Wege in die Zeitgeschichte: Festschrift zum 65. Geburtstag von Gerhard Schulz [Reprint 2019 ed.] 9783110856705, 9783110117387


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German Pages 550 [552] Year 1989

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Wege in die Zeitgeschichte: Festschrift zum 65. Geburtstag von Gerhard Schulz [Reprint 2019 ed.]
 9783110856705, 9783110117387

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Wege in die Zeitgeschichte

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Wege in die Zeitgeschichte Festschrift zum 65. Geburtstag von Gerhard Schulz

Herausgegeben von

Jürgen Heideking • Gerhard Hufnagel Franz Knipping

w DE

G

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1989

Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig — pH 7, neutral)

CIP-Titelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Wege in die Zeitgeschichte : Festschrift zum 65. Geburtstag von Gerhard Schulz / hrsg. von Jürgen Heideking ... — Berlin ; New York : de Gruyter, 1989 ISBN 3-11-011738-X NE: Heideking, Jürgen [Hrsg.]; Schulz, Gerhard: Festschrift

©

Copyright 1989 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 — Printed in Germany. Alle Rechte des Nachdrucks, der Übersetzung, der photomechanischen Wiedergabe und Anfertigung von Mikrofilmen — auch auszugsweise — vorbehalten. Satz und Druck: Arthur Collignon, Berlin Bindearbeiten: Lüderitz Sc Bauer, Berlin

Vorwort Am 24. August 1989 feiert Gerhard Schulz seinen 65. Geburtstag. Schüler, Freunde und Kollegen möchten ihm, der in den vergangenen bald drei Jahrzehnten von seinem Tübinger Lehrstuhl aus als herausragender Forscher und Lehrer Entwicklung und Erscheinungsbild der Zeitgeschichte in der Bundesrepublik so maßgeblich mitbestimmt hat, mit dem vorliegenden Band ihre Hochachtung und Zuneigung bekunden. Gerhard Schulz wurde in Sommerfeld/Niederlausitz geboren. Die ihn prägenden geistigen Impulse hat er zunächst an der Universität Leipzig, dann in Berlin erhalten. Zu seinen Lehrern gehörten Johannes Kühn, Friedrich Meinecke, Hans Herzfeld, Hans Leisengang, Hans Rosenberg und Ernst Fraenkel, aber auch Walter Markow, Hermann-August Korff, Wilhelm Berges und Franz Altheim. Aus dem Berlin der fünfziger Jahre, wo seine ersten, bis heute maßgebenden Publikationen erschienen, kam Gerhard Schulz 1962 als Ordinarius für Neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte nach Tübingen, und er hat hier seitdem, über nunmehr bald drei Jahrzehnte hinweg, aus kleinen Anfangen — oder genauer: aus dem Nichts — das Seminar für Zeitgeschichte als Institut innerhalb der Geschichtswissenschaftlichen Fakultät aufgebaut. Zunächst in beengten, dem Pioniergeist förderlichen Verhältnissen am Tübinger Holzmarkt, dann in einer wohnlichen Wilhelmstraßenvilla und schließlich in den nüchternen Räumen des Hegelbaus war und ist Gerhard Schulz Direktor und „spiritus rector" des Seminars für Zeitgeschichte in einer Person. Das Spektrum seines wissenschaftlichen Interesses, das sich zu einem Teil in den Beiträgen dieses Buches widerspiegelt, ist beeindruckend groß. Unter den vielfaltigen Themenbereichen ist es gewiß die Vorgeschichte, Etablierung und Natur der nationalsozialistischen Herrschaft, die den besonderen Rang einnimmt. Den Ursprüngen des NS-Regimes hat Gerhard Schulz in den Fehlern und Versäumnissen der Revolutionäre und Friedensmacher von 1918/ 19 ebenso nachgespürt wie in den ungelösten Verfassungsproblemen und wirtschaftlich-sozialen Bedrängnissen der Weimarer Republik. Das Phänomen des Aufstiegs der nationalsozialistischen Bewegung, das er in allen Einzelheiten untersuchte, führte ihn zur Beschäftigung mit Parlamentarismus und Rechtsstaatlichkeit, aber auch mit den Grundwerten der Zivilisation, die — dem aus der Aufklärung hervorgegangenen „Zeitalter der Gesellschaft" entstammend — diesen zugrunde liegen. Es war ja die Relativierung und Negierung dieser Werte, die von der Weimarer Republik zum „totalitären Maßnahmenstaat" und zur „Polykratie" des NS-Regimes führte.

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Vorwort

Einen weiteren, neueren Schwerpunkt seines Schaffens bildet der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, dessen „von Grund auf bürgerlichen" Charakter er anläßlich der 40jährigen Wiederkehr des Attentats auf Hitler in einem Vortrag an der Universität Tübingen würdigte. Indessen richtete Gerhard Schulz bei diesem Thema charakteristischerweise sein Interesse über den deutschen Raum hinaus auch auf die anderen Widerstandsbewegungen in Hitlers Europa sowie ihre Verbindungen zu alliierten Regierungen und Geheimdiensten, und schließlich grundsätzlich auf jene Formen der „irregulären" Kriegführung, die im Zweiten Weltkrieg stärker als je zuvor den Kampf „regulärer" Streitkräfte begleiteten. Mit dieser Thematisierung des Verhältnisses von Guerrilla-Bewegungen und — für ihren Erfolg unerläßlichen — „Anlehnungsmächten" führte er in die bundesrepublikanische Forschung eine hier bis dahin unterbelichtet gebliebene Fragestellung ein. Es ist an dieser Stelle naturgemäß nicht der Raum, das vielfaltige Werk von Gerhard Schulz insgesamt angemessen vorzustellen, zu dem etwa die Beschäftigung mit der preußisch-deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts ebenso gehört wie die Auseinandersetzung mit dem„Faschismus"-Begriff in den 70er Jahren und das Aufgreifen „heißer Eisen" im Schnittpunkt von Geschichte, Pädagogik und Politik, speziell der Schul- und Hochschulreformfragen. Es sei hier auf das Werkverzeichnis am Schluß dieses Bandes hingewiesen. Hervorzuheben ist aber doch, daß Gerhard Schulz über all seinen Arbeiten nicht sein Hauptwerk „Zwischen Demokratie und Diktatur" aus den Augen verlor, dessen erster Band 1963, und dessen zweiter Band 1987 erschien. Inzwischen ist ein dritter Band in der Vorbereitung. Die ursprüngliche verfassungsgeschichtliche Orientierung findet in diesem Werk in zunehmendem Maße eine Ergänzung in der Durchdringung des ökonomischen und politischen Systems. In allen Arbeiten von Gerhard Schulz bekundet sich ein hoher, anspruchsvoller Begriff von „Zeitgeschichte" als dem Erfahrungsraum der Lebenden, in den die bis weit, letztlich bis in die griechisch-römische Antike zurückreichende Vergangenheit einmündet, und aus der Zukunft sich schafft. Zeitgeschichte, die die in der Gegenwart auftauchenden Fragen und Probleme begründet und — womöglich durch weit ausholende Untersuchung der Vergangenheit — historisch erklären und lösen helfen kann. Zeitgeschichte auch, die Rüstzeug für die Bewältigung des Kommenden bereitstellen kann, wie Schulz in einer seiner bildhaften Formulierungen die Zeitgeschichtsforschung einmal als „die Peitsche der geistig hervorragend am Geschehen der Gegenwart Teilnehmenden" bezeichnet hat, „mit der sie die Herde der in Vergangenheitskenntnissen Befangenen zusammen- und vorantreiben, um der ungewissen Zukunft mutig und gerüstet zu begegnen". Zeitgeschichte, die dennoch nicht Zukunftswissenschaft sein kann, allenfalls mit ihrer den Quellen verpflichteten Methode und ihren frei erörterten Thesen Voraussetzung

Vorwort

VII

einer begründeten Zukunftsorientierung. Zeitgeschichte, die die politische Wirklichkeit erklären helfen kann, aber sich nicht für politische Zwecke in Dienst nehmen lassen darf, die vielmehr im Unterschied zur Politik, die notwendigerweise „Bindungen des Wollens und Tuns" eingehen muß, durch „diagnostisches Bemühen" und „fortgesetztes Einfügen in den politischen, also auch den historischen Zusammenhang" die Begrenzungen und Beschränkungen der Bindungen des Politikers zu überwinden suchen muß. Die Herausgeber schulden mannigfachen Dank allen, die an dem guten Zustandekommen dieses Bandes beteiligt waren, voran den Autoren, Schülern und Kollegen von Gerhard Schulz. Besonderer Dank gebührt Dr. Eberhard Konstanzer, Hechingen, der als sein Schüler in alter Verbundenheit mit dem Seminar für Zeitgeschichte die technische Herstellung des Bandes in entscheidender Weise beförderte. Der Dank gilt weiter Herrn Universitätspräsidenten Professor Dr. h. c. mult. Adolf Theis und dem Tübinger Universitätsbund für einen Zuschuß zu den Druckkosten und natürlich ganz besonders allen Mitarbeitern des Seminars für Zeitgeschichte in Tübingen, die in den verschiedenen Arbeitsphasen immer wieder mit Hand angelegt haben, insbesondere Gudrun Gauß. Last not least danken wir dem Walter de Gruyter Verlag, der in gewohnt zuverlässiger Weise dafür sorgte, daß die Festschrift in so ansprechender Form termingerecht vorliegt. Mögen dem Jubilar viele weitere Jahre tatkräftigen Schaffens beschieden sein! Tübingen/Washington/Siegen, den 24. August 1989

Franz Knipping Jürgen Heideking Gerhard Hufnagel

Inhalt Vorwort

V

I. Politik, Verfassung und Gesellschaft in der deutschen Geschichte VOLKER P R E S S

Reichsgrafenstand und Reich. Zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des deutschen Hochadels in der frühen Neuzeit

3

FRIEDRICH ZUNKEL

Die westdeutschen Bürgergesellschaften zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus

30

RUDOLF MORSEY

Zentrumspartei und Zentrumspolitiker im rückblickenden Urteil Heinrich Brünings

49

WOLFGANG G R A F VITZTHUM

Hermann Broch und Carl Schmitt

69

WOLFGANG M Ä R Z

„ . . . nach rückwärts als Aufhebung, nach vorwärts als Sperre". Eine verfassungsgeschichtliche Miniatur zum Recht des Ausnahmezustands im Bundesstaat der Weimarer Republik 101 DIETER REBENTISCH

Verfassungswandel und Verwaltungsstaat vor und nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 123 ADOLF M .

BIRKE

Die aufgezwungene Demokratie? Zur Verfassungspolitik in den westlichen Besatzungszonen ' 151 UDO WENGST

Deutsche Parteien nach 1945 und ihre Geschichte. Anmerkungen zu Quellen und Ergebnissen historischer Parteienforschung in der Bundesrepublik Deutschland 165 M I C H A E L BOSCH

Ideelle Aspekte der Westintegration der Bundesrepublik bei Konrad Adenauer 182

X

Inhalt

II. Geistige und Soziale Bewegungen H I L D E G A R D T E M P O R I N I - G R Ä F I N VITZTHUM

Universale Aspekte der Geschichte des Altertums

199

K A R L DIETRICH BRACHER

Das Janusgesicht der modernen Revolutionen

210

J Ü R G E N HEIDEKING

Der Beginn der amerikanischen Demokratie. Revolution, Unabhängigkeitskrieg und Bundesstaatsgründung im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts 228 J U L I A N CAMPBELL DOHERTY

Poverty in America — The Historie Problem of the „Deserving" and „Undeserving" Poor 248 D I E T E R LANGEWIESCHE

Die Agrarbewegungen in den europäischen Revolutionen von 1848 . . 275 F R A N Z KNIPPING

Vichy als Kontinuitätsproblem der französischen Zeitgeschichte

290

D I E T R I C H GEYER

Perestrojka und „russische Seele". Moralphilosophische Aspekte der sowjetischen Reformbewegung 305 TILEMANN G R I M M

Bemerkungen zur Wiederkehr der Vernunft in China: 1976—1980 . . . 319 G E R H A R D HUFNAGEL

Über Schwierigkeit und Reiz der politischen Rede in unserer Zeit. Eine Skizze 334 III. Aspekte der Internationalen Beziehungen H E I N E R TIMMERMANN

Nationale und internationale Aspekte der Deutschen Frage vom 16. bis zum 20. Jahrhundert 353 GERHARD A . RITTER

Die II. Internationale und die europäische Friedensordnung 1917 — 1920 368 HENNING K Ö H L E R

Frankreichs Rolle in der Novemberrevolution — ein nebensächlicher Faktor der „internationalen Rahmenbedingungen"? 398

Inhalt

XI

LOTHAR HILBERT

Waffenexport. Aspekte des internationalen Waffenhandels nach dem Ersten Weltkrieg 415 JAMES JOLL

Locarno — Ein Rückblick

433

JACQUES BARIETY

Le «Plan Briand Kellogg de renonciation a la guerre» de 1928

448

KLAUS SCHWABE

Roosevelt und Jalta HANS-PETER

460

SCHWARZ

Die Fünfziger Jahre als Epochenzäsur

473

MICHAEL LIBAL

Reformpolitik und Systemkonkurrenz. Gorbatschows Haltung zum Westen. Ein Versuch 497

Bibliographie Gerhard Schulz

517

Verzeichnis der Autoren

529

Personenregister

533

I. Politik, Verfassung und Gesellschaft in der deutschen Geschichte

Reichsgrafenstand und Reich Zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des deutschen Hochadels in der frühen Neuzeit 1 Von Volker Press

Von Westfalen bis zum altbayerischen Ortenburg gibt es eine ganze Reihe von Orten, deren Charakter durch den Sitz einer kleinen reichsgräflichen Dynastie geprägt worden ist; Franz Prinz Sayn-Wittgenstein hat vor etwa 30 Jahren in zwei Bändchen diese Welt skizziert 2 . Burgen und Schlösser, andere alte Bauten, Epitaphien in den Kirchen erinnern an diese Tradition. Malerische Attraktion und eine oft bis heute fortbestehende wirtschaftliche und auch politische Stellung gräflicher und fürstlicher Familien haben diesen einstigen Residenzstädten ein unverkennbares Profil gegeben. Kaum irgendwo anders ist die Welt des alten Reiches und seiner mindermächtigen Glieder mit ihrer Spannweite zwischen kulturellen Impulsen und meist politischer Machtlosigkeit noch so sehr konserviert wie hier — eine Welt, die vielfach alteuropäische Lebensformen bis an die Schwelle unserer Tage bewahrt hat, in der die überlebenden Familien gerade heute vielfach in einem oft für sie schmerzhaften Übergang zu den nivellierenden sozialen Bedingungen des demokratischen Zeitalters stehen, wo es für sie darauf ankommt, die kulturellen Traditionen mit ihrer für die regionalen Zentren oft lebenswichtigen Bedeutung weiterzuführen. Dies betrifft nicht zuletzt das Schicksal der Archive — es scheint mir, daß das Verbleiben am Ort, solange Erhaltung und Pflege sichergestellt sind, großes Gewicht haben kann, schon durch die unmittelbare Anschauung, die es dem Archivbenützer gibt. Dem Tübinger Historiker sei es gestattet, hier die Verdienste des Landes Baden-Württemberg und seiner Landesarchivdirektion hervorzuheben, mit den unterschiedlichen Lösungen, die in Neuenstein, Wertheim und Sigmaringen geschaffen wurden.

1

Ungekürzter und leicht überarbeiteter Text eines Vortrags, den ich im Mai 1979 auf dem Südwestdeutschen Archivtag in Wertheim gehalten habe. Für weiterführende Hinweise, auch für die Zusammenstellung der Bibliographie habe ich meinem Mitarbeiter, Herrn Dr. Georg Schmidt (Tübingen), f ü r Hinweise zum Verhältnis zwischen Reichskammergericht

und

Reichsgrafenstand Frau Dr. Sigrid Jahns (Gießen) zu danken. 2

Franz Prinz zu Sayn-Wittgenstein, Fürstenhäuser und Herrensitze, München 1956; ders., Durchläuchtige Welt, München 1959.

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Volker Press

Die Erforschung des Reichsgrafenstandes in der Neuzeit lag lange im argen. Selbst die geraume Zeit stiefmütterlich behandelte Reichsritterschaft ist bislang weit besser zum Zuge gekommen. 3 Auf Studien von Angelika Kulenkampff folgten Arbeiten von Rolf Glawischnig und Ferdinand Magen. Zuletzt beschäftigte sich die Habilitationsschrift von Heinz Schilling mit den Grafen von der Lippe. Diese Vernachlässigung reichsgräflicher Geschichte hat mancherlei Ursachen, die allesamt in den älteren Traditionen der deutschen Geschichte wurzeln; sie hängen aufs engste zusammen mit einer bevorzugten Konzentration auf die Staatswerdung. Stephan Skalweit hat unlängst in einer beachtenswerten, auch als Bindeglied zwischen den Neigungen der älteren und der jüngeren Generation, mustergültigen Studie auf die Funktionen des Interesses für den modernen Staat hingewiesen, aber auch darauf, daß diese Priorität inzwischen überholt ist, nachdem sie ihren Dienst geleistet hat. 4 Ohne Frage bleibt die Verfassungsgeschichte ein wertvolles Kapital deutscher historischer Wissenschaftstradition, aber die Grafen waren bislang sozusagen durch ihre Maschen gefallen. Während man den Reichsrittern noch die romantische Sympathie für eine auf verlorenem Posten stehende Gruppe zubilligen wollte, blieben die Grafen nur die Repräsentanten deutscher Kleinstaaterei und nationaler Fehlentwicklung. Weiter konnten sie nicht die dynastische Tradition der regierenden Häuser des 19. Jahrhunderts für sich beanspruchen, obwohl einige von ihnen beachtliche Darstellungen erhalten oder, wie etwa das Haus Fürstenberg, selbst die Forschung gefördert haben. Mit Recht wird immer wieder auf die vergleichsweise altertümlichen sozialen Strukturen der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts hingewiesen. Andererseits aber beschäftigte man sich weit überwiegend mit den „zukunftweisenden" Kräften, mit Industrialisierung und Arbeiterbewegung, neuerdings mit dem Bürgertum, — obgleich die vielfach bis 1848 noch ungebrochen fortdauernde alteuropäische Welt des Adels bis heute tiefe Spuren in der deutschen Gesellschaft hinterlassen hat. Erst jetzt beginnt man sie zu entdecken. 5 Es sei gestattet, noch eine weitere Bemerkung anzufügen. Die „Europäisierung" der deutschen Forschung erscheint ein drängendes Gebot — nicht nur

3

In letzter Zeit wurde allerdings die Forschung zum Reichsgrafenstand kräftig vorangetrieben. Abgeschlossen wurden Dissertationen von Ernst Böhme (Tübingen) über die Fränkischen Grafen vor 1648 und von Johannes Arndt (Bochum) über die Westfälischen Grafen nach 1648, vor allem die Habilitationsschrift von Georg Schmidt (Tübingen) über das wetterauische Grafencorpus bis 1648. An einer Dissertation über die Schwäbischen Grafen arbeitet derzeit Frau Karin Gessler (Tübingen).

4

Stephan Skaleit, Der Beginn der Neuzeit. Epochen, Begriffe und Epochengrenzen, Darmstadt 1982. Dazu demnächst der von Armgard von Reden-Dohna und Ralph Melville herausgegebene Sammelband eines Kolloquiums des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz und der Werner-Reimers-Stiftung in Bad Homburg über den Adel im 19. Jahrhundert.

5

Reichsgrafenstand und Reich

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im Sinne der Beschäftigung mit westeuropäischen Themen, sondern, dies wäre komplementär, auch durch das Aufgreifen jener Anregungen, die in unterschiedlicher Weise in den letzten Jahren die westliche, vor allem die englische, amerikanische und französische Forschung geliefert haben, die sich allesamt in zunehmendem Maße mit der Geschichte des Adels beschäftigt haben. Dabei sind neben der traditionell verfassungsgeschichtlichen Fragestellung neuerdings Probleme der wirtschaftlichen Position, der kulturellen Wirksamkeit, der Stellung als Herrschaft und auch Probleme der Mentalität in den Vordergrund getreten. Der Umfang des hier zu behandelnden Themas zwang leider zum Verzicht darauf, in größerem Maße den Vergleich mit Westeuropa zu ziehen. Es sei jedoch festgehalten, daß der konsequente Vergleich deutscher Entwicklungen mit jenen in den Nachbarländern, den Historiker vieles lernen läßt für die speziellen Probleme der deutschen Geschichte. Die deutsche Adelsgesellschaft war in sich strukturiert durch die Hierarchie des Lehensverbandes, die um 1500 noch weitgehend ohne Verwerfungen war. Grob gesprochen zeigte sich die typische Dreigliederung in 1. Fürsten 2. Grafen und Herren 3. Ritter. Der Fürstenstand wird dabei in der Regel als Träger der staatlichen Entwicklung gesehen. In der Tat hat er in einem langen Prozeß auch die territoriale Konsolidierung durchgesetzt, wenn auch in ganz unterschiedlichen Formen und in unterschiedlichem Tempo. Gerade in diesem Zusammenhang darf jedoch nicht verkannt werden, daß auch die Gruppe der weltlichen Fürsten einen großen Familienverband darstellte, daß der Reichstag etwa auch den Charakter eines Familientreffens hatte, ähnlich einer großen Fürstenhochzeit. Andererseits stellte die Reichsritterschaft den untersten Teil des Adels dar — am weitesten entfernt von staatlichen Organisationsformen, vielfach der Integrationspolitik des Fürstenstandes opponierend, den lokalen Einflußbereich gegen ihn und den vordringenden Staat verteidigend. Dabei gelang es schließlich einem kleinen Teil in den Kerngebieten des alten Reiches, die Reichsunmittelbarkeit zu behaupten. Dies war ein Prozeß, der sich erst um die Mitte des 16. Jahrhunderts entschied. Die Masse des niederen deutschen Adels wurde landsässig. Zwischen Fürsten und Reichsrittern stehen die Reichsgrafen und Reichsfreiherren — der Titel des „Reichsfreiherrn" wurde schließlich entwertet und am Ende des alten Reiches ausschließlich vom niederen Adel geführt, der darin eine Standeserhebung sehen konnte. Alle älteren Herrenfamilien sollten schließlich zumindest in den Grafenstand aufsteigen. Die Mittelstellung der Grafen zwischen den Fürsten und Rittern drückte sich ganz deutlich in ihrer Stellung aus. Die Grafen waren im späten Mittelalter mit den Rittern vielfach

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Volker Press

in regionale Einungen eingetreten, am stärksten und auch noch am spätesten in Franken, aber auch am Rhein und in Schwaben. Deutlich drückte sich darin die Distanz zu den Fürsten, die Solidarität der Kleineren im Reich aus. Diese Einungen hatten eine Schutz- und Abwehrfunktion gegenüber den Fürsten. Eine Sonderstellung nimmt dabei der Schwäbische Bund ein, ursprünglich ebenfalls eine Einung der Kleineren, dann aber die Fürsten einbindend. Der Bund erwies sich für die stark zersplitterte Landschaft des deutschen Südwestens als eine geradezu ideale Lösung, die, wie Adolf Laufs gezeigt hat, die überaus wichtige Organisation des Schwäbischen Kreises vorbereitet hat. Dabei wurden erneut Grafen und Ritter in einem Bund vereinigt und blieben es auch, als die Fürsten einbezogen wurden. Die Rolle der schwäbischen Grafen im Bund war bedeutend. Demgegenüber behaupteten die Grafen in Franken noch lange die Einungen mit den Rittern ohne die Fürsten — noch 1539 traten sie in Schweinfurt zu einer gemeinsamen Tagung mit den Rittern zusammen. Darunter erschien noch einmal ein Mann wie Graf Wilhelm von Henneberg-Schleusingen (1478 bis 1559), der sich lange als ein typischer adeliger „Frondeur" erwiesen hatte, der wiederholt der Zusammenfassung von Rittern und Grafen diente. Die Gegnerschaft zu den Fürsten zeigte sich immer wieder in einer deutlichen Hinwendung zum Kaiserhof, bei dem man Rückhalt suchte. Eine solche Tradition weist tief ins Mittelalter zurück, Reichsgrafen spielten in den Diensten der Kaiser stets eine wichtige Rolle. Diese Funktion verstärkte sich dann seit dem 14., 15. Jahrhundert durch die vielfachen direkten Beziehungen schwäbischer Grafen zum Hause Österreich. Die Verbindung der habsburgischen Vorlande mit der herrschenden Linie der Habsburger, nach 1488 von Maximilian I. wieder begründet, hatte dann eine entscheidende Bedeutung auch für den Reichsgrafenstand. Viele Reichsgrafen des Südwestens wurden Klienten der Habsburger und blieben es bis zum Ende des alten Reiches. Namen wie Zollern, Fürstenberg, Werdenberg, Montfort, Königsegg, (Dettingen tauchten fortan in den Diensten Österreichs und des Reiches auf. So begründete 1495 Graf Eitelfritz von Zollern (1452 bis 1512) als Reichskammergerichts-Präsident eine lange Reihe von Namen aus diesem Kreis an der Spitze dieses obersten Reichsgerichts. Die fürstliche Klientel der Österreicher in Schwaben erhielt seither verstärkte Bedeutung. Dabei wird jedoch bereits deutlich, daß sich Beziehungsstränge ganz unterschiedlicher Wurzeln verbanden — die Attraktion des Innsbrucker Lehenshofes und die kaiserliche Schutzfunktion verstärkten sich wechselseitig. Allerdings zeigte sich hier schon eine Problematik der gräflichen Stellung. Deutliche Anziehungskraft hatten auch die beiden wittelsbachischen Höfe für die Reichsgrafen. Der Münchener Hof stellte eine Konkurrenz dar für den Innsbrucker — die Regierungsübernahme Maximilians I. in Tirol hatte im Zeichen der Abwehr Bayerns gestanden. Das hinderte die Münchener Her-

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zöge jedoch nicht, ihren Hof weiterhin für die schwäbischen Grafen und Herren offenzuhalten. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts haben sie wichtige Hofamter in München innegehabt. Grafennamen aus Schwaben und Franken erschienen weiterhin in bayerischen Diensten. Noch attraktiver für die Reichsgrafen wurde der Pfalzer Hof, der in starkem Maße die Pfalzer Vasallen sammelte. Mit seinem Radius reichte er sowohl zu den schwäbischen wie vor allem zu den fränkischen und den wetterauischen Grafen. Die Bedeutung des Heidelberger Hofes steigerte sich noch, als seit etwa 1500 der niedere Adel verstärkt die Reichsgrafen von den Stifern fernhielt, auch aus den Erzbistümern Trier und Mainz. Die Grafen konnten am Ende nur Kurköln und Straßburg als Stiftkirche Domänen ihrer sozialen Gruppe behaupten. Schließlich scheinen die Höfe der sächsischen Linien für den mitteldeutschen Adel ein wichtiger Anziehungspunkt gewesen zu sein. Allerdings hatte offensichtlich auch der Prager Lehenshof für zahlreiche Grafen- und Herrengeschlechter, wie etwa die Schönburg und Reuß, eine hohe Bedeutung, nicht zuletzt als ein starkes Gegengewicht gegen die Ambitionen der Wettiner. Anhand des Reichsgrafenstandes läßt sich auch deutlich zeigen, wie das Reich in unterschiedliche Zonen territorialer Entwicklung zerfiel. Die Grafschaften in Niederdeutschland bis hin nach Westfalen gingen relativ zügig den Weg zur staatlichen Organisation. Sie waren zum Teil von beträchtlichem territorialem Umfang, wie etwa die Grafschaft Oldenburg. Andererseits blieb die Einordnung in territoriale Satellitensysteme, teilweise aber auch die geschickte Ausnützung von Spannungsfeldern der größeren Herren. So konnten die mitteldeutschen Grafen wie die Schwarzburg, die Reuß und zuletzt auch die Schönburg sich dem Sog der Wettiner entziehen, z. T. indem sie sich dank ihrer böhmischen Lehen auf die St.-Wenzels-Krone stützten. Ähnlich vermochten zahlreiche oberschwäbische Herrschaften zwischen Bayern und Osterreich zu lavieren; sie konnten aber auch beide gegen das allzeit aggressive Württemberg mobilisieren, ein Grafenhaus, das 1495 in den Fürstenstand aufgestiegen war. Überhaupt scheint Prag in vielerlei Hinsicht für Mitteldeutschland die Rolle Innsbrucks für Oberdeutschland übernommen zu haben. Der sich beschleunigende Verstaatlichungsprozeß im Reich hat in der Regierung Karls V. einen mächtigen Katalysator bekommen. Erst hat die langjährige Abwesenheit des Kaisers vom Reich die territoriale Konsolidierung begünstigt, dann hat die unmittelbare Konfrontation mit einem im Reich aktiven Kaiser dazu geführt, daß aus der vorangegangenen Entwicklung Konsequenzen gezogen werden mußten. Die 1520/30er Jahre hatten dabei eine endgültige Distanzierung der Grafen vom niederen Adel gebracht; der Zerfall der Einungen hatte demonstriert, daß die Zukunft dem Territorialstaat gehört. Erst die größeren, dann auch die kleineren Grafenhäuser optierten mehr und mehr für eine territoriale Entwicklung. Die Distanzierung vom

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niederen Adel hat jedoch endgültig die Zugehörigkeit der Reichsgrafen zum deutschen Hochadel besiegelt. 1539 hatten bei der zitierten Schweinfurter Tagung die fränkischen Grafen gegen die dortigen Ritter ganz deutlich ihre Mißbilligung artikuliert, vor allem, weil diese sie aus den Stiftern zu drängen versuchten. In den Jahren danach zeigte sich sehr rasch der Zwang zur Ausbildung einer eigenen gräflichen Organisation. Man wird dabei vor allem zwei treibende Kräfte feststellen müssen. Einmal die Ausbildung der Reichskreise, die sich immer mehr zu regionalen Organisationsformen entwickelten, die immer neue Bereiche eines sich differenzierenden politischen und wirtschaftlichen Lebens an sich zogen. Sie erreichten vor allem in den stark zersplitterten Gebieten Schwabens eine beträchtliche Kompetenz. Gerade die kleinen Territorien der Grafen bedurften in erheblichem Ausmaße des Rückhaltes an den Kreisen, in deren Gremien sie auf unterschiedliche Weise repräsentiert waren. Durch die Kreise wurde die „Verstaatlichung" reichsgräflicher Territorien gefördert. Der zweite Faktor, unmittelbar mit dem ersten zusammenhängend, war der Gemeine Pfenning von 1542. Die Diskussion um den Gemeinen Pfennig verkennt bis heute, daß dieser damals erstmalig erfolgreich eingezogen wurde. Bewilligt für die Türkenabwehr, hinterließ er tiefe Spuren in der Reichsverfassung. Die Konzeption einer allgemeinen Steuer im Reich wurde damals weit stärker durchgesetzt als in den ersten Anläufen nach 1495. Der Modus der Zahlung mußte deutlich machen, ob der Betreffende unmittelbar unter dem Kaiser stand oder aber unter einem Landesfürsten. Der Zwang, die Steuerzahlung zu organisieren, die Notwendigkeit, auch in diesem Zusammenhang die Politik auf dem Reichs- und Kreistag zu koordinieren, hatten die gleichzeitige Ausbildung von reichsritterschaftlichen und reichsprälatischen Organisationsformen gefördert. Bei den Grafen war die Situation komplizierter. Die einungsartigen Grafenvereine waren die Wurzeln der Grafentage, regelmäßiger gräflicher Versammlungen, die in hohem Maße der Absprache des gemeinsamen Taktierens auf den Reichstagen dienten, zu dem man durch die gemeinsame Stimme gezwungen war. Beide waren eng miteinander verbunden, aber die Grafen vereine verschwanden noch lange nicht. Das Jahr 1542 war für die Grafen keineswegs bedeutungslos, aber nicht so entscheidend wie für Ritter und Prälaten. Seit damals präsentierte sich der Reichsgrafenstand in jener Organisation, die dann für die weitere Entwicklung im Alten Reich bezeichnend werden konnte, offenbar nach Vorbildern, die die alten Einungen und die Städtetage abgegeben hatten. Grafenvereine und Grafentage wird man jedoch nicht überschätzen dürfen, so wie es einst Lutz Hatzfeld trotz bedeutender Forschungen zum Reichsgrafenstand getan hat. Die ganze Ambivalenz reichsgräflicher Positionen drückt sich hier aus. Viel weniger als die schwächeren Reichsritter oder als die Prälaten, haben die reichsgräflichen Kollegien ein solidarisches Handeln

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praktizieren können. Sie wurden belastet durch die Verfechtung individueller Ziele und Neigungen auf der einen und den fortwirkenden Einfluß der Lehens- und Schutzherren auf der anderen Seite. Nach 1648 kam noch erschwerend die Tendenz einzelner Grafen zum Aufstieg in den Fürstenstand hinzu. Frühzeitig zeichnete sich ein bemerkenswertes Verfahren reichsgräflicher Familien ab, das weder bei den Fürsten, noch bei den Rittern eine Parallele hatte. Es war schon die Rede davon, wie wichtig die Familienverbindungen auch für die Fürsten waren. Bei den Grafen wurden sie vielfach im 16. Jahrhundert zu einer Art Organisationsprinzip erhoben. Zugleich aber zeigte sich dabei auch eine deutliche Distanz zum Verstaatlichungsprozeß. Die Primogeniturgesetzgebung, die für den Fürstenstaat seit der Goldenen Bulle mehr und mehr zu einem Instrument der Erhaltung einer Flächengröße geworden war, wie sie für den Verstaatlichungsprozeß unumgänglich war, hatte sich dort seit dem 16. Jahrhundert weitgehend durchgesetzt. Sie fand zunächst keinen Eingang beim Grafenstand. Dort teilte man häufig bis zur kleinsten teilbaren Einheit, ein bis zwei Ämtern — die gewaltige Bevölkerungsvermehrung des 16. Jahrhunderts hatte auch vor dem Reichsgrafenstand nicht haltgemacht. So war eine vermehrte Zahl zu versorgen, besonders bei den evangelischen Grafen, für die der geistliche Stand als Regulativ, als Versorgungsstätte nachgeborener Söhne, wegfiel. Die Teilungspolitik schwächte die wirtschaftlichen Grundlagen und die politische Wirksamkeit der Grafenhäuser, öffnete Familienzwistigkeiten Tür und Tor, die sich sogar mit konfessionellen Gegensätzlichkeiten verbinden konnten. Zahlreiche Grafschaften, die um 1550 noch in einer Hand waren, wurden am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges beträchtlich aufgeteilt, oft in komplizierten Konstruktionen mit Kondominaten und Anteilen. Zwar hat die Reduktion der Familienglieder diesen Prozeß teilweise rückgängig gemacht; so konnten die Fürstenberger im 18. Jahrhundert den gesamten Besitz des Hauses wieder sammeln, nachdem ihnen zuvor das Aussterben alter Grafenhäuser zugute gekommen war. Dagegen blieben so wichtige Grafschaften wie NassauDillenburg, Hohenlohe, Oettingen, Leiningen auf lange Zeit oder auf Dauer geteilt. Die Grafenhäuser begriffen die Gefahr einer Atomisierung durchaus, aber sie gingen den Weg einer Korrektur nicht über eine Verstärkung der Staatseinheit, sondern über die stärkere Aneinanderbindung des Familienverbandes. Agnatische Solidarität wurde in Hausgesetzen vorgeschrieben. Modellbildend wirkte anscheinend das fürstenbergische Hausgesetz von 1576. Ihm folgten viele andere Grafenhäuser — so die Solms 1578. Die Tendenz ging auf die Organisation der Familienverbände mit einem Zustimmungsrecht zu Verkäufen, Kreditaufnahme, Verpfandungen mit Festlegungen für Apanagierungen. Insofern gehören diese Hausgesetze in die Vorgeschichte der Fidei-

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kommisse. Aus ihnen aber folgte auch der Zwang zu regelmäßigen Familientagen, die die gemeinsamen Probleme regelten. Mehrfach im Jahr trafen sich entweder die Herren selbst oder ihre Beamten. Von der Forschung bislang wegen ihrer Fixierung auf staatliche Organisationen wenig beachtet, sind sie nicht nur Ausdruck eines ausgeprägten Familiensinnes, sondern auch wichtige politische Organisationsformen der gräflichen Häuser. Sie finden sich etwa bei Reuß, Nassau, Solms, Hohenlohe, Oettingen, Ysenburg und sicher bei noch vielen anderen. Zwar haben sowohl menschliche Unzulänglichkeiten wie der Verstaatlichungsprozeß diese Einrichtungen abgewertet. Die Häuser Solms-Braunfels und Isenburg-Birstein suchten jeweils nach ihrer Fürstenerhebung die Familientage zu verlassen. Andererseits ging die familiäre Solidarität der Solms so weit, daß sie nach 1613 eine gesamt-solmsische Landschaft zu errichten suchten. Die Institution der Familientage — ich möchte sie in einer anderen Studie ausführlicher behandeln — war jedoch ohne Frage eine wichtige Einrichtung gräflicher Solidarität, geeignet, die soziale Position zu stützen, und sie bestand bei den meisten Häusern bis zum Ende des alten Reiches fort. „Die Familie vor dem Staat" kann man somit als Motto feststellen. Dieser Prozeß sollte sich vor allem im 18. Jahrhundert vielfach verstärken, als die Bedeutung der gräflichen Häuser sank und die Privatisierung des 19. Jahrhunderts vorwegnahm. Hier traten der „staatsbildende" Fürstenstand und der in vorstaatlichen Denkformen verharrende Grafenstand eindeutig auseinander. Primogenitur-Regelungen reichsgräflicher Häuser gab es meistens erst seit dem späten 17. und dem frühen 18. Jahrhundert. Sie konnten aber in einer Vielzahl von Fällen die vorangegangenen Teilungen nicht mehr rückgängig machen, die mit der Multiplikation von Hofhaltungen und bürokratischem Apparat sich zunehmend ruinös auswirkten. Demgegenüber gewann die Organisation der Grafen in Grafentagen eine eigene Bedeutung. Die Problematik des Grafenstandes hatte sich darin gezeigt, daß der von den Fürsten beherrschte Reichstag den Grafen zunächst nur zwei Kuriatstimmen zugestand, die von den schwäbischen und den wetterauischen Grafen wahrgenommen wurden. Neben diesem beiden wichtigsten Gruppen fanden sich die reichsferneren westfälischen Grafen relativ leicht damit ab; jedoch kam es bei den fränkischen zu einer erbitterten Opposition gegen die dominierende Rolle der Schwaben, die sich überdies auf ihren traditionellen Rückhalt am Kaiser zu stützen vermochten. Dieses Problem konnte dann erst auf zwei Regensburger Reichstagen gelöst werden, als auch die fränkischen 1641 und die westfälischen Grafen 1654 je eine Kuriatstimme auf dem Reichstag erhielten. Die reichsfernen Westfalen, deren Bedeutung für den Wiener Hof erst mit dem Erwerb der Niederlande 1715 und dem daraus folgenden Ausgreifen nach Nordwestdeutschland wuchs,

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hatten jedoch nie eine feste Organisation erreicht. Deutlich wird daraus, daß auch durch den Reichstag, durch die hervorgehobene Stellung der Fürsten, die Grafen langfristig auf den ständischen Aufstieg und nicht auf die solidarische Organisation verwiesen waren. In dieser Hinsicht sollte sich auch das Verhältnis zum Kaiser ambivalent auswirken. Reichsgrafen hatten schon unter Maximilian I. eine beträchtliche Rolle gespielt — sie entstammten aber meist der Klientel Habsburgs. Unter Karl V. wirkte sich die Ablösung des kaiserlichen Hofes von den erbländischen Territorien aus — stärker als je zuvor fand sich Adel aus dem ganzen Reich in der Umgebung des Kaisers. Dabei kristallisierte sich mehr und mehr die Möglichkeit einer Anlehnung an den Kaiser als Mittel gegen fürstliche Expansionsgelüste heraus. Die Grafen von Nassau-Dillenburg und SolmsLich suchten wie andere auch Anlehnung an das Reichsoberhaupt gegen die aggressive Territorialpolitik Landgraf Philipps des Großmütigen von Hessen. Aber dabei blieb es nicht — deutlich trägt die Reichspolitik Karls V. Züge einer Mobilisierung der Mindermächtigen gegen die Reichsfürsten. Reinhard von Solms-Lich (1491 bis 1562) etwa exponierte sich in des Kaisers Diensten und besorgte für ihn viele Missionen. Trotzdem erwies sich gerade in den 1540er Jahren die alte Anbindung an die Lehensherren noch als sehr stark. Manche Grafen zogen im Schmalkaldischen Krieg mit ihrem Lehens- und Dienstherrn in den Kampf gegen den Kaiser, darauf vertrauend, daß sie dem Zugriff des Reichsoberhaupts gegenüber durch die lehensrechtliche Tradition geschützt waren. In diesem Zusammenhang gewinnt es besondere Bedeutung, daß Karl V. diesen Brauch ignorierte und die gräflichen und ritterlichen Parteigänger der Fürsten im Schmalkaldischen Krieg mit besonderer Härte verfolgte. Dies erscheint mir ein wichtiger Vorgang, den ich an anderer Stelle noch ausführlicher diskutieren werde. Damit nämlich durchbrach der Kaiser die Mechanismen des Lehensverbandes, die in Deutschland eine deutliche Barriere zwischen den Kaiser und die kleinen Vasallen gelegt hatten, und schuf damit eine entscheidende Voraussetzung für die künftige Existenz auch der Reichsgrafen als unmittelbare Untertanen des Kaisers. Die Erbacher etwa, 1532 von Karl V. in den Grafenstand erhoben, erfuhren diese kaiserliche Politik sehr deutlich. Es dauerte lange Jahre, bis sie ausgesöhnt waren. Die dramatischen Vorgänge von 1547/48 haben somit den Kaisern auf Dauer die direkte Beziehung zu den kleinen Herren gesichert. Die Bedeutung des Lehensbandes blieb daneben bestehen. Diese Entwicklung war jedoch keineswegs einspurig, denn die Glaubensspaltung hat frühzeitig auch den Reichsgrafenstand erfaßt. Dabei erwiesen sich die alten höfischen Verbindungen mit Innsbruck, Heidelberg, Stuttgart und Dresden erneut als wichtige Determinanten reichsgräflicher Konfessionsentscheidung. Die Vorgänge waren wohl im einzelnen kompliziert — Einflüsse überlagerten und paralysierten sich. Deutlich wird jedoch die Ausrich-

