichtigen Gründen M.Sprissler vertreten die umgekehrte These. Die Einzeldiskussion dieser Frage für eine andere Gelegenheit zurückstellend, möchte ich mich der Auffassung von Pacht und Sprissler anschließen, die mir die natürlichere erscheint. Ein Rückgriff mittellateinischer Autoren auf volkssprachliche Dichtungen erfolgte doch wohl nur dann, wenn andere Möglichkeiten der Quellenbeschaffung nicht gegeben waren. So könnte man etwa angesichts der sehr spärlichen Angaben lateinischer Geschichtsquellen zum Rolandthema im Carmen de prodicione Guenonis die lateinische Bearbeitung einer volkssprachlichen Vorlage sehen 36 . Wo aber eine so reiche lateinische Tradition vorliegt wie im Falle des hl. Alexius, muß die Benutzung einer altfranzösischen Vorlage höchst unökonomisch, ja überflüssig erscheinen. Dies im Falle des Rhythmus um so mehr, als dessen Dichter in seiner dann zu postulierenden Abbreviatio 37 gerade das hätte wegfallen lassen, was dem altfranzösischen Alexiuslied seine spezifische Prägung gibt und wodurch es sich von der ziemlich uniformen lateinischen Überlieferung unterscheidet, nämlich die Klagemonologe und überhaupt die große Rolle der Familie 38 . Wozu aber eine volkssprachliche Vorlage, wenn man aus ihr nichts oder kaum etwas anderes übernimmt als was auch in den lateinischen Viten steht ? Nimmt man dagegen den kurzen, nach Inhalt und Form recht bescheidenen Rhythmus39 als eine der Quellen des altfranzösischen Alexiusliedes, dann erklärt sich dieses in durchaus organischerWeise als eine durch Quellenkombination und eigene Zutaten nach klaren Intentionen gestaltete Amplificatio, zugleich aber auch als bedeutender künstlerischer Fortschritt gegenüber dem

Rhythmus.

Sehr wesentlich für unsere Problemstellung ist endlich die Frage nach dem A u t o r und seinem P u b l i k u m . Daß der Autor ein „gelehrter Kunstdichter" war, wie Curtius hervorgehoben hat, ist ganz unbestritten. Das zeigt neben vielen Einzelheiten das inhaltlich anspruchsvolle Exordium sowie die bemerkenswerte Selbständigkeit in der Gestaltung der Klageszenen. Auch wird man in jedem Fall Vertrautheit mit dem Lateinischen vorauszusetzen haben, weil das Quellenmaterial nur in der Kirchensprache zur Verfügimg stand, da ja der hl. Alexius - soweit man sehen kann - nirgends in Frankreich ein volkstümlicher Kirchenpatron oder Lokalheiliger 36

Vgl. E.R.Curtius Ζ RPh 62 (1942) S. 505 und jetzt M.Sprissler, a.a.O. S. 87 ff. " Der Rhythmus umfaßt 348 Kurzverse gegenüber 615 Langversen des Alexiusliedes (ohne die Str. 109 und 110). 38 Vgl. dazu den oben in Anni. 18 genannten Aufsatz von P.R.Vincent. 31 M. Sprissler ist infolge seiner Identiflzierungshypothese dem Rhythmus gegenüber nicht vorurteilsfrei. Er überschätzt ihn.

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war, iim dessen Gestalt sich originale volkssprachliche Legenden hätten bilden können 40 . Man darf daher im Alexiusdichter wohl einen Geistlichen, jedenfalls aber einen clericus sehen 41 . Seine besondere Absicht muß es gewesen sein, die bislang nur lateinisch vorliegende Alexiuslegende durch eine volkssprachliche Bearbeitung den Laien zugänglich zu machen. Nun erfüllt eine Vulgarisation ihren Zweck verständlicherweise nur dann, wenn sie bei dem Publikum, für das sie bestimmt ist, auch „ankommt". Das bedeutet, daß für den Vulgarisator die Rücksicht auf das Publikum, dessen Verständnisfähigkeit, dessen Geschmack und dessen „literarische" Gewohnheiten einen, ja vielleicht d e n entscheidenden Faktor für die formale Gestaltung darstellt. Die Zuhörerschaft des Alexiusliedes gehörte in erster Linie - wie M. Waltz ausgeführt hat 4 2 - „den niederen Schichten der Gesellschaft" an. Ihre wohl einzige Begegnung mit Literatur (im weitesten Sinne des Wortes) dürfte außer den halb oder ganz unverstandenen lateinischen Texten der Liturgie der Spielmannsvortrag gewesen sein. Was lag näher als an dessen epische Formen anzuknüpfen, wenn es darum ging, eine mit keiner einheimischen Tradition verbundene Legende unter das Volk zu bringen? Ähnlich war schon im frühen 9. Jh. der sächsische Helianddichter verfahren. Die metrisch-stilistische Anlehnung der Bible des Hermann von Valenciennes (Mitte des 12. Jh.s) an die chanson de geste ist allgemein bekannt 4 3 . Wenn nun Hermann im Rahmen seiner Adaptierung in so erstaunlichem Umfang auf das Alexiuslied zurückgreift - wie das J.R.Smeets 4 4 gezeigt hat - , dann ist wohl der Schluß erlaubt, daß er darin ein brauchbares Modell für seine publikumsfreundlichen Anpassungsbestrebungen sah 45 . Bei solcherlei Adaptierungen brauchte der ge40

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Nach der Lage der Überlieferung scheint sich für die Verbreitung des Alexiuskultes vor allem der Benediktinerorden eingesetzt zu haben. Daß Geistliche tatsächlich lateinische Heiligenleben in volkssprachliche Verse umgegossen haben, ist für den Kanonikus Tetbald von Vernon ausdrücklich bezeugt. Ihm hat man bekanntlich auch das Alexiuslied zugeschrieben, was aber — selbst als Hypothese — nur dann vertretbar ist, wenn die Abfassung des Alexiusliedes vor 1053 durch andere Argumente erwiesen werden kann. - Zum Begriff des als 'joculator' tätigen 'clericus' vgl. E. Farai im 1. Teil seines oben in Anm. 1 genannten Werkes. A.a.O. S. 203. Vgl. dazu z.B. K.Voretzsch, Einführung in das Studium der altfranzösischen Literatur. 3. Aufl. Halle/Saale 1925, S. 117. COM VI (1963) S. 315ff. Gerade diese Annäherung des Alexiusliedes an Form und Stil der chanson de geste scheint mir gegen die Vermutung zu sprechen, das Alexiuslied sei für ein Kloster, etwa besonders für ein Doppelkloster geschrieben worden ; denn dort wäre diese 'profane' Form wohl nicht angebracht, auf jeden Fall aber unnötig gewesen.

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lehrte Verfasser keineswegs auf formale und inhaltliche Feinheiten, ganz besonders aber nicht auf die alle sozialen Schichten ansprechende rhetorische Kunst zu verzichten, aber er mußte andererseits und wohl vor allem darauf bedacht sein, daß die einfachen Hörer in seiner Vulgarisation die Ähnlichkeit mit den ihnen vertrauten Formen des Spielmannsvortrages spüren konnten, was sich vielleicht um so nötiger erwies, je fremder der Stoff war. Aus der Spannung zwischen der Gelehrsamkeit des Autors und den geringen, wohl ziemlich einseitigen literarischen Voraussetzungen des Publikums, erklärt sich der kompromißhafte Charakter des Alexiusliedes, der ihm in formgeschichtlicher Hinsicht eine Mittelstellung zwischen hagiographischer Dichtung und chanson de geste zuweist. Nachdem von der neueren Forschung die gelehrte Seite hinreichend dargestellt worden ist, darf hier der Nachdruck auf die aus der Vortragsform des Alexiusliedes resultierenden „volkstümlichen" Züge gelegt werden, wobei freilich eine scharfe Trennung weder möglich noch erstrebenswert ist. Vom Standpunkt einer nicht zum Lesen und Meditieren, sondern nur zum Hören bestimmten Dichtung haben unter den verschiedenen Vorschlägen zu A u f b a u und G l i e d e r u n g des Alexiusliedes grundsätzlich diejenigen die größte Aussicht der Wahrheit nahe zu kommen, die die einfachsten sind und dem Geschehen am ungezwungensten folgen ; denn im Unterschied zum Leser kann der Hörer nur nach metrisch-musikalischen sowie nach deutlichen Sinn- und Geschehniseinheiten gliedern. Die metrische Gliederungsfähigkeit wird bei strophischer Dichtung in der Regel nicht über die Strophengrenze hinausgehen. Hinsichtlich der Melodie des Alexiusliedes können wir uns keine klare Vorstellung machen, aber man darf wohl annehmen, daß sie die Strophengliederung respektierte und damit auch verdeutlichte 46 . Für einen mit Hilfe der Melodie erfolgten Zusammenschluß mehrerer Strophen zu einer festen Strophengruppe - etwa Lausbergs Fünferschema - finde ich keine hinreichenden Anhaltspunkte im Text ; die oben bereits erwähnten zahlreichen Elastizitäten und Überlappungen sprechen jedenfalls nicht dafür. Es bleiben somit als Gliederungskriterien die Sinneinschnitte, an denen sich auch die z.T. von anderen Gesichtspunkten ausgehenden Schemata von Curtius, Lausberg, Hatcher, Bulatkin und Vincent bewähren müssen. Ein Vergleich dieser verschiedenen Einteilungsversuche zeigt jedoch, daß nicht in einem einzigen Punkte Übereinstimmung besteht, weder hinsichtlich der Strophenzahl 48

Gedanken zur musikalischen Gestalt des Alexiusliedes entwickelt A. Monteverdi, La laisse épique. In: La technique littéraire des chansons de geste. Actes du Colloque de Liège (1957), Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de l'Université de Liège, Fase. CL, Paris 1959, S. 127-140.

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des Exordiums und der Conclusio noch hinsichtlich der starken Einschnitte in Strophe 32 (Digressio) und nach Strophe 100 (Rügerede des Papstes). Das muß bedenklich stimmen, denn wenn es nicht einmal der wissenschaftlichen Forschung zu gelingen scheint, die Aufbauprinzipien aus der Dichtung zu gewinnen, wie sollten diese dann von einer Zuhörerschaft aus sehr einfachen Menschen erkannt worden sein? Man kann im Falle des Alexiusliedes auch schlecht sagen, daß es den Dichter nicht bekümmerte, ob seine Absichten erkannt würden oder nicht, da für ihn Dichten ein religiöser Akt oder ein Selbstzweck gewesen sei. Eine solche Argumentation ließe sich nur auf eine mystische Dichtung oder auf liturgische Lyrik mit einigem Recht anwenden, auf keinen Fall jedoch auf das Alexiuslied, das als Vulgarisation streng zweckgebunden war und wo es sinnlos gewesen wäre, mehr hineinzulegen, als was verstanden werden konnte. Eine zu große Tiefgründigkeit scheint aber auch die Gattung zu verbieten, denn die lateinischen Prosa- und Versviten wurden als „leichte K o s t " beim gemeinsamen Mahl im Refektorium vorgelesen, die Vulgarisationen von Spielleuten am Namensfest 4 7 vor (in?) der Kirche oder am Jahrmarkt gesungen. Wie kann man als Hörer, der das Lied selten oder gar zum ersten Mal hört, merken, daß der Tod des Alexius (Str. 67) etwa die Mitte des Gedichtes bildet oder daß der große Umschwung von der Trauer zur Freude nach Str. 100 fällt? Das sind alles Leserspekulationen, die mit der akustischen Wirklichkeit, für die das Alexiuslied abgefaßt wurde, nichts zu tun haben. Genauso sachfremd ist es m. E., in eine solche Dichtung verwickelte Zahlensymbolik hineinzugeheimnissen. Abgesehen davon, daß sie gattungsmäßig hier fehl am Platz wäre, bestünde keine Möglichkeit der akustischen Realisierung 48 . Daß man aber sogar bei anspruchsvoller, meditativer Lesedichtung selbst den exegetisch geschulten Kleriker im 11. J h . noch ausdrücklich auf das Vorhandensein einer Zahlensymbolik hinzuweisen nicht für überflüssig hielt, zeigt die Oratio rythmica des Papstes Leo IX. von 1054, in der der Autor eingangs die symbolische Bedeutung der gewählten Zahl von 35 Strophen ausdrücklich, ja geradezu umständlich als 5 χ 7 erklärt: Pentatheucum Moysis, legem veterem scilicet ¡I atque septiformem evangelii gratiam signât 49 . Zugleich ersieht man daraus aber auch, daß der Dichter des 11. Jh.s nicht gesonnen war, seine 47

Puroec en est oi cest jurn on(e)uret, heißt es in der (m.E. nicht zu L gehörigen) Str. 109. 48 Diese Unmöglichkeit hat auch Vincent (Studies in Philology LX [1963] S. 538) erkannt, kann sich aber nicht entschließen, Hatchers und Bulatkins „symbolic structure" (ebd. S. 529) aufzugeben. " A.Amelli, a.a.O. (s.o. Anm. 26) S. 10.

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zahlensymbolischen Absichten dem Zufall der exegetischen Entdeckung anzuvertrauen u n d sich mit einem Z'ari-poMr-Z'ari-Standpunkt zu begnügen: was er in die Dichtung hineingelegt hatte, sollte auch erkannt werden. Hält m a n sich dies alles gegenwärtig, so wird m a n in der Zahlensymbolik des Alexiusliedes kaum etwas anderes als eine Erfindung der Philologen sehen können. Wenn ferner jede Interpretation das Alexiuslied anders gliedert, dann h a t dies seine natürlichste Ursache wohl darin, daß eine mathematische, arithmetische oder zahlensymbolische Gliederung vom Dichter selbst nicht beabsichtigt war. Das bedeutet n u n nicht, daß das Alexiuslied in kompositorischer Hinsicht ein Chaos sei. Klar erkennbar - auch f ü r den Hörer - ist die hier wohl aus der rhetorischen Tradition übernommene Dreiteilung in Exordium, Narratio u n d Conclusio 50 . Dabei entfallen - wie Lausberg zweifellos richtig gesehen h a t 5 1 — die ersten drei Strophen (und nicht wie Curtius und H a t cher meinten nur die Strophen 1-2) auf das E x o r d i u m , denn Strophe 3 erweist sich durch den verhüllend-periphrastischen Hinweis auf die H a u p t person sowie ganz besonders durch die abschließende Themennennung eindeutig als Transitio zum Hauptteil und gehört als solche an das E n d e des Exordiums 5 2 . Das Publikum des Alexiusliedes verstand diese Gliederung natürlich nicht aus der Einsicht in die Regeln der Rhetorik, sondern weil es auch vom Spielmannsvortrag her gewohnt war, eine Einleitung mit Themennennung zu hören. Man denke etwa an das Exordium der Passion du Christ und - noch charakteristischer - an die ersten beiden Strophen des Leodegarliedes, wo am E n d e der ersten Strophe das Thema genannt u n d in der zweiten Strophe eine ziemlich ausführliche Disposition gebracht wird. Trotz dieser Angaben u n d trotz der Kürze des Gedichtes greift der Leodegardichter noch zweimal gliedernd und die Hörer vorbereitend in seine Erzählung ein (Vs. 113-114 u n d 151-152). Eine Reihe weiterer spielmännischer Einleitungen mit Aufforderung zum Hören u n d m i t Themenangabe belegt aus den chansons de geste J e a n Rychner 8 3 . Das Exordium war also den Hörern des Alexiusliedes ein leicht erkennbares u n d vertrautes Dispositionselement.

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Vgl. Vf., Studien zur Rhetorik in den Rime Guittones von Arezzo. In: ZRPh 74 (1958) S. 165ff. Das Proömium (Str. 1-3) des altfranzösischen Alexiusliedes. In: Archiv 192 (1956) S. 43, § 34-38. Vgl. H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, München 1960, S. 163, § 288. La chanson de geste. Essai sur l'art épique des jongleurs. Genève-Lille 1955, S. 10 ff.

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Ganz Ähnliches trifft auch f ü r die C o n c l u s i o zu, mit dem Unterschied jedoch, daß diese im ganzen Mittelalter nicht so gut durchorganisiert war wie das Exordium 5 4 . Der Hörer wurde bald in vorbereitendem Übergang, bald in mehr abrupterWeise vom kommenden Schluß in Kenntnis gesetzt. I n der Passion du Christ beginnt mit Str. 126 eine zweistrophige überleitende Betrachtung, die dann in das unmittelbar schlußbildende Gebet (Str. 128-129) übergeht. I m Leodegarlied reicht die Handlung bis zum Ende der vorletzten Strophe. Die letzte Strophe kündigt den Schluß an (Del corps asaz l'avez audit) und bringt in den beiden letzten Versen eine Gebetsbitte. Über die Länge der Conclusio im Alexiuslied besteht keine Einigkeit. Curtius machte den Gedanken der Symmetrie zwischen Exordium u n d Conclusio geltend und da er das Exordium für zweistrophig hielt, betrachtete er als Conclusio nur die beiden letzten Strophen. Bei Annahme eines dreistrophigen Exordiums müßte die Conclusio also analog 3 Strophen umfassen. Die Symmetrie zwischen Exordium u n d Conclusio ist angesichts des gelehrt-volkstümlichen Mischcharakters des Alexiusliedes als Fragestellung zweifellos legitim, wiewohl sie nur als Leserspekulation denkbar ist, denn nach m e h r als 100 dazwischenliegenden Strophen wird sie gewiß kein Hörer mehr wahrnehmen können. Ob sie tatsächlich vorhanden ist, muß sich aus dem Text nachweisen lassen. Zu diesem Zweck geht m a n am besten von Str. 122 aus, in der davon die Rede ist, daß Alexius im Himmel ist, mit ihm seine Braut, und daß beider Freude groß ist. Jeder Hörer weiß, daß damit die Handlung zu Ende ist u n d wird das noch Folgende als Ausklang, als Schluß betrachten. Der innere Aufbau dieser Conclusio ist ähnlich wie in der Passion du Christ: Die Str. 123 und 124 haben deutlich betrachtenden Charakter und scheinen mir - im Gegensatz zu Curtius - nicht gut trennbar, da das Ende von 123 u n d der Anfang von 124 durch die Antithese ore veit Deu: cum esm.es avoglez gedanklich eng zusammengehören. Von diesen beiden kontemplativen Strophen setzt sich - wie in der Passion — sehr deutlich die in Gebetsform gehaltene unmittelbare Schlußstrophe ab, die m a n geradezu als „Entlassung" bezeichnen könnte u n d die sicherlich vom Publikum als solche empfunden wurde. - Betrachten wir zurückschauend noch einmal die Str. 109 bis 110 und ihren Conclusio-Charakter vom S t a n d p u n k t des Hörers, so zeigt sich uns die Unmöglichkeit, diese beiden Strophen in L zu belassen n u n vielleicht noch eindringlicher; denn es ist nicht zweifelhaft, daß sich das an den „Gebetsschluß" gewohnte Publikum nach Anhören von Strophe 110 zum Weggehen angeschickt hätte - eine höchst peinliche Situation f ü r den 54

Vgl. dazu Vf., ZRPh 74 (1958) S. 174f.

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Vortragenden, wenn er selbst noch nicht Schluß machen wollte. Eine solche Ungeschicklichkeit und einen so schweren Verstoß gegen die einfachsten Konipositionserfordernisse einer Vortragsdichtung darf man dem Alexiusautor sicherlich nicht unterstellen. Für die Gliederung der N a r r a t i o stand im Mittelalter selbst einem gelehrten Verfasser, der mit der lateinischen Rhetorik vertraut war, so gut wie nichts zur Verfügung, wenn man von dem sehr allgemeinen Hinweis auf die beiden Möglichkeiten der Stoffanordnung nach dem Ordo artificialis oder Ordo naturalis absieht 56 . Das Alexiuslied, das das Geschehen in chronologischer Reihenfolge erzählt, folgt - wie seine Quellen - dem letzteren. Einen gelehrten Einfluß kann man dabei natürlich nicht nachweisen, denn das Erzählen nach der Reihenfolge des Geschehens ist genauso der volkstümlichen Darstellungsart geläufig und ist für sie sogar die ausschließliche Form. Zahlenmäßige Gruppierungen, symmetrisch angeordnete Wendepunkte usw. sind auch für die Narratio als Philologenspekulationen zu betrachten, die nur durch Studium des Textes, nicht aber aus dem Hören gewonnen werden können. Dementsprechend divergieren auch — wie bereits erwähnt - die einzelnen vorgeschlagenen Einteilungen. Der Dichter selbst hat nur zweimal mit Äußerungen ex parte poetae Gliederungshinweise gegeben: einmal am Ende des Exordiums (Pur(h)o[e]c vus di: d'un s[o]en filz vo[e]il parier, Vs. 15) und zu Beginn der großen Digressio in Vers 101 (Or revendrai al pedre et a la medre). Ob man diese „persönlichen Interventionen" des Dichters mit Curtius als Zeugnis „für ein starkes Bewußtsein von seiner selbständigen Gestaltungsk r a f t " zu deuten hat 5 6 , erscheint mir sehr zweifelhaft. Jedenfalls stehen in dieser Hinsicht weitaus bescheidenere Dichtungen dem Alexiuslied in nichts nach: das Leodegarlied zeigt - wie oben bereits erwähnt - mehr und ausführlichere Gliederungshinweise des in erster Person sprechenden Dichters ; die Passion du Christ weist die gleiche Anzahl auf 5 7 und ebenso der Rhythmus, dieser sogar an den gleichen Stellen der Erzählung, nämlich am Ende des Exordiums 6 8 und zu Beginn der großen Digressio 69 . Mit Ausnahme der Themennennung im Exordium, die gelehrter wie volkstümlicher Dichtung gemeinsam ist, dürften solche Gliederimgshinweise

ss 66 57 58 68

Vgl. Vf. ZRPh, 74 (1958) S. 165. ZRPh 56 (1936) S. 116. Ys. 1-3 und 445-447. Vs. 11-12: De quibus unum eligo // de quo cantare gestio. Vs. 79-80: Nunc praetermisso fllio / / d e patre loquar denuo entspricht Al 101: Or revendrai al pedre ed a la medre.

