Wege der Neuzeit: Festschrift für Heinz Schilling zum 65. Geburtstag [1 ed.] 9783428523948, 9783428123940

Wie nur wenige hat der an der Berliner Humboldt-Universität lehrende Historiker Heinz Schilling Gegenstände und Methodik

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German Pages 659 Year 2007

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Wege der Neuzeit: Festschrift für Heinz Schilling zum 65. Geburtstag [1 ed.]
 9783428523948, 9783428123940

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Historische Forschungen Band 85

Wege der Neuzeit Festschrift für Heinz Schilling zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von Stefan Ehrenpreis, Ute Lotz-Heumann, Olaf Mörke, Luise Schorn-Schütte

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Wege der Neuzeit Festschrift für Heinz Schilling zum 65. Geburtstag

Historische Forschungen Band 85

Wege der Neuzeit Festschrift für Heinz Schilling zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von Stefan Ehrenpreis, Ute Lotz-Heumann, Olaf Mörke, Luise Schorn-Schütte

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0344-2012 ISBN 978-3-428-12394-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Stefan Ehrenpreis, Ute Lotz-Heumann, Olaf Mörke, Luise Schorn-Schütte: Werk und Wirkung Heinz Schillings: Eine Hommage an die Frühe Neuzeit ................ 7 I. Religion und Konfession Gottfried Seebaß: Die Reformation als Epoche ............................................................. 21 Thomas A. Brady, Jr.: “We Have Lost the Reformation” – Heinz Schilling and the Rise of the Confessionalization Thesis .................................................. 33 Bernd Moeller: Confessio Augustana – Confessio Tetrapolitana: Die Bekenntnisse von 1530 in ihrem Zusammenhang .................................................................... 57 Thomas Kaufmann: Luther und Calvin – eine Reformation ........................................... 73 Dorothea Wendebourg: Martin Luthers frühe Ordinationen .......................................... 97 Robert M. Kingdon: Anabaptists in Calvin’s Geneva .................................................. 117 Susan C. Karant-Nunn: Die Gefühle der Jungfrau: Weibliche Religiosität in einem „eisernen“ Zeitalter ........................................................................... 127 Janusz Maááek: Ökumenischer Dialog? Kardinal Hosius und Herzog Albrecht von Preußen ............................................................................................................ 143 Hans J. Hillerbrand: Christian Anti-Judaism in the Seventeenth Century: Old and New Themes in the Age of Confessionalization .............................................. 157 Willem Frijhoff: Strategies for Religious Survival Outside the Public Church in the United Provinces: Towards a Research Agenda......................................... 177 Johannes Arndt: Die calvinistischen Prädikanten in den Niederlanden (1566– 1620): Zur Entstehungsgeschichte eines Berufsstandes ................................... 195 István György Tóth: Katholische Erneuerung „im Hause des Islams“: Missionsbischöfe in Türkisch-Ungarn im 17. Jahrhundert ............................................. 215 Wilfried Nippel: Edward Gibbon, das antike Christentum und die anglikanische Kirche .............................................................................................................. 241 Irene Dingel: Instrumentalisierung von Geschichte: Nationalsozialismus und Lutherinterpretation am Beispiel des Erlanger Kirchenhistorikers Hans Preuß ... 269

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Inhaltsverzeichnis

Etienne François: Konfessioneller Pluralismus und deutsche Identität ....................... 285 Hartmut Kaelble: Europäischer Wertewandel am Ende des 20. Jahrhunderts. Ein internationaler Vergleich ................................................................................. 311 II. Politik, Staat und internationales System Wim Blockmans: Geschichte eines nicht-bestehenden Staates ..................................... 329 Wolfgang Reinhard: Stadtrepublikanismus im Kirchenstaat? Ein Versuch ................. 345 Günter Vogler: Revolte oder Revolution? Anmerkungen und Fragen zum Revolutionsproblem in der frühen Neuzeit .............................................. 381 William Monter: Tu, Felix Lotharingia, Nube: Dynastic Marriages and Political Survival, 1477–1737 ........................................................................................ 415 Robert von Friedeburg: „Patrioten“ in der frühen Neuzeit: Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten im Verlauf von Konfessionalisierung und europäischen Mächtekonflikten .............................................................................. 431 Holger Th. Gräf: Professionalisierung oder Konfessionalisierung? Zur Entwicklung des „diplomatischen Korps“ um 1600 .................................. 457 Uwe Sibeth: Der „Friede“ als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln: Zur Repraesentatio pacis generalis (1607) des Pieter Cornelisz. Brederode.......... 479 Johannes Burkhardt: Sprachen des Friedens und was sie verraten. Neue Fragen und Einsichten zu Karlowitz, Baden und „Neustadt“ ...................................... 503 Heinz Duchhardt: Niklas Vogt und Gustav II. Adolf ................................................... 521 Georg Schmidt: Analogien bilden: Schillers Konzept der Universalgeschichte und seine „Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande“ ........................... 533 Helmut Berding: August Friedrich Wilhelm Crome – Politischer Gelehrter und Publizist in Gießen ........................................................................................... 553 Hans Ottomeyer: Die Tafel als historischer Ort ........................................................... 575 Gerhard Menk: Die Hochschul- und Wissenschaftslandschaft zwischen Main und Weser in der frühen Neuzeit ............................................................................ 585 Peter Clark: Politics, the City and the Popular Drinking House in Early Modern Europe .............................................................................................................. 621 Personenregister ........................................................................................................... 639 Ortsregister ................................................................................................................... 650

Werk und Wirkung Heinz Schillings: Eine Hommage an die Frühe Neuzeit

Stefan Ehrenpreis, Ute Lotz-Heumann, Olaf Mörke, Luise Schorn-Schütte

Als Geburtsort des am 23. Mai 1942 geborenen Heinz Schilling ist zwar die oberbergische Kleinstadt Bergneustadt in seinem Paß verzeichnet, die Familie lebte jedoch in Köln. Die alte Reichsstadt am Rhein und die schwierige Nachkriegssituation, in der er aufwuchs, haben ihn in vielerlei Hinsicht geprägt. Obwohl er nicht zu den Wissenschaftlern gehört, die ein eng umgrenztes Themenfeld ein Leben lang intensiv und bis in kleinste Verästelungen verfolgen, lassen sich doch auch bei ihm langfristig durchgehaltene Forschungsinteressen erkennen, die man mit der Herkunft aus der rheinischen Metropole und katholischen Reichsstadt in Zusammenhang bringen kann. Schon das Thema der Dissertation über die Situation der reformierten Flüchtlingsgemeinden verweist auf die lebensgeschichtlichen Erfahrungen, in einer katholischen Umgebung der protestantischen Minderheit anzugehören. Heinz Schilling hat später oftmals berichtet, wie ihm als Schulkind im Kölner Milieu um 1950 konfessionell bedingte Ausgrenzungen bewußt wurden. Auf der anderen Seite hat das alltägliche Erleben der großen Tradition städtischer Unabhängigkeit und des Bürgerbewußtseins Kölns seine Beschäftigung mit der Geschichte der europäischen Stadt und des Republikanismus beeinflußt. Schließlich legte das Leben am Rhein, der alten europäischen Hauptschlagader, nahe, diese beiden Themen mit der Geschichte des niederländischen Nachbarn in Verbindung zu setzen. Zur Herkunft kam aber nicht zuletzt das wissenschaftliche Interesse an einer vergleichenden Sicht gesellschaftlicher Phänomene im frühneuzeitlichen Europa. Nach den ersten Semestern seines Studiums der Geschichte, Germanistik und Philosophie in seiner Heimatstadt wechselte er nach Freiburg, wo er daneben ein vom Evangelischen Studienwerk Villigst bezuschußtes Zweitstudium der Soziologie aufnahm. Seine Freiburger akademischen Lehrer Gottfried Schramm und Kaspar Elm förderten sowohl die sozialgeschichtliche als auch die komparatistische Perspektive, die für sein wissenschaftliches Gesamtwerk ein jahrzehntelang währendes Fundament legten. Die im Wintersemester 1970/71 angenommene Dissertation zu den Niederländischen Exulanten im

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16. Jahrhundert1 zeigt bereits den Zusammenfluß verschiedener Prägungen und Interessen, die er bereits vor den Bielefelder Jahren verfolgte: sozialgeschichtlicher Zugriff auf nationenübergreifende Faktoren von Vergemeinschaftung, Konzentration auf den urbanen Raum, Interesse an der Verbindung religionsund gesellschaftsgeschichtlicher Fragestellungen, intime Materialkenntnis der nordwesteuropäischen Geschichte. Heinz Schilling hat später selbst berichtet, wie er sich mit Kaspar Elm einig fühlte in dem Bestreben, makrohistorische Probleme am neuen Wirkungsort Bielefeld, wohin er unmittelbar nach Abschluß der Promotion als Assistent mit Elm ging, im Forschungs- und im Lehrbetrieb weiter zu bearbeiten. Das spezifische Profil der neugegründeten ostwestfälischen Universität schien ihnen dafür wie geschaffen2.

I. Das Bielefelder Labor Anläßlich der Publikation seiner Habilitationsschrift hat Heinz Schilling rückblickend das intellektuelle und kollegiale Klima an der damals noch jungen ostwestfälischen Universität gelobt, das günstige Voraussetzungen für die Lehr- und Forschungstätigkeit bot. Tatsächlich läßt die Lehr- und Publikationstätigkeit seiner Bielefelder Jahre erahnen, daß er damals methodischtheoretische Zugänge zur Geschichte ausprobierte, die ihn bis heute prägen. In seinen akademischen „Chefs“ Kaspar Elm und Wolfgang Mager fand der Nachwuchswissenschaftler darüber hinaus einen liberalen Professorentypus vor. Das, was als „Bielefelder Schule“ bezeichnet wird, ist keineswegs einheitlich gewesen. Obwohl Hans-Ulrich Wehler jüngst zu Protokoll gab, die Mediävisten hätten sich den methodischen Diskussionen der dortigen Neuzeithistoriker nie richtig angeschlossen3, lassen sich für Heinz Schilling mindestens drei Grundsätze seines Werkes destillieren, die ihn als „Bielefelder“ ausweisen: 1. sein Interesse an theoretischen Modellen und ihrer Operationalisierung in der geschichtswissenschaftlichen Praxis, ___________ 1 Im folgenden wird auf eine raumfüllende Auflistung der Publikationen Heinz Schillings verzichtet. Das ständig aktualisierte Verzeichnis seiner Veröffentlichungen kann leicht über die Homepage des Lehrstuhls (www.geschichte.hu-berlin.de) eingesehen werden. 2 Heinz Schilling, Vita religiosa des Spätmittelalters und frühneuzeitliche Differenzierung der christianitas – Beobachtungen zu Wegen und Früchten eines Gesprächs zwischen Spätmittelalter- und Frühneuzeithistorikern, in: Vita Religiosa im Mittelalter. Festschrift für Kaspar Elm zum 70. Geburtstag, hg. von Franz J. Felten und Nikolaus Jaspert, Berlin 1999, 785–796. 3 Hans-Ulrich Wehler, Eine lebhafte Kampfsituation. Ein Gespräch mit Manfred Hettling und Cornelius Torp, München 2006, 90.