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tung der schwäbischen Klientel Habsburgs auf den Kaiser, von den Fürstenberg bis zu den Zollern und Fugger, die Orientierung der Hohenlohe und Oettingen auf Württemberg, der sächsischen Lehensgrafen auf Kursachsen, vieler fränkischer Grafen sowohl auf die brandenburgischen Markgrafen wie auf Württemberg. Bemerkenswert ist dabei die Reaktion des Reichsgrafenstandes auf das reformierte Bekenntnis. Das Wirken Karls V. hatte den Rückhalt am Kaiser als wichtigstes Refugium für die Behauptung der Selbständigkeit betont. Dabei spielte sich immer mehr ein, daß die Einhaltung der reichsrechtlichen Normen eine bedeutende Voraussetzung für ein ungetrübtes Zusammenwirken mit dem Kaiser war. Somit wurde das reformierte Bekenntnis, 1555 reichsrechtlich nicht anerkannt, zu einem wichtigen (negativen) Gradmesser der kaiserlichen Autorität. Erneut kann dies an den Erbachern verdeutlicht werden. Die zweite Generation der Grafen in der Reformationszeit waren Vermittler der oberdeutsch-schweizerischen Reformation in die Pfalz gewesen und hatten damit dem reformierten Bekenntnis in Deutschland in entscheidender Weise den Weg bereiten helfen — die nächste Generation bekannte sich wieder zum entschiedenen Luthertum und brachte ihre Odenwaldgrafschaft auf diese Bahn. Sie paßten sich damit nicht nur dem kaiserlichen Verdikt über den Calvinismus an, sondern auch den im fränkischen Kreis herrschenden Verhältnissen — ein interessantes Beispiel, wie sehr die Reichskreise neue Solidaritäten und Zugehörigkeitsgefühle schufen und prägten. Dennoch haben Reichsgrafen die Geschichte des reformierten Bekenntnisses in Deutschland unübersehbar mitgeschrieben. Dies wurde dadurch möglich, daß sich zwei Elemente durchdrangen und diese Entwicklung begünstigten. Der Heidelberger Hof war seit 1563, endgültig seit 1584 reformiert geworden — in seinen Sog gerieten weite Teile der wetterauischen Grafen. Dies aber war wiederum nur möglich, weil sich eine enge Beziehung zu den aufständischen Niederlanden herausgebildet hatte. Es ist also zu sprechen von Wilhelm von Nassau-Dillenburg (1533 bis 1584), besser bekannt als Wilhelm von Oranien, der wohl welthistorisch bedeutendsten Gestalt reichsgräflichen Ursprungs. Deutlich zusammengehalten durch familiäre Kontakte, einen Familienverband also, bildete sich unter den wetterauischen Grafen eine Gruppe, die sich nach Westeuropa orientierte und sich im Einklang mit dem großen Vorkämpfer der niederländischen Freiheit dem reformierten Bekenntnis öffnete. Wilhelms Bruder Johann VI. von Nassau-Dillenburg (1536 bis 1605) organisierte für die Niederländer die Unterstützung aus dem Reich, eine ganze Reihe von Verwandten hat den Blutzoll für die Freiheit der Niederlande bezahlt. Auf der anderen Seite führte die Gruppe der Grafen, deren Kern die Häuser Nassau-Dillenburg, Solms-Braunfels und Sayn-Wittgenstein bildeten, das reformierte Bekenntnis in ihren Territorien ein. Die neu gegründete nassau-dillenburgische Landeshochschule Herborn bildete

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einen intellektuellen Mittelpunkt dieser Grafschaften und die Stütze der reformierten Konfession. Bemerkenswert ist, daß diese Gruppe der Grafen von sich aus versuchte, den Sieg oder die Behauptung ihrer Konfession in den Territorien der traditionellen Lehensherren zu erstreiten. Der Versuch mißlang 1583/84 in Kurköln (und danach auch im Stift Straßburg). Er gelang unter starker Anteilnahme der Grafen in der Kurpfalz nach 1592. Bei all diesen Bewegungen spielten also durchaus traditionelle Muster eine beträchtliche Rolle. Die fürstliche Stellung Oraniens, die entstehenden dynastischen Beziehungen zu den Königshäusern Westeuropas und zum Reichsfürstenstand sind ebenso wenig zu unterschätzen, wie die traditionelle, nach 1560 wiederbelebte Bindung an den Heidelberger Hof, an dem die Häuser Sayn-Wittgenstein, Nassau-Dillenburg und Solms-Braunfels eine dominierende Rolle spielten. Hinzu kam aber auch ohne Zweifel die Attraktion des niederländischen Militärdienstes, der zahlreiche Grafensöhne in die berühmte militärische Schule der Oranier brachte und überdies die wetterauischen Grafen zu Pionieren bei der Einführung des Landesdefensionswesens, der Bewaffnung der Untertanen, in Deutschland machte. Der deutliche Gegenpol dieser Gruppe sind die zur habsburgischen Klientel zählenden Grafen in Schwaben, auf die noch zurückzukommen sein wird. Den reformierten Wetterauern allerdings gelang es nicht immer, den wetterauischen Grafenverein insgesamt hinter sich zu bekommen — eine Minderheit blieb lutherisch. Die traditionelle reichspolitische Rücksichtnahme auf den Kaiser wog dort schwerer als die intellektuelle Attraktion des neuen Bekenntnisses. Immerhin fand der Calvinismus Eingang im Nordwesten — vor allem in Lippe, strahlte auch bis zu den bayerischen Grafen von Ottenburg, die in einem erbitterten Gegensatz zum Herzog von Bayern standen und sich eng an die Pfalz und an die wetterauischen Verwandten anlehnten. Aber Graf Philipp von Hohenlohe (1550 bis 1606) focht andererseits zwar auf der Seite der Niederländer, ging aber nicht zum reformierten Bekenntnis über. Daneben wird abermals deutlich, daß die Einbindung der Grafen in die neue Kreisorganisation ebenfalls determinierend wirkte und ältere Bindungen überlagerte. Für die lutherischen Erbacher wurde der fränkische Kreis zunehmend wichtiger als der reformierte Pfälzer Hof. Das lutherische Bekenntnis eröffnete zusätzliche Chancen in den Diensten von Kaiser und Reich — gerade für das kaiserliche Heer scheint zunächst die Barriere nicht zwischen alter und neuer Kirche, sondern zwischen Lutheranern und Calvinisten gelegen zu haben. Es fragt sich allerdings, ob nicht doch der Glanz des Heidelberger Hofes in den Zeiten des Niedergangs der habsburgischen Position unmittelbar vor dem Dreißigjährigen Krieg ein entscheidendes Gegengewicht hätte bilden können. Ohne Zweifel hatte er eine beträchtliche Wirkung auf einige Reichsgrafen ausgeübt. Zu nennen ist etwa Graf Johann Kasimir von Löwenstein (1588 bis 1622), der zur unmittelbaren Umgebung Kurfürst

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Friedrichs V., des nachmaligen Winterkönigs, zählte und, dem Beispiel seines Herrn folgend, sich eine Gattin aus englischem Hochadel wählte. Er sollte dann allerdings die Pfälzer Katastrophe von 1622 nicht überleben. Man wird die konfessionelle Polarisierung nicht unterschätzen dürfen. Sie schnitt uralte Verbindungen ab, etwa das Konnubium zwischen Fürstenberg und Solms, das sich bis zur Verheiratung der Bastardkinder fortsetzte. Binnen zwei Generationen löste sich damit ein Beziehungsgeflecht auf, das wesentlich weiter gespannt war als das der Reichsritter — ein Vorgang, der die Einheitlichkeit des Reichsgrafenstandes ohne Zweifel geschwächt hat. Möglicherweise liegt für eine Gesellschaft, die in Familienverbänden dachte, ganz allgemein hier eine wichtige Ursache für den Dreißigjährigen Krieg, da sich auch eine Spaltung des Fürstenstandes vollzog. Auch der Grafenstand wurde von der bevorstehenden Kriegsgefahr erfaßt — er war auf beiden Seiten an führender Stelle beteiligt; so zählten schwäbische Grafen bezeichnenderweise zur katholischen Liga, wetterauische dienten der evangelischen Union. Immerhin hinderten sie kaiserliche Mandate noch am Beitritt. Insgesamt tendierten die Grafen im Vorfeld des Krieges durchweg zur Vorsicht. Wenn sie sich auch nicht, wie die Ritter, den konfessionellen Gruppierungen fernhielten, suchten sie doch den Bruch mit dem Kaiser stets zu vermeiden. So haben etwa 1615 nach der gescheiterten Steuerbewilligung des Reichstags von 1613 nicht nur katholische schwäbische, sondern auch evangelische wetterauische Grafen dem Kaiser in separaten Verhandlungen eine Steuer bewilligt, wenn auch nicht ohne den Hintergedanken, damit ihrerseits die Untertanen zur Steuerzahlung zu bringen, indem sie die hohe kaiserliche Autorität mobilisierten. In den ausbrechenden Krieg wurden gräfliche Häuser auf beiden Seiten einbezogen. Evangelischerseits hatten Mitglieder der Häuser Solms, Nassau, Wittgenstein, Hohenlohe, auch ein Graf von Löwenstein auf Seiten der Union von Anfang an politisch und militärisch eine beträchtliche Rolle gespielt. Sie haben dies partiell mit Reichsacht und Konfiskation ihrer Besitzungen bezahlt; die für die staatliche Konsolidierung so bedenklichen Teilungen wirkten sich jedoch teilweise zugunsten der Grafen aus, da nun die andere, unbelastete Linie für die inkriminierten Verwandten eintreten konnte. Der Kurs des Kaisers verschärfte sich im Krieg zunehmend durch eine Politik der Konfiskationen, die dann 1631 immer mehr auch gemäßigte Grafen in die Arme der Schweden trieb. Im schwedischen Offizierscorps fanden sich eine ganze Reihe von Reichsgrafen, die sich nun entschieden, mit dem Kaiser zu brechen. Die Dotationspolitik Schwedens, die den auf seiner Seite engagierten Grafen vielerlei säkularisierte Kirchengüter zubrachte, wurde jedoch nach der Katastrophe von Nördlingen 1634 wieder rückgängig gemacht, obgleich sie nicht ohne endgültige Konsequenzen blieb. Sie demonstrierte jedoch den Grafen genauso wie den Rittern, daß es zur Anlehnung an den Kaiser im Grunde

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keine Alternative gab — hier ist zu vermerken, daß z. B. ein Zweig des Hauses Löwenstein durch verwandtschaftliche Bande mit dem Feldmarschall Baner und dem Neffen des Reichskanzlers, Gabriel Oxenstjerna, besonders eng verbunden war. Es war die rüde Politik des Wiener Hofes gewesen, die die evangelischen Grafen ins schwedische Lager getrieben hatte. Dahinter stand jedoch das Konzept einer groß angelegten Umschichtungspolitik — sie ist nur zu einem Bruchteil gelungen. Dennoch sind ihre Konsequenzen vielleicht die wichtigsten für die Geschichte des Reichsgrafenstandes in der Zeit zwischen Reformation und Mediatisierung. Die Wurzeln reichen zurück in die Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg. Der Kaiserhof hatte sich der allgemeinen Bewegung zu einer Verdichtung des Reiches und zu einer verstärkten Bürokratisierung nicht entziehen können. Die entstehenden kaiserlichen Behörden erhielten zunehmende Bedeutung gerade für die reichsgräflichen Familien. Sie wurden jedoch ganz herkömmlich auch — bei einer immer mehr dominierenden Rolle des erbländischen Adels — aus dem Kreis der alten schwäbischen Klientel des Hauses Österreich besetzt. Diese hatte sich konfessionell stark an Österreich, auch an Bayern orientiert und bildete so im Grafenstand gleichsam die Gegengruppe zu den calvinischen Wetterauern. Aber der kaiserliche Hof zog auch lutherische Familien an — sogar reformierte suchten sich im Prag Rudolfs II. einen Rückhalt zu verschaffen, so der reformierte Graf Simon VI. von der Lippe (1554 bis 1613). Frühzeitig gerieten viele Familien in den Sog der einsetzenden Gegenreformation. Der Dreißigjährige Krieg beschleunigte das Tempo der Entwicklung, die kaiserliche Armee zog, vor allem nach ihrer Vermehrung durch Wallenstein, mehr und mehr Grafen an — der alte Umkreis der habsburgischen Klientel wurde zunehmend überschritten. Diese Bewegung wurde nun aber überlagert und verstärkt durch den tiefgehenden sozialen Umbruch im böhmisch-österreichischen Herrenstand — die ständische Opposition gegen das Haus Österreich war zusammengebrochen. In das Vakuum strömten katholisch gebliebene und wieder katholisch gewordene erbländische Familien ein, aber daneben auch Glieder der habsburgischen Klientel im Reich. Dies war ein durchaus komplizierter Prozeß mit vielen Nebenwegen und Verästelungen. Er wurde aber zur entscheidenden Wurzel der neu entstehenden Wiener Hofgesellschaft. Die kaiserlichen Konfiskationen im Reich hatten diese Bewegung verstärkt und beschleunigt — in ihnen markierte sich die andere Tendenz. Für führende Politiker seines Hofes hatte der Kaiser eingezogene Güter von opponierenden reichsadeligen und reichsgräflichen Familien ausgegeben. So erhielt etwa Maximilian Graf Trauttmanssdorff (1584 bis 1650), später kaiserlicher Prinzipalgesandter auf dem Westfälischen Friedenskongreß, eine eigene Herrschaft im Reich aus württembergischen und neippergischen Besitzungen mit den Mittelpunkten Weinsberg und Schwaigern. Österreichs Parteigänger im Südwesten konnten sich aus

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württembergischen und anderen evangelischen Besitzungen bereichern. Das Programm einer Ansiedlung erbländischer Grafenfamilien im Reich markierte schon die Tendenz Habsburgs, mittels eines Familienverbandes seine Klientel im Reich und seine erbländischen Landsassen zu verklammern und an den Wiener Hof zu binden. Mit dem Scheitern der habsburgischen Machtpolitik kehrten sich diese Tendenzen um — auch der Adelsbesitz in den Kerngebieten des Reiches unterlag den allgemeinen Restitutionsbestimmungen des Westfälischen Friedens. Dennoch ging die Bewegung weiter, allerdings nun eher in der Richtung von West nach Ost. Die alte Attraktion des Kaiserhofs verstärkte sich nun noch weiter. Unter Leopold I., Josef I. und Karl VI. wurde der Wiener Hof ein wichtiger Bezugsort von deutschen Grafen- und Herrenfamilien, die auch durch Einheirat mittelbar und unmittelbar von den großen Vermögens- und Besitzverschiebungen in den Erblanden profitieren konnten. Eine ganze Reihe deutscher Grafenhäuser erwarb Besitzungen vor allem in Böhmen und Mähren, wobei die Anfänge schon im 16. Jahrhundert lagen. Die Wiedereroberung Ungarns durch die kaiserliche Armee verstärkte und verlängerte diese Bewegung noch. Familien wie die Fürstenberg, Schwarzenberg, Salm, Zollern, Löwenstein erwarben erbländischen Besitz, sogar Dignitäten in den Landständen. Die soziale Bedeutung dieser Bewegung ist unverkennbar. Sie verknüpfte die alte habsburgische Klientel im Reich stärker mit dem Wiener Hof, freilich mit dem alten Instrument familiärer Beziehungen. Glanz und Ansehen des Kaiserhofes zogen die Reichsgrafen an, die ihrerseits finanziell, aber auch in ihrem Prestige davon profitierten. Der Zug nach Wien war seit 1648 verstärkt eine wichtige Komponente hochadeliger Orientierung im Reich. Die komplementäre Bewegung war das Eindringen erbländischer Adelsfamilien in den deutschen Reichsgrafenstand. Die soziale Parallelität zwischen den erbländischen Herren und den deutschen Reichsgrafen bildete sich damit heraus, den kaiserlichen Standeserhöhungen den Weg bereitend. Böhmische, österreichische Familien, wie die Traun-Abensberg, die Liechtenstein, ja sogar die ungarischen Eszterhäzy faßten Fuß im Reich, im Reichstag, in den Gremien der Reichskreise und verstärkten damit Österreichs Parteigänger. Ohne Zweifel gab es Tendenzen zu einem kaiserlichen Reichsadel. Die bestehenden Querverbindungen vermehrten sich ständig — allerdings war das verfügbare Besitzvolumen in den Erblanden nicht groß genug, um einen allzu breiten Kreis aufzunehmen. Die kaiserliche Gunst hatte noch eine weitere Funktion, die wiederum dem katholischen Teil des Reichsadels Vorteile brachte — der Kaiser hatte das Privileg der Gnadenverleihung und der Standeserhöhung. Davon machte er einigen Gebrauch — das 17. und 18. Jahrhundert war eine Zeit formaler Standeserhebungen, die das Bild komplizieren. Für den Reichsgrafenstand

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galt, daß es sowohl Bewegungen nach oben aus ihm heraus und von unten in ihn hinein gab. Die kaiserliche Intention war wieder klar, durch Standeserhebungen die Position des Reichsoberhauptes auf Reichs- und Kreistagen zu verstärken und überdies die begünstigten Familien an sich zu binden. Es zeigte sich jedoch rasch, daß beide Bestrebungen des Kaisers auf Widerstand stießen. Bemerkenswerterweise spielte dabei der Grafenstand selbst eine geringe aktive Rolle. Es waren die Fürsten, die Aufsteiger abwehrten, die Reichsritter, die sie in ihren Reihen zu halten suchten. Die Grafen von Dernbach etwa hatten eine lange Auseinandersetzung mit der fränkischen Ritterschaft, als sie die kaiserliche Standeserhöhüng durch Eintritt in den Reichsgrafenstand realisieren wollten. Die Motive der reichsritterschaftlichen Kantone waren noch relativ einfach; sie wollten die analog der Reichsmatrikel in der Rittermatrikel festgelegten Steuern nicht durch das Ausscheren einzelner Mitglieder auf eine geringere Zahl abgewälzt wissen. Die Regelung, daß die Güter der so Erhobenen in der Rittermatrikel verblieben, sie selbst aber als Personalisten den gräflichen Kollegien angehörten, war ein echter Kompromiß im politischen Spiel des alten Reiches. Auf der anderen Seite haben vor allem die Mächtigeren unter den Fürsten sehr rasch begriffen, was es bedeutete, wenn der Kaiser durch Standeserhöhungen aus getreuen Reichsgrafen Reichsfürsten machte — daß sich langsam eine katholische, ihm ergebene Mehrheit bilden würde — und dies just in einer Phase, als sich auf dem Reichstag das Majoritätsprinzip durchsetzte. Der Reichstag erkämpfte ein Zustimmungsrecht zur Admission neuer Fürsten. Zwar gelang dem Kaiser noch 1653/54 die Einschleusung von sieben Häusern, darunter drei erbländischen und nur einem protestantischen. Dann aber wurde es schwieriger, obgleich die bis 1754 erfolgten weiteren Zulassungen trotz aller konfessionellen Kompensationen durchweg die österreichische Klientel verstärkten. Weitere Fürstenerhebungen aber erfolgten ohne gleichzeitige Zulassung zum Reichstag, so daß sich auf den Grafenbänken mehr und mehr Titularfürsten befanden. Auch tatsächlich auf dem Reichstag zugelassene Fürsten verließen sie oftmals nicht. Der Aufstieg in den Fürstenstand mußte vielfach mit höheren finanziellen Lasten bezahlt werden, daß etwa Hohenzollern-Hechingen, ein 1623 in den Fürstenstand erhobenes Haus, fast zugleich mit der Admission auf den Reichstag ein kaiserliches Sequester über sich ergehen lassen hatte müssen, war ein Auftakt für manches ähnliche Ereignis. Auch brachte die Fürstenerhebung offensichtlich öfter eine Erhöhung der Reichs- und Kreislasten mit sich, die den Begünstigten schwer zu schaffen machte. Die Vorgänge verdeutlichen die entstehenden Verwerfungen im barocken Titularwesen. Sie signalisierten jedoch auch, daß in einem ständisch bestimmten Zeitalter die bloße kaiserliche Standeserhebung nicht ausreichte. Die Freiherren von Rechberg standen vor dem Dreißigjährigen Krieg noch vor

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der Überlegung, lieber unter den Rittern Erster zu sein, als unter den Grafen die Letzten. Die gewandelte Situation nach 1648 zeigte nicht nur an, daß barocke Titelsucht solche Überlegungen geringer achtete, sondern auch, daß in den gräflichen Gremien relativ wenig zu gewinnen war. Wichtig wurde kaiserliche Patronage noch in einer anderen Hinsicht. Die Ordnungen schrieben für Reichskammergericht und Reichshofrat Präsidenten von mindestens gräflicher Würde vor. Die kaiserlichen Einsetzungen suchten zunächst darauf Rücksicht zu nehmen. Vor allem im 16. und 17. Jahrhundert war das Reichskammergericht durch reichsgräfliche Präsidenten, teils auch Kammerrichter besetzt. Nach 1648, als die Präsidentenwürde zwischen den Konfessionen aufgeteilt wurde, bildete sich für die Grafen und Fürsten von Leiningen praktisch zeitweilig ein Zugriff auf die evangelische Präsidentenwürde aus — sie war über Jahrzehnte in der Erbpacht des rheinischen Hauses. Auch die Präsidentenstelle des Reichshofrats in Wien war häufig in reichsgräflichen Händen. Sowohl am Reichskammergericht wie am Reichshofrat symbolisierte der Übergang der Würde in titulargräfliche oder erbländische Hände die schwindende Bedeutung des Reichsgrafenstandes im 18. Jahrhundert. Reichsgrafen haben immerhin an der Spitze der Reichshofkanzlei, in der Reichsgeneralität, als kaiserliche Gesandte eine wichtige Rolle gespielt. Als Beispiel sei hier der bedeutendste Sproß des Hauses Löwenstein genannt: der erste Fürst von Löwenstein-Wertheim-Rochefort, Maximilian Karl (1656 bis 1718), Sohn einer Fürstenberg, seine zahlreichen Schwestern verheiratet mit katholischen Grafen und Herren aus dem Reich und den Erblanden, war eine entscheidende Figur in der Reichspolitik der drei großen habsburgischen Kaiser Leopold I., Josef I. und Karl VI. Als Statthalter Bayerns, als Prinzipalkommissar auf dem Reichstag, präsentierter Präsident des Reichskammergerichts und schließlich als Statthalter von Mailand stand er in kaiserlichen Diensten an den Brennpunkten der habsburgischen Politik. Andererseits markierte die Heiratspolitik die weiterreichende Bedeutung des Grafenstandes. Partner waren häufig jüngere Linien der Fürstenhäuser, deren Territorien vielfach nicht größer waren als die mittlerer Grafen — vielfach gerieten solche jüngeren Zweige evangelischer Häuser in den Sog der Katholizität. Damit aber wurde durch die Grafen die soziale Offenheit zum Fürstenstand festgelegt. Weitaus seltener gab es Heiratsverbindungen mit der nächstniedrigeren sozialen Gruppe, mit dem Ritterstand, vor allem mit dem reichsunmittelbaren und dem erbländischen. Dennoch garantierte der Reichsgrafenstand nicht nur ein Stück sozialer Mobilität im deutschen Adel, sondern er konnte daraus auch durchaus Vorteile ziehen. Familien, die in besonders engem Kontakt mit dem niederen Adel standen, haben durch diese Verbindungen oft profitiert. Bezeichnenderweise hatte schon unter Leopold I. Graf Leopold Wilhelm von Königsegg-Rothenfels (1630 — 1694) Ansätze zu einer familiären Protektionspolitik innerhalb der Reichskirche

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verfolgt, die er im Besitze der zahlreichen Informationen zu betreiben suchte, die ihm sein Reichsvizekanzleramt bot. Dabei blieb das Konnubium mit dem stiftsfahigen niederen Adel wichtig. Ohne ein solches wären die erstaunlichen Erfolge des diesem entstammenden Hauses Schönborn bei den Bistumsbesetzungen zwischen 1637 und 1746 nicht möglich gewesen. Seit 1701 zum Reichsgrafenstand gehörig, rangierten die Schönborn ohne Zweifel am Ende der reichsgräflichen Hierarchie. Dies war ohne Frage eine entscheidende Voraussetzung ihres Erfolges. Die Schönborn behielten lange das Konnubium mit dem Niederadel bei. Erst dies ermöglichte ihnen den engen Kontakt mit dem stiftischen Deutschland und ihre erfolgreiche Bündnispolitik, die seit der Zeit des großen Johann Philipp abgestützt wurde durch eine Stellung im habsburgischen Klientelsystem und eine Verankerung in den Erblanden. In geringerem Maße galt ähnliches später für die Häuser Neipperg und Stadion. Deutlich wird damit, daß eine Position an der ständischen Spitze der Hierarchie des Grafenstandes nicht unbedingt mit tatsächlichem Einfluß Hand in Hand gehen mußte. Aber auch die Kehrseite der Medaille demonstrierte deutlich die hohe Bedeutung des Kaiserhofes für den Grafenstand. Ohne Zweifel gingen sein Einfluß und sein Gewicht nach 1648 zurück; dies hängt mit der fortschreitenden Transformation des Reiches von einem Personenverband zu einer Vereinigung von sich konsolidierenden Landesstaaten zusammen, in der die größeren gegenüber den kleineren ein immer stärkeres Gewicht bekamen. Einzelne Grafen haben natürlich in kaiserlichen Diensten eine beträchtliche Rolle gespielt — der Bogen reicht von Graf Johann Ludwig von Nassau (1590 bis 1653), dem kaiserlichen Prinzipalgesandten in Münster und Osnabrück, bis hin zu den österreichischen Staatskanzlern Stadion und Metternich in der napoleonischen Zeit. Aber auch für evangelische Stände waren die Grafen sehr wichtig. Graf Johann von Sayn-Wittgenstein-Hohenstein (1601 bis 1657) vertrat Kurbrandenburg auf dem westfälischen Friedenskongreß. Zuvor und danach spielten die Grafen Adam von Schwarzenberg (1583 bis 1641) und Georg Friedrich von Waldeck (1620 bis 1692, seit 1682 Fürst) in Berlin eine beherrschende Rolle. Die alten wetterauischen Beziehungen zum Haus Oranien kamen weiterhin dem Grafenstand zugute und schufen eine sozialgeschichtlich wichtige Brücke sowohl zum Reichsfürstenstand wie nach Westeuropa. So hat Graf Heinrich Trajektin von Solms-Braunfels (1638 bis 1693) für seinen Vetter Wilhelm III. von Oranien England und Irland erobern helfen und ist in seinen Diensten 1693 bei Neerwinden gefallen. Aber die gräfliche Position reduzierte sich doch im Ganzen. Der Heidelberger Hof hatte an Attraktion und Bedeutung eingebüßt. An vielen fürstlichen Höfen hielt der reichsritterschaftliche Adel stärker als je zuvor das Heft in der Hand. Dadurch aber vertiefte sich in vielerlei Hinsicht die Kluft zwischen katholischem und evangelischem Hochadel. Der Sog des Wiener Hofes hatte auf

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evangelischer Seite kein Äquivalent. Auch wenn der Wiener H o f niemals die evangelischen Familien völlig vernachlässigte, so waren sie stets doch nur von sekundärer Bedeutung — stärker als bei der traditionellen österreichischen Klientel war hier das Verhältnis zum Kaiser ein einseitiges, nämlich das Angewiesensein der evangelischen Grafen auf seinen Schutz. Die noch zu diskutierende problematische Seite gräflicher Existenz in der Schlußphase des alten Reiches trat hier deutlich hervor. Dabei gab es zunächst durchaus Tendenzen, die geeignet schienen, jene Vorteile halbwegs auszugleichen, die Wien dem katholischen Adel bot. E s deutet vieles darauf hin, daß der Große Kurfürst von Brandenburg versuchte, ähnlich dem Wiener Hof sich ein Beziehungsgeflecht von Angehörigen des Hochadels zu schaffen. Die Schwierigkeit war nur, daß er nicht das Prestige des Reichsoberhauptes besaß, daß sich die Zahl der landsässigen Herrenfamilien in Grenzen hielt, die des Konnubiums mit den Grafen fähig waren — eine besondere Rolle spielte das Haus Dohna, das über die Solms sogar in die Verwandtschaft mit den Oranieren und damit mit den Zollern selbst treten konnte. Einmal machte Friedrich Wilhelm selbst den Brautwerber, als es um eine Heirat des Hauses Dohna mit den Lippe ging. Andererseits aktivierte Friedrich Wilhelm die längst vergessenen Verbindungen zu den schwäbischen Zollern, um in der ureigensten Einflußzone Österreichs Fuß zu fassen. Aber die Versuche, mit Habsburg auf der Ebene der Höfe zu konkurrieren, mißlangen: zwar hatte der neue preußische K ö n i g , Friedrich I., einen besonders ausgeprägten Hof, an dem tatsächlich zwei Reichsgrafen, Wittgenstein und Wartenberg, eine umstrittene Rolle spielten — es müßte jedoch noch geklärt werden, wie weit ein vernünftiges politisches Kalkül schon in einen Mißbrauch abgeglitten war. Jedenfalls brach Friedrich Wilhelm I., der fast verschroben nüchterne Soldatenkönig, das Experiment ab. Weniger beachtet war, daß mit der Regierungszeit Max Emanuels von Bayern auch die Attraktion des Münchener Hofes als Konkurrenz zum Wiener ihrem Ende entgegen ging — nachdem ersterer lange Jahrzehnte schwäbische und fränkische Grafen angezogen hatte und im Gefolge Bayerns sogar die Heiligenberger Linie des Hauses Fürstenberg, die sogenannten Egoniden, in den 1670er Jahren in das Schlepptau Frankreichs geraten waren. Das sinkende Interesse für die Grafenhäuser zeigte nichts Gutes an; Berlin bemühte sich künftig vor allem um Reichsfürsten, um Anhalt, Braunschweig, Sachsen-Hildburghausen, die Ränge in der Armee fanden. • Allerdings schuf es zugleich gegenüber einer Reihe von Reichsgrafen (wie auch kleineren Reichsfürsten) ein effektives System von indirekter Herrschaft — Preußen nahm ihnen die Steuerzahlung gegenüber Reich und Kreis ab, fing damit die für kleine Territorien gefährlichen Probleme von Krisenjahren ab und machte sie so unmerklich zu Satelliten — ein äußerlich weniger glanzvolles System, als das des Wiener Hofes, aber dafür ein effektiveres, das überdies dazu

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beigetragen haben dürfte, daß im 19. Jahrhundert eine Reihe einstiger norddeutscher Reichsgrafen ihre Selbständigkeit als Fürsten des Deutschen Bundes behaupten konnte. Die Bedeutung dieser Maßnahme wird man kaum unterschät2en dürfen. Die Agrardepression des späteren 17. Jahrhunderts hatte offensichtlich sehr vielen gräflichen Territorien arg mitgespielt. Vielfach hatte man schon unter den günstigeren Bedingungen des späten 16., frühen 17. Jahrhunderts Schulden angehäuft — im Zeichen der Agrardepression fielen dann die Zinszahlungen wesentlich schwerer. Aber zugleich unterlag man den Erfordernissen einer verstärkten Bürokratisierung, gelegentlich auch einer militärischen Aufrüstung — andererseits hat die barocke Selbstdarstellung im höfischen Gewände gerade die kärglichen Mittel der Reichsgrafschaften oft zum Äußersten angespannt. Dabei kam es zu symptomatischen Krisenerscheinungen, die die Fortdauer von Staatlichkeit auf kleinstem Raum begleiteten. Schon um 1700 war im Grunde klar, daß die Grafen das Wettrennen mit den großen Territorialherren nicht mehr mithalten konnten. Paradoxerweise hatte zudem die territoriale Konsolidierung und politische Restauration mit dem Westfälischen Frieden die politische Bedeutung der Grafen stark gemindert. Die verbreitete Finanzkrise machte diese Entwicklung überdeutlich — viele Grafen lebten über ihre Möglichkeiten. Das Territorium ließ eine ausgreifende gräfliche Finanzpolitik in der Regel nicht zu — trotz einzelner beachtlicher kameralistischer Leistungen verkamen gräfliche Bemühungen dieser Art vielfach in einem billigen Fiskalismus, der häufig die Wirtschaft mehr einengte als förderte und zugleich die Untertanen mehr belastete als unterstützte. Eine ganze Reihe von Untertanenunruhen und Prozessen in gräflichen Territorien hatten hier ihre Ursache. Sie waren geeignet, das Ansehen der betroffenen Herrschaften und auch ihren Kredit zu ruinieren. Der Kontrast zwischen der oft sehr ausgeprägten barocken Hofhaltung, den hohen Ansprüchen und den geringen finanziellen Möglichkeiten erhielt damals die schärftste Ausprägung. Damit aber gewann der Kaiser eine doppelte Bedeutung. Einmal entlastete eine Position am Wiener Hof, der Dienst in der Armee die gräflichen Kassen. Nachgeborene Söhne auch evangelischer Häuser haben kaiserliche Militärdienste gesucht — bis hin zu hohen Posten in der Generalität Österreichs und des Reiches. Sie haben aber auch bis ins 18. Jahrhundert hinein einen beträchtlichen Blutzoll geleistet. Wichtiger wurde, daß erbländischer Besitz nicht nur die ökonomisch günstigere Form der Gutswirtschaft hatte, sondern auch frei war von kostspieligen Verpflichtungen der Hofhaltung und eines Behördenapparats. Er erwies sich damit als eine wichtige Abstützung der sozialen und politischen Position im Reich. Dies galt für Familien wie die der Fürstenberg, Löwenstein —Wertheim—Rochefort, Schwarzenberg, Königsegg u. a., ganz abgesehen von den erbländischen

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Familien, die im Reich Besitz erworben hatten. In wesentlich geringerem Ausmaß galt ähnliches für die Besitzungen in den preußischen Ostprovinzen. Die andere Seite war die Technik der Schuldenregulierung durch kaiserliche Kommissionen, die immer größere Bedeutung erhielt. Das ursprüngliche, relativ grobe Instrument der bloßen Moratorien, wurde mehr und mehr verfeinert durch das der kaiserlichen Debitkommissionen, durch die sich eine ganze Reihe deutscher Grafenfamilien überziehen lassen mußte. Diese Vorgänge sollen an anderer Stelle ausführlich dargestellt werden. Zusammenfassend sei gesagt: die kaiserliche Politik hatte ein Interesse an der Erhaltung der Grafenhäuser, da sie in ihnen einen Rückhalt gegen die Mächtigen im Reich sehen mußte. Die Debitkommissionen hatten bei aller Härte die Tendenz, die Schuldner zu stützen und deren Untergang, wenn irgend möglich, zu vermeiden. Diese sozial-konservative, adelsfreundliche Politik entsprach natürlich auch dem sozialen Profil des Wiener Hofes — freilich hat er damit vielfach Gebilde am Leben erhalten, deren Existenzfähigkeit sich in Grenzen hielt, vor allem im späten 18. Jahrhundert wurde dies recht deutlich. Dabei wurde zwar Wert gelegt auf die Bestrafung von allzu betrügerischen Akten — Josef II. und sein Reichshofrat etwa schickten einen Wild- und Rheingrafen wegen der fingierten Bürgschaft seiner nicht vorhandenen Landschaft für zehn Jahre auf die Festung —, aber das Vorgehen war im allgemeinen behutsam; die politische Tendenz aller Verfahren zielte auf Erhaltung der Substanz. Es läßt sich streiten, ob diese konservierende Verfahrensweise, die auf der alten Allianz des Kaisers mit den Kleinen im Reich beruhte, beiden gut bekam. Unter dem Eindruck finanzieller Krisen und politischer Machtlosigkeit spielte bei den evangelischen Familien zunehmend eine Abkehr von Machtund Einflußstreben eine Rolle. Gestützt auf die sozialen Beziehungen zu Adelsfamilien Brandenburg-Preußens, Sachsens, aber auch ÖsterreichischSchlesiens fand der Pietismus vor allem bei den wetterauischen Grafen in starken Maße Eingang. Diese sind sogar untrennbar mit seiner Geschichte in Deutschland verbunden — die „Frommen Grafen" aus den Häusern Reuß, Waldeck, Wied, Solms, Ysenburg u. a. haben den pietistischen Predigten deutlich Vorschub geleistet und teilweise auch Ansiedlungen der Herrnhuter begünstigt, wie etwa Ysenburg-Büdingen, das auch 1712 ein berühmtes Toleranzpatent erließ. Die Grafen von Wied wiederum gründeten Mitte des 18. Jahrhunderts unter diesen Prämissen in Neuwied eine „Akademie zur Vereinigung des Glaubens", die wegen des Verdachts der Freigeisterei in ihrem kurzen Bestehen sogar eine Untersuchung des Reichshofrats auf sich zog. Man wird aber das Kapitel „Pietismus und Grafen" nicht allein unter der Rubrik Frömmigkeits- und Geistesgeschichte abbuchen dürfen. Deutlich hatte die religiöse Verinnerlichung sozial sprengende Kräfte, die die ständische

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Gesellschaft in Frage stellte. Daß Grafentöchter — unter Berufung auf die Stimme Gottes — Bürgerliche heirateten, wobei sogar Stiftsdamen nicht fehlten, verursachte zu Beginn des 18. Jahrhunderts nicht nur bei katholischen Standesgenossen beträchtliche Sorgen. Daß sich diese Befürchtungen nicht bewahrheiteten, steht auf der einen, eine bleibende Tendenz zu Mesalliancen im ganzen 18. Jahrhundert auf der anderen Seite, die in mehreren Häusern zu wiederholten Auseinandersetzungen führten. Vielleicht stärker noch als bei den Reichsrittern war vielen Reichsgrafen die zunehmende Diskrepanz zwischen Sein und Schein vor Augen getreten. Dem widerspricht nicht eine fortwirkende Tendenz zum ständischen Aufstieg. Die Fürstungen nahmen zu. Das kurzlebige wittelsbachische Kaisertum Karls VII. schien dabei noch einmal eine Wende zugunsten der norddeutschen und evangelischen Häuser zu bringen. Die alte habsburgische Klientel unter den süddeutschen Reichsgrafen hatte sich auf erstaunliche Weise zunächst zögernd dem Wittelsbacher zugewandt — aber seine Abdrängung nach Frankfurt veränderte auch die Beziehungsfelder zum gräflichen Adel. Dabei rückten in seine Nähe nun Grafen, die dem österreichischen Kaiser ferner gestanden hatten. Aber der landlose Karl VII. vermochte nicht die Möglichkeiten des Wiener Hofes zu ersetzen. So führte der Weg seines Protektionskindes Friedrich Wilhelm Graf von Solms-Braunfels (1696 bis 1761) von der Fürstenerhebung 1742 unmittelbar in eine kaiserliche Debitkommission, und als Kaiser Franz II. 1792 den Grafen Carl Christian von Solms-Hohensolms-Lich (1725 bis 1803) in den Fürstenstand erhob, zählte bezeichnenderweise zu seinen hauptsächlichen Verdiensten die Tilgung der Schuldenmasse. Das wittelsbachische Interregnum bedeutete eine tiefe Zäsur. Der Wiener Hof bekam immer deutlicher erbländische Züge. Dies ging Hand in Hand mit seiner Rückbesinnung auf die eigentlich österreichischen Grundlagen. Seit dem Regierungsantritt von Maria Theresias Gemahl Franz I. als Kaiser (1745) geriet der deutsche Grafenstand noch mehr in den toten Winkel der kaiserlichen Politik — deutlich wird dies etwa in der Berufung von Titulargrafen, die eigentlich dem niederen Adel zugehörten, auf die Präsidentenstellen bei Reichskammergericht und Reichshofrat, gegen die — die Auskunft danke ich Sigrid Jahns — der Grafenstand Sturm lief, wenn auch vergebens. Natürlich waren die alten Traditionen nicht einfach weggeblasen. Noch gingen Reichsgrafen in kaiserliche Dienste — immer noch spielte der Wiener Hof seine bedeutende Rolle. Aber auf der anderen Seite stand doch eine zunehmende Attraktivität Preußens, für das sowohl die geschickte finanzielle Stützungspolitik wie das Zwischenspiel Kaiser Karls VII. geworben hatte. Überdies gab es eine ganze Reihe von Ansätzen zu wirtschaftlichen Innovationen, die von Reichsgrafen durchgeführt worden waren, unter ihnen nicht zuletzt die Reformen des österreichischen Staatskanzlers Fürst Kaunitz in seiner westfälischen Grafschaft Rietberg. Aber auch manch süddeutscher

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Graf hat hier eine Rolle gespielt. Dabei wäre interessant, wie weit hier die Beispiele erbländischer oder preußischer Güter Gewicht haben. Im Ganzen zeigte sich jedoch die Situation am Ende des 18. Jahrhunderts recht bedenklich. Die Äußerung Josefs II. gegenüber deutschen Reichsgrafen, die sich nicht durch besondere Leistungen auszeichneten, waren wenig liebenswürdig — einem berüchtigten Schuldenmacher aus dem Hause LimburgStyrum drohte der Kaiser sogar, ihn eigenhändig mit einer Warnung an die Gläubiger in die Zeitung einzurücken. Auch der letzte Fall, daß das reichsgräfliche Kollegium eine Rolle in der Reichspolitik spielte, war wenig eindrucksvoll — der Streit um das westfälische Grafenkolleg 1775, mit dem der österreichische Reichstagsgesandte von Borrie ein Jahr lang den Reichstag lahmlegte, erwies sich im wesentlichen als Instrument jener Polarisierung, die die im Zeichen des deutschen Dualismus sogar anachronistisch gewordene konfessionelle Zuordnung wieder mobilisierte. Die von Kurmainz betriebene Benennung des Grafen Franz Georg von Metternich (1746 bis 1818) als katholischer Gesandter des westfälischen Grafenkollegs auf einer Reichskammergerichtsvisitation löste eine Krise in dieser als evangelisch geltenden Gruppe und dann auf dem Reichstag aus. Sie endete mit einer Konzession an die katholische Seite. Die instabil gewordene Situation der Grafschaften des Südens zeigte sich vollends in den französischen Revolutionskriegen. Reichs- und Kreissteuern stiegen unter den Bedingungen des Kampfes gegen das revolutionäre Frankreich, den man seitens der Grafen durchaus als existentiell notwendig empfand, in schwindelnde Dimensionen. Unter unterschiedlichen Voraussetzungen zeigten sich gerade in gräflichen Territorien wieder Unruhen der Untertanen — so kam es zur letzten schweren Krise in dem stets unruhigen Hohenzollern-Hechingen. Einen Anschluß an das revolutionäre Frankreich haben diese Bewegungen freilich nicht gefunden. Bedenklicher waren die Verluste einzelner Häuser auf dem linken Rheinufer, Verluste, die den Gedanken an Entschädigungen zunächst nur einen Wunschtraum sein ließen. Die Kriegsfinanzierung riß immer tiefere Löcher in die Kassen der kleineren Herren. Diese sahen sich gezwungen, die Kosten erneut an die Untertanen weiterzugeben. Als die Waffen schwiegen, war das Problem ungelöst und führte zu einer Reihe von Konflikten, dann zu Prozessen von Untertanen gegen die Herrschaft. So auch in Löwenstein-Wertheim, wo noch in den allerletzten Jahren des alten Reiches die Untertanen in Wien gegen ihre Herrschaft klagten und diese die Untertanen der Rebellion bezichtigte. 1803 hatte jedoch der Reichsdeputationshauptschluß im Gefolge des Luneviller Friedens eine Revolution der Reichsverfassung ausgelöst. Als Wortführer der Grafen hatte bereits auf dem Rastatter Friedenskongreß Friedrich Ludwig Christian Graf Solms-Laubach (1769 bis 1822) agiert, ein kluger Jurist, durch die Schule des Reichshofrats gegangen — mit dem Projekt