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VORTRAGSDICHTUNG

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eher der spielmännischen Praxis oder allgemein den Erfordernissen des Vortrages entspringen, zugleich Hilfe für den Dichter oder Vortragenden wie für das Publikum. Ausdruck einer besonderen künstlerischen Kraft sind sie gewiß nicht. Die wirkliche K o m p o s i t i o n s k u n s t des Alexiusdichters aber sehe ich in der behutsamen Führung des Hörers mit Hilfe einer meisterlichen Technik der Geschehnisvorbereitung, der sich steigernden Wiederholung und einer sich daraus ergebenden starken inneren Verklammer ung. Gewiß, manches ist vorgegeben durch die sehr kompakten lateinischen Quellen, die wenig Freiheit ließen. Man ist erstaunt, so scheinbar individuelle lyrische Bilder wie die der turtrele (Vs. 149) 6 0 und der gemme (Vs. 378 und 577) ziemlich durchgängig in den lateinischen Prosavorlagen zu finden. Aber es bleibt doch noch Raum für die Entfaltung der Kunst. Wie ich das meine, mögen paradigmatisch einige ausgewählte Beispiele zeigen. Wenn das Proömium ganz unbestritten eine bemerkenswerte theologische Sinntiefe besitzt 61 , so versieht es aber auch die Funktion der für den Hörer wichtigen Heranführung an den Gegenstand. Str. 1 evoziert eine zunächst chronologisch völlig unbestimmte, aber „gute alte" Zeit (tens anciënur), einfach das ideale Gegenbild zur Gegenwart. Diese Zeitvorstellung wird in Str. 2 präzisiert, so daß auch der schlichteste Christ merkt, daß die Epoche des Alten Testamentes gemeint ist. Auch sie ist nur Durchgang hin zur Geburt Christi, dem Beginn der neuen Zeitrechnung, und in die Zeit bald darnach fällt die zu erzählende Geschichte. Ausgehend von einer auch den einfachen Menschen geläufigen, rein affektiven Zeitvorstellung führt der Autor seine Hörer knapp, zielstrebig und so, daß keiner entrinnen kann, über zwei allgemein bekannte und zugleich heilsgeschichtliche Zeitstufen hin zum Zeitpunkt seiner Erzählung. - Ein anspruchsloseres, aber für eine Vortragsdichtung doch sehr typisches Beispiel bietet der ankündigende, Aufmerksamkeit verlangende Hinweis bei num Ii metent (Vs. 30), dem dann in Vers 31 (out num Alexis) die Namensnennung folgt, ein Vorgang, für den die Quellen kein Vorbild bieten. - Die scheinbar müßige, vielleicht an Lukas 11,27 angelehnte Periphrase Ici lui portât (Vs. 32) für 'seine Mutter' charakterisiert vorausweisend den affektivischen 00 61

Vgl. M.Rosier, Die Fassungen der Alexiuslegende. Wien 1905 S. 53. Vgl. dazu etwa D.Scheludko, Über die ersten zwei Strophen des Alexiusliedes. In: ZRPh 55 (1935) S. 1 9 4 - 9 7 ; H. Sckommodau, Zum altfranzösischen Alexiuslied. In: ZRPh 70 (1954) S. 186-87, Anm. 2 ; Ders., Alexius in Liturgie, Malerei und Dichtung. In: ZRPh 72 (1956) S. 165ÍF. ; H. Lausberg, Zum altfranzösischen Alexiuslied. In: Archiv 191 (1955) S. 312ff. ; Ders., Das Proömium (Str. 1 - 3 ) des altfranzösischen Alexiusliedes. In: Archiv 192 (1956) S. 33ff.

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Urgrund des Mutter-Sohn-Verhältnisses, der in den Klageszenen immer •wieder beschworen wird: pur quei [t'J portât ta medre? (Vs. 131); Mar te portai (Vs. 437) ; ma porteüre (Vs. 442) ; P u r quei [t'] portai (Vs. 444) ; ja t(e) portai en mon ventre (Vs. 453). - I n dem letzten Halbvers, der das Gebet der Mutter um ein Kind abschließt (ki seit a tun talent, Vs. 25), sind verhüllt vorausweisend schon die ganzen Verwicklungen des Sohnes mit seinen Angehörigen angedeutet; denn Gottes Wege sind nicht der Menschen Wege. Nicht jeder Hörer wird diesen Halbvers in seiner ganzen Tragweite verstanden haben, alle aber werden wohl gespürt haben, daß hier etwas angedeutet werden soll, was sie später noch genauer erfahren werden. F ü r diesen antizipierenden Halbvers gibt es in keiner der uns bekannten lateinischen Quellen ein Vorbild, so daß man ihn wohl als eine absichtsvolle Zutat des Dichters betrachten darf. - Ebenfalls unabhängig von den lateinischen Vorlagen bereitet der Autor die Hörer in Vs. 49-50 auf ein mögliches Scheitern der soeben geschlossenen Ehe vor. Ihr Verdacht verstärkt sich, wenn sie hören, daß sich der Vater offenbar auf Gottes Gebot berufen muß, damit der Sohn in das Brautgemach geht. I n den Quellen fehlt diese Berufung auf die göttliche Autorität. Die Aufforderung des Vaters „Intra, fili, in cubiculum et visita sponsam t u a m " 6 2 erscheint daher dort als ein Teil des Hochzeitszeremoniells und ist ganz unverdächtig. - Das jedem Christen vertraute Thema von der Vergänglichkeit irdischen Glanzes und von der Verwandlung irdischer Freude in Trauer, das Alexius in seinen Abschiedsworten an seine Braut anklingen läßt, durchzieht von da an als asketische Quintessenz nach Art eines musikalischen Motivs unüberhörbar die ganze Dichtung, die diese Wahrheit gleichsam exemplifiziert: An ices[t] s[i]ecle nen at parfit' amor, La vithe est fraisle, n'i ad durable honur, Ceste lethece revert a grant tristur.

Vs. 68-70

Die einen Augenblick lang hoffnungsvoll glückliche Braut muß es an sich erfahren: Or sui si graime

62

que ne puis estre plus.

Vs. 110

Plus vos amai Si grant dolur

que nule creature. or m'est apar[e]üde ;

Vs. 483-84

Jamais ledece

n'avrai, quar ne po[e]t estre,

Vs. 492

Vgl. M.Sprissler, a.a.O. S. 113.

D A S A L E X I U S L I E D ALS

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VORTRAGSDICHTUNG

Vielleicht noch schmerzlicher trifft es die Mutter: J a mais n'ierc l[i]ede,

Vs. 135 u. 455

Sa grant honur

Vs. 145

A quel dolur

a grant do[e]l ad (a)turnede. déduit as ta juvente!

Quant jo [t']vid ned si 'n fui l[i]ede e goiuse; Or te vei mort tute en sui doleruse:

Vs. 452 Vs. 458-59

Nur die himmlische Freude ist unvergänglich. Alexius erahnt sie, als er das Glücksgefühl vollkommener Weltentsagung zum ersten Mal bewußt erfährt: Il fut lur sire, or est lur provend[i]ers, Ne vus sai dire cum il s'en firet liez.

Vs. 124—25

U n d er erlebt sie zusammen mit seiner Braut in der ewigen Glorie: Ne vus sai dirre

cum lur ledece est grande!

Vs. 610

Eine systematische Untersuchung dieser Technik könnte die Beispiele zweifellos noch vermehren. Ein hohes Maß an Originalität des Autors bei der Gestaltung seiner Klageszenen h a t auch schon die bisherige Forschung anerkannt. Vielleicht darf m a n in diesem Zusammenhang aber doch noch ein Wort zur Motivwiederholung u n d der damit verbundenen Steigerung anfügen. Die wiederholte Verwendung gleicher Motive war in der chanson de geste beim Vortragenden wie beim Publikum offenbar sehr beliebt, ja sie darf geradezu als ein Merkmal des Spielmannsvortrages gelten 6 3 . Einerseits war sie eine notwendige Hilfe f ü r den Stegreifdichter, der (ähnlich wie die Typendarsteller der Commedia dell'arte) nur unter Einsatz eines Motivrepertoires seinen vielfältigen Aufgaben gewachsen sein konnte, andererseits h a t t e aber auch offensichtlich das Publikum große Freude an der Wiederkehr gleicher Motive. Zu diesen Repertoiremotiven gehörten auch die Klageszenen, von denen - nach Rychner - das Rolandslied und Raoul de Cambrai je acht Beispiele bieten. Es ist daher wohl nicht ungerechtfertigt, die Vermehrung und Amplifizierung der Klageszenen im Alexiuslied gegenüber den lateinischen Quellen als Einfluß der Spielmannspraxis u n d des Publikumsgeschmacks zu deuten. Freilich wird auch dieser „volkstümliche" Zug ganz bewußt verwendet u n d zudem mit kunstvoller Steigerung gehandhabt: Beim Bekanntwerden von Alexius' Verschwinden klingt das 63

Vgl. die stattliche Reihe von Stellennachweisen über die Verwendung der gebräuchlichsten Motive in der chanson de geste bei J. Rychner, La chanson, 8.128 ff.

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(hier vom Autor übrigens tinabhängig von anderen dazu erfundene) Klagemotiv zum ersten Mal auf (Str. 22). Es sind kurze Ausrufe des Vaters, der Mutter und der Braut. Die Kürze ist dadurch motiviert, daß ja noch Hoffnung besteht: noch war ja nicht nach Alexius gesucht worden. Als sich diese Suche aber endgültig als vergeblich herausstellt, erwartet sich der nun schon vorbereitete Hörer eine stärkere Reaktion, die vollends bei der Todesnachricht ihren Höhepunkt erreichen muß. Mit der Wiederholung verbindet so der Alexiusdichter eine in sich motivierte und vom Hörer erwartete Steigerung, die sich auch sehr eindrucksvoll im Umfang äußert: erste Klageszene 5 Zeilen, zweite 5 Strophen (27-31), dritte 23 Strophen (78-100). Daß Umfangsunterschiede dieses Ausmaßes auch vom H ö r e r empfunden und im Sinne einer Steigerung verstanden werden, steht wohl außer Frage. Umgekehrt zeigt dieses Beispiel, daß in einer zum Hören bestimmten Dichtung der Autor seine Strukturabsichten mit starker Redundanz verdeutlichen muß. Vielleicht noch konkreter faßbar sind die Beziehungen des Alexiusliedes zur Tradition der volkssprachlichen Vortragsdichtung, wie wir sie uns vor allem aus ihrer Widerspiegelung in der chanson de geste vorstellen können, im Bereich des S t i l e s . Zwei Eigentümlichkeiten scheinen dafür besonders aufschlußreich: die persönlichen Interventionen des Dichters und die formelhafte Wiederkehr von gleichen oder geringfügig modifizierten Versen oder Halbversen. Die Äußerung ex parte poetae ist zwar auch der zeitgenössischen mittellateinischen Literatur nicht unbekannt, aber sie ist dort z.T. anders und spielt vor allem eine weitaus geringere Rolle als in der volkssprachlichen Dichtung, wie ein Vergleich zwischen dem Rhythmiis und dem Alexiuslied verdeutlichen mag. 1. opem cantanti porrige

(Rhy 1,6)

Dieser Vers schließt das Einleitungsgebet ab, das an die Stelle des antiken Musenanrufes getreten ist. In der Selbstnennung cantanti fließen Gebetsstil und antike Tradition zusammen. Cantanti und ebenso cantare in R h y 2,6 (s.u. Nr. 2) müssen nicht auf einen Gesangsvortrag hinweisen, für den ein Rhythmus nicht unbedingt bestimmt ist, sondern knüpfen letztlich wohl an den Beginn der Aeneis Vergils an und bedeuten nichts anderes als 'episch dichten'. So erklärt es sich auch, daß der RhythmusDichter wenig später (5,5-6; s.u. Nr. 3) offenbar ein Leserpublikum vor Augen hat. 2. De quibus unum eligo de quo cantare gestio

(Rhy 2,5-6)

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VORTRAGSDICHTUNG

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Dieser Vers schließt das Exordium ab. E r findet seine funktionale und bedeutungsmäßige Entsprechung in Al 15 : d'un so[e]n filz voe[i]l parier. D a ß der vielleicht zum Vorlesen bestimmte Rhythmus mit cantare, das sicher zum Gesangsvortrag bestimmte Alexiuslied mit parier eingeführt wird, zeigt, daß m a n mit lexikologischen Schlußfolgerungen vorsichtig sein muß. I n der Tat läßt sich der Vortragscharakter einer Dichtimg lexikalisch kaum aus der ungeschiedenen Verwendung von dire, chanter und parler (die jeweils auch übertragen gemeint sein können), sondern zuverlässig nur aus den Verben des Hörens (oír, escouter) nachweisen. I n den bei J e a n Rychner 6 4 zitierten Epenanfängen halten sich chanter (Le Couronnement de Louis und Raoul de Cambrai) u n d dire (Prise d'Orange u n d Le Montage Guillaume) die Waage. 3. velut haec nostra pagina vobis monstrabit postea (Rhy 5,5-6) Wenn diese Verse mehr sind als ein bloßes Füllsel, dann zeugen sie - wie oben bereits angedeutet - davon, daß sich der Rhythmus auch an Leser wendet. 4. Nunc praetermisso filio de patre loquar denuo (Rhy 14,1-2) Diese Verse leiten die lange Digressio ein. I n genau entsprechender Funktion erscheint der letzte von ihnen im Alexiuslied: or revendrai al pedre (Vs. 101). 5. Donee nobis solatia custodiat nos firmi ter! Custos sit nobis Dominus .... (Schlußstrophe) Der Dichter, der sich bisher als Gegenüber seines Publikums empfunden hatte, identifiziert sich - vielleicht aus modestia Christiana - in der Nutzanwendung und im abschließenden Gebet mit ihm. Der gleiche Vorgang läßt sich auch im Alexiuslied verfolgen; er dürfte einer allgemeinen Predigt- bzw. Gebetstopik angehören. Von den von mir ohne Anspruch auf Vollständigkeit festgestellten 16 Fällen einer Äußerung ex parte poetae im Alexiuslied haben nur die beiden gliedernden Hinweise (Vs. 15 u n d 101) wirkliche Entsprechungen im Rhyth" La chanson, 8. 10 ff.

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mus (Nr. 2 u n d 4) ; einer (Al Str. 3 u n d Str. 123-125) zeigt allgemeine Verwandtschaft mit dem Schluß des Rhythmus (Nr. 5) auf dem Weg über die Gebetstopik. Hierher gehört auch die „teilnahmsvolle Äußerung" (Foerster) in Vs. 335: E reis celeste, tu nus i jai venir!, die die Sterbeszene der Str. 67 abschließt u n d wohl liturgischer H e r k u n f t ist. Ähnliches dürfte f ü r den zweimaligen Makarismos (Vs. 500 und 570) gelten, der jedenfalls überwiegend gelehrten Ursprung hat. Die übrigen Fälle lassen jedoch trotz ihrer schon ausgeprägten Formelhaftigkeit noch gut die für den Spielmannsvortrag charakteristische Funktion der Kontaktherstellung mit den Hörern sowie der Pathossteigerimg erkennen. Man kann sie in zwei Gruppen einteilen. I n der einen schafft die Verwendung der 1. Pers. sing, eine Polarität zwischen Dichter und Publikum: Ço ne sai jo cum longes i converset Ne vus sai dire 65 cum il s'en firet liez. Ne vus sai dirre cum lur ledece est grande!

(Vs. 84) (Vs. 125) (Vs. 610)

I m ersten dieser drei Beispiele empfiehlt sich der Dichter gleichsam als glaubwürdiger Gewährsmann, der sich streng an die verbürgte Wahrheit hält u n d nichts dazuphantasiert, wo seine Quellen keine genaueren Angaben enthalten. Durch diese ostentative Betonung der Treue zur Wahrheit - auch u n d gerade beim nebensächlichen Detail - verschafft er sich Glauben für die wesentlichen Dinge, die er sagen will. Etwas von dieser auf das Publikum gerichteten Intention scheint mir auch noch in der Formel der beiden anderen Stellen mitzuschwingen, die ihrer Funktion nach freilich in erster Linie eine Steigerung darstellen ; doch auch hier möchte der Dichter den Hörern (vus) nichts vormachen, was er selbst nicht ermessen u n d verbürgen kann. Die zweite Gruppe ist im sprachlichen Ausdruck unpersönlicher und dient der pathetischen Vergegenwärtigung einer Situation der Erzählung durch das Publikum: Des! at li emfes

sa tendre c[h]arn mudede!

Es(t) vus l'esample

par trestut le país

(Vs. 116) (Vs. 182)

Qui dune li v i t . . . Mult fust il dur 65

qui n'estoüst plurer.

(Str. 86)

Vgl. Cansó d'Antiochia Vs. 580: e gran masa dels autres, no vos sai dire cant. Zit. nach R. Menéndez Pidal, La Chanson de Roland et la tradition épique des Francs. 2. Aufl. Paris 1960, S. 169.

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Set il fut graim ne l'esto[e]t demander. Grant est la presse ne l'estuet demander Or n'esto[e]t dire del pedre e de la medre E de la spuse, cum il s'en doloserent. Dis e se(a)t anz, n'en fut nient a dire, Ço ad que s'volt

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VORTRAGSDICHTUNG

niënt n'[en] est a dire;

(Vs. 128) (Vs. 573) (Vs. 591-92) (Vs. 161) (Vs. 614)

Während die Interventionen des Dichters im Rhythmus (mit Ausnahme des Gebetsschlusses) einzig der technischen Bewältigung des Stoffes gelten und somit letztlich auf den Dichter und seine Tätigkeit selbst bezogen sind, bleibt im Alexiuslied eine überwiegende Zahl von ihnen trotz ihrer Erstarrung zur Formelhaftigkeit doch noch als ursprünglicher Ansatz zur dialogischen Geste spürbar, da der Dichter in ihnen die Vorstellungsgabe, das Gefühl und die Urteilsfähigkeit eines als anwesend vorgestellten Publikums anspricht. Die Passion du Christ und das Leodegarlied stehen in dieser Hinsicht der Praxis des Rhythmus näher 6 6 . Doch das wohl auffälligste und daher auch bekannteste Stilmerkmal des Alexiusliedes ist die Vers- bzw. Halbverswiederholung. Nach Paul Zumthor und seiner Schule, die dieser Erscheinung sorgfältige Untersuchungen gewidmet haben 6 7 , weisen von der Passion du Christ, von der Sainte Foy und dem Leodegar jeweils etwa 12% der Verse verschieden zu differenzierende Reprisen auf, vom Alexiuslied hingegen etwa 27%: ,,Cette progression pourrait être l'effet d'une tradition, s'amplifiant du X e au X I e s. dans la France du Nord." 6 8 Da die lateinische Literatur kein - weder nach Art noch nach Umfang - vergleichbares Vorbild für eine solche Tradition gegeben haben kann, darf man diese im vorliegenden Zusammenhang als „volkstümlich" und episch präzisieren und mit dem Spielmannsvortrag in Verbindung bringen, wo disponible „Fertigteile" ähnlich wie die Motivrepertoire einerseits eine unmittelbar praktische Bedeutung für den Vortragenden hatten, andererseits aber auch beim Publikum beliebt waren, sei es, weil es sich über das Wiedererkennen freute, sei es, weil es daran „seine" Dichtung erkannte. Das sehr starke Ansteigen der Wiederholungen im Alexiuslied im Vergleich zu dem gegenständlich verwandten Leodegar mag - wie oben bei der Datierung vorgeschlagen - die Annahme eines gewissen zeitlichen Abstandes nahelegen; vor allem jedoch muß man es wohl als Ausdruck einer bewußten formalen Anlehnung an die chanson 66 Vgl. Passion 466 und Leod. 37-38 (Sentenz) sowie 137-138 (Hyperbel). ·' Vgl. P. Zumthor, Langue S. 62 ff. 68 Ebd. S. 62, Anm. 5.

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de geste und ihre Vertragspraxis deuten, denn dort sind solche 69 u n d wohl noch höhere Prozentzahlen geläufig. F ü r die materielle u n d formale Klassifizierung der Wiederholungen h a t P . Z u m t h o r a m Beispiel des Leodegar ein brauchbares Schema geliefert, das von der Wiederkehr identischer Versgruppen über die unveränderte oder modifizierte Reprise von Halbversen bis z u m Wiederauftauchen stereotyper Einzelelemente reicht. Was m . E . noch aussteht, ist eine gründliche stilistische Würdigung der Wiederholungen im Alexiuslied. Sie ist im vorhegenden R a h m e n nicht möglich, doch soll die starke stilistische Differenzierung, die sich vom reinen 'outil' bis zur kunstvollen Evokation erstreckt, wenigstens angedeutet werden. „Vers-outil" in diesem Sinne sind etwa die drei identischen Verse 306, 326, 356: Li apostolie e li empereor oder die ebenfalls identischen, durch E n j a m b e m e n t verbundenen zweiten u n d ersten Halbverse 101/2, 591/2: al pedre ed a la medre Ed a la spuse die mit geringfügiger Veränderung (E la pulcele) auch in 236/7, 496/7 u n d 601/2 wiederkehren. Von ganz anderem künstlerischen Gewicht sind hingegen jene Wiederholungen, die die Wiederkehr einer gleichen oder ähnlichen Geschehnissituation markieren. So etwa die Verse 99-100: Tant an retint dunt ses cors puet guarir ; Se lui 'η remaint, si l'rent as poverina, die mit geringfügiger Veränderung in Vers 252/3 wiederkehren. Sie machen durch ihre Wiederholung dem Hörer sinnfällig, wie der Heilige unverändert G o t t u n d sich selbst t r e u bleibt: auch im Vaterhaus ist er kein anderer als in Alsis. E r geht d e n geraden Weg zu Gott: P a r nule guise ne s'en vo[e]lt esluin[i]er (Vs. 180 u. 260). Weder Fleischeslust noch irdische E h r e n könn e n ihn davon abbringen, denn er flieht sie m i t gleicher Entschlossenheit: Ensur[e] nuit Ensur[e] nuit

s'en fuit de la contrethe. s'en fuit de la ci(p)tet.

(Vs. 75) (Vs. 189)

Nach P. Zumthor, Langue S. 03, Anm. 5 weist Gormord et Isembart 27 % auf.

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VORTRAGSDICHTUNG

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Zweimal ist ihm Lalice das Tor aus der Gefährdung zur Freiheit, und diese Identität der Funktion drückt sich in der Identität der durch den fremden Namen einprägsamen Halbverse 81 und 190 aus: Dreit a Lalice. Zur m e t r i s c h e n F o r m des Alexiusliedes sind in neuerer Zeit ingeniöse Thesen aufgestellt worden, die darin gipfeln, daß der Alexiusdichter der Erfinder des epischen Zehnsilbers und die Alexiusstrophe die Grundlage der Laisse ist 70 . Hier bewegt sich gewiß jeder auf dem schwankenden Boden der Hypothese, denn die wenigen Anhaltspunkte, die uns gegeben sind, sind vielfacher Deutung fähig. Über dem vielversprechenden heuristischen Ansatz soll aber der Sinn für die richtigen Dimensionen und für die nächstliegende Wahrscheinlichkeit nicht verlorengehen. Bei aller Anerkennung auch der formal-technischen Leistung, die das Alexiuslied darstellt, ist es doch wohl eine starke Überforderung, wenn man aus diesem kurzen hagiographischen Gedicht die gesamte Fonngeschichte der chanson de geste ableiten will. Auch H. Lausberg scheinen Bedenken dieser Art gekommen zu sein, wenn ich die in unserer Anmerkung 70 angeführten Modifikationen richtig interpretiere. Von der Position her, die die bisherige Darlegung zu begründen versuchte, stellt sich auch die Frage nach dem Verhältnis der metrischen Form des Alexiusliedes zur volkstümlichen Vortragsdichtung und damit auch zur chanson de geste, deren typischer Vers beim Alexiusdichter erstmals belegt ist, völlig anders. Im Aufbau wie im Stil wurde immer wieder der aus dem Zusammenschluß zweier verschiedener Traditionslinien resultierende Mischcharakter des Alexiusliedes deutlich, der sich letztlich aus der Spannung zwischen dem „gelehrten" Dichter und seinen „volkstümlichen" Intentionen, dem lateinischen Quellenmaterial und dem vom Spielmannsvortrag geprägten Publikumsgeschmack erklärt und der - wie mir scheint - auch in der metrischen Form seinen angemessenen Ausdruck findet. Auch sie ist ein Kompromiß. Durch ihre Strophik reiht sie sich in Vgl. dazu bes. H.Lausberg, Archiv 191 (1955) S. 202: „der Alexiusdichter hat den Zehnsilber geschaffen". Ebd. S. 213: „er [sc. der Rolanddichter] hat den Fünfzeiler [sc. des Alexiusliedes] zur beliebig langen Laisse erweitert". - Archiv 193 (1957) S. 153 spricht H.Lausberg nicht von einer völligen Neuschöpfung, sondern von einer Umformung des Achtsilbers. In Archiv 195 (1959) 8. 143 scheint es ihm naheliegend, „für das Frankreich des 11. Jh.s eine Gattung einassonanziger, erzählender (hagiographischer) lateinischer Dichtung in sapphischen Strophen zu vermuten, die ihrerseits vom Hymnus Iste confessor ausgingen und den Übergang zum altfranzösischen Alexiuslied und zum Cid-Rhythmus darstellen würde". - In Archiv 195 sind auch die dazwischenliegenden einschlägigen Arbeiten Lausbergs angeführt. - Zur Frage der Herkunft der Laisse s. auch A.Monterverdi (vgl. o. Anm. 46) und J.R.Smeets in COM VI (1963) S. 320ff.