Werk und Wirkung Heinz Schillings: Eine Hommage an die Frühe Neuzeit

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2. sein Interesse an makrohistorischen Fragestellungen, die sowohl Umbrüche als auch langfristige Entwicklungslinien des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit zu erfassen versuchen, 3. sein Interesse, die politische Geschichte mit der Sozialgeschichte in eine umfassende Gesellschaftsgeschichte zu integrieren. Die eigenständige Rolle innerhalb der durch die Fokussierung auf das 19. und 20. Jahrhundert charakterisierten „Bielefelder Schule“ machte Schilling früh durch die Beteiligung an deren maßgeblichen Publikationsprojekten deutlich: in den ersten Sonderheften der Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“ war er mit Beiträgen zum Münsteraner Täuferreich und zum Aufstand der Niederlande vertreten; beide interpretierte er als Sonderformen einer allgemeinen stadtbürgerlichen Bewegung. Auch im ersten Heft der neugegründeten „Zeitschrift für historische Forschung“ findet sich ein Aufsatz zu den Bürgerkämpfen in Aachen um 1600. Die Anregungen, die er bei den berühmt-berüchtigten Bielefelder Freitags-Kolloquien erhielt, sind für seine Einstellungen zum wissenschaftlichen Arbeiten zukunftsweisend geworden: hoher Arbeitsfleiß, fachliche Leidenschaft, Ernstnehmen und Fordern des akademischen Nachwuchses und eine Diskussionskultur, die in der Sache das offene Wort nicht scheut4. Es gab jedoch auch Abgrenzungen gegenüber dem, was als „Bielefelder Schule“ der deutschen Geschichtswissenschaft bezeichnet worden ist. Schon früh erkannte er die Bedeutung der Religion für sozialgeschichtliche Entwicklungen. Außerdem hat sich Heinz Schilling immer von parteipolitischen Implikationen der Wissenschaft ferngehalten, zumal seine liberal-konservative Grundhaltung nicht zum sozialdemokratischen Mainstream Bielefelds paßte. Die Mentalität der älteren „Bielefelder“, die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit anderen Richtungen der Geschichtswissenschaft als umfassende Kampfsituation aufzufassen, liegt ihm fern. Statt in politischen Einstellungen sucht Schilling die Hintergründe für unterschiedliche Forschungsrichtungen eher im Temperament der Forscherpersönlichkeiten, wie er später gelegentlich bemerkte. Neben dem Bielefelder fand er bemerkenswerterweise auch Zugang zu einem zweiten, ganz anders gearteten akademischen Milieu. Auf Einladung Franz Petris trug er im Kolloquium des Instituts für vergleichende Städtegeschichtsforschung die Ergebnisse seiner Dissertation vor und wurde eingeladen, sich am dort entworfenen neuen Sonderforschungsbereich 164 zu beteiligen. Schon seit 1974 arbeitete der Assistent Kaspar Elms, der gute Verbindungen nach Münster hatte, an einem eigenen Teilprojekt „Konfession und bürgerliche Gesellschaft in niederländischen Städten während der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts“ in dem von Franz Petri geleiteten Projektbereich „Kirche und ___________ 4

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gesellschaftlicher Wandel“ mit5. Dieser große Forschungsverbund hatte sich zur Aufgabe gesetzt, den Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit anhand des gesellschaftlichen und politischen Wandels in deutschen und niederländischen Städten zwischen dem 15. und dem 17. Jahrhundert zu beschreiben. Damit war zugleich die Frage nach der Bedeutung der Reformation und – der damaligen Debatte um die Reformation als „urban event“ folgend – der Rolle der städtischen Gesellschaft für diesen Wandel gestellt. Mit der Münsteraner Projektausrichtung war zugleich ein enger Kontakt zur niederländischen Geschichtswissenschaft hergestellt, wie sich in den damals publizierten Sammelbänden der Reihe „Städteforschung“ leicht nachvollziehen läßt. Der 1983 geäußerte Wunsch, daraus möge eine den „Anglo-Dutch Historical Conferences“ vergleichbare institutionalisierte Form hervorgehen, hat sich jedoch nicht erfüllen lassen6. Die persönlichen Kontakte Heinz Schillings mit niederländischen Kollegen wurden jedoch dauerhaft vertieft, wie nicht zuletzt ihre Beiträge in dieser Festschrift zeigen. Für die wissenschaftliche Profilbildung Schillings – wie auch anderer junger Forscher – war die Beteiligung an dem Münsteraner SFB außerordentlich wichtig. Hier konnte er Details seiner Untersuchungen jenseits makrohistorischer Modellbildungen diskutieren und konkrete Anregungen für die quellenorientierte Kärrnerarbeit gewinnen. Es ist sicher kein Zufall, daß gerade aus diesem Forschungsverbund Schillings ein Editionsprojekt hervorgegangen ist, das der Emdener Kirchenratsprotokolle.

II. Die Habilitationsschrift und die Entwicklung des Konfessionalisierungsprozesses Die Wahl des Habilitationsthemas war neben den epochenübergreifenden durch die stadtgeschichtlichen Interessen mitbestimmt, aber auch durch die pragmatische Entscheidung des jungen Familienvaters, die notwendigen Archivbesuche vorwiegend in der Region absolvieren zu können. Ein ursprünglicher Plan, die Konfessionsentwicklungen in Lippe und Ostfriesland zu vergleichen, wurden auf den Rat Kosellecks hin zugunsten der Detailstudie zu Lemgo aufgegeben. Neben Wolfgang Mager und Klaus Schreiner war im Wintersemester 1977/78 dann auch Reinhard Koselleck Gutachter im Habilitationsverfahren. ___________ 5 Das Institut für vergleichende Städtegeschichte zählt Heinz Schilling bis heute zu seinen Beiratsmitgliedern. 6 Wilfried Ehbrecht/Heinz Schilling, Einführung, in: Niederlande und Nordwestdeutschland. Studien zur Regional- und Stadtgeschichte Nordwestkontinentaleuropas im Mittelalter und in der Neuzeit. Franz Petri zum 80. Geburtstag (Städteforschung, Reihe A, Bd. 15), hg. von dens., Köln/Wien 1983, XII.

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In der Einleitung der Druckfassung von 1980 nennt Schilling zwar Anregungen durch die klassische Religionssoziologie Webers und Troeltschs, betont jedoch, im Gegensatz zu deren Suche nach konfessionsspezifischen sozialen und politischen Elementen von Theologie und Glaubenspraxis nach der historischen Wirkkraft von Konfession als Formalkategorie zu fragen. Auch will er „stärker als die letztlich mit der Modernisierungsfrage befrachteten Betrachtungen […] die spezifischen Strukturen und Voraussetzungen der Vergesellschaftung unter den Bedingungen des Ancien Régime“ berücksichtigen: „Es sollen nicht die Elemente und Entwicklungsimpulse betont werden, die auf lange Sicht in die säkular-pluralistische Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts hinüberleiten, sondern gerade die eigentümlichen Bauelemente, durch die sich die frühneuzeitliche von der modernen Welt unterschied“7. Dies bedeutet freilich gerade nicht, daß Schilling den politisch-sozialen Wandel des 16. Jahrhunderts für überschätzt hielt, sondern er wollte diesen nicht vorschnell in ein makrohistorisches Epochenmodell der Neuzeit hineinpressen. In der Zusammenfassung der Ergebnisse charakterisierte er dann die religiöskirchlichen Vorgänge in Lippe als Teil eines „übergreifenden gesellschaftsgeschichtlichen Prozesses“: „der Umwandlung der alten Landeshoheit in frühmoderne Staatlichkeit“8. Diese wird nicht nur durch die bekannten Faktoren des Steuer- und Militärwesens bestimmt, sondern gleichberechtigt, aber zeitlich vorhergehend, durch die „Monopolisierung der Kirche“, die eine territoriale Gesellschaft schuf9. Schilling formulierte dann prägnant: „Die Konfessionsfrage wurde zum Kristallisationskern, an den sich andere wichtige Probleme der damaligen Gesellschaft anlagerten“10. Er bestätigt damit die Eingangsthese, daß Konfession als eine Grundkategorie der Frühneuzeitforschung begriffen werden muß, „ohne die zumindest für das 16. und weite Teile des 17. Jahrhunderts keine hinreichende Erkenntnis über den Aufbau jenes Gesellschaftssystems sowie seiner Entwicklungsdynamik gewonnen werden kann“11. In der großen interpretierenden Zusammenfassung der Konfessionalisierungsforschung, die Heinz Schilling 1995 vorlegte12, betont er nochmals die ___________ 7 Heinz Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung. Eine Fallstudie über das Verhältnis von religiösem und sozialem Wandel in der Frühneuzeit am Beispiel der Grafschaft Lippe, Gütersloh 1981, 21. 8 Ebd., 365. 9 Ebd., 366f. 10 Ebd., 372. 11 Ebd., 22. 12 Heinz Schilling, Die Konfessionalisierung von Kirche, Staat und Gesellschaft – Profil, Leistung, Defizite und Perspektiven eines geschichtswissenschaftlichen Paradigmas, in: Die katholische Konfessionalisierung (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 198), hg. von dems. und Wolfgang Reinhard, Gütersloh 1995, 1–49, hier 2.

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Bedeutung der von ihm und Wolfgang Reinhard (der von der These der katholischen Reform als Modernisierung ausging) entwickelten Konfessionalisierungsthese einerseits gegen einen „sozialwissenschaftlichen Reduktionismus“ der 1970er Jahre, der gesellschaftliche Prozesse ohne die Berücksichtigung religiöser und kultureller Faktoren erklären zu können meinte, und andererseits gegen einen „reduktionistischen Idealismus“, der jede sozialgeschichtliche Interpretation religiöser und kirchlicher Phänomene ablehnte. Angeregt durch modernisierungs- und systemtheoretische Ansätze – die freilich in der Habilitationsschrift noch nicht explizit ausgewiesen wurden – werden Religion und Kirche als zentrale und tragende Strukturachsen der frühneuzeitlichen Gesellschaft gesehen, im Gegensatz zu ihrer Bedeutung als Subsysteme im Sinne der modernen Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Kritik am „Konfessionalisierungsparadigma“, wie er selbst die von Reinhard und ihm entwickelte These bezeichnet, setzte bereits mit der Publikation der Habilitationsschrift ein und hat seitdem bis heute angehalten, ohne daß das methodische Konzept ad acta gelegt werden müßte. Es zeugt gerade von der positiven Leistung des „Konfessionalisierungs“-Begriffs, einzelne Kritikpunkte aufgegriffen und integriert haben zu können, ohne den Erklärungsgehalt verloren zu haben, wie man es etwa für den „Absolutismus“-Begriff konstatieren kann. Die Kritiken, die hier nicht in Gänze aufgeführt werden können13, richteten sich auf verschiedene Implikationen der Konfessionalisierungsthese und auf die Reichweite ihres Erklärungsgehalts: 1. sei die Konfessionalisierungsthese durch einen veralteten, einseitigen Modernisierungsbegriff gekennzeichnet; 2. sei sie zu etatistisch gedacht und reduziere die religiös-kirchlichen Entwicklung auf ihren Beitrag zur modernen Staatlichkeit; 3. vernachlässige sie die Bedeutung von nichtkonfessionellen Religionsgruppen und von misch- und transkonfessionellen Verhältnissen; 4. die Behauptung der funktionalistischen Parallelität der Konfessionsbildungen eliminiere die theologischen Differenzen und den „Eigensinn“ frühneuzeitlicher Glaubenspraxis. Heinz Schilling hat in einem großen Resümée vor einigen Jahren Zugeständnisse in den Kritikpunkten 3 und 4 gemacht und darauf verwiesen, daß sich viele der seit den 1980er Jahren erschienenen Arbeiten in ein mittlerweile differenzierteres Modell von Konfessionalisierung integrieren lassen. Insbesondere könne konstatiert werden, daß es auch eine regional begrenzte Konfes___________ 13 Siehe zur Forschungsdiskussion Heinrich Richard Schmidt, Konfessionalisierung im 16. Jahrhundert, München 1992; Stefan Ehrenpreis/Ute Lotz-Heumann, Reformation und Konfessionelles Zeitalter (Kontroversen um die Geschichte), Darmstadt 2002.

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sionalisierung ohne obrigkeitlichen Einfluß gegeben habe. Allerdings wies er die Kritikpunkte 1 und 2 zurück mit dem Hinweis, daß bis auf England das Konfessionalisierungsmodell zwischenzeitlich auf viele europäische Fallbeispiele erfolgreich angewendet worden sei14. Besonderen Wert legt er auf die Beibehaltung des Zusammenhangs von Konfessionalisierung und Staats- und Gesellschaftsentwicklung, ohne die das Konzept jeden Erklärungswert verlöre. Die Leistung des Konzepts sieht er in der Überwindung statischer, die vormoderne Gesellschaft romantisierender Sichtweisen, wie sie in den 1960er Jahren mit dem „Alteuropa“-Konzept vorgeherrscht hätten. Heute gelte es, mikrohistorische Zugänge mit größeren Wandlungsprozessen in Verbindung zu bringen, um nicht wieder dieser Gefahr zu erliegen15. Die Diskussionen um das Konfessionalisierungs-Konzept sind damit nicht beendet, sondern werden weiter Früchte tragen.

III. Zeit der Synthesen: das Gießener Jahrzehnt 1982–1992 Nach der Habilitation kam schnell der Ruf auf den Lehrstuhl für Frühe Neuzeit der Universität Osnabrück, wo er mit Klaus J. Bade einen bis heute geschätzten Partner in Fragen der Migrationsforschung fand. In den Jahren 1980 bis 1982 entstanden weitere Aufsätze für den Münsteraner SFB zur niederländischen Bürgertumsgeschichte sowie ein Beitrag in der Stadtgeschichte Dortmunds. Die Zeit in Osnabrück war jedoch zu kurz, um besondere Akzente zu setzen. Der Wechsel nach Gießen brachte Heinz Schilling vor allem die Mitgliedschaft in einem neuen, anregenden Kollegenkreis. In dem Neuzeithistoriker Helmut Berding und dem Mediävisten Peter Moraw fand Schilling hier neue Partner für epochenübergreifende Fragestellungen. Die Gießener Jahre wurden so eine Zeit der Entfaltung und Weiterentwicklung des Konfessionalisierungs___________ 14 Schilling, Konfessionalisierung (Anm. 12), 5–7, sowie ders., Das konfessionelle Europa. Die Konfessionalisierung der europäischen Länder seit Mitte des 16. Jahrhunderts und ihre Folgen für Kirche, Staat, Gesellschaft und Kultur, in: Konfessionalisierung in Ostmitteleuropa, hg. von Joachim Bahlcke und Arno Strohmeyer, Stuttgart 1999, 13–62. 15 Heinz Schilling, Profil und Perspektiven einer interdisziplinären und komparatistischen Disziplinierungsforschung jenseits der Dichotomie von Gesellschafts- und Kulturgeschichte, in: ders. (Hg.): Institutionen, Instrumente und Akteure sozialer Kontrolle und Disziplinierung im frühneuzeitlichen Europa, Frankfurt a.M. 1999, 3–36, hier 15. Vgl. auch ders., Nochmals „Zweite Reformation“ in Deutschland. Der Fall Brandenburg in mehrperspektivischer Sicht von Konfessionalisierungsforschung, historischer Anthropologie und Kunstgeschichte, in: ZHF 23 (1996), 501–524, besonders 502f.; ders., Disziplinierung oder „Selbstregulierung der Untertanen“? – Ein Plädoyer für die Doppelperspektive von Mikro- und Makrohistorie bei der Erforschung der frühneuzeitlichen Kirchenzucht, in: HZ 264 (1997), 675–692.