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einer Grafenunion wollte der Laubacher die Reichsunmittelbarkeit seiner Standesgenossen verteidigen. Es ist noch nicht erforscht, wieweit tatsächlich Hoffnungen der Grafen existierten, auf der Grundlage des Umsturzes von 1803 in der Reichsverfassung eine neue, verstärkte Position zu erreichen. Immerhin ergaben sich dabei zukunftsweisende Verbesserungen, vor allem durch die Translation linksrheinischer Herren auf das rechte Rheinufer, der Leiningen nach Amorbach, der Salm nach Krautheim, der Quadt nach Isny, u. a. mehr. Wichtiger noch für die künftige Position des Reichsgrafenstandes aber wurde, daß eine ganze Reihe reichsgräflicher Häuser in der letzten Phase ihrer Reichsunmittelbarkeit kurz vor der Mediatisierung noch eine Anzahl von Stiftern mediatisieren konnten. So das Haus Löwenstein-WertheimRochefort das nahe gelegene Bronnbach, das Haus Solms die Klöster Arnsburg und Altenberg. Damit erhielt die wirtschaftlich schwache Position eine wichtige Abstützung, ja, für die künftige standesherrliche Existenz im 19. Jahrhundert wurde hier eine wichtige Grundlage gelegt. So erscheint nur auf den ersten Blick das wirkliche Einrücken der gefürsteten Häuser 1803 in den Reichsfürstenstand als wichtiger, es war eine halbe Kompensation für das Haus Österreich angesichts des Wegfallens seiner geistlichen Parteigänger durch die Säkularisation. Dies wäre aber ein Vorgang gewesen, der den Grafenstand endgültig gesprengt hätte — aber 1806 schlug für die meisten die Stunde der endgültigen Mediatisierung. Sicher haben sich auch kleinere Herren mehr dank ihrer Beziehungen als ihres Fürstentitels behaupten können, wie Isenburg-Birstein oder die von der Leyen. Aber die Masse der süddeutschen Grafenhäuser verschwand von der Landkarte und wurde der Souveränität der neuen Rheinbundfürsten unterworfen, einer Herrschaft, die unter den Bedingungen des Krieges, angesichts der rigoros durchgesetzten Souveränitätsrechte der neuen Herren, im Zeichen eines Zustandes drohender Rechtsunsicherheit und deutlicher Spannungen zu der aufgeklärten Bürokratie vielfach als drückend empfunden wurde. Es ist hier nicht der Ort, die vielfaltigen und differenzierten Bestrebungen der Mediatisierten nach einer Restauration im einzelnen zu schildern, die sie auf dem Wiener Kongreß verfolgt haben. Viele von ihnen haben eine Wiedereinsetzung in Souveränitätsrechte erwartet, da die Entwicklungen der napoleonischen Zeit zunächst als nichtig galten. So hat etwa Fürst Alfred Windischgrätz (1787 bis 1862), 1848 zu welthistorischer Berühmtheit gelangt, als Graf von Eglofs dem König von Württemberg jahrelang Schwierigkeiten bereitet. Andererseits gab es auch Stimmen, wie die der drei jüngeren isenburgischen Linien, die den Rheinbundfürsten Karl von Isenburg-Bierstein (1766 bis 1820) mediatisieren lassen wollten — sie zogen offensichtlich die Herrschaft eines größeren Fürsten der des Vetters vor. 1814/15 entschied der Wiener Kongreß gegen eine Restauration der vielen kleinen Reichsgrafen und Fürsten. Erhalten haben sich nur eine Reihe von

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Kleinstaaten in Norddeutschland und die beiden Hohenzollern. Die Bemühungen der Mediatisierten drangen nicht durch, obgleich sich der Vater Metternichs auf ihre Seite gestellt hatte. Der Sohn ist vielfach kritisiert worden, weil er kein Herz für seine Standesgenossen gehabt hätte. Ich meine jedoch, daß das Kapitel „Metternich und die Mediatisierten" noch einmal einer eingehenden Diskussion bedarf. Hier nur so viel: Metternich, der einen durchaus analytischen Verstand hatte, wenngleich er auch ein ausgeprägter Pragmatiker war, hatte die Sackgasse begriffen, in die die kleinen Herren in der Spätphase des alten Reiches geraten waren. Er hatte die tiefe Einsicht, daß die Belastung mit den alten Regierungspflichten auf kleinstem Raum auf lange Sicht den finanziellen und sozialen Ruin bedeuten mußte. Dies veranlaßte ihn, allen Restaurationsbestrebungen einen Riegel vorzuschieben. Übrigens traf er sich dabei mit einigen einsichtigen Reichsgrafen, wie etwa Friedrich Christian Ludwig von Solms-Laubach, der dann der erste preußische Oberpräsident der Rheinprovinz wurde. Auf der anderen Seite tat der österreichische Staatskanzler alles, um die soziale Existenz seiner Standesgenossen zu sichern; er wachte über ihre Reputation und über ihren Rang, für die er sich übrigens in den habsburgischen Landen ganz entschieden eingesetzt hat. So eröffnete sich nach 1815 dem deutschen Hochadel in einer veränderten und bereinigten sozialen Umwelt eine neue Chance — die Mediatisierung war keineswegs das Ende seiner Entwicklung. Vor allem die weitsichtige Unterstützung durch den österreichischen Staatskanzler Metternich hat die alte reichsgräfliche Existenz in die neue standesherrliche überführt. Auch wenn viele Herren nur schwer von den Traditionen des alten Reiches, von staatlichen Formen, von höfischer Repräsentation, vom Glanz der Titel Abschied nahmen, so sollte ihnen doch die Regelung im Deutschen Bund letzten Endes zum Vorteil gereichen. Bewußt oder unbewußt haben dies viele Herren auch deutlich gemacht. Die ständige Berufung auf englische Vorbilder, die Imitation englischen Lebensstils bis hin zu den Bauten zeigte doch, daß eine Adelsgruppe zum Vorbild geworden war, die ohne eine staatliche Existenz in ihrem Land eine beträchtliche Rolle spielen konnte. In Westeuropa hatte auch der hohe Adel im Hundertjährigen Krieg, in den Rosenkriegen, in den französischen Religionskriegen, in den Kämpfen gegen die Könige von Kastilien und Aragon sich schließlich der Gewalt der Monarchen unterwerfen müssen. Fortan bedeutete dort adelige Existenz die des Höflings, des Staatsdieners und des Grundherrn. All diese Funktionen nahm der deutsche Adel auch ein. Aber für ihn kam die Komponente der „Staatlichkeit" hinzu, die schließlich von einem Teil der weltlichen Fürsten vollendet werden konnte. Die Mittelstellung der Reichsgrafen zwischen ihnen und dem Niederadel läßt es reizvoll erscheinen, die Grenzen und Alternativen des Verstaatlichungsprozesses zu diskutieren. Es wurde in diesem Aufsatz deutlich, daß die Grafen schließlich nicht zum

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Erfolg kommen konnten. Festzuhalten ist jedoch auch, daß die fortwirkende standesherrliche Existenz in vielfaltiger Weise die Kontinuität reichsgräflicher Traditionen erhalten hat, denen der Fachhistoriker in der Gestalt häufig sehr reicher Archive, einer zunehmenden Zahl von Geschichtsinteressierten aber auch in der reichen und bunten Vielfalt von kleinen Residenzen begegnet, ohne die die deutsche Landschaft ein gutes Stück ärmer wäre.

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Die westdeutschen Bürgergesellschaften zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus von Friedrich Zunkel

Als in den Jahren 1944 und 1945 der größte Teil der repräsentativen Bauten der westdeutschen Bürgergesellschaften bei alliierten Bombenangriffen in Schutt und Asche sanken, da war wohl den meisten ihrer Mitglieder klar, daß damit eine langjährige Entwicklung ihr Ende oder doch eine tiefgreifende Zäsur gefunden hatte, 1 und daß für den Neubeginn eine Besinnung auf die vernachlässigten Traditionen der Gesellschaft nötig sei. „Wir knüpfen wieder an bei dem ursprünglichen Zwecke unserer Vereinigung", betonte 1946 ein Vorstandsmitglied der Bonner Lese- und Erholungsgesellschaft, „beginnen den Wiederaufbau mit der Bücherei und einem Lesezimmer und hoffen, in nicht zu fernen Zeiten auch dem Gesellschaftsleben wieder einen Mittelpunkt schaffen zu können". 2 Dieses indirekte Eingeständnis einer Fehlentwicklung des Gesellschaftslebens in den vergangenen Jahren und der Notwendigkeit einer Besinnung auf die ursprünglichen Vereinsziele läßt sich — wie es zumeist in den Gesellschaften geschah — nicht nur auf die nationalsozialistische Diktatur zurückführen. Weder waren die bürgerlichen Vereinigungen im Dritten Reich nur Opfer des Regimes noch läßt sich die Aufgabe überkommener Prinzipien allein auf die Jahre zwischen 1933 und 1945 zurückführen. Anfänge ihrer Preisgabe sind zumindest schon im Wilhelminischen Deutschland zu erkennen, in einer Entwicklungsphase der Gesellschaften also, in der sie auf dem Höhepunkt ihres wirtschaftlichen Reichtums wie ihres gesellschaftlichen, kulturellen und auch politischen Einflusses standen. Die Besinnung auf die Anfange gemeinsamer Lektüre und Bildungspflege weist allerdings noch über diese Epoche hinaus auf die Ursprünge der älteren Bürgervereine hin, die selbst als Lesegesellschaft begründet wurden oder in ihrer Tradition standen. Schon 1770 war mit der Krefelder Societät die erste Lesegesellschaft im westdeutschen Raum von aufgeklärten Bürgern geschaffen, bis zur Jahrhundertwende weitere acht Vereinigungen begründet

1

Doris und Arnold E. Maurer, 200 Jahre Lese- und Erholungsgesellschaft Bonn 1 7 8 7 — 1987, Bonn 1987, S. 74.

2

Ebenda, S. 11.

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worden. 3 Die aufklärerisch-liberale Tradition, die diese Gesellschaften beherrschte, unterlag aber schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr der Einschränkung. Das zeigte sich sowohl bei der fortschreitenden sozialen Differenzierung der Vereine nach Schichten und Berufsgruppen wie hinsichtlich der Ziele ihrer Tätigkeit. Das Anliegen der Lesegesellschaften der Aufklärungszeit, Angehörige der unterschiedlichen sozialen Schichten und Berufe in ihren Vereinigungen zusammenzuführen und die Verschiedenheit der ständischen und beruflichen Gruppen auszugleichen, 4 wich schon im Vormärz immer mehr einer tendenziellen Beschränkung auf den geselligen Umgang und Austausch innerhalb einer sozial gleichartigen Gruppe. Obwohl die Statuten der Vereine vielfach noch deren Offenheit für Bürger aller sozialen Schichten und Berufe postulierten, 5 waren mit Hilfe der Aufnahmeempfehlungen, der Ballotage und der hohen Eintritts- und Mitgliedsgebühren schon längst Barrieren gegen die Aufnahme nicht gleichrangiger Personen errichtet worden. Die Bürgergesellschaften der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verfügten daher durchweg über eine sozial homogene Mitgliedschaft aus der Akademikerschaft und dem Besitzbürgertum. Die Essener Gesellschaft „Verein" wies 1913 unter insgesamt 269 Mitgliedern nur noch 5 Kleinbürger (1,9 Prozent) auf, 6 beim Club Aachener Casino befand sich unter den von 1870 bis 1914 neu eingetretenen Mitgliedern keine Person, die nach Beruf und sozialer Stellung dem Kleinbürgertum zuzuweisen war. 7 Hinsichtlich der von ihnen verfolgten Ziele hatten die Bürgervereine schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die multifunktionale Zwecksetzung der Lesegesellschaften auf die Pflege von Bildung und Geselligkeit reduziert. Aber auch die „arbeitende Geselligkeit" 8 des Vormärz hatte am Jahrhundertende schon erheblich an Bedeutung verloren. Während der vereinsinterne Austausch von Lebenskenntnis und Bildung, um sich gegenseitig zu belehren, zurücktrat, Bibliotheken und Lesezimmer an Gewicht verloren, an ihre Stelle 3

Es folgten bis 1800 weitere Gesellschaften in Duisburg, Münster, Elberfeld, Moers, Trier, Koblenz, Bonn und Unna. Vgl. Helmut Janson, 45 Lesegesellschaften um 1800 bis heute, Bonn 1963, S. 9 ff.

4

Thomas Nipperdey, Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976, S. 185 f.; Werner Conze, Der Verein als Lebensform des 19. Jahrhunderts, in: Die innere Mission, NF 50, 1960, S. 229; Karl Ruckstuhl, Geschichte der Lese- und Erholungsgesellschaft in Bonn, in: Bonner Geschichtsblätter, Bd. X V , Bonn 1961, S. 49.

5

Friedrich Zunkel, Der Rheinisch-Westfälische Unternehmer, K ö l n , Opladen 1962, S. 81; Nipperdey, S. 186.

6

Borchardt, Die Gesellschaft „Verein" in Essen, Essen 1928, S. 97 ff.

7

Eduard Arens/Wilhelm L. Janssen, Geschichte des Club Aachener Casino, Aachen 1937,

8

Nipperdey, S. 185 f.

S. 206 ff.

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eher allgemeine wissenschaftliche und kulturelle Veranstaltungen wie Vorträge und Konzerte traten, gewannen vor allem Geselligkeit und Erholung nach den Regeln und Aufwandsnormen der eigenen Gesellschaftsschicht überragende Bedeutung. 9 Verbunden war dieser Wandel vor allem in den vornehmen Gesellschaften mit einem zunehmenden Aufwand und Luxus, der im wachsenden Reichtum der Vereine seine Basis fand. Viele von ihnen bauten repräsentative Häuser mit Sälen, Restaurationsräumen, Kegelbahnen sowie Spiel- und Tagungsräumen. Die Bau- und Ausstattungskosten des Gesellschaftshauses der Kölner Lesegesellschaft beliefen sich auf 551 815 Mark. 10 Für den Neubau des Vereinshauses der Barmer Concordia brachten die Mitglieder bis 1909 1328 500 Mark auf. 11 Grundstücke und Gesellschaftshaus einschließlich Inventar, Bibliothek und Weinvorräte der Dortmunder Gesellschaft Casino hatten vor dem Ersten Weltkrieg einen Buchwert von einer Million Mark. 12 Durchweg unterhielten sie auch große Weinbestände, die zum größten Teil weiterverkauft, zum geringeren Teil bei Veranstaltungen in den Gesellschaftsräumen getrunken wurden. 13 Ihr Wert betrug bei der Bonner Lese- und Erholungsgesellschaft 1896 129000 Mark, 1913 bereits 487 000 Mark. 14 Der Weinkonsum der Kölner Lesegesellschaft erreichte im Geschäftsjahr 1910/11 bei einer Vereinsstärke von ca. 670 ordentlichen und 106 außerordentlichen Mitgliedern 103138 Flaschen. 15 Zur alltäglichen geselligen Unterhaltung bei Wein und Spiel kamen immer aufwendigere Bälle, Diners und Festlichkeiten aller Art. Das Festessen des Clubs Aachener Casino zum 100jährigen Bestehen der Gesellschaft umfaßte 12 Gänge und 15 verschiedene Sorten Wein, Sekt und Champagner. 16 Zu den Festlichkeiten der nur Männer als ordentliche Mitglieder akzeptierenden Gesellschaften erhielten auch immer mehr deren Frauen, Söhne und Töchter Zugang. Sie gewannen daher auch Bedeutung als standesgemäße Eheanbahnungsinstitutionen. Obwohl die „arbeitende Geselligkeit" in den bürgerlichen Gesellschaften an Bedeutung verlor, blieb doch der traditionelle Einfluß vor allem der vornehmen Vereine auf das kulturelle und gesellige Leben der Kommunen 9

Vgl. z. B. Ruckstuhl, S. 113.

10

F. Musseieck, Festschrift Lese-Gesellschaft K ö l n , hg. zur Feier des 50. Stiftungsfestes 6. und

11

Festschrift zum 150jährigen Bestehen der Gesellschaft Concordia zu Wuppertal-Barmen,

12

Gesellschaft Casino zu Dortmund 1 8 1 2 — 1 9 6 2 . Gedenkschrift zum 150jährigen Bestehen,

13

Bei der Casino-Gesellschaft zu Coblenz gingen 85 Prozent des Bestandes in den Weinverkauf,

7. Mai 1922, K ö l n 1922, S . 4 1 . 1 8 0 1 - 1 9 5 1 , Wuppertal S. 20. Dortmund 1962, S. 26. 15 Prozent in den Eigenverbrauch. Gesellschaft „Casino zu Coblenz". Festschrift zum 175jährigen Bestehen, Koblenz 1983, S. 50. 14

Ruckstuhl, S. 155.

15

Musseieck, S. 65, 85.

16

Arens/Janssen, S. 67.

Die westdeutschen Bürgergesellschaften

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erhalten. Es scheint sogar, daß dieser Einfluß noch zunahm und in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende seine größte Ausdehnung erhielt. Begründet war er zum einen in den kulturellen und geselligen Initiativen, die von den Gesellschaften selbst ausgingen. Sie arrangierten Vortragsveranstaltungen, Konzerte und Theateraufführungen, 17 organisierten vielfach in Zusammenarbeit mit anderen örtlichen Vereinen kommunale Feste 18 und betätigten sich auch als Förderer kultureller und historischer Einrichtungen in ihrer Stadtgemeinde. 19 So gehörte die Kölner Lesegesellschaft zu den Begründern des „Kölner Volksbildungsvereins". Ebenso rief sie einen eigenen Gesangverein ins Leben, während andere Gesellschaften sich eigene Sportvereinigungen anschlössen. 20 Ebenso gewichtig wie diese Initiativen der Gesellschaften wurde aber die Bereitstellung der eigenen, am Ort häufig größten und bestausgestatteten Säle und Räume für öffentliche und geschlossene Veranstaltungen öffentlicher und privater Institutionen. So hieß es 1875 in einem Bericht der Regierung Trier über die am Ort befindliche Casino-Gesellschaft, daß sie für die „bessere Gesellschaft" ein „wahres Bedürfnis" geworden sei. Durch ihre mit politischen und wissenschaftlichen Zeitschriften ausgestatteten Lesezimmer, ihre Räume und deren Hergabe zu Musikaufführungen und patriotischen Festlichkeiten sei sie der Hauptsammelpunkt für den gebildeten Teil der Trierer Einwohnerschaft „zu gemeinsamer geistiger und körperlicher Erholung" geworden. 21 Die Säle und Räume der Bonner Lese- und Erholungsgesellschaft wurden 1909 allein 122mal zu Privatzwecken genutzt. 22 In Koblenz waren bis zur Errichtung der Stadthalle im Jahre 1901 die Säle und Räume der Casino-Gesellschaft am Ort die einzige Repräsentationsstätte der Staats- und Justizbehörden, der Stadtverwaltung und des Offizierkorps. 23 Dem Grad an sozialer Exklusivität entsprach auch das Ausmaß des politischen Einflusses, den die Gesellschaften beziehungsweise Mitgliedergruppen in ihnen ausübten, obwohl sie zumeist für sich in Anspruch nahmen, politisch 17

Liebhabertheater unterhielten z. B. die Gesellschaft Casino in Dortmund und Union in

18

So z. B. Schützenfeste und Karnevalsveranstaltungen.

Barmen. 19

Die in der Trierer Casino-Gesellschaft befindlichen Stadtverordneten trugen 1900 wesentlich zur Erhaltung der „Steipe" für die Stadt bei. Die Koblenzer Casino-Gesellschaft leistete z. B. namhafte Spenden für Denkmäler. Vgl. Peter Franz Schmidt, Geschichte der CasinoGesellschaft Trier, Trier 1955, S. 55; Gesellschaft Casino zu Coblenz, S. 27 f.

20

90 Jahre Lesegesellschaft zu K ö l n von 1872, o. O. 1962, S. 2 7 f . , 5 0 f f . ; Jubiläum der FreitagAbend-Kegelgesellschaft 1 9 1 1 — 1981 der Gesellschaft Harmonie in Bochum (Maschinenschrift), o. O. o. J., o. S.

21

Bericht an Oberpräs., 30. 12. 1875. L H A K , Oberpräs. 403/8823.

22

Adolf D y r o f f , Festschrift zur Feier des 150jährigen Bestehens der Lese- und Erholungsgesell-

23

Gesellschaft Casino zu Coblenz, S. 21.

schaft zu Bonn 1 7 8 7 - 1 9 3 7 , Bonn 1937, S. 43.

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Friedrich Zunkel

neutral zu sein. Bis zum Ersten Weltkrieg behaupteten sie die bereits vor der Märzrevolution gewonnene Bedeutung für die informelle Besprechung öffentlicher Verhältnisse und politischer Ereignisse, für den Austausch von Gedanken und Ideen und für die Vorentscheidung wichtiger, das Wirtschaftsleben und die regionale oder lokale Politik betreffender Beschlüsse. 24 In den Gesellschaften fanden vielfach die Honoratiorengruppen eine Basis, die die Kandidatenaufstellung bei Reichs- und Landtagswahlen für die konservativen und liberalen Parteien organisierte beziehungsweise beeinflußte. Vor allem auf die Entwicklung und Politik der mit der Industrialisierung rasch wachsenden Städte gewannen sie dank Zensuswahlrecht und Steuergesetzgebung entscheidenden Einfluß. In ihnen wurden die Kandidatenaufstellungen für die Stadtratswahlen in den beiden ersten Wahlklassen festgelegt, mancherorts auch schon die Wahl in der ersten Klasse vorentschieden. Nur in den katholischen Kommunen und den reinen Arbeiterstädten war die vorherrschende Stellung der Bürgervereine teilweise umstritten. 25 Zumeist gehörten auch die Bürgermeister und höheren Beamten der staatlichen und kommunalen Verwaltungen den Gesellschaften an, deren Mitglieder über sie beziehungsweise die den Vereinen angehörenden Stadtverordneten Einfluß auf die Kommunalpolitik nehmen konnten. Doch beinhalteten diese Einwirkungen nur noch zum Teil Zielsetzungen, von denen „gemeinnützige Auswirkungen" im Sinne der alten Lesegesellschaften erwartet werden konnten. Neben Einsatz und Leistung zum Wohle der Kommunen stand vielfach auch eine reine Interessenpolitik, durch die sowohl die Steuer- und Baupolitik der Städte einseitig zum Vorteil der Besitzenden genutzt und die sozialen Verhältnisse vielfach negativ beeinflußt wurden. 26 Gegenüber dem Vormärz grundsätzlich verändert hatte sich aber auch die politische Einstellung der Mitglieder der meisten Bürgervereine. An die Stelle eines Fortschrittsoptimismus, der an die Verbesserung der politischen Institutionen und Zustände im liberalen Sinne glaubte und sie herbeizuführen suchte, 27 war eine eher konservative Haltung getreten, die 24

Vgl. dazu das Beispiel der Kölner Gesellschaft Casino bei Beate-Carola Padtberg, Rheinischer Liberalismus in Köln während der politischen Reaktion in Preußen nach 1848/49, Diss. Köln 1985, S. 31 f.

25

Vgl. Helmut Croon, Die gesellschaftlichen Auswirkungen des Gemeindewahlrechts in den Gemeinden und Kreisen des Rheinlands und Westfalens im 19. Jahrhundert, Köln, Opladen 1960, S. 24, 28. Aufgrund der unterschiedlichen Steuerkraft der Städte wählten in Köln viele Beamte, Rechtsanwälte, Notare, Ärzte und sogar der Regierungspräsident und der Oberlandesgerichtspräsident in der 3. Abteilung, in Oberhausen dagegen viele Handwerker und Werkmeister in der 2. Vgl. auch Horst Matzerath, Urbanisierung in Preußen 1815 bis 1914, Stuttgart u. a. 1985, S. 358; Schmidt, S. 55; Borchardt, S. 38; Wolfgang Hofmann, Die Bielefelder Stadtverordneten, Lübeck, Hamburg 1964, S. 41.

26

Vgl. z. B. Hofmann, S. 139 ff.; Karlbernhard Jasper, Der Urbanisierungsprozeß dargestellt

27

Nipperdey, S. 198.

am Beispiel der Stadt Köln, Köln 1977, S. 118, 159 ff.

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35

sich mit dem Erreichten begnügte und es zu erhalten suchte. Politisch liberale Anschauungen, vor allem aber sozialistische Positionen fanden in ihnen zumeist scharfe Ablehnung. Erhalten blieb dagegen ein starkes Nationalbewußtsein, das nun im Bekenntnis zu Monarchie und nationaler Größe seinen Ausdruck fand. In den Gesellschaften führte es zum regelmäßigen Begehen der nationalen Fest- und Gedenktage wie der Reichsgründung, Kaisers Geburtstag, der Schlacht von Sedan, zur Ausstattung der Vereinshäuser mit Symbolen nationaler Bedeutung und zur Pflege nationaler geistiger und kultureller Werte im alltäglichen Vereinsleben. Nationale Gesinnung und Opferbereitschaft zeigten die Gesellschaften im Weltkrieg, in dem sie durch eine Fülle von Spenden und Hilfsmaßnahmen hervortraten. Fast alle Gesellschaften stellten Räume für das „Rote Kreuz", für patriotische Vereine und für Lazarette zur Verfügung, spendeten Wein für Verwundete und Kriegshelden und zeichneten selbst bzw. durch ihre Mitglieder Kriegsanleihen. 28 Auch waren ihre Räume zweifellos Stätten patriotischer Gesinnung und Siegeszuversicht, die sich vor allem in der Verehrung der Person Hindenburgs manifestierte. 29 Umso schwerer traf der Zusammenbruch des Kaiserreichs 1918 die Gesellschaften, die zum Teil die Beschlagnahmung ihrer Vereinshäuser durch die alliierten Besatzungstruppen hinnehmen mußten. Ökonomisch waren sie weniger durch die Inflation, als durch die verlorenen Einnahmen aus den Vermietungen ihrer Räume und aus den eingeschränkten oder ganz aufgehobenen Restaurationsbetrieben belastet. Einen finanziellen Ausgleich fanden sie allerdings durch die Beiträge der rasch anwachsenden Zahl neuer Mitglieder, die nach den entbehrungsreichen Jahren des Weltkriegs dem Wunsch nach geselliger Gemeinschaft und Unterhaltung nachgaben. Auch wuchs anscheinend das Bedürfnis, sich angesichts der politischen Entwicklung in der eigenen sozialen Gruppe enger zusammenzuschließen. Die Essener Gesellschaft Verein verdoppelte die Zahl ihrer ordentlichen Mitglieder von 285 1918 auf 567 1924, 30 die Bonner Lesegesellschaft erreichte 1925 mit 836 ordentlichen Mitgliedern den höchsten Personenstand. 31 Einzelne Gesellschaften sahen sich sogar gezwungen, angesichts ihrer beschränkten Räumlichkeiten ein Aufnahmelimit festzusetzen. Die Duisburger Societät erließ nach der Aufnahme von 67 neuen Mitgliedern 1922 am Ende des Jahres eine 18mona28

Vgl. Alef, Geschichte des Casinos von 1908 bis 1948, in: 150 Jahre Casino zu Coblenz 1808 -

1958, Koblenz 1958, S. 20 f.; Maurer/Maurer, S. 61; Gesellschaft Union in Barmen,

Barmen 1 9 1 9 , S. 20 ff.; Musseieck, S. 75. 29

Die Casino-Gesellschaft in Koblenz bot ihrem ehemaligen Mitglied Hindenburg die Ehrenmitgliedschaft an, in der Bonner Lese- und Erholungsgesellschaft wurde einer der Stammtische nach ihm benannt. Alef, S. 20; D y r o f f , S. 77.

30

Karl Mews, Gesellschaft Verein Essen 1 9 2 8 - 1 9 5 3 , Essen 1953, S. 84.

31

Maurer/Maurer, S. 63.

36

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tige Aufnahmesperre, 32 in der Gesellschaft Union in Wuppertal mahnte der Vorsitzende die Mitglieder, in Zukunft weniger neue Herren vorzuschlagen, nachdem die Zahl der wirklichen Mitglieder von 1922 bis 1924 um 61 gestiegen war. 33 Andererseits führte der Nachwuchsmangel in den Gesellschaften zur Sorge, den begrenzten Kreis einer gesellschaftlich gleichrangigen Schicht in den Vereinen in Zukunft nicht erhalten zu können. Der Vorsitzende der Union erinnerte daher die Mitglieder an die Tradition des Klubs, ihre Söhne diesem zuzuführen. 34 Andere Vereine wie die Kölner Lesegesellschaft suchten durch die Begründung von Tanzlehrgängen, Tennisvereinen, Laienspielgruppen und Kegelclubs junge Mitglieder an ihn zu binden. 35 Seit der Mitte der zwanziger Jahre aber stagnierten die Mitgliederzahlen und mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise und den steigenden finanziellen Schwierigkeiten der Gesellschaften gingen sie rapide zurück. Immer mehr Mitglieder sahen sich außerstande, die Mitgliedsbeiträge zu zahlen, obwohl diese wegen der Not vielfach gesenkt wurden. Sie mußten um Stundung bzw. Reduzierung der Beiträge bitten oder die Mitgliedschaft in der Gesellschaft aufgeben. Hinzu kam, daß die Leistungen und Veranstaltungsangebote der Gesellschaften aus Kostengründen stark reduziert werden mußten. Die Mitgliederzahlen der Bonner Lese- und Erholungsgesellschaft, die infolge hoher Verschuldung und des Verschwindens ihres ebenfalls hoch belasteten Ökonomen im Karneval 1931 in größte finanzielle Schwierigkeiten geriet, sank von 748 am 1. 1. 1930 auf 527 Ende 1933, 36 die Gesellschaft Union in Wuppertal büßte 1930 und 1931 zusammen 79, das heißt etwa ein Viertel der Mitglieder aus wirtschaftlichen Gründen ein. 37 Zweifellos wurden daher auch in den Gesellschaften während der großen Depression wirtschaftliche Motive für eine Ablehnung der bestehenden Republik und für die Erwartung einer Besserung der Verhältnisse durch eine politische Veränderung geweckt. Erheblich stärker waren in dieser Hinsicht allerdings die rein politischen Antriebe, die im Laufe der Weimarer Republik anscheinend an Gewicht gewannen. Trotz der politischen Erschütterung, die die deutsche Niederlage 32

Linzen, S. 42, 98. Das Casino in Koblenz schränkte die Aufnahme neuer Mitglieder auch wegen der Verknappung seiner Weinbestände ein. Alef, S. 21; in der Bonner Lese- und Erholungsgesellschaft wurde erstmalig schon am 2. 6. 1920 beschlossen, bis zur Genehmigung einer neuen Satzung keine neuen Mitglieder aufzunehmen. StAB, Lese und Erholungsgesellschaft Nr. 20.

33

Geschäftsberichte f ü r 1926, 28. 1. 1927, f ü r 1927, 2. 2. 1928. Gesellschaft Union, WuppertalBarmen, Protokollbuch 1 9 1 7 - 1 9 3 8 .

34

Ebenda.

35

90 Jahre Lesegesellschaft, S. 52 ff.

36

Ruckstuhl, S. 164; vgl. auch für die Casino-Gesellschaft zu Koblenz Alef, S. 22 f., für die

37

Generalversammlungen, 1. 2. 1931 und 29. 1. 1932. Gesellschaft Union, Wuppertal-Barmen,

Gesellschaft „Verein" in Essen Mews, S. 61 f. Protokollbuch 1 9 1 7 - 1 9 3 8 .

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37

und der Zusammenbruch des Wilhelminischen Reiches bei den zumeist national und monarchistisch gesinnten Mitgliedern der Vereine hervorriefen, war man doch zumindest in den ersten Jahren der Republik bereit, dem demokratischen System Rechnung zu tragen. Das zeigen einige begrenzte Satzungsänderungen, durch die demokratische Prinzipien stärker zur Geltung gebracht wurden. Im Aachener Casino, das sich 1919 mit dem Club Continental zum Club Aachener Casino zusammenschloß, wobei sich die Aufteilung der Vereinsfunktionen unter den Vorständen nach Meinung der Autoren 38 inmitten einer von neuen demokratischen Ideen „angekränkelten" Zeit aufgrund „wohlverstandener. Führerschaft" besser durchgesetzt hatte, als es hundert Jahre davor bei einer nicht allgemein gebilligten Maßnahme des Vorstandes der Fall gewesen wäre, wurde 1920 festgelegt, daß der Vorsitzende, sein Stellvertreter und die Rechnungsprüfer unmittelbar von der Generalversammlung zu wählen seien. Mit der Formel, daß die Hauptversammlung für alle Angelegenheiten zuständig sei, die der Vorstand nicht ausdrücklich zugewiesen erhalten hat, wurde in der Bonner Lese- und Erholungsgesellschaft das demokratische Prinzip wieder zur Geltung gebracht, das ihre erste Satzung bestimmt hatte, 39 während das Casino in Trier beschloß, die Einnahmen aus dem Weinhandel stärker den Mitgliedern und zwar vor allem ihrer wissenschaftlichen Bildung zukommen zu lassen. 40 Angesichts der Begrenztheit dieser Reformen und angesichts der auch weiterhin gesicherten sozialen Kontrolle bei der Zulassung neuer Mitglieder, blieb die Beschränkung der Gesellschaften auf die bürgerliche Oberschicht auch in der Weimarer Republik erhalten. Mit Hilfe der in ihren Reihen befindlichen Bürgermeister, Parteipolitiker und Staatsbeamten behaupteten sie auch einen gewissen Einfluß vor allem auf die Kommunalpolitik der Städte. 41 Doch wuchsen mit der Ausbildung des demokratischen Parteienstaats auch die politischen Auseinandersetzungen in den eigenen Reihen. Sie konnten auch die Wahlentscheidungen über die Vereinsvorstände erfassen, wie das Beispiel der Kölner Lesegesellschaft zeigt. In diesem durch liberale Traditionen geprägten Verein kämpften im Sommer 1927 eine liberal-demokratische und eine deutschnationale Gruppe um die Besetzung des Vorstandes, wobei die letztere den Sieg errang. 42 38 39 40 41

42

Arens/Janssen, S. 73 ff. Ruckstuhl, S. 158. Schmidt, S. 65 f. Die Bonner Lese- und Erholungsgesellschaft setzte sich nach Ruckstuhl, S. 161 f., 1928 aus 478 (55 Prozent) Akademikern, darunter 77 Professoren, 202 höhere Beamte und 122 freie Akademiker, 287 (35 Prozent) in der Wirtschaft selbständig oder in leitender Stellung stehenden Personen sowie 29 Rentnern und 33 Offizieren im Ruhestand zusammen. Ähnlich war die Zusammensetzung bei den anderen Gesellschaften. Die schwarzweißrote Lesegesellschaft, Rheinische Zeitung, 3. 6. 1927.

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Dieses Ergebnis entsprach der vorherrschenden konservativen und nationalen Ausrichtung der Bürgergesellschaften, die tendenziell im Laufe der Weimarer Republik eher zunahm. Sie war besonders bei den rheinischen Gesellschaften ausgeprägt, die jahrelang die Besetzung und Beschlagnahme ihrer Gesellschaftsgebäude durch die Besatzungstruppen in Kauf nehmen mußten. 43 So sah sich der Vorstand der Bonner Lese- und Erholungsgesellschaft im Mai 1923 „im Interesse des Fortbestehens der Gesellschaft" veranlaßt, in dem von der französischen Besatzungsmacht nicht beschlagnahmten Laubengebäude und Keller „das Singen von Liedern als auch das Führen von politischen Gesprächen zu verbieten." 44 Uber dem Gebäude der Uerdinger CasinoGesellschaft wurde bei dessen Neueinweihung nach jahrelanger Besetzung die alte schwarzweißrote Fahne aufgezogen, 45 in der Kölner Lesegesellschaft fand bei der Hauptversammlung am 28. Mai 1927 neben der Ehrung der verstorbenen Vereinsmitglieder auch die Albert Leo Schlageters statt, 46 und von der Bonner Lesegesellschaft wurden zwei Mitglieder ausgestoßen, die an der separatistischen Bewegung in den Rheinlanden teilgenommen hatten. 47 Mit diesem Nationalismus verband sich wohl zumeist eine kritische Einstellung zu dem demokratischen Staat, mit dem sich die politische Schwäche gegenüber den Siegermächten verband und mit dem verstärkt Parteigegensätze und Parteikämpfe in das öffentliche Leben eingezogen waren. Diesen Verhältnissen wurden vielfach die vergangenen Jahre nationaler Größe, der idealisierte alte deutsche Gemeinschaftssinn und die nationale, nicht aber die freiheitliche Tradition der eigenen Gesellschaft entgegengestellt. Am deutlichsten wurde diese Einstellung in den politischen Übersichten, die die Vorsitzenden der Casino-Gesellschaft Uerdingen bei Beginn der Generalversammlungen gaben. So führte der in seiner Gesellschaft hochverehrte Vorsitzende im Januar 1930 zum Reparationsproblem aus, das mit dem YoungPlan aktualisiert worden war, daß man mit dieser Last nur fertig werden könne, wenn alle gutgesinnten Deutschen ihre Pflicht erfüllten und „wenn vor allem gleichzeitig in Staat und Kommune Ordnung und Einfachheit wie in der Vorkriegszeit herrscht, wenn alte deutsche Treue und Ehrlichkeit aufs neue sprichwörtlich werden, wenn statt überflüssiger Worte und Reden allein die Tat wieder Geltung hat." 48 43

Besonders betroffen war davon der Club Aachener Casino, der nach der Beschlagnahme des Vereinshauses ein neues erwarb, das dann ebenfalls 1923 beschlagnahmt wurde. Arens/ Janssen, S. 74 f.

44

Vorstandsprotokoll, 8. 5. 1923. StAB, Lese- und Erholungsgesellschaft Nr. 21.

45

Außerordentliche Generalversammlung, 20. 6. 1926, Casino-Gesellschaft Uerdingen, Proto-

46

Rheinische Zeitung, 3. 6. 1927.

kollbuch 1 9 2 3 - 1 9 2 9 , S. 78 47

StAB, Lese- und Erholungsgesellschaft Nr. 22, S. 12; Nr. 23, S. 25 f.

48

Generalversammlung, 6. 1. 1930. Casino-Gesellschaft Uerdingen, Protokollbuch 1929 — 1947.

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39

Die nationalsozialistische Machtergreifung, die drei Jahre später erfolgte, wurde zweifellos in vielen Gesellschaften von einem erheblichen Teil oder gar von der Mehrheit der Mitglieder begrüßt — und das nicht nur etwa allein von Angehörigen der NSDAP. Wie sehr die mit der Machtergreifung teilweise ausgelöste Euphorie nachwirkte, zeigen Ausführungen des Präsidenten der Freitag-Abend-Kegelgesellschaft in der noch nicht dem Führerprinzip unterworfenen Bochumer Harmonie im Kontext eines so unpolitischen Vorgangs wie der Einladung zur Weihnachtsfeier 1933: „Wer hätte sie nicht herbeigesehnt, die nationale Erhebung, die mit der welthistorischen Tat unseres greisen, verehrungswürdigen Staatsoberhaupts am 30. 1. 33 eingeleitet wurde? Und wer wäre nicht innerlich beglückt über diese mit unerhörtem Schwung durchgeführte Revolution, die unserm Volk nach jahrelanger Verelendung, Ohnmacht und Zerrissenheit endlich wieder Arbeit und Brot, Ehre, Gleichberechtigung und Frieden bringen wird? Das einzigartige Abstimmungsergebnis des 12.11.33 ist der beste Beweis für das Vertrauen, das diese Politik unserer neuen Regierung im Volke findet, gleichzeitig aber auch ein weithin sichtbares Zeichen des unauslöschlichen Dankes der gesamten Nation an unsern Führer Adolf Hitler, des deutschen Reiches Kanzler." 49 Solch Jubel erhielt allerdings schon sehr bald einen Dämpfer. Nach vorherrschender Auffassung in der NSDAP hatten die bürgerlichen Gesellschaften im nationalsozialistischen Deutschland keine Existenzberechtigung. Sie waren aus ihrer Sicht reaktionäre Klassenvereinigungen, die die Ausbildung einer „wahren" Volksgemeinschaft verhinderten. 50 Ein Lebensrecht konnte ihnen nur dann eingeräumt werden, wenn sie neben der formalen Gleichschaltung der Vereinsvorstände durch Übernahme des Führerprinzips „äußerlich und innerlich" einen Gesinnungswandel zum Nationalsozialismus vollzogen. 51 Obwohl diese Voraussetzungen noch nicht bestanden, wurden die Gesellschaften in den Monaten nationalsozialistischen Terrors bis auf einzelne geringere Übergriffe 5 2 weitgehend in Ruhe gelassen. Auch unterlagen sie nicht wie die meisten Turn-, Sport-, Schützen-, Gesang- und sonstigen Vereine 49

Einladung v o m 27. 11. 1933 zur Weihnachtsfeier am 15. 12. 1933, abgedruckt in: Jubiläum der Freitag-Abend-Kegelgesellschaft 1 9 1 1 — 1 9 8 1 , o. S.; vgl. auch Mews, S. 62.

50

Gestapoamt Berlin, 12. 11. 1934 an Stapostellen, H S t A D , R W 18/1, Bl. 228; Bericht, 7. 3. 1937 über Cassino-Gesellschaft Mayen, L H A K 662,6 Nr. 4 1 5 ; Johannes Heuermann, 150 Jahre Clubgesellschaft Hamm/Westf. 1 8 1 1 - 1 9 6 1 , Hamm 1961, S. 48.

51

So Artikel „Vom Sieben-Mann-Verein zur Sozietät", Duisburger General Anzeiger Nr. 175, 28. 6. 1936, in: H S t A D , R W 58, Nr. 1 8 1 9 .

52

In K ö l n verlangte z. B. der neue Leiter der Kulturabteilung der Stadt, daß die Lesegesellschaft ihre Räume nicht mehr den privaten Karnevalsgesellschaften, sondern den Organisationen der N S D A P zur Verfügung stelle. Auch wurde anscheinend schon sehr früh v o m Ortsgruppenleiter die Forderung nach Einführung des Führerprinzips erhoben. Musseieck, S. 71 f.; in Trier wurde der Vorstand der Casino-Gesellschaft von der Kreisleitung der N S D A P veranlaßt, die Mitglieder zur geschlossenen Wahlbeteiligung mit ihren Angehörigen am 12.