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die Tradition lateinischer (und auch schon volkssprachlicher) hagiographischer Dichtimg ein ; mit ihrem Versmaß - dem epischen Zehnsilber - aber taucht sie in die Tradition der chanson de geste. Die sichere metrische Handhabung des Zehnsilbers und - vielleicht mehr noch - die klare Erfassung und Wiedergabe seiner stilistischen Lieblingsstrukturen lassen m . E . mit aller hier nur möglichen Sicherheit auf eine bereits ausgeprägte volkssprachliche Tradition schließen. Nur unter dieser Voraussetzung war auch die metrische Neuerung des Alexiusdichters, dessen Vorgehen wir oben bereits in eine gewisse Parallele zu dem des Helianddichters und des Hermann von Valenciennes gesetzt haben, sinnvoll und im Einklang mit der Grundintention, die einen geschickten oder gar religiös engagierten Vulgarisator lateinischer Heiligenleben leiten mußte ; denn die aus der chanson de geste vertraute und von daher besonders beliebte Form konnte der Aufnahme des in jeder Hinsicht fremdartigen Inhalts der Alexiuslegende beim Laienpublikum, aber auch in das Repertoire jener ernsthaften joculatores, die sich im Unterschied zurWahllosigkeit des Programmes der histriones und mimi auf die Darbietung von Heldenliedern und Heiligenleben beschränkten, förderlich sein. Das setzt natürlich voraus, daß die chanson de geste bereits im 11. Jahrhundert in wesentlich ähnlichen Formen bestanden haben muß, wie sie uns aus Niederschriften seit dem 12. Jh. bekannt sind; diese Annahme wird heute vielfach und mit guten Gründen vertreten 7 1 . Man wird vielleicht auch fragen, ob die Anfügimg von zwei Silben am Ende des sonst für hagiographische Dichtung gebräuchlichen Achtsilbers mit üblicher Zäsur nach der vierten Silbe (Passion du Christ, Leodegar) - so erklärt H. Lausberg die Entstehung des Zehnsilbers 72 - auf das Publikum irgendwelchen Eindruck gemacht hat. Eine solche Frage wäre nicht richtig gestellt, denn in der Tat unterscheidet sich der epische Zehnsilber von dem genannten Achtsilbertyp nicht nur durch zwei zusätzliche Silben, sondern durch eine wesenhaft verschiedene Struktur. Der Achtsilber ist ein einheitlicher Vers, der Zehnsilber hingegen ein Vers mit Vollzäsur (Reihenschluß), d.h. der vierten betonten Silbe kann noch eine imbetonte folgen, die auf die Silbenzahl nicht angerechnet wird (epische Zäsur). Der silbisch nur geringfügig in Erscheinung tretende Unterschied zwischen beiden Versarten ist in Wirklichkeit Ausdruck zweier musikalisch grundverschiedener Strukturen. Das Publikum des Alexiusliedes hörte die Verse natürlich nicht gesprochen, sondern gesungen, und dabei war die musikalische Nähe zur chanson de geste wohl 71 72

Vgl. R. Menéndez Pidal, La chanson S. 3-50. Archiv 191 (1955) 8. 202f.

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unüberhörbar, wenn auch der Dichter eine formale Identifizierung mit dem Heldenlied durch Beibehaltung der Strophenform vermied. Der beherrschende Gehörseindruck aber dürfte von der mit dem epischen Zehnsilber verbundenen musikalischen Gestaltung ausgegangen sein, nicht von der strophischen Gliederung, die sich von kurzen Laissen nur durch die Regelmäßigkeit unterscheidet73. Vieles konnte nur angedeutet werden, manches muß hypothetisch bleiben. Dennoch hat, so wenigstens möchte ich hoffen, die Frage des Themas zu einigen Einsichten und Ergebnissen geführt. Vor dem Hintergrund der Erfordernisse und Möglichkeiten des Vortrages vor einem Laienpublikum schienen weder die nur auf Textbasis zu gewinnenden zahlensymbolischen und mathematischen Spekulationen zum Aufbau noch die genialische Isoliertheit des Alexiusliedes, wie sie Curtius vertrat, haltbar. Die zahlensymbolischen Auslegungen stützen sich nicht nur auf einen hinsichtlich der genauen Strophenzahl ungesicherten Text, sondern stehen auch im Widerspruch zur Anspruchslosigkeit der Gattung, denn Legendendichtung - selbst die lateinische - dient nicht tiefgründiger Meditation, sondern der erbaulichen Unterhaltung. Der Gedanke an die einfache Hörerschaft, für die das als Vulgarisation konzipierte Alexiuslied geschaffen wurde, aber auch ein Blick auf den poetischen Schaffensprozeß im Mittelalter schließt eine voraussetzungslose Genialität aus; sie würde auch im Gegensatz zur Selbstauffassung des mittelalterlichen Dichters gestanden und als radikale Neuerimg im Publikum kein Verständnis gefunden haben. Als konstitutiv für die Kunst des Alexiusliedes und als die wirkliche künstlerische Leistung seines Verfassers erwies sich vielmehr die geglückte und gleichermaßen in Aufbau, Stil und Metrik zu Tage tretende Verbindimg zweier Traditionslinien - der durch die Quellen sowie durch die Bildung des Autors bedingten lateinischen mit der dem Publikum aus der chanson de geste vertrauten volkssprachlich-epischen - zu einem neuen Ganzen, dem ersten Versuch einer chanson de geste ecclésiastique.

' 3 Zur Laissenlänge und ihrer mit der Zeit fortschreitenden Zunahme vgl. J. R. Smeets in COM VI (1963) S. 321ff.

Zur Frage der Dante-Ubersetzung W . THEODOR E L W E R T MAINZ

Unbestreitbar ist, daß die Tätigkeit des Übersetzers kulturell von größter Bedeutung ist. Wie dankbar dürfen wir in der Tat dafür sein, daß uns große, in schwer erlernbaren oder selten erlernten Sprachen verfaßte Dichtungen durch eine Übersetzung zugänglich gemacht werden. Die Wichtigkeit dieser Leistung muß sich der Philologe, der ohne Übersetzungen auszukommen gewohnt ist, freilich oft erst eigens vergegenwärtigen. Demjenigen, der wie Sie, sehr verehrter Herr Rohlfs, sich mehrfach bemüht hat, das Verständnis des Dante'schen Originaltextes zu fördern, wird dann die Frage nicht gleichgültig sein, mit welchem Ergebnis man bei uns unternommen hat, den Text Dantes den des Italienischen Unkundigen zu erschließen. Die Problematik der Übersetzung dichterischer Werke, und der DanteÜbersetzung im besonderen, sei nicht in ihrer ganzen Breite hier aufgerollt. Es geht jetzt nur darum, einige kritische Betrachtungen und Beobachtungen, die mir während des Dante-Jahres gekommen sind, vorzutragen. Ein in einer Tageszeitung erschienener Überblick über die gegenwärtig greifbaren Dante-Übersetzungen1 bestätigt den Eindruck, den man aus anderen, in belletristischen und fachlichen Zeitschriften erschienenen Artikeln über Dante-Übertragungen gewinnt, wenn man sich die Frage vorlegt, nach welchen Kriterien Dante-Übersetzungen im deutschen Sprachgebiet angefertigt, verlegt und gekauft werden. Die Antwort ist klar: „nur nach der Lesbarkeit, nach der geistigen und poetischen Nähe zum Original". Man erfährt weiter: ,,Die große Wasserscheide der Dante-Übersetzungen ist die Wahl zwischen gereimt und ungereimt ... Leider kann sich die Gegenwart beim Verzicht auf den Reim auf die maßgebende Stimme des großen Romanisten Karl Vossler beru-

1

Ernst Stein in Die Zeit, 28. Mai 1965.

202

W. T h e o d o r E l w e r t

fen." 2 Warum „leider"? Wenn man an anderer Stelle 3 über die Prosaübersetzung des ersten deutschen Dante-Übersetzers, Karl Bachenschwanz, liest: „Der aber (sc. der Text) bleibt nackt, ihm fehlen Vers und Reim", oder wenn an gleicher Stelle die Übersetzung von Benno Geiger gerühmt wird, weil „man, ohne deutsch zu können, dem Sprachklang abhört, um welche Stelle der Divina Commedia es sich handelt", - dann wird einem klar, daß es um eine „poetische" Übersetzimg geht. Die Form des Originals, mit Versmaß, Reimschema, Reimkünsteleien, mit ihrer Klangwirkung und mit ihrem poetischen Stimmungselement - alles soll in der Übersetzung wiedergegeben werden. So wollen es die deutschen Leser, so wollen es daher die Verleger und so wollen es dann auch die Übersetzer. Die Frage, ob man da nicht einem Trugbild, einem mirage, nachjagt, wird nicht erst aufgeworfen, allenfalls freilich von denjenigen gestreift, die, wie Vossler, den Reim ablehnen. Es ist das Trugbild, dem solche Übersetzungen wie die Rudolf Borchardts oder Hans Deinhardts zu verdanken sind 4 , um nur die extremsten Folgen zu nennen, von denen aber auch die anderen,,schönen" Übersetzungen letztlich bestimmt sind. Daher das „leider", wenn jemand auf den Reim verzichten will. Und dieses „leider" wird auch ausgesprochen, wohl wissend, daß die gereimten Übersetzungen „notwendigerweise die freieren" sein müssen. Die Frage, ob Reim oder kein Reim, wird also immer wieder als entscheidend angesehen. Aber sie ist es nicht, denn es bleiben - vom Reim abgesehen - noch andere Ausdrucksmittel, die für die „poetische" Übersetzung verfügbar bleiben, nicht zuletzt das Versmaß. Freilich, so lange der Ruf nach einem „deutschen Dante" erklingt, so lange wird man sich in „poetischen" Übersetzungen versuchen. Ist es 2 8

4

Alle vorstellenden Zitate aus Steins Artikel. Janheinz Jahn, Dante, übersetzt. In: Akzente. Zeitschrift für Dichtung, 3 (1956), S. 405-414. Zu Borchardts Dante vgl. die Besprechung von Albert Bassermann in: Deutsches Dante-Jahrbuch, 13 (1931), S. 134fif. ; zu der Übersetzung von Hans Deinhardt, vgl. Friedrich Schneider und Wolfgang Schütz, ebda, Bd. 39 (1961), S. 98 ff. Von welcher Voraussetzung die Kritiker ausgehen, erhellt aus folgenden Stellen: Schneider wirft Deinhardt vor (S. 101): „Daß diese Dialektformen unmöglich den lombardischen Dialekt in deutscher Sprache anzudeuten geeignet sind, braucht überhaupt nicht erwähnt zu werden". Weder dieser noch irgendein anderer! Angedeutet werden kann keine Lautung! Möglich ist nur, ein Analogon zu bieten, so wie für die provenzalische Stelle in Purg. 26 Philalethes Mittelhochdeutsch wählt, George Flämisch. Ebenso kann sich Schütz von dieser Vorstellung der „Nachgestaltung" nicht trennen. S. 120 sagt er: „Nur hätte er, da es Dantes Italienisch nachzugestalten galt, konsequenterweise auch am Deutsch der Dantezeit ... direkt anschließen müssen." Schütz zieht allerdings daraus die Folgerung, daß Deinhardts „neuhochdeutsches Mittelhochdeutsch" ein Irrweg war.

ZUR FRAGE DER

DANTE-ÜBERSETZUNG

203

so schwer zu erkennen, daß es den „deutschen Dante" gar nicht geben kann, sondern daß es so viele „deutsche D a n t e " geben wird wie es poetische Übersetzer geben wird? Unter diesen vielen verschiedenen Versuchen wird man freilich, durchaus berechtigterweise, nach dem „lesbarsten", nach dem mit der größten „poetischen Nähe zum Original" fragen dürfen. Die Antwort wird immer vom persönlichen Geschmack des einzelnen abhängen. Doch ändert sich damit nichts an der Tatsache, daß nach einem Trugbild gefragt wird. Das bei der deutschen Leserschaft vorherrschende Verlangen nach einer poetischen Übersetzung Dantes hat den Gedanken an eine Prosaübersetzung gar nicht aufkommen lassen. Bachenschwanz fand keinen unmittelbaren Nachahmer. K . G. Carus übertrug nur einen Gesang des Paradiso in Prosa. Meines Wissens gibt es nur eine vollständige deutsche Prosaübersetzung, die von J.B.Hörwart und K . v . E n k , die 1830/31 in Innsbruck erschien und 1846 eine zweite Auflage erlebte. Jedenfalls ist sie die einzige Prosaübersetzung, die in zweiter Auflage erschien 5 . Die deutsche Tradition verlangt, daß in Versen und Reimen Gedichtetes in Versen und Reimen übersetzt wird. Handelt es sich um eine Tradition oder um ein Vorurteil ? Es sollte doch zu denken geben, daß in Frankreich und England ein anspruchsvolleres Publikum die Prosaübersetzung bei gegenübergestelltem Originaltext bevorzugt. Vollends sollte doch bedacht werden, daß selbst in Italien heute die Prosaparaphrase auch für die Göttliche Komödie angemessen erscheint. Momigliano z.B. gibt in seinem Kommentar für viele Stellen eine Paraphrase. Die Übersetzung in moderne italienische Prosa durch Enrico Bianchi ist in einer populären Ausgabe erschienen 6 . Sollte es nicht an der Zeit sein, auch in Deutschland eine Prosaübersetzung erscheinen zu lassen, die in klarer ungekünstelter Sprache unmißverständlich zu erkennen gibt, was im Original steht, unter Verzicht auf die Wiedergabe der „poetischen" Werte, soweit es sich dabei um Reim, Rhythmus und archaische Sprachform handelt? Diese Fragen würden hier gar nicht aufgeworfen werden, wenn nicht die beim deutschen Leser und Verleger festgefahrene Idee der „poetischen" Übersetzung, das Verlangen nach „Lesbarkeit", in dem im oben zitierten Artikel treffend definierten Sinn, dazu geführt hätte, daß darüber die Frage nach der sinngetreuen Wiedergabe des Textes in den Hinter5

6

Meine Feststellung beruht auf einer Durchsicht der Bibliographie von Ostermann mit ihren Nachträgen. Ich bin dabei von der vielleicht irrigen Annahme ausgegangen, daß überall eine Versübersetzung vorliegt, wo nicht ausdrücklich gesagt wird, daß die Übertragung in Prosa erfolgte. Firenze, Salani, 1961.

204

W . THEODOR

ELWEET

grand gedrängt, ja, wie an dem oben zitierten „leider" erkenntlich, als eine untergeordnete Frage präsentiert wird. Die gekennzeichnete Einstellung f ü h r t obendrein zur Vernachlässigung anderer Fragen, deren Berechtigung wohl nicht zu bestreiten ist, ja sie führt auch dazu, daß selbst Philologen, wenn sie Übersetzungen publizieren, auf diese Fragen nicht eingehen, sei es, daß sie ihnen im Rahmen einer poetischen Übersetzung als unwesentlich erschienen, sei es, daß der Verleger den Verzicht erwirkt habe. Und doch sind diese Fragen selbst für die „poetischen" Übersetzungen erheblich. So finde ich in keiner der heute auf dem Markt befindlichen Übersetzungen angegeben, welchen Text der Übersetzer seiner Arbeit zugrunde gelegt hat. Vom Standpunkt der Textphilologie aus müssen alle vor 1921, dem Erscheinungsjahr der Ausgabe der Società Dantesca Italiana, als veraltet erscheinen. Man sollte annehmen, daß alle Übersetzer nach 1921 den Text der Dantesca verwenden. Keineswegs! Freilich können auch vor 1921 erschienene Übersetzungen einen Wert haben und haben ihn auch. J a , in einem Falle läßt sich nachweisen, daß eine ältere Übersetzung gegenüber der Dantesca einer besseren Lesart folgt. Worum es geht, ist jedoch dies: benützen die Übersetzer grundsätzlich den besten zur Zeit verfügbaren Text oder nicht ? Ist es nicht ihre Pflicht irgendwo anzugeben, nach welchem Text sie übersetzen? Den Fortschritten der Textherstellung sollte doch Rechnung getragen werden! Es sind auch andere Fragen aufzuwerfen, die ich selten oder nie in Besprechungen deutscher Dante-Übersetzungen angeschnitten finde. Etwa: Wie steht es mit der richtigen Interpretation des Wortsinnes, wenn es sich um Provenzalismen und Latinismen bei Dante handelt? Wird der Sinn richtig erfaßt und wiedergegeben, wenn es sich um einen terminus technicus handelt? Wurde die syntaktische Konstruktion richtig erkannt? Das sind Fragen, mit denen sich oft die Kommentatoren - nicht immer haben sie dabei ins Schwarze getroffen - befassen. Wie verhalten sich die Übersetzer zu den Kommentaren? Welche haben sie benützt? Welcher Interpretation sind sie gefolgt? Darüber herrscht im allgemeinen Stillschweigen. Ist dies Stillschweigen notwendig oder gar berechtigt? Wohin diese Fragen führen und wie sich die Übersetzer im Einzelfall verhalten, sei an einigen Beispielen dargetan 7 . Untersucht werden einige 7

Die nachstehende Kritik trug ich bei der Dante-Tagung der Universität Padua in Brisen im Jahre 1965 vor. Gegenüber den damaligen Ausführungen, die im Druck erscheinen sollen, habe ich die Beispiele etwas verändert, vor allem aber habe ich hier die mehr referierende Haltung aufgegeben, um ein Anliegen vorzutragen, das m. E. jedem deutschen Dante-Freund ein Anliegen sein sollte ; daher auch eine stärker ausgeprägte polemische Note, die anderwärts unangebracht gewesen wäre.

ZUR PRÄGE DER

DANTE-ÜBERSETZUNG

205

der angesehensten Übersetzungen seit 1921, d.h. seit dem Erscheinen der Dantesca; hinzugenommen wird die Übersetzung von Philalethes (1865)8 als Vergleich. Es sind die Übersetzungen von v.Falkenhausen, in gereimten Terzinen (1937)9, Vossler, in Blankversen (1942)10, Gmelin, in Blankversen (1949ff.) u , W.Hertz, in gereimten Terzinen (1955)12, A.Vezin, in gereimten Terzinen (1956)13, v.Wartburg, in Blankversen (1961)14. Dabei soll auch danach gefragt werden, ob etwaigen Kritiken am Text der Dantesca Rechnung getragen wurde. Betrachten wir zuerst das Verhalten gegenüber dem kritischen Text der Dantesca. Ich greife vier Stellen heraus, die von M. Barbi 1 5 erörtert worden sind. Die deutschen Übersetzungen stehen in chronologischer Ordnung. a) - PARADISO

XXXI

- 103/105

Qual'è colui che forse di Croazia viene a veder la Veronica nostra, che per l'antica fame non sen sazia. Die richtige Lesart ist fame, nicht fama (Barbi, S. 7f.). Momigliano kommentiert: „Vedere la Veronica è stato il sospiro di t u t t a la sua vita". Philalethes

Wie's dem zu Mut ist, der wohl aus Kroatien Kommt, unsre Vera Icon zu betrachten, Der ob der alten Sage nicht dran satt wird.

Falkenhausen Wie wer ums heilige Schweißtuch vom Gestade Kroatiens kam, am altberühmten nicht Sich satt kann sehen, enthebt man's seiner Lade

8

9 10 11 18 18

14 15

Vossler

und kann sich gar nicht sättigen am Anblick des altberühmten Stücks, solang man's ausstellt

Hertz

und seinen alten Hunger stillt nicht leicht

Die z.Zt. verbreitetste ist die des Verlags Knauer, Berlin 1927 und seitdem mehrfach neu aufgelegt. Leipzig, Inselverlag, 1937. Zürich, 1942 ; mehrfach neu aufgelegt. Stuttgart, Klett, 1949 ff. Fischer-Bücherei, Frankfurt, 1955, u. ö. Freiburg, Herder, 1956; Neubearbeitung der Übersetzung die zuerst 1926 erschien. Zürich, Manesse, 1963. M. Barbi, La nuova filologia e l'edizione dei nostri scrittori da Dante al Manzoni. Florenz, Sansoni, 1938.

W. Theodor E l w e r t

206 Vezin

Vielleicht vor unserer Vera Icon stehen, Der unersättlich, sie in Sehnsucht nahten.

v.Wartburg

Nicht sättigen kann den lang gehegten Hunger,

Sowohl Falkenhausen wie Vossler folgen der verworfenen Lesart fama. Sie versuchen freilich, eine besser D e u t u n g zu geben als Philalethes, doch geht es bei beiden nicht ohne Füllsel ab. Vezins „ S e h n s u c h t " ist treffend, n ä h e r t sich Momiglianos 'sospiro'. b) - PURGATORIO

XIV - 139/141

„Io sono Aglauro che divenni sasso"; ed allor, per rLstrignermi al poeta, in destro feci e non innanzi il passo. Die richtige Lesung ist in destro, nicht indietro (vgl. Barbi, S. 7 f.). Die Übersetzungen lauten: Ph.

Darauf, mich an den Dichter anzuschmiegen, Den Schritt ich rückwärts und nicht vorwärts setzte.

F.

Und rückwärts drängt ich, statt voranzuschreiten Mich an den Sänger, recht ihm nah zu sein.

V.

Da wollt ich mich an meinen Dichter schmiegen Und trat statt vorwärts einen Schritt zurück.

Gm. Da setzt ich, an den Dichter mich zu schmiegen, Nach rechts und nicht nach vorwärts meine Schritte. H.

Um nah zu sein dem Dichter beim Gebrüll, Lenkt ich nach rechts anstatt nach vorn die Beine.

V.

So daß, mich in des Dichters Schutz zu schmiegen, Nach rechts zurück ich seinem Schritt mich einte.

v.W. Und machte einen Schritt zurück statt vorwärts. N u r Gmelin u n d Hertz folgen der guten Lesart. Vezin k a n n sich nicht entscheiden u n d vermischt beide: nach rechts zurück! c) - INFERNO

III - 31

E io ch'avea d'orror la testa cinta, Richtig ist orror, nicht error (vgl. Barbi, S. 21). Ph.

Und ich, dem Wahn das Haupt umfangen hatte

F.

Und ich, dem Graun die Schläfe noch umschlungen.

V.

Ein Ring des Schauderns lief mir ums Gehirn.

ZUR FRAGE DER

DANTE-ÜBERSETZUNG

207

Gm. Und ich, dem schon das Haupt umwand das Orauen. V.

Und hienumschauert bat ich: Meister, sage...

H.

Ich, dem die Haare schon zu Berge standen

v.W. Und ich, dess' Haupt von Schrecken war umfangen... Philalethes liest noch error. Die Neueren folgen alle der guten Lesung, aber Vossler: Gehirn, u n d Vezin: hirnumschauert, entfernen sich vom Text und gleiten ins Lächerliche ab. d) Die folgende Stelle ist geeignet, den philologischen Scharfsinn eines Philalethes ins Licht zu rücken. PURGATORIO

XXVI

- 144

e vei jausen lo joi qu'esper, denan. Die Dantesca h a t hier lo joi, während Moore u n d Casella lo jorn lesen. Alle neueren Übersetzer lesen lo jorn. (Vezin bringt den provenzalischen Text und liest ebenfalls lo jorn.) N u n ist bemerkenswert, daß Philalethes unter den verfügbaren Lesarten, die er aus derWitte'schen Ausgabe kennen mußte, die Lesung, die von der Dantesca akzeptiert wurde: lo joi, auswählt. E r übersetzt die Stelle ins Mittelhochdeutsche: und vroliche se vor mir ich die vroude, uff die ich hoffe. Aber noch mehr. Philalethes wählt f ü r den Vers 146 die Lesart, die nicht von der Dantesca akzeptiert wurde, von der G.F.Folena 1 6 neuerdings den Nachweis führte, daß sie allein die richtige sein kann, nämlich ses calina nicht de Vescolino, : Die uff iu vurt zum Hubel ( = Hügel) ane chalt und warme . . . 146

Ara vos prec, per aquella valor que vos guida al som de l'escalina, sovenha vos a temps de ma dolor!