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paradigmas, das mit dem Spätmittelalter und der Reformationsepoche zu verzahnen war. Zur Verbindung von Konfessionalisierungsforschung und neu entstandenen Tendenzen in der Geschichtswissenschaft gehörte auch ein vom Gießener Institut getragenes und vom Land Hessen finanziertes interdisziplinäres Projekt zur „Nationalen und kulturellen Identität“, an dem er sich mit Überlegungen zum Verhältnis von Konfessions- und Nationsentwicklung beteiligte. Wie sehr die intellektuelle Dichte und die anregende Atmosphäre jenes Verbundes seinen Lehrstuhl prägte, zeigt nicht zuletzt die von Schilling mit motivierendem Eifer betriebene Einbeziehung seiner Mitarbeiter in den fachübergreifenden Forschungskontext – nicht als Zulieferer, sondern als selbständige Wissenschaftler. Das wichtigste wissenschaftliche Projekt dieses Jahrzehnts war die Fortentwicklung und Durchsetzung des Konfessionalisierungskonzepts. 1985 begann eine von Heinz Schilling inspirierte Gruppe von Historikern und Kirchenhistorikern, unterstützt durch den Verein für Reformationsgeschichte, mit einer sich bis 1995 hinziehenden Tagungssequenz zur Untersuchung des Konfessionalisierungsprozesses in den deutschen Reichsterritorien und ausgewählten europäischen Regionen, getrennt nach den drei großen Konfessionsrichtungen. Angeregt durch die Vorarbeiten Schillings, begann man mit einem Sammelband zur reformierten Konfessionalisierung16, dem 1992 ein von HansChristoph Rublack herausgegebener Band zur lutherischen und 1995 ein von Schilling und Wolfgang Reinhard herausgegebener Band zur katholischen Konfessionalisierung folgten. Letzterer wurde – ein „ökumenisches“ Symbol – gemeinsam mit der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum veröffentlicht. Die drei Bände geben jeweils Überblicke zu den Grundproblemen, präsentieren regionale Fallbeispiele und ergänzen dies durch einzelne Untersuchungen konfessioneller Besonderheiten. Die damit einhergehende intensive inhaltliche Auseinandersetzung zwischen den Disziplinen Allgemeine Geschichte und Kirchengeschichte ist in eine fruchtbare Debatte eingemündet, die bis heute anhält. Mit dem Beitrag zur „Konfessionalisierung im Reich“, der 1988 in der Historischen Zeitschrift erschien, hat Schilling eine für ihn bis heute gültige Synthese dieses „gesellschaftlichen Fundamentalprozesses“ für Deutschland vorgelegt, der dessen Chronologie gegenüber der Reformationszeit und dem Absolutismus festlegt und die politisch-gesellschaftlichen Entwicklungslinien skizziert. Parallel erschienen abschließende Aufsätze zum Projekt des Münsteraner Sonderforschungsbereichs, in denen die Ideengeschichte und die politische ___________ 16

Die im Titel aufgeführte Debatte um den Begriff der „Zweiten Reformation“ erwies sich im nachhinein als wissenschaftlich unergiebig. Sie verdeutlichte lediglich die unterschiedliche Akzentuierung der auf die protestantische Theologie bezogenen Positionen.

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Praxis des niederländischen Republikanismus bis ins späte 17. Jahrhundert hinein dargestellt und das Spannungsverhältnis dieser politischen Kultur zu den theologisch-kirchlichen Entwicklungen im niederländischenCalvinismus aufgezeigt wurden. Von der Beobachtung der calvinistischen Kirchenzucht in Emden und in ausgewählten niederländischen Städten ausgehend, weitete Schilling die Interpretation auf den Begriff der „Sozialdisziplinierung“ aus, den er von Gerhard Oestreich übernahm, und griff damit Forschungstendenzen auf, die international diskutiert wurden und schon von Wolfgang Reinhard bei der Beschreibung der Wirkungen des Konfessionalisierungsprozesses genutzt worden waren17. Die Sozialdisziplinierung wurde in der Folge in engem Zusammenhang mit der Konfessionalisierung gesehen: Konfessionskirchen als auch Obrigkeiten verfolgten aus unterschiedlichen Interessen das gleiche Ziel und setzten sie in Zusammenfassung der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel (Kirchenzucht, Gesetze, frühmoderne Policey, Erziehungswesen) gemeinsam um. Die Konfessionalisierung erscheint hier als ein besonders akzentuierter, zeitlich eingegrenzter Prozeß innerhalb einer umgreifenden Sozialdisziplinierung der europäischen Gesellschaften seit dem Mittelalter. Die unterschiedlichen Interpretationsansätze der internationalen Forschung zur Kirchenzucht faßte er später unter dem Titel „History of Crime or History of Sin“ zusammen. In Abkehr von einer einseitigen Zuordnung der Entwicklungskräfte legte er hier Wert auf die Komplementarität obrigkeitlicher und gemeindlichselbstverwalteter Disziplinierung. Später hat er schließlich in zwei von ihm herausgegebenen Sammelbänden von 1994 und 1999 die internationale Forschung durch die Kontrastierung von Fallbeispielen aus verschiedenen europäischen Ländern zusammengeführt. Das Modell einer rein obrigkeitlichen Sozialdisziplinierung ist hier durch die Perspektive der „Selbstregulierung der Untertanen“ ergänzt worden. Zeichen der wachsenden internationalen Anerkennung und Vernetzung seiner Arbeiten war die Einladung zu einem Forschungsaufenthalt in den Jahren 1989/90 am Institute for Research in the Humanities der University of Wisconsin in Madison (USA). Die langjährige Zusammenarbeit mit dem dort wirkenden führenden Calvinismusexperten Robert M. Kingdon schlug sich u. a. in zwei 1991 und 1992 unter den programmatischen Titeln „Civic Calvinism“ und „Religion, Political Culture and the Emergence of Early Modern Society“ erschienenen Bänden mit ins Englische übersetzten Aufsätzen Schillings nieder. Diese machten ihn rasch im angelsächsischen Sprachraum bekannt. Neben diesen Fortführungen und Erweiterungen der ursprünglichen Konfessionalisierungsthese arbeitete Heinz Schilling in den Gießener Jahren auch an einem zweiten, die Rezeption seines Werkes stark beeinflussenden Feld: der ___________ 17 Siehe zur deutschen und internationalen Entwicklung des Forschungskonzepts Schilling, Profil (Anm. 15), besonders 3–14 und die dort zitierte Literatur.

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komparatistisch angelegten Gesamtdarstellung der frühneuzeitlichen Geschichte Deutschlands. Was andere Wissenschaftler als Alterswerk vorlegen, entstand bei ihm in einer mittleren Phase seines akademischen Wirkens. Den Anstoß gab ein Verleger: Wolf Jobst Siedler brachte 1984 unter dem Titel „Mitten in Europa“ eine populär gehaltene, aber gleichwohl wissenschaftlich abgesicherte Gesamtdarstellung deutscher Geschichte auf den Markt, geschrieben von Hartmut Boockmann, Heinz Schilling und Michael Stürmer. Das Werk war auf dem Buchmarkt ungewöhnlich erfolgreich: einer zweiten Paperback-Ausgabe 1988 folgten 1990 und 1999 erweiterte Auflagen als Taschenbuch. Die Zusammenarbeit mit Siedler wurde dann in dessen Reihe „Deutsche Geschichte“ fortgesetzt: kurz nacheinander erschienen die beiden Bände „Aufbruch und Krise“ sowie „Höfe und Allianzen“, die zusammen die Zeit von der Reformation bis zum Siebenjährigen Krieg darstellen. Auch hier folgten 1998 Taschenbuchausgaben. Die Erarbeitung der beiden Bände zur deutschen Geschichte erzwang eine Auseinandersetzung mit Themen, die bisher nicht im Fokus der Forschungen Heinz Schillings gestanden hatten. Insbesondere die etablierte Reichsforschung, die die Politik- und Verfassungsgeschichte Deutschlands mit der klassischen Landesgeschichte verbindet und dabei meist auf die „kaisernahen“ süddeutschen Verhältnisse konzentriert ist, war zu rezipieren und zu gewichten. Ein bekannter „Reichshistoriker“ hat dann auch einmal bemerkt, die Bände Schillings seien die einzige Reichsgeschichte aus norddeutscher Perspektive. Auch zur Geschichte der Außenpolitik erhielt er nun einen Zugang, der sich in einem Projekt zur Korrespondenz des niederländischen Gesandten im Reich Brederode niederschlug. Die Wirkung der Siedler-Bände zeigte sich u. a. in einer italienischen Übersetzung 1997/99. Die reiche Bebilderung zwang den Autor außerdem zu einer Auseinandersetzung mit der Kunst- und Kulturgeschichte der Konfessionalisierung, die später Früchte tragen sollte. Die Gliederung der Reihe, die den Beginn der Darstellung Schillings auf 1517 festlegte, führte zu einer zweiten folgenreichen Auseinandersetzung: der Frage nach der Reformation als einer Umbruchzeit. In Fortführung älterer Beobachtungen hat Schilling die Reformation zwar durchaus als Wegmarke gewürdigt, sie jedoch in einer „Sandwich“-Lage zwischen den spätmittelalterlichen Veränderungen und dem Wandel im Zeitalter der Konfessionalisierung verortet. In größeren Beiträgen hat er schließlich zum 500. Geburtstag Kaiser Karls V. diese Sicht auch auf den noch vorkonfessionellen vortridentinischen Katholizismus ausgeweitet.

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IV. Neue Dienstadresse: Unter den Linden. Die Berliner Jahre seit 1992 Die Berufung Heinz Schillings nach Berlin geschah im Kontext der stark diskutierten Neukonstituierung der ehemals Ostberliner Humboldt-Universität. Die alte Berliner Universität erhielt einerseits schnell den Ruf, Deutschlands erste Elite-Universität zu werden: kleine Studierendenzahlen, berühmte Forschernamen, hohe politische Förderung. Strukturelle Probleme traten kaum in das öffentliche Blickfeld: marode Gebäude, die große Zahl von „Überhangstellen“ aus der DDR-Zeit, die Berliner Finanzkrise. Die Art der Umwandlung der Universität stand andererseits in der öffentlichen Kritik eines Teils der ehemaligen DDR-Wissenschaftler und ihnen verwandter politischer Kräfte. Die Historiker erhielten den spöttischen Namen „die Ritter von Humboldt“, nach dem Vorsitzenden der Berufungskommission Gerhard A. Ritter. Anders als von außen sichtbar, hat Heinz Schilling als Gründungsdekan der neuen Philosophischen Fakultät I den Kontakt zu ehemaligen Kollegen der DDR gehalten, soweit sie nicht persönlich belastet waren, und vor allem die jüngere Generation ostdeutscher Nachwuchswissenschaftler und Studierender unterstützt. Inhaltlich zeigen sich im Werk Heinz Schillings durch den neuen Berliner Kontext zwei charakteristische Wendungen. Erstens läßt sich eine Verstärkung seines komparatistischen Interesses feststellen. Von Berlin aus hat sich ihm die Welt Ostmitteleuropas und Osteuropas erschlossen und damit auch die frühneuzeitliche Geschichte des Kontaktes der lateinischen Christenheit mit der Orthodoxie und dem Islam. Unter Beibehaltung seiner Interessen am Spätmittelalter hat er eine Einbindung in mehrere größere Forschungsverbünde zur europäisch-vergleichenden Geschichte der Neuzeit gesucht, die durch das von Humboldt-Universität und Freier Universität gemeinsam betriebene „Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas“ geradezu eine Spezialität der Berliner Geschichtswissenschaft geworden ist. In einer DFG-Forschergruppe „Gesellschaftsvergleich“ und nachfolgend im SFB 640 „Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel“ betreibt sein Lehrstuhl Forschungen zu zentralen Fragen der europäischen Religions- und Gesellschaftsgeschichte: zu Migration, zu Minderheiten, zu Toleranz und zur Säkularisierung. In der Konfrontation mit Untersuchungsmethoden zur Religionsgeschichte des 20. Jahrhunderts, die in diesen Forschungsverbünden betrieben werden, schärfen sich die eigenen Theorieentwürfe. Diese komparatistische Ausrichtung, die sich in ersten Ansätzen bis auf die Dissertation zurückverfolgen läßt, bezieht nun neben der osteuropäischen auch die katholische Welt Süd- und Westeuropas stärker in die eigenen Forschungen mit ein. Die intensive Arbeit an der Ausstellungsthematik „1648 – Krieg und Frieden in Europa“ erhöhte die Aufmerksamkeit auch für die Probleme der Internationalen Beziehungen im Zeitalter der Konfessionalisierung. Die Arbeit an einer großen Monographie zu den Internationalen Beziehungen zwischen 1550 und 1650 – unterstützt durch ein Forschungsjahr am