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40

s c h o n 1 9 3 3 d e r G l e i c h s c h a l t u n g . 5 3 N u r die F r e i m a u r e r l o g e n , die R o t a r y C l u b s u n d die S c h l a r a f f i a - V e r e i n e w u r d e n t r o t z teilweise w e i t g e h e n d e r Z u g e ständnisse an das n e u e R e g i m e d u r c h die e r z w u n g e n e n A u s t r i t t e d e r Parteigenossen

54

zu e i n e m k ü m m e r l i c h e n D a h i n v e g e t i e r e n

oder zur

Liquidation

v e r u r t e i l t 5 5 . D i e U r s a c h e n dieser Z u r ü c k h a l t u n g d e r Partei scheinen m e h r e r e g e w e s e n zu sein. S o w i r d m a n a n n e h m e n k ö n n e n , d a ß die k o n s e r v a t i v e u n d n a t i o n a l p o l i t i s c h e A u s r i c h t u n g d e r G e s e l l s c h a f t e n e b e n s o w i e die Tatsache, daß in i h n e n b e d e u t e n d e W i r t s c h a f t s f ü h r e r , W i s s e n s c h a f t l e r u n d B e a m t e v e r k e h r t e n , die N S D A P d a v o r z u r ü c k h i e l t , g e g e n sie v o r z u g e h e n , b e v o r sie ihre M a c h t k o n s o l i d i e r t hatte. H i n z u k a m w o h l die Einsicht, d a ß d e m menschlichen B e d ü r f n i s nach G e s e l l i g k e i t u n d U n t e r h a l t u n g auch i m n e u e n

Staat

R e c h n u n g g e t r a g e n w e r d e n m ü s s e , 5 6 u n d es d a h e r besser sei, statt die B ü r g e r v e r e i n e a u f z u l ö s e n , sie i m nationalsozialistischen S i n n e u m z u f o r m e n .

53

54

55

56

November 1933 aufzufordern. Schmidt, S. 71; vgl. Schwartz, Festschrift 150 Jahre Ressource zu Soest, Soest 1953, S. 14. Dazu vor allem die Berichte in den Spalten „Aus Vereinen und Verbänden" des Westdeutschen Beobachters, 9. Jg. 1933. Z. B. änderte die Kölner Schlaraffia, um dem neuen Regime entgegenzukommen, schon durch Satzungsänderung am 16. 4. 1933 ihren Namen in „Nationaldeutsche Schlaraffia" um und machte die Mitgliedschaft vom Nachweis der Deutschstämmigkeit im Sinne des Beamtengesetzes abhängig. Nichtarier sowie Mitglieder, gegen die im Zusammenhang mit der nationalen Erhebung ein Straf- oder Disziplinarverfahren durchgeführt werde, sollten sofort ausgeschlossen werden. Auch wurde ein neuer Vorstand von 6 Personen, die ausschließlich der NSDAP angehörten, gewählt. Doch bestand die Parteiführung darauf, daß Parteigenossen wegen ihres angeblich logenähnlichen Charakters nicht Mitglieder der Schlaraffia sein könnten. Vor die Alternative gestellt, entweder die Mitgliedschaft in der NSDAP oder die Zugehörigkeit zur Schlaraffia aufzugeben, traten die Parteigenossen aus dieser aus. HStAD, Amtsgericht Köln, Nr. 48, Bl. 72; Rundschreiben des Vorsitzenden der USCHLA, Walter Buch, abgedr. in: Mitteilungsblätter des Gaues Köln-Aachen 3. Jg. Folge 23, Sept. 1933, HStAD, RW 23, Nr. 102, Bl. 20 R. Zu Wesen und Verbreitung der Schlaraffia-Vereine vgl. Chronik des Verbandes Allschlaraffia zur Hundertjahrfeyer in Norimberga, 2 Bde., Bonn 1959. Obwohl auch auf die Parteigenossen in den Rotary-Clubs Druck ausgeübt wurde, diese zu verlassen, gab es noch 1937 Mitglieder der NSDAP in ihnen. Es handelte sich zumeist um Wirtschaftsführer und hohe Beamte. Sie wurden im Herbst 1937 verpflichtet, die Clubs zu verlassen, die sich darauf zumeist selbst auflösten. Bericht Stapo-Außendienststelle Wuppertal an Stapostelle Düsseldorf, 7. 6. 1937, HStAD, RW 58, Nr. 3725, Bl. 3; Mitteilungsblatt der NSDAP, Gau Köln-Aachen, 7. Jg., Folge 11, Nov. 1937, S. 1. Die Logenauflösungen erfolgten gemäß Geheimerlaß Gestapoamt Berlin, 10. 4. 1937. Gestapo Wuppertal an Polizeipräs., 2. 6. 1937, HStAD, BR 1035, Nr. 296. Die SchlaraffiaVereine lösten sich „auf Wunsch der Reichsregierung" selbst auf. Außerordentl. Hauptversammlungen der Schlaraffia Colonia Agrippina, 13. 2. 1937, und der Schlaraffia Eberfeldensis, 17. 2. 1937. HStAD, Amtsgericht Köln VR 48; Amtsgericht Wuppertal 165/187, Bl. 58. Ebenso beschloß der Rotary-Club Köln, 15. 10. 1937 seine Liquidation. Mitteilungsblatt der NSDAP, Gau Köln-Aachen, 7. Jg. Folge 11, Nov. 1937, S. 1. Duisburger General Anzeiger Nr. 175, 28. 6. 1936.

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41

Die Partei begann daher erst um die Jahreswende 1933/34 den sich zum Teil über mehrere Jahre hinziehenden Gleichschaltungsprozeß bei den Gesellschaften generell einzuleiten. Durch direkte Anweisung der Ortsgruppenoder Kreisleiter bzw. durch Anträge der Parteimitglieder in den Gesellschaften wurde die Einberufung außerordentlicher Mitgliederversammlungen und auf diesen das Bekenntnis zum neuen Staat und die Einführung des Führerprinzips erzwungen. Die Mitglieder mußten aus ihren Reihen einen Vereinsführer wählen, der Parteigenosse war, und die Satzungen der Gesellschaft so ändern, daß dieser die volle Leitungsgewalt erhielt. Zu seiner Beratung und Unterstützung erhielt er das Recht, nach eigener Wahl Mitglieder in die einzelnen Vereinsämter und in einen sog. Führerrat zu berufen. Den Mitgliederversammlungen, in denen an die Stelle der geheimen die offene Stimmabgabe trat, blieben nur die Wahl des Vereins- und Rechnungsführers, die Akzeptanz der Jahresetats und Entlastung des Vereinsführers bzw. Kassenwarts sowie die Entscheidung über Statutenänderungen und Auflösung der Gesellschaft. Doch mußte dem zuständigen Regierungspräsidenten vielfach noch ein Einspruchsrecht für den Fall der Wahl eines „für den Staat nicht tragbaren Vereinsführers" eingeräumt werden. 57 Die Aufnahme neuer Mitglieder lag nun allein beim Vereinsführer unter Mitwirkung des Führerrats. Doch war er in besonderen Fällen auch verpflichtet, die Genehmigung der lokalen Parteidienststellen zur Aufnahme eines Bewerbers einzuholen. Nicht aufgenommen werden durften bzw. auszuschließen waren alle Nichtarier gemäß den einschlägigen gesetzlichen Regelungen des Regimes. 58 Auch wurde die „Säuberung" der Bibliotheken von Büchern jüdischer und sog. „entarteter" Autoren durchgesetzt. Aus der Bücherei der Bonner Lese- und Erholungsgesellschaft mußten 262 Titel von insgesamt 102 überwiegend namhaften Autoren wie Alfred Döblin, Franz Kafka, Thomas und Heinrich Mann und Stefan Zweig entfernt werden. 59 Der Gleichschaltungsprozeß vollzog sich allerdings je nach Eifer und Radikalität der regionalen oder örtlichen Parteifunktionäre wie auch nach dem mehr oder weniger großen Verhandlungsgeschick der Vereinsvorstände sehr unterschiedlich und teilweise auch in zwei Schritten, da die von der Reichspropagandaleitung 1938 angeordnete ständige direkte Fühlungnahme zwischen Partei und Vereinen in Einzelfällen zur Festlegung neuer Satzungen führte, die dies gewährleisteten. 60 In Hamm wurde die Nichtzulassung eines 57

58

59 60

So z. B. Paragraph 5 der Satzung der Gesellschaft Casino zu Coblenz, StAK, ProtokollBuch. Wenn auch unterschiedlich formuliert, so zeichneten doch die genannten Merkmale die meisten der Satzungen der untersuchten Gesellschaften aus. StAB, Lese- und Erholungsgesellschaft Nr. 44; Alef, S. 23. Rundschreiben Nr. 5/41 der NSDAP Gauleitung Koblenz-Trier, 5. 3. 1938. Die CasinoGesellschaft Trier benannte darauf am 19. 3. 1938 einen Parteigenossen als Verbindungsmann zum neu geschaffenen Kreis-Ring für nationalsozialistische Propaganda und Volksaufklärung.

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Friedrich Zunkel

Losverkäufers des Winterhilfswerks zu den Festräumen der Klubgesellschaft während eines Karnevalfestes im Februar 1934 für die örtlichen Parteiorganisationen zum Anlaß, gegen die Gesellschaft vorzugehen. Die lokale Presse, der NSBO und die Kreisleitung der NSDAP, die das Klubhaus der Gesellschaft in den Besitz der Partei bringen wollten, forderten deren Auflösung. Auch wurden zwei Vorstandsmitglieder des Vereins für einen Tag in Schutzhaft genommen. Nur duch die Zustimmung zur Gleichschaltung konnte die Gesellschaft die stärksten Angriffe abwehren. Doch hielten die Anfeindungen durch die Kreisleitung auch weiter an, bis schließlich die Zulassung des Offizierskorps der wiedererrichteten Garnison zur Klubgesellschaft sie zum Erliegen brachte. 61 Die feindselige Einstellung des Gauleiters Gustav Simon, der in öffentlicher Versammlung in Koblenz erklärte, daß der Casino-Geist verschwinden müsse, wirkte sich in Koblenz und Trier auf das Vorgehen der Partei gegen die Bürgervereine aus. So forderte der Gauinspektor von den Parteigenossen in der Casino-Gesellschaft Trier, daß sie zum 10. Januar 1934 ihren Austritt aus der Gesellschaft erklären sollten. Diese Maßnahme wurde allerdings bald widerrufen. 62 In der Folge betrieb die Partei neben der Gleichschaltung der Casino-Gesellschaften beider Städte deren Umwandlung in Volkskameradschaftshäuser, die den nationalsozialistisch gesinnten Volksgenossen offen stehen sollten. Voll verwirklicht wurde das Projekt allerdings nur in Koblenz, wo das „Casino Volkskameradschaftshaus" durch Herabsetzung der Eintritts- und Beitragsgebühren sowie durch die zusätzliche Bindung der Mitglieder an die Voraussetzung, durch Lebensführung und Persönlichkeit die Gewähr dafür zu bieten, daß sie „jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat und die den Staat tragende nationalsozialistische Bewegung eintreten" werden, einem neuen Personenkreis geöffnet wurde. 63 In Trier blieb das Casino in der alten Form bestehen, doch mußte in die Satzungen von 1937 über die Regelungen von Koblenz hinaus noch die Gewährung besonderer Rechte für politische Leiter der NSDAP und Angehörige von Parteigliederungen sowie der Verlust der Vereinsmitgliedschaft bei Ausschluß aus der Partei und ihren Organisationen aufgenommen werden. 64 L H A K , 662,3, Nr. 145, S. 335, 377 ff. Satzungsänderungen im Sinne einer engeren Bindung an die Partei nahm in Krefeld die Gesellschaft „Verein" vor. Beirats-Sitzung, 14. 12. 1938, Casino-Gesellschaft, Krefeld-Uerdingen, Protokollbuch 1929 — 1947. 61

Heuermann, S. 47 ff. In Soest erzwang ein neuer Kreisleiter seit 1935 den Austritt vieler der N S D A P angehörenden Vereinsmitglieder, in dem er ihre Parteizugehörigkeit von dieser Entscheidung abhängig machte. Auch verbot die Partei im Laufe des Konflikts ihren Mitgliedern den Eintritt in die Gesellschaft. Trotzdem gelang es ihr nicht, die Ressource zum Erliegen und das Vereinsgebäude in ihren Besitz zu bringen. Schwanz, S. 14 ff.

62

Schmidt, S. 71.

63

Paragraph 3 der Satzung v o n 1935. S t A K , Gesellschaft Casino, Protokoll-Buch; Alef, S. 23.

64

Paragraphen

6 und

14

der Statuten,

1 6 . 7 . 1937,

durch

Bezirksregierung

genehmigt,

2 7 . 4 . 1938. Schmidt, S. 75 f.; ähnlich erzwang die Partei in den geänderten Satzungen der

Die westdeutschen Bürgergesellschaften

43

Andererseits wurde von anderen Parteidienststellen anscheinend ein sehr viel geringerer Druck auf die Gesellschaften ausgeübt. Die Kölner Lesegesellschaft konnte sich nach dem Bericht ihres Vorsitzenden Küchenthal der Gleichschaltung durch die Partei entziehen. Die Forderung der Kreisleitung der NSDAP, das „Führerprinzip" einzuführen, wurde von der einberufenen außerordentlichen Hauptversammlung einstimmig abgelehnt und diese Entscheidung von der Partei hingenommen. 65 In Wuppertal-Barmen sahen sich die Gesellschaften Union und Concordia erst 1939 bzw. 1940 gezwungen, neue Satzungen zu erlassen. Während aber die Concordia sich dem Befehl des Kreisleiters fügte, das Führerprinzip übernehmen und die Sammlung führender Männer der Parteiorganisationen, des Staates, der Gemeinde, der Wehrmacht, des Rechts-, Gesundheits- und kulturellen Lebens sowie der Wirtschaft zu kameradschaftlichem Gedankenaustausch auf der Grundlage nationalsozialistischer Weltanschauung zum Zweck der Gesellschaft erklären mußte, 66 konnte die Union sich solchen Einwirkungen weitgehend entziehen. Ihre Satzung, die vom Regierungspräsidenten genehmigt wurde, 67 vermied eindeutige Bekenntnisse zum nationalsozialistischen Staat und sicherte der Hauptversammlung der Mitglieder — auch gegenüber dem „Vorsitzer" — weitgehend die alten Rechte. Bis in den Krieg hinein hielt der Verein auch an der Ballotage zur Wahl neuer Mitglieder fest. Erst 1941 wurde sie aufgegeben und vom Vereinsvorstand eine zeitgemäße Neufassung der Satzungen für die Zeit nach Kriegsende, wenn die eingezogenen Mitglieder bei ihrer Festlegung mitwirken könnten, zugesagt. Forderungen eines Mitglieds, nach dem Vorbild der Concordia die Satzungsänderungen sofort vorzunehmen, wurden dagegen abgeblockt. 68 Wie dieses Beispiel zugleich zeigt, gab es in vielen Gesellschaften gegen die Gleichschaltung Widerstand, der auch von Angehörigen der NSDAP kommen konnte. Teilweise brachen in den Vereinen erhebliche Spannungen auf. In der Casino-Gesellschaft in Krefeld-Uerdingen fügte sich die Mehrheit zwar den Forderungen der elf nationalsozialistischen Mitglieder auf Einführung des Führerprinzips, gegen die Wahl des von diesen vorgeschlagenen

Casino-Gesellschaft Dortmund als zusätzliche Organe zu Vereinsführer und Führerrat einen Ehrenführer und Ehrenrat. Ehrenführer war der jeweilige Kreisleiter in Dortmund, der fünfköpfige Ehrenrat bedurfte seiner Bestätigung. Gesellschaft Casino zu Dortmund. Gedenkschrift zum hundertfünfzigjährigen Bestehen 1 8 1 2 — 1962, Dortmund 1962, S. 45. 65 66

90 Jahre Lesegesellschaft, S. 71 f. Paragraph 2 der Satzung, 30. 7. 1940; Rede von Geheimrat August Mittelsten Scheid, 3. 3. 1951, abgedr. in: Gesellschaft Concordia zu Wuppertal Barmen. Festschrift zum 150jährigen Bestehen 1 8 0 1 - 1 9 5 1 , Wuppertal 1951, S. 23.

67

Satzung, 10. 5. 1939, genehmigt, 11. 1. 1940. H S t A D , BR 1034, Nr. 112.

68

Protokoll der Generalversammlung, 4. 4. 1941. Gesellschaft Union, Wuppertal-Barmen, Protokollbuch Nr. 9.

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Friedrich Zunkel

Kandidaten für den Posten des Vereinsführers erhob sich aber erheblicher Widerstand. Er wurde schließlich in einer Kampfabstimmung nur mit einer Stimme Mehrheit gegenüber einem angesehenen Mitglied, das nicht der Partei angehörte, gewählt. 69 Als der Mütterclub der Gesellschaft am 9. November 1934 einen Tanzabend veranstaltete und auf den scharfen Protest der Ortsgruppe der NSDAP sich gegen den Willen des Vereinsführers weigerte, der Partei sein Bedauern auszusprechen, weil das Tanzen nicht verboten worden war, brach der Gegensatz sofort wieder auf. Er endete schließlich mit dem Rücktritt des Vereinsführers. 70 Sehr viel häufiger als mit offenem Widerstand reagierten die mit den Veränderungen in ihrer Gesellschaft unzufriedenen Mitglieder mit dem Ausscheiden aus dieser. Andererseits führte aber auch Druck der Parteiführungen auf die Mitglieder der NSDAP dazu, daß diese aus den Gesellschaften austraten. Die schon durch die Austritte während der Weltwirtschaftskrise geschwächten Vereine verloren nun erneut eine erhebliche Zahl von Mitgliedern. Die Bonner Lese- und Erholungsgesellschaft büßte 1934 abzüglich der Todesfalle fünfzig Mitglieder ein, von denen sechsundzwanzig ohne Angabe des Grundes ausschieden. 71 Es ist anzunehmen, daß ihr Austritt zumeist politische Gründe hatte. Leider liegen für die anderen Gesellschaften Nachweise der Austrittsgründe nicht vor. Doch wird man von den 1934 und 1935 bei der Trierer Casino-Gesellschaft ausgeschiedenen 109 Mitgliedern 72 und von den 1934 bis 1937 bei der Essener Gesellschaft Verein abgewanderten 79 Personen annehmen können, 73 daß ein Teil von ihnen durch politische Motive bestimmt wurde. Insgesamt gerieten viele Vereine aufgrund der vielen Austritte aus verschiedenen Gründen in erhebliche finanzielle Schwierigkeiten

69

Generalversammlung, 6. 1. 1934, und außerordentliche Generalversammlung,

20.1.1934.

Casino-Gesellschaft Uerdingen, Protokollbuch 1929 — 1947; ähnlich vollzog sich bei der Dortmunder Casino-Gesellschaft die Gleichschaltung und Umbenennung in den „DietrichEckart-Verein zur Pflege von Wissenschaft, Literatur und Kunst" in der Mitgliederversammlung, 22. 4. 1937 erst nach stürmisch verlaufener Debatte. Gesellschaft Casino zu Dortmund, S. 32. 70

Beiratssitzungen, 1 3 . 1 1 . 1 9 3 4 , 2 3 . 1 1 . 1 9 3 4 , Generalversammlung, 6 . 1 . 1 9 3 5 . Gesellschaft Casino Uerdingen, Protokollbuch 1 9 2 9 — 1 9 4 7 . Zu einem ähnlichen K o n f l i k t zwischen dem Vorstand sowie Mitgliedern des Bierclubs der Societät in Duisburg, die dem Nationalsozialismus mit Vorbehalten gegenüberstanden, und einem Sanitäts-Sturmführer der SA kam es im Juni/Juli 1936. Der Nationalsozialist trat aus dem Bierclub aus, weil er nicht bereit war, sich einem Schiedsspruch der Generalversammlung des Bierclubs zu unterwerfen, an der „ehemalige Freimaurer und ein jüdisch versipptes Mitglied" teilnähmen. Meldung des Sanitäts-Sturmführers an den Standartenführer, 3. 7. 1936. H S t A D , R W 58, Nr. 7819.

71

StAB, Lese- und Erholungsgesellschaft, Nr. 30.

72

Schmidt, S. 73.

73

Mews, S. 84.

Die westdeutschen Bürgergesellschaften

45

und gingen schließlich ein. 74 Die Mehrheit der Mitglieder blieb jedoch in den Vereinen, sei es, daß diese Personen Angst hatten, daß sie als sogenannte unpolitische Menschen meinten, sich von jeder Stellungnahme fernhalten zu müssen, daß sie die Erhaltung des Vereins allem anderen voranstellten oder daß sie als überzeugte Nationalsozialisten die Gleichschaltung ihres Vereins befürworteten. Leider läßt sich nur für die Wuppertaler Gesellschaft Union der Anteil der Parteigenossen am Ende des Krieges angeben. Von 213 Mitgliedern waren 64 in der NSDAP, 109 nicht, von 40 ließ es sich nicht feststellen, welcher der beiden Gruppen sie angehörten. 75 Mit der Akzeptanz beziehungsweise Duldung der Gleichschaltung gaben diese Vereinsmitglieder so prinzipielle Grundsätze wie die Freiheit der eigenen Entscheidung über aufzunehmende Mitglieder, die Besetzung der Ämter und die Gestaltung der Vereinsarbeit auf. Sie duldeten, daß von ihnen früher gefaßte Entscheidungen ohne ihre Beteiligung rückgängig gemacht wurden. Sie akzeptierten, daß vereinsfremde Personen oder Institutionen in sein Leben eingriffen und es damit eine mehr oder weniger tiefgreifende Umgestaltung erfuhr. Unverändert blieb dagegen die soziale Struktur der Gesellschaften. Angehörige der unteren Volksschichten wurden auch jetzt kaum aufgenommen, und Parteifunktionäre hielten sich zumeist von den Vereinen fern. Selbst die Ausnahmen von dieser Regel wie das „Casino Volkskameradschaftshaus" in Koblenz und die Wuppertaler Gesellschaft Concordia behielten weitgehend ihren alten sozialen Charakter. 76 Die meisten Gesellschaften fanden gegen solche Zugriffe, wie sie der Partei bei beiden Vereinen gelangen, einen Schutz in der Aufnahme von Offizieren aus den mit dem Aufbau der Armee entstehenden Garnisonen. Sie trugen wesentlich zur Erhaltung der sozialen Exklusivität und zur Unangreifbarkeit der Gesellschaften bei. 77 Der mehr oder weniger freiwilligen Akzeptanz der Gleichschaltung folgte bald die Gewöhnung an die neuen Verhältnisse und an die Reverenzen, die den neuen Machthabern zu bringen waren: etwa die Führer-Ehrung mit Deutschland- und Horst-Wessel-Lied bei jeder größeren Veranstaltung, die obligatorische Feier zu „Führers Geburtstag", die Bevorzugung nationalen und patriotischen Liedguts, die Beschränkung von Vortragsveranstaltungen

74

Vgl. die Liste der alten Lesegesellschaften und ihr Schicksal bei Janson, S. 72 ff.; ebenso die SD-Berichte über die Kasino-Gesellschaften der Städte Boppard, St. G o a r und die Gesellschaft Erholung in Zell/Mosel, L H A K , 662,6, Nr. 414, Bl. 19, 25, 29; Gesellschaften Casino und Parlament, Wuppertal-Elberfeld, H S t A D , BR 1034, Nr. 1 5 3 und 154; Gesellschaft Verein/ Vohwinkel, H S t A D , Amtsgericht Wuppertal, 69/5642, Bl. 75.

75

Gesellschaft Union, Wuppertal-Barmen, Liste der Vereinsmitglieder 1945.

76

Vgl. oben S. 42 f.

77

Heuermann, S. 5 0 f . ; Alef, S. 24; Schmidt, S. 76 f.

46

Friedrich Zunkel

auf dem Regime genehme Themen, Autoren und Redner. 78 Sie waren die notwendigen Begleitumstände des alltäglichen Vereinslebens, das sich bei vielen Gesellschaften in den letzten Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg wieder etwas günstiger entwickelte. Ihnen gelang es, in dieser Zeit die Krise ihrer Finanzen zu überwinden und die Zahl der Mitglieder wieder zu erhöhen. 79 Mit den innen- wie außenpolitischen Erfolgen Hitlers wuchs zugleich die Bereitschaft, das politische System anzuerkennen, in ihm die Erfüllung langgehegter Wünsche nach wirtschaftlicher Erholung, politischer Einheit und Ordnung sowie nationaler Größe zu sehen. Den Wandel in der Beurteilung Hitlers machen die Reden anläßlich der Stiftungsfeste und Hauptversammlungen des Bismarcktisches innerhalb der Bonner Lese- und Erholungsgesellschaft deutlich. 80 Im April 1934 gab der Vortragende nach der Würdigung Bismarcks seiner Freude darüber Ausdruck, „daß auch der Führer Hitler sich ausdrücklich zu der Person und dem Werk seines großen Vorgängers bekannt habe." Vier Jahre später zog der Festredner „eine Parallele zwischen Bismarck und dem Führer" und im April 1939 hielt ein Mitglied des Tisches eine „sehr beifallig aufgenommene Rede über Bismarck als Soldat und Kämpfer und darin als Vorkämpfer für die großen Taten des Führers." 81 Fanden in den frühen Jahren nationalsozialistischer Herrschaft die innenpolitische Sicherheit und Ordnung sowie die wirtschaftlichen Erfolge Zustimmung in den Gesellschaften, 82 so waren es in den späteren Jahren vor allem die außenpolitischen Erfolge. „An den großen und erhebenden geschichtlichen Ereignissen des Jahres 1938", hieß es im Jahresbericht der Bonner Leseund Erholungsgesellschaft, „die wir der großangelegten und einzigartigen 78

Z. B. führte der Chor der K ö l n e r Lesegesellschaft mittlem Orchester des K ö l n e r Musikzirkels bei der Adolf-Hitler-Geburtstagsfeier am 27. 4. 1935 erstmalig die Hitler-Hymne „Heil Führer! Heil!" von C. Czwoydzinski auf. Jahresbericht 1933/35 des gemischten Chors, Protokollbuch.

75

Im Jahresbericht der Bonner Lese- und Erholungsgesellschaft für 1938 hieß es, daß sie sich „in einem Zustande ruhiger und gedeihlicher Fortentwicklung befunden" habe. StAB, Bonner Lese- und Erholungsgesellschaft Nr. 37; ähnlich für das Casino in Trier Schmidt, S. 77.

80 81

Zum Bismarckstammtisch, dem 1937 etwa 45 Mitglieder angehörten, vgl. D y r o f f , S. 76 f. Stiftungsfest, 14. 4. 1934, Generalversammlungen, 26. 3. 1938, 1. 4. 1939, StAB, Lese- und Erholungsgesellschaft, Nr. 27.

82

So der Vereinsführer der v o r allem von Männern der Wirtschaft geprägten Casino-Gesellschaft in Krefeld-Uerdingen in der Generalversammlung, 6. 1. 1937. Er bezeichnete den Bolschewismus als die Weltpest, die dauernd Unruhen und Terror hervorrufe und offen und mit Festigkeit von den großen Staaten bekämpft werden müsse. Zugleich lobte er die Wirtschaftslage, die guten Geschäftsgewinne und das angeblich vorzügliche Einvernehmen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der Gegenwart. „Wenn einzelnen K ö p f e n der heutige Zustand etwas zu sozialistisch erscheint, mögen diese an frühere Zeiten zurückdenken, und sich selbst fragen, ob ihnen die früheren dauernden Unruhen, verbunden mit politischer Ungewißheit, mehr zugesagt haben." Protokollbuch 1929 — 1947.

47

Die westdeutschen Bürgergesellschaften

Initiative Adolf Hitlers stets zu danken haben werden, und die jedem Volksgenossen ein starkes und mächtiges Vaterland zum stolzen Bewußtsein werden lassen, hat auch die Lese als Pflegestätte deutschen nationalsozialistischen Geistes freudigen Anteil genommen", 83 und ähnlich führte der Vereinsführer des Casino in Krefeld-Uerdingen im Januar 1939 bei einer Mitgliederversammlung aus: „Ein Großdeutsches Reich wurde geschaffen, und wir alle stehen verwundert und freudigen Herzens vor diesen gewaltigen Tatsachen. Ein unbedingtes Vertrauen und tiefe Dankbarkeit zum Führer des Vaterlandes hat uns alle ergriffen, und wir bitten Gott, uns unseren Führer Adolf Hitler zu erhalten, viele, viele Jahre zum Wohle unseres lieben deutschen Vaterlandes." 84 Alle negativen Erscheinungen dieser Jahre: die Diskriminierung der Juden, das Vorgehen gegen die Kirchen sowie das anmaßende Auftreten und die Übergriffe von Funktionären der Partei und ihrer Gliederungen scheinen zumeist zwar Ablehnung, im Verhältnis zu den positiv bewerteten Erfolgen des Regimes aber die Bedeutung von Randerscheinungen gefunden zu haben. 85 Sie wurden sehr häufig nur als Fehler oder Kompetenzüberschreitungen untergeordneter Dienststellen von Staat und Partei angesehen, mit denen Hitler und die Reichsführung nichts zu tun hätten und die sie abstellen würden, wenn sie davon wüßten. Auch im Kriege wurden zunächst mit Stolz die „unvergeßlichen Siege der deutschen Waffen" begrüßt 8 6 und angesichts der deutschen militärischen Stärke die Erwartung auf eine glückliche Zukunft ausgesprochen. „Deutschland wird siegen und wir und unsere Nachkommen werden freie und stolze Menschen sein können". 87 Doch kam es sehr bald zu erheblichen Beeinträchtigungen der Vereinstätigkeit. Jüngere Mitglieder wurden einberufen, die Gesellschaftsräume für militärische oder kommunale Zwecke zum Teil oder völlig in Anspruch genommen. 88 Am Ende standen mit der Zerstörung der Vereinshäuser und der Zerstreuung der Mitglieder während der letzten Kriegsjahre das Erlöschen jeder Vereinstätigkeit und mit ihm die Erschütterung des bisherigen Selbstverständnisses. Eine jahrzehntelange Entwicklung, in der sich antiliberal-konservatives und nationalistisches Denken und Han-

83

StAB, Lese- und Erholungsgesellschaft, Nr. 37.

84

Casino-Gesellschaft, Krefeld-Uerdingen, Protokollbuch 1 9 2 9 - 1 9 4 7 .

85

Zur Judenfrage äußerte sich im nationalsozialistischen Sinne nur der Vereinsführer der Casino-Gesellschaft in Krefeld-Uerdingen, ebenda.

86

Jahresbericht der Lese- und Erholungsgesellschaft Bonn f ü r 1940, StAB, Nr. 37.

87

Generalversammlung,

6. 1. 1940, Casino-Gesellschaft, Krefeld-Uerdingen,

Protokollbuch

1929-1947. 88

Z. B. beschlagnahmte die Polizeibehörde von Wuppertal Saal und Küche der Gesellschaft Union, die Wehrmacht Räume der Ressource in Soest, der Societät in Duisburg, des Casino in Trier, die Stadt Dortmund die Säle des Casino, nachdem das Stadttheater durch Bomben zerstört worden war.

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Friedrich Zunkel

dein in den Gesellschaften immer mehr durchgesetzt hatten, fand damit ihren Abschluß in einer schweren Existenzkrise. Der Wiederaufbau der Gesellschaften war nur auf dem Wege einer Neubesinnung auf die alten Werte möglich.

VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN HStAD LHAK NSBO StAB StAK USCHLA

= = = = = =

Hauptstaatsarchiv Düsseldorf Landeshauptarchiv Koblenz Nationalsozialistische Betriebszellen-Organisation Stadtarchiv Bonn Stadtarchiv Koblenz Untersuchungs- und Schlichtungsausschüsse der N S D A P

Zentrumspartei und Zentrumspolitiker im rückblickenden Urteil Heinrich Brünings von Rudolf Morsey

I. Zur Quellenlage Die Publikation von Brünings „Memoiren 1918 bis 1934" im November 1970 wenige Monate nach dem Tode des am 30. März 1970 in den USA gestorbenen Reichskanzlers der „Weltkrisenzeit" (1930 bis 1932), fand ein ungewöhnliches Echo in der Öffentlichkeit und anschließend über Jahre hin in Fachrezensionen 2 . Vor allem zwei Gründe machten die Memoiren Brünings, deren Veröffentlichung er seit 1938 dutzende Male angekündigt, aber dann jeweils — und mit wechselnden Begründungen — als nicht opportun bezeichnet hatte, rasch zu einem Bestseller: Die „desillusionierende Bloßlegung von Absichten und Ansichten" des Reichskanzlers 3 , insbesondere seines (Haupt-)Zieles, die Hohenzollern-Monarchie zu restaurieren, sowie Enthüllungen über Intrigen und Korruption in der Umgebung Hindenburgs. Die 1970 noch lebenden ehemaligen Mitarbeiter und politischen Freunde Brünings waren über viele der von ihm geschilderten Ereignisse aus der Amtszeit „ihres" Kanzlers und über manche kritischen Urteile erstaunt 4 . Sie sahen sich für Ziele in Anspruch genommen, die sie nicht gekannt hatten 1

2

3 4

Stuttgart 1970. Seit 1971 habe ich wiederholt auf die Notwendigkeit einer historischkritischen Ausgabe dieser Memoiren, einschließlich der Darstellung ihrer Entstehungs- und Publikationsgeschichte, hingewiesen. Vgl. Rudolf Morsey, Zur Entstehung, Authentizität und Kritik von Brünings „Memoiren 1918 — 1934". Opladen 1975, S. 28, sowie in der in Anm. 17 zitierten Rezension, S. 69. An dieser Stelle sei nur die Würdigung von Gerhard Schuld erwähnt: Erinnerungen an eine mißlungene Restauration. Heinrich Brüning und seine Memoiren, in: Der Staat, 11, 1972, S. 61—81; vgl. auch ders., Brünings Memoiren und die Probleme seiner Kanzlerschaft, in der von G. Schufy verfaßten Einleitung zu: Politik und Wirtschaft in der Krise 1930—1932, bearb. von Udo Wengst unter Mitwirkung von Ilse Maurer und Jürgen Hetdeking. Düsseldorf 1980, S. LIV-LX. G. SchulErinnerungen, S. 61. Belege bei Rudolf Morsey, Brünings politische Weltanschauung vor 1918, in: Gesellschaft, Parlament und Regierung, hrsg. von Gerhard A. Ritter. Düsseldorf 1974, S. 319 Anm. 11; ders., Brüning in der historischen Forschung, in: Gedenkveranstaltung zum 100. Geburtstag: Das Brüning-Bild in der zeitgeschichtlichen Forschung, hrsg. vom Oberstadtdirektor der Stadt Münster. Münster 1986, S. 23 f.

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Rudolf Morsey

u n d die sie 1 9 3 0 / 3 2 s c h w e r l i c h u n t e r s t ü t z t hätten; sie w a r e n b e s t ü r z t v o m E i n g e s t ä n d n i s des M e m o i r e n s c h r e i b e r s ü b e r seine Bereitschaft, m i t den nachteiligen F o l g e n

seiner P o l i t i k einseitig die i h n t r a g e n d e n

Mittelparteien,

e b e n s o w i e die S o z i a l d e m o k r a t i e , zu belasten, u m die R e c h t s p a r t e i e n e n t s p r e c h e n d zu entlasten. A u c h die Politik d e r eigenen Partei des E x k a n z l e r s , des Z e n t r u m s , u n d das H a n d e l n einer R e i h e seiner f ü h r e n d e n P e r s ö n l i c h k e i t e n erschienen in w e n i g g ü n s t i g e m Licht. D e r M e m o i r e n s c h o c k v o n 1 9 7 0 hielt l ä n g e r an als das E r s t a u n e n , mit d e m 1 9 4 7 e h e m a l i g e Z e n t r u m s p o l i t i k e r a u f B r ü n i n g s „ B r i e f " in d e r „ D e u t s c h e n R u n d s c h a u " R u d o l f Pecheis

5

reagiert u n d einige d e r darin enthaltenen A u s s a -

g e n zunächst als „politische M y s t i f i k a t i o n " b e w e r t e t hatten 6 . D a s galt insbes o n d e r e f ü r den detailliert b e s c h r i e b e n e n gescheiterten V e r s u c h des E x k a n z lers, z u s a m m e n m i t d e r D N V P - S p i t z e a m 22./23. M ä r z 1 9 3 3 den E n t w u r f des „ E r m ä c h t i g u n g s g e s e t z e s " d u r c h einen Z u s a t z a n t r a g a b z u s c h w ä c h e n . Brünings „ B r i e f Übersetzung

von 1947

— dessen nicht adäquate, „sehr schlechte"

seinem A u t o r viel Ä r g e r (und K o r r e s p o n d e n z )

eingetragen

hat, nicht zuletzt w e g e n eines einzelnen „ s i n n e n t s t e l l e n d e n " U r t e i l s Hindenburg

7

über

aber auch w e g e n v e r m e i n t l i c h „systematischer V e r d r e h u n g des

A r t i k e l s " in v e r s c h i e d e n e n Presseberichten

8

— w a r in m a n c h e r Hinsicht ein

K o n z e n t r a t seiner später e r s c h i e n e n e n M e m o i r e n 9 . D e s s e n E c h o zeigte be5

6

7

8 5

70. Jg., Heft 7,S. 1 — 22. Nachdruck: Graf Henning von Borcke-Stargordt, Der ostdeutsche Landbau zwischen Fortschritt, Krise und Politik. Würzburg 1957, S. 138 — 158; Heinrich Brüning, Reden und Aufsätze eines deutschen Staatsmanns, hrsg. von Wilhelm Vernekobl unter Mitwirkung von Rudolf Morsey. Münster 1968, S. 223 — 270. Dazu vgl. Rosemarie Schäfer, Rudolf Pechel und die „Deutsche Rundschau" 1946-1961. Phil. Diss. Göttingen 1975, S. 119ff. So der frühere Zentrumsabgeordnete und (1926—1933) Reichstagsvizepräsident Thomas Esser in einem Leserbrief von Ende Juli 1947 an „Die Welt" (Druck, o.D., in: von BorckeStargordt, Der ostdeutsche Landbau, S. 158). Ähnlich am 4. November 1947 an den früheren Fraktionskollegen Hans Bell. Bundesarchiv Koblenz (künftig zit.: BA), Nachlaß Esser. Von diesem Urteil ließ sich Esser erst durch einen vom 22. Dezember 1947 datierten Brief Brünings abbringen. Korrespondenz Essers zu dieser Frage im Nachlaß Esser. Am 22. Dezember 1947 an Thomas Esser. Vgl. Anm. 6. In einem Schreiben vom 6. Mai 1948 an Bernhard Schwertfeger hieß es, die Übersetzung seines Briefes sei nicht sehr gut gewesen: „I used the expression temporary blackout' for Hindenburg's physical condition at intervals after September 1931. It should have been translated, approximatly, .vorübergehende Störungen des klaren Bewußtseins'." BA, Nachlaß Schwertfeger. Ähnlich („sehr schlechte Übersetzung") an mehrere andere Adressaten. So am 18. November 1947 an Hermann Pünder. BA, Nachlaß Pünder 613. Darauf hatte bereits John W. Wheeler-Bennett in seiner Rezension hingewiesen, in: Foreign Affairs, 50, 1972, S. 369. Über die Ziele, die Brüning mit seinem Brief von 1947 erreichen wollte, hat er sich später mehrfach, aber keineswegs eindeutig, geäußert. So hieß es am 20. April 1947 an Pechel, die falschen Aussagen von Sozialisten und Kommunisten über seine Kanzlerschaft hätten ihn nicht berührt; er fühle sich jedoch verpflichtet, die falsche Darstellung in den Memoiren von Hans Schlange-Schöningen (Am Tage danach. Hamburg 1946) zu korrigieren, auch um Schaden von der CDU abzuwenden. BA, Nachlaß Pechel. (Noch deutlichere

Zentrumspartei und Zentrumspolitiker

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reits, daß auch prominente Zentrumsabgeordnete über politische Vorgänge in den letzten Jahren der Weimarer Republik nicht informiert gewesen waren. Gerade über solche Vorgänge enthielten spätere briefliche Äußerungen Brünings zahllose neue Mitteilungen und Wertungen. Die Memoiren des Exkanzlers — die bisher noch nicht für sein Verhältnis zur Zentrumspartei ausgewertet worden sind — bilden die eine Quelle der folgenden Analyse. Deren Manuskript ist 1934/35, in der Hauptsache in der Schweiz, entstanden und in der Folge, bis gegen Ende der fünfziger Jahre, in einem bis heute noch nicht erkennbaren Ausmaß korrigiert beziehungsweise ergänzt und nach dem Tode Brünings redigiert worden 10 . Eine andere Quelle sind einschlägige Mitteilungen aus Brünings umfangreicher Korrespondenz an Dutzende von Adressaten bis 1960 hin — bevor seine Korrespondenz abbricht —, aus der bisher erst ein Bruchteil publiziert worden ist 1 1 . Der seit 1939 in Harvard (Professor für öffentliche Verwaltung) und von Ende 1951 bis 1954 in Köln lehrende Ordinarius für Politische Wissenschaften konnte seinen Sturz als Reichskanzler Ende Mai 1932 nicht verwinden. Daß durch sein politisches Scheitern ausgerechnet an Hindenburg der Weg für Hitler frei geworden war, bedeutete für den konservativen Patrioten ein Trauma. In den Jahren seiner unfreiwilligen Emigration hat er sich unzählige Male über Einzelheiten seiner Kanzlerschaft (und v o r allem deren abruptes Ende) sowie über andere Ereignisse aus der Geschichte der Weimarer Republik brieflich geäußert, auch frühere Mitglieder seiner Regierung (vor allem Gottfried Reinhold Treviranus) wie Mitarbeiter in der Beamtenschaft (Hermann Pünder) und Bekannte in Wirtschaftspositionen (Jakob Goldschmidt)

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Kritik an Schlange-Schöningen: 6. Dezember 1949 an Hermann Ullmann. BA, Nachlaß Ulimann.) Am 28. Februar 1948 an Alexander Schnütgen: Er habe mit der Veröffentlichung seines Briefes einen „bestimmten Zweck" verfolgt, den André Fran£ois-Poncet „wohl erkannt" habe. Kopie im Besitz des Verf. Demgegenüber stand am 12. Oktober 1948 (an Henning Graf BorckeStargordt) ein anderes Argument im Vordergrund: Sein Aufsatz solle eine „ruhigere Auffassung über die Ereignisse" der Jahre 1931 und 1932 vermitteln und vor allem „tendenziösen Berichten deutscher Emigranten und ihrer Freunde im Ausland über die Verantwortung des deutschen Adels im Osten für meinen Sturz entgegentreten". Seine Darstellung über seine Kanzlerschaft solle auch dazu dienen, im Ausland den nötigen Rückhalt für die „Forderung nach einer Revision der entsetzlichen Beschlüsse über die Zerreißung Deutschlands" zu entwickeln. Preußisches Geheimes Staatsarchiv Berlin-Dahlem, Nachlaß Henning Graf Borcke-Stargordt. Am 2. August 1952 nannte Brüning (an Hans Joachim Baumann) als Zweck seines Briefes die Absicht, „eine Reihe von Zeugen im Nürnberger Prozeß zu warnen, in ihren Aussagen vorsichtig zu sein". Briefe II (s. Anm. 13), S. 97. Entgegen der anderslautenden Mitteilung im „Nachwort" der Memoiren, S. 686. An der Bearbeitung war auch Felix Berner (s. Anm. 15) beteiligt. Vgl. R. Morsej, Zur Entstehung, S. 24 f. Einzelne Briefe beziehungsweise Auszüge aus Briefen Brünings (inclusive einzelne „Persilscheine") sind in mindestens zwölf Publikationen gedruckt, als einigermaßen geschlossener Bestand jedoch nur seine Briefe an Wilhelm Sollmann 1940—1946. Vgl. Thomas H. Knapp, Heinrich Brüning im Exil, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 22, 1974, S. 93 — 120.