Mit anderen Worten: der einzige Übersetzer, der selbständig am Text gearbeitet h a t an dieser Stelle, ist Philalethes. Schon f ü r die Texteditoren sind die Latinismen und Provenzalismen eine Gefahrenquelle. J a , es m u ß gesagt werden, daß vor allem den Provenzalismen, zumal von den Kommentatoren, oft nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt wird. F ü r die Übersetzer, die sich nicht genügend im le

In einem im Romanischen Seminar der Universität Mainz im Sommer 1965 gehaltenen Vortrag.

208

W . THEODOR

ELWEET

Sprachstil Dantes auskennen, sind sie die gemachten Fallgruben, wenn die Besonderheit der Wortbedeutung nicht erkannt wird. Die folgende Stelle: Purg. II, 61-63:

E Virgilio rispuose: „Voi credete forse che siamo esperti d'esto loco ; ma noi siam peregrin come voi siete...

erscheint völlig unkompliziert ; peregrino scheint nur eine lautliche Nebenform zu pellegrino zu sein. Dem ist aber nicht so. Hier hat peregrino die Bedeutung, die es bei Cicero hat, d. h.,,unwissend, unkundig, unerfahren" ; es steht also in Antithese zu dem esperti der vorausgehenden Zeile. Die Übersetzer: Ph.

Doch, so wie ihr, sind Fremdlinge wir hier auch

F.

Fremdlinge sind wir selbst an diesem Strande

V.

doch sind wir fremde Pilger, so wie ihr

Gm. doch sind wir Fremdlinge, wie ihr es scheint H.

doch wir wie ihr sind Fremde hier im Lande

V.

Wir kommen fremd wie ihr zu seinem Strande

v.W. Doch sind wir Pilgersleut, wie ihr es seid Keiner scheint das Problem recht gesehen zu haben, denn „Fremdlinge", „fremd" kann zwar 'ortsunkundig' beinhalten; aber die Antithese zu esperti kann damit nicht genügend zum Ausdruck gebracht werden. Wartburg bleibt bei pellegrini, Vossler scheint am ehesten, obwohl seine Lösung den Anschein eines Kompromisses trägt, die Antithese bemerkt zu haben. An der Stelle Purg. II, 64-66 Dianzi venimmo, innanzi a voi un poco, per altra via, che fu sì aspra e forte che lo salire ornai ne parrà gioco... hegt die Schwierigkeit in der Interpretation von forte. Die einleuchtende Lösung bringt die provenzalische Bedeutung 'schwierig' (Levy). Auch hier zeigt Philalethes seine Meisterschaft: Jüngst kamen wir hierher, vor euch ein wenig, Durch andre Straße, die so rauh und schwierig, Daß Spiel nur jetzt uns wird das Steigen scheinen. Die neueren Übersetzer haben sich mit unterschiedlichem Erfolg daran versucht:

ZUR FRAGE DER

DANTE-ÜBERSETZUBG

209

Falkenhausen Auf andren Pfaden, rauh und streng zu gehen ist schwer verständlich; streng im Sinne von 'schwierig' ist reichlich gesucht, ungewöhnlich ; Vossler Auf andrem Weg, der war so schwierig — ist an sich richtig, aber aspra ist ausgelassen ; Hertz Auf andrem Weg, auf dem so schwer zu schleichen ebenso wie Vossler, doch aspra scheint in schleichen zu stecken, was nicht glücklich ist ; Die ganze Terzine ist umgekrempelt und dadurch verworren bei Vezin, der sich mit dem Reim abplagen muß: Erst eben und auf andern, schweren Steigen Mag's hier auch noch so steile Hänge geben: Dawider scheint ein Spiel ihr schroffstes Neigen... - schroffstes Neigen! Gut dagegen v.Wartburg: Auf andrem Weg, der war so rauh und schwer..., und noch genauer Gmelin, ohne jede Geziertheit: Auf andrem Wege, der so steil und schwierig... Vor ein anderes Problem stellen die Ausdrücke, die entweder mundartlich sind oder eine spezielle Kenntnis der Sache voraussetzen. Den Übersetzern einen Strick daraus zu drehen, wenn sie hier straucheln, erscheint unbillig, wenn man bedenkt, daß auch die italienischen Kommentatoren mitunter unsicher sind, was freilich nichts daran ändert, daß auch die Übersetzer zu einer selbständigen Interpretation aufgerufen sind. I n dem nachstehend zitierten Passus z.B. ist es fraglich, ob alle italienischen Kommentatoren sich darüber im klaren sind, daß der von Dante verwendete Ausdruck cinghio etwas sehr Spezifisches bezeichnet und eigentlich ein Fachausdruck ist. Die Kommentatoren geben als Erklärung balzo, da Dante cinghio offensichtlich als Synonym des Ausdrucks balzo verwendet, den er in Vers 47 gebraucht. In Wirklichkeit hat Dante hier einen mundartlichen Ausdruck der Alpenmundarten und speziell der Dolomiten toskanisiert; cengio oder cengia, wie das Wort hier lautet, bedeutet etwas sehr Präzises, nämlich die mehr oder weniger ebenen Vorsprünge, die um die senkrechten Dolomitfelsen umlaufen. Wenn nun die Übersetzer den italienischen Kommentatoren, in der Gleichsetzung cinghio : balzo folgen, so wird man ihnen daraus keinen Vorwurf machen. So lange sie das tun, ist

210

W. T h e o d o r E l w e b t

alles in Ordnung, zumal der deutsche Ausdruck „Tschingel", angenommen er wäre ihnen bekannt gewesen, als regional beschränkter, nicht allgemein verständlicher Ausdruck ohnehin nicht am Platze gewesen wäre. Aus Mangel an Sachkenntnis haben sich die Übersetzer jedoch von der Ähnlichkeit mit cinghia irreleiten lassen und übersetzen Band, Gurt, Gürtel, Borte, was wenig Sinn hat und zum mindesten unklar ist, denn worauf der Dichter im Vers 51 Nachdruck legt, ist die Tatsache, daß die Wanderer nun einen ebenen Boden unter die Füße bekommen. Gut dagegen sind alle diejenigen Übersetzungen, die balzo durch Sims wiedergeben, ja das Wort zweimal verwenden oder eine Umschreibung bieten. Vorzüglich ist also v. Wartburgs Übersetzung, gut die Vosslersche. Philalethes übersetzt balzo mit Vorsprang, was genau und unzweideutig ist, so daß das nachfolgende Gurt von vornherein erklärt ist. Vezin dagegen hat keine klare Vorstellung von der Sache, gerät in Reimnot, fügt Füllsel ein und verwendet ein fast unverständliches Wort: umsteppen, das wieder ganz falsche Assoziationen hervorruft, nämlich an Kleidung - , ebenso wie Hertzens Borte — ; und gelangt erst am Schluß zu einer, allerdings richtigen, Periphrase. - PURGATORIO IV - 47/51 additandomi un balzo poco in sue che da quel lato il poggio tutto gira. Sì mi spronaron le parole sue ch'i' mi sforzai carpando appresso lui, tanto che il cinghio sotto i pié mi fue. Hier die Übersetzungen: Ph. Auf einem Vorsprung, etwas höher deutend, Der ganz den Berg umkreist an dieser Stelle, So ward ich angespornt durch seineWorte, Daß ich mich mühte, hin zu ihm zu kriechen, Bis unterm Fuß mir endlich jener Gurt war. F.

V.

Sprach er und wies dicht über mir ein Band, Das rings umfing die Flanke, wo wir stiegen... Bis unter meinem Fuß des Simses Rand. Und wies auf einen Sims, der wenig höher Von hier aus um den ganzen Berg sich legte. Von seinem Wort gespornt, arbeitete Ich kriechend mich hinauf in seine Nähe, Bis ich den Fuß auf jener Stelle hatte.

Gm. Dort, wo der Rand in ganzer Runde kreiste... Bis ich den Gürtel wohl erklommen hatte.

ZUR FRAGE DER

H. V.

DANTE-ÜBERSETZUNG

211

Und wies mir etwas höher eine Borte Auf einen Sims, wie sie den Weg umsteppen (!!) So zwang ich mich mit vorsichtsvollem Tasten Mit Druck und Zug, gespornt durch seine Worte, Ihm nach, bis wir den ebnen Boden faßten. Und als wir saßen an des Gurtes Borte

v.W. Und wies auf einen Sims, der wenig höher Auf dieser Seite rings den Berg umsäumte. Die Worte hatten so mich angespornt, Daß ich mich selbst bezwang, ihm kletternd folgte, Bis auf den Sims ich meinen Fuß gesetzt. An der folgenden Stelle aus dem gleichen Gesang wirft der Terminus calla ein ähnliches Problem auf: - PURGATORIO IV - 19/22 Maggiore aperta molte volte impruna con una forcatella di sue spine l'uom de la villa quando l'uva imbruna, che non era la calla onde saline... Momiglinao erklärt schlicht calla 'il calle'. Es ist vielleicht reichlich spitzfindig, wenn man sich fragt, ob nicht callaia die bessere Erklärung wäre ; dann hat man freilich zwischen zwei Bedeutungen zu wählen: 1) 'viottola di campagna, sentiero', 2) 'Apertura che si fa nelle siepi per poter entrare nei campi'. Man wird daher alle Übersetzungen mit Steig, Gasse, Pfad gelten lassen, aber dennoch denen den Vorzug geben, die den Ausdruck Durchschlupf verwenden, selbst wenn er vorweggenommen wird (Vossler) ; auch wenn daraus ein Schlupf gemacht wird (Falkenhausen), läßt das vermuten, daß hier eine richtige Vorstellung vorliegt. Tückisch ist auch imbruna, das, allzu wörtlich übersetzt, doch nicht den Sinn trifft (Erinnerung an die auf dem gleichen Irrtum beruhende braune Nacht der deutschen Romantiker?). Ph.

F.

Wohl einen größren Spalt vermachet oftmals Mit soviel Dornen, als die Forke fasset, Der Landbewohner, wenn die Trauben dunkeln, Denn jener Steg war, wo hinauf wir klommen... Manch breitern Schlupf sperrt mit dem Dornenbunde, Den seine Forke rafft, des Bauers Hand, Wenn sich die Traube bräunt (!) auf seinem Grunde Als den, da wir empor uns miteinand, Ich hinter meinem Führer, mußten schmiegen... (mehrere Füllsel!)

W. T h e o d o r E i w e e t

212

V.

Oft ist der Durchschlupf, den der Winzer sperrt mit einer Gabel voll Gestrüpp und Dornen zum Weinberg, wenn die Trauben dunkler werden, noch breiter als die Gasse...

Gm. Vom Bauern, wenn die Trauben reifen wollen, Als dieser Pfad war, wo wir aufwärts stiegen... H. V.

Der Dorfbewohner, wenn die Traube bräunt (!), Als die des Durchgangs war... Wenn dunkel sich die Reben schmücken, Als hier der Einstieg in die Felsenmassen... (Einstieg ist ganz abwegig)

v.W. Der Winzer, wenn die Traube mählich dunkelt, Als diese Gasse war, durch die wir stiegen... Bekanntlich sind die Stellen, an denen Dante philosophische oder theologische Gedankengänge vorträgt, die für den Texteditor wie den Kommentator dornenreichsten. Hier vor allem erhebt sich die Frage, inwieweit sich die Übersetzer der Kommentare bedient haben, und hier möchte man auch von ihnen darüber Auskunft erhalten ; doch keiner gibt sie. Zur Nachprüfung eignen sich am besten die umstrittenen Stellen. Im folgenden Passus geht es um die Deutung der Worte cól caldo e con la luce. Zunächst der Text nach der Dantesca, den Barbi, S. 10 f. beanstandet hat: - PARADISO

XV - 73/84

Poi cominciai così: „L'affetto e'l senno, come la prima equalità v'apparse, d'un peso per ciascun di voi si fenno ; però che Ί sol che v'allumò e arse col caldo e con la luce, è sì iguali, che tutte simiglianze sono scarse. Ma voglia ed argomento ne' mortali, per la cagion ch'a voi è manifesta, diversamente son pennuti in ali ; ond'io, che son mortal, mi sento in questa disagguaglianza, e però non ringrazio se non col core a la paterna festa. Hierzu schreibt Barbi: „L'origine di t u t t o il male sta, credo, nell'aver preso nel v. 77 cól caldo e con la luce come complementi strumentali e nell'averli congiunti con arse e v'allumò del verso precedente: è invece da intendere con nel senso di

ZUR FRAGE DER

DANTE-ÜBERSETZUNG

213

'rispetto a' ... Tolta la virgola dopo luce e messa dopo arse il senso viene ad essere perfettissimo, e ogni particolare necessario all'intenzione del poeta: "Il desiderio di fare e il sapere e poter fare divennero per ciascun di voi beati una stessa cosa appena foste davanti alla somma uguaglianza (e diveniste così a lui simili) perché il sole che v'illuminò e vi riscaldò è perfettamente uguale nel suo ardore e nel suo sapere: nei mortali invece desiderio e potere d'operare non sono di pari forza ; ond'io che sono mortale sento di non potere ringraziar voi secondo il, mio volere.' Per argomento nel senso di 'potere operativo', o semplicemente d"operazione', cfr. Bull. Soc. Dant., N.S., XVIII, 19 e ora nel mio volume Problemi di critica dantesca, p. 252." Bei der Betrachtung der Übersetzungen kommt es darauf an, ob con mit 'bezüglich, hinsichtlich', u. dgl. übersetzt wurde, oder instrumental aufgefaßt wurde. Ferner kommt es darauf an, ob argomento als 'potere d'operare' oder 'operazione' verstanden wurde. Angesichts dessen, daß auch nicht alle italienischen Kommentatoren Barbis Interpretation von con berücksichtigt haben, ist es nicht verwunderlich, wenn die neue Deutung manchem Übersetzer entgangen ist. Da Barbis Aufsatz 1934 erschien, sind nur die späterliegenden Übersetzungen zu untersuchen. Gmelin hat das Problem anscheinend übersehen: Denn jene Sonne, die mit Licht und Wärme Euch brannte und erhellte ist so stetig... Yezin, den der Reim wiederum behindert, ist unklar: Denn eurer Sonne Licht und Glut durchglühten Euch so mit Glut und Licht vom Ewig-Gleichen... Vossler hat die Schwierigkeit bemerkt, denn er setzt erklärend hinzu: „in sich selbst", doch bleibt er dennoch unscharf: Die Sonne, die mit Licht und Wärme euch Durchglüht und erhellt, ist in sich selbst So gleich... Alle drei fahren fort, col caldo e con la luce instrumental zu deuten. Ebenso scheint ν. Wartburg zu verfahren ; doch ist dem nicht so, denn er übersetzt : Die Sonne, die euch zündet und entflammt Mit Licht und Wärme, ist in beiden gleich... Die Formulierung in beiden, die sich auf Licht und Wärme bezieht, bedeutet ja 'hinsichtlich': „ist hinsichtlich Licht und Wärme in beiden gleich".

214

W. T h e o d o r E l w e b t

Trotz des instrumentalen mit wird durch die Erläuterung in beiden der Text im Sinne Barbis ausgelegt. Es bleibt noch die Frage der Übersetzung von argomento. Es liegt auf der Hand, daß alle Übersetzungen durch Einsicht (Vossler), Verstand (Gmelin), Besinnung (v.Wartburg) nicht zutreffen. Der einzige, der hier eine vortreffliche Übersetzung liefert, ist Vezin, der auch die Antithese zwischen Wollen und Können herausstellt: Doch ist's des erdgebannten Geistes Zeichen Ihr kennt den Grand - , daß ihm des Könnens Schwingen An Federkraft sein Wollen nicht erreichen. Die bisher hier geübte Kritik betrifft sowohl gereimte wie reimlose Übersetzungen. Sie besagt, daß weder von den Fortschritten der Textgestaltung noch systematisch von der Arbeit der Kommentatoren Kenntnis genommen wird. Es stellt sich heraus, daß von dieser Kritik auch Philologen vom Fach betroffen sind. Das ist aber nur daraus zu erklären, daß sie ebenfalls in ihrer Tätigkeit als Übersetzer offenbar nur eine Nebentätigkeit, eine literarische Betätigung gesehen haben und deshalb den Grundsatz der Genauigkeit als nicht im Vordergrund stehend betrachtet haben - ganz anders als der König von Sachsen, der als Philalethes gerade diesen Grundsatz als den vorrangigen betrachtete, was er auch in seinem Pseudonym zum Ausdruck gebracht hat. Andererseits ist hervorzuheben, daß die Fachphilologen sich der Auffassimg Vosslers (und von Philalethes - nicht zu vergessen!) darin angeschlossen haben, daß sie auf den Reim verzichten. Die angeführten Proben zeigen auch deutlich genug, wie sehr sie damit recht hatten. Der Reim ist es auch, was die sonst sehr sorgfältigen Bemühungen Vezins um die genaue Wiedergabe des Gedanklichen (es ließen sich noch mehr Beispiele dafür anführen) nicht z w Geltung kommen läßt, da er durch die Reimnot in die damit verbundenen Schwächen gedrängt wird. Aber das Problem ist nicht, wie gesagt, ob gereimt oder reimlos 17 . Es geht darum, ob Prosa oder nicht Prosa. Daß in der Absicht, das Original bis ins Lautliche und den Sprachstil hinein nachzubilden und obendrein

17

Die landläufige Meinung ist, wie gesagt, anders. Diese vertritt auch Friedrich Schneider in seinem Dante-Buch (Dante. Eine Einführung usw. Weimar 1 1935 ; 4., erw. Aufl. 1947; 5. Aufl. 1960; ich zitiere nach der 4. Auflage): „Als erste und zugleich entscheidende Frage muß immer das Für und Wider einer gereimten oder ungereimten Übersetzung der Göttlichen Komödie erwogen werden." (S. 252f.). Von einer Übertragung in Prosa keine Eede!

ZUR FRAGE DER

DANTE-ÜBERSETZUNG

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noch eine „schöne" Übersetzung zu liefern, die Quelle aller Ungenauigkeiten und aller Gestelztheiten und Gespreiztheiten ist, braucht nicht eigens dargestellt zu werden. Die oben angeführten Proben liefern dafür allein schon ausreichende Beweise. Hierzu jedoch nachstehend noch zwei Beispiele, die zugleich zeigen sollen, wie sehr der Ruf nach einer „lesb a r e n " Übersetzung, nach einer Übersetzung mit „poetischer Nähe zum Original" vom Wege abführen und selbst Philologen in die Irre leiten kann, die diesem R u f e folgen. Der nachstehend zitierte Passus enthält zwei Klippen. Die eine betrifft - m a n sollte es nicht f ü r möglich halten - die Wiedergabe der montagne Rife ; hier liegt die Schwierigkeit in der Behinderung durch die Silbenzahl (auch bei den reimlosen metrischen Übersetzungen) u n d in der Notwendigkeit, auch für ein Publikum ohne klassische Bildung verständlich zu sein (eine Rücksicht, an die ja der Verfasser „lesbarer" Übersetzung gebunden ist). Die andere Schwierigkeit ist stilistischer Art: sie betrifft die Wiedergabe der Antithese schife del gel, schife del sol. - PURGATORIO

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Poi come grue ch'a le montagne Rife volasser parte e parte inver l'arene, queste del gel, quelle del sole schife, l'una gente sen va, l'altra sen véne; Vortrefflich löst die Aufgabe der bewährte alte Philalethes: Wie Kraniche dann, die teils zu dem Riphäischen Gebirge fliegen, teils zur sand'gen Wüste, Die vor dem Frost scheu, jene vor der Sonne, (ausgezeichnet!) Geht das eine Volk fort, kommt mit von dannen Das andr',... Der Stein des Anstoßes ist Rife. Riphäisch geht sehr gut, setzt aber zum Verständnis klassische Bildung voraus; es m u ß auch ein Adjektiv sein, das nach der im Deutschen üblichen Art der Bildimg von Adjektiven zu antiken Namen geformt ist. Gibt m a n aber das Adjektiv auf und greift zur Wortzusammensetzung, öffnen sich sowohl den Schwierigkeiten, wie den Unklarheiten Tür und Tor: Falkenhausen: Teils nach Riphäerbergen ging ihr Flug von Riphäerbergen h a t noch nie jemand etwas gehört; außerdem unklar: sind Riphäer ein Volksstamm ?

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W. T h e o d o r E l w e r t

Noch schlimmer Vezin: Gleich Kranichzügen, wenn zum Wüstensande Und zum Riphäereis sie sondernd zögen... gel ist kein Eis, sondern „Kälte", antithetisch zur Sonnenglut; sondernd ist unklar und macht die Stelle rätselhaft. Hertz, klassischer Bildimg offenbar ferner stehend, macht aus den Rife ein Land, eine Gegend: Teils zu Riphäens Höhn den Flug genommen... Zu der glücklichen Ausdrucksweise des Philalethes kehrt v.Wartburg zurück: Wie Kraniche zu den Riphäischen Bergen Man konnte jedoch auch von der Annahme ausgehen, daß Riphäisch zu ungewohnt und dem heutigen Leser sogar unverständlich sein könnte, so daß ein modernerer Ausdruck angebrachter wäre. Von dieser Vorstellung haben sich wohl Vossler und Gmelin leiten lassen. Gmelin übersetzt: „Denn wie die Kraniche zum Rifgebirge..." Das klingt gut, modern, paßt in das Metrum, ist aber falsch, denn le Montagne Rife haben mit dem Rifgebirge in Marokko nichts zu tun. Weit besser ist dagegen Vossler verfahren: Sodann wie Kraniche, die teils nach Norden Zum Ural ziehen und teils nach sandgen Wüsten, Die einen Frost, die andern Sonne suchend... Der Sinn der Monti Rifei ist hier genau wiedergegeben, denn sie sind im Norden zu suchen; für Dante sind sie ja nur eine Metapher für „kalter Norden". Aber der Ersatz durch den präzisen Namen Ural ist doch zu modern, überdies auch ganz undantesk, denn diesen Namen dürfte er nie gehört haben. Außerdem bringt Ural eine Ungenauigkeit hinein, denn der Ural ist kein hohes Schneegebirge. Außerdem, was aber weniger ins Gewicht fällt, verkehrt Vossler die Termini, indem er aus schife 'suchend' macht ; der Sinn wird dadurch zwar nicht verändert, aber man fragt sich, warum er vom Text abweicht. Warum nicht 'meidend' ? Das andere Beispiel zeigt, wie unabhängig von Reimnöten und Zwang des Metrums, der Wunsch „schön" zu übersetzen, nicht nur zur Gesuchtheit des Ausdrucks, sondern auch zur Unklarheit führt. Im zweiten Gesang des Purgatorio lautet Vers 128 wie folgt: subitamente lasciano star l'esca.

ZUR PHAGE DEB

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Alle untersuchten Übersetzer haben natürlich erkannt, daß esca hier nicht seine übliche italienische (und provenzalische) Bedeutung „Köder" hat, sondern daß es sich um einen Latinismus handelt „Nahrung, Speise": Ph.

Urplötzlich dann im Stich die Nahrung lassen...

F.

Im Nu die Atzung lassen, weil dem Drange

V.