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Historischen Kolleg in München – konnte 2006 abgeschlossen werden. Diese Forschungsaktivitäten zielen insgesamt auf die Herausarbeitung des „spezifischen religionssoziologischen Profils Europas“ ab, von dem er in den letzten Jahren verstärkt geschrieben und gesprochen hat. Den Gesamtertrag dieser Forschungen legte er 1999 mit dem großen Band „Die Neue Zeit. Vom Christenheitseuropa zum Europa der Staaten. 1250–1750“ vor, der erneut in einer Reihe des Siedler Verlages erschien. Zweitens arbeitet Heinz Schilling in Berlin an einer durch die Kritiken, aber auch durch die Rezeption neuerer methodischer Fragestellungen herausgeforderten kulturgeschichtlichen Erweiterung der Konfessionalisierungsthematik. Die Frage nach den Besonderheiten der konfessionellen Identitätsprägungen, die ihn verstärkt interessieren, läßt sich nicht ohne die Berücksichtigung der symbolischen und ästhetischen Repräsentationen beantworten. Zwischen 1997 und 2004 beteiligte sich Heinz Schilling an einem Projekt „Cultural Exchange in Europe 1400 –1700“ der European Science Foundation, zu dem ihn der Antragsteller Robert Muchembled (Lille/Paris) einlud. Gemeinsam mit dem leider frühverstorbenen Istvan Tóth (Budapest) leitete Schilling das Teilprojekt zum Verhältnis von Religion und Kulturaustausch, das auf Tagungen in Neapel, Budapest, Coimbra, Oxford und Berlin diskutiert wurde18. Die in diesen Diskussionsverbund einbezogenen Forschungen haben u. a. ein neues Interesse an der Verbindung von Religion und Kunst geweckt, das sich in einem Beitrag zu konfessionellen Unterschieden in der Stadtplanung des 16. und 17. Jahrhunderts niederschlug. Als weiteres „Standbein“ kann die Beteiligung an einem Forschungsprojekt der Johannes a Lasco Bibliothek Emden über die „Kulturwirkungen des reformierten Protestantismus in Europa“ gelten, in dem er zusammen mit Lehrstuhlmitarbeitern vor allem Fragen des Erziehungs- und Bildungswesens behandelt. Die Berliner Luft sorgte auch für neue Verpflichtungen. Schon seit 1989 ist er Mitglied in der Sachverständigenkommission des Deutschen Historischen Museums und hat sich seitdem mit Fragen der Ausstellungsdidaktik beschäftigt. Dies erleichterte die Übernahme des Vorsitzes des Wissenschaftlichen Beirats zur Europaratsausstellung „1648 – Krieg und Frieden in Europa“ in Münster und Osnabrück 1998/99. Die europaweite fachwissenschaftliche und öffentliche Aufmerksamkeit gegenüber diesem Ausstellungsprojekt wird in den drei großen Katalog- und Essaybänden repräsentiert, die sowohl bei der Autorenauswahl als auch inhaltlich international und interdisziplinär angelegt sind. Im Anschluß daran wurde er zu zahlreichen weiteren deutschen und europäischen Ausstellungsprojekten als Katalogherausgeber oder -beiträger gewonnen. Das Interesse an der Vermittlung fachwissenschaftlicher Inhalte in die Öffentlichkeit durch das Museum hat er in den letzten Jahren auch regelmäßig ___________ 18

Die Abschlußbände werden 2006 bei Cambridge University Press erscheinen.

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durch Lehrveranstaltungen – zumeist gemeinsam mit dem Direktor des Deutschen Historischen Museums – an die Studierenden weitergegeben. Neben der organisatorischen Aufbauarbeit am neuen Institut knüpfte er Kontakte in der neuen Hauptstadt, etwa zum Centre Marc Bloch, zum italienischen Kulturinstitut oder zur American Academy. Seine Wahl in die BerlinBrandenburgische Akademie der Wissenschaften 1996 brachte die Verantwortung als Berichterstatter für die „Jahresberichte für deutsche Geschichte“ mit sich. Die Beschäftigung mit der Einordnung der Reformation in langfristige historische Strukturveränderungen wurde 1994 durch die Übernahme der europäischen Seite der Herausgeberschaft des „Archivs für Reformationsgeschichte“ intensiviert. Die behutsame Erneuerung der Zeitschrift und des zugehörigen Literaturbeihefts hat er – zusätzlich seit 2001 als Vorsitzender des Vereins für Reformationsgeschichte – vorangetrieben, ebenso unterschiedliche Forschungsvorhaben des Vereins zu einer europäisch-vergleichenden Sicht der Konfessionsentstehung und -entwicklung im 16. Jahrhundert. Schließlich haben auch eine große Zahl von ausländischen Gastwissenschaftlern aus europäischen Ländern, aber z.B. auch aus Kasachstan, und mehrere Humboldtstipendiaten aus den USA zur internationalen Netzwerkbildung beigetragen. Erneute eigene Forschungsaufenthalte (1994 in Berkeley, 2003/04 am Netherlands Institute for Advanced Studies in Wassenar) sowie zahlreiche Einladungen zu Vorträgen aus mittlerweile fast alle europäischen Ländern komplettieren diese beeindruckende internationale Verflechtung. Seine weitgespannten Forschungen zur europäischen Geschichte zwischen Spätmittelalter und 18. Jahrhundert trugen ihm in den letzten Jahren internationale Ehrungen ein, die Frucht seiner Interessen seit den 1970er Jahren sind. Die wichtigste war zweifellos die in Deutschland wenig wahrgenommene Verleihung des hochdotierten Heineken-Preises für Europäische Geschichte durch die Royal Netherlands Academy of Arts and Sciences, den vor ihm u.a. Peter Brown, Heiko A. Oberman, Peter Gay, Jacques Le Goff und Mona Ouzuf erhielten. Seit 2004 ist er auswärtiges Mitglied der Niederländischen Akademie der Wissenschaften und der British Academy. Derzeit erlebt er, wie aktuelle Politik und das Informationsbedürfnis über die Geschichte des Verhältnisses von Religion, Staat und Gesellschaft ihm neue Aufmerksamkeit bringt: Zum 450jährigen Jubiläum des Augsburger Religionsfriedens hielt er in Anwesenheit des Bundespräsidenten den Festvortrag. Im Mai 2006 wurde er durch die Historical Society of Israel zu einer Vortragsserie eingeladen und erlebte dort ein großes Interesse an den europäischen Antworten auf die grundlegenden Fragen von Religion und Gesellschaftsentwicklung. Heinz Schillings persönliche Wirkung im öffentlichen Raum beschränkt sich dennoch – von den wenigen Beiträgen in Tageszeitungen abgesehen – auf die Fach- und kulturelle Öffentlichkeit. An publizistischen Debatten um modische Themen hat er sich kaum beteiligt und sich nicht ins mediale Rampenlicht gedrängt, wissenschaftspolitisch wirkt er nur im Hintergrund. Sein öffentlicher

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Bekanntheitsgrad ist daher auch in Berlin beschränkt auf wissenschaftliche und kulturelle Kreise, was gelegentliche Überraschungen ermöglicht: An einem Frühjahrsabend des Jahres 2000 weilt Jürgen Mlynek, Physiker und damals neugewählter Präsident der Humboldt-Universität, zu einem Antrittsbesuch am Institut für Geschichtswissenschaften. Als letzter Termin steht ein kurzer Besuch des Lehrstuhls Frühe Neuzeit auf seinem Programm. Von den Gesprächen mit Geisteswissenschaftlern ermüdet, fragt der Präsident höflich, mit was man sich denn hauptsächlich in dieser Epoche beschäftige. Heinz Schilling erläutert knapp die Reformations- und europäisch-vergleichende Konfessionalisierungsforschung. Der Präsident sinniert laut: Ja, Martin Luther … es war ein wichtiger Lernprozeß, daß Europa diese religiösen Zwistigkeiten überwunden hat. Heinz Schilling lakonisch: „Genau darüber hat letzte Woche beim Internationalen Festakt in Madrid auch der Bundespräsident mit mir gesprochen.“ Der Physikprofessor schreckt auf: Bundespräsident?? Madrid?? Heinz Schilling erläutert, er sei der deutsche wissenschaftliche Vertreter beim europäischen Festakt zum 500. Geburtstag Karls V. gewesen. Flugs hat er den dickleibigen Katalog bei der Hand: „Herr Präsident, wenn Sie sich näher informieren wollen, darf ich Ihnen das überreichen…?“ Sichtlich verwirrt und unter der Last des Katalogs ächzend, verläßt der Universitätspräsident das Dienstzimmer: Wer ist nur dieser Heinz Schilling?

Die Reformation als Epoche Gottfried Seebaß Seit einigen Jahren gibt es eine neueröffnete Diskussion darüber, ob die Reformation als Epoche bewertet und innerhalb der Geschichte als solche angesehen werden kann – ein Thema, das vor allem für die deutsche Geschichts- und Kirchengeschichtsschreibung ihr besonderes Interesse hat. Über diese Diskussion will ich kurz berichten und zu ihr Stellung nehmen. Ich beginne mit zwei notwendigen Vorbemerkungen zu Verständnis und Verwendung des Begriffs der Epoche, erläutere anschließend, warum der früher so selbstverständliche epochale Charakter der Reformation in Frage gestellt wurde, und lege schließlich die Gründe dar, die mich – wie es bei einem evangelischen Kirchenhistoriker wohl zu erwarten ist – veranlassen, die Reformation weiterhin als Epoche zu werten. Ich hätte insofern hinter die Themenformulierung auch beides, ein Frage- und ein Ausrufezeichen setzen können.

I. Die erste Vorbemerkung also: Der Begriff Epoche meint im Griechischen nicht – wie wir ihn im allgemeinen verwenden – einen umschriebenen Zeitraum, sondern einen Haltepunkt. Nun wissen wir alle, daß unsere Zeit keinerlei Haltepunkte kennt, dennoch erfahren wir immer wieder, daß mit einem bestimmten geschichtlichen oder persönlichen Ereignis eine neue Situation geschaffen wird, die wir als einschneidend, als einen grundlegend neuen Ausgangspunkt empfinden. Allerdings werden uns diese Ereignisse nur selten zeitgleich oder von allen akzeptiert als einschneidend bewußt. Das ist eher die Ausnahme, wie es beim Fall des „Eisernen Vorhangs“ 1989 geschah, den jeder unmittelbar als epochal, als einen Halt- und Wendepunkt der Geschichte des 20. Jahrhunderts empfand. Viel häufiger stellen sich Ereignisse erst rückblikkend als weitreichend und grundstürzend heraus. Die Frage ist also, ob die Reformation in diesem Sinn eine Epoche, einen Haltepunkt in unserer und der Geschichte überhaupt darstellt, der die Gesamtsituation grundlegend und auf Dauer weiterwirkend veränderte. Die zweite Vorbemerkung: Epochen der Geschichte lassen sich niemals abschließend und allgemeingültig bestimmen, weil es sich nicht um Einschnitte handelt, die in einer quantifizierend verstandenen Zeit nachgewiesen werden können. Vielmehr hängen solche Einschnitte, Epochen, eben immer mit unserer

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Wahrnahme von Geschichte und einer Fülle der sie bedingenden Faktoren zusammen. Weil wir aber nie die Vergangenheit als Ganze überblicken und selbst die Universalgeschichte nicht universell schreiben können, sondern sie immer nur unter einem bestimmten Aspekt wahrzunehmen vermögen, gilt auch für die Epochen der Geschichte, daß sie nie allgemeingültig sind: Sie sind abhängig von der Fragestellung, mit der wir an die Geschichte herantreten. Sie sind abhängig von dem jeweiligen Bereich kulturellen Lebens, den wir thematisieren. Man kann nicht erwarten daß die Einschnitte in der Wirtschaftsgeschichte denen der Religionsgeschichte gleich sind, selbst wenn eine Epoche für möglichst viele Bereiche gleichzeitig gelten soll und eben dadurch überzeugender wird. Sie sind abhängig von dem geographischen Raum, auf den wir unseren Blick richten. So läßt sich der Begriff des Mittelalters nicht einfach auf die byzantinische Geschichte übertragen, ganz zu schweigen von der chinesischen. Epochen sind aber auch von dem Zeitraum abhängig, den wir überschauen und strukturieren wollen, ob es sich etwa um ein Jahrhundert, um mehrere Jahrhunderte oder gar ein Jahrtausend handelt. Kaum jemand wird leugnen, daß es sich bei der Reformation um eine entscheidende Epoche innerhalb der deutschen Geschichte des 16. Jahrhunderts handelt, während man im Blick auf die Neuzeit oder die frühe Neuzeit insgesamt darüber durchaus auch anders denken kann. Darüber hinaus ist das, was als Epoche bezeichnet werden kann, immer von der jeweiligen geschichtlichen, bewußten oder unreflektierten Position des Betrachters bestimmt. Gleichwohl besagt das alles nicht, daß wir es bei der Frage der Epochenbestimmung mit dem Ausfluß der krüden Subjektivität des Historikers zu tun hätten. Nicht zu Unrecht hat Hans Georg Gadamer festgestellt: „Die Epochen der Geschichte, die der Historiker unterscheidet, wurzeln in echten Epochenerfahrungen und müssen sich am Ende in solchen ausweisen“, weil eben „all unser geschichtliches Verstehen durch ein wirkungsgeschichtliches Bewußtsein bestimmt ist“1. Insofern sind nicht die Ursachen, sondern die dauerhaften Wirkungen historischer Vorgänge für die Bestimmung von Epochengrenzen maßgeblich. So betrachtet – und damit bin ich am Schluß meiner beiden Vorbemerkungen – könnte es also ein durchaus legitimer Ausdruck des allenthalben zu beobachtenden faktischen Zurücktretens konfessioneller Prägungen in den abendländischen Gesellschaften und der damit verbundenen gesellschaftlichen Sektorisierung der Kirchen in ihnen sein, wenn man heute den epochalen Charakter der Reformation bestreitet und statt dessen – wie es inzwischen nicht selten geschieht – das Entstehen und Werden der europäischen Staaten und des mit ihnen sich bildenden europäischen Staatensystems seit dem 13. Jahrhundert für einen sehr viel bedeutenderen und einschneidenderen Vorgang hält. ___________ 1 Vgl. Hans Georg Gadamer, Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz, in: ders., Gesammelte Werke 22, Tübingen 1993, 133–145.