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Rudolf Morsey

w i e d e r h o l t u m P r ü f u n g b e z i e h u n g s w e i s e E r g ä n z u n g einzelner F r a g e n o d e r Details g e b e t e n

n

.

E n t s p r e c h e n d e Ä u ß e r u n g e n f e h l e n in den beiden 1 9 7 4 e r s c h i e n e n e n B ä n d e n v o n B r ü n i n g s K o r r e s p o n d e n z (Briefe u n d G e s p r ä c h e 1 9 3 4 bis 1 9 3 5 ; B r i e f e 1 9 4 6 bis 1 9 6 0 )

13.

In dieser A u s w a h l f e h l t f e r n e r das, w a s B r ü n i n g „ ü b e r seine

politischen E r f a h r u n g e n bis 1 9 3 4 " g e s c h r i e b e n h a t 1 4 . D i e s e Teile sollten, z u s a m m e n m i t e n t s p r e c h e n d e n Passagen aus V o r l e s u n g s m a n u s k r i p t e n

Brü-

nings, „in e i n e m späteren B u c h v e r ö f f e n t l i c h t w e r d e n " . E i n e E d i t i o n dieser „zeitanalytischen V o r l e s u n g e n u n d einer beträchtlichen A n z a h l v o n F r e u n d e s b r i e f e n " (als „bester K o m m e n t a r zu seinen M e m o i r e n " ) w a r bereits in d e m v o n Ciaire N i x u n d T h e o d e r i c h K a m p m a n n u n t e r z e i c h n e t e n

„Nachwort"

v o m O k t o b e r 1 9 7 0 zu den M e m o i r e n des E x k a n z l e r s a n g e k ü n d i g t 1 5 . Sie ist bis heute e b e n s o w e n i g erschienen w i e die „ u m f a n g r e i c h e K o r r e s p o n d e n z des j u n g e n B r ü n i n g " , die es n a c h A n s i c h t v o n Ciaire N i x ebenfalls v e r d i e n t hätte, „in e i n e m g e s o n d e r t e n B a n d " publiziert zu w e r d e n

16.

D u r c h A u s l a s s u n g e n i n n e r h a l b einzelner B r i e f e — n a c h nicht beschriebenen K r i t e r i e n — u n d d u r c h das H e r a u s s c h n e i d e n d e r historischen R e f l e x i o nen des B r i e f s c h r e i b e r s , die gleichzeitig B r ü n i n g s

„Vergangenheitsbewälti-

g u n g " darstellten, blieb die 1 9 7 4 e r E d i t i o n i m d o p p e l t e n S i n n e „Verschnitt". M e i n e seinerzeitige K r i t i k an diesem V e r f a h r e n

17

w ä r e heute — n a c h d e m

12

Dazu vgl. Gordon A. Craig. Brüning habe von seinem Wohnsitz Vermont aus „mit einiger Regelmäßigkeit" den früheren Berliner Bankier Jakob Goldschmidt in New York City telegraphisch gebeten: „.Sofort kommen. Brauche Dich dringend!', und wenn der Freund sich fügte und die lange, erschöpfende Reise nach Vermont unternahm, befragte Brüning ihn endlos über Diskussionen in der Reichskanzlei 1930 und 1931, über Vorschläge, die niemals zur Ausführung gebracht worden waren, wirtschaftliche Initiativen, die zu nichts geführt hatten, und Möglichkeiten, die durch die Ereignisse unwichtig geworden waren. Goldschmidt unterwarf sich diesen Befragungen mit wachsender Widerspenstigkeit und weigerte sich schließlich voller Entrüstung, weiterhin darauf einzugehen." Vgl. Gordon A. Craig, Der Historiker und sein Publikum, in: Erster Träger des Historikerpreises der Stadt Münster Gordon A. Craig. Ausgezeichnet am 7. November 1981 im Festsaal des Rathauses zu Münster. Dokumentation, hrsg. von der Stadt Münster, 1982, S. 44 f.

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Hrsg. von Ciaire Nix unter Mitarbeit von Reginald Phelps und George Pettee. Stuttgart. Künftig zit.: Briefe I und Briefe II. Briefe I, S. 12. S. 686. Auf meine Rezension von Brüning, Briefe I, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27. September 1974 bekräftigte Felix Berner, Leiter des Buchverlags der DVA (in der auch Brünings Memoiren erschienen waren), in einem Leserbrief die „beabsichtigte Veröffentlichung" dieses Kommentars. Vgl. FAZ vom 30. Oktober 1974. Wie Anm. 14. Teile dieser Korrespondenz (mit August Winkelmann) sind in dem in Anm. 4 erwähnten Aufsatz (Brünings politische Weltanschauung) verarbeitet. Zur Problematik einer zeitgeschichtlichen Briefedition, in: HZ, 221, 1975, S. 69 —85, hier S. 82: Durch die „ebenso willkürliche wie ungewöhnliche Art der Kastration" werde der Briefschreiber „innerlich gespalten", seine Korrespondenz in „verschiedene, sachlich getrennte Ebenen" zerlegt und damit ein „entscheidendes Charakteristikum Brünings wegretu-

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16

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Zentrumspartei und Zentrumspolitiker

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der 1970 und 1974 angekündigte Fortsetzungsband nicht vorliegt und Brünings Nachlaß immer noch (bis 1990) gesperrt ist 1 8 — entsprechend zu verschärfen.

II. Zur Rolle und Problematik der Zentrumspartei Brüning zählte, wie sein politischer Lehrmeister Stegerwald, zum nationalkonservativen Flügel der Zentrumspartei. Uber deren konfessionelle Problematik, die Schwierigkeiten ihrer Mittelstellung im Weimarer Parteiensystem wie ihres Volkspartei-Charakters hat er nach 1933 häufig reflektiert. Er selbst verstand sich nicht als „Parteipolitiker" und dürfte „überzeugter Monarchist" 19 geblieben sein. Brüning erkannte bereits früh die Grenzen für eine Ausdehnung der Zentrumswählerschaft und der seit Jahrzehnten konstant rückläufigen „Schicksalskurve" der Partei, wie diese Entwicklung 1928 von Johannes Schauff bezeichnet worden ist 20 . Andererseits unternahm auch der ZentrumsReichskanzler keinen neuen Anlauf, die de facto konfessionelle Volkspartei — im Sinne Windthorsts, auf den er sich gern berief (70 f . ) 2 1 — zu einer interkonfessionell-christlichen umzubilden. Bemerkenswert immerhin ein Wahlplakat des Zentrums für die Reichstagswahl am 31. Juli 1932 — acht

18 19

20

21

schiert: seine Fähigkeit, die Analyse gegenwärtiger Konstellationen und voraussichtlicher Entwicklungen aus den Erfahrungen und Reflexionen seiner Kanzlerschaft abzuleiten, die ihm stets präsent war". Ebd., S. 94, habe ich eine historisch-kritische Ausgabe von Brünings Briefwerk als Desiderat bezeichnet. Die entsprechende Passage aus Brünings Testament zit. ebd., S. 70 f. So im Juli 1935 in Paris zu Harry Graf Kessler. Vgl. Harry Graf Kessler, Tagebücher, hrsg. von Wolfgang Pfeiffer-Belli. Frankfurt 1961, S. 738. Ähnlich am 15. September 1937 an Dannie Heineman. Eine Kopie dieses Schreibens verdanke ich Herrn Dr. Hans Peter Mensing (Bad Honnef-Rhöndorf); 3. Dezember 1945 an Friedrich Stampfer. Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn, Nachlaß Stampfer. — „Monarchist": Bereits 1936 hatte John W. Wheeler-Bennett in der englischen Ausgabe seiner HindenburgBiographie, deren Manuskript Brüning durchgesehen hatte, formuliert: „So blieb er immer ein Konservativer und im Herzen ein Monarchist." Der hölzerne Titan. Paul von Hindenburg. Tübingen 1969, S. 348. Dazu vgl. Wheeler-Bennetts Urteil über den Memoirenschreiber in seiner Rezension (s. Anm. 9), S. 369: „This is not the man I knew." Die deutschen Katholiken und die Zentrumspartei. Köln 1928, S. 191. Unter dem Titel „Das Wahlverhalten der deutschen Katholiken im Kaiserreich und in der Weimarer Republik" neu hrsg. von Rudolf Morsey. Mainz 1975. In Klammer gesetzte Seitenzahlen im Text verweisen auf H. Brüning, Memoiren. — Berufung auf Windthorst ferner: 16. September 1945 an Theobald J. Dengler. Briefe I, S. 435; 28. August 1946 an Bernhard Reismann. Briefe II, S. 46 f.; 28. Januar 1947 an Horst Michael. Ebd., S. 476; 10. Mai 1948 an Helmut Hauser. Ebd., S. 477.

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Rudolf Morsey

Wochen nach Brünings Sturz —, auf dem die Köpfe von Windthorst und Brüning abgebildet waren 22. Das spätere Urteil des Exkanzlers, wonach sich die Zentrumspartei nach 1918 im Gegensatz zur Windthorst-Tradition entwickelt habe und deswegen nicht in der Lage gewesen sei, sich auszubreiten 23 , erweckt einen falschen Eindruck; denn auch im Kaiserreich war eine solche „Tradition" nicht begründet worden. Die spätere Annahme Brünings, wonach die Partei in West- und Süddeutschland 7 bis 10% protestantische Wähler aufweisen konnte 24 , dürfte entschieden zu hoch gegriffen sein. Als Illusion erwies sich Brünings Vertrauen auf den Glauben und die Hoffnung der „tief religiösen Massen" des katholischen Volkes, um mit deren Hilfe seine politischen Ziele durchzusetzen (136); denn eben diese Massen ließ der Kanzler im Unklaren über die (End-)Ziele seiner Politik. Ähnlich unrealistisch verstand Brüning die von ihm angestrebte „nicht dogmatische" Festlegung des Zentrums zur Erhaltung seiner Wählermassen als Beitrag zu einer „stabilen Entwicklung der deutschen Politik" (75). Von einer solchen Stabilität kann nämlich keine Rede sein. Das zeigt schon ein Blick auf den Wählerschwund der republikanischen Parteien seit 1920 und auf die davon beeinflußte Abfolge der Regierungs- und Koalitionswechsel der folgenden Jahre. So spricht der Memoirenschreiber an anderer Stelle auch selbst von der „Unstabilität der Mehrheitsbildung" (117) und der „Labilität des Weimarer Systems" (121). Es hieße jedoch dessen Problematik zu verkürzen, wenn man sich mit Brünings Begründung für die von ihm erwähnte Labilität — Schwierigkeiten bei den zahlreichen Koalitionsbildungen und das damit verbundene „Intrigenspiel" der Fraktionen — begnügen würde. So mußte auch nicht nur die Zentrumsfraktion immer wieder, und nicht nur bei Koalitionsbildungen, ihre verschiedenen Flügel entsprechend austarieren (162 f.). Hingegen bereitete dieser Volkspartei mit ihrer Dauerforderung nach Parität in der Besetzung von Beamtenstellen ein anderes Problem interne, allerdings „hausgemachte" Schwierigkeiten: Nach Brünings Schilderung habe häufig genug der Frak-

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24

Faksimile-Druck bei Rudolf Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei, in: Das Ende der Parteien 1933, hrsg. von Erich Matthias und Rudolf Morsey. Düsseldorf 1960 (ND 1979), nach S. 468. Am 14. November 1945 an Johannes Maier-Hultschin. BA, Nachlaß Maier-Hultschin; ähnlich am 25. November 1945 und 20. August 1946 an Wilhelm Sollmann. Druck: Th. A. Knapp, Brüning im Exil, S. 117. Knapps Feststellung, daß Brünings Äußerungen in Briefen an Sollmann „viel offener als die Memoiren" seien (S. 98), gilt auch in bezug auf andere Briefempfänger. Am 6. August 1944 an Arnold Brecht. Vgl. Arnold Brecht, Mit der Kraft des Geistes. Lebenserinnerungen. Zweite Hälfte 1927 — 1967. Stuttgart 1967, S. 417.

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tionsvorstand Differenzen zwischen den drei studentischen Verbänden „ausbügeln" müssen, „wenn es um eine Beförderung ging" 25. Eine andere Art parteiinternen Ausgleichs bestand darin, daß Brüning als zeitweiliges Mitglied (1928 bis 1930) der Reichs- und Landtagsfraktion seiner Partei die undankbare Aufgabe zugefallen war, „verhängnisvolle Reibungen" zwischen den beiden Berliner Fraktionen zu beseitigen (134 f.). Die Lösung dieser schwierigen Aufgabe bewertete er als „konstruktiven Fortschritt". Später hat der Exkanzler häufig Vergleiche zwischen der Weimarer Republik und der Bundesrepublik Deutschland sowie zwischen dem Reichstag und dem Bundestag und ihren jeweiligen Mitgliedern angestellt. Sie fielen durchweg zugunsten der ersteren aus. Brüning hielt die institutionellen Stabilisatoren des Bonner Grundgesetzes — wegen eines vermeintlich „einmaligen [!] Fehlschlags von Bestimmungen der früheren Verfassung" — für unnötig 26; er war davon überzeugt, daß es im Reichstag eine „Herrschsucht einzelner Persönlichkeiten im Kabinett und in den Fraktionen wie heute in Bonn überhaupt nicht" gegeben habe 27. Auch in einem anderen Urteil, wonach in den Sitzungen der Zentrumsfraktion des Reichstags jeder Abgeordnete „ohne Begrenzung der Redezeit seine Wünsche und seine Kritik" habe vortragen können 28, kam eine verklärte Sicht der Vergangenheit zum Ausdruck. Berechtigt hingegen war die spätere Klage des Exkanzlers über die „Unpopularität" des Zentrums als Folge seiner permanenten Bereitschaft zur Regierungsverantwortung und zur Kabinettsführung (bis Mitte 1932), ebenso die Feststellung, daß Koalitionspartner sich nicht gescheut hätten, die Verantwortung für „entscheidende Schritte" auf diese Partei abzuladen (110). Andererseits war gerade Brüning wie kein anderer Reichskanzler bereit, um einer vermeintlich höherrangigen staatspolitischen Zielsetzung willen „Unpopularität" in Kauf zu nehmen und gerade auch seiner eigenen Partei übermäßige politische Verantwortung aufzuladen. Daß Brüning Hindenburgs Wahl von 1925 zum Reichspräsidenten positiv gewürdigt hat (116), hängt nicht zuletzt mit seiner Einschätzung des damaligen Gegenkandidaten Wilhelm Marx zusammen. Brüning sah diesen Zentrumsvorsitzenden (seit 1922) und Reichskanzler von Ende 1923 bis Anfang 1925 zu abhängig von seinem Pressechef Carl Spiecker, dessen Ziel es gewesen sei, das Zentrum einseitig an eine Koalition mit der SPD zu binden (120) 29 . Demgegenüber hielt der Exkanzler daran fest, daß es geradezu die „Mission" seiner Partei gewesen sei, „zu verhüten, daß die Rechte oder die Linke 25 26 27

28

29

Am 24. Oktober 1947 an Johannes Maier-Hultschin. Am 20. Dezember 1950 an Theodor Heuss. BA, Nachlaß Heuss. 8. Mai 1959 an Franz Dessauer. Vgl. Konrad Repgen, Ungedruckte Nachkriegsquellen zum Reichskonkordat, in: HJb, 99, 1979, S. 406. 30. August 1954 an Otto A. Friedrich. Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung in St. Augustin, Nachlaß Friedrich. Vgl. Anm. 8 0 - 8 2 .

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Rudolf Morsey

sich aus taktischen Rücksichten in eine rein negative Haltung" verstiegen hätten (134). Er wollte nicht wahrhaben, daß eine derart defensive Äquidistanz und Balancepolitik schwerlich als Legitimationsbasis der eigenen kleinen Mittelpartei ausreichen konnte. Nach seinem Sturz als Reichskanzler hat Brüning mit dem Gedanken gespielt, sich aus der Politik zurückzuziehen. Seine persönliche Tragik gipfelte darin, daß er am 6. Mai 1933, angesichts der Gefahr, daß die Partei andernfalls „auseinanderlaufen" werde, deren Führung übernehmen mußte; zu diesem Zeitpunkt war er sich — jedenfalls im Rückblick — über die Sinnlosigkeit dieses Opfergangs bereits im klaren (666 f.), wenngleich er immer noch hoffte, ausgerechnet zusammen mit Hugenbergs Deutschnationalen einen „Rechtsstaat" aufbauen und das „Erbe Windthorsts durchhalten" zu können (668, 674). Diese Einschätzung mutet unwirklich an und ist durch andere zeitgenössische Quellen nicht zu belegen.

III. Zum Ermächtigungsgesetz Über die Gründe, die für die Reichstagsabgeordneten der Zentrumsfraktion maßgebend gewesen sind, am 23. März 1933 dem Entwurf des Ermächtigungsgesetzes zuzustimmen, hat sich Brüning später häufig geäußert. In seinem schon erwähnten „Brief" von 1947 an Rudolf Pechel 30 enthüllte er seinen gescheiterten Versuch, den Entwurf des Gesetzes — den die Fraktionen der DNVP und der NSDAP im Reichstag vorgelegt hatten — durch einen „Verbesserungsantrag" zu entschärfen beziehungsweise ihm „die Zähne auszubrechen" 31, er sollte von den Deutschnationalen eingebracht werden. Eine entsprechende Vorlage hatten Brüning und sein Fraktionskollege Johannes Bell entworfen. Sie war von Hugenberg und Oberfohren bei einem geheim gehaltenen Treffen am späten Abend des 21. März 1933 (655, 675 f.) akzeptiert worden. Deren Inhalt 3 2 — über den Hugenberg dann seine Fraktion nicht einmal mehr informiert hat — hatte Brüning bereits 1946 einem Adressaten in der Schweiz mitgeteilt 33. Angestrebt wurde demnach eine Befristung des für die 30 31 32

33

Dazu vgl. Rudolf Morsey, Der Untergang des politischen Katholizismus. Stuttgart 1977, S. 134 ff. So am 18. November 1947 an Hermann Pünder; 22. Dezember 1947 an Thomas Esser. In seinem „Brief von 1947 (s. Anm. 5) hieß es nur allgemein: ein Amendement, „das die bürgerliche und politische Freiheit garantieren würde". Vgl. Rudolf Morsey, Das „Ermächtigungsgesetz" vom 24. März 1933. Göttingen 1968 (ND 1976), S. 74. Durch diesen Antrag sollten die Folgen der „schlimmeren" Notverordnung vom 28. Februar 1933 gemildert werden. So am 26. März 1947 an Johannes Maier-Hultschin. Am 20. August 1946 (Kopie im Besitz des Verf.). Auszugsweiser Druck: R. Morsey, „Ermächtigungsgesetz", S. 71 f. Der dort nicht genannte Adressat war Hans Bernd Gisevius, der Brüning

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gegenwärige Regierung mit ihrer DNVP-Mehrheit gedachten Gesetzes auf sechs Monate, ein Vetorecht des Reichspräsidenten und die Wiederinkraftsetzung derjenigen Artikel der Reichsverfassung zum Schutze der persönlichen und politischen Freiheit, die durch die Notverordnung vom 28. Februar — das eigentliche Grundgesetz des „Dritten Reiches" — aufgehoben worden waren; ferner sollte Hugenberg beim Reichspräsidenten die „Entlassung der verhafteten SPD-Mitglieder betreiben". In seinen Memoiren nennt Brüning weitere Gründe für die Zustimmung seiner Fraktion zum Ermächtigungsgesetz, gegen dessen Annahme er selbst in einer Probeabstimmung votiert hatte. Diese Gründe seien gewesen: 1. Die unbeirrt werbende Haltung des Partei Vorsitzenden Kaas. Dieser habe (immer noch) gehofft, im Kabinett einen Zentrumspolitiker als Justizminister und Brüning als Außenminister „durchdrücken" (655), vor allem aber für das Ja des Zentrums mit dem Abschluß eines Reichskonkordats rechnen zu können (655 f.) 34. Dabei bleibt offen, ob Kaas das Konkordatsargument in der Fraktion überhaupt vorgebracht hat, da sich alle anderen Quellen darüber ausschweigen und die seit 1956/57 — im Zusammenhang des „Konkordatsprozesses" vor dem Bundesverfassungsgericht — befragten ehemaligen Zentrumsabgeordneten sich daran nicht erinnern konnten. 2. Positive Zusagen Hitlers in seiner Regierungserklärung, und zwar aufgrund entsprechender Vorverhandlungen mit führenden Zentrumspolitikern 35, sowie 3. eine vom Vorstand der Zentrumsfraktion entworfene und vom Reichskanzler in Aussicht gestellte, aber nicht eingetroffene Versicherung („Brief"), von der Ermächtigung nur „unter gewissen Voraussetzungen" Gebrauch zu machen (656, 659); später konkretisiert: ein Brief mit der Bestätigung der Bedingungen des Zentrums 36. den ersten Band seines Buches „Bis zum bitteren Ende" (Zürich 1946) übersandt hatte. Brüning suchte Gisevius zu veranlassen, für die beabsichtigte englische Ubersetzung „doch den ganzen Tenor" abzumildern, um nicht zur antideutschen Agitation linksstehender deutscher Emigranten in den USA beizutragen. Die englische Übersetzung von Gisevius' Buch (To the Bitter End) ist 1947 in Cambridge, Mass. erschienen. — Am 6. Mai 1948 warnte Brüning Bernhard Schwertfeger vor dem früheren Führer des Deutschnationalen Jugendrings: Gisevius habe Hugenberg den Dolch in den Rücken gestoßen, als dieser im März 1933 seinen letzten Widerstandsversuch im Hitler-Kabinett unternommen habe. BA, Nachlaß Schwertfeger. 34

35 36

26. März 1947 an Johannes Maier-Hultschin; 8. Mai 1958 an Franz Dessauer. Vgl. K. Repgen, Ungedruckte Nachkriegsquellen, S. 406; 19. Mai 1956 an Gustav Olef. Institut für Zeitgeschichte München, Nachlaß Olef. Dazu vgl. das Kapitel „Die Kritik an Kaas" bei Georg May, Ludwig Kaas. Bd. 3. Amsterdam 1982, S. 366 ff. sowie die abgewogene Würdigung von Gerhard SchulNeue Kontroversen in der deutschen Zeitgeschichte, in: Der Staat, 22, 1983, S. 578 ff. Vgl. R. Morsej, „Ermächtigungsgesetz", S. 27 ff. 26. März 1947 an Johannes Maier-Hultschin.

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Rudolf Morsey B r ü n i n g b e h a r r t e d a r a u f , d a ß in e r s t e r Linie K a a s f ü r das V o t u m d e r F r a k t i o n

a m 2 3 . M ä r z 1 9 3 3 v e r a n t w o r t l i c h sei; dieser habe schließlich „die N e r v e n v e r l o ren", w e i l er g e g l a u b t habe, v o n d e r D N V P w e g e n des v o n Hitler v e r g e b l i c h e r w a r t e t e n „ B r i e f e s " in eine „Falle g e l o c k t w o r d e n zu sein" 3 7 . D e r E x k a n z l e r n a n n t e j e d o c h auch a n d e r e M o t i v e f ü r die Z u s t i m m u n g d e r Z e n t r u m s a b g e o r d n e t e n . S o hätten v i e l e v o n i h n e n , er sprach auch v o n d e r M e h r h e i t , a u f die W i r k s a m k e i t einer V e t o p o s i t i o n v o n V i z e k a n z l e r v o n P a p e n g e h o f f t 3 8 , so hätten bereits einzelne F r a k t i o n s m i t g l i e d e r V e r h a n d l u n g e n m i t P a p e n u n d F r i c k g e f ü h r t (657), so seien bereits „eine g r o ß e A n z a h l " j ü n g e r e r Abgeordneter schwenkt"

39,

des

Zentrums

in das

nationalsozialistische

Lager

„einge-

so seien F r e i h e i t u n d L e b e n v o n M i t g l i e d e r n d e r beiden L i n k s -

parteien g e f ä h r d e t g e w e s e n , v o r allem seines F r e u n d e s ( 1 1 6 , 6 6 0 ) H i l f e r d i n g

40.

E i n e a n d e r e V e r s i o n B r ü n i n g s m u t e t m e r k w ü r d i g an: D a n a c h hätten v i e l e S P D - A b g e o r d n e t e , die meisten v o n i h n e n jüdischer H e r k u n f t , bei d e r A b s t i m m u n g a m 2 3 . M ä r z g e f e h l t , „ o h n e uns zu i n f o r m i e r e n . W e n n sie das g e t a n

37 38

39

40

20. August 1946 an Hans Bernd Gisevius; 24. Juli 1946 an Gustav Olef. 26. März 1947 an Johannes Maier-Hultschin; 26. August 1947 an Theodor Draper. Kopie im Besitz des Verf. 14. Februar 1953 im Gespräch mit Franz Dessauer. Kopie einer Aufzeichnung Dessauers im Besitz des Verf. Ähnlich am 17. April 1948 an Johannes Gronowski: „Wenn der Sprung in die Verantwortung zu schnell kommt, so könnte man noch einmal das traurige Schauspiel wie Ende März und April 1933 erleben, wo die J u n g e n ' zu einem Teil offen abzufallen drohten." Kopie im Besitz des Verf. Noch deutlicher am 20. Dezember 1949 an Johannes Maier-Hultschin: „Junge Leute" in der Fraktion hätten schon vor der Reichstagssitzung auf eigene Faust mit Goebbels verhandelt, um sich der NSDAP anzuschließen, wofür Goebbels ihnen das Mandat garantiert habe unter der Bedingung, daß sie ihm die Beratungen der Fraktion verrieten. Am 9. Mai 1948 teilte Brüning Bernhard Schwertfeger u. a. mit, am 23. März 1933 sei das Schauspiel von Feigheit in allen Parteien, eingeschlossen die SPD, deprimierend gewesen; nur die Parlamentarier mit Erfahrung aus dem Kaiserreich und die Kriegsveteranen seien bereit gewesen, die Sache gegen Hitler um jeden Preis durchzukämpfen. Aufzeichnung von Generalmajor a. D. von Witschen und Oberstleutnant a. D. Kurt Sendtner über ein Gespräch mit Brüning am 6. März 1953; Kopie im Besitz des Verf. 20. August 1947 an Johannes Maier-Hultschin. In einem Schreiben Brünings vom 10. Juli 1958 an Gustav Olef hieß es: „Etwas unangenehm hat es mich berührt, daß [Bundespräsident] Heuss in seiner Rede vor dem Kongreß [in Washington] besonders betonte, daß er gegen das NaziErmächtigungsgesetz im Reichstage 1933 gestimmt hatte [was nicht zutraf!] . Das konnte er sich leicht leisten, weil ich meinen persönlichen Freunden in der Demokratischen Partei und der SPD, vor allem Hilferding, gesagt hatte, sie könnten ohne Gefahr für die Ablehnung stimmen, weil die Gegner der Kaas'schen Politik der Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz in der Zentrumspartei sich nur entschließen konnten, für das Ermächtigungsgesetz zu stimmen, um zu verhindern, daß ihre persönlichen Freunde in den beiden Linksparteien bei einer etwaigen Ablehnung von den Nazis gleich niedergeschlagen würden." Dazu vgl. Theodor Heuss, Die Machtergreifung und das Ermächtigungsgesetz, hrsg. von Eberhard Pikart. Tübingen 1967, S. 24 f.; Gottfried Reinhold Treviranus, Das Ende von Weimar. Düsseldorf 1968, S. 370; Wilhelm Hoegner, Der schwierige Außenseiter. München 1959, S. 92.

Zentrumspartei und Zentrumspolitiker

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hätten, wären zwölf von uns ebenfalls weggeblieben." 4 1 Der Sinn dieses „Wegbleibens" ist unklar, da Hitler zur Gewinnung der Zweidrittelmehrheit nicht „nur 15 Stimmen außerhalb der Regierungspartei" benötigte 42. Denn auch die Zentrumsfraktion hatte zu Beginn der Reichstagssitzung in der Kroll-Oper einer von den beiden Regierungsfraktionen geforderten Änderung der Geschäftsordnung zugestimmt. Danach konnte Reichstagspräsident Göring gegebenenfalls auch solche Abgeordnete als „anwesend" gelten lassen, die er vorher von der Teilnahme an den Sitzungen ausgeschlossen hatte. Im Rückblick verknüpfte sich für den Exkanzler die letzte Abstimmung seiner Fraktion mit der Problematik des Zentrums. Das „Ja" vom 23. März 1933 verstand er als Endpunkt einer von Anfang an falschen, weil konfessionell begrenzten Parteientwicklung (71). Eine interkonfessionell-christliche Volkspartei hätte entschiedener und erfolgreich opponieren können 43 ; bei einem „großen Teil von protestantischen Mitgliedern" des Zentrums wäre Kaas das „Geschäft über Aushandeln zwischen Konkordat und Ermächtigungsgesetz" nicht gelungen 44. Das ist denkbar, nur hätte — genauso hypothetisch — bei einer entsprechend zusammengesetzten Mitgliedschaft 1928 schwerlich ein römischer Prälat den Vorsitz des Zentrums übernehmen müssen, um das Auseinanderfallen der zerstrittenen Partei zu verhindern. Auffallend bleibt neben den so unterschiedlich akzentuierten Begründungen für die Haltung der Fraktion zum Ermächtigungsgesetz das Fehlen jeglicher Selbstkritik, ebenso die nie eingestandene Fehleinschätzung der Machtverhältnisse innerhalb der Hitler-Regierung 45. Sie gipfelte in Brünings späterer Ansicht, das Ermächtigungsgesetz hätte sogar — bei einem Gelingen des Zusammenwirkens zwischen Hugenberg, Papen und Hindenburg — eine Chance bieten können, die Nationalsozialisten auszuschalten 46 . IV. Einschätzung führender Zentrumspolitiker 1. Positive Urteile Brüning hatte seit 1919, damals als Stegerwaids enger Mitarbeiter, den von diesem Vorsitzenden des interkonfessionell-christlichen Deutschen Gewerk41 42

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20. August 1947 an Johannes Maier-Hultschin. 1947 in seinem Brief an Pechel. Vgl. R. Morsey, „Ermächtigungsgesetz", S. 73. Ferner Brüning, Memoiren, S. 42. Zum Zustandekommen der Zweidrittelmehrheit vgl. Konrad Repgen, Ein KPD-Verbot im Jahre 1933?, in: HZ, 240, 1985, bes. S. 92 ff. Juni 1947 an Hermann Pünder. 19. Mai 1956 an Gustav Olef. G. Schul\ hat in diesem Zusammenhang von dem „unangemessenen, offenbar unzerstörbaren Gefühl der persönlichen Überlegenheit Brünings" gesprochen. Erinnerungen, S. 81. 26. März 1947 an Johannes Maier-Hultschin. Zit. bei R. Morsey, Untergang, S. 256 Anm. 13. Brüning blieb bei seiner Ansicht, „vom rein formalen Gesichtspunkt aus" habe das Ermächtigungsgesetz eine Verbesserung gegenüber der Notverordnung vom 28. Februar

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schaftsbundes entwickelten Gedanken unterstützt, eine interkonfessionellchristliche Volkspartei zu schaffen (41, 57). Das von Stegerwald im November 1920 verkündete „Essener Programm" mit seiner betont nationalen und sozialen Akzentuierung entsprach Brünings politischer Zielsetzung, der seinen eigenen Anteil an dessen Entwurf beziehungsweise Formulierung später häufig herausgestrichen hat (70 ff.) 4 7 . Den Hauptgrund für das Scheitern dieses Programms sah er darin, daß Stegerwald nicht bereit gewesen sei, sein damaliges preußisches Ministeramt aufzugeben und sich ganz der neuen Parteigründung zu widmen (73 f.) 48 . Dessen Leistungen als Fraktionsvorsitzender wie Mitglied seines Kabinetts sind zunächst durchgehend positiv gewürdigt worden (189, 240 f.; 568). Das änderte sich seit 1945. Nach dem 30. Januar 1933 — so hieß es später — habe er Stegerwald „fast mit Gewalt" davon abhalten müssen, ein Ministeramt in Hitlers Kabinett anzunehmen 49 . Diese Version deckt sich allerdings nicht mit einer anderen Aussage, wonach Hitler „vergeblich einem Dutzend" Zentrumspolitikern Ministersessel angeboten habe: „Alle haben ohne Schwanken stets abgelehnt." 50 Trotz Stegerwaids anpassungsbereiter Haltung in den folgenden Jahren hat Brüning 1944, auf Wunsch amerikanischer Regierungsstellen, auch ihn als einen von fünf Weimarer Spitzenpolitikern genannt, die für die Übernahme einer zentralen Verwaltungsfunktion in einem Nach-Hitler-Deutschland in Frage kämen. Erst seit Anfang 1946, unter dem Eindruck ihm bekannt gewordener abwertender Äußerungen Stegerwaids über seine Person, änderte Brüning sein Urteil, das seitdem negativ bestimmt blieb 51 . Zu den vom Exkanzler besonders geschätzten früheren Fraktionskollegen zählte der württembergische Staatspräsident Eugen Bolz. Brüning lobte dessen „zwar unpopuläre, aber vorbildliche Verwaltung", ergänzt um die — aus seiner Sicht — positive Einschätzung der von Bolz durchgehaltenen MitteRechts-Koalition unter betonter Distanzierung von der SPD; er rühmte

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1933 bedeutet. So am 16. Februar 1949 in seinem „Persilschein" zugunsten von Hugenberg. Vgl. Hugenbergs Ringen in Deutschlands Schicksalsstunden. Detmold 1949, S. 22. 14. November 1945 an Johannes Maier-Hultschin. Briefe II, S. 19; 8. Juli 1949 an Fritz Kühr. Ebd., S. 190. Dazu vgl. Rudolf Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1 9 1 7 - 1 9 2 3 . Düsseldorf 1966, S. 369 ff.; ders., Brünings politische Weltanschauung, S. 333. 24. Juli 1946 an Gustav Olef; 8. April 1958 an Frau Ullmann. Vgl. Hermann UIlmann, Publizist in der Zeitenwende. München 1965, S. 112; 20. Mai 1958 an Wilhelm Simpfendörfer. Vgl. Paul Bausch, Lebenserinnerungen und Erkenntnisse eines schwäbischen Abgeordneten. Korntal 1970, S. 97. 25. August 1949 an Gustav Olef. 20. August 1946 an Hans Bernd Gisevius. Vgl. Rudolf Morsey, Emigration und Nachkriegsplanung. Vorschläge und Vorstellungen Heinrich Brünings über den Neuaufbau in Deutschland, in: Politische Parteien auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie, hrsg. von Lothar Albertin und Werner Link. Düsseldorf 1981, S. 232 f.

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ferner Bolz' „unerschütterliche Sachlichkeit" (216, 671) und konsequente Unterstützung der Reichspolitik 1930/32, nicht zuletzt gegenüber „erpresserischen Forderungen" Bayerns (217). Wenn schließlich noch als weitere Eigenschaft des württembergischen Regierungschefs dessen „Reichsgesinnung" und sein Eintreten gegen „Entartungserscheinungen des Parlamentes" herausgehoben wurden (217), dann kam auch darin die Geistesverwandtschaft beider Zentrumspolitiker zum Vorschein 52 . Einen kleinen Kreis seiner ehemaligen Fraktionskollegen und Mitarbeiter aus dem Deutschen Gewerkschaftsbund zählte Brüning zu den „Treuesten der Treuen": in erster Linie den Sekretär der Katholischen Arbeiterbewegung Westdeutschlands und Landtagsabgeordneten Bernhard Letterhaus (668) 53. Ihn hat er für den geeignetsten Reichskanzler in einem Nach-Hitler-Deutschland gehalten und lange Zeit niemanden gesehen, der ihn hätte ersetzen können 54. Zum Freundeskreis gehörten ferner der letzte Vorsitzende der Reichstagsfraktion (seit 1929) Ludwig Perlitius (312) — auch gerühmt wegen seines „klugen und gemäßigten Auftretens" gegenüber agrarischen Interessenvertretern (216, 296) 55 —, der Oldenburger Ministerialrat August Wegmann (216, 312, 648) 56 , der Justizrat und zeitweilige Reichsminister Johannes Bell aus Essen (132, 216, 312, 648), der Düsseldorfer Senatspräsident Rudolf Schetter (216), das Kölner Vorstandsmitglied des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbands Otto Gerig (312) — dieser, wie Letterhaus, von den Nationalsozialisten ermordet —, der preußische Justizminister Hugo am Zehnhoff (60) sowie der Landtagsabgeordnete (1932/33) Franz Graf von Galen 57 . Zu positiv beurteilten geistlichen Abgeordneten zählten der schlesische Parteivorsitzende Carl Ulitzka 58 sowie der Generalsekretär der Katholischen Arbeiterbewegung Westdeutschlands Hermann-Josef Schmitt, aber auch der (zunächst skeptisch beurteilte) badische Zentrumsvorsitzende Ernst Föhr (217). Dazu gehörte schließlich der geistliche Fraktionskollege Heinrich Brauns, „einer der hervorragendsten Minister" der Weimarer Republik (70 f., 78, 92, 102 f., 112,114,133), der „weit über den Rahmen eines Parteipolitikers hinausgewachsen" sei (114). 52 53

16. September 1945 an Theobald J . Dengler. Briefe I, S. 435; 5. Mai 1947 an Thomas Esser. 7. Juni 1945 an Mona Anderson. Briefe I, S. 432.

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1. Oktober 1946 an Marianne Hapig. Briefe II, S. 451; 5. Mai 1947 an T h o m a s Esser; 27.

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Juni 1937 an L u d w i g Perlitius. Briefe I, S. 141; 5. Mai 1947 an T h o m a s Esser.

November/3. Dezember 1948 an Helene Weber. Ebd., S. 163. 56

5. September 1949 an Claire Nix. Briefe II, S. 146; 4. Juni 1953 an Claire Nix. Ebd., S. 331.

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Tagebuchnotiz vom 27. März 1935. Briefe I, S. 66; Mai 1955 an Annemarie Schellenberger.

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25. Mai 1935 („politisches Testament"). Briefe I, S. 464; Mai 1955 an Annemarie Schellenber-

Briefe II, S. 388. ger. Briefe II, S. 388.