Im Nu die schöne Atzung liegen lassen

Gm. Plötzlich die gute Weide liegen lassen H.

Sich von dem Futter unversehens trennen

V.

Und schwirren Flugs (!!) sie sich vom Futter trennen

v.W. Dann plötzlich die Atzung liegen lassen Die einzig befriedigende Lösung ist die von Philalethes ; Nahrung ist genau zutreffend, gehört dem normalen Sprachgebrauch an, ist völlig neutral, bringt keine falschen Assoziationen, gibt den Sinn von esca in vollem Umfang und in der allgemeinsten Weise wieder. Atzung ist ein Archaismus, der eher lächerlich klingt. Futter ist zu banal, außerdem erweckt es die Vorstellung, als ob das Futter eigens hingestreut worden sei. Auch Weide ist in der Bedeutimg „Nahrung" ein Archaismus, aber ein gefährlicherer, weil der unkundige Leser das Wort im modernen Sinne von 'Viehweide' verstehen wird ; immerhin stört dieser Archaismus weniger als die Atzung. Der metrisch bedingte Zusatz guie ist jedoch fehl am Platze, da dadurch der Terminus der gute Hirte evoziert wird, eine Assoziation, die nicht hierher gehört. Die Schlußfolgerung, die aus dem hier Gesagten meines Erachtens zu ziehen wäre, ist diese: Dante wie den deutschen Dante-Verehrern wäre eine deutsche Prosaübersetzung zu wünschen. Einer solchen ketzerischen Äußerung möge der Stachel dadurch genommen werden, daß daran erinnert werden darf, daß eine Prosaübersetzung nicht unbedingt und notgedrungen prosaisch oder gar banal sein müßte. Aber sie könnte auf jeden Fall eines bieten: eine genaue Wiedergabe des Gedankens. Sie könnte die Antwort geben auf die Frage: was hat Dante nun eigentlich wirklich gesagt ? - eine Frage, die sich jedem aufdrängen muß, der mehrere verschiedene metrische - gereimte und reimlose, und manchmal, gerade weil gereimt, ungereimte - Übertragungen nebeneinander liest. Eine solche Übersetzimg müßte auch eine traduction raisonnée sein, d.h. der Übersetzer müßte in kontrollierbarer Weise über den benützten Text und die von ihm unter den von den Kommentatoren gebotenen Auslegungen getroffene Auswahl Auskunft geben. Damit könnte, ja müßte der Vollstän-

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W . THEODOR

EIWBET

digkeit halber, eine s p r a c h l i c h e Erläuterung des i t a l i e n i s c h e n Textes verbunden werden. Dann gewänne man zwar nicht einen „deutschen Dante" - dieses unzerstörbare Wahngebilde - , wohl aber bekämen die Deutschen dann D a n t e , den wirklichen Dante, zu lesen*.

* Erst bei Drucklegung werde ich aufmerksam auf den Aufsatz von Rudolf Besth o m ,,Zur Problematik der deutschen Danteübersetzungen", in: Beiträge zur romanischen Philologie, 4 (1965), 36-41. Durch Besthorns Ausführungen fühle ich mich bestätigt in meiner Forderung nach einer Prosaübersetzung, die er nicht erhebt.

Dante als Beter HANS

RHEINFELDER MÜNCHEN

Das Vaterunser pflegt die Christenheit seit ihren ersten Jahrhunderten im kirchlichen und privaten Gebet auszuschmücken und weiterzuführen, durch andere Gebete zu deuten oder zu unterstützen. Am ältesten ist der preisende Zusatz, den heute noch die Ostkirche in ihrer Liturgie anfügt und der so alt ist, daß er sogar in manche Handschriften des Neuen Testamentes sich eingeschlichen hat. So hat ihn auch Erasmus in seine Ausgabe des griechischen Textes übernommen, nach dem dann Martin Luther seine deutsche Übersetzung geschaffen hat. Auf diesem Weg ist dieser Zusatz in die Lutherbibel geraten und er schließt heute noch in der evangelischen Christenheit das Vaterunsergebet ab. In der römischen Liturgie wird die letzte Vaterunserbitte „ E t ne nos inducas in tentationem, sed libera nos a malo" in dem sogenannten Embolismus („Einschaltung") weitergeführt und ausgelegt, auch dies bis zum heutigen Tag. I n der katholischen Volksfrömmigkeit jedoch wurde und wird dem Vaterunser der Engelsgruß an Maria angefügt, was so sehr ins Bewußtsein übergegangen ist, daß Paternoster und Avemaria untrennbar erscheinen: nach dem Gebet des Herrn das Gebet um die Fürbitte und Unterstützung des Gebetes durch die Mutter Jesu. Dieser Brauch scheint sich auch in Dantes Göttlicher Komödie zu spiegeln. Neben so manchem kleineren Gebet oder Gebetsruf finden sich dort zwei längere Gebete, die man als Dantes Paternoster und als Dantes Avemaria bezeichnen kann: das Vaterunser der büßenden Seelen auf dem Läuterungsberg (Purg. 11, 1-21) und das Fürbittgebet des hl. Bernhard an Maria, auf daß Maria bei Gott dem Wanderer den letzten und tiefsten Einblick in das Wesen Gottes erflehen möge (Par. 33, 1-39). Das erste Gebet ist eine zeitlos gültige Paraphrase des Vaterunsers, die auch heute noch von jedem Christen mit Dantes Worten gebetet werden kann. Das zweite Gebet ist, was die Bitte anlangt, aus Dantes besonderer Lage gesprochen und wäre heute als allgemeines Gebet nur noch mit gewissen Umdeutungen möglich.

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Es lohnt sich, diese schier unerschöpflichen Dante-Gebete immer wieder in ihrer Gedankenführung und in ihrem Gebetsanliegen zu betrachten: man wird jedesmal neue Tiefen und neue Schönheiten darin entdecken. Auf der untersten Kreisstraße des Purgatorio-Berges dürfen gerettete Seelen Neigung und Sünde des Hochmuts leidend hinwegläutern. Wie Dante in Begleitung Vergils ihnen begegnet, hört er ihr frommes Beten, hört aus ihrem Munde das Vaterunser, nicht wie er selbst es zu beten gewohnt ist, sondern besinnlich ausgelegt, das Ergebnis tiefer Meditation. Feierlich steht dieses Vaterunser am Anfang des 11. Gesanges: 0 Padre nostro, che ne 'cieli stai, non circunscritto, ma per più amore ch'ai primi effetti di là sii tu hai, laudato sia Ί tuo nome e'I tuo valore da ogne creatura, com' è degno di render grazie al tuo dolce vapore. Vegna ver' noi la pace del tuo regno, ché noi ad essa non potem da noi, s'ella non vien, con tutto nostro ingegno. Come del suo voler li angeli tuoi fan sacrificio a te, cantando osanna, cosi facciano li uomini de' suoi. Dà oggi a noi la cotidiana manna, sanza la qual per questo aspro diserto a retro va chi più di gir s'affanna. E come noi lo mal ch'avem sofferto perdoniamo a ciascuno, e tu perdona benigno, e non guardar lo nostro merto. Nostra virtù che di legger s'adona, non spermentar con l'antico avversare, ma libera da lui che si la sprona. 1 Dieses bedächtig meditierte Vaterunser ist ein Echo aus Dantes eigenem Gebetsleben. Was er bei Kirchenvätern über das Vaterunser gelesen, was er selbst betend erwogen hat, konnte hier im Munde der Büßer frommen Niederschlag finden. Der Leser wird sich durch die betenden Seelen in neue Tiefen der Betrachtung führen lassen, wird jede Vaterunserbitte frisch erleben, wird am Ende verwundert und erstaunt zwei ungewohnte Deutungen feststellen. 1

Zitate aus Inferno und Purgatorio nach der „Edizione Nazionale" der Società Dantesca Italiana, Firenze, Mondadori, 1966/1967. - Zitate aus dem Paradiso nach dem „Testo Critico", Firenze, Bemporad, 1921; Neudruck, Firenze 1960.

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Der Anrede und den einzelnen Bitten ist je eine ganze Terzine eingeräumt. Auf welche Weise hat Dante den Text seines lateinischen Paternoster (Matth. 6, 9-13), wie es in der Messe gebetet und gesungen wird und wie er es zu beten pflegte, ausgelegt und betrachtet ? Pater noster, qui es in caelis. - Dem knappen lateinischen Wortlaut würde in der Anrede die erste Zeile der ersten Terzine Genüge tun. Aber indem der Beter das in caelis spricht, glaubt er bei sich und bei anderen ein Mißverständnis verhüten zu sollen : in caelis - sollte Gott an einen Ort gebunden sein? Nein, geistig ist dieser ,,Himmel" zu verstehen. Nicht räumlich in einen Himmel ist Gott eingegrenzt (circunscritto). Vielmehr sind „Himmel" die Erstlinge seiner Schöpfimg, seines Wirkens (effetti), die reinen Intelligenzen, die Engel, deren größerer Vollkommenheit eine größere Liebe des Schöpfers entspricht. Das ne' cieli und das là sú will nicht einen geometrischen Ort meinen, sondern weist auf die ersterschaffenen Geistwesen hin, bei denen Gottes Liebe ihre liebste Heimat hat. Sanctificetur nomen tuum. - Was ist das, fragt sich der Beter, den Namen Gottes „heiligen" ? Wie kann das, was über die Maßen heilig ist, nochmals geheiligt werden ? Kann es sich im Denken und Tun der Kreatur um etwas anderes handeln als um ein schlichtes Heilig-Halten und Heilig-Bekennen ? Aber wie kann sich solches im Munde und im Herzen des Menschen vollziehen? Lobpreisen und danken kann es nur sein! Ein Danken, wie es das Gloria meint, wenn es singt Gratias agimus tibi propter magnarti gloriarti tuarn. „Gepriesen", also, „sei dein Name, wie es sich ziemt, com' è degno, dir Dank zu erstatten" - Vere dignum et justum est, aequum et salutare, nos tibi semper et ubique gratias agere, tönt es aus der Präfation in Dantes Vaterunser herein. Aber was ist es mit Gottes „Namen"? Das biblische „Name", ctr im Hebräischen, όνομα im Griechischen, besagt viel mehr als das lateinische nomen und seine Abkömmlinge in den romanischen Sprachen oder als das deutsche Name und das englische name. Der, ,Name" Gottes ist seine Wesenheit. Selbst noch für die höllischen Geister gilt Ähnliches, wie es Goethe so trefflich gespürt hat, wenn er seinen Faust zu Mephistopheles sagen läßt: Bei euch, ihr Herrn, kann man das Wesen gewöhnlich aus dem Namen lesen. So setzt Dante zur Verdeutlichung ein Wort hinzu, das in seiner Dichtung ein besonders mächtiges Wort ist, das er auch sonst an bedeutungsreichen Stellen von Gott gebraucht: valore. Dante verwendet Valore für Gott oder, in trinitarischen Strophen, für die erste Person in Gott: lo primo ed ine]-

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fabiîe Valore2. Preisende und dankende Anerkennung der Gottesgewalt soll jedoch nicht nur aus diesen gerade betenden Seelen hervorquellen, nicht nur aus den Herzen der sühnenden Geister, sondern auch aus den Herzen der Menschen auf Erden, auch aus dem Jubel der seligen Engelgeister und der in Gott gelandeten Menschenseelen, auch - je nach zugemessener Art - aus den Tieren, den Pflanzen, dem Gestein, den Wassern und Lüften: da ogne creatura. Die ganze Schöpfung erstattet wie in den „Laudes creaturarum" des Heiligen von Assisi lobpreisenden Dank ihrem Schöpfer, seinem dólce vapore. Aber was soll nun wieder dieses dolce vapore besagen? Ist das vapore nicht einfach seinem Reim gefolgt? U n d ist das dolce an dieser Stelle nicht allzu süßlich ? Auch hier muß man sich wieder an andere Stellen erinnern, an denen der Dichter die gleichen Wörter verwendet ; denn nie darf Dantes Sprache einem voreiligen Urteil unterworfen werden. Dantes vapore, eigentlich „Dunst", „Nebel", kann auch die dichterische Entsprechung des Wortes spirito sein, das ja schon im Lateinischen (wie griechisch πνενμα und hebräisch 5η) ursprünglich den „ H a u c h " bedeutet. So gebraucht Dante vapore wie spirito auch für den seligen Geist: vapor trionfanti (Par. 27, 71). An unserer Stelle muß man an den „Gotteshauch" denken, der schöpferisch über den Wassern schwebt (Gen. 1,2). Der dankende Lobpreis der Geschöpfe gilt dem Schöpfer, dem dreieinigen Gott, nicht einer der drei Personen im besonderen. Das dolce aber hebt diesen Lobpreis, diesen Dank aus einer Sphäre bloß sachlichen, von Rechts wegen gebührenden Dankes in ein Schöpfer-Geschöpf-Verhältnis hinauf, das auf die Liebe gegründet ist. Denn das italienische dólce entspricht viel mehr dem deutschen lieb als dem deutschen süß, wenn es aus dem Bereich des Materiellen heraustritt. Adveniat regnurn tuum. - Hier setzen Dantes Beter ein gewichtiges Wort der Erläuterung hinzu, das manchem Leser befremdlich erscheinen mag, zumal sich heute an ihm die Geister scheiden: la pace del tuo regno. Dante weiß, daß der Inbegriff der himmlischen Seligkeit der Friede in Gott ist. Siebenmal betete schon zu Dantes Zeit, wie heute noch, die Kirche in der täglichen Messe um den Frieden. Als den Princeps pads hat Isaias den Erlöser angekündigt (Friedefürst, Prince of Peace, heißt es in Händeis Messias). Pax vobis ist des Erlösers Gruß auf Erden gewesen. Im Frieden des Gottesreiches wird die Mühsal der sühnenden Seelen zur Ruhe kommen. - Auch in dieser Bitte hat sich Dante an einem Wort gestoßen: an dem adveniat. Ist es denn nicht umgekehrt ? Sollen nicht wir Menschen - und 2

Verwendung von Valore für Gott: Par. 10,3; ferner Par. 1,107; 9,105; 13,45; 29,143; 33,81.

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gerade die betenden Büßer - ins Gottesreich kommen? Wieso beten sie dann, daß das Gottesreich komme, zu ihnen, zu uns kommen möge ? Aber wie vermöchten wir Menschen zum Himmel aufzusteigen, wenn nicht Gottes Himmel sich zu uns neigte, wenn nicht Gottes Gnade das erste Wort spräche, zu dem wir Menschen nur unser demütiges J a hinzutun können! Nie vermag der Mensch aus eigener Kraft sich zu Gott zu erheben, wie gerade damals, als Dante diese Verse schrieb, gewisse Kreise der Beginen und der Begarden glaubten lehren zu dürfen, so daß das Konzil von Vienne (1311/12) die kirchliche Lehre vom Primat der göttlichen Gnade ausdrücklich hatte betonen müssen 3 . Dante sieht offenbar in der Formulierung des Vaterunsers, in dem adveniat regnum tuum (nicht: adveniamus in regnum tuum), einen deutlichen Beleg für die kirchliche Lehre, weshalb er die Beter erklärend hinzufügen läßt: „Denn wir, aus eigener Kraft, können mit all unserem Bemühen (ingegno) nicht hinkommen", es muß sich selbst niederneigen zu uns. Fiat voluntas tua sicut in caelo et in terra. - „Wie im Himmel": Wie geschieht denn im Himmel der Wille Gottes?, so muß sich der meditierende Beter hier fragen; oder genauer: auf welche Weise erfüllen die himmlischen Geister den Willen Gottes ? Die Engel sind wie die Menschen mit freiem Willen begabt. Den Willen Gottes erfüllen sie, indem sie den eigenen freien Willen freiwillig dem Willen Gottes unterordnen, ihren Willen gleichsam als Opfer darbringen (sacrificio), wofür Dante symbolisch das HosannaSingen setzt, d. h. den Lobpreis der himmlischen Liturgie, des himmlischen Gottesdienstes, wie es in dem von den Engelchören und von den Menschen gemeinsam gesungenen Trishagion der Messe erklingt. In solcher Weise also sollen auch die Menschen auf Erden und auf dem Läuterungsberg ihren eigenen Willen Gott zum Opfer bringen, dem göttlichen Willen unterordnen und eingliedern. Cum quibus (angelis) et nostras voces ut admitti jubeas deprecamur, heißt es am Ende der Präfation, bevor das Hosanna gesungen wird. I n dem fiat voluntas tua hegt also, wie Dante sehr richtig gesehen hat, nicht bloß ein passives Einverstandensein mit dem Willen Gottes, nicht bloß eine fromme Resignation, sondern aktives, freudiges Opfern. Panem nostrum cotidianum da nobis hodie. - I n dieser vierten Bitte hat das griechische επιονσιον den Übersetzern aller Zeiten viel Kopfzerbrechen gemacht. An der alten Übersetzimg cotidianum hat die lateinische Liturgie bis heute festgehalten und von da sind die Übersetzungen in die modernen Sprachen gestaltet worden, auch ins Rumänische der griechi3

Denzinger, Enchiridion Symbolorum..., 471—478.

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sehen Chrysostomos-Liturgie. Doch liegt in dieser lateinischen Fassung nicht etwa die Fassung der Vulgata vor. Hieronymus hat die griechische Form vielmehr mit supersubstantialem wiedergegeben (επί = super, ουσία = substantia „Wesen"), hat sie demnach als „überwesentlich", „übernatürlich" gedeutet. Dadurch kam der weitere Sinn der Bitte, die ja gewiß nicht nur um das materielle Brot fleht, noch deutlicher zum Ausdruck (wobei ganz davon abgesehen sei, ob die Deutung des hl. Hieronymus philologisch zu halten ist). Alles, was wir Menschen zum Leben brauchen, für Leib und Seele, wird in dieser Bitte von Gott erbeten. Dante behält das gewohnte cotidianum bei, hebt aber durch den Gebrauch des Wortes manna das Brot in den übernatürlichen Gnadenbereich des himmlischen Brotes in der Wüste (Exod. 16), wodurch nun, da dieses Manna in der Deutung Christi und der Apostel ein Vorbild des eucharistischen Brotes war (Joh. 6, 30-35, 48-51 ; vgl. Apok. 2,17), auch der Ausblick auf das Sakrament sich öffnet. Dies wird noch deutlicher in dem Zusatz, der zwar auf Gottes Gnade im allgemeinen, aber doch im besonderen auch auf die sakramentale Gnade der Eucharistie hinweist: ohne dieses Manna kann der Mensch in der rauhen Wüste des Lebens (der Zusammenhang mit dem Manna in der Wüste bleibt bestehen!) nicht vorwärtskommen, sondern wird trotz allem Bemühen rückwärtsgehen. Das himmlische Brot, die Gnade Gottes, zumal als Manna des eucharistischen Brotes, ist dem Menschen schlechthin unentbehrlich. Et dimitte nobis débita nostra, sicut et nos dimittimus debitoribus nostris. — Schon im ursprünglichen Vaterunser nimmt diese Bitte einen längeren Raum ein, weil ihr ein einschränkender und zugleich anspornender Zusatz beigegeben ist. Sie wird von Dantes Betern fast unverändert nachgesprochen. Das Verzeihen ist ein charakteristischer Akt der Güte: so wird denn auch hier gerade an die Güte Gottes appelliert (benigno). Am Schluß ist jedoch ein wichtiger Satz angefügt, der den positiven Gedanken des Verzeihens nochmal negativ als Nichtbeachten menschlicher Schuld ausdrückt: „Verzeihe - schaue nicht auf unser Verdienst!", d.h. beurteile uns nicht so, wie wir es eigentlich verdienen! Hier hat Dante zweifellos an das Schlußgebet des Kanons gedacht, das ja in der Messe dem Paternoster fast unmittelbar vorangeht: „Führe uns, o Gott, in die Gemeinschaft deiner Heiligen, non aestimator meriti, sed veniae, quaesumus, largitori" Et ne nos inducas in tentationem, sed libera nos a malo. - Hier nun, in den zwei Schlußbitten - in der einen Schlußbitte - begegnen uns bei Dante zwei verblüffende Abweichungen von der uns gewohnten Form des Vaterunsers. Wir pflegen diese Worte als sechste und siebte Bitte zu bezeichnen. Dante aber spricht beide in einer Terzine und bezeichnet sie als eine Bitte.

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Denn auf diese ganze Terzine, also auf unsere sechste u n d siebte Bitte, beziehen sich die Worte, die Dantes Seelen ihrem Vaterunser anfügen: Quest' ultima preghiera, Segnor caro, già non si fa per noi, ché non bisogna, ma per color che dietro a noi restaro. (Purg. 11, 22-24). Sie wollen damit sagen, daß sie die Bitte u m Errettung vor Anfechtungen u n d vor dem Versucher nicht für sich selbst sprechen können, sondern nur f ü r ihre Hinterbliebenen u n d für alle Menschen auf Erden, f ü r die Glieder der ecclesia militans, die bis zum Tode dem Zugriff des Bösen ausgesetzt sind. Sie selbst aber, die Geretteten, sind jetzt gegen jede Versuchung gefeit. Gerade aus diesem Bewußtsein, nicht mehr sündigen zu können, strömt die große Freude, von der, trotz aller Sühneleiden, die Seelen des Läuterungsberges erfüllt sind, eine Freude, die auch in dem beglückten, ja beinahe glücksstolzen che non bisogna hervorbrechen will. Das Vaterunser Dantes h a t also bloß sechs Bitten. Unsere siebte Bitte f ü h r t die sechste nur weiter, sagt noch einmal positiv (libera), was vorher negativ ausgedrückt worden ist. Diese Zusammenfassung zu einer einzigen Bitte ist nicht erst von Dante vollzogen worden. Schon immer hat m a n in dem sed „sondern" ein philologisches Zeichen dafür gesehen, daß die beiden Sätze zusammengehören. So sagt deutlich Nikolaus von Lyre (c. 1270-1349), also ein Zeitgenosse Dantes: „Ideo enim Matthaeus non ait et libera nos a malo, t a n q u a m diversam petitionem poneret, sed ait sed libera nos a malo, unam petitionem esse demonstrans" 4. Es ist vielleicht nicht gleichgültig, zu wissen, daß der französische Scholastiker seine Studien in Florenz u n d in Paris gemacht h a t t e u n d daß er 1308—1310 als Magister theologiae in Paris lehrte. So ist es immerhin möglich, daß Dante in seiner Auffassung von der Sechszahl der Vaterunserbitten von Nikolaus gelernt hat. Doch h a t die Christenheit des Ostens schon früher die beiden letzten Sätze als eine einzige Bitte betrachtet. I m Westen aber h a t t e bereits Augustinus auf die heilige Siebenzahl hingewiesen: „Videtur etiam iste numerus petitionum septenario beatitudinum congruere" 5 . E s ist nicht ohne Reiz, zu sehen, wie Augustinus hier sich nicht f ü r sechs, sondern f ü r sieben Vaterunserbitten entscheidet u n d zugleich die Zahl der acht Seligpreisungen (Matth. 5, 3-10) auf sieben zurückführt, um jeder * In Luc., X I , 2 sqq. — Nach S.Bonaventura, Opera omnia, VII (Quaracchi 1895), S. 282, Fußnote 9. 5 De serm. Dom., 2,18 ; zitiert von Thomas v o n Aquin in seiner Catena Aurea in quattuor evangelia, I: Expositio in Matthaeum et Marcum, ed. Angelico Guarienti O.P., «Roma 1953. Vgl. Migne PL, 34, 1286f., 1277.