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II. Tatsächlich wurde die Reformation – selbst wenn sie von den lutherischen Apokalyptikern schon des 16. Jahrhunderts als gravierender historischer Einschnitt gesehen wurde – zur Epoche der deutschen, ja der Universalgeschichte erst vor dem Hintergrund der Geschichtsanschauung von Romantik und Idealismus im Deutschland des 19. Jahrhunderts, das ja gegenüber dem Ende des 18. viel stärker konfessionell geprägt war, als man im allgemeinen wahrhaben will. Zu einer Epoche – nun im heute üblichen Sinn der Zeit zwischen zwei epochalen Einschnitten – wurde die Reformation vor allem durch Leopold von Ranke erhoben2. Zwar galt sie dann am Ende des 19. Jahrhunderts schon nicht mehr so eindeutig wie in der Aufklärung und der idealistischen Geschichtsphilosophie als Fortschritt und Beginn der Neuzeit. Doch drangen die Bedenken gegen eine solche Sicht, wie sie in der Geschichts- und Kulturphilosophie Wilhelm Diltheys, Adolf von Harnacks und Ernst Troeltschs erhoben wurden, nicht wirklich durch. Kulturkampf und Erster Weltkrieg sorgten in Deutschland für eine national-ideologische Aufladung der Reformation und der Person Luthers und das prägte indirekt auch noch die sogenannte Lutherrenaissance Karl Holls. Holl arbeitete in seinen Aufsätzen, die er seit 1917 als seinen Beitrag zum Ersten Weltkrieg verstand und veröffentlichte, einen Luther heraus, der sich nicht nur eindeutig und überall vom finsteren katholischen Mittelalter abhob, sondern auch Heilungskräfte für die deutsche Gegenwart und Antworten auf ihre Probleme bereit halten sollte. Diese Sicht der Dinge hat die Lutherforschung und weithin die Reformationsforschung aufgrund der tiefen Brüche in der Geschichte unseres Landes bis in das letzte Drittel des vergangenen Jahrhunderts bestimmt. So wurde Luther allerdings zu einem Mann, der – wie der unvergessene Heiko Augustinus Oberman einmal ironisch, aber auch leicht ingrimmig anmerkte – wie der biblische Melchisedek eigentlich weder Vater noch Mutter hatte3, will sagen: Die Reformation wurde zu einem historisch schlechthin unableitbaren Geschehen, das zu allem Vorausgehenden in reiner Diskontinuität stand. Auf protestantischer und gelegentlich auch auf katholischer Seite verband sich das mit der Vorstellung eines umgreifenden Verfalls der Kirche am Ende des Mittelalters und einer von daher unabweisbar notwendigen Reformation – eine Sicht der Dinge, die in ihrer Einseitigkeit inzwischen erkannt ist. Es waren dann vor allem Oberman und seine Schüler hier in Tübingen, die neben anderen die Rückbindungen und das Herauswachsen der lutherischen und anderer reformatorischer Konzeptionen aus dem Spätmittelalter thematisierten. So konnte man dann zum 500. Geburtstag des Wittenberger Re___________ 2

Vgl. Leopold von Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte, Berlin 1917,

82. 3 Vgl. Heiko Augustinus Oberman, Reformation: Epoche oder Episode, in: ARG 68 (1977), 56–111, hier 95.

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formators 1983 der Auffassung sein, Luther erstmals in angemessener Weise ‚historisiert‘, ihn wirklich aus seiner Zeit heraus verstanden, aber auch in ihr belassen zu haben. Aber damit begann dann auch die Infragestellung der Reformation als eines tiefen Umbruchs oder einer Epoche und zwar, wenn ich recht sehe, auf vier verschiedenen Wegen: Einmal entwickelte die katholische Kirchengeschichtsschreibung unter Hubert Jedin eine deutlich andere Sicht der Reformationsgeschichte als die protestantische Seite: Jedin legte Wert auf eine im Spätmittelalter und mit den Reformkonzilien einsetzende Reformbewegung in der Kirche, in die er auch noch die Anfänge Luthers einordnen konnte. Allerdings nur bis zu dessen Bruch mit der Kirche in seinem neuen Verständnis der Sakramente. Diese im 15. Jahrhundert beginnende katholische Reform setzte sich – Jedin folgend – fort, bis sich schließlich die Päpste im Trienter Konzil an ihre Spitze stellten und sie zum folgerichtigen Abschluß brachten. Daß diese Sicht der Dinge deutlich römisch-katholisch und konfessionell geprägt ist, liegt angesichts alles dessen, was dabei auch im katholischen Bereich nicht mehr als Reform der Kirche gewertet werden konnte und durch den Rost fiel, auf der Hand. Diese Konzeption wurde noch einmal zugespitzt, wenn Kaspar Elm behauptete, die Reformation habe das Fruchtbare und Neue der religiösen Bewegungen des 14. und 15. Jahrhunderts, die er vor allem in den Ordensreformen wahrnahm, „zunichte gemacht“4. Sie sei daher nicht als Fortschritt anzusehen, sondern als problematischer, bedauernswerter Abbruch einer fruchtbar in die Zukunft weisenden Bewegung. Zum anderen begann – gefördert durch den Tübinger Sonderforschungsbereich ‚Spätmittelalter und Reformation‘ – seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine intensive Erforschung von Theologie und Kirche des Spätmittelalters. Ihr Interesse richtete sich dezidiert auf die Frage nach der Kontinuität zwischen Spätmittelalter und Reformation. Die Erforschung des Humanismus, die genauere Beschäftigung mit den spätmittelalterlich-mystischen Traditionen, die Herausarbeitung der Frömmigkeitstheologie und der Passionsfrömmigkeit im Vorfeld der Reformation führten dazu, daß – um noch einmal Obermans Bonmot aufzunehmen – nun auch die geistesgeschichtlich-situativen Eltern Luthers aus dem angeblich so dunklen Mittelalter hervortraten und wahrzunehmen waren. Gleichzeitig wurde immer deutlicher, daß die Kirche am Vorabend der Reformation keineswegs so verrottet war, daß die Reformation unbedingt hätte kommen müssen. Dieses Erklärungsmuster für den schnellen Erfolg der Reformation, das man gelegentlich als ‚Pulverfasstheorie‘ bezeich___________ 4 Vgl. Kaspar Elm (Hrsg.), Reformbemühungen und Observanzbestrebungen im spätmittelalterlichen Ordensleben, Berlin 1989, 14.

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nete und das sich nicht nur bei Protestanten, sondern gleicherweise bei Katholiken bis heute großer Beliebtheit erfreut, darf man aufgrund der neueren Forschung getrost beiseitelegen. Es gab kaum eine Zeit der Kirchengeschichte, in der es eine derart intensive, reiche, freilich auch spannungsvolle christliche Frömmigkeit gab wie im Spätmittelalter, und ebenso fanden sich in der Kirche, wie in allen ihren Epochen, Licht und Schatten. Drittens wurde in der allgemeinen Geschichtswissenschaft die Reformation als Einschnitt und epochales Ereignis zwar nicht explizit aufgegeben, wohl aber trat sie in den Hintergrund. In dem Maß, in dem man die westeuropäische Staatenbildung mit ihrer zu Recht ‚Verdichtung‘ genannten intensivierten Staatlichkeit in den Blick nahm, ergab sich eine deutlich andere Gliederung, bei der man die Zeit vom 14. bis zum 17. Jahrhundert zusammenfaßte. Eine Ausnahme davon machten nur die auf den Linkshegelianismus zurückgehenden marxistisch beeinflußten Geschichtsdarstellungen, die am Epocheneinschnitt der Reformation festhielten. Sie sahen in ihr mit der ‚frühbürgerlichen‘ die erste der drei großen abendländischen Revolutionen neben dem englischen Bürgerkrieg und der Französischen Revolution. Und deswegen mußten sie auch dabei bleiben, im Spätmittelalter eine umfassende gesamtgesellschaftliche Krise zu diagnostizieren. Das fiel auch nicht sonderlich schwer, da sich krisenhafte Erscheinungen eigentlich immer nachweisen und als Krisenerfahrungen deuten lassen. Viertens vollzog sich seit der Mitte der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts in der protestantischen und ebenso der katholischen Kirchengeschichtsforschung eine deutliche Veränderung: Die bis dahin stark geistes- und theologiegeschichtlich bestimmte Forschung machte – gerade auch in der unabweisbaren Auseinandersetzung mit der marxistischen Sicht – einer bewußt stärkeren Einbeziehung der politisch-sozialen Geschichtsschreibung Platz. Und deren Ergebnisse erhielten auch für die Kirchengeschichte einen deutlich anderen Stellenwert. Die Reformation erwies sich – jedenfalls im deutschsprachigen Bereich Europas – als eine dem gewachsenen Selbstbewußtsein der Laien und den sie prägenden kommunalen Werten entgegenkommende und ihnen weithin entsprechende Form des Christentums. Eine ausdrückliche Infragestellung des epochalen Charakters der Reformation ergab sich vor diesem vierfachen Hintergrund aber doch erst im Zusammenhang mit der von Heinz Schilling und Wolfgang Reinhard vertretenen Konfessionalisierungsthese. „Die Reformation“, so behauptete Heinz Schilling 1998 „erscheint gegenwärtig … in einer Sandwichlage – zwischen ‚gestalteter Verdichtung‘ des späten Mittelalters und eigentlich frühneuzeitlicher Formierung im Zeichen des Konfessionalismus seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert. Somit sind ihre Qualität und ihr Stellenwert für die deutsche und europäische

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Geschichte neu zu bestimmen. Auch die Epochendiskussion … ist wieder zu eröffnen“5. Und er fügte hinzu: „Zu Ende des 20. Jahrhunderts … erscheint mir die Überlegung angezeigt, ob zukünftig für den wissenschaftlichen Gebrauch der Begriffe ‚Reform‘ und ‚Reformation‘ deren Universalisierung bei gleichzeitiger Verengung auf die deutsche Kirchenreform wieder rückgängig gemacht werden sollte und damit auch die … Konvention, den Begriff ‚Reformation‘ als ein Konzept zur Einteilung der Geschichte in Epochen einzusetzen.“6 Der so beschriebenen Situation und der mit ihr verbundenen Empfehlung wollen wir uns im folgenden zuwenden. Exkursartig muß ich für die, die mit den entsprechenden Konzepten nicht vertraut sind, noch darauf hinweisen, daß man mit ‚Konfessionalisierung‘ nicht im engeren Sinn die Entstehung der großen Konfessionen – also Katholizismus, Luthertum, Calvinismus, Anglikanismus –, also nicht nur die Konfessionsbildung meint. Konfessionalisierung bezeichnet vielmehr den damit verbundenen umfassenden sozialen und modernisierenden Wandel, der sich vor allem in drei Bereichen zeigt: in der Umformung der politisch-administrativen Organisation und ihrer Begründung in der frühmodernen europäischen Staatenbildung, in der Formierung der Gesellschaft durch das, was man, Gerhard Oestreich folgend, ‚Sozialdisziplinierung‘ genannt hat, und schließlich – mit dem allem verbunden – in der Herausbildung kulturell untermalter politischnationaler Identitäten im neuzeitlichen Europa7. Deswegen ist man bei der Frage nach der Konfessionalisierung und im Blick auf die Herausbildung der verschiedenen Konfessionen weniger an deren Unterschieden als an den strukturell gleichläufigen Prozessen interessiert – Prozessen, die man keineswegs nur als von den Obrigkeiten gelenkt ‚etatistisch‘ verstehen darf, sondern die sich auch im Sinn einer Art von gesellschaftlicher ‚Selbstkonfessionalisierung‘ vollzogen. Daß sich komplementär zu der in diesem Sinn verstandenen Konfessionalisierung auch die Bereiche zeigen, die sich dem Konfessionalisierungsdruck mit ersten Ansätzen zur Säkularisierung und Entkonfessionalisierung widersetzten, wird dabei nicht übersehen. In diesem Sinn also konnte man die zweite Hälfte des 16. und weithin auch das 17. Jahrhundert als ein Zeitalter der Konfessionalisierung verstehen. Das Ende dieses Zeitalters ließ sich mit der Auflösung des bestimmend konfessionellen Moments in der beginnenden Aufklärung recht gut an das Ende ___________ 5 Heinz Schilling, Reformation – Umbruch oder Gipfelpunkt eines Temps des Réformes?, in: Bernd Moeller (Hrsg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, Gütersloh 1998, 13–34, hier 24. 6 Schilling, Reformation (vgl. Anm. 5), 25f. 7 Vgl. Heinz Schilling, Die Reformation – ein revolutionärer Umbruch oder Hauptetappe eines langfristigen reformierenden Wandels, in: Konflikt und Reform, Festschrift für Helmut Berding, hg. v. Winfried Speitkamp/Hans-Peter Ullmann, Göttingen 1995, 26–40, bes. 35.