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Einen Sonderfall stellte Brünings positive Würdigung Friedrich Dessauers insofern dar, als er diesem Freunde im Rückblick eine politische Bedeutung in der Zentrumsfraktion zugemessen hat (615, 658) 59, die aus zeitgenössischen Zeugnissen nicht erkennbar ist. Dieses Urteil ist auch deswegen um so bemerkenswerter, als Dessauer Mäzen und Inspirator der „Rhein-Mainischen Volkszeitung" in Frankfurt a. M. war, deren Mitte-Links-Kurs in der Linie von Joseph Wirth von Brüning abgelehnt wurde. Von ehemals christlichen Gewerkschaftlern wurden später noch Wilhelm Gutsche (61, 66, 128), Bernhard Otte (570), Heinrich Imbusch (61, 88, 94) 60 und Franz Wieber — „einer der aufrechtesten Männer und saubersten Charaktere, denen ich nach 1918 begegnet bin" (61, 88, 676) — entsprechend belobigt. Dabei verdeutlicht Wiebers Einschätzung als „glühender Patriot und Monarchist" 61 dessen geistige Nähe zu Brüning. Von den nach 1945/49 in der deutschen Politik wieder aktiv tätigen früheren Zentrumsparlamentariern und christlichen Gewerkschaftlern hat Brüning rückblickend einige durchgehend positiv beurteilt — Johannes Gronowski, Heinrich Krone, Heinrich Lübke, Christine Teusch, Heinrich Vockel, Helene Weber und den schon genannten August Wegmann —, zunächst auch Karl Arnold und Jakob Kaiser 62. Über die beiden zuletzt genannten äußerte sich der Exkanzler jedoch seit Anfang der fünfziger Jahre zunehmend kritischer, da sie sich gegenüber Adenauer nicht durchzusetzen vermochten. Durchgehendes Lob zollte der Exkanzler auch Hermann Pünder, dem früheren Chef der Reichskanzlei, mit dem er in einem dichten Briefwechsel verblieb. Bemerkenswert ist eine noch kaum beachtete positive Einschätzung der drei — in Brünings Memoiren nicht erwähnten — Jesuitenpatres Gustav Gundlach, Robert Leiber und Ivo Zeiger 63, obwohl sie für Kardinalstaatssekretär Pacelli bzw. Papst Pius XII., dem Brüning äußerst reserviert gegenüberstand, wichtige Beraterfunktionen wahrnahmen. 2. Distanzierte beziehungsweise zwiespältige Würdigungen Wenig schmeichelhaft ist Brünings Charakteristik des Parteivorsitzenden (1922 bis 1928) und viermaligen Reichskanzlers Wilhelm Marx; ihn hielt er 59 60 61 62

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8. Mai 1959 an Franz Dessauer. Vgl. K. Repgen, Ungedruckte Nachkriegsquellen, S. 405. 17. Dezember 1948 an Frau Imbusch. Kopie im Besitz des Verf. 20. Dezember 1949 an Johannes Maier-Hultschin. Außer Betracht bleibt die Einschätzung früherer BVP- und späterer CSU-Politiker, auf die ich an anderer Stelle eingegangen bin: Brüning und Bayern, in: Archivalische Zs., 73, 1977, S. 204 ff. Ivo Zeiger: „Ein alter Freund von mir" (8. Dezember 1948 an Josef Ruffini. Kopie im Besitz des Verf.). — Leiber: „von mir sehr geschätzt" (1. März 1959 an Franz Dessauer. Kopie im Besitz des Verf.) — Leiber und Zeiger: „Die beiden für unsere Heimat am stärksten wirkenden Kräfte" (10. Januar 1951 an Hermann Ullmann); „kluge Leute" (28. November

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zu abhängig von der „Meinung anderer" (120), konkret: von derjenigen Carl Spieckers. Neutral blieb das Urteil über Thomas Esser (216, 638, 665). Hingegen vergrößerte sich die Distanz des Exkanzlers zu Josef Joos (667), obwohl dieser zum Freundeskreis von Letterhaus gehört und 1932/33 als stellvertretender Zentrumsvorsitzender eng mit und uneigennützig zugunsten von Brüning gearbeitet hatte. Nach 1949 wurde das Urteil über den gebürtigen Elsässer in dem Maße negativer, in dem Joos, der das KZ Dachau überlebt und vorübergehend in Frankreich gewohnt hatte, als Vorsitzender des Katholischen Männerwerks in Fulda die Westintegrationspolitik Adenauers unterstützte 64. Das durchgehende Spannungsverhältnis Brünings zu Adenauer, seit Mitte der zwanziger Jahre, das nur für die Zeit des politischen Aufstiegs des CDUPolitikers in den Jahren 1945/46 bis 1949/50 gleichsam neutralisiert gewesen ist, habe ich bereits früher behandelt 65 , so daß ich darauf verweisen kann. In erheblicher Distanz blieb Brüning zu den „Zentrumsprälaten" Josef Schofer (gestorben 1930), Albert Lauscher (638 f.,668) — der 1933 in seiner Haltung geschwankt habe — und Georg Schreiber. Die Bedeutung des Kulturpolitikers Schreiber erkannte er durchaus an, charakterisierte ihn aber als „zu geschäftig" 66, „alle Parteien" hätten Schreiber einfach nicht ertragen können 67. Brünings Kritik an der „Diktatur" beziehungsweise am „System" (570, 639) von Josef Heß wurde schwächer, nachdem er diesen Vorsitzenden der preußischen Zentrumsfraktion seit 1928 näher kennengelernt hatte. Wenig sympathisch war ihm der Koblenzer Theodor von Guerard, Vorsitzender der Reichstagsfraktion von 1926 bis 1929, den er bei der Regierungsbildung von 1930 in sein Kabinett habe übernehmen müssen (167). Ein weiterer Rheinländer, der Kölner Direktor des Reichsverbands deutscher Konsumvereine, Peter Schlack, ist vom Memoirenschreiber durch die Kennzeichnung „Interessenvertreter" abgestempelt (176, 214). Zwiespältig blieb Brünings Urteil über Joseph Wirth, dessen „mutige Politik" (76), „vaterländische" Arbeit und „große Leistungen" in schwieriger

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1956 an Johannes Maier-Hultschin). Über ein Gespräch Brünings mit Leiber: 14. August 1950 an Patrick Barry. Briefe II, S. 232 f. 23. Januar 1950 an Franz Thedieck. BA, Nachlaß Thedieck; 4. Juli 1954 an Gustav Olef; 29. Januar 1958 an Helene Weber. Briefe II, S. 449. Brüning kannte später das Büchlein von }.Joos, So sah ich sie. Augsburg 1958, in dem es heißt (S. 91): Brüning habe sich „zuweilen gründlich geirrt", so in seiner Einschätzung Hindenburgs. Vgl. Rudolf Morsej, Brüning und Adenauer. Düsseldorf 1972, passim; ders., Brünings Kritik am politischen Wiederaufbau in Deutschland 1949—1955, in: Demokratie in Anfechtung und Bewährung, hrsg. von Josef Listl und Herbert Schambeck. Berlin 1982, S. 288 ff. 29. November 1945 an Fritz Kühr. Briefe II, S. 23; 27. November/3. Dezember 1948 an Helene Weber. Ebd., S. 163. 8. Mai 1958 an Franz Dessauer. Vgl. K. Repgen, Ungedruckte Nachkriegsquellen, S. 406.

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Zeit als Reichskanzler sein späterer Nachfolger rückhaltlos anerkannte. Wirth habe durch seine „Erfüllungspolitik" mit der Einheit des Reiches auch den Verbleib Oberschlesiens beim Reich gerettet und sich durch seine „Russenpolitik" 68 sowie die damit parallel verlaufene geheime Aufrüstung (481) die „dauernden Sympathien" der Reichswehr gesichert 69. Andererseits verschwieg Brüning nicht, daß er Wirths „einseitige Linkseinstellung" in der „inneren Politik" nicht geteilt 7 0 und 1930 diesen badischen Fraktionskollegen — der seiner Partei jahrelang erhebliche Schwierigkeiten gemacht hatte (120) — nur ungern in sein Kabinett übernommen habe (162, 187). Später kritisierte er Wirths „Flucht" aus Deutschland (Ende März 1933) und dessen Verhalten in der Emigration — Anbiederung an die Reichsregierung —, eingeschlossen die Bereitschaft zur Bildung einer Exilregierung 71 . Diese Kritik betraf auch die Nachkriegsaktivitäten Wirths („naiv") und dessen Versuch, wieder eine politische Rolle zu spielen 72. 3. Negativ beurteilte Persönlichkeiten Zu den durchgehend, bereits aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg kritisch beurteilten früheren Zentrumspolitikern gehört in erster Linie Matthias Erzberger. Auch dessen Leistung als Reichsfinanzminister schätzte Brüning mit zunehmendem zeitlichen Abstand negativer ein, als er das zunächst getan hatte 73 . Ähnlich grundsätzliche Kritik galt dem kurzfristig (1927/ 28) amtierenden Reichsfinanzminister Heinrich Köhler, obwohl Brüning ihn seiner Fraktion als Kandidaten für dieses Amt vorgeschlagen hatte (124) 74. Der Exkanzler warf Köhler vor, er habe 1927 für die Beamten eine „übersteigerte" (174), ja „wahnsinnige Gehaltserhöhung" durchgesetzt 75 , und dies zu einem Zeitpunkt, in dem Brüning (zusammen mit Hilferding und

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7. Mai 1959 an Fritz Burgbacher. Briefe II, S. 466. 18. Februar 1956 an Ernst Föhr. Ebd., S. 407. Ebd. 21. Januar 1941 an Werner Thormann. Briefe I, S. 338; Juni 1947 an Hermann Pünder. Briefe II, S. 457. 8. Juli 1953 an Josef Ersing. Ebd., S. 333; 30. Juli 1954 an August H. Berning. Ebd., S. 358. Dazu vgl. Rudolf Morsey, Leben und Überleben im Exil. Am Beispiel von Joseph Wirth, Ludwig Kaas und Heinrich Brüning, in: Um der Freiheit willen. Eine Festgabe von und für Johannes und Karin Schauff, hrsg.von Paulus Gordan. Pfullingen 1983, S. 88 ff. Vgl. R. Morsey, Brünings politische Weltanschauung, S. 334; ders., Brünings Kritik an der Reichsfinanzpolitik 1919-1929, in: Geschichte, Wirtschaft, Gesellschaft, hrsg. von Erich Hassinger u. a. Berlin 1974, S. 362. 18. Juni 1956 an Otto A. Friedrich. Vgl. Heinrich Köhler, Lebenserinnerungen des Politikers und Staatsmanns 1878 — 1949, hrsg. von Josef Becker. Stuttgart 1964, S. 189. 30. August 1954 an Otto A. Friedrich; 2. Januar 1958 an Hans Berger. Kopie im Besitz des Verf.

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anderen Abgeordneten) in Südamerika weilte. Das habe der „Intrigant" Köhler (124, 127, 175, 214) ausgenutzt 76 . Im Unterschied zu einer positiven Erwähnung in den Memoiren (570) wurde der preußische Wohlfahrtsminister Heinrich Hirtsiefer in brieflichen Äußerungen kritisiert 77 , sein Fraktionskollege und Landwirtschaftsminister Heinrich Steiger sogar als „unmöglich" (483) und „politischer Opportunist" bezeichnet 78 . Betonte Distanz bewahrte Brüning zum badischen Großindustriellen und Reichstagsabgeordneten (seit 1932) Albert Hackelsberger (609). Ihm warf er vor, im März 1933 zu rasch auf Anpassungskurs gegangen zu sein, eigenmächtig mit Papen und Frick verhandelt, von vornherein auf Annahme des Ermächtigungsgesetzes und, wenige Wochen später, auf Auflösung der Zentrumspartei gedrängt zu haben (657, 673) 79 . Andererseits erkannte Brüning an, daß sich Hackelsberger zum gleichen Zeitpunkt „anscheinend die allergrößte Mühe" gegeben habe, seine Bekanntschaft mit einigen NS-Größen zu benutzen, um bedrohten Zentrumszeitungen zu helfen (667). Noch schärfer fiel das Urteil über den letzten Geschäftsführer der preußischen Zentrumsfraktion Fritz Grass aus („Karrierist", „instinktlos-anpassungsbereiter Unterhändler mit NS-Vertretern", 570, 639, 643). Dieser habe im Juni 1933 auf Auflösung des Zentrums gedrängt, um rechtzeitig den Absprung zu finden (673). Zu Brünings unversöhnlichen innerparteilichen Gegnern zählte der schon erwähnte Carl Spiecker, der, „fast dogmatisch links" eingestellt (72 f.), versucht habe, das Zentrum „nach links" zu drängen 8 0 . Als Kontrahent von Stegerwaids Volkspartei-Zielsetzung sei er bestrebt gewesen, das Zentrum „Berliner Typen der SPD völlig zu unterwerfen" 81. Der Exkanzler konnte Spiecker nicht verzeihen, daß dieser 1925 als Pressechef der soeben abgelösten Reichsregierung Marx „auf eigene Faust" große Politik gemacht habe: Er habe die aussichtsreiche Präsidentschaftskandidatur von Otto Geßler im Zentrum „durch Verbreitung übler Gerüchte und Andeutung

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20. Dezember 1949 an Johannes Maier-Hultschin; 18. Juni 1956 an Otto A. Friedrich. 29. September 1940 an Wilhelm Sollmann. Vgl. Th. A. Knapp, Brüning im Exil, S. 109. Ebd. Am 5. Februar 1946 an Johannes Maier-Hultschin: Hackelsberger sei ein unbedingter Anhänger von Kaas gewesen. 20. August 1946 an Wilhelm Sollmann. Vgl. Th. A. Knapp, Brüning im Exil, S. 117 f. Am 8. Dezember 1948 an Gustav Olef: Spiecker und seine engsten Freunde „gehörten ja eigentlich immer mehr zur SPD als zu uns". Ähnlich 19. Januar 1949 an Johannes Gronowski. Kopie im Besitz des Verf. 14. November 1945 an Johannes Maier-Hultschin. Briefe II, S. 19; 29. November 1945 an Fritz Kühr. Ebd., S. 22 f.

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außenpolitischer Gefahren" 82 erfolgreich hintertrieben und so die Aufstellung des von ihm entsprechend beeinflußten Wilhelm Marx (120) „erpreßt" 83. Zur Vervollständigung dieses Bildes gehört, daß Spiecker aufgrund seiner — noch keineswegs aufgeklärten — Aktivitäten während der Emigration von Brüning später ungewöhnlich scharf kritisiert („gewissenlos") worden ist 8 4 , auch wegen seiner kurzzeitigen Führungsrolle in der neuen Zentrumspartei nach 1945. In dieses Verdikt wurden auch Spieckers zeitweilige Mitarbeiter Heinrich Teipel und Werner Thormann, frühere Redakteure der „RheinMainischen Volkszeitung", einbe20gen 85. Die negative Einschätzung des bis zu seiner Ernennung zum Reichskanzler dem Zentrum angehörenden Franz von Papen ist aus Brünings Memoiren zur Genüge bekannt und ließe sich durch viele briefliche Urteile ergänzen 86. Das dauerhafteste und schärfste Verdikt Brünings, sowohl in seinen Memoiren als auch in zahlreichen späteren Äußerungen, galt dem Parteivorsitzenden Ludwig Kaas wegen seiner Verantwortungsscheu und seines politischen Fehlverhaltens 1932 und 1933. Darüber ist an anderer Stelle das Erforderliche gesagt worden 87. Diese ungewöhnlich negative Be- beziehungsweise Verurteilung des Prälaten ist nur verständlich im Zusammenhang der Suche des gescheiterten konservativen Demokraten und unfreiwilligen Emigranten nach personifizierten Sündenböcken, wie Brüning sie für andere Fehlentwicklungen in der Umgebung Hindenburgs gefunden hat 8 8 . V. Würdigung Sucht man nach den Gründen für Brünings auffällige Distanzierung von seiner früheren, vermeintlich von Windthorsts Linie abgewichenen Partei und 82

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31. Januar 1955 an Otto Gessler. Vgl. Otto Cessler, Reichswehrpolitik in der Weimarer Republik, hrsg. von Kurt Sendtner. Stuttgart 1958, S. 507 f. Zit. bei Ulrich von Hehl, Wilhelm Marx. Mainz 1987, S. 338 Anm. 15, mit dem Kommentar: „eines jener zahlreichen ex postUrteile des verbitterten Ex-Kanzlers, die nur mit großer Vorsicht aufzunehmen sind". 20. Juni 1947 an Gustav Olef. 31. Juli 1947 an Gottfried Reinhold Treviranus. Briefe II, S. 93. 22. Mai 1945 an Johannes Maier-Hultschin. 22. Juli 1952 heißt es an Johannes Maier-Hultschin, die „Junker" hätten Papen nicht ernstgenommen, „wohl aber Kaas und einige Bischöfe". Am 24. Juli 1953 an Franz Dessauer: Papen sei schon im Landtag von den meisten Fraktionsmitgliedern nicht ernstgenommen worden: „Man amüsierte sich gelegentlich über seine Eskapaden, regte sich aber darüber nicht auf." Kopie im Besitz des Verf. Dazu vgl. R. Morsey, Leben und Überleben, S. 99 ff.; Ludwig Volk, Brüning contra Pacelli, 1970; ders., Die unverzeihlichen Sünden des Prälaten Kaas, 1970, wiederabgedruckt in: ders., Katholische Kirche und Nationalsozialismus, hrsg. von Dieter Albrecht. Mainz 1987, S. 321 ff. Ludwig Volk hat in bezug auf Brünings Urteil über Kaas und Pacelli von „Vorwürfen von erschreckender Krudität" gesprochen und von „Leidtragenden ... partieller Verfinsterungen

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für eine damit verbundene Kritik an so vielen seiner ehemaligen prominenten Parteifreunde und Kabinettskollegen, so fallt zweierlei auf: 1. Mit dieser Distanzierung verband sich eine erstaunlich positive Einschätzung der gemäßigten politischen Rechten und der mit ihr verknüpften, undifferenziert als vorbildlich bewerteten preußischen Traditionen. Sie war auch die Folge einer Kompensation konfessioneller Minderwertigkeitsgefühle des in Berlin bis Ende 1929 im „Hintergrund" wirkenden, in mancher Hinsicht isolierten katholischen Westfalen. Im Zusammenhang damit stand eine in dieser Schärfe unberechtigte Kritik an der vatikanischen Deutschlandpolitik, die sich für Brüning neben Kaas vor allem in der Person des Nuntius beim Reich (1920 bis 1929) und späteren Kardinalstaatssekretärs Eugenio Pacelli verkörperte. 2. Unter den vom späteren Memoiren- und Briefschreiber besonders kritisierten früheren Zentrumsparlamentariern befinden sich auffallend viele Rheinländer (Adenauer, Esser, von Guerard, Hess, Kaas, Lauscher, Marx, Schlack), während umgekehrt Schlesier durchweg gut wegkommen (Otte, Porsch, Perlitius, Ulitzka). Sodann wurden die bekanntesten „Zentrumsprälaten", das waren neben Kaas und Lauscher noch Schofer und Schreiber, eher negativ beurteilt, im Unterschied zu anderen geistlichen Politikern, die außer Ulitzka allerdings (noch) keine „Prälaten" waren (wie Brauns, Föhr und H.J. Schmitt). Andere ehemalige Zentrumspolitiker erhielten nach 1949 in dem Maße positive „Zensuren", in dem sie sich gegenüber dem Bundeskanzler Adenauer durchzusetzen wußten oder zumindest von ihm zu distanzieren schienen beziehungsweise weiterhin engen Kontakt mit Brüning hielten. Der Exkanzler blieb Ansichten und Erfahrungen aus der Zeit der Weimarer Republik verhaftet, einer Epoche, in der nach seiner Meinung „Unglaubliches" geleistet worden sei 8 9 . Diese Verwurzelung in der Vergangenheit hat der Publizist Edgar Alexander, ein von Brüning nicht geschätzter Leidensgefährte in der amerikanischen Emigration, früh erkannt, aber in seiner Adenauer-Apologie von 1956 übermäßig scharf kritisiert 90.

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von Brünings Personengedächtnis". Brüning in seinen Briefen, in: Stimmen der Zeit, 193, 1975, S. 140. Unbeschadet aller früher geübten Kritik schrieb Brüning am 13. Juni 1952 an Josef Ersing: „Der Tod von Kaas ist mir sehr nahegegangen." Kopie im Besitz des Verf. 22. Dezember 1947 an Thomas Esser. Vgl. Adenauer und das neue Deutschland. Recklinghausen 1956 passim. Dazu vgl. Brünings Brief vom 8. Mai 1959 an Franz Dessauer bei K. Repgen, Ungedruckte Nachkriegsquellen, S. 407, sowie zahlreiche Vermerke bei Theodor Heuss, Tagebuchbriefe 1955/1963, hrsg. von Eberhard Pikart. Tübingen 1970, S. 623 im Register. Ferner Rudolf Morsey, Brünings Kritik an Adenauers Westpolitik, in: Demokratie und Diktatur. Festschrift für Karl Dietrich Bracher zum 65. Geburtstag, hrsg. von Manfred Funke u. a. Düsseldorf 1987, S. 357 f. Bemerkenswert ist das Urteil des rheinland-pfälzischen CDU-Politikers Adolf Süsterhenn vom 10. Januar 1955

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Wenn man sich Brünings „ständige Konfrontation mit seiner eigenen Geschichte" 91 v o r Augen hält und deren Ergebnis aufzeigt, darf man nicht verschweigen, daß der Exkanzler für sich aus dieser Geschichte zwei zukunftsweisende Lehren abgeleitet hat: Seit 1945 trat er unbeirrt zugunsten der interkonfessionell-christlichen Unionsparteien ein, die ohne sein Zutun in Deutschland entstanden waren. Gleichermaßen konsequent befürwortete er eine Annäherung der Konfessionen in der alten Heimat, auch wenn sie ihm so fremd geworden war, daß er sie 1955 zum zweiten Mal und endgültig verlassen hat.

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an Georg Bitter (den Verleger von E. Alexanders Buch): „Brüning glaubt in seiner westfälischen Starrheit, die heutige deutsche Politik dort fortsetzen zu können, wo er sie 1933 verlassen hat. Sein 20jähriges Leben in Amerika scheint ihm nicht zu einer Weitung seines Blickfeldes verholfen zu haben." Ähnlich am 27. Oktober 1958 in einer Aufzeichnung des Kölner Bankiers Josef Horat£ (nach einem Besuch bei Brüning in den USA): Brüning lebe nach wie vor in der Vergangenheit und beschäftige sich „vornehmlich mit den Problemen, die in den Jahren seiner Kanzlerschaft auf ihn zukamen". Kopien im Besitz des Verf. So Th. A. Knapp, Brüning im Exil, S. 104.

Hermann Broch und Carl Schmitt von Wolfgang Graf Vitzthum*

„ H e r r n P r o f e s s o r D r . Carl S c h m i t t / in E r g e b e n h e i t / H e r m a n n B r o c h / F e b r u a r 1 9 3 2 " . M i t dieser h a n d s c h r i f t l i c h e n W i d m u n g ü b e r m i t t e l t e d e r ö s t e r reichische D i c h t e r d e m geistreichen, spätestens seit seiner E n t s c h e i d u n g f ü r Hitler v i e l u m s t r i t t e n e n d e u t s c h e n

Staatsrechtslehrer ein S e p a r a t u m

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„ L o g i k einer z e r f a l l e n d e n W e l t " . 1 D i e u n g l e i c h e n K o r r e s p o n d e n z p a r t n e r , die sich d u r c h F r a n z Blei k e n n e n g e l e r n t hatten 2 , w i e s e n Ä h n l i c h k e i t e n i m A h n e n h e r a n n a h e n d e r K r i s e n u n d i m D e n k e n in d e m o k r a t i e s k e p t i s c h e n K a t e g o r i e n auf. W e n n ich n a c h f o l g e n d einigen staatstheoretischen G e d a n k e n

Brochs

u n d S c h m i t t s n a c h g e h e u n d K o n t e x t , V e r s c h r ä n k u n g und K o n s e q u e n z i h r e r Ü b e r l e g u n g e n skizziere — in d e r H o f f n u n g , d a ß d e r v e r e h r t e J u b i l a r als g e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t l i c h e r E x p e r t e g e r a d e d e r hier a n g e r u f e n e n E p o c h e an den tastend ü b e r g r e i f e n d e n V e r s u c h e n des j ü n g e r e n rechts w i s s e n s c h a f t l i c h e n

* Nachfolgende Skizze ist aus einem Referat hervorgegangen, das ich auf einem Symposion gehalten habe, das aus Anlaß der 100. Wiederkehr des Geburtstages von Broch vom 30. Oktober bis 2. November 1986 in der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart stattfand. Wesentliche Resultate des interdisziplinären Kongresses finden sich in: Michael Kessler/Paul Michael Lützeler (Hrsg.), Hermann Broch. Das dichterische Werk — Neue Interpretationen, Tübingen 1987 und Lützeler/Kessler (Hrsg.), Brochs theoretisches Werk, Frankfurt a. M. 1988. — Brochs Schriften sind nach der von Lützeler bei Suhrkamp von 1974 bis 1981 herausgegebenen Kommentierten Werkausgabe (KW) zitiert. Beispiel: KW 9/1, 15 bedeutet: Hermann Broch, Kommentierte Werkausgabe Bd. 9/1, Schriften %ur Literatur: Kritik, Frankfurt a. M. 1975, Seite 15. — Schmitts Schriften liegen nicht so übersichtlich-geschlossen vor. Insofern teile ich auch Nachdruck-Daten mit. 1 Der Essay (KW 10/2, 156 ff.) wurde erstmals veröffentlicht in: Frank Thiess (Hrsg.), Wiedergehurt der Liehe. Die unsichtbare Revolution, Berlin 1931, S. 361—380. Als „Zerfall der Werte" ging er dann teilweise in den Huguenau-Teil der 1932 abgeschlossenen Schlaf¡vandlerTrilogie (KW 1, 418 ff.) ein. Im Unterschied zu diesem zehnteiligen Exkurs war jener theoretische Essay nicht mit fiktional Erzähltem verschränkt. 2 Als Autoren (zudem mit für sie zentralen Themen) finden sich Broch wie Schmitt bereits im 1. Heft der von Franz Blei hrsg. (katholischen) Vierteljahresschrift Summa, 1917, wobei Broch „Zur Theorie der Werte" und Schmitt über „Adam Müller", den „unentschiedenen Gegenaufklärer" publizierte. 1942 setzte sich Broch dann für den verarmten, kranken Emigranten Blei in New York ein, KW 13/2, 283 ff., 289. - Außer zu Broch und Blei hatte Schmitt Beziehungen zu den Schriftstellern Hugo Ball, Gottfried Benn, Theodor Däubler, Ernst Jünger, Robert Musil, Rolf Schroers, Ernst Stadler und Konrad Weiß, wobei die zu Weiß, Däubler und Jünger die intensivsten waren.

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Wolfgang Graf Vitzthum

K o l l e g e n nicht zu viel z u r e c h t z u r ü c k e n f i n d e t —, so steht d e r a u ß e r h a l b d e r L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t e n w e n i g e r b e k a n n t e A u t o r d e r Politischen 1 1 ) u n d d e r Massenwahntheorie

Schriften

(KW

( K W 1 2 ) als R e p r ä s e n t a n t antifaschistischen

D e n k e n s d e r d r e i ß i g e r u n d v i e r z i g e r J a h r e i m V o r d e r g r u n d . Dichter, die i h r e r d e s o r i e n t i e r t e n E p o c h e in politicis H i l f e zu g e b e n v e r s u c h t e n , h a b e n H i s t o r i k e r w i e Staatsrechtler stets fasziniert — g e r a d e auch d a n n , w e n n in einer m i t t l e r w e i l e stark v e r ä n d e r t e n W e l t ein kritisches Ü b e r p r ü f e n

und

A n p a s s e n d e r v o m D i c h t e r k r e i e r t e n B e g r i f f e u n d K o n z e p t e g e b o t e n ist.

I. B r o c h s h o c h a b s t r a k t e r Traktat ü b e r d e n Z e r f a l l d e r W e r t e ( K W

10/2,

1 5 6 ff.) 3 k o n s t a t i e r t e d e n V e r l u s t d e r o b e r s t e n , e i n h e i t s t i f t e n d e n Idee, die D e s t r u k t i o n des als b e r g e n d e m p f u n d e n e n , v o m D i c h t e r

4

idealisierten mittel-

alterlich-kirchlichen W e r t e k o s m o s 5 , die D e s i n t e g r a t i o n des „ G e s a m t s t a a t e s

3

4

5

Das Widmungsexemplar befindet sich im Besitz meines Tübinger Kollegen Roman Schnur, der mich dankenswerterweise auf die Verbindung Broch-Schmitt hinwies. Weitere Querverbindungen etc. bei Jacob Taubes, Ad Carl Schmitt. Gegenstrebige Fügung, Berlin 1987; Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1982, S. 140 ff.; Schnur, „Aufklärung", Der Staat 29, 1988, S. 437 ff. — Auf Schmitts jüngere wertphilosophische Veröffentlichung „Die Tyrannei der Werte", Neuabdruck in: Sepp Schelz (Hrsg.), Die Tyrannei der Werte, Hamburg 1979, wird nachfolgend aus Raumgründen nicht eingegangen. Deshalb nur so viel: Gegenüber der im Ergebnis material-moralischen Argumentation Brochs besteht hier, bei dieser Mißtrauenserklärung gegenüber einer überzogenen Moralität, eine starke, z. T. berechtigte Spannung. Die besten Absichten können — zumal in Deutschland — ja zu schlimmsten Folgen führen. Die Furcht vor einer Moralisierung aller Lebensbereiche stammt im übrigen bereits aus der Frühmoderne. Angaben zu Broch bei Lützeler, Hermann Broch — eine Biographie, Frankfurt a. M. 1985; Manfred Durzak, Hermann Broch in Selbst^eugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1966. Die Politischen Schriften (KW 11) habe ich schon einmal skizziert in „Die demokratie- und völkerbundtheoretischen Schriften", in: Lützeler (Hrsg.), Hermann Broch. Neue Studien und Essays, Frankfurt a. M. 1986, S. 289—307. Die völkerbundtheoretischen Arbeiten Brochs können nachfolgend aus Platzgründen nicht behandelt werden, trotz ihres Interesses auch im Hinblick auf Schmitts hier ebenfalls ausgeblendete völkerrechtliche Studien. Durzak, Hermann Broch. Der Dichter und seine Zeit, Stuttgart u. a. 1968, S. 143, weist — diskussionsbedürftig — auf Ähnlichkeiten zur Auffassung von Hofmannsthal hin: „Aber Broch geht es nur um eine Erkenntnis der geschichtlichen Gesetzmäßigkeit des Zerfallprozesses, um von dort her ein zukünftiges ganzheitliches Weltbild anzustreben, das aber von dem mittelalterlichen durchaus verschieden sein wird. Hofmannsthal scheint es dagegen um eine Wiederbelebung und Konservierung des alten Zustandes zu gehen." In der Forschung insgesamt ist der Stellenwert des Mittelalters bei Broch umstritten. Treffend Richard Brinkmann, „Zu Brochs Symbolbegriff', in: Lützeler/Kessler (FN *), S. 35 ff. (42): „Manche Äußerungen Brochs klingen ja nicht nur nach .Verlust der Mitte' und einem entsprechenden sehnsüchtigen Blick in die Vergangenheit aus einer restaurativen Grundstimmung ...". —

Hermann Broch und Carl Schmitt

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d e r geistigen Idee" in einen „ f ö d e r a t i v e n V e r b a n d a u t o n o m e r W e r t e " , „ u n d bald w a r es auch keine F ö d e r a t i o n m e h r ! " ( K W 10/2, 1 6 8 ) . D i e „ Z e r s c h l a g u n g des G e s a m t s y s t e m s " d e r „Werttotalität" ( K W 1 1 , 4 2 ) in relativistische Teilgebilde w a r das u. a. v o n M a x W e b e r inspirierte T h e m a d e r B r o c h s c h e n R e f l e x i o n , die entfesselte K o n k u r r e n z a u t o n o m g e w o r d e n e r , v o n d e r M o r a l emanzip i e r t e r P a r t i a l w e r t s y s t e m e , die jetzt ihre je eigene „ L o g i k " entfalteten. A l s A u t o d i d a k t u n d A u f k l ä r e r b e k l a g t e d e r S c h r i f t s t e l l e r die w a c h s e n d e I r r a t i o n a lität bei gleichzeitiger „ V e r w i s s e n s c h a f t l i c h u n g " ( K W 9/2, 4 5 ) , das V o r d r i n g e n des „detotalisierenden", v e r f l a c h e n d e n P o s i t i v i s m u s , die „ D e m o k r a t i e

der

F a k t e n " 6 , d e n V e r l u s t d e r „ L e t z t a x i o m e " ( K W 10/2, 1 9 6 ) . P o l i t i k , W i r t s c h a f t , W i s s e n s c h a f t — sie alle b e f r e i t e n sich, w i e nicht n u r B r o c h k o n s t a t i e r t e , aus i h r e r V e r b i n d u n g m i t G o t t u n d m i t p l a t o n i s c h e n Ideen u n d setzten n u n ihre eigene G e r e c h t i g k e i t d u r c h . A u s g a n g s des E r s t e n W e l t k r i e g e s — f ü h r t e d e r D i c h t e r diese G e d a n k e n i m J a h r e 1 9 3 3 f o r t ( K W 9/2, 1 2 4 ) -

sei d e r Z u s a m m e n b r u c h aller W e r t e

o f f e n b a r g e w o r d e n ; „die A n g s t u m den V e r l u s t aller L e b e n s w e r t e senkte sich a u f die M e n s c h h e i t , die b a n g e F r a g e nach d e r M ö g l i c h k e i t eines

neuen

Wertaufbaues w u r d e unabweisbar"7 — „unabweisbar" um der Menschen,

6

7

Broch ist jedenfalls insoweit der Moderne zuzurechnen, als er versucht (wie z. B. in den Schlafwandlern), die Zersplitterung des „Materials" in seine Bestandteile — die „Wirklichkeitszertrümmerung" — einerseits als vollzogen zu akzeptieren und andererseits aus ihrem Zusammenfügen eine neue Konsistenz zu gewinnen. Vgl. die Parallele zu Kubisten, Surrealisten, ja auch zu Dadaisten. Zum Kontext Gotthart Wunberg, „Österreichische Literatur und allgemeiner zeitgenössischer Monismus um die Jahrhundertwende", in: Peter Berner u. a. (Hrsg.), Wien um 1900. Aufbruch in die Moderne, Wien 1986, S. 104 ff. (wobei „Monismus" als Begriff m. E. zu hinterfragen ist). Letzterer Begriff von Erich Kahler, Der Sinn der Geschichte, Stuttgart 1964, S. 14. — In Kahlers Haus in Princeton, N. J., wohnte Broch von Juli 1942 bis Juni 1948. Dort stellte der Dichter, von dem Historiker und Kulturphilosophen Kahler lebhaft unterstützt, die letzte Fassung des Vergil her (KW 4, 501, 503). Eine Gedenkplakette an One Evelyn Place erinnert heute an den Wiener Dichter und seinen Prager Gastgeber. Kahler, ein Freund auch von Gundolf, Wolfskehl und Lili Waetzoldt, bekanntgeworden durch den Beruf der Wissenschaft, den er Max Webers Wissenschaft als Beruf entgegengestellt hatte, gehörte zum Freundeskreis um Thomas Mann, dessen Kinder und Albert Einstein. Zu Kahlers Witwe Alice und dem Princeton der 40er und 50er Jahre Astrid v. Friesen, „Er war unsere Sonne, wir anderen die Planeten", Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt Nr. 41 v. 12.10.1986. Zu KahlerGundolf (der Briefwechsel harrt noch der Edition) s. Robert Boehringer/Georg Peter Landmann (Hrsg.), Stefan George Friedrich Gundolf. Briefwechsel, München/Düsseldorf 1962, S. 235 ff. Nach der Brochschen Geschichtstheorie bewegt sich „das Weltgetriebe" zwischen den Polen Wertzusammenschluß/platonisch-religiöse Einheit einerseits und Wertzerfall/Positivismus andererseits. So bezeichnet Broch (KW 10/1, 147 ff.) die geistesgeschichtlichen Phasen („Wellenbewegung") als „dialektischen Idealismus" bzw. „induktiven Positivismus". In „Theologie, Positivismus und Dichtung" (ebd., 191 ff.) heißt dieses Paar „Positivismus — Piatonismus", in Massenwahntheorie (KW 12,464) „Ebenbildhaftigkeit und Anarchie" (wobei unter ersterer

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um der „Humanisierung der Welt" willen. Konsequenterweise traten nun weniger die „persönlichen Belange des Individuums" als „die Menschheit als Ganzes" in den Vordergrund des Brochschen Denkens (ebd., 231). Der kunst-, geschichts- und religionsphilosophische „Zerfalls"-Essay aus dem Jahre 1931 griff in seiner Konsequenz — und hier liegt der Bezug zum Empfanger des Sonderdrucks, zum Verfassungsrechtler Carl Schmitt — in die staatlich-politische Ebene über. Die Zertrümmerung der Werte erschien Broch auch als Delegitimierung der wertfundierten und -bezogenen öffentlichen Institutionen und Verfahren. Angesichts dieser Entwicklung sei die parlamentarische Demokratie — „verkleinertes Abbild dieser komplexen Wertvorgänge" und ohnehin voller „technischer Mängel" (KW 11, 42, 24) — in eine Krise geraten, referierte Broch, nun schon im amerikanischen Exil, nach dem „Anschluß" Österreichs. Aus diesem Befund leitete der Schriftsteller, schon terminologisch vom glänzend formulierenden, schlag- und darstellungskräftigen Juristen beeinflußt und über die Diagnose der Desintegration hinaus nach neuen Identifikationsmöglichkeiten, ja nach einer neuen „Totalität" suchend, demokratietheoretische Folgerungen ab, die teils zu kritischen Rückfragen zwingen, teils nach vorne, über unser Interesse an den beiden Denkern der Krise der Demokratie hinausweisen. Nicht nur jene Parlamentarismuszweifel hat der liberale Demokrat Broch mit dem „irrationalen Rationalisten" Schmitt, von dem ihn so vieles trennt, gemein. Bemerkenswert ist vielmehr vor allem: beide, der einflußreiche spätere Preußische Staatsrat und der so wenig gelesene moderne Dichter, hatten — um einen allgemeinen Topos zu verwenden — keine Angst, „die Entscheidung zu denken" (Maschke). Sie hatten erkannt, auf wie dünnem Eis die Institutionen des Interbellum standen, wie nah der „Zerfall" der unfertigen, entschlußlosen Weimarer Demokratie war, wie gewaltig der Zusammenbruch sein würde. Während Schmitts Dezisionismus, wie sich an ihm selbst zeigte, „wertneutral" wie er war, es nicht erlaubte, zwischen Gut und Böse zu entscheiden, als es darauf vor allem anderen ankam — aber die Wissenschaft hat es nicht mit persönlichem Verhalten, gar Schuldzuweisungen zu tun, sondern mit den Gedanken, die in ihrem Kreise vorgebracht und zur Diskussion gestellt werden 8 —, entwickelte Broch in dieser besonderen Lage den geistigen Mut, die Wertfundierung des Staates, einschließlich der Voraussetzungen und Grenzen der Freiheit in der Demokratie radikal zu Ende zu denken. In seiner Verschränkung von Grundrechten und Demokratie, in seinem „absoluten" Kampf gegen Totalitarismen von rechts wie links hat der

8

primär Autonomie des Denkens verstanden wird). Vgl. auch Angelika Holderried, „Vom Ansprechen der Schlafwandler", in: Besprechungen!Annotationen 11/1987. Andererseits darf zumindest die Rechtswissenschaft ihre Autoren nicht aus der moralischen Verantwortung entlassen.

Hermann Broch und Carl Schmitt

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Dichter einen (mittelbaren) Anteil an der theoretischen Neufundierung des demokratischen Staatsgedankens. Indirekt wurde Broch damit ein Vordenker der „streitbaren Demokratie" des Grundgesetzes. Aus Verzweiflung an der Demokratie seiner Zeit schuf der Dichter politische Entwürfe, deren freiheitswahrende Intention und antitotalitäres Pathos noch heute beeindrucken.

II. Der Intellektuelle mit dem Beruf des Staatsrechtslehrers, dem der „Dichter wider Willen" ein Jahr vor der „Machtergreifung" seinen wertphilosophischen Sonderdruck zuleitete, Carl Schmitt (1888 bis 1985), stellte sich nach dem 30. Januar 1933 bekanntlich den neuen Machthabern bis zu seinem „Abschuß" in der SS-Zeitschrift „Das Schwarze Korps" vom 3. und 10. Dezember 1936 öffentlich zur Verfügung. Ein Jahrzehnt zuvor hatte dieser schillernde, sprachgewaltige, „hemmungslose" (Taubes) Legist den 1918 neu erworbenen Parlamentarismus seiner Zeit einer ideengeschichtlichen Ortsbestimmung unterzogen 9 , welche die verengt positivistischen Bahnen der damaligen Lehre vom Staat verließ. Die nicht nur in den 60er Jahren bei nun neomarxistischen Systemkritikern wieder stark beachtete Streitschrift war eine an deutsche antiparlamentarische Traditionen 10 anknüpfende, so souveränsezierende wie ideologisch verkürzende Kritik des Weimarer Parlamentarismus. Schmitts unhistorische These lautete: als einer Regierungsform, die von der Vorstellung lebe, aus der öffentlichen Diskussion freier Repräsentanten

9

10

Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, München/Leipzig 1923 (2. Aufl. 1926; unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1923: Berlin 1985). Vgl. auch Hasso Hofmann, „Was ist uns Carl Schmitt?", in: Hans Maier u. a. (Hrsg.), Politik, Philosophie, Praxis, Festschrift für W. Hennis, Stuttgart 1988, S. 545 (552 f.); Matthias Kaufmann, Recht ohne Regel?, Freiburg/München 1988, S. 153 ff.; Bernd Rüthers, Entartetes Recht, München 1988, S. 103 f.; Martin Rhonheimer, Politisierung und Legitimitätsent^ug, Freiburg/München 1979, S. 43 ff., 109 ff. In Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen (1918), Stockholmer Gesamtausgabe, Bd. 9, Frankfurt a. M. 1956, hieß es: „Ich will nicht die Parlaments- und Parteiwirtschaft, welche die Verpestung des gesamten nationalen Lebens mit Politik bewirkt ... Ich will Sachlichkeit, Ordnung und Anstand." Ein Jahr später postulierte der junge Broch ( K W 11, 11 ff.) — ständestaatlichen, wirtschaftsdemokratischen Ideologien erliegend — „Entpolitisierung" i. d. S.: „Denn erst wenn der politische Staat völlig von der apolitischen Idee durchdrungen sein wird, wird er zur Gesellschaft des freien Menschen werden" (ebd., 23). Daß auf Grund einer Freund-Feind-Unterscheidung „alles" Politik, „politisch" werden kann, ist demgegenüber zentrale Aussage von Schmitt, Der B e g r i f f des Politischen, 1927 (Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Neuauflage Berlin 1987); dazu Differenzierungen und Folgerungen bei Rhonheimer (FN 9), S. 93 ff.

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ergebe sich zwangsläufig das Richtige, Gemeinwohl-Taugliche n , fehle es dem Parlamentarismus an der realen Grundlage. 1 2 Sein modernes Procedere sei zur leeren Formalität herabgesunken. 1 3 Das „aus liberalen Gedankengängen entstandene Parlament" 14 , einschließlich seiner Wahl — Schmitts Kritik am Parlamentarismus ist ein Element seiner umfassenden Liberalismus- und Pluralismuskritik —, erscheine nun als „künstliche Maschine". 15 11

12

Ein halbes Jahrhundert später formulierte Habermas eine ähnliche petitio principii des Parlamentarismus; mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor war dies bereits die Vorstellung Guizots und der anderen sog. Doktrinäre gewesen, der Kronzeugen Schmitts. Vgl. auch Kaufmann (FN 9), S. 155 ff., 160 ff., 169.; Rhonheimer (FN 9), S. 158 ff. Hierzu und zum folgenden Gerhard Schulz, Deutschlandam Vorabend der großen Krise. Zwischen Demokratie und Diktatur, Bd. 2, Berlin/New York 1987, S. 268 ff., 322 f.; Helmut Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988; Friedrich Karl Fromme, „Der Mann, der den lebenden Parlamentarismus sezierte. Carl Schmitt wird 85", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 11. Juli 1973; Klaus von Beyme, Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa, München 1970, S. 278 ff. Zur Biographie Schmitts Joseph W. Bendersky, Carl Schmitt, Theoristfor the Reich, Princeton 1983, S. 64ff.; Hofmann, „Carl Schmitt oder: Die eigene Frage als Gestalt", in: ders., Recht - Politik - Verfassung, Frankfurt a. M. 1986, S. 242 ff.; Schnur, „Preuße, an Deutschland gescheitert", in: Die Welt, 11. April 1985; Friedrich August Frhr. v. d. Heydte, „Muß ich sterben, will ichfallen ... ", Berg a. S. 1987, S. 42 f. — Nachfolgender Versuch, Schmitt (im „Gegenlicht" von Broch) zu betrachten, hat — bedarf es dieser Feststellung überhaupt? — mit moralischer Relativierung so wenig zu tun wie mit Verdammung. Es geht vielmehr, hier wie bei anderen emotionsgeladenen zeitgeschichtlichen Themen, um wissenschaftliches Verstehen; Verstehen etwa i. S. v. Martin Broszat (bzgl. einer „Historisierung des Nationalsozialismus"), der Verstehen definiert als „historische Einsicht in einem doppelten Sinn, einerseits als distanzierende, analytisch zu gewinnende Erklärung und Objektivierung, andererseits aber auch als begreifende subjektive Aneignung und Nachvollzug vergangener Handlungen, Betroffenheiten und Verflechtungen" (Historische Zeitschrift, Bd. 247,1988). — Vgl. auch Klaus Hansen/Hans Lietzmann (Hrsg.), Carl Schmitt und die Liberalismuskritik, Opladen 1988; Kaufmann (FN 9), S. 31 ff.