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der sieben Bitten eine der sieben Seligpreisungen zuordnen zu können: dem libera nos a malo das beati sunt pacifici. Da Thomas von Aquin in seiner „Catena aurea" die ihm zugänglichen Väterstellen zusammengestellt hat, so könnte Dante auch beim Studium dieses Werkes der Sechszahl der Vaterunserbitten begegnet sein. Noch etwas anderes ist in Dantes letzter Vaterunserbitte auffällig. „Erlöse uns von dem Übel", pflegen wir auf deutsch zu beten. I n dem gleichen Sinne ist auch das lateinische a malo aufgefaßt worden, so daß die römische Meßliturgie im Verfolg ihres Betens (im sog. Embolismus) diese letzte Bitte so auseinanderlegt: „Libera nos, quaesumus Domine, ab omnibus malis, praeteritis, praesentibus et futuris...". Um Bewahrung vor den Folgen vergangener Übel, vor gegenwärtigen und zukünftigen Übeln wird hier gebetet. Man könnte freilich - was aber hier ursprünglich nicht so gemeint war - aus dem Text auch Befreiung „von unseren vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Bosheiten" herauslesen und dann den ganzen Embolismus an ein malum „Bosheit", ja sogar an ein malus „der Böse", „Teufel" anschließen. So ist es bei den betenden Seelen in Dantes Purgatorio nicht das malum, „das Übel", sondern der malus, „der böse Feind", was sie für das Heil der noch ringenden Menschen bangen läßt. Es wird schwer sein, mit Bestimmtheit zu sagen, wie Dante zu dieser Auffassung des lateinischen a malo gekommen ist, die von den meisten heutigen Exegeten für die richtige gehalten wird. Im griechischen Grundtext lautet die Stelle: άλλα ρνσαι ήμας από τον πονηρού (Varianten gibt es zu dem πονηρον nicht). Dieses πονηρον könnte, ganz ähnlich wie es bei dem lateinischen malo liegt, ebensogut von πονηρός wie von πονηρόν abgeleitet werden. Aber auch πονηρόν kann schwerlich mit „Übel", sondern muß wohl eher mit „Böses" wiedergegeben werden; das lateinische malum kann das eine wie das andere meinen. Nun spricht aber vieles dafür, daß es sich im griechischen Grundtext des Vaterunsers nicht um das πονηρόν, sondern um den πονηρός handelt. Es wird gut sein, wenn man hier einen Blick auf die sonstigen neutestamentlichen Stellen wirft, an denen das Wort in irgendeiner Form vorkommt. Da ist es besonders eine Stelle aus dem 1. Johannesbrief, die den Sinn der Vaterunserbitte verdeutlichen könnte: ό πονηρός ονχ άπτεται α ντον „der Böse packt ihn nicht a n " (1. Joh. 5,18; vgl. 1. Joh. 2,13; aber wohl auch 1. Joh. 3,12 u n d 5,19). An dieser Stelle ist ganz eindeutig „der Böse", „der Satan", „der Teufel" gemeint 6 . I n gleichem Sinne dürfte das Wort mit größter Wahrscheinlichkeit auch im Vaterunser aufzufassen sein. Schwerlich hat Jesus im Zusam8

Vgl. noch Matth. 13,19; Joh. 17,15; Eph. 6,16; 2.Thea. 3,3; l.Joh. 2,13; 5,19.

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menhang der großen vorhergehenden Bitten uns gelehrt, um Erlösung von dem Übel zu beten. Des Gebetes bedarf es viel mehr, um aus den Anfechtungen des Teufels gerettet zu werden (retten entspricht dem griechischen Wort besser als das schwächere erlösen). Es haben sich denn auch viele neuere Bibelübersetzer entschlossen, das πονηρού vom Masculinum und nicht vom Neutrum herzuleiten. So auch deutsche Übersetzer beider Konfessionen, z.B. Hermann Menge: „sondern erlöse uns von dem Bösen" (Anmerkung: „Oder, rette uns vor dem Bösen"); ebenso Otto Karrer (Anmerkung: „Kann sächlich oder persönlich, vom Satan, verstanden werden"); ebenso Fritz Tillmann, Franz Sigge, August Vezin (vom) und die Zürcher Bibel; Nivard Schlögl, schon 1920: „sondern erlös uns vom bösen Feinde". Die gleiche Beobachtung macht man bei Übersetzungen in andere moderne Sprachen. Während in England die Authorised Version Jakobs I. den üblichen Wortlaut des alten englischen Vaterunsers hat („but deliver us from evil"), liest man in der neuen amtlichen Übersetzung der Church of England, der Church of Scotland und der übrigen nicht katholischen Kirchen Großbritanniens (1961): „but save us from the evil one". In Frankreich hat gegenüber dem herkömmlichen „mais délivrez-nous du m a l " schon die Bibelübersetzung von Louis Segond (1880): „mais délivre-nous du malin" und die Bible de Jérusalem (1948-52) schreibt: „mais délivre-nous du Mauvais". Nicht anders liegen die Verhältnisse in Spanien - statt des alten „mas líbranos del mal" jetzt „sino líbranos del Malo" (José María Valverde, revidiert von Luis Alonso Schökel S. J., 1966), „del Maligno" (José María Solé Roma) - und im Katalanischen - statt „ans deslliureu nos de qualsevol mal" jetzt in der Montserrat-Bibel (1961) : „ans deslliureu-nos del Maligne". Wenn in Italien gegenüber einer modernen Fassung „ma liberaci dal maligno" (Nicola Lisi) bis in unsere Zeit „ma liberaci dal male" üblich ist, dann wundert es uns um so mehr, wie Dante bereits deutlich das Masculinum gesehen und wiedergegeben hat. Die Frage nach dem Sinn des πονηρού h a t allerdings bereits die frühesten Kirchenschriftsteller beschäftigt. Einig sind sich die meisten darüber, daß es sich nicht um Übel im Sinne irdischen Unglücks handeln kann. Tertullian scheint das Wort als Masculinum zu fassen, wenn er seiner Erklärung des et ne nos deducás (sic) in tentationem die Worte anfügt: „Eo respondet clausula interpretans, quid sit ne nos deducás in tentationem. Hoc est enim: sed devehe nos a malo" 7 . I m übrigen neigen die westlichen Kirchenväter eher dazu, das Wort als Neutrum zu verstehen. Dabei wird aber das malum, als Werk des Satans betrachtet. So sagt der hl. Cyprian in 7

De oratione 8. Migue P L 1, 1267.

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seiner Vaterunser-Erklärung: „In novissimo enim ponimus sed libera nos a malo comprehendentes adversa cuneta quae contra nos in hoc mundo molitur inimicus..., quando semel protectionem Dei adversus malum petamus" 8 . I n der Ostkirche hat man die Stelle viel häufiger persönlich, auf den πονηρός, gedeutet. So hat es in aller Klarheit Johannes Chrysostomos getan. Und Gregor von Nyssa zählt unter den Bezeichnungen, die Jesus dem Teufel gegeben habe, auch den πονηρός auf 9 . Wenn Thomas von Aquin Zitate der beiden verschiedenen Auffassungen zusammenstellt, so scheint er doch am Neutrum festhalten zu wollen. Freilich hat er das malum als ein malum, poenae vel culpae gesehen, also in den Bereich von Schuld und Sühne gerückt und dadurch einer bloß utilitaristischen Deutung entzogen: „Ultimum est sed libera nos a malo praesenti vel futuro, poenae vel culpae" 10 . Dante ist bei seiner Deutung im Purgatorio in der Wahl zwischen den beiden Möglichkeiten gestanden. Geläufig war ihm die Auslegung der Meßliturgie: malum „Übel". Er hat sich für die andere Auffassung entschieden: malus „der Böse Feind". Es wäre noch festzustellen, auf welchem Weg er diese Möglichkeit des Verständnisses kennengelernt hat. Aber auch hier wieder, in der Abweichung von der landläufigen Gewohnheit, bekundet sich die überlegene Selbständigkeit seines Geistes. Nach solcher Entscheidung ist es für Dante verständlich, daß sich ihm unsere sechste und siebte Bitte wie negativ zu positiv verhalten, sich auf das gleiche Ziel richten und sich gegenseitig bloß verdeutlichen. Der malus wird von Dante als der antico avversare eingeführt, der „alteWidersacher" ; so auch Purg. 14, 146. Dabei mag der Dichter an die in der täglichen Komplet gesprochene Stelle aus dem 1. Petrusbrief gedacht haben: ,,Adversarius vester diabolus tamquam leo rugiens circuit quaerens quem devor e t . . . " (1. Petr. 5,8: ό αντίδικος υμών διάβολος). Eigenes Erleben und Erschrecken klingt nach, wenn die Seelen voll Mitleid an die Erdenpilger denken, denen der Satan so sehr mit seinen Sporen zusetzt: che si la sprona. Das Objekt dieser Sporen ist das menschliche Tugendstreben, nostra virtù. Aber das Bild von den Sporen läßt erkennen, wie sehr sich die Seelen auch bewußt sind, daß mit Gottes Hilfe die Anfechtungen des Teufels sie auf dem Wege nach oben vorangebracht haben. Es muß ja wohl so sein, daß Gottes Teufel dem ringenden Menschen zusetzt, wobei der Mensch freilich allzuleicht sich gehenlassen und ganz aufgeben kann: che di leggier s'adorni. So bleibt ihm sein Leben lang die 8

De oratione Dominica 27. Migne P L 4, 555. • Orat. Domin., Sermo 5. Migne PG 44, 1192. 10 Super Ev. S. Matth, lectura. Ed. Raffaele O.P. (Boma 1951), S. 93, Nr. 602.

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Angst vor dem Versagen, bis die Sporen Satans ihr Treiben einstellen und der Friede des Gottesreiches anhebt, la pace del tuo regno. Noch anderes ist an Dantes Fassung bemerkenswert. Ne nos inducas in tentationem : Ist es möglich, so fragt sich der Beter, daß Gott den Menschen in die Versuchung hineinführt? Wozu soll das dienen? Muß Gott dabei nicht eine gute Absicht mit uns haben? So fügt Dante dem Vaterunserwort eine Begründung des göttlichen Tims hinzu: Gott will den Menschen auf die Probe stellen (spermentare) und bedient sich dabei des Teufels: con l'antico avversavo wird gesagt, „mit dem alten Widersacher", der also hier lediglich als Werkzeug in Gottes Hand erscheint. Probe für den Menschen - zugleich schlimmste Gefahr, die Probe nicht zu bestehen, in der Anfechtung zu ermatten und sich dem bequemeren Abwärts hinzugeben (s'adona). So betet der Christ in Dantes Vaterunser, daß er aus dieser Prüfung errettet werden möge, ein Gebet, bei dem für uns immer noch - geben wir es nur zu - ein Rest des Unerklärlichen, des Geheimnisvollen, ja des Unheimlichen bestehen bleibt. Dantes Vaterunser ist das Ergebnis versunkenen Gebetes und langer Meditation. Als demütiges Gebet, das sich mit den Bitten des Meisters begnügt und sie sich nachdenkend zu eigen macht, ihnen aber neue, eigene Bitten als Ergänzung nicht glaubt hinzufügen zu müssen, hat dieses Vaterunser gerade im Munde der einstmals Stolzen und Überheblichen seinen treffenden Platz gefunden. Zugleich aber zeigt es uns, daß dieser Dante Alighieri nicht nur ein großer Dichter, sondern auch ein großer Beter gewesen ist. Dieser Eindruck findet seine volle Bestätigung, wenn man das andere Gebet mit Dante durchwandert und durchbetet, sein Avemaria, mit dem der Schlußgesang der ganzen Dichtung einsetzt, wie der 11. Gesang des Purgatorio mit dem Vaterunser begonnen hat. Dante ist seinem letzten Ziel näher gekommen. Erreicht werden kann es aber nur durch inständiges Gebet: Orando grazia conven che s'impetri mahnt ihn sein Begleiter, der hl. Bernhard (Par. 32, 147). Der Weg zum Herrn selbst aber geht über die Mutter des Herrn: Dante soll inbrünstig sich an Maria wenden, auf daß sie ihm bei ihrem göttlichen Sohn einen Blick in Gottes Wesen erflehe: orando grazia conven che s'impetri, grazia da quella che puote aiutarti.

(Par. 32, 147f.)

Wie soll aber der sterbliche Mensch zu einem solchen, letzten Gebet die richtigen Worte finden? So übernimmt es an Dantes Stelle der Heilige, dieses Gebet zu sprechen. Dante selbst braucht nur im Herzen mitzubeten und das betende Wort Bernhards in seiner eigenen Brust zu bejahen:

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e tu mi seguirai con l'affezione, si che dal dicer mio lo cor non parti.

(Par. 32, 149f.)

Dieses Gebet des hl. Bernhard u m f a ß t die ersten 39 Verse des Schlußgesanges. An k a u m einer anderen Stelle verbindet Dante ähnliche Tiefe der Gedanken mit ähnlicher Knappheit des dichterischen Ausdrucks: A

Β

Vergine, Madre, figlia del tuo figlio, umile e alta più che creatura, termine fisso d'etterno consiglio! 4

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C 22 25 28 31 34

Tu se' colei che l'umana natura nobilitasti si che Ί suo fattore non disdegnò di farsi sua fattura. Nel ventre tuo si raccese l'amore per lo cui caldo ne l'etterna pace cosi è germinato questo fiore. Qui se' a noi meridiana face di caritate, e giuso, intra i mortali, se' di speranza fontana vivace. Donna, se' tanto grande e tanto vali, che qual vuol grazia ed a te non ricorre, sua disianza vuol volar sanz' ali. La tua benignità non pur soccorre a chi domanda, ma molte fiate liberamente al dimandar precorre. I n te misericordia, in te pietate, in te magnificenza, in te s'aduna quantunque in creatura è di bontate. Or questi, che da l'infima lacuna de l'universo infin qui ha vedute le vite spiritali ad ima ad una, supplica a te, per grazia, di virtute tanto, che possa con li occhi levarsi più alto verso l'ultima salute. E io, che mai per mio veder non arsi più ch'i' fo per lo suo, tutti miei prieghi ti porgo, e priego che non sieno scarsi, perché tu ogni nube li disleghi di sua mortalità co' prieghi tuoi, si che Ί sommo piacer li si dispieghi. Ancor ti priego, regina, che puoi ciò che tu vuoli, che conservi sani, dopo tanto veder, li affetti suoi.

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Vinca tua guardia i movimenti umani. Vedi Beatrice con quanti beati per li miei preghi ti chiudon le mani!

Nach der Anrede (A) enthält die erste Hälfte des Gebetes (B, 4-21) einen Marienpreis von ebenso großer theologischer Tiefe wie zarter Innigkeit; der zweite, ebenso lange Teil des Gebetes (C, 22-39) spricht die Bitten aus, die Maria für D a n t e an ihren göttlichen Sohn herantragen soll. Damit schließt sich dieses Gebet in seinem A u f b a u einer der ältesten Formen des christlichen Gebets, ja des Betens überhaupt an 1 1 . Die ältesten Orationen der lateinischen Liturgie beginnen mit dem an Gott gerichteten flehenden Imperativ: „Praesta, quaesumus, D o m i n e . . . " , oder mit einem vorangestellten Gebetsobjekt: „Preces nostras, quaesumus Domine, clementer e x a u d i . . . " . D a n n aber gebraucht man immer häufiger jene Gebetsformen, die sich auch schon vor dem Christentum finden, weniger im J u d e n t u m als vielmehr in der griechisch-römischen Antike: am Anfang steht der Vokativ ; ihm ist als Zweites ein Lobpreis angeschlossen, der inhaltlich die Voraussetzung und Grundlage für die folgende Bitte sein soll u n d formal meistens als Relativsatz erscheint ; schließlich kommt als Drittes u n d Letztes die Bitte selbst, mit dem Imperativ einsetzend oder jedenfalls in dem Imperativ gipfelnd 1 2 . U m ein Beispiel zu geben: die Oration vom 14. Juli, Fest des großen italienischen Philosophen Bonaventura da Bagnorea (Bagnoregio, 1217/18-1274) u n d - Geburtstag von Gerhard Rohlfs (1892): Deus, qui populo Tuo aeternae salutis beatum Bonaventuram ministrum tribuisti, praesta, quaesumus, ut quem Doctorem vitae habuimus in terris, intercessorem habere mereamur in caelis! Diese Form h a t sich auch dem Beter Dante angeboten. I m kleinen findet sie sich z.B. in eben diesem Gesang 33 des Paradiso, 67-75: O somma Luce, che tanto ti levi / da' concetti mortali, a la mia mente 11

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E.Norden, Agnostos Theos. Berlin-Leipzig 1913. S. 143ff. - Vgl. noch E.Auerbach, Dante's Prayer to the Virgin (Paradiso X X X I I I ) and Earlier Eulogies, in Rom. Philology 3, 1949/50, S. 3-26. A.Vallone, La critica dantesca nel Settecento, ed altri saggi danteschi. Firenze 1961. S. 88f. H. Rheinfelder, Zum Stil der lateinischen Orationen, in Jahrb. f. Liturgiewissenschaft 11 (1933), S. 20-34.

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ripresta un poco di quel che parevi, e fa la lingua mia tanto possente, ch'una favilla sol de la tua gloria possa lasciare a la futura gente! woran sich dann bei Dante noch eine Begründung, menschlich gesprochen eine „captatio benevolentiae" anschließt: che, per tornare alquanto a mia memoria e per sonare un poco in questi versi, più si conceperà di tua vittoria. In dem Mariengebet nun wird dieses Formmotiv wie in einem musikalischen Durchführungssatz erweitert: Vokativ der Anrede: eine ganze Terzine (1-3) Lobpreis (nicht als Relativsatz): sechs Terzinen (4-21) Bitte: sechs Terzinen (22-39). Schon rhythmisch fällt in der dreizeiligen Anrede an Maria auf, daß in dieser italienischen Terzine jeder Vers - gegen die Norm - mit betonter Silbe beginnt. Zwar kommt das Wort umile zu Dantes Zeit auch mit dem Ton auf dem i vor ; aber es will mir doch scheinen, daß hier absichtlich dreimal der Vers mit dem Ton anhebt, wie wenn die Aufmerksamkeit der Gottesmutter laut angerufen werden sollte. Dazu kommt noch mit besonders starker Wirkimg der Umstand, daß in der dritten Zeile, die den Höhepunkt der Anrede bringt, die erste und die dritte Tonstelle, die lautesten der vier Tonstellen, auf der gleichen Silbe ter, in ganz verschiedenen Wörtern, liegen. Gleichviel, ob Dante dabei an das lateinische ter „dreimal" (,,du mußt es dreimal sagen!") gedacht haben mag, auf alle Fälle gewinnt die Zeile dadurch einen weiteren, feierlichen Nachdruck: Vérgine, Madre, figlia del tuo figlio, «mile e alta più che creatura, iérminefissod'etferno consiglio! Jeder der drei gedrungenen Verse gibt eine besondere Aussage über Maria, derart, daß wir im ersten Vers ein Compendium der Mariologie bekommen, im zweiten ein Magnificat in nuce, im dritten den Inbegriff der Erlösimg. Der erste Vers sagt von Maria aus, daß sie Jungfrau und Mutter zugleich ist und daß ihr Sohn-nach-dem-Fleische Gott selber ist, der sie geschaffen hat, dessen Tochter sie sich also nennen darf. Dies alles wird in nur sechs Wörtern aufs klarste gesagt.

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„Demütig und erhaben" ist Maria, „mehr als jede Kreatur", künden die sechs Wörter des zweiten Verses. „Quia respexit humilitatem ancillae suae", sagt Maria im Magnificat (Luk. 1,48) und weiter ,,et exaZiavit humiles" (Luk. 1,52); andrerseits: „beatam me dicent omnes generationes" und „fecit mihi magna qui potens est" (Luk. l,48f.). Es sind die zwei Hauptmotive des Magnificat, das auch zu Dantes Zeit und damals schon seit Jahrhunderten der vertraute Höhepunkt des täglichen Vespergebetes der Kirche war. Mit umile und alta hat Dante diese Motive in seinen Vers genommen. Die dritte Zeile schließlich ist mit ihren vier Wörtern so kompakt, daß sie jeder Übersetzung spotten möchte. Sie besagt etwa dies: „Du, Maria, bist das festgesetzte Ziel ewigen Ratschlusses" - hier liegt ein Hinweis auf Gottes Verheißung nach dem Sündenfall, auf das Protoevangelium: „Ich will Feindschaft setzen zwischen dir (Schlange) und der Frau, zwischen deinem Nachwuchs und ihrem Nachwuchs" (1. Mos. 3,15), eine Stelle, die schon von den Kirchenvätern auf Maria gedeutet wurde. Von Ewigkeit her hat Gott, alles voraus-, d. h. in seinem ewigen Jetzt, schauend, beschlossen, die Menschheit heimzuholen, in sich selbst herein. In der „Fülle der Zeiten" (Gal. 4, 4) sollte Maria auserlesen sein, zum Eingangstor Gottes in die Menschheit zu werden: auf Maria hin zielt also die ganze vorchristliche Heilsgeschichte, das meint Dante mit seiner knappen Formel. Der Vers sagt ungefähr das gleiche aus, was der evangelische Theologe und Exeget Ethelbert Stauffer so ausgedrückt hat: „Alle Geschichte Israels ist Vorgeschichte Jesu Christi. Dieses Volk ist von Gott geschaffen und durch die Zeiten geführt, um Maria hervorzubringen. Das war seine weltgeschichtliche Bestimmung" 1 3 . Schon in diesen Versen der Begrüßung - später noch mehr - wird der aufmerksame Leser oder Beter den Anklang nicht verkennen an ein altes Lieblingsgebet des christlichen Volkes, das sogenannte Memorare des hl. Bernhard. Die heutige Formulierung des Gebetes taucht freilich nicht vor dem 14. Jh. auf, und seinen Namen hat es wohl nicht von unserem DanteFührer Bernhard von Clairvaux, sondern von einem französischen Gottesmann des 17. Jh.s Claude Bernard. Die Grundgedanken sind aber schon bei Bernhard von Clairvaux nachzuweisen. I n irgendeiner Form muß es Dante gekannt haben, denn die Anklänge sind allzu deutlich. Das Gebet lautet heute: Memorare, o piissima Virgo Maria, non esse auditum a saeculo quemquam ad tua currentem praesidia, tua implorantem auxilia, tua petentem suffragia, a te esse derelictum. Ego tali animatus confidentia, ad te, Virgo virginum, 13

Christus und die Caesaren. Hamburg 1948, S. 24f.

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Mater, curro, ad te venio, coram te gemens peccator assisto. Noli, Mater Verbi, verba mea despicere, sed audi propitia et exaudí! Dieses Gebet ergießt seinen Geist und manches aus seinem Wortlaut auch in andere Dante-Verse, wie sich zeigen wird. Auf die dreizeilige Anrede folgen sechs Terzinen eines Enkomions, in welchem Marienpreis, Erlösungsfreude und Glaubensbekenntnis einen vollen Dreiklang bilden. Zuerst wird das figlia del tuo figlio wieder aufgenommen und ins Kosmische erweitert: der Schöpfer der Natur verschmähte es nicht, sich zu einem Werk der Natur zu machen, indem er in Maria die Menschennatur annahm: so hoch ist in Maria die Menschennatur geadelt worden. Christus wird also hier der Schöpfer der Natur genannt. Auch dies entspricht durchaus der christlichen Glaubenslehre, insofern das Erschaffen allen drei Personen gemeinsam zukommt und jeder einzelnen, nicht nur der ersten, zugesprochen werden kann. So schreibt Dante auch ganz richtig über das Höllentor: Fecemi la divina potestate (1. Person, „Vater"), la somma sapienza (2. Person, „Sohn") e Ί -primo amore (3. Person, „Heiliger Hauch")

Inf. 3,5f.