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des 17. und in das beginnende 18. Jahrhundert verlegen. Wann aber begann der Prozeß der Konfessionalisierung? Mit dieser Frage geriet die Konfessionalisierungsthese in den Horizont der Fragen nach dem Beginn der frühen Neuzeit und damit nach dem epochalen Charakter der Reformation. Dabei hat Schilling die von ihm gestellte Frage „Reformation – Umbruch oder Gipfelpunkt eines Temps des Réformes“ unter nachdrücklichem Hinweis auf Ergebnisse der neueren Spätmittelalterforschung so beantwortet, daß er mit „einer langgestreckten ‚Zeit der Reformen‘ oder auch Reformationen“ rechnet, die vom Spätmittelalter bis zum 17. Jahrhundert reicht, in der die Reformation nur als eine „Hauptetappe“ erscheint8. Denn mit der epochalen Wertung der Reformation ist für Schilling eine „generelle Unterbewertung der nachweislich tiefgreifenden Wandlungsprozesse des späten Mittelalters in Kirche, Staat, Gesellschaft und Mentalität“ verbunden. Damit aber werde der „gesamteuropäische Prozeß kirchlich religiöser Erneuerung und deren Verkoppelung mit dem gesellschaftlichen und politischen Wandel“, den er mit Wyclif und Hus beginnen sieht, „unsachgemäß zertrennt“. Gleichzeitig würden alle der Reformation sich entgegenstellenden Kräfte „als per se unmodern, statisch und unwandelbar kategorisiert“9. Die damit behauptete Kontinuität in der Entwicklung der alteuropäischen Modernisierung hat er – und der Ton des heutigen wissenschaftlichen Jetset ist unüberhörbar – an anderer Stelle mit einem Bild aus dem Flugverkehr so verdeutlicht, daß er vom Spätmittelalter als der boarding-, von der Reformation als der runway- und der Konfessionalisierung als der take-off-phase dieser Modernisierung sprach. Dieser Kontinuitäts- und Langzeitperspektive gegenüber fällt dann der frühere universalgeschichtlich-epochale Einschnitt der Reformation für Schilling unter das, was er den ‚Mythos der Aneignung der Reformation durch die Nachwelt‘ nennt. Mit diesem Mythos sei es den Protestanten gelungen, „auf lange Sicht, in Deutschland faktisch bis in die Gegenwart hinein, die Dominanz ihres Deutungsmusters sowohl für die spätmittelalterliche als auch für die neuzeitliche Geschichte sicherzustellen“10.

III. Ist damit nun das letzte Wort zur Sache gesprochen und müssen wir uns dementsprechend von der Reformation als Epoche verabschieden? Niemand wird bestreiten, daß die neuere Forschung tatsächlich auf vielen Gebieten das Herauswachsen der Reformation aus dem Spätmittelalter und die Kontinuitäten zwischen beiden eindrucksvoll herausgestellt hat. Man könnte im Blick darauf ___________ 8

Schilling, Reformation (vgl. Anm. 5), 29f. Vgl. Schilling, Reformation (vgl. Anm. 5), 26f. 10 Schilling, Reformation (vgl. Anm. 5), 30–33, das Zitat auf 32f. 9

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sogar versucht sein, die bei Katholiken wie Protestanten gleichermaßen verbreitete Vorstellung, die heutige katholische Kirche befinde sich in ungebrochener Kontinuität zum Mittelalter, die evangelische aber habe mit dem Mittelalter gebrochen, geradezu umzukehren und den Protestantismus als die sachgerechte Fortsetzung des Mittelalters, mindestens aber des späten Mittelalters, verstehen. Um es holzschnittartig zu formulieren: Das Spätmittelalter findet in vielen Punkten seine ihm entsprechende Fortsetzung viel eher in der vielgestaltigen Welt des Protestantismus als in dem erst in der Abwehr der Reformation entstandenen und deswegen eben auch von der Reformation abhängigen tridentinisch-römischen Zentralismus, den das Mittelalter nicht kannte. Dafür könnte man auf die Tendenz zu National- und Landeskirchen ebenso verweisen wie auf die kirchlich geduldeten, höchst unterschiedlichen theologischen Konzeptionen und manches andere. Übrigens haben ja auch – das darf am Rande erwähnt werden, weil man von kunsthistorischer Seite wegen der vereinzelt vorgekommenen Bilderstürme immer wieder auf die angebliche Kunstfeindlichkeit des Protestantismus zu sprechen kommt und die zur opinio communis geworden ist – die lutherischen Kirchen sehr viel mehr an mittelalterlicher kirchlicher Kunst bewahrt als der Katholizismus, dessen rigide Barockisierung vieles davon vernichtete. Die mittelalterliche westlich-europäische Kirche findet tatsächlich in den beiden großen Konfessionen, der protestantischen wie der römisch-katholischen, ihre legitime Fortsetzung. Dabei betrachte ich die Reformation übrigens keineswegs als eine von Luther abhängige und geprägte Einheit, sondern sehe gerade in ihren verschiedenen Richtungen die Fortentwicklung unterschiedlicher spätmittelalterlicher Ansätze. Historisch wirksam aber wurden sie eben doch erst durch das, was wir insgesamt als Reformation bezeichnen. Freilich sind deswegen die Diskontinuitäten, ja der Systembruch, als den man die Reformation im Verhältnis zum Mittelalter bezeichnet hat, auch nicht zu übersehen. Denn ein gut Teil von dem, was Schilling und andere an Kontinuitäten zwischen Spätmittelalter und Reformation benennen, besteht nur dann, wenn man bei einem rein formalen und strukturellen Vergleich von Vorstellungen und Begriffen stehen bleibt. Fragt man nach deren Gehalt, dann stellen sich die Dinge sehr anders dar. Dafür nur zwei Hinweise: Was die vorreformatorischen Obrigkeiten mit ihrem landesherrlichen Kirchenregiment erstrebten war zweifellos mit dem verwandt, was die reformatorischen Obrigkeiten mit der Reformation wollten, nämlich eine ihren Aufgaben entsprechende und sie erfüllende Kirche. Theologische und rechtliche Begründungen aber, Reichweite und Folgen waren erheblich unterschieden. Ebenso ist es richtig, daß es im Spätmittelalter eine Priester und Laien in neuer Weise umgreifende Frömmigkeit und Spiritualität gab. Aber damit war eben nicht wie später mit dem reformatorischem Priestertum aller Getauften eine prinzipielle Aufhebung des besonderen Charakters der Geweihten als eigener Stand mit allen daraus gezogenen rechtlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen verbunden.

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Lassen Sie mich deswegen im folgenden den Umbruch-, ja den epochalen Charakter der Reformation in fünf knappen Thesen hervorheben, wobei ich jeweils die damit verbundenen Folgen kurz andeute: Erstens: Die Reformation hat den Kanon der Heiligen Schrift entsprechend seiner Entstehung in der alten Kirche erneut der Tradition und damit der Kirche gegenübergestellt. Dies aber – jedenfalls bei Luther – nicht in einem äußerlichen Sinn, sondern so, daß die Mitte der Heiligen Schrift, nämlich Person, Wort und Geschick Jesu von Nazareth in den Mittelpunkt gerückt und damit auch das Gottesbild wieder im Sinn der altkirchlichen Trinitätslehre von ihm her bestimmt und inhaltlich gefüllt wurde. Diese Berufung auf die Schrift allein hob – auch wo sie anders verstanden wurde – eine Fülle tradierter Ordnungen und deren Legitimation aus den Angeln. Zweitens hat die Reformation mit der Verkündigung der bedingungslosen Annahme des Sünders durch Gott in Christus die spätmittelalterlich-religiöse Leistungsgesellschaft aufgehoben. Inhalt der kirchlichen Verkündigung war nicht mehr, wie der Mensch zu Gott kommt, sondern daß und wie Gott zum Menschen kommt. Das zeigt sich besonders schön an einem vorreformatorischen großen Holzschnitt Lukas Cranachs, der eine Himmelsleiter zeigt, auf deren Tugendsprossen in Demut und Selbstverleugnung der Mensch von der Erde zum Himmel aufsteigt. In der Reformationszeit wurde der Holzschnitt weiter verwendet, aber neu gedeutet, in dem man die Leiter mit Christus identifizierte, in dem und über den Gott vom Himmel auf die Erde über die Sprossen der Sakramente Taufe und Abendmahl herabkommt. So war es nun nicht mehr eine Himmelsleiter des Menschen, sondern sozusagen eine Erdenleiter Gottes11. Damit verband sich ein völlig neues Verständnis des Gottesdienstes. Denn im Gottesdienst ging es nun nicht mehr um einen Dienst, den der Mensch Gott erweist, sondern um den Dienst, den Gott uns Menschen erweist. Damit war ein tiefgreifender Wandel der Frömmigkeit verbunden. Wiederum holzschnittartig formuliert: Im Gottesdienst, der ja nun in der Volkssprache gehalten wird, sieht man nicht mehr, was heilig ist – den Leib Christi in der Hostie –, sondern man hört, was heilig macht. Mit all dem wurde ganz selbstverständlich auch die das Spätmittelalter charakterisierende Fiskalisierung der Kirche beseitigt. Und es gibt – im Gegensatz zu der oft gehörten Behauptung, die einfachen Menschen hätten doch die Rechtfertigungslehre gar nicht verstanden, genügend Zeugnisse dafür, daß die Menschen vielleicht nicht die Lehre, wohl aber die Rechtfertigungserfahrung genau verstanden, daß nämlich der Weg zum ewigen Heil weder von den materiellen noch irgendwelchen anderen Möglichkeiten des Menschen abhängig ist, sondern ausschließlich auf dem erlösenden Kommen Gottes zum Sünder beruht. ___________ 11 Vgl. Gottfried Seebaß, Die Himmelsleiter des hl. Bonaventura von Lukas Cranach d. Ä. Zur Reformation eines Holzschnitts, Heidelberg 1985.