13

Diskussionsbedürftig an Schmitts These ist schon die vorgelagerte historische Fragestellung sowie sein Fixieren der Volksvertretung auf eine idealisierte Funktion freier homogener Meinungsbildung und Gesamtvertretung ohne Ansehen individueller Vorprägung und politischer Bildung. Dies ist weder mit den realen Meinungsbildungsprozessen in den Parlamenten noch mit der damaligen (und heutigen) Legitimität parlamentarischer Einrichtungen vereinbar. Sicherste Gewähr für Gemeinwohlorientierung ist die Öffentlichkeit der Beratung (vgl. Art. 42 Abs. 1 GG). Wie die Literatur der westlichen Länder erkannte die Weimarer Staatsrechtswissenschaft an, daß auch nach der Überwindung ständischer Gliederungen in den Kammern nicht homogene, gar „wahrheitsorientierte" Individuen, sondern interessenbezogene, pluralistische Gruppen existierten und ihr Forum fanden; vgl. bereits Hans Rothfels, „Rez. Carl Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus", in: Historische Zeitschrift 142 (1930), S. 316 ff.; s.a. Ulrich Scheuner, „Volkssouveränität und Theorie der parlamentarischen Vertretung", in: Karl Bosl (Hrsg.), Der moderne Parlamentarismus und seine Grundlagen in der ständischen Repräsentation, Berlin 1977, S. 297 ff. (335 f.).

14

Auf einem anderen Blatt stehen die tatsächlichen (massiven) Defizite des Weimarer Parlamentarismus. Zu ihnen etwa Gerhard A. Ritter, Deutscher und britischer Parlamentarismus, Tübingen 1962, S. 31 ff.; Hagen Schulze, Weimar: Deutschland 1917-1933, Berlin 1982, S. 67ff. Geistesgeschichtliche Lage (FN 9), S. 10, 21, 23. In seiner Verfassungslehre (Berlin/Leipzig 1928, unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1928: Berlin 1988), S. 265 ff., war Schmitt

15

Hermann Broch und Carl Schmitt

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In der Konsequenz dieser Kritik löste der Gelehrte in den wilden Jahren 1930/31 die Demokratie (bzw. das demokratische Prinzip der „Identität von Herrschenden und Beherrschten") vom angeblich ideell substanzlosen und geschichtlich toten Parlamentarismus ab. Die legitimierte Staatsgewalt suchte Schmitt nun — und sei es nur aus innenpolitisch-taktischen Gründen, zur „Rettung der Republik" — in der nicht-, ja antiparlamentarischen, volksbestätigten Führung. Der Staatsrechtler blickte dabei primär auf den Reichspräsidenten als Hüter der Verfassung (1931) 16, auf die in Legalität und Legitimität (1932) angedeutete plebiszitäre („akklamierte") Präsidialdiktatur ohne Parlamente und Parteien. Entscheidung, Ordnung, Überparteilichkeit, Volk, Souveränität hießen die Stichwörter der Epoche. Indem Broch (KW 11, 44) als politischer Essayist im Dollfuß- bzw. im ständestaatlichen Schuschnigg-Österreich, das dann keine Demokratie mehr war, den Parlamentarismus als die „rein technische Frage der Demokratie" mit „dem Problem der politischen Wahrheitsfindung durch Majorität" identifizierte, blieb er hier, wie auch bei seiner Sicht der Geschichte der Demokratie (ebd., 47 f.), im Banne der breitgefächerten bürgerlichen und nationalen Parlamentarismuskritik seiner Zeit. Der Ethiker, der sich seines „Geruchssinn^) für Zeitströmungen" rühmte (KW 13/2, 108), griff angesichts der ubiquitären Bedrohung durch den Totalitarismus im Jahr 1939 schließlich zu Metaphern, die von der Gegenseite inspiriert waren. Broch nahm bei Schmitt, einem prägekräftigen, wenn auch eher „ahistorisch-apodiktischen" Begriffsschöpfer (Hofmann), gar sprachliche Anleihen 17, wenn er in seinen wortreich-

16

17

dem Parlament gegenüber dann weniger kritisch, bezweifelte allerdings weiterhin dessen Integrationskraft. — Zur bereits in der Neuromantik verbreiteten Maschinen- und Maschinerie-Metapher vgl. Brief Stefan Georges an Kahler (s. o. FN 6) vom 11. November 1918: „Zum abschiedsgespräch in W. (juni 18): ... Österreich ist kein körper sondern eine maschinerie. es gibt höchstens ö:sitte aber keine ö:seele ..." Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1931: Berlin 1985. — Das präsidiale Kabinettsbildungs- und Notverordnungsrecht unterstrich Schmitt seit 1921. Damit gab er einer tatsächlichen, am Ende wohl verhängnisvollen Entwicklung Flankenschutz: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet". Zur Dialektik von Ausnahmefall und Normalzustand Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, Neuwied/ Berlin 1964, S. 62 ff. Weniger kritisch Taubes (FN 3), S. 72: Schmitt habe im Jahre 1932 gewarnt: „Er wollte die Kommunisten und Nazis ausschließen und ein Präsidialregime für vier Jahre, ..., bis diese radikalen Kräfte ... mindestens ins Abseits geraten." Ähnlich wohl Günter Maschke, Der Tod des Carl Schmitt, Wien 1987, S. 12; unverständlich u.a. aber bereits dessen Feststellung, „der Parlamentarismus von heute" sei „noch um vieles funktionsloser ... als der von 1923", ebd., S. 76 FN 125. Anleihen (an andere Autoren) finden sich vielfach auch im dichterischen Werk (Schmitt seinerseits bediente sich ebenfalls einer „Collage-Technik"). Dazu Hartmut Steinicke, Hermann Broch und der polyhistorische Roman, Bonn 1968, S. 35. — Zu Schmitts umstrittener, zweifellos suggestiver Begriffsschöpfung Christian Meier, „Zu Carl Schmitts Begriffsbildung — Das Politische und der Nomos", in: Complexio (FN 12), S. 537 ff. Maschke, „Carl Schmitt in

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fragmentarischen Politischen Schriften konstatieren zu müssen glaubte, „daß diese, ins Gigantische angewachsene, demokratische Maschinerie sich weitgehend im luftleeren Raum bewegt, daß die professionelle parlamentarische Politik nur durch die sehr dünnen Wahlfaden und die etwas stärkeren Korruptionsfäden mit dem Volke verbunden ist" ( K W 11, 46). 1 8 Konsequenterweise rezipierte der als junger Mann zum Katholizismus übergetretene österreichisch-)üdische Dichter das überzogene, jedenfalls aus heutiger Sicht falsche Verdikt des katholischen Juristen aus dem Sauerland, der sich durch seinen Übertritt ins nationalsozialistische Lager und, seit 1934, durch antisemitische Ausfalle — gipfelnd in dem Beitrag „Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist" (1936) — kompromittiert hatte: „Überlebtheit der parlamentarischen Maschinerie" ( K W 11, 60). „Überlebte Einrichtungen", hieß es, bezogen auf den römischen Senat zur Zeit des Augustus 19 , später im Vergil ( K W 4, 343), „verkehren Wirklichkeit zu Scheinwirklichkeit, Freiheit zu Scheinfreiheit, und dies ist der beste Boden für alles Verbrechertum."

III. Hermann Brochs Position von der Sinnentleertheit des institutionellen Mittelpunktes des parlamentarischen Regierungssystems, einschließlich seiner Thematisierung der „korrupten Republik", war nicht nur vom intellektuellen Magnetismus des in machem unverständlichen, in vielem ambivalenten, in Europa", in: Der Staat 25,1986, S. 575 ff. (593 FN 54) bescheinigt Schmitt eine „vollkommene Laxheit in Fragen geistigen Eigentums", die ihn sogar dazu gebracht habe, „ganze Passagen von anderer Autoren ohne Nachweis einfach zu übernehmen — eine Collage-Technik, wie sie in der Literatur bei Benn und Brecht v o r k o m m t " (und eben auch bei Broch). 18

Zum Einfluß Schmitts auf Broch Michael P. Steinberg, „Totalität und Rationalität", in: Lützeler/Kessler (FN *), S. 210 ff. (215), ein Einfluß, der, soweit ersichtlich, erstmals von mir (FN 4) skizziert wurde. Zu Schmitt in verwirrender Terminologie u.a. Taubes (FN 3), S. 48f.: „Schmitt hat etwas entdeckt ..., nämlich daß Demokratie und Cäsarismus keine Gegensätze sind. Er war antiliberal, aber Demokratie ist doch kein Gegensatz zum Cäsarismus ... Demokratie und Diktatur sind keine Gegensätze, in der Tat. Und Schmitt ist also für die Diktatur als Demokratie." Vgl. demgegenüber zu Recht Kaufmann (FN 9), S. 132 ff.

19

„Ja, in dem alten Bauernstaat ..., da hatten jene Einrichtungen noch ihren guten Sinn, da konnte der Bürger noch die öffentlichen Angelegenheiten überblicken, da hatte die Volksversammlung noch ihren richtigen, wahrhaft freien Willen. Heute hingegen haben wir es mit vier Millionen römischer Bürger zu tun, heute haben wir blinde Riesenmassen vor uns, und diese folgen urteilslos einem jeden, der es versteht, sich in dem schillernd verführerischen Gewand der Freiheit aufzuspielen . . . " ( K W 4, 343). — Vor vorschneller Deutung der politischen Essays an Hand des fiktionalen Werkes sei gewarnt. Der umgekehrte Weg erscheint zwar zunächst breiter und zielführender; er erweist sich im Ergebnis allerdings regelmäßig ebenfalls als Holzweg.

Hermann Broch und Carl Schmitt

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allem ungewöhnlichen Carl Schmitt geprägt. Wichtig waren vielmehr vor allem (auch für den Staatsrechtslehrer) die konkreten politischen Umstände. Ihnen stellte sich Broch politisch-literarisch, und das hieß bei ihm: philosophisch überprüft, theoretisch reflektiert. Seit 1929/1930 bot diese tumultuöse Realität — Ausdruck einer spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts immer evidenter werdenden Disparatheit der Welt — in der Tat Anlaß zu tiefstem Pessimismus. Das Vertrauen in das Funktionieren der Demokratie war in Deutschland 20, ja in weiten Teilen Europas geschwächt, seit längerem etwa in Italien. Die „Legitimität" — in der Schmittschen Perspektive — dieser Regierungsform, einschließlich der vom Relativisten Richard Thoma vorgeschlagenen Legitimation des Parlamentarismus als „des geringsten Übels", wurde nahezu europaweit in Frage gestellt. Es versagten in der Weimarer Republik 21 indes — politische Parteien und öffentliche Verbände spielten bei Broch (überwiegend auch bei Schmitt) kaum eine Rolle — einzelne Politiker, Gewerkschafts- und Wirtschaftsführer, Beamte, Militärs, Kirchenmänner und Journalisten. Von einem Versagen der Verfassung, der Demokratie oder der Volksvertretung als solcher konnte nicht die Rede sein. Mit ihrer elitären Kritik an der „langweiligen Republik" und deren glanzlosen Gehversuchen, mit ihren frühzeitigen, permanenten Untergangsprognosen, mit ihrer „Vorstellung, daß die ,Tat' etwas sei, das niemals so weit wie das Wort degenerieren könne" (KW 10/1, 177), verschärften Intellektuelle, Künstler und Rechtslehrer die Krise. Ernst Jünger etwa war weniger das Barometer als der Taifun, der teilnahm an der geistigen Zerstörung der (bereits brüchig gewordenen) bürgerlichen Ordnung und der Republik. Viele Abgeordnete mochten sich in Weimar, als Deutschland endlich mit dem parlamentarischen Regieren Ernst gemacht hatte, zunächst unerfahren und kleinkariert, später auch opportunistisch und verantwortungs20

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Zum „Versagen des Parlamentarismus" fand Broch auch in Österreich reiches Anschauungsmaterial; hierzu Walter B. Simon, Österreich 1918-1933: Ideologien und Politik, Wien u.a. 1984; Helmut Widder, Parlamentarische Strukturen im politischen System. Zu Grundlagen und Grundfragen des österreichischen Regierungssystems, Berlin 1979, S. 211 ff.; Theodor Veiter, Das 34er Jahr. Bürgerkrieg in Österreich, München/Wien 1984. — Zu Brochs politischer Essayistik Lützeler, „Literatur und Politik", in: Lützeler/Kessler (FN *), S. 195 ff.; Harry Pross, „Demokratie und ,Dritter Weg'", ebd., S. 221 ff. Der Frage, inwieweit Broch nicht nur vom Niedergang Weimars beeinflußt wurde, sondern auch, vielleicht sogar primär auf die für ihn an sich wohl näherliegende österreichische Lage reagierte, wird hier nicht nachgegangen. — Der am 1. November 1886 als Sohn eines aufgestiegenen jüdischen Textilfabrikanten geborene Broch erlebte den Untergang der Donaumonarchie und bald darauf den Niedergang seiner Familie „hautnah". Seit er 1927 die väterliche Fabrik verkaufen mußte, war Broch ein nahezu ahasverisches Schicksal beschieden. Die meisten seiner Werke entstanden an wechselnden Orten in den USA, wohin er 1938 auf der Flucht vor dem Hitlerregime emigrierte (s.o. FN 6), und wo er am 30. Mai 1951, also im 65. Lebenjahr, starb.

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scheu, „politikflüchtig" und von der „Prävalenz der Tat" (ebd., 197) verführbar zeigen; als „überlebt" mußte der Parlamentarismus indes nur dann angesehen werden, wenn man — ein Beispiel von „seif fulfilling prophecy" — wie Schmitt 22 von falschen Prämissen ausging 2 3 , oder wenn man, wie Broch, über der Diagnose des „Absolutheitsverlustes" (KW 10/2, 195) und über dem intensiven politisch-ethischen Engagement zugunsten einer neuen „Totalität" den Blick verlor für den prinzipiellen Wert sowie das im Konkreten gänzlich unvermeidliche „Ach und Krach" (Smend) liberaldemokratischer Institutionen und parlamentarischer, eben auf Verständigung beruhender, auf Kompromiß (nicht: auf „Werteinheit") abzielender Verfahren. Eine Alternative zum Millschen Ideal demokratischer Repräsentation, zum Burkeschen Schema der delegierten Verantwortung auf Zeit, zur temperierten — weil mittelbaren und deshalb, wie bereits die „Federalists" belegten, gewaltenhemmenden — Demokratie des europäisch-nordamerikanischen Verfassungsstaates benannte Broch im Unterschied zu Schmitt, der einer autoritären (exekutivischen) Führung das Wort redete, ohnehin nicht. 24 Immer mehr wurde vielmehr die Demokratie selbst, wurde die Verteidigung der Humanität durch die Verteidigung der (neu zu fundierenden und breitenwirksam zu „propagierenden") Demokratie — allen geschichtsphilosophischen und praktisch-politischen Zweifeln zum Trotz — das Leitmotiv des politischen Denkens des Dichters. Wenn es aber nicht die wurzellose Demokratie von Weimar war, die sich dem „Problem des Relativismus" (KW 10/2, 195), der Disparatheit der Wertewelt entgegenstellen ließ — an welche Art von Demokratie (an welche neue „Einheit" und „Rationalität") dachte Broch? Halten wir uns bei der Suche nach einer Antwort eng an die Aussagen des Dichters! Sie mögen dadurch, daß zugleich der Schmitt der 20er und 30er Jahre im Auge behalten wird, an Kontur gewinnen. Dessen bedarf es bereits insofern, als die häufig

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Das ist schon in seinen frühen Schriften der Fall. Vgl. die Besprechung seines Buchs Der Wert des Staats und die Bedeutung des Einzelnen durch Ludwig Waldecker (Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 53 (1917), S. 326 ff., 330): „Der Staat, wie ihn Verf. (Schmitt) vorführt, existiert nicht in der Realität. Die Theorie des Verf. stellt die Tatsachen des Lebens einfach auf den Kopf." Zum Antiparlamentarismus Steinberg (FN 17), S. 215: „Für Schmitt, und auch für Broch, bedeutete parlamentarische Politik Fragmentarismus, eine ineffiziente Praxis, die eher Teilung und Zersplitterung förderte als Einheit und Zusammenhalt." Die Vertreter von „Basisdemokratie", „Volks-Enqueten" usw. können den „massenskeptischen" Broch nicht für sich in Anspruch nehmen, erst recht nicht mit Argumenten eines „Minderheitenschutzes" gegenüber Mehrheitsentscheidungen im Bereich „grundlegender" politischer Weichenstellungen. Broch ging es um ein Verbessern der Verteidigungsfähigkeit der Demokratie, nicht um das indirekte Einführen etwa eines liberum veto.

Hermann Broch und Carl Schmitt

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poetisierte, philosophische oder politologische, selten jedenfalls staatsrechtlich präzise Sprache des Publizisten Broch zu Mißverständnissen geradezu einlädt.

IV. Der wissenschaftliche Ausgangspunkt für Brochs parlamentsskeptische, aber „demokratiestärkende" Überlegungen war ein gänzlich anderer als der Schmitts: „Werttheorie" und „Wertphilosophie" („Absolutheitsverlust" und „Wertrelativismus") dort 2 5 , „Römische Raison", „Repräsentation und Identität" und „Begriff des Politischen" hier. Der ethische Zielpunkt des Dichters (Verteidigung der „ewigen Prinzipien der Humanität, der Gerechtigkeit und der menschlichen Freiheit", KW 11, 25) war bei aller Abstraktheit inhaltlich bestimmter und wertgebundener als der des „Dezisionisten" 2 B d - !> s - 470 ff., 647 ff.; den., Schuld „Triebkräfte und Ziele der Reichsreform nach der Weimarer Verfassung", in: Rudolf Morsej (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte: Aufgaben, Zielsetzungen, Beispiele (Schriftenreihe der Hochschule Speyer, 66), Berlin 1977, S. 71 ff. (97 m. Fn. 39). Zur Klassifizierung und fachhistorischen Zuordnung der Verfassungsgeschichte Hans Boldt, Einführung in die Verfassungsgeschichte: zwei Abhandlungen zu ihrer Methodik und Geschichte, Düsseldorf 1984, S. 17 ff. Auch insoweit hat Schul.£ durch die von ihm angestoßene Publikation wichtiger Bestände bundesdeutscher Staats- und Wirtschaftsarchive zum Verhältnis von Politik und Wirtschaft unter der Ära Brüning für die rechts- und verfassungsgeschichtliche Forschung Wesentliches geleistet; vgl. Politik und Wirtschaft in der Krise 1930 — 1932: Quellen zur Ära Brüning. Eingeleitet v. Gerhard Schul%, bearbeitet v. Ilse Maurer und Udo Wengst, 2 Bde., Düsseldorf 1980 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, III. Reihe: Die Weimarer Republik, Bd. 4).

nach rückwärts als Aufhebung, nach vorwärts als Sperre"

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Frühzeiten der Republik wird Politik nicht mehr in dem nach dem parlamentarisch-demokratischen Grundprinzip der Verfassung eigentlich vorgesehenen Reichstag gemacht, sondern in den Ministerien der Wilhelmstraße, durch Reichspräsident, Regierung und (Ministerial-)Bürokratie. Gerade ihre auf Art. 48 WeimRV gestützte Normsetzung kann nur zutreffend beurteilt werden, wenn der Beobachter hinter seinen Gegenstand zu blicken und die aus dem Normtext kaum zu erschließenden — weil juristensprachlich eingekleideten und damit verschleierten —, äußerlich unverbunden aneinandergereihten Beweggründe und ihre Einordnung in eine final orientierte amtliche Verfassungspolitik zu erkennen vermag 1 . Der Jubilar hat für das Verhältnis von regierungsoffizieller Politikdefinition und Politikberatung durch externen juristischen Sachverstand zutreffend daraufhingewiesen, daß jedenfalls in den Jahren nach 1930 „der Umwandlung von Strukturfragen der Republik in staatsrechtlichen Problemstoff... niemals eine der Situation angemessene Rückverwandlung der staatsrechtlich durchdachten Neuregelungsentwürfe in politische Lösungen" entsprach 8 . Die damit involvierte „Anlehnung an überlegene Autoritäten", die vornehmlich in einem dem politischen Alltagsgeschäft geläufigen Rückgriff der Bürokratie auf die positivistische Kommentarliteratur eines Anscbüt% oder Poet^sch-Heffter, aber auch im Einzelfall in der Heranziehung bedeutender Staatsrechtslehrer zur regierungsamtlichen Gutachtentätigkeit Ausdruck fand 9, vermochte neue und überzeugende Lösungen der Krise freilich ebensowenig zu finden wie eine die ausufernde Notverordnungspraxis wirksam beschränkende Deutung der Diktaturgewalt des Reichspräsidenten 10.

II. Das als Uberschrift dieses Beitrags gewählte geflügelte Wort des „Kirchenvaters" der Weimarer Staatsrechtslehre, Gerhard Anschütbeschrieb in nuce das 7

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Dies gilt insbesondere für die Beurteilung der Brüningschen Verfassungspolitik, deren Ziele ohne die Beweggründe ihres Initianten und Hauptakteurs nicht verständlich sind. So hat erst die Veröffentlichung der Memoiren des glücklosen Reichskanzlers (1970) hinreichend Aufschluß erteilt und die wissenschaftliche Kontroverse über die Jahre 1930 — 32 in einer kaum mehr zu revidierenden Richtung festgelegt. Schuld Triebkräfte (o. Fn. 4), S. 97 f. Der im Herbst 1932 stattfindende Prozeß zwischen dem Freistaat Preußen und dem Reich, betr. die Einsetzung eines Reichskommissars durch Reichskanzler v. Papen, war insoweit ein Höhepunkt, als „von links bis rechts", vom Unitarismus bis zum strikten Föderalismus, fast alle bedeutenden Verfassungsrechtler der Republik als Gutachter bzw. Prozeßvertreter der Parteien auftraten. Zuvor waren schon u. a. Carl Schmitt und Richard Thoma (für die 1. Notverordnung von Juli 1930) sowie Gerhard AnschütWalter Jellinek und Frit% Poet^schHeffter (für die Notverordnungen der Jahre 1931/32) gutachtlich tätig gewesen. Die angespannte Rat-, ja Hilflosigkeit führender Staatsrechtler darüber, wohin denn die Reise mit Art. 48 WeimRV gehen könne und dürfe, spiegelt etwa ein Brief wider, den Anschüt%

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Rechtsverhältnis von bundes- und landesrechtlicher (Teil-)Rechtsordnung im Weimarer Bundesstaat, wie es in Art. 131 WeimRV seinen verfassungstextlichen Niederschlag gefunden hatte: Reichsrecht bricht Landrecht Es nahm damit den unter den Verfassungen von 1867/71 erstmals positivierten und für die neu einzurichtende Rechtsordnung des ersten deutschen Bundesstaates allgemein verbindlichen Vorrang des Reichsrechts vor Landesrecht auf und verlieh ihm rechtsgrundsätzlichen, allgemeingültigen Charakter. Der Sache nach bedeutete dies, daß durch den (verfassungsmäßigen) Erlaß eines Reichsgesetzes das gesamte, seinem Gegenstand entgegenstehende (oder auch gleichlautende) Landesrecht „nach rückwärts" ipso iure aufgehoben und die Entstehung neuen Landesrechts auf den vom Reich beanspruchten Rechtsgebieten „nach vorwärts" ausgeschlossen wurde, es sei denn, das Reich habe den Gliedstaaten innerhalb der beanspruchten Sachmaterie einzelne Ausschnitte ausdrücklich vorbehalten 12. Während auch insoweit das Bismarcksche Erbe — in seiner Interpretation durch Laband, Meyer und An schüt^ — gepflegt wurde und die Interpretation des Art. 13 I WeimRV in vertrauten Bahnen verlief, konnte gleiches nicht von den Grundlagen der bundesstaatlichen Ordnung gelten. Hier setzte die Rechtswissenschaft neue, unitarische Akzente. Da den nunmehr „Länder" genannten, des monarchistischen Schutzschilds enteigneten Einzelstaaten bekanntlich wesentliche Hoheitsrechte (z. B. Gesandtschaftsrecht als Ausdruck der Souveränität nach außen, Militärhoheit, Finanz- und Verkehrshoheit etc.) genommen waren und es für den föderalistisch Gesinnten fraglich sein mußte, ob man überhaupt noch von einer Gesetzgebungs/6o/6«Y der Gliedstaaten im traditionellen, monarchisch unterlegten Sinn sprechen konnte 13, die Länder nicht vielmehr nur noch Funktionen „höchst potenzierter Selbstverwaltung"

am 16. 7.1930 an Schmitt schrieb und worin er anhand einer Veröffentlichung Kirchheimers befand: „Ich hatte, wie so oft beim Lesen solcher Schriften aus dem Lager der jungen Generation, den unbehaglichen Eindruck: alles wankt heutzutage, alles. Wohin geht die Reise? Mir bleibt nichts anderes übrig, als abzuwarten, ob und welche Änderungen des positiven Rechts, die ich als solche respektieren muß, eintreten, und bis dahin an dem Alten, dem m. E. geltenden Recht festzuhalten: ein Konservatismus, der ja seit Jahren (vgl. letzte Tagungen der Staatsrechtslehrer!) mein Schicksal ist." (Abschrift des Briefs im Besitz d. Verf., der Prof. Dr. Roman Schnur, Tübingen, hierfür dankt) 11

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Dazu — und zum unter umgekehrtem Vorzeichen stehenden „föderativen" Rechtsverhältnis vor 1867 — Wolfgang Mär%, Bundesrecht bricht Landesrecht: eine staatsrechtliche Untersuchung zu Art. 31 des Grundgesetzes (Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht, 1), Berlin 1989, S. 25 ff., 58 ff., 68 ff. Zu Einzelheiten vgl. Julius HatschekjPaul Kurt^ig, Deutsches und Preußisches Staatsrecht, Bd. I, 2. Aufl. Berlin 1930, S. 40 f. Frits^ Poet^sch-Heffter, Handkommentar der Reichsverfassung vom 1. August 1919: ein Handbuch für Verfassungsrecht und Verfassungspolitik, 3. Aufl. Berlin 1928, S. 76: „... Schein einer solchen . . . "

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waren, war der Konflikt mit der hergebrachten Vorstellung unvermeidlich, die Landeshoheitsrechte seien Ausdruck eigener, originärer Staatsgewalt. Mochten Anschüt% und andere — ohne weitere Begründung — noch daran festhalten, in der Sache selbst machten sie zu Lasten des Reichs und zu Gunsten der Länder keine substantiellen Abstriche. Kurzum: auch für die Föderalisten unter den Weimarer Staatsrechtlern (die bayerische Linie um Nawiasky vielleicht ausgenommen) waren die deutschen Länder allenfalls Staaten e.h. Das Modell des Weimarer dezentralisierten Einheitsstaates machte auch vor dem verfassungstheoretischen Hintergrund des Art. 13 I WeimRV nicht halt. Es wiederholte sich der schon im Bismarckreich erfolgreich unternommene 14 Versuch, in der bundesstaatlichen Kollisionsnorm eine prinzipielle Rangordnung nicht nur der Rechtsquellen, sondern auch und vor allem der dahinterstehenden Organisation zu sehen, den höheren Rang des Reichsrechts also nicht allein als Erfordernis der Einheitlichkeit der Rechtsordnung zu begreifen (Normenkollision), sondern dieses Erfordernis theoretisch zu überhöhen zu einer grundsätzlichen Überordnung und Höherwertigkeit des Reichs und seiner Gesetzgebung gegenüber den Ländern und ihrer gesamten Staatstätigkeit. Der Vorrang des Reichsrechts, der sich zudem durch die einprägsame, schlagwortartige Gestalt des Art. 13 I WeimRV herausgefordert fühlen durfte 15, wurde Voraussetzung wie Folge der Reichshoheit über die Gliedstaaten ,6 . Ja eigentlich hätte es des Art. 13 I WeimRV nicht bedurft, folgte sein wohlverstandener Inhalt doch bereits aus der generellen bundesstaatlichen, also j/a/Äxrechtlichen Unterordnung der Länder unter das Reich. Bezog man freilich außer der Kollisionsregelung auch die Bestimmungen der Art. 6 ff. WeimRV über die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen 14

In erster Linie von Albert Höne! (Deutsches Staatsrecht, Bd. I: Die Grundlagen des deutschen Staates und die Reichsgewalt, Leipzig 1892, S. 238 ff.), dessen Theorie des Gesamtstaates Reich den Gliedstaaten die Staatsqualität rundweg abgesprochen hatte (ebd., S. 798 ff., 801). Vgl. Stephan Graf Vitzthum, Linksliberale Politik und materiale Staatsrechtslehre: Albert Hänel 1833 - 1918, Freiburg i. B./München 1971, S. 187 ff. S. a. Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. II, 5. Aufl. Tübingen 1911, S. 114 f.: das Verhältnis der Reichsgesetze zu den Landesgesetzen sei durch den Grundsatz bestimmt, daß das Reich die „souveräne Gesetzgebungsgewalt", die Einzelstaaten die „Autonomie" hätten. Der Vorrang des Reichsrechts beruhe somit darauf, daß ihre Sanktion von der höheren, weil souveränen Gewalt ausgehe.

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Bernhard Borebert, Das Verhältnis des Reichsrechts zum Landesrecht in Entwicklung und Gegenwart des deutschen Staatsrechts, Jur. Diss. Bonn 1938, S. 24. So etwa Gerhard AnschütDie Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919: ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, 14. Aufl. Berlin 1933 (ND Bad Homburg v.d.H. u.a. 1968), Art. 13, Anm. 2: „Die Normen des Reichsrechts sind, verglichen mit denen des Landesrechts, Normen höheren Ranges." Ähnlich Hermann Maschke, Die Rangordnung der Rechtsquellen (Internationalrechtliche Abhandlungen, 14), Basel 1932, S. 77: Der Satz der Uberordnung des Reichsrechts über das Landesrecht folge bereits aus der Überordnung der Reichsgewalt über die Staatsgewalt der Länder.

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und insbesondere Art. 12 WeimRV mit in die bundesstaatlichen Überlegungen ein, hätte den entschiedenen Unitariern bewußt werden müssen, daß diese Auslegung, wie die Autoren der Wiener rechtstheoretischen Schule (Kelsen, Merkt) schon im Hinblick auf Österreich nachgewiesen hatten, unhaltbar war. Entweder galt das Reichsrecht infolge der Zuordnung der von ihm geregelten Sachmaterie zum Reich als gegenüber dem Landesrecht vorrangig — dann bedurfte es dieses Satzes nicht —, oder das Reich konnte sich im konkreten Fall nicht auf eine (geschriebene oder ungeschriebene) Gesetzgebungszuständigkeit berufen — dann war es anerkanntermaßen nicht Aufgabe des Art. 13 I WeimRV, einem verfassungswidrigen, weil kompetenzlosen Gesetz bundesstaatliche Legalität zu verleihen 17. Jene anfechtbare Interpretation stand und fiel also nicht mit der Anerkennung eines einheitlichen Rechtssystems, sondern mit dem hinter ihr stehenden bundesstaatstheoretischen Überbau: der entschiedene Unitarier neigte eher zur hierarchischen Unterordnung der Gliedstaaten, während der Föderalist vom gleichberechtigten Nebeneinander der beiden Rechtserzeugungsordnungen ausging und Art. 131 strikt im Sinne einer bei konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeiten unumgänglichen, wenngleich selten in Anspruch genommenen Normenkollisionsregelung verstand. Welchen funktionalen Gehalt Art. 131 WeimRV wirklich hatte, konnte vor diesem verfassungspolitisch zerrissenen Hintergrund juristisch schlüssig nicht bewiesen werden. Die Fronten verliefen hier quer durch den Methodenstreit der Staatsrechtslehre und die föderalistischen Animositäten der Zeit 18 . III. Von diesen, die Basis des föderativen Rechtsdenkens bildenden bundesstaatlichen Differenzen blieb indes ein Teilbereich des normativen Verhältnisses 17

So grundlegend Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre (Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft, 23), Berlin 1925, S. 221; ihm folgend Rudolf Smend, „Verfassung und Verfassungsrecht", in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2. Aufl. Berlin 1968, S. 254. — S.a. den zweifelhaften Versuch von Richard Grau („Vom Vorrang der Bundeskompetenzen im Bundesstaat", in: Festschrift Ernst Heinitz [Abhandlungen von Rechtsanwälten des Kammergerichtsbezirks], Berlin 1926, S. 358 ff.), insbesondere die Generalzuständigkeiten des Reichs für bürgerliches und Strafrecht extensiv zu interpretieren mit der Folge, daß es nur auf das in Anspruch genommene Mittel zur Erreichung eines bestimmten Zwecks, nicht auf den Zweck selbst ankommen sollte. Das Reich sollte demnach z. B. die Enteignung jedes beliebigen Gegenstandes (Art. 7 Nr. 12) ebenso regeln können wie beliebige Strafandrohungen in eindeutig den Ländern zustehenden Spezialmaterien (Art. 7 Nr. 2). Gleiches sollte für das Bürgerliche Recht gelten. Graus Lehre fand sich der Sache nach z. T. bereits angelegt in seiner für die spätere Praxis des Ausnahmezustands nach 1930 wichtigen Arbeit über „Die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten und der Länderregierungen auf Grund des Art. 48 der Reichsverfassung", Berlin 1922 (Öffentlich-rechtliche Abhandlungen, 5).

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S. dazu die kontroversen Debatten auf der Frankfurter Staatsrechtslehrertagung von 1929; s. Frit^ Fleinerjjosef Lukas, Bundesstaatliche und gliedstaatliche Rechtsordnung (Veröffentli-

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von Reichs- und Landesrecht zunächst verschont: die (zwingend erforderliche) Zuordnung der einzelnen Rechtssätze zum Reich bzw. zu den Gliedstaaten, m.a.W. die Qualifikation des fraglichen Rechts als Reichsttdat oder Landesrecht. Schon unter der Reichsverfassung von 1871 galt als Zuordnungsmaßstab, daß Reichsrecht nur von den Organen des Reichs, Landesrecht nur von den Organen der Gliedstaaten erlassen werden konnte 19; zum jeweiligen „Recht" zählten Verfassung, Gesetze, Verordnungen und Satzungen ebenso wie Gewohnheitsrecht 20 . Der Problematisierung wert schien der überwiegend positivistischen und formalistischen Staatsrechtslehre allein die Konstellation, daß das Reich von seinem, ihm dem Grunde nach zustehenden Recht zum Legiferieren nicht in vollem Umfang Gebrauch machte, sondern einzelne ausgewählte Materien den Gliedstaaten zur eigenen Rechtsetzung übertrug (Delegation) bzw. überließ. In diesen (nicht seltenen) Fällen sollten die diesbezüglichen Rechtsvorschriften der Länder nach einer formellen Sichtweise Landes-, nach einer materiellen Beurteilung aber Reichsrecht sein 21 . Da im Fall der Kollision erstere Sehweise ausschlaggebend war, genoß auch dann das Reichsrecht den Vorrang, sodaß der Differenzierungsansatz sich letztlich als wirkungsschwach erwies. An der Gültigkeit jener Qualifikationsregel änderte auch die Verfassunggebung 1919 nichts; sie wurde — wie so vieles — aus dem bundesstaatlichen Rechtsstoff des Kaiserreichs rezipiert 22 . Freilich tauchten rasch neue Zweifelsfälle auf, die die monarchische Konstitution infolge anderer Rechtskonstruktion noch nicht gekannt hatte. Insbesondere im Bereich des Rechts des Ausnahmezustands (Art. 48 WeimRV) hatte die nicht zurückhaltende Inanspruchnahme des reichspräsidialen Notstands- und (mit ihm einhergehend) chungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, 6), Berlin/Leipzig 1929, S. 2 ff, 25 ff., 57 ff. (Aussprache); zusammenfassend und vermittelnd Albert Hensel, „Die Rangordnung der Rechtsquellen, insbesondere das Verhältnis von Reichs- und Landesgesetzgebung", in: Gerhard Anschüt^JRichard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, Tübingen 1932, S. 321 Fn. 20: „Unbestritten sei zugegeben, daß die Bestimmung auch zur Erkenntnis der eigentümlichen Struktur des deutschen Bundesstaats von Wert ist." 19

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Adolf Arndt, Verfassung des Deutschen Reichs, Berlin 1895, S. 82f.; Ludwig Dambitsch, Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen, Berlin 1910, S. 41, 44.; a. A. allein Heinrich Rosin, Das Polizeiverordnungsrecht in Preußen, 2. Aufl. Berlin 1895, S. 70 f. Laband, Staatsrecht (o. Fn. 14), S. 115; Georg MeyerjGerhard AnschütLehrbuch des deutschen Staatsrechts, 7. Aufl. München/Leipzig 1919, S. 716. So Paul Posener, Das Deutsche Reichsrecht im Verhältnis zum Landesrechte (Abhandlungen aus dem Staats- und Verwaltungsrecht, 3), Breslau 1900, S. 56, freilich mit bezeichnender Einschränkung: „Der Name [Reichsrecht] thut zwar wenig zur Sache; es liegt nur die Gefahr nahe, dass eine falsche Bezeichnung den Keim zu falscher Auffassung in sich birgt". S. a. Arthur von Kirchenheim, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, Stuttgart 1887, S. 110 (Landesverordnungen, welche materiell Reichsrecht enthalten). Vgl. Fritz Stier-Somlo, Deutsches Reichs- und Landesstaatsrecht I, Berlin/Leipzig 1924, S. 380; Hatschekj Kurt^ig, Staatsrecht (o. Fn. 12), Bd. I, S. 40 f.

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N o t v e r o r d n u n g s r e c h t s w ä h r e n d der J a h r e 1 9 1 9 bis 1 9 2 3

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rasch die Frage

a u f g e w o r f e n , w e l c h e Rechtsqualität die v o n den Landesregierungen in eigener Regie erlassenen M a ß n a h m e n nach A r t . 4 8 A b s . 4 hatten. W a r e n sie Landesrecht oder Reichsrecht? W ä h r e n d anfänglich d a v o n ausgegangen w u r d e , die L a n d e s r e g i e r u n g handele im Notstandsfall nach A r t . 4 8 A b s . 4 W e i m R V als Reichsotg&n

—- i m m e r h i n habe sie die gleichen Befugnisse wie der Reichspräsi-

dent, k ö n n e sich also über Landes- u n d Reichsrecht hinwegsetzen — u n d schaffe mit ihren M a ß n a h m e n (allerdings partikulares) Reichstecht24,

setzte

sich nach 1 9 2 5 die A u f f a s s u n g durch, die diktaturbeliehene Landesregierung handele als O r g a n des Gliedstaats u n d k ö n n e t r o t z ihrer Nichtgebundenheit an einfaches Landes- und Reichsrecht n u r Landesrecht

setzen

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Zur Praxis zusammenfassend Ulrich Scheuner, „Die Anwendung des Art. 48 der Weimarer Reichs Verfassung unter den Präsidentschaften von Ebert und Hindenburg", in: Ferdinand A. Hermens1! Theodor Schieder (Hrsg.), Staat, Wirtschaft und Politik in der Weimarer Republik: Festschrift für Heinrich Brüning, Berlin 1967, S. 257 ff. Die Darstellung bei Scheuner bedarf allerdings — worauf Schul£ (Triebkräfte [o. Fn. 4], S. 97 m. Fn. 39) bereits hingewiesen hat — in weiten Bereichen der Korrektur. Zum einen läßt die heutige Quellenlage auch für die Jahre unter Reichspräsident Ebert das Notstandsrecht transzendierende Ansätze erkennen, die dann nach 1930 zielgerichtet gefestigt und ausgebaut wurden; zum anderen tritt die starke Instrumentalisierung des Notverordnungsrechts unter und nach Brüning zu Zwecken, die auf Dauer angelegt und mit den eigentlich zuständigen parlamentarischen Organen nicht zu machen war, hinter die aktuelle und der Sache nach unbestreitbar notwendige Krisenbewältigung im Einzelfall zurück. Dieses Manko gilt auch für Ernst Rudolf Hubers (Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, VII) etatistischen, die seinerzeitige regierungsoffizielle Deutung überwiegend fortschreibenden und neuere Forschungsergebnisse zum Teil ignorierenden Ansatz. S. die berechtigte Kritik in der Rezension von Hein%_ Hurten, MGM 36, 1984/2, S. 189 ff. (Hubers „juridische Sicht [erfaßt] die politische Problematik nicht hinreichend"); MGM 40, 1986/2, S. 158 ff. (159: „Die politischen und gesellschaftlichen Kräfte, denen die Verfassung Raum und Rahmen gab und die sich ihrer bedienten, um ihre Ziele zu erreichen, bleiben weitgehend außerhalb des Blickfeldes.")

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So insbesondere Grau, Diktaturgewalt (o. Fn. 17), S. 142 f.; ihm folgend Stier-Somlo, Reichsstaatsrecht (o. Fn. 22), S. 380; BayVerfGH v. 31. 1. 1924; in: Hans-Heinrich LammersjWalter Simons (Hrsg.), Die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich und des Reichsgerichts auf Grund Artikel 13 Absatz 2 der Reichsverfassung, Bd. III, Berlin 1931, S. 171 ff.; RGSt 59, 192. Zu dieser im Bundesstaat zumindest ungewöhnlichen Form partikularen Reichsrechts sah sich die Lehre zum Teil auch dadurch veranlaßt, daß sie irrtümlich die Diktaturgewalt der Landesregierung als vom Reichspräsidenten delegiert (und nicht von der Reichsverfassung eingerichtet) ansah. So zuerst bei Schwalb (Die außergewöhnlichen Befugnisse der Landesregierungen aus Art. 48 RVerf., DJZ 30 [1925], Sp. 209 ff. [212] m.w.N.), dessen Einfluß auf die Interpretation des Art. 48 in der Rechtsprechung — er war Reichsgerichtsrat, später stellvertretendes Mitglied des Staatsgerichtshofs und Mitberichterstatter im Prozeß „Preußen contra Reich" (dazu sein Votum in ZStA I 30.07 [StGH], Nr. 147, fol. 237 ff.) - nicht unterschätzt werden darf; dann bei AnschütKommentar (o. Fn. 16), Art. 48, Anm. 16 b; Albert Hemel, „Die Rangordnung der Rechtsquellen, insbesondere das Verhältnis von Reichs- und Landesgesetzgebung", in: Anschüt^j Thoma, Handbuch (o. Fn. 18), Bd. II, S. 313 ff. (322).