Das Nizänische Glaubensbekenntnis sagt von der zweiten göttlichen Person: per quem omnia facta sunt, was sich wiederum auf den Johannesprolog stützen kann: omnia per ipsurn facta sunt (Joh. 1,3). Die Heimholung der Menschheit durch die Erlösungstat Christi wird in der nächsten Terzine angedeutet: die himmlische Rose mit ihrem ewigen Frieden, auf deren Blättern Dante die Heiligen in Gott vereint gesehen hat, ist aus der Liebesglut entsprossen, die im Leib Mariens als menschgewordener Gott wieder aufgeflammt ist: fructus ventris tui (Luk. 1,42) von hier bekommt das italienische ventre seine mystische und dichterische Weihe. Die ganze Menschheit soll durch Marias Vermittlung von Gott heimgeholt werden. Denjenigen, die wie der hl. Bernhard schon am Ziele sind (in der ecclesia triumphans), ist Maria höchster Inbegriff göttlicher Liebe (meridiana face di caritate 10f.). Für die Glieder der ecclesia militans ist sie Hort der Hoffnung, lebendiger Quell der Hoffnung (di speranza fontana vivace 12): das spes nostra, salve tönt herein aus dem Salve Regina, das zu Dantes Zeit bereits im liturgischen Gebet Verwendung gefunden hat. Aus dieser Hoffnung ergibt sich nun die Begründung des Gebetes. Hier bekennt sich Dante zu einer weitverbreiteten, aber nicht zum Dogma erklärten kirchlichen Auffassung, die in Maria die Mediatrix omnium gratiarum erblickt. „Wer von Gott eine Gnade erlangen will", läßt Dante den hl. Bernhard beten, „dabei aber nicht deine Vermittlung,

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o Maria, in Anspruch nimmt, der betet vergebens, wie wenn er in seiner Sehnsucht ohne Flügel fliegen wollte" (13-15; vgl. auch 32, 145-148). Diese Lehre, die erst viel später, am deutlichsten im 18. Jh. durch einen Franzosen, den hl. Louis-Marie Grignion de Montfort, volkstümlich geworden ist, sich aber schon seit dem 8. Jh. nachweisen läßt, will besagen: wie die große Begnadung des Menschen durch die Erlösimgstat Christi sich des menschlichen Werkzeugs Maria bedient hat, so fließt auch alle spätere Begnadung von Gott den Menschen über Maria zu. Dante macht sich diese Auffassung zu eigen und sieht in dem Fürspracherecht der Gottesmutter ein besonderes Zeichen ihrer Größe: Donna, se' tanto grande e tanto vali, che qual vuol grazia ed a te non ricorre, sua disianza vuol volar sanz'ali. 33,13 Diese und die folgende Terzine lassen wieder eine Anlehnung an das Memorare erkennen, wenn die Parallelität sich auch nur auf den Wortgebrauch, nicht auf den Gedanken erstreckt: das dreimalige -corre im Reim (ricorre 14, soccorre 16, precorre 18) hat sich dem Dichter gewiß aus der Erinnerung an das Memorare angeboten: Dante will im Bernhardgebet den Stil Bernhards treffen, wie er ihn im Memorare Bernhards zu finden glaubt, wo zweimal das gleiche Verbum erscheint: ad tua currentern praesidia und ad te ... curro. Inhaltlich bleibt aber zu beachten, daß das Memorare sich nicht an die Mediatrix omnium gratiarum richtet, sondern nur die große Macht des fürbittenden Gebets Marias bei ihrem göttlichen Sohn herausstellt und dadurch das Vertrauen zu diesem Gebet bekunden und wecken will. Dante geht darüber noch hinaus und bestätigt, daß Marias Gnadenvermittlung unentbehrlich sei und dem menschlichen Beten oftmals sogar zuvorkomme. Der Lobpreis schließt, indem die Gesinnung Marias gegenüber dem Menschengeschlecht auf Erden zusammengefaßt wird in misericordia, pietate und magnificenza (19f.). Inbegriff aller benignità (16) ist misericordia, Barmherzigkeit des Starken gegenüber dem Schwachen, Gottes gegenüber dem Menschen. Die pietate bedeutet nicht nur die Frömmigkeit und Anhänglichkeit des Menschen gegenüber Gott oder gegenüber den Eltern, sondern auch - von oben her gesehen - Gottes oder der Eltern Fürsorge und Güte. Der Begriff der magnificenza ist, neben cortesia, im italienischen Mittelalter etwa das gleiche, was im deutschen Mittelalter die milte ist, die Freigebigkeit. Diese drei Neigungen des Herzens, misericordia, pietate, magnificenza, sind Einzelzüge der großen bontate (21), der ,,Güte", der grundsätzlichen Gutheit, die in Maria über alles geschöpfliche Maß hinausgeht.

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Jetzt kann, in ebenfalls sechs Terzinen, das Anliegen selbst sich im Gebet aussprechen. Zwei Bitten trägt Bernhard - und mit Bernhard Dante - der Himmelskönigin vor: erstens daß Dante einen Blick in Gott hinein tun dürfe: ... che possa con li occhi levarsi più alto verso l'ultima salute 26f. und nochmals : sí che Ί sommo piacer li si dispieghi 33 zweitens daß Dante, nach der Begnadimg dieser Jenseitsschau, in den restlichen Jahren seines Lebens nicht mehr vom rechten Weg abweiche: ... che conservi sani, dopo tanto veder, li affetti suoi. 35 f. Bernhard betet nicht nur stellvertretend für Dante, sondern er macht sich dessen Anliegen ganz zu eigen, wie wenn es wirklich seine eigenen wären: E io, che mai per mio veder non arsi più ch'i' fo per lo suo, tutti miei prieghi ti porgo, e priego che non sieno scarsi. 28 f. In gleicherweise betet die ganze Communio sanctorum mit Bernhard und für Dante, allen voran die Heilige Dantes, Beatrice: Vedi Beatrice con quanti beati per li miei preghi ti chiudon le mani. 38 f. Dante hat in seinem Herzen das Gebet Bernhards getreulich und andächtig mitgesprochen. Maria hat auf Bernhard wohlgefällig heruntergeblickt, jetzt richtet sie ihr Auge zum „ewigen Licht", trägt Dantes Gebet zu Gott. Und alsbald kommt die Erfüllung der ersten Bitte, worin Dante eine Gewähr für die Erhörung auch der zweiten Bitte erblicken kann: Dante darf in das Wesen des einen Gottes in drei Personen hineinschauen, darf auch die Doppelnatur Christi erkennen. Die Fürsprache Marias hat ihm dazu verholfen. Das Mariengebet Dantes zeigt ebenso wie sein Vaterunser, daß der große Dichter ein stiller Meister des Gebetes gewesen ist. Sein Beten ist ein demütiges, inniges, scharfsinniges Meditieren. Nichts Gewohnheitsmäßiges, nichts Erstarrtes findet sich in diesem Gebet, alles ist durchdacht, alles ist durchglüht. Wenn Jude und Christ aufgerufen sind, Gott den Herrn mit allen Kräften der Seele zu lieben (5. Mos. 6,5; Matth. 22,37), so hat es Dante vermocht, diese aus allen Seelenkräften gespeiste Liebe ins Gebet einströmen zu lassen, wie in seinem Dichten so auch in seinem Beten sein ganzes Selbst einzusetzen, den Verstand ebenso wie das Herz.

Altrui bei Goldoni KTJKT W A I S TÜBINGEN

Zum Wortschatz dessen, was einer sein sollte oder tun müßte, verhält der Sprachgebrauch sich träge und zurückhaltend. Das Gebot, den Nächsten zu lieben, steht im Kern der christlichen Botschaft, aber um die Vokabel 'der Nächste' legt sich in den Sprachen der christlichen Völker ein Bannkreis der Scheu. Das gilt für die meisten Worte der Tugendsphäre. Willentliche Ansätze versuchten sich an den Formen der Anrede. Aber das Demütige in „Herr" oder Domina oder Senior war bald verflüchtigt, die Anrede „Bruder" oder bei den Angelsachsen das biblisch feierliche 'thou' wurde in Sekten und geschlossenen Ordensgruppen institutionell verhärtet. „Citoyen" oder „Genösse" war zu ostentativ, um nicht das Schicksal des römischen Grusses und ähnlicher Einfälle zu teilen. Das Schicksal von „Towarischtsch" ist der Zukunft überantwortet. An den „andern" als den in Sympathie und gleichem Schicksal zwischen Geburt und Tod Verbundenen bindet die Sterblichen eine jede unter den großen Kollektivlehren der Menschheit. Ein Rausch von Altruismus kann den Menschen ergreifen, bis in seine Sprache hinein. Doch drängt die Aufrichtigkeit auch auf Einschränkungen. Sie schaffen geradezu einen Ausgangspunkt für das Denken als solches. „Autrui, un autre semblable, un peut-être double de moi, c'est le gouffre le plus magnétique", heißt es im Tagebuch von Paul Valéry (Cahiers IV 279). Aphoristisch stehen die Einschränkungen bei Montaigne oder La Rochefoucauld formuliert, philosophisch bei Fichte in der scharfen Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich. Auch diese Unterscheidung wirkte berauschend, und seit zweihundert Jahren nehmen etwa in der Dichtung die „steppenwölfischen" Bekundungen zu, die herostratische Lust an der absoluten Selbstherrlichkeit, der Argwohn gegen den „andern", gleichzeitig mit der Aufrichtung von abschirmenden Mauern sogar in der stilistischen Aussage. Es läßt sich schwerlich überhören, daß im besonderen die Vokabel der andere im Begriff ist, vornehmlich mit negativen Vorzeichen umzulaufen.

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Nicht einmal Schriftsteller machen eine Ausnahme, denen eine soziale (wenn auch nicht immer soziable) Verpflichtung in steigendem Maße wichtig wurde, nicht einmal solche, die sich nicht als frei empfinden möchten, solange irgendein „anderer" noch unfrei wäre. Den französischen Wortschatz vermehrt gegenwärtig - wenn hier der meistbeachtete Autor genannt werden darf - Jean-Paul Sartre um das Wort ,,altérité". Was ist gemeint ? - bei einem Autor, der sich geprägt spürt durch die Freiheit Descartes' und durch die Knechtungen von Proust und Céline und schließlich durch die Amerikaner, über die er sagte, sie hätten den französischen Roman erlöst von Proust. Beruht dies Wort altérité aus seinem Traktat über Baudelaire (p. 23f.) noch auf den Grundlagen seiner Nausée aus den dreißiger Jahren, auf der Kontakt-Angst „dans les mains", wie sie damals sein erster Romanheld den Mitmenschen gegenüber empfand („Je ne suis plus libre")? Oder verengt es sich zu dem bereits polemischen Simplifizieren, das ihn später die Kompromißbereitschaft gegenüber „Anderleut" anklagen hieß, die Feigheit angesichts des Ich, des Sichals-zuviel-Fühlens und des Nichts ? Der Verrat am Eigentlichen auf dem Weg über ein Sich-Anpassen an ein Dutzend-Ideal, das ist nach den Hauptwerken von Sartre das Kennzeichen der „lâches" und der „salauds", wie er sie etwa in der 'Enfance d'un chef (Le Mur) erbittert gezeichnet hat, erbitterter noch als es später Albert Camus in 'La Chute' getan hat. Wenn diejenigen, die von ihrem eigenen Bild in den Augen der „anderen" nicht freikommen, gar auf ewig zusammen eingesperrt werden, so ist einer des andern Henker wie jene Inès (j'ai besoin de la souffrance des autres pour exister) und ihre beiden Gefährten in dem allbekannten Bühnenspiel Huis-clos. Die Hölle sind die anderen. Über den spielenden Kindern stand schon in der Nausée die Behauptung: „Eux aussi, pour exister, il faut qu'ils se mettent à plusieurs". Roquentins Gesicht im Spiegel? ,,Οη dirait la nature sans les hommes" (p. 32). Zunächst leidet der Monologist der Nausée am Abgestoßenwerden von Seiten der andern, an diesem Eindruck, der nur selten - so bei einem Lied auf der Schallplatte - aus seiner Seele weichen will ; dann wieder tinter der Empörung darüber, nur das zu sein, was andere in ihm sehen, „d'être un objet, c'est-à-dire de me reconnaître dans cet être dégradé, dépendant et figé que je suis pour autrui ... J'ai besoin de la méditation d'autrui pour être ce que je suis ... J e deviens un homme que les autres hommes considèrent comme un écrivain ... J'ai honte de moi tel que j'apparais à autrui. J e reconnais que je suis comme autrui me voit" (L'Être et le Néant, p. 276). Hier wird ein Wort gleichsam zur Waffe, um das einzig Lebenswerte zu

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retten, das „Pour-soi", denn „le surgissement d'autrui atteint le pour-soi en plein cœur" (p. 429). Dieses Defensivwort ist nun aber ein selbstgeschmiedetes. Denn ein Hauptvorwurf ist letztlich, daß der Gegenbegriff ,,Anderleut" der üblichen Sprache angehört, insofern Sprache kurzerhand das Übliche ist, und nicht, wie etwa jenes Wort „pour-soi", etwas vom Ich zugleich Erschaffenes und Definiertes. Dem bekannten Orakelspruch von R i m b a u d „ J e est u n autre" weiht Sartre vermutlich mit darum seinen Kult, weil es nicht mehr das Französisch ist, das jeder kennt. Seinen Erostrate läßt er sagen: „J'aurais voulu des mots à moi. Mais ceux dont je dispose ont traîné dans je ne sais combien de consciences: ils s'arrangent t o u t seuls dans m a tête en vertu d'habitudes qu'ils ont prises chez les autres' ' (Le Mur). D a r u m tötet dieser Extremist unter den Figuren Sartre's, stets mit Handschuhen abgeschirmt, einen beliebigen „andern", u m damit ,,le principe général de l'existence d ' a u t r u i " zu treffen, - anderseits weiß er aber zugleich: selbst die Vernichtung aller andern könnte nicht ungeschehen machen, daß sie einmal existiert haben und daß der H a ß des Herostrat eben doch die andern benötigte, daß also noch dieser H a ß ein „être-pour-autrui" bliebe. Weniger ausweglos allerdings verhält es sich bei der Mordtat, durch die Orestes in den Fliegen seine Freiheit bestätigt. Der K a m p f , begriffen als ein Abschütteln der Unterwürfigkeit, u n d eines Schuldgefühls gegenüber Bisherigem, scheint hier die vorher so lastenden Bedenklichkeiten gegenüber „den andern" auf jene einfache Art zu scheuchen, mit der m a n Fliegen scheucht. Nie in seinem Schaffen h a t Sartre sich sonst auf ein so äußerliches Sinnbild verlassen. H a t t e es den gordischen K n o t e n zerhauen sollen, den er selber geknüpft h a t t e ? Kehren die Fliegen nicht mit Macht zurück in dem Sartre-Drama von den Séquestrés d'Altona ? Die Idiosynkrasien eines solchen Schriftstellers unserer Tage sind ein Anzeichen dafür, daß der Begriff des „anderen", lautgeschichtlich ziemlich problemlos, zu demjenigen Wortbestand in der allgemeinen Sprachgeschichte zählt, der anfällig ist für die Schwankungen und Wechselfälle der Geistesgeschichte. Entsprechend spielt er seine Rolle in der Schönen Literatur, spürbar nicht erst in den oben angedeuteten Indizien aus dem zwanzigsten Jahrhundert, sondern auch in Akzenten, die das achtzehnte, dann das neunzehnte J a h r h u n d e r t kennzeichnen. Was das neunzehnte J a h r h u n d e r t betrifft, so verlegte es im Unterschied zu der kühlen generellen Vorstellung vom Menschen und Erdenbürger bekanntlich dichter u n d nestwärmer seinen Nachdruck auf den „anderen" als den Nachbarn oder Blutsverwandten, den Landsmann oder Stubengenossen ; oder auch, wenn man etwa a n den Morgenland-Traum im Ofterdiiwgrew-Roman des Novalis, im Zauberring von Fouqué, in der Prinzessin

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Brambilla von E.T. A.Hoffmann denkt: auf einen neuartigen Kosmopolitismus aus mystischer und mythischer Vergangenheitsbindung (Im Krisenzustand: auf den Doppelgänger). Wie sehr die Sprache hier mitging, enthüllt etwa die Lektüre der für damals so bezeichnenden Christmas Carols von Charles Dickens: von Anfang bis Ende ein einziges, unaufhörliches Aufsuchen des unbeachteten Mitmenschen, eben des unscheinbaren Anderen. In Tolstoj und Dostojevskij gipfelt die Intensität. Der Kernbereich dieser Aufdeckungen aber wurde die Kindheit eines jeden Einzelnen: nie mehr wird der Andere so sehr der unentbehrliche Teil des eigenen Ich sein wie auf dieser Stufe: Vater, Mutter, Geschwister. Literarische Leistungen entstehen, die von diesen Bindungen bis ins Kosmische streben, Chateaubriands René von seiner Schwester Lucile her, Nervals Aurelia von seiner Mutter her, - auch wenn daneben Vorläufer des literarischen Vater-Sohn-Konfliktes derer aus dem zwanzigsten Jahrhundert gewittern. Der Rückschlag sollte nicht ausbleiben. Die Kindheit, die noch Rilke als Sinnbild für das harmonistische Du anspricht, sollte nun immer häufiger den Inbegriff des Brüchigen, Wehrlosen und Gefährdenden verkörpern. Für einen abergläubisch auf die Psychoanalyse Schwörenden wie Sartre heftet sich daran jede Art von Argwohn und Mißtrauen. I n seinem Buch Les Mots ist alles darauf angelegt, das Sich-Kräftigen des Ichs als des Andersseins (im Sinne von Rimbaud) zu schildern, mit mühevollen sprachlichen Vorsichtsmaßregeln, seine Feder ja nicht allzu liebreich - gegenüber der geliebten Mutter - ins Kompromittierende ausgleiten zu lassen. Zu den gescheiterten Vorgängern gehört ihm sogar Baudelaire. Hieß nicht dessen Begriff von Genie ,,l'enfance retrouvé à volonté"? Hatte etwa Baudelaire den „andern" aus Kindheitstagen so ausgerottet wie die Lafcadio-Gestalt bei André Gide es programmatisch tat ? Sartres Buch über Baudelaire klagt diesen an, „die Idee der Familie", die Eltern als Götzen nicht zerschlagen zu haben 1 : der Dichter der Fleurs du mal habe nicht „cessé de regretter ces verts paradis des amours enfantines ... Baudelaire, c'est l'homme qui a choisi de se voir comme s'il était un autre ; sa vie n'est que l'histoire de cet échec" (Baudelaire, p. 60, 31), er war zu schwach, um ein anderer als die andern zu werden. Der Purismus der Bindungsfreiheit freilich verdorrt leicht ins Pedantische, so wie es einstmals in den Tagen von Joseph de Maistre mit dem Purismus des Sehnens nach Bindungen geschehen ist. Und für das 18. Jahr1

Zur gleichen Behauptung von Sartre gegenüber dem Verhältnis von Stéphane Mallarmé zum Vater: meine Bemerkungen in Zs f. franz. Lit., 77, 1967, 322 f.

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hundert ließe sich hinzufügen: so wie es damals mit dem Purismus der Philanthropie sich begab. Es läßt sich mit dem beginnenden 18. Jahrhundert beobachten, wie ein widerstreitender Gebrauch sich an den Begriff der „andern Menschen" heftet. Bei der Allmacht der gesellschaftlichen Wertungen im damaligen Frankreich fühlt ein Dichter sich eher beengt durch die Vorstellung, wie das, was er sagte, „aux yeux d'autrui" sich ausnehme (um hier die dritte Epistel von Boileau zu zitieren, in der es nicht von ungefähr heißt: „Des jugements d'autrui nous tremblons follement"). Damit aber überkreuzt sich ein neuer Gebrauch bei Enthusiasten, die zunächst meist in England zu Hause sind, Sprecher eines schwärmerischen Altruismus. I h n trugen die Moralischen Wochenschriften der Engländer und deren Nachahmungen in jedes Land, und namentlich zu den Lesern außerhalb der Fürstenhöfe. Puritanisches Christentum des insularen Calvinismus verbündete sich darin mit pietistischer Rührung und mit Shaftesburys Lehren vom begeisterten Menschen; manches davon ist den Späteren gebheben, etwa im „vivre pour autrui" bei Auguste Comte, der in jedem Anderen den „Mithelfer" sehen lehrt (Cours de philosophie positive, IV, p. 365). Trotz der nüchternen Züge des „Aufklärungszeitalters" wird man das Lied von der Freude am Mitlebenden, am Menschenbruder nicht überhören können. Das erwärmende Du ließ sich allenthalben am Wege entdecken und liebhaben, wie man in der Sentimental Journey des Pastors Lawrence Sterne erfuhr. Das zeitgemäße Ungeheuer aber war für den Dichter derjenige, der blind war vor dem Rührenden am Andern, - Finsterlinge wie der Präsident in Schillers Kabale und Liebe oder wie der heuchlerische Richter im Voyage de Bougainville von Diderot, der über die von ihm einst Verführte seine Strafen verhängt. Die beliebteste Romangestalt der Zeit, die Pamela von Samuel Richardson, prägte sich ein als eine hausmütterlich altruistische Gestalt, von Kindern umringt. Züge aus Pamela hat nicht allein Goethe entliehen für die Heldin seines Werthenom&ns, sie wurde in Venedig mit all ihrer edeln Opferwilligkeit sogar auf die Bühne gebracht, und zwar bekanntlich durch Carlo G O L D O N I . Venedig als das einzige seit einem Jahrtausend ohne Fürsten lebende Staatswesen Italiens war soziologisch wohl leichter ansprechbar als manche andere italienische Stadt für jenes englisch - und teilweise protestantisch - bestimmte Pathos einer sittlich erneuerten Verantwortlichkeit gegenüber dem Mitmenschen. Die moralische Wochenschrift, die dort Gasparo Gozzi gründete, war katholischen Lesern zugedacht, aber öffnete sich doch vorsichtig einer neuen Sprachregelung. Auf der Bühne t a t es Goldoni, nicht minder behutsam.

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Es gibt keine Schrift über die Werke von Goldoni, die an ihnen nicht die Gruppierung in zwei „Familien" nach Thematik, Sprache und Stilkunst beachtet 2 . Die eine sind die fast immer mundartlichen „Volksstücke", zeitlose Genremalerei, mit betontem Lokalkolorit, sorglosem Bau und o f t dem farcenhaften Schwank nahestehend ; die andere die Versdramen u n d die vorherrschend schriftitalienisch bestimmten Prosastücke von Goldoni, in denen er auch bei Molière u n d bei allerlei literarischen Zeitmoden Anregungen aufnahm. Es steht im ganzen unumstößlich fest: der „echtere" Goldoni, der bühnenmäßig wirksamer gebliebene, der frischer sprudelnde, ist in den Werken der ersten Gruppe zu finden. Es drängt sich uns die Frage auf, in welcher Art u n d Weise die oben umrissene u n d nordeuropäisch bestimmte Vorstellung vom „ a n d e r n " in das Werk Goldonis einsickerte. Nach allem vorher Erwähnten k a n n sozusagen von vornherein gar kein Zweifel sein, daß sich die Auseinandersetzung mit einem solchen „altrui" in den Werken der zweiten Gruppe wird abspielen müssen. U m der Stichprobe willen habe ich mich bei der Goldoni-Lektüre dem einfachsten sprachlichen Leitfaden anvertraut: auf die Verwendung eines so gewöhnlichen Wortes wie gli altri oder altrui zu achten. Verblüffend war allein schon das negative Resultat. Soviel Herzenswärme u n d Humor gerade den „Volksstücken" eignet u n d so unablässig sie dem Zusammenleben der Menschen zugewandt sind, so sucht man dort den genannten Begriff gleichwohl vergebens. I n düsterer Stimmung mag hier einer an das Wort denken: „ j a m a i s per sonne ne pense à a u t r u i " (Rimbaud, Nuit de l'Enfer). E r würde durch den inneren Zusammenhang jener Schauspiele widerlegt. Die beobachtete Eigenheit liegt in einer Kleinwelt nahe, wo m a n sozusagen kurzsichtig miteinander lebt und wo der Mitmensch das Gegebene u n d problemlos Selbstverständliche ist. „Die andern", im Unterschied zum I c h setzen eben bereits eine abstrahierende Leistung voraus, - K a n t würde sagen können: einen ersten Ansatz zum sittlichen Imperativ. I m Wort altrui ist zwar auch bereits ein Stück Abstrahierung enthalten, aber es f u ß t zu selbstverständlich im Sprachgebrauch, um nicht auch in durchaus akzentloser Weise mit unterlaufen zu können. U m dem großen Wort Gemeinschaft Schonung zu gewähren, mag m a n vom Kollektiv sprechen, das gerade in Goldonis Mundartspielen oft der eigentliche Träger der Handlung wird u n d manchmal auch den Titel 2

Vgl. den Aufsatz von Gerhard Rohlfs, Goldoni und die italienische Komödie (Herrigs Archiv, 184, 1943, p. 40ff.).