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Drittens hat die Reformation mit ihrem Hinweis darauf, daß alle Getauften Anteil am Priestertum Christi haben und Priester sind, in einer grundsätzlichen Wendung gegen das tradierte Kirchenrecht den Unterschied zwischen Laien und Geistlichen aufgehoben. Sie hat damit in den sich bildenden neuzeitlichen Staaten einen einheitlichen Rechtsraum geschaffen und einen die Gesellschaft bis in die Grundlagen verändernden Wandel herbeigeführt. Daß auch dies in den zunehmend nicht klerikalen Wahrheitsbegründungen des Spätmittelalters vorbereitet wird, hat Volker Leppin mit Recht hervorgehoben12. Nur ändert das nichts an dem Umbruchcharakter der Aufhebung des geweihten Standes. Demgegenüber verliert die damit auch verbundene Aufhebung des Zölibats durchaus an Bedeutung, selbst wenn es im 23. Artikel des Augsburger Bekenntnisses 1530 im Blick auf die derzeitige Situation in den katholischen Gemeinden unseres Landes geradezu prophetisch heißt: „Es wird wohl künftig an Priestern und Pfarrern mangeln, so dieses harte Verbot des Ehestandes länger währen sollt.“13 Viertens hat die Reformation den Maßstab des eigentlich Christlichen in Mönchtum und Askese aufgehoben. Daß man das Handeln im weltlichen Beruf zum Dienst am Nächsten als gottgewollte Liebestat verstand, wertete das weltlich-bürgerliche Leben in einer sich in den Städten immer stärker differenzierenden Lebenswelt in ganz neuer Weise auf und bedeutete damit eine ungeheure Befreiung. Damit war auch die Möglichkeit einer ersten umfassenden Säkularisierung kirchlicher Güter verbunden, die in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden kann. Um nur ein Beispiel zu nennen: In der Stadt Mainz war im 16. Jahrhundert 43 % der bebauten Fläche der Stadt in geistlicher Hand. Fünftens wurde durch die der Reformation folgende Ausbildung der Konfessionen das Christliche in ganz neuer Weise – wenn auch nicht faktisch, so doch tendenziell – wieder zu einem persönlichen Bekenntnis, dem unterschiedliche Kirchen entsprachen. Damit war die Ausbildung der vier großen Konfessionen (Katholizismus, Luthertum, Calvinismus und Anglikanismus) innerhalb der westlich-abendländischen Kirche und die Konfessionalisierung verbunden. Gleichzeitig mit ihr entstanden aber auch die Tendenzen zur Entkonfessionalisierung und Säkularisierung bestimmter Lebensbereiche. Beides zusammen bildete eine wesentliche indirekte Voraussetzung für die weitere Entwicklung einer Trennung von Staat und Kirche, eine Voraussetzung auch für die Herausbildung von Toleranz und letztlich Religionsfreiheit, selbst wenn beides zunächst nur gelegentlich direkt intendiert wurde. ___________ 12 Vgl. Volker Leppin, Wie reformatorisch war die Reformation, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 99 (2002), 162–176, bes. 175f. 13 Vgl. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 12Göttingen 1998, 89,39–90,3.

Die Reformation als Epoche

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Nicht für sich genommen, aber in ihrer gegenseitigen Bedingtheit und Durchdringung wurden diese Punkte, weil sich die Reformation nicht unterdrücken ließ, sondern die Ausbildung der Konfessionen und den erwähnten Konfessionalisierungsprozeß zur Folge hatte, in grundstürzender Weise gesellschaftlich und politisch modernisierend wirksam. Freilich muß man eben deswegen bei der Frage nach dem epochalen Charakter der Reformation diese ganz eng mit der Konfessionalisierung verbinden. Aus diesem Grund darf man den Einschnitt des Augsburger Religionsfriedens von 1555, dessen 450. Jubiläum wir im Jahr 2005 mit Recht gefeiert haben, weil er für die deutsche Geschichte von erheblicher Bedeutung wurde, nicht als Epochengrenze verstehen, sondern muß das, was in der Kirchen- und Theologiegeschichte immer noch als Zeitalter der Reformation von dem der Katholischen Reform und der Gegenreformation getrennt wird, durch den umfassenderen Begriff des konfessionellen Zeitalters ersetzen. Denn epochal wurde die Reformation erst mit und in der Konfessionalisierung und zwar sowohl in der enger verstandenen Bildung der Konfessionen wie in dem weiter verstandenen Sinn von Reinhard und Schilling. Damit wird aber gleichzeitig auch deutlich, daß in Durchsetzung und Abwehr der Reformation die gesamte westlich-mittelalterliche katholische Welt von ihr auf Dauer und tiefgreifend geprägt wurde und daß mit dem Export abendländischer Kultur auch eine indirekt universalgeschichtliche Bedeutung der Reformation gegeben ist. Denn die Reformation als solche bedeutet zwar in vielen europäischen Ländern – ich brauche nur an Spanien zu erinnern – keineswegs den gleichen tiefen Einschnitt wie in der deutschen Geschichte, wohl aber haben alle Länder im Zuge der Konfessionalisierung im Schillingschen Sinn an ihren Auswirkungen teil und sind davon geprägt worden. Dieser Konfessionalisierungsprozeß beginnt meines Erachtens schon dort, wo man zum ersten Mal bekenntnishaft und als einander ausschließend neue Lehre und altes Herkommen als alternativ zur Abstimmung und Entscheidung stellte und daraus auch entsprechende Konsequenzen zog. Das beginnt in den Flugschriften und Fluglättern, die wahre und falsche Lehre einander gegenüberstellten, setzt sich in den kommunal-lokalen Reformationen der frühen 20er Jahre des 16. Jahrhunderts und dann in den territorialen Reformationen fort, selbst wenn über deren Bestand erst am Ende der sogenannten Religionskriege endgültig entschieden wurde, so daß für Deutschland der Westfälische Friede von ungleich höherer Bedeutung als der Augsburger Religionsfriede von 1555 war. Gegen den Umbruchcharakter der Reformation in diesem Sinn läßt sich weder das langsame Herauswachsen und Entstehen reformatorischer Theologie bei den Reformatoren ins Feld führen noch die Tatsache, daß sich vieles von dem, was ich in den fünf Thesen aufgeführt habe, tendenziell auch im Spätmittelalter nachweisen läßt. Denn epochal wird eine Epoche nicht deswegen, weil

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etwas unableitbar Neues auf den Plan träte, sondern – im Sinn der Gadamerschen Bestimmung – aufgrund ihrer noch die eigene Gegenwart als Leben und Welt in besonderer Weise prägenden Wirkungsgeschichte und Wirkung. Eben deswegen besteht auch kein Widerspruch zwischen dem Verständnis der Reformation als eines Umbruchs und ihrer Ein- und Rückbindung in Tendenzen des Spätmittelalters. Diese Sicht der Reformation läßt sich übrigens auch mit der von Reinhard und Schilling vereinen. Reinhard hat ohnehin dafür plädiert, Reformation und Konfessionalisierung ineins zu sehen. Und Schilling hat in seiner Auseinandersetzung mit der katholischen These, daß die Reformation als beklagenswerter und gewaltsamer Abbruch einer durchgreifenden altkirchlichen Reform- und Modernisierungsbewegung zu werten sei, mit Recht trotz den von ihm behaupteten Kontinuitäten zwischen Spätmittelalter und Reformation festgestellt: „Vieles, wenn nicht das meiste an den spätmittelalterlichen Reform- und Modernisierungsbestrebungen war um 1500 im Sande verlaufen oder hatte seine Kräfte am Beharrungsvermögen der Reformgegner erschöpft. Erst die Reformation brachte wieder Dynamik in das Geschehen und rettete dadurch auch und gerade die altkirchlichen Reformen“14. Zum Schluß greife ich – zugegebenermaßen nur halbernst – das Schillingsche Bild von der „Sandwichlage der Reformation zwischen gestalteter Verdichtung des späten Mittelalters und eigentlich frühneuzeitlicher Formierung im Zeichen des Konfessionalismus des ausgehenden 16. Jahrhunderts“ noch eimal auf. Ein Sandwich ist ja – wie wir alle wissen – schmackhaft nicht wegen der beiden mehr oder weniger faden Weißbrotschnitten, sondern auf Grund der Füllung, in diesem Fall also der Reformation, wie immer man die im einzelnen genauer bestimmt. Freilich sehe ich die Reformation auch nicht in dieser Sandwichlage, sondern ich verstehe sie im Zusammenhang mit der ihr zugehörenden Konfessionalisierung als einen der großen Einschnitte und Umbrüche für die gesamte abendländische und über sie und ihre Wirkungen vermittelt auch für die Welt- und Universalgeschichte.

___________ 14

Schilling, Die Reformation (vgl. Anm. 7), 38.

“We Have Lost the Reformation” – Heinz Schilling and the Rise of the Confessionalization Thesis Thomas A. Brady, Jr. “Im Alter unserer zweiten modernen Periode nimmt Skepsis zu gegen eine strikte Verknüpfung von Reformation und Moderne, während eine umfassendere Rekonstruktion des 16. Jahrhunderts als eines bürgerlichen Zeitalters die zerfaserte historische Landschaft zu neuer Synthese bringen will.”1 The Reformation, Johann Gottlieb Fichte wrote, is “the German peopleǥs most momentous and, in a certain sense, fully accomplished deed of worldhistorical significance.”2 His view is rarely repeated today, least of all by Germans, many of whom would share Heinz Schillingǥs acknowledgement that “we have lost the Reformation.”3 1918 half-shattered the Fichtean vision; 1945 completed its ruin. Thereafter the historians so avoided it that, looking back from the 1960s, the Göttingen church historian Bernd Moeller could lament that the reformation had disappeared from the (secular) discipline of history. Medieval history still ended at 1500, but modern history began in 1650. “With a few important exceptions,” Moeller wrote in 1965, “nontheological historians, especially Protestants, have treated the intervening century and a half as ___________ 1

Hans-Christoph Rublack, Reformation und Moderne. Soziologische, theologische und historische Ansichten, in: Hans R. Guggisberg/Gottfried G. Krodel/Hans Füglister (eds.), The Reformation in Germany and Europe: Interpretations and Issues. Proceedings of the Joint Conference of the Society for Reformation Research and the Verein für Reformationsgeschichte at the German Historical Institute in Washington, D.C., September 25–30, 1990 (Sonderband des Archivs für Reformationsgeschichte) Gütersloh 1993, 17–38, here at 18. 2 Heinrich Bornkamm (ed.), Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte, 2nd ed. rev., Göttingen 1970, 222, from Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation, no. 6: “zwar legen wir das zu Erweisende zunächst dar an der letzten großen und in gewissem Sinne, vollendeten Weltthat des deutschen Volkes, an der kirchlichen Reformation.” 3 Heinz Schilling, Profiles of a ‘New Grand Narrativeǥ in Reformation History? Comments on Thomas A. Brady, Jr.ǥs Lecture, in: Thomas A. Brady, Jr., The Protestant Reformation in German History, Washington, D.C. 1998, 43, quoting his own study, Reformation – Umbruch oder Gipfelpunkt eines Temps des Réformes? in: Bernd Moeller/Stephen E. Buckwalter (eds.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 1999), Gütersloh 1998, 13–34. Some historians still represent Fichteǥs classic view, most recently Steven E. Ozment, A Mighty Fortress: A New History of the German People, New York 2004.

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sort of no man’s land.”4 Yet on this wasteland, blasted by the collapse of German history’s national narrative, plans were already afoot for new constructions.

I. The new reformation history emerged in two streams. One sprang forth in the German Democratic Republic (GDR), where in 1960 the Leipzig historian Max Steinmetz composed the theses that framed the German reformation as an “early bourgeois revolution.”5 The common people’s revolution began well before Luther’s movement, which flourished after its wreckage in 1525. This argument, grounded in historical materialism, came to be generally known in the Federal Republic of Germany during preparations for the 450th anniversary of the Peasants’ War of 1525.6 In 1962, just after Steinmetz formulated his concept, Moeller offered his own argument about the reformation.7 During the 1520s in the self-governing south German and Swiss cities, he wrote, reforming clergy adapted Luther’s ___________ 4 Bernd Moeller, Probleme der Reformationsgeschichtsforschung, in: Die Reformation und das Mittelalter: kirchenhistorische Aufsätze, ed. by Johannes Schilling, Göttingen 1991, 10 (English: Problems of Reformation Research, in: Bernd Moeller, Imperial Cities and the Reformation: Three Essays, tr. by H. C. Erik Midelfort/Mark U. Edwards, Jr., Philadelphia 1975, 4). 5 Max Steinmetz, Die frühbürgerliche Revolution Deutschland 1476 bis 1535. Thesen zur Vorbereitung der wissenschaftlichen Konferenz in Wernigerode vom 21. bis 24 Januar 1960, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 8 (1960), 113–24; also in Gerhard Brendler (ed.), Die frühbürgerliche Revolution in Deutschland. Referat und Diskussion zum Thema Probleme der frühbürgerliche Revolution in Deutschland 1476–1535, Berlin 1961, 7–16 (English: Bob (Robert W.) Scribner/Gerhard Benecke (eds.), The German Peasant War of 1525 – New Viewpoints, London 1979, 9–18). 6 In West Germany the first study of scholarship in the GDR appeared in 1976, only a year after the main year of the jubilee. See Josef Foschepoth, Reformation und Bauernkrieg im Geschichtsbild der DDR. Zur Methodologie eines gewandelten Geschichtsverständnisses (Historische Forschung 10), Berlin 1976; Andreas Dorpalen, German History in Marxist Perspective: The East German Approach, Detroit 1985, 99– 137. Neither is satisfactory today, as the entire development has to be studied in the light of both its own history (based on archival study) and the events of 1989. Laurenz Muller, Diktatur und Revolution: Reformation und Bauernkrieg in der Geschichtsschreibung des “Dritten Reiches” und der DDR (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 50), Stuttgart 2004, takes an important step in this direction. An English summary will appear under the title, Revolutionary Moment: Interpreting the Peasants’ War in the Third Reich and in the German Democratic Republic, tr. by Thomas A. Brady, Jr., in: Central European History. 7 Bernd Moeller, Reichsstadt und Reformation (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 180) Gütersloh 1962; new revised edition, Berlin 1987 (English: Imperial cities and the Reformation [note 4]).