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Die Qualifikation dieser nur bei Gefahr im Verzug zulässigen und unter der Aufsicht (nicht nur des Reichstags, sondern auch) des Reichspräsidenten stehenden Befugnisse war kein juristisches Glasperlenspiel. Die Qualifikationsentscheidung hatte vielmehr gewichtige verfassungspolitische Folgen sowohl für den Wirkungskreis der partikulären Maßnahmen als auch für ihre Kontrolle durch den Gesamtstaat. Qualifizierte man nämlich die gliedstaatlichen Diktaturmaßnahmen als Reichsrecht, so stärkte man die Stellung der Landesregierungen im Rahmen des Art. 48 WeimRV, und zwar sowohl im gliedstaatlichen Innenverhältnis zu anderen Landesorganen, als auch gegenüber dem Reich. Sie unterlagen bei ihren Maßnahmen zum einen keinerlei Kontrolle durch die Landesverfassungsgerichtsbarkeit, da diese nicht über die Vereinbarkeit von Reichsrecht mit der Landesverfassung zu entscheiden befugt war — Reichsrecht brach ja im Konfliktfall Landesrecht; auch sollte (nach einer Mindermeinung) die Exekutive in diesen Fällen von jeder parlamentarischen Kontrolle durch den Landtag freigestellt sein, da sie ja als Reichsorgan handele. Zum anderen verbesserte sich durch ihre organschaftliche und funktionale Zuordnung zum Reich paradoxerweise ihre rechtliche Stellung gegenüber dem aufsichtführenden Reichspräsidenten wie gegenüber dem kontrollierenden Reichstag. Sollte die Landesregierung dem präsidialen oder parlamentarischen Verlangen nach Aufhebung ihrer Diktaturmaßnahmen nicht nachkommen (wollen), gab es kaum eine rechtliche Handhabe: Art. 13 I WeimRV war nicht einschlägig, da es sich auf beiden Seiten — nach dieser Meinung — um Reichsrecht handelte; eine gerichtliche Auseinandersetzung nach Art. 13 Abs. 2 oder Art. 19 WeimRV mußte ausscheiden, da es sich um einen Streit innerhalb des Reichs, nicht im bundesstaatlichen Rechtsverhältnis handelte, und hierfür bestand keine Zuständigkeit der Judikative; ein Vorgehen gegen das widerspenstige Land im Wege der Reichsexekution nach Art. 48 Abs. 1 WeimRV kam nicht in Betracht, da die Nichterfüllung einer Pflicht durch ein Land ja formal nicht vorlag 26 . Alles in allem: eine aus der Sicht des Ausnahmezustandsrechts für das Reich und die von Art. 13 I geforderte Rechtseinheit mißliche, denn auch durch reichsfreundliche Neuinterpretation des Art. 48 Abs. 4 WeimRV behobene Rechtslage! 27 .

IV. Das geschilderte kleine, jedenfalls recht technisch eingekleidete Rechtsproblem wäre nur ein vergessenes Stiefmütterchen am bunten Strauß der mannig26

Vgl. Grau, Diktaturgewalt (o. Fn. 17), S. 143 f.; Heinrich Vervier, Der Rechtswechsel im öffentlichen Recht und seine Einwirkung auf gleichwertige öffentlich-rechtliche Normen, München u. a. 1923, S. 47 ff.

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Für die parallele Rechtslage unter dem Grundgesetz gilt, daß die Qualifikation eines Rechtssatzes nach der Rechtserzeugungsquelle erfolgt, d. h. von Bundesorganen gesetztes Recht

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faltigen, inhaltlich weit ausdifferenzierten Interpretationsversuche der Diktaturgewalt des Reichspräsidenten geblieben, wenn die notrechtsetzende Phantasie der Reichsministerialbürokratie im Jahr 1931 nicht eine Neuauflage des Streitstandes — nun freilich auf anderer Ebene — herausgefordert hätte. Die Rede ist von der sog. Dietramszeller Notverordnung vom 24. 8. 1931 28, benannt nach dem seinerzeitigen oberbayerischen Urlaubsort des unterzeichnenden Reichspräsidenten. Gerade 10 Wochen nach der Zweiten (großen) Notverordnung zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen vom 5. 6. 1931 29 erfolgte durch sie ein weiterer tiefer Eingriff in die verfassungsrechtliche Normallage: „Auf Grund des Artikels 48 Abs. 2 der Reichsverfassung wird verordnet: (1) Die Landesregierungen sind ermächtigt, alle Maßnahmen, die zum Ausgleich der Haushalte von Ländern und Gemeinden (Gemeindeverbänden) erforderlich sind, im Verordnungswege vorzuschreiben. Sie können dabei von dem bestehenden Landesrecht abweichen. (2) Die Landesregierungen können insbesondere bestimmen, daß und in welcher Weise die Personalausgaben und andere Ausgaben der Länder und Gemeinden (Gemeindeverbände) herabgesetzt werden. Verpflichtungen aus Verträgen bleiben unberührt, soweit es sich nicht um Personalausgaben handelt." Die Dietramszeller Notverordnung, die sich inmitten der Diktaturmaßnahmen des Reichs angesichts ihrer äußerlichen Unscheinbarkeit — sie bestand nur aus diesem einen Paragraphen — wie eine bescheidene Korrektur und Ergänzung früherer Notrechtsetzungen oder gar -kodifikationen ausnahm, schrieb der Sache nach in erweiterter Form fort, was bereits im Juni 1931 begonnen hatte: eine rigorose Spar- und Sanierungspolitik der öffentlichen und privaten Haushalte 30 . Personalabbau an sich war nichts Neues; schon

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immer Bundesrecht, von Landesorganen gesetzes Recht immer Landesrecht ist. vgl. Michael Bothe, in: Axel Angola u. a., Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland — Reihe Alternativkommentare, Neuwied/Darmstadt 1984, Bd. II, Art. 31, Rdnr. 3; BVerfGE 18, 407 ff. RGBl. I S. 453. RGBl. I S. 279. Die auf eine aktuelle, nicht vorhersehbare Notlage einzelner Banken im Juli 1931 zugeschnittenen Maßnahmen müssen hier außer Betracht bleiben, wenngleich auch hier nicht nur die gegenwärtigen Gefahren beseitigt, sondern auch längst geplante, dauerhafte Rechtsänderungen vorgenommen wurden. Zum ganzen Karl-Erich Born, Die deutsche Bankenkrise 1931: Finanzen und Politik, München 1967; s. a. die offizielle Darstellung im Rückblick der Reichskanzlei, BA (Koblenz) R 43 1/2373, fol. 819 ff. - wohl eine Antwort und korrigierende Ergänzung zur Denkschrift der Deutschen Bank und Disconto-Gesellschaft v. 1. 10. 1931, BA R 43 1/647; auszugsweise in: Politik und Wirtschaft (o. Fn. 6), Nr. 279 d. Zu ihr zusammenfassend Michael Grübler, Die Spitzenverbände der Wirtschaft und das erste Kabinett Brüning: eine Quellenstudie (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 70), Düsseldorf 1982, S. 226 ff.; jüngst Ursula Büttner, „Politische

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die — von Brüning auch zu außenpolitischen Zwecken eingesetzte, nichtsdestoweniger nach innen wirkende, im allgemeinen intensiv abgelehnte — Zweite Notverordnung vom Juni 1931 hatte für die Bezüge der Beamten und Soldaten des Reichs eine Kürzung zwischen vier und acht Prozent vorgeschrieben und dies auch auf die Länder, Gemeinden und sonstigen Körperschaften des öffentlichen Rechts erstreckt; überdies wurden die Gliedstaaten verpflichtet, in eigener Verantwortung die Bezüge aller Beamten und Angestellten herabzusetzen, soweit sie höher lagen als die Einkommen gleichzubewertender Reichsbeamter (2. Teil, Kap. I der VO). Die damit einhergehende unitarisierende besoldungspolitische Radikalkur hatte zwar (neben viel Unruhe in der Beamtenschaft und rechtlichen Zweifeln an der Vereinbarkeit der Gehaltskürzungen mit Art. 129 WeimRV) etwas Geld in die öffentlichen Kassen gebracht, die Finanznot der Länder und Gemeinden aber nicht wirksam lindern können. Vor allem aber wurden den Ländern zwar weitgehende rechtliche Verpflichtungen auferlegt, ihnen wurde aber kein neues rechtliches Instrumentarium zur Durchsetzung dieser Verpflichtungen im Innenverhältnis des Gliedstaats zur Verfügung gestellt. Wollten sie den reichsrechtlichen Pflichten genügen, so waren die zumeist in formellen Gesetzen geregelten Einzelheiten der Beamteneinstufung und -besoldung auf dem ordentlichen Weg der Landeslegislative und unter deren aktiver Mitarbeit zu ändern — ein angesichts des einhelligen reichsweiten Protests gegen die Zweite Notverordnung von vorneherein aussichtloses Ansinnen des Reichs, zumal wenn man die Schwäche des parlamentarischen Regierungssystems auf Gliedstaatsebene und das Aufkommen radikaler Kräfte mit einbezog. Eine Aufgabenz\xwc:is\xng ohne flankierende 2?i/»g»/.rerweiterung gab den Länderregierungen in der konkreten Situation Steine statt Brot. Kann man den Erinnerungen Brünings insoweit Glauben schenken 31 , scheint dieser „hinterhältige" Effekt — nämlich die Länder bei der Umsetzung des Finanzprogramms gezielt auf der eigenen Ebene, in ihrem parlamentarischen Regierungssystem „auflaufen" und damit die Unfähigkeit der Gliedstaaten zur Verwaltungsreform deutlich und für das Reich beweisbar werden zu lassen — beabsichtigt gewesen zu sein. Dem Reichskanzler jedenfalls war das Problem wohl bekannt, als er in einer Besprechung mit sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten am 19. 8. 1932 32 darauf hinwies, den Länderregierungen müsse über die gegenwärtigen Kompetenzen hinaus für die nahe

31 32

Alternativen zum Brüningschen Deflationskurs: ein Beitrag zur Diskussion über ökonomische Zwangslagen in der Endphase von Weimar", in VfZ 37, 1989, S. 209 ff. (211 ff.) m.w.N. Heinrieb Brüning, Memoiren 1 9 1 8 - 1 9 3 4 , Stuttgart 1970, S. 371 f. Vermerk von MinDir v. Hagenorv, in: Akten der Reichskanzlei — Weimarer Republik. Die Kabinette Brüning I u. II, bearb. v. Tilman Koops, Boppard 1982 (im folgenden: AdR Brüning), Nr. 451.

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Zukunft das Recht gegeben werden, alte Verträge in den Kommunalverwaltungen aufzulösen; erst dann werde der Weg frei sein, größere Einsparungen zu ergreifen. Diese auf — nach Meinung des Reichs wie der Wirtschaft allzu großzügige — privatrechtliche Dienstverträge der Kommunen im Wirtschafts- und Kulturbereich (vor allem Theater) zielende Äußerung sprach freilich nur einen Teilaspekt der notleidenden Länder- und Kommunalfinanzen an. Bereits am 10. August war in einer Besprechung mit Vorstandsmitgliedern des Deutschen Städtetages deutlich geworden, daß insbesondere in den Gemeindefinanzen wegen der erheblichen Belastung durch die Kosten der Arbeitslosigkeit Defizite aufgelaufen waren, deren Abbau notwendig, aber mit den zur Verfügung stehenden rechtlichen Mitteln kaum zu bewerkstelligen w a r 3 3 . Wie einer Ministerbesprechung vom 1 7 . 8 . 1 9 3 1 zu entnehmen ist, hatte der Reichsfinanzminister daraufhin den Entwurf einer Notverordnung ausgearbeitet, die in § 1 die spätere Regelung vorwegnahm: die Ermächtigung der Landesregierungen, alle zum Ausgleich der Haushalte erforderlichen Maßnahmen auf dem Verordnungsweg vorschreiben zu können 3 4 . In dieser reduzierten Form wurde der Entwurf am 22. 8. 1931 vom Reichskabinett gebilligt 3 5 . Auf den ersten Blick, ihrem Anlaß, Inhalt und Anliegen nach, war die Ermächtigung der Landesregierungen nach Art. 48 Abs. 2 WeimRV demzufolge nur die konsequente Verfolgung der Linie, die das Reich seit Herbst 1930 mit seiner deflationären, außen- wie innenpolitisch motivierten Finanzpolitik verfolgt hatte, wobei nunmehr wenigstens die Spar-Aufgabe der Gliedstaaten und ihre effektive rechtliche Befugnis zur praktischen Umsetzung korrespondierte. Neu, ja für die den ganzen Vorgang aus der Distanz und mit gesundem Mißtrauen beobachtenden Gliedstaaten fast revolutionär und daher von ihnen — wie von anderen interessierten Kreisen 3 6 — sofort unter die Lupe

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Dazu die Aufzeichnung von MinR Vogels v. 10. 8. 1931, AdR Brüning (o. Fn. 32), Nr. 441; s.a. die parallele gleichdatierte Niederschrift von Mulert (Städtetag), in: Politik und Wirtschaft (o. Fn. 6), Nr. 284.

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Vgl. Protokoll der Ministerbesprechung v. 17. 8. 1931, in: AdR Brüning (o. Fn. 32), Nr. 446; Entwurf der NotVO in BA R 43 1/1451, fol. 391 ff. Im übrigen wurde das Reich ermächtigt, kurzfristige Schulden der Gemeinden abzulösen; für die kommunale Kreditaufnahme wurde die Zustimmung der Landesregierung vorgeschrieben.

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Protokoll der Ministerbesprechung v. 22.8.1931, in: AdR Brüning (o. Fn. 32), Nr. 454 (dort Nr. 6); Entwurf der (inhaltlich auf § 1 reduzierten) NotVO in BA R 43 1/1451, fol. 479. Vgl. das Rundschreiben des Präsidenten des Deutschen Städtetages (Mulert) v. 29.8.1931, in: Politik und Wirtschaft (o. Fn. 6), Nr. 298, das Inhalt und Reichweite der Dietramszeller Notverordnung präzise trifft: „Diese Verordnung bringt den Landesregierungen die Übertragung einer bisher ganz unerhörten Machtfülle. In ihrer allgemeinen und einschneidenden Formulierung bedeutet sie eine gesetzgeberische [!] Maßnahme von allergrößter Bedeutung, deren spätere Auswirkungen im Augenblick überhaupt noch nicht übersehen werden können."

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genommen waren die Form und die Reichweite der Ermächtigung. Zum ersten Mal hatte der Reichspräsident seine Diktaturgewalt nicht auf die Reichsexekutive, sondern auf die Regierungen der Gliedstaaten delegiert, und dies in einer denkbar weitgefaßten Ermächtigung. Inhalt, Zweck und Ausmaß der Haushaltssanierung wurden nur in zweierlei Richtungen begrenzt: die Maßnahmen mußten der Einsparung öffentlicher Mittel dienen und bestimmte kostenwirksame privatrechtliche Verträge mußten eingehalten werden. Im übrigen aber hatten die Länderexekutiven plein pouvoir. Dies galt insbesondere für die kommunalen Haushalte und Finanzen — das budgetäre Hauptsorgenkind Brünings. Die Dietramszeller Notverordnung „verstaatlichte" insoweit Wesentliches: sie zonte die Zuständigkeit und Verantwortlichkeit für das gemeindliche Finanzgebaren zum Teil auf die Landesebene hoch, zum Teil auf die Stufe der Kommunalexe^/we, und sie ermöglichte es damit, den bisher als Bremse wirksamen, lästigen Widerstand in den Stadtverordnetenversammlungen auszuschalten. Die auf dieser Rechtsgrundlage ergangenen Sparverordnungen der Länder beinhalteten in weitem Umfang auf Dauer angelegte Maßnahmen, die manches mit der aktuellen Notlage, viel mehr mit der — seit Jahren versuchten und immer wieder im parteipolitischen Gestrüpp hängengebliebenen — allgemeinen Verwaltungsreform gemein hatten. In ihrem Sanierungswillen griffen sie tief in die sonst durch Landesverfassung und Gesetze festgelegte Organisationsstruktur der Kommunen ein und beseitigten das demokratisch-plebiszitäre Element weitestgehend 37: Maßnahmen zur Erhöhung der Einnahmen (Neueinführung von Steuern, Erhöhung von Gebühren) wurden genauso beschlossen wie Verminderung der Ausgaben (allgemeine Gehaltskürzungen, pauschale Rückstufung einzelner „überbesoldeter" Beamtenkategorien auf Reichsniveau, generelle Reduzierung des Personal- und Sachaufwands in den Verwaltungen); vor der Verabschiedung des Landeshaushalts durch Sparverordnung wurde ebensowenig haltgemacht 38 wie vor der notrechtsgestützten Kreditermächtigung 39 . Zu diesen unzweifelhaft der gliedstaatlichen Haus37

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Vgl. die erschöpfende Darstellung der ausführenden Maßnahmen bei B. Spangenberg, „Die Sparverordnungen der Länder auf Grund der Notverordnung des Reichspräsidenten vom 24. 8. 1931", in: RuL 6, 1932, S. 278 ff., 308 ff., 335 ff.; RuL 7, 1933, S. 2 ff. So in Preußen: VO über die Feststellung des Haushaltsplans für das Rechnungsjahr 1932 v. 14. 7. 1932, G S S. 237; dazu Horst Möller, Parlamentarismus in Preußen 1 9 1 9 - 1 9 3 2 , Düsseldorf 1985, S. 446 ff., 469. So in Preußen: Zweite Sparverordnung v. 23. 12. 1931, G S S. 293, dort § 40: „Der Finanzminister wird ermächtigt, abgesehen von den bereits bestehenden Anleiheermächtigungen, bis zu 575 Millionen Reichsmark im Wege des Kredits zu beschaffen." Dies bedeutete sowohl einen radikalen Bruch mit der bisherigen Praxis, keine summarischen, allgemeinen und nicht gegenstandsbezogenen Kreditermächtigungen zu erlassen, als auch einen Ausnahmefall der Höhe nach. Die ungeheuere Kreditspanne (Staatshaushalt 1931: 3,926 Milliarden RM) war in Preußen zuletzt 1914 erreicht worden, und auch dies nur annähernd (Eisenbahnanleihe

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haltssanierung unterfallenden Maßnahmen traten organisatorische Veränderungen auf Gliedstaatsebene, die zwar vordergründig nur der haushaltstechnischen budgetären Sparsamkeit dienten, aber auch eminent politischen Charakter hatten: etwa die Reduzierung der Ministerposten (in Braunschweig gab es kurzzeitig nur noch einen einzigen Amtsinhaber 40) oder die Änderung des Landeswahlrechts (in Preußen wurde die zur Erreichung des Mandats erforderliche Stimmenzahl zuerst herauf-, bald später wieder herabgesetzt 41 ). In allen diesen Fällen lief die politische Willensbildung ohne Einbeziehung der Öffentlichkeit am Landtag vorbei. Dies geschah ohne Rücksicht darauf, ob die Volksvertretung infolge ihrer parteipolitischen Zusammensetzung handlungsfähig war oder nicht. Der einfache landesverfassungsrechtliche Gesetzesvorbehalt wurde hinfallig und durch „delegiertes" Reichsrecht überspielt. Das formelle Erfordernis parlamentarischer Zustimmung, etwa im Haushalts- und Anleihewesen, wurde gleichermaßen umgangen. Von der Beachtung des eigenwertigen und nach der Reichsverfassung (Art. 17 Abs. 1 S. 3) auch schutzwürdigen parlamentarischen Vertrauensgrundsatzes hatte sich die Staatspraxis in vielen Gliedstaaten dadurch weitgehend entfernt.

V. Alle diese Maßnahmen waren dem Grund nach von der Reichsregierung intendiert, wenn sie nicht gar als scheibchenweise Durchführung der Reichsreüber 476 Millionen RM). Vgl. — auch zu den gravierenden verfassungsrechtlichen Problemen — Max E. F. Kühnemann, „Preußenkredite durch Reichsdiktatur?", in: RuL 6, 1932, S. 59 ff. 40

Vgl. die V O über die Führung der Geschäfte des Staatsministeriums durch einen Minister v. 3. 9. 1931 (GVS S. 165); aufgehoben durch V O v. 4. 10. 1931 (GVS S. 189). Die Sache selbst war ein staatspolitisches Kuriosum. Nachdem der nationalsozialistische Minister für Inneres und Volksbildung Dr. Franken, gegen den ein Gerichtsverfahren wegen Strafvereitelung anhängig war, es abgelehnt hatte, „als Vollziehungsbeamter für die die schaffenden Stände in einseitiger und sozial ungerechter Weise belastende Brüning-Diktatur tätig zu sein" und zurückgetreten war, hatte die Regierung Braunschweigs unter Berufung auf die Dietramszeller Notverordnung die Führung der Geschäfte des Staatsministeriums durch nur einen Minister angeordnet, es dem Landtag indes freigestellt, zwei Minister zu wählen. Nach einer Intervention Hitlers bei Hugenberg (Schreiben v. 7. 9. 1931; abgedruckt in: Wirtschaft und Politik [o.Fn. 6], Nr. 304) trat der Landtag am 15. 10. 1931 wieder zusammen und wählte den Nationalsozialisten Klagges zum zweiten Minister. Zum ganzen vgl. die Darstellung bei Friedrich Purlit^jSigfrid H. Steinberg (Hrsg.), Deutscher Geschichtskalender 47 (1931), Abt. A (im folgenden: DGK), S. 347 ff.

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Verordnung zur Änderung des Landeswahlgesetzes v. 12. 10. 1931, GS S. 208: Anhebung des Quorums von 40000 auf 60000 bzw. von 20000 auf 30000 Stimmen; Verordnung zur Änderung des Landeswahlgesetzes v. 8.3.1932, GS S. 145: Heraufsetzung von 40000 auf 50000 bzw. von 20000 auf 25000 Stimmen. Dazu Möller, Parlamentarismus (o. Fn. 38), S. 447 f.

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form auf kaltem Weg verstanden werden müssen 42 . Da die Gliedstaaten weder an der Ausarbeitung der Dietramszeller Notverordnung beteiligt noch überhaupt dazu angehört worden waren, bestand in den Ländern erhebliche Unsicherheit, welchen Inhalt und Umfang die auferlegten Sparopfer haben konnten und welcher verfassungsrechtliche Rahmen dabei einzuhalten war. Zudem glaubten insbesondere kleinere, finanz- und leistungsschwache Gliedstaaten, nach der bereits in Verfolg der Zweiten Notverordnung erfolgten Durchforstung und Straffung ihrer Haushalte im Frühjahr/Sommer 1931 weitere neue Ausgabenkürzungen aus eigener Kraft nicht mehr vornehmen zu können. So hatte schon Mitte August 1931 eine in Oldenburg tagende Länderkonferenz (beteiligt waren neben Thüringen sieben kleine norddeutsche Gliedstaaten) eine Abordnung beauftragt, beim Reichskanzler vorstellig zu werden, um den Ernst der Lage darzustellen und auf finanzielle Hilfe des Reichs zu dringen 43 . In der dann auf den 1. 9. 1931 anberaumten Besprechung mit den norddeutschen Länderministern verdeutlichte Brüning den Standpunkt des Kabinetts: erst nach Durchführung rücksichtsloser Sparmaßnahmen bei Ländern und Gemeinden, d. h. wenn die unbedingte Garantie dafür gegeben sei, daß mit der bisherigen Ausgaben(miß)wirtschaft ein Ende gemacht werde, sei das Reich bereit, den Gliedstaaten auch seinerseits entgegenzukommen und ihnen neue Einnahmequellen zu erschließen: „An der Spitze jeder Hilfe für die Länder und Gemeinden müsse der Satz stehen, daß Länder und Gemeinden in ihrer Ausgabenpolitik, insbesondere auf dem Gebiet der Besoldung, mindestens auf die Durchschnittssätze des Reichs heruntergegangen sein müssen" 44 . Auf die rechtliche Reichweite der Ermächtigung angesprochen, gestand Staatssekretär Schäffer (für den erkrankten Reichsfinanzminister) zu, daß für die Sparverordnungen den Ländern auch das Recht der Einführung neuer Landessteuern zustehe, soweit die Besteuerung dem Reichsrecht nicht widerspräche, denn die Notverordnung ermächtigte nur zur Nichtbeachtung von Landesrecht. Diesen rigiden Standpunkt, der den Ländern zum einen gravierende Belastungen, auch in partei- und verfassungspolitischer Hinsicht, auferlegte, die

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So in entwaffnender und die bisherige Meinung z. T. irritierender Deutlichkeit Brüning, Memoiren (o. Fn. 31), S. 371 f.; dazu Gerhard Schulst Aufstieg des Nationalsozialismus: Krise und Revolution in Deutschland, Frankfurt a. M. u. A. 1975, S. 645 f. Der enge zeitliche Zusammenhang zu den mit dem preußischen Ministerpräsidenten Braun und Brüning besprochenen Reichsreformplänen ist unübersehbar; vgl. Hagen Schulde, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung: eine Biographie, Frankfurt a. M. u. a. 1977, S. 689 ff., 700f. Vgl. den Bericht bei Purlit^jSteinberg, D G K (o. Fn. 40), S. 347; Gesprächsangebot gegenüber der Reichskanzlei v. 26. 8. 1931 (Tag der Veröffentlichung der Dietramszeller Notverordnung) in BA R 43 1/2373, fol. 185. Für die süddeutschen Staaten fand eine gemeinsame Besprechung am 10. 9. 1931 in Stuttgart statt; s. Purlit^jSteinberg, ebd., S. 338. Protokoll in: AdR Brüning (o. Fn. 32), Nr. 459.

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Verantwortung für die vom Reich geforderte Finanzpolitik aber andererseits einseitig auf die gliedstaatlichen Schultern verlagerte, wiederholte Brüning bei einer parallelen Besprechung mit süddeutschen Ministerpräsidenten am 15. 9. 1931 45. Auf die wiederholten Klagen, mehr als bisher könne eben nicht gespart werden, solle das Staats- und Wirtschaftsleben in den Ländern nicht gänzlich zum Erliegen kommen, entgegnete der Reichskanzler angesichts der bevorstehenden Beratung seines neuen Finanz- und Wirtschaftsprogramms, er könne weder eine Garantie für eine bestimmte Höhe der Überweisungssteuern (im Rahmen des Finanzausgleichs) geben, noch käme überhaupt eine Zusage in Betracht, daß eine neue — die Länder zumindest innenpolitisch entlastende — allgemeine Gehaltskürzung von Reichs wegen beschlossen werde. Sowohl in diesen und ähnlichen Fällen als auch in getrennten Besprechungen mit der preußischen Staatsregierung hielt sich das Reich bedeckt, sowohl was seine Verantwortlichkeit für den großen Rahmen der Finanzpolitik und die Unterstützung bei ihrer Umsetzung in Ländern und Gemeinden betraf, als auch was die rechtlichen Grenzen der Verordnungsermächtigung anging. So vielfältig Form und Inhalt der einzelnen Sparverordnungen war, so groß war die Zahl der mit ihnen verbundenen verfassungsrechtlichen Fragestellungen und Zweifel, die sich wie in einem Brennglas in der — insoweit präzedenzlosen — reichsrechtlichen Diktaturdelegation trafen. So war schon der Umfang der gliedstaatlichen Ermächtigung von Anfang an nicht geklärt. Beschränkte man sich auf den bloßen Wortlaut der Dietramszeller Notverordnung, so stand nur fest, daß die Länder von den im eigenen Rechtskreis befindlichen einfachgesetzlichen Vorschriften abweichen konnten; ob sie auch an Reichsrecht gebunden waren, ging daraus nicht hervor, und eine endgültige Klärung brachte die autoritative Interpretation der Reichsregierung gegenüber den norddeutschen Länderministern auch nicht 46 . Im Gegenteil: ging man mit der ganz herrschenden Meinung in der Staatsrechtslehre davon aus, daß der Reichspräsident selbst nicht an einfaches Reichsrecht gebunden war, so konnte eine Delegation der Diktaturgewalt auf die Länder auch in diesem Umfang stattfinden und sie von der Beachtung von Reichsrecht befreien; gerade bei Eingriffen in bestehende Dienst- und Arbeitsverträge war die Suspendierung von Vorschriften des reichsrechtlich normierten Bürgerlichen Rechts unumgänglich. Zusätzliche Zweifel tauchten auf, wenn den Sparverordnungen Vorschriften des L&ndesverfassungstecYiis entgegenstanden, etwa bei Haushaltsfeststel45

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Aufzeichnung von MinR Vogels in: AdR Brüning (o. Fn. 32), Nr. 470; s. a. den die bisherigen Leistungen der beteiligten Länder auflistenden Vermerk von MinR. Olscher v. 15. 9. 1931, ebd., Nr. 471. Besprechung v. 1. 10. 1931, in: AdR Brüning (o. Fn. 32), Nr. 459 (S. 1641).

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nach rückwärts als Aufhebung, nach vorwärts als Sperre"

l u n g , K r e d i t e r m ä c h t i g u n g u n d W a h l r e c h t s ä n d e r u n g . W a r e n die L a n d e s r e g i e r u n g e n — w i e selbstredend auch sonst — d a r a n g e b u n d e n , o d e r hatte die V e r o r d n u n g s e r m ä c h t i g u n g des R e i c h s p r ä s i d e n t e n auch dieses H i n d e r n i s aus dem Weg geräumt?

47

S o d a n n : w a r es u n t e r d e m G e s i c h t s p u n k t der N o t s t a n d s -

g e b u n d e n h e i t d e r D i k t a t u r g e w a l t zulässig, M a ß n a h m e n zu t r e f f e n , die die G r e n z e n einer ad h o c - A b h i l f e , w e i l auf D a u e r a n g e l e g t u n d

größtenteils

irreversibel, eindeutig überschritten, juristisch-dogmatisch gewendet erforderlich und somit unverhältnismäßig waren

48 P

nicht

D e s w e i t e r e n : hielten sich

die landesrechtlichen S p a r v e r o r d n u n g e n , s o w e i t sie K ü r z u n g e n d e r B e a m t e n b e s o l d u n g v e r f ü g t e n , ü b e r h a u p t i m R a h m e n des A r t . 4 8 A b s . 2 W e i m R V ? D i e B e a n t w o r t u n g dieser F r a g e h i n g i m w e s e n t l i c h e n d a v o n ab, w e l c h e n G a r a n t i e g e h a l t A r t . 1 2 9 A b s 1 S. 3 W e i m R V hatte, d e r die „ w o h l e r w o r b e n e n Rechte d e r B e a m t e n " f ü r „ u n v e r l e t z l i c h " e r k l ä r t e u n d nach A r t . 4 8 A b s . 2 S. 2 W e i m R V auch i m W e g e d e r D i k t a t u r g e w a l t nicht s u s p e n d i e r t w e r d e n k o n n t e 4 9 . Schließlich k o m p l i z i e r t e sich die R e c h s t l a g e n o c h d a d u r c h , d a ß einige, a u f ihre (auch rechtliche) E i g e n s t ä n d i g k e i t u n d

Eigenstaatlichkeit

47

Diese Frage wurde in der Ministerbesprechung v. 11. 19. 1931 diskutiert; Protokoll in: AdR Brüning (o. Fn. 32), Nr. 468 (Punkt 3). Die Stellungnahmen hierzu differierten: Während der Staatssekretär im Reichsjustizministerium Joel daran festhielt, daß die Bindung der Landesregierung an ihre gliedstaatliche Verfassung fortbestand, ging der Staatssekretär im Reichsinnenministerium Zweigert davon aus, daß eine solche Bindung wohl nicht (mehr) bestehe. Brüning selbst erklärte: „man dürfe die Dinge nicht übertreiben, denn sonst mache man die Waffen des Art. 48 der Reichsverfassung stumpf 1 '. Dem um verbindliche Rechtsauskunft anfragenden Land Anhalt wurde eine sibyllinische Antwort erteilt: man müsse das beabsichtigte Vorgehen — Verschiebung von Gemeindewahlen um der Einsparung von Kosten willen — der ausschließlichen Verantwortlichkeit der Landesregierung überlassen; auch die politischen Auswirkungen seien von ihr allein zu tragen. — Das Reichsfinanzministerium war in einem den Länderregierungen die denkbaren Maßnahmen auf Grund der Dietramszeller Notverordnung erklärenden Rundschreiben v. 26. 8. 1931 (Inhalt referiert in ZStA I 30.07 [StGH], Nr. 371, fol. 93) davon ausgegangen, daß die gliedstaatlichen Sparverordnungen nicht der Landesverfassung unterlägen und nicht an sie gebunden seien; auch dürften die Landtage die Regierung hierfür nicht zur Rechenschaft ziehen.

48

Vgl. dazu von Länderseite Hans Kluge, „Delegierte Diktaturgewalt", in: RuL 6,1932, S. 15 ff.; aus der Sicht der Gemeinden v. Bremen, „Die Diktaturgewalt gegenüber Ländern und Gemeinden", ebd., S. 42 ff.; ders., „Die Anwendung des Artikel 48" in: Der Städtetag 25, 1931, S. 476 ff.; aus der Sicht des Reichs — der Verf. war MR im RFinMin — Markull, „Sicherung der Haushalte", in: RuPrVerwBl 52, 1931, S. 705 ff. Vgl. den Meinungsstand zusammenfassend Anschütij, Verfassung (o. Fn. 16), Art. 129, Anm. 4; begründete verfassungsrechtliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit (zwar nicht der Dietramszeller Notverordnung, wohl aber) der gliedstaatlichen Sparverordnungen (anhand Badens) bei Walter Jellinek in einem dem Deutschen Beamtenbund erstatteten Rechtsgutachten v. 4. 12. 1931 (ZStA I 30.07 [StGH], Nr. 372, fol. 148 ff.). Für Einzelheiten zur Entwicklung der Rechtsmeinungen, die parallel zum Variantenreichtum der Diktaturverordnungen verlief, muß auf die in absehbarer Zeit vorliegende Untersuchung des Verf. („Die Diktatur des Reichspräsidenten im Wandel der Weimarer Reichsverfassung") verwiesen werden.

49

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Wolfgang März

bedachten Länder zwar der Sache nach von der Dietramszeller Notverordnung kräftig Gebrauch machten, ihre Sparmaßnahmen aber nicht (oder nicht nur) auf diese Ermächtigung stützten, sondern als Rechtsgrundlage eine ungewöhnliche Kombination aus der reichsrechtlichen Diktaturgewalt der Landesregierungen (Art. 48 Abs. 4 WeimRV) und dem landesverfassungsrechtlichen Notverordnungsrecht bildeten, wenn nicht gar noch zusätzlich an dritter Stelle die Dietramszeller Notverordnung eingebunden wurde 50 . Eine endgültige autoritative Klärung dieser — der Reichsregierung nicht unwillkommenen — verworrenen Rechtslage konnte nur die Rechtsprechung geben, insbesondere die des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich, und seine Entscheidung war angesichts der die Dietramszeller Notverordnung bis an die äußersten Grenzen beanspruchenden Sparverordnungen der Gliedstaaten nicht vorauszusehen, zumal Präzedenzfälle nicht vorlagen. Da ein parlamentarisches Vorgehen der Landtage weder verfassungsrechtlich eindeutig zulässig noch der Sache nach erfolgversprechend schien, hatten sich insbesondere die in den gliedstaatlichen Volksvertretungen in der Opposition stehenden Parteien beziehungsweise ihre Fraktionen zu einem verfassungsgerichtlichen Vorgehen entschlossen und ein gutes Dutzend Verfahren vor dem Staatsgerichtshof anhängig gemacht; Gemeinden, Landkreise und ihre Verbände waren ihnen darin gefolgt 5 1 . Die durch die zahlreichen Verfahren in Bedrängnis geratenen Landesregierungen suchten der drohenden Prozeßflut und der dabei nicht auszuschließenden Gefahr der Aufhebung einzelner Vorschriften — sei es wegen Überschreitungen des von der Dietramszeller Notverordnung zur Verfügung gestellten Rechtsrahmens, sei es wegen Verfassungswidrigkeit eben dieser Ermächtigung selbst — zumindest einen verfahrenstcchtMchcn Riegel vorzuschieben;

50

So geschehen in Baden; vgl. Cabn-Garnier,

„Das badische Notgesetz vom 9. Juli 1 9 3 1 " , Teil

II: Rechtliche Würdigung des Notgesetzes, in: Der Städtetag 25, 1931, S. 4 2 2 f. Bayern hatte seine Unabhängigkeit vom Reich dadurch demonstriert, daß seine Sparverordnungen auf Art. 48 Abs. 4 WeimRV i. V. m. § 64 Bay. Verf. gestützt wurden.

Verfassungsrechlich

einwandfrei war dies nicht. 51

Die Übersicht bei LammersjSimons,

Rechtsprechung (o. Fn. 24) gibt kein zutreffendes Bild

insofern, als dort nur die abgeschlossenen Verfahren geführt werden. Zu ihnen trat im Laufe der Monate nach dem August 1931 ein knappes Dutzend Klagen, die teils wegen Unzulässigkeit zurückgezogen, teils trotz Zulässigkeit „auf die lange Bank

geschoben"

wurden. Einige, der Sache nach nicht aussichtslose Verfahren waren noch im Sommer 1933 anhängig, sodaß der Reichsinnenminister den „Landesregierungen" mit Schreiben v. 25. 7. 1933 ( Z S t A I 30.01 [RJustMin], Bd. 6797, fol. 132) empfahl, die restlichen Klagen zurückzunehmen; dies geschah dann auch. Klagen, die von parlamentarischen Fraktionen angestrengt worden waren, wurden nach den Parteiverboten im Frühjahr/Sommer 1933 vom Staatsgerichtshof selbst ad acta gelegt (Mitteilung des S t G H v. 12. 7. 1933, Z S t A 30.01 [RJustMin], ebd., fol. 129).

„... nach rückwärts als Aufhebung, nach vorwärts als Sperre"

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sie fanden ihn in der bundesstaatlichen Qualifikation der Sparverordnungen. Obgleich in der Rechtslehre seit Ende der 20er Jahre die Diktaturverordnungen nach Art. 48 Abs. 4 WeimRV mehrheitlich als dem Landesrecht zugehörig eingestuft wurden und insoweit auch für vom Reichspräsidenten ermächtigte Notverordnungen nichts anderes gelten konnte, wandten einige gliedstaatliche Regierungen bzw. ihre Prozeßvertreter in den vor dem Staatsgerichtshof anhängigen Klagen stereotyp ein, bei den angegriffenen Vorschriften handele es sich nicht um Landes-, sondern um Rekhst&chx. Mithin seien die Verfahren — da es sich nicht (wie vom Prozeßrecht gefordert) um einen Streit zwischen Reich und Ländern handele — unzulässig 52 . Aber auch vor Landesgerichten war effektiver Rechtsschutz nicht zu erhalten, da diese nicht über die Vereinbarkeit von Reichsrecht mit der Landesverfassung (Art. 13 I WeimRV) zu entscheiden befugt waren. Schützenhilfe hierfür erbaten und erhielten die Länderregierungen von Reichsinnen- und Reichsfinanzministerium, die auf Anfrage des Staatsgerichtshofs in stets gleichlautenden Schreiben dem Rechtsstandpunkt der Beklagten (der Länder) beitraten 53 , wobei sie es allerdings peinlich vermieden, zur materiellen Rechtslage Stellung zu nehmen. Das Reichsjustizministerium teilte diese offizielle Auffassung freilich nicht, ohne daß dies für die Beteiligten — und den Staatsgerichtshof — erkennbar gewesen wäre; es hatte vielmehr frühzeitig auf die rechtliche und praktische Bedenklichkeit der Qualifikation von Sparverordnungen als Reichsrecht hingewiesen, konnte sich aber gegenüber den beiden federführenden Ministerien nicht durchsetzen 54 . Zudem erhielten diese Flankenschutz im juristischen Schrifttum, der darin gipfelte, daß der im Bundesstaat seit 1867 immer einheitliche Maßstab für die Zuordnung einzelner Rechtssätze 52

53

54

So z.B. die Schriftsätze in StGH 11 u. 13/31 (Stadt Strelitz/DNVP-Fraktion des Mecklenburg-Strelitzschen Landtags ./. Land Mecklenburg-Strelitz; dazu Urteil v. 5. 12. 1931, in: Lammers/Simons, Rechtsprechung [o. Fn. 24], Bd. V, S. 201 ff.); StGH 7/31 (Badische Gemeinden ./. Freistaat Baden), StGH 1/32 (DNVP-Fraktion im badischen Landtag ./. Land Baden) oder StGH 14/32 (DSP-Fraktion im sächsischen Landtag ./. Land Sachsen) (ZStA I 30.07 [StGH], Nr. 369/70, 371/72, 378). Z. B. Schreiben des Reichsfinanzministers an den StGH v. 25. 11. 1931, das Verf. 7/31 betreffend (ZStA I 30.07 [StGH], Nr. 369, fol. 96 ff.). Schon anläßlich eines früheren Verfahrens hatte das Reichsinnenministerium dem Präsidenten des StGH nahegelegt, bei den Verordnungen unterschiedliche Prüfungsmaßstäbe anzulegen: während reichsrechtliche Diktaturverordnungen keiner inhaltlichen und Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte berücksichtigenden Prüfung unterliegen sollten, könnten landesrechtliche Sparverordnungen auch in dieser Hinsicht unter die höchstrichterliche Lupe genommen werden (Schreiben v. 11. 11. 1931, ZStA I 30.01, ebd. fol. 33). S. den Vermerk Krit^ingers über die Besprechung im Reichsministerium des Innern v. 11. 11. 1931, ZStA I 30.01 (RJustMin), Bd. 6797, fol. 31.

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Wolfgang März

zum Reichs- bzw. Landesrecht in geradezu willkürlicher, allein am gewünschten Ergebnis orientierter Weise aufgespalten wurde: die Qualifikation von Reichsrecht i. S. d. Art. 13 I WeimRV sollte im Bereich des Art. 48 Abs. 2 WeimRV keinerlei Bedeutung mehr haben; dem Reichspräsidenten stünde es vielmehr frei, für den Bereich der delegierten Diktaturgewalt nach seinem — gerichtlich nicht überprüfbaren — Ermessen im Einzelfall zu bestimmen, ob die ausführenden Vorschriften rechtlich dem Gesamt- oder den Gliedstaaten zuzurechnen seien 55, damit auch über die Rechtschutzmöglichkeiten hiergegen zu entscheiden. Der Vorrang des Reichsrechts, früher Kollisionsnorm für Widersprüche zwischen konkurrierendem Reichs- und Landesrecht, dann Rechtsgrundsat^entscheidung über die Unterordnung der Gliedstaaten unter das Reich, sollten nunmehr in Annäherung an Art. 6 — 12 WeimRV auch eine Kompeten^norm sein, deren Nichtbeachtung dem Reichspräsidenten genauso offenstehe wie die anderer Zuständigkeitsvorschriften im Reichsinnen- oder Bundesstaatsverhältnis. Diese interpretative Rabulistik stellte den Sinn und Zweck des Art. 13 I WeimRV auf den Kopf: seine Funktion war es doch gerade, mit der Einheitlichkeit und Integrationskraft des Reichsrechts die Einheit der Rechtsordnung im Bundesstaat zu bewahren 5