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eines Stücks bestimmt. Ein solches Kollektiv verkörpern beispielsweise in den bekannten Baruffe chiozzotte die beiden Fischerfamilien von Chioggia. die ein Sinnbild des ganzen Ortes sind. Das Lagunenstädtchen ist weit genug von Venedig entfernt, um auf seine Eigenart stolz zu sein, - und der Dichter, der in seinen Mémoires betont, wie genau er die Bewohner habe abzeichnen wollen, huldigt diesem Stolz der „gente volgare" am Ende des Stücks. Wie sehr er bei der Abfassung unablässig an die Aufnahme seines Gemäldes bei denen dachte, die es schildert, läßt sich der Vorrede entnehmen, die auf lateinische Wegweisung für das gesellige Spiel, auf die tahernariae hinweist und meint, die Menschen des „popolo minuto" sollen sehen dürfen ,,i loro costumi e i loro difetti, e mi sia permesso di dirlo, le loro virtù". I n diesem an den Schluß der Vorrede gestellten Stichwort mag man die Spur des damaligen gesamteuropäischen Diskutierens um die Tugend erkennen. Etwas anderes noch läßt gerade in der Chioggia-Umwelt am ehesten eine bewußtere Verantwortimg vor dem Mitmenschen erwarten. Goldoni selbst war dort einst angestellt gewesen im Amtszimmer des Coadiutore del Cancelliere Criminale, und ein Stück menschlich-politischer Fürsorge durfte hier einem durch die Schutzmacht Venedig nach Chioggia Entsandten nicht von ungefähr am Herzen liegen. Isidoro, der cogitor, hat als einziger einen abstrakteren Begriff von den „andern", den Mitmenschen, wenn man den Aufkäufer Vincenzo allenfalls ausnimmt, der bewundernd vor sich hinmurmelt: „Gran boni omeni che xi i pescaori". Isidoro weiß, daß man hier als Fremder erst ermuntern muß, und läßt daher vor seinen Vernehmungen den Frauen versichern, man brauche vor ihm keine Angst zu haben, „che son bon con tutti, e co le donne son mia pasta de marzapan" (II 8). Aber Goldoni erspart auch ihm nicht den komischen Zickzack-Kurs aller Theoretiker. Isidoro hatte versprochen: „Son galantomo, me interesso volentiera per tutti; se poderò farve del ben, ve farò del ben", oder zum Titta: „a vualtri chiozotti ve voggio ben" (III 12). Aber nachher wird seine Geduld derart auf die Probe gestellt, daß er sie zu wiederholten Malen zum Teufel wünscht: Sien maledetti! Immerhin, sein Lohn ist, daß am Schluß bedauert wird, daß er, der „foresto", den Ort verlasse. F ü r sie selber aber, die kleinen Leute, ist der Mitmensch einerseits durch die Zugehörigkeit zum gleichen Geschlecht bestimmt, und von dorther weiß man auch das eigene Ich jeweils zu entschuldigen, so wenn die Frauen durch ihr dauerndes Klatschen einen neuen Streit haben entzünden helfen, „la xe cussi. Nualtre femene, se no parlemo, crepemo" (II 2); oder aber er ist der nicht auswechselbare Mensch, derjenige für den das

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Generelle nicht gilt, das bei Lucietta anklingt (E ghe ne troverà un'altra ; a chiozza no gh'è carestia de putte). I n diesem Fall wird er erst recht nicht in eine Verallgemeinerung einbezogen. Als Beispiel für die Zwischenstellung zwischen dem Schwank u n d dem lehrhaften Lustspiel bei Goldoni sei La Putta onorata herausgegriffen. Hier läßt sich schon a m Titel vermuten, daß Vorstellungen wie die der honnête femme im Sinne eines bewußten Reformierens der Frauenauffassung an der Arbeit sind. Es stehen denn auch deutlich zwei Gesellschaftsschichten nebeneinander, die „minuta gente" und die anderen, u n d gerade der einfache Mann, der barcariol, lehnt am Schluß die Einladung zum Hochzeitsfest ab, damit es weiter so bleibe: „ognun dal canto suo". Dem entspricht, daß Auftritte auf der venezianischen Gasse mit Interieurs aus dem Adelsschloß wechseln. Die Gasse, als calle u n d Kai, wird zum Sinnbild von Freiheit und Natürlichkeit, - u n d als Lelio am Schluß seinen Vater, den barcariol, wiederfindet, erlösen ihn Gasse, Gondel und Mundart von Perücke, Schriftsprache und vom Irrweg seines bisherigen Daseins: „il dover far da signore mi poneva in u n a gran soggezione" (III 24). Die Palastszenen wiederum zeigen den satirischen Kritiker Goldoni, der hier einen Marchese durch Egoismus u n d brutale Herrenrechte bis zur Selbstvernichtung seiner Lebensform gelangen läßt. Die Marchesa, giftig mit ihrem Gatten zerfallen, die unstäte „donna d'onore", wie sie selbst sich glücklos und eher mitleiderregend nennt, besitzt keine Partner mehr, von denen aus der Begriff „ E h r e " noch wirklich sinnvoll würde. Anders das Mädchen aus dem Volke, die Titelheldin Bettina, die Goldoni zunächst im Genuß der Sonne u n d der Einsamkeit zeigt, - ein glänzender Einfall: „Oh caro sto sol! Co lo godo! ... qua semo fora dei petegolezzi . . . nissun me sente, nissun me vede". Auf ihrer Altane im Freien genießt sie es, jenseits des Klatschens der anderen zu sein, d a n n aber bietet sie unverzagt die Stirn all den Anschlägen, die sie gerade dem üblen Klatsch überantworten würden u n d es ihr rauben möchten, als ehrenhaft, anständig, onorata den andern gegenüber sich zu verhalten. Hier weitet sich also der Umkreis gegenüber einem Stück von der Art der Baruffe. Von den Hauptfiguren der Gasse, dem eigentlichen Chorus des Stückes, den „barcarioi", von der „zente ordenaría", auf die P a n t a lone herabsieht, h a t Bettina am wenigsten etwas zu befürchten. Bei ihnen ist kein Abstraktum zu Hause, das jemandem von innen her die Ehre abschneiden könnte. Aber ebensowenig mag Goldoni sich mit den triebhaften Gesamtvorstellungen abfinden: die Würde seiner Bettina scheint ihm dadurch beeinträchtigt, dürfte sie kurzerhand mit allen Geschlechtsgenossinnen in Venedig über einen K a m m geschoren werden, besonders wenn

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dabei ein Zynismus über die Lockeren, „quele zentildone salvadeghe", sein Patriotenherz kränkt. Darum zeigt er sie zunächst echt humanistisch als einen ,,homo pro se", sozusagen im Sinne des Erasmus, und darum macht er sie zur Sprecherin des Protestes gegen das verallgemeinernde Gerede von „den" Frauen hierzulande: ,,le metè tute a mazzo"! Wie man sieht, kreisen die Gedanken Bettinas um den Begriff der Geltung, ohne daß dabei übrigens im geringsten etwas Lehrhaftes spürbar würde. Die Geltung aber setzt „die andern" in einem bereits drängenderen Sinn voraus, auch die Geltung in ihrem am wenigsten aufdringlichen oder eigensüchtigen Sinn, dem der Ehre des einzelnen Ich und - wie hier des Zugehörigseins zu den ehrbaren Mädchen Venedigs. Ein streitbares Exempel für beides soll die beherzte und nie auf den Mund gefallene Bettina sein in diesem wohlgelungenen und nur gelegentlich pathetischen 3 Schauspiel. Gleich der erste Dialogauftritt schlägt das Thema an. Der künftige Herzensschatz des Mädchens hat zu bemängeln, daß sie nicht drinnen in der Stube bleibe, statt „sempre su l'altana a farse veder da tutti". Ihre Entgegnung, nicht ohne eine heitere Absicht reichlich oft im Stück wiederholt, lautet: „Mi son una puta da ben". Das heißt zugleich die „reputazion" bereits volkstümlicher ausdrücken als mit der zeitbedingteren, fast nach geschwollenem Import anmutenden Vokabel „onorata", die in Bettinas Reden nicht ganz fehlt, ohne daß sie freilich in Vorstellungen einer Romankeuschheit denken möchte; „xe passà", sagt sie, „el tempo che Berta filava" (I 7). Der Ehrenstolz trennt sich nicht künstlich von der einfachen Gläubigkeit des Mädchens. „El cielo ne assisterà": Molières Lustspiele waren zu stilisiert, als daß er ein Mädchen so hätte mögen sprechen lassen. Nur eines hat Bettina gemein mit dem französischen Pathos des Sich-selbst-von-außen-Sehens, mit den Augen von „autrui", daß sie in ihren Monologen sich an den eigenen Namen anklammert, als an einen Halt gegen sittliche Laschheit: „Betina far un'azion de sta sorte?" (II 10). Das Wort „die andern" aber kommt ihr nicht über die Lippen, und jenes Selbstgespräch wie überhaupt die lebendige Gestalt der Bettina erweisen, daß Goldoni hier beim „viver con reputazion" doch weniger an ein Leben vor dem Richtstuhl der Mitmenschen denkt als vielmehr an ein solches vor der Verantwortung des eigenen Ich. 3

Doch läßt Goldoni seine Bettina dann lieber ein Gedicht aufsagen: „Roma vanta per gloria una Lugrezia / chi vol prove d'onor, vegna a Venezia" (I 13). Es hängt vom heiteren Geschick einer Schauspielerin ab, daß dergleichen nicht die Atmosphäre des Lustspielhaften sprenge.

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Zum Gegenstand der ausdrücklichen Diskussion werden gli altri dagegen in den mehr theoretisierenden Schauspielen Goldonis. Als Beispiel dafür möge die bekannte Bottega del Caffè dienen, schon darum vielleicht das gelungenste der Gruppe, weil es äußerlich den Kollektivrahmen bejaht. Hier ist ein Kaffeehaus auch räumlich der Mittelpunkt an dem venezianischen kleinen Platz, dem Campiello, mit dem Laden des Haarkräuslers, mit der Herberge, der Spielhölle und dem Haus der Tänzerin Lisaura. Zugleich macht Goldoni den Besitzer, den Kaffeewirt Ridolfo, zum richtigen rettenden Mittler zwischen den Mitmenschen. Sein Ridolfo ist dahintergekommen, daß noch der unscheinbarste Beruf ein Stück Humanität zu entwickeln erlaubt. Sein Beruf (mestiere) ist ihm nicht etwas Sinnloses, und er sagt gleich zu Anfang: ,,ηοη voglio far torto alla mia professione". Dieser Kaffeesieder Ridolfo nun hat einen Gegenspieler von Adel. Es ist der unrichtige Mittler, Don Marzio, der das Glück der Mitmenschen nicht gelten lassen kann und der keine anständige Frau sehen kann, ohne sie zu verleumden. Dieser napoletanische Bummler pflegt das, was er dem einen Mitmenschen an Auskünften entlockt hat, sogleich zu den andern weiterzutragen. Er verzerrt möglichst, um sich daran zu weiden, wie sie einander in die Haare geraten, und um sich zu sonnen in seiner rechthaberischen Wichtigkeit, derjenigen einer großen Drehscheibe. Früh am Morgen beginnt der erste der drei Akte, wenn der Kaffeekellner die ersten Stühle zurechtrückt und die letzten Nachtschwärmer eintreffen, die der Gauner Pandolfo zum Glücksspiel verlockt hat. Dort beginnt Don Marzio, der Neiding, mit seiner hämischen Spalter-Arbeit, alle gegen alle aufzubringen, bis am Ende des Stücks das ganze Campiello gegen ihn zusammenwächst. Er wird dann mit seiner Thersites-Zunge dort nie wieder die Einhelligkeit stören können. Der Mitmensch ist in diesem Stück Goldonis zunächst nur in der Gestalt eines jungen Ehemanns verkörpert, der auf die schiefe Ebene geraten ist. Er befindet sich in den Klauen des Falschspielers Pandolfo, der als einziger nie von andern Menschen spricht, sondern immer nur von sich; ,,Per me va bene", oder zweimal: „A me basta che...". Was den spielwütigen Ehemann betrifft, so sucht der Zyniker Marzio sogleich nach dessen Schwächen, und es ist bezeichnend, daß er das herabsetzt, was dem jungen Mann noch allenfalls einen rettenden Halt böte, die Ehe. In Don Marzios Augen ist Eugenio weibisch, seiner Frau hörig. Andere Menschen wiederum pflegt Marzios Phantasie sogleich in Gedanken aneinander zu verkuppeln. Vergebens sucht der Kaffeewirt ihn davon abzuhalten, das Privatleben der ballerina Lisaura anzuschwärzen, indem er dem Ehrabschneider entgegenhält: „Damit Sie es wissen, um die Sachen der andern

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(dei f a t t i degli altri) kümmere ich mich nicht viel" (I 6). Ridolfo m u ß erleben, daß der haltlose Eugenio sich beeindrucken läßt durch das, was ihm an Don Marzio als Freimut erscheint, und daß er sich nur wundert, wie jener immer von „Anderleut Sachen" reden könne (de' fatti altrui). Es erklärt sich, wie Ridolfo ahnt, daraus, daß der Lästerer Don Marzio wenig eigene Fähigkeiten besitzt ,,und darum denkt er stets an die der andern" (I 11). Freilich denkt auch Ridolfo a n seine Mitmenschen, aber - u n d auf diesen Gegensatz baut Goldoni dieses und andere Schauspiele auf - Ridolfo t u t es in einer sehr davon verschiedenen Weise. F ü r Ridolfo gilt — er selbst sagt es einmal - , daß „jeder Mensch verpflichtet ist, wenn er kann, dem andern zu helfen" (aiutar l'altro, I I 2). Allen Figuren des Stücks t u t diese seine Hilfe not, obwohl der Kaffeewirt namentlich mit seinem schwankenden u n d cholerischen Schützling böse Überraschungen erlebt u n d es manchmal so aussieht, als habe er zu Unrecht daran geglaubt, daß ,,auch anständige Leute durch die Welt ziehen" (II 12). Freilich überschätzt er auch nicht die Verhärtungen; er weiß, daß mancher sich auf das Anstoßerregen versteift, nur weil er nicht weiß, wie er Entschuldigung f ü r seine Fehlgriffe erwarten dürfe (II 25). Da wir i n einem Lustspiel sind, verfängt sich d a n n schließlich Don Marzio im Netz seiner eigenen Klatschsucht. Ahnungslos plaudert er ausgerechnet gegenüber einem Herrn von der Polizei die Schliche des Falschspielers aus, den d a r a u f h i n das Schicksal ereilt, u n d n u n steht er selbst im üblen Licht, ein Polizeispitzel zu sein. So sichert Goldoni, der Humorist, dem Unheilstifter einen Abgang, in dem er diesmal als gekränktes Unschuldslamm sich fühlen darf, er, der doch den Eheleuten nur habe Gutes erweisen wollen (per far bene), indem er ihre bedrohten Ehen menschenfreundlich habe vollends auseinanderbringen wollen. An den Kontrastfiguren des Venezianers Ridolfo u n d des Napoletaners Don Marzio läßt sich die Spannweite ablesen, die der Begriff altrui f ü r Goldoni besitzt. Der Brüderliche, Menschenfreundliche entsprach seiner eigenen Verliebtheit in alles Menschliche, der Empfindlichkeit gegen jedes harte Wort, die ihm vielleicht seine Erziehung durch liebenswerte u n d liebevolle F r a u e n ins Leben mitgegeben hatte. Der andere dagegen, der Aufdringliche, der lüstern Ausspähende, der Entweiher der Seelen, der Vampyr am Leben der andern verrät etwa vom Schock, den Goldonis soziables u n d wohlmeinendes Wesen immer wieder zu ertragen hatte, vielleicht weniger von den nicht gerade spärlichen Sterblichen, die jedermann auf die Nerven gehen müssen, als vielmehr von Angstzuständen der eigenen überreizten Nerven und von einer Hypochondrie, die ihn immer wieder überfiel. I n seinen Memoiren berichtet er darüber: über den eigenen Mut in

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Gefahren und über die Ängstlichkeit in guten Tagen, über Schreckbilder der Phantasie, die ihn beispielsweise beim Tode seines Landsmanns Angeleri aufs Krankenbett hinstreckten. Manch eine unter seinen komischen Bühnengestalten, so scheint mir, läßt die Spur solcher panik-artigen Beklemmung vor dem „altrui" ahnen. Don Marzio ist eine unter ihnen. Nicht als ob denjenigen widersprochen werden soll, die nur die heitere Anmut in Goldonis Schaffen auskosten mögen, seine heimliche Musikalität, die nicht von ungefähr die Komponisten immer wieder anlockt, von der Kleinoper La finta semplice des zwölfjährigen Mozart bis zum Campiello von Ermanno Wolf-Ferrari. Auch wird die heutige Bühne wohl immer die unpersönlicheren Frühwerke Goldonis bevorzugen, etwa seinen meistgespielten Diener zweier Herren mit dem freßlustigen Truffaldino, mit dem einstmals Hermann Thimig das Zwerchfell der Hörer strapazierte, Tomatenbrühe spritzend und ins Makkaronigeschlängel verstrickt wie ein zweiter Laokoon. Dem reifen Goldoni aber begegnet man als einem, der als Dramatiker mit der Frage experimentiert, wie es am besten anzustellen sei, mit den Mitmenschen auf gute Art zu leben. Goldonis Antworten sind unerschöpflich. Das eine Mal versucht er's mit einem, der es unternimmt, in Freud und Leid und am Ende sogar bei der eigenen Hochzeit sich über den Mitmenschen nie zu erhitzen: L'apatista. Ein andermal entrollt er den bösartigen Feldzug der Durchschnittlichen gegen den vereinzelten Menschen, dem die Gabe zuteil wurde, mitmenschliche Güte auszustrahlen: Le donne gelose, 1752. Dann wieder entsteht ein Spiel vom Maskenball, Il festino (1754), als Frucht seines eigenen etwas morbiden Bedürfnisses, nach einer Bühnenniederlage die höhnischen Sticheleien seiner Widersacher zu belauschen. So ließ Goldoni durch das Thema vom Mitmenschen sich zugleich beunruhigen und belustigen, in einem weiten Umkreis, bald gleichsam chorisch wie im Versspiel von den dienstfreien Dienstmädchen, Le massère (1755), einem wahren Echo der Straße, bald in einer ganz verschwiegenen Lektion für eine Schauspielerin, die keine Kollegin neben sich sehen mochte und der er durch sein Drama La donna sola (1758) einen Spiegel vorhielt. Sogar den Dichter Tasso, dieses Idol der Menge, den Einsamen, von dem Goldoni sagt, daß er niemals habe lachen können, machte er einmal zum Gegenstand eines komischen Wettbewerbs der Mitmenschen. Da gibt es ein Liebesgedicht Tassos auf eine Leonore, und drei Frauen dieses Namens, ohne viel Rücksicht auf ihren guten Ruf, betreten den Kriegspfad, um sich die Ehre zu sichern, jene hoffnungslos Geliebte zu sein; gleichzeitig kämpfen drei Städte Italiens, Neapel, Venedig und

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Rom, um die Ehre, für sich den Dichter zur Übersiedlung zu gewinnen. Aber den Vogel schießt der Humorist Goldoni ab, wenn er wieder einen Verwandten des Don Marzio auftreten läßt, Don Gherardo, den curiosissimo, der nachrichtenlüstern das Privatleben des Dichters Tasso umkreist lind dabei noch beteuert: „Son u n che i f a t t i altrui di saper non mi curo" (IV 3). Wer im heutigen Venedig, das ja frei geblieben ist vom Lärm der K r a f t fahrzeuge, etwa auf die nächtige Gasse hinauslauscht, auf das Schlurfen von Schritten, die abgerissenen Sätze der Passanten, das Klirren von Schlüsseln, das Keifen u n d Kichern, dem mag dabei ein Teil des Dichters aufgehen, dessen Standbild beim Rialto steht. E s werden im Laufe der Zeit außer Venedig wenig Stellen auf der Erde übrigbleiben, wo von der Technik so unbehelligt weiterhin Menschen so dichtgedrängt auf Menschen prallen u n d „Anderleut", die Nachbarschaft, ein so unausweichliches, wohl auch manchmal unausstehliches Dauerproblem bildet. Das Schicksal meint es gut mit Goldonis Stücken, daß es ihnen ihren Schauplatz so treulich abschirmt. Schon die nächste literarische Generation begann mit dem Ausbruch. Der Dialogo sopra la nobiltà, mit dem P a r m i 1761 hervortrat, sammelte allen H a ß gegen Subordination bereits auf einen P u n k t u n d zerbrach das geruhsam humorvolle Abwägen der Nachbarschaftsprobleme. Als adlig sollten nur mehr gelten die ,,savi, giusti, umani, forti, magnanimi", wie es bei Parini heißt: ein anderer Typus des Italieners als jene Mischung von Höfling u n d Lakai, die an allen Höfen Europas schmeichelnd herumdienerte. U n d dann Alfieri! Umberto Calosso h a t sein Buch „L'Anarchia di Vittorio Alfieri" betitelt (1924, 2 1949), u n d als Anarchie mag in der T a t vollends die Haltung dieses zunächst unstät durch Europa Schweifenden gelten, der, wie er in seiner 1790 begonnenen Lebensbeschreibung sagt, sich schämte Italiener zu sein, Angehöriger eines gespaltenen, schwachen, verkommenen und versklavten Volkes. Aber auch er noch war um den andern bemüht. Mit dem bewußten Vorsatz, in seiner Lebensgeschichte den Namen keines Mitmenschen anders „als in gleichgültigen oder lobenswerten Dingen" zu nennen, erschuf er allein aus der unnachsichtigen Kritik an seinem eigenen Ich die Realität des Italieners, mit dem zu leben es sich verlohnen würde. Als Gegengewicht gegen die kleine Gegenwart, „wo etwas Hohes (alta cosa) weder getan noch gesagt werden d u r f t e " (III, cap. 7), und behindert durch seine Natur, die in jedermann nur den Nebenbuhler erblickte und für welche etwa das Vertrauen zu einem Beichtiger unvollziehbar war (I, cap. 4), erschuf er in seinem Innern den andern

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als die Verkörperung von Gerechtigkeit, Gleichheit und Edelmut (II, cap. 9). Ein härteres, oft glückloses Italien und ein abstrakteres Italienisch hub an, seitdem der tausendjährige Freistaat Venedig das Zeitliche gesegnet hatte. Was er hinterließ, ist nicht zum wenigsten die Botschaft vom Mitmenschen, die Goldoni aufzeichnete.

Klassische Elemente in