“We Have Lost the Reformation”

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message to the burghers’ idea of their city as a sacral commune, which stood before God as one body in brotherly love. Via Zwinglianism and Calvinism this social gospel shaped fundamental values in later Protestant societies. The urban reformation thus linked the great streams of German and European Protestantism and thereby became a progenitor of modern democratic culture.8 Arousing both assent and dissent, Moeller’s argument spread beyond the German-speaking world. The reformation, in A. G. Dickens’s pithy words, “was an urban event.”9 The new scholarship on the German urban reformation repristinated thinking about the subject at a time when historians in both Germanys were focusing attention on the roles of ordinary Germans, peasants and/or burghers, in the prehistory of German democracy. The two streams thus had elements in common. Not only did they see the common people as historical agents, but they also recognized the reformation as a key vantage point for understanding German history. Furthermore, both streams set the story in a larger European context, the western scholars in the history of democratic/capitalist modernization. Although tensions remained during this era of bitter rivalry between the two Germanys, the mid-1970s witnessed a convergence that peaked during the Peasants’ War jubilee of 1975–1976. Eastern and western historians of the reformation era formed a convivencia10 that continued through the Luther jubilee of 1983 and well beyond.11 Its meeting point can be ___________ 8 See Thomas A. Brady, Jr., The Protestant Reformation in Germany History (note 3), 27 note 63, where this (otherwise implicit) message is cited. 9 A(rthur) G(eoffrey). Dickens, The German Nation and Martin Luther, New York 1974, 182. See Hans-Christoph Rublack, Forschungsbericht Stadt und Reformation, in: Stadt und Kirche im 16. Jahrhundert, ed. by Bernd Moeller (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 190), Gütersloh 1978, 9–26; also my own comments from the London conference of the same year, Thomas A. Brady, Jr., The “Social History of the Reformation” between “Romantic Idealism” and “Sociologism”: A Reply [to Bernd Moeller], in: Wolfgang J. Mommsen/Peter Alter/Robert W. Scribner (eds.), The Urban Classes, the Nobility and the Reformation. Studies on the Social History of the Reformation in England and Germany (Publications of the German Historical Institute London 5), Stuttgart 1979, 40–43. My more reflective views of a later time are found in Thomas A. Brady, Jr., From the Sacral Community to the Common Man: Reflections on German Reformation Studies, in: Central European History 20 (1987), 229–245; reprinted in Thomas A. Brady, Jr., Communities, Politics, and Reformation in Early Modern Europe (Studies in Medieval and Reformation Thought, 68), Leiden 1998, 353–370. One of the first scholars to engage Moeller’s argument was Miriam Usher Chrisman, Strasbourg and the Reform: A Study in the Process of Change, New Haven 1967. A first overview was offered by Steven E. Ozment, The Reformation in the Cities: The Appeal of the Reformation to Sixteenth-Century Germany and Switzerland, New Haven 1975. 10 This term from writing on medieval Iberian history (Spanish: an arrangement of co-existence) offers, if stripped of is romantic connotations, a useful term for other sites and times. 11 The western reception of historical materialist discussions in the GDR is much better documented than is the reverse flow, which does not mean that the latter was negligible, only that to date it is much less well documented. Rainer Wohlfeil and Peter

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described as follows: the reformation and the Peasants’ War formed a fateful conjuncture of two powerful tendencies, the reform of the church and the transformation of rural (and ultimately also urban) life in a sense of greater freedom, and their collision produced both a temporary fusion and a permanent fragmentation of the reformation movement into several streams that would not coalesce again.

II. Such was the setting in which Heinz Schilling made his debut in 1972 with a monograph on Dutch religious exiles in the cities of northern Germany and England during the sixteenth century.12 Religious refugees have long played an important role in linking the reformation era with capitalist development. Their decisions to emigrate freed them from corporate ties and constraints, and their mobility and vulnerability encouraged a resourcefulness which made them important innovators.13 Those who studied them were impressed by what Friedrich Lenger has called “the mental construction of a close connection between a way of life based on religion and economic action.”14 Max Weber is the chief case in point, but if the idea is broadened to account for involuntary exclusion it could be applied, as Werner Sombart did, to other groups, notably the Jews.15 Heinz Schilling engaged the arguments not of Weber and Sombart but of their contemporary, Ernst Troeltsch. One of the latter’s most hotly debated arguments had distinguished between the two Protestant confessions’ social, political, and cultural tendencies: an authoritarian, semi-feudal German Lutheranism encouraged political servility; a progressive European Calvinism promoted ___________ Blickle blazed trail for the western reception. See Rainer Wohlfeil (ed.), Reformation oder frühbürgerliche Revolution, Munich 1972; Peter Blickle, Die Revolution von 1525, Munich 1975 (English: The Revolution of 1525: The German Peasants’ War from a New Perspective, tr. by Thomas A. Brady, Jr./H. C. Erik Midelfort, Baltimore 1981); Rainer Wohlfeil (ed.), Der Bauernkrieg 1524–26: Bauernkrieg und Reformation, Munich 1975; and Peter Blickle, Die Reformation im Reich (Uni-Taschenbücher 1181), Stuttgart 1982. 12 Heinz Schilling, Niederländische Exulanten im 16. Jahrhundert. Ihre Stellung im Sozialgefüge und im religiösen Leben deutscher und englischer Städte (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 187), Gütersloh 1972. 13 The classic statement about the religious refugees of the reformation era and economic growth is Frederick A. Norwood, The Reformation Refugees as an Economic Force, Chicago 1942. 14 Friedrich Lenger, Werner Sombart 1863–1941, Munich 1994, 132: “die Denkfigur einer engen Verbindung von religiös fundierter Lebensführung und wirtschaftlichen Handeln.” 15 Lenger, Werner Sombart (note 14), 187–200.

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equality and political liberty – in a word, democracy.16 Schilling aimed to assemble an empirically grounded case which would strip Troeltsch’s argument of its plausibility, something he could not have done by means of a contrast between Protestantism and Catholicism. Instead, Schilling advanced what may be called “Schilling Thesis I,” which holds that Lutheran and Calvinist Protestantism were two closely related forms of a single religion that were distinguished chiefly by the consequences of their social environments. It was to be followed by “Schilling Thesis II,” which added Roman Catholicism and made the three confessions closely related forms of one religion. The great innovation lay not in Thesis I, the unification of the Protestant confessions that had occurred in fact since 1817, but in Thesis II, the conceptual reunification of the major streams of western Christianity in one drama. Place and time were crucial to the framing of Thesis I. Schilling located his argument not in the southern and central German lands but in the largely neglected north, where Lutheran lands experienced Calvinist incursions directly from the Dutch Republic. Years before, the Leipzig church historian Franz Lau had tried to demonstrate the communal character of the northern urban reformations – Lutheranism and democracy – but his argument met with little response at the time.17 Schilling’s argument fared better, because he allied Lutheran and Calvinist burghers’ responses to the reformation by drawing both the northern German cities, Hanseatic, territorial, or both, and the cities of the Dutch Republic, northern Calvinism’s nurseries, into a comparative rather than a contrastive relationship. As to time, this story had to be explored not in the 1520s and 1530s, favored by work on the urban reformation, but in the decades between 1555 and the onset of the Thirty Years War in 1618. Schilling laid out this argument in his Habilitationsschrift, which, submitted at Bielefeld in 1978, was published three years later as Konfessionskonflikt und Staatsbildung.18 Schilling’s monograph of 1981 is set in the county of Lippe in northwestern Germany; its subject is the politico-religious conflicts between Count Simon VI (r. 1563–1613), a Calvinist, and the Lutheran burghers of Lemgo, his land’s principal town and a member of the Hanseatic league.19 The Lutheran faith for___________ 16 See Luise-Schorn-Schütte, Ernst Troeltschs “Soziallehren” und die gegenwärtige Frühneuzeitsforsching. Zur Diskussion um die Bedeutung von Luthertum und Calivnismus für die Entstehung der modernen Welt, in: Friedrich Wilhelm Graf/Trutz Rendtorff (eds.), Ernst Troeltschs Soziallehren. Studien zu ihrer Interpretation, Gütersloh 1993, 133–152. 17 Franz Lau, Der Bauernkrieg und das angebliche Ende der lutherischen Reformation als spontane Volksbewegung, in: Luther-Jahrbuch 26 (1959), 119–13. 18 Heinz Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung: eine Fallstudie über das Verhaltnis von religiösem und sozialem Wandel in der Frühneuzeit am Beispiel der Grafschaft Lippe (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 48), Gütersloh 1981. 19 This oddly redundant construction is the normal term in English.

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tified the Lemgoers’ politics of communal liberty, which Count Simon confronted in a proto-absolutist spirit, typical of German Calvinist principalities. Against his program for a “Second Reformation” – Schilling’s usual term for the Calvinist/Reformed confession’s agenda – the Lemgoers defended Lutheran worship and their liberties against the duke’s power and his religion. Lemgo’s resistance saved its communal order, and the town was never fully incorporated into the territorial state of Lippe. One principal goal of Schilling’s book on Lemgo and Lippe was to criticize the current literature on the social history of the reformation. He was not the first to do this, for in 1976 the Irish-Australian Robert W. (Bob) Scribner had asked, “Is There a Social History of the Reformation?” and answered that precious little had been accomplished toward this goal.20 Schilling thought that what had been done required revision. “The paradigm of ‘City and Reformation’,” he wrote, “which has dominated German and international research for nearly a generation, now needs to have its (understandable) one-sidedness corrected through new research emphases” without, he gently added, “in any way surrendering its unusually fruitful research agenda.”21 Future work on the social history of the reformation ought to be more socially comprehensive, especially in the direction of the territorial princes; it ought to push the story well beyond 1555 and follow the “overarching lines of development that historically belong together” in the histories of the bourgeoisie, the early modern state, and “even the history of church and church polity”; and it ought to expand its vision to “broader, more inclusive problems of the specific mediations of religion and social formations in early modern … societies.” Schilling’s critique was moving toward “the phenomenon of confessionalization,” which was both “a direct consequence of the reformation” and “a movement possessing its own dynamic, which profoundly transformed early modern Europe in general and the politically fragmented Holy Roman Empire in particular.”

___________ 20 Robert W. Scribner, Is There a Social History of the Reformation? in: Social History 4 (1976), 483–505. This state of things at that time is surveyed by Thomas A. Brady, Jr., Social History, in: Steven E. Ozment (ed.), Reformation Europe: A Guide to Research, St. Louis 1982, 161–81; and more recently summarized by Mack P. Holt, The Social History of the Reformation: Recent Trends and Future Agendas, in: Journal of Social History 37 (2003), 133–144, here at 133–135. 21 I quote his English summary, Heinz Schilling, Between the Territorial State and Urban Liberty: Lutheranism and Calvinism in the County of Lippe, in: R. Po-chia Hsia (ed.), The German People and the Reformation, Ithaca 1988, 263–265.

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III. Unlike Peter Blickle and the GDR historians, who focused on the peasantries as agents of political change,22 Schilling concentrated his attention on the burghers, just as Bernd Moeller and others had done for the south. He looked at the cities in terms of social groups, not legal status (Imperial or territorial), which allowed him to extend his attention to the Dutch cities, where the Imperial-territorial distinction played no role worth mentioning. The most innovative feature of Schilling’s study of Lippe was his coupling of the northern German cities with the Dutch cities, both through their corporate political cultures, Lutheran and Calvinist, and through an exchange of peoples (the immigrants) and religious ways of life (the confessions) that bound the entire northwestern region together. This brilliant stroke partnered the particularizing, under-conceptualized historiography of the Hanseatic cities with the synthesizing, well-conceptualized historiography of their Dutch counterparts.23 Taken as a whole, the northern German-Dutch urban zone formed an ___________ 22 Although Schilling has rarely engaged the GDR historians directly, in 1998 he commented on “[Max] Steinmetz, who invented the idea of the ealry bourgeois revolution … to give Germany the glory of a national revolution, albeit an abortive one. … Steinmetz’s ‘frühbürgerliche Revolution’ can be understand as the secularized version of the very same [Rankean] hypostasis of ‘nation’ German into a universalist perspective of a chain of social revolutions, beginning with the German Peasants’ War and a German national Reformation movement.” Heinz Schilling, Profiles of a ‘New Grand Narrative’ in Reformation History? Comments on Thomas A. Brady, Jr.’s Lecture, in: Thomas A. Brady, Jr., The Protestant Reformation in German History, Washington, D.C. 1998, 45. For his views on Peter Blickle’s communalism thesis, see Heinz Schilling, Die deutsche Gemeindereformation. Ein oberdeutsch-zwinglianisches Ereignis vor der “reformatorischen Wende” des Jahres 1525? in: Zeitschrift für historische Forschung 14 (1987), 325–333 (English: The Communal Reformation in Germany: An Upper German, Zwinglian Phenomenon before the “Turning Point of the Reformation”, in: Heinz Schilling, Religion, Political Culture, and the Emergence of Early Modern Society: Essays in German and Dutch History, tr. by Stephen G. Burnett (Studies in Early Modern Thought 50), Leiden 1992, 189–201). The differences were fundamental. Blickle’s communalism thesis, in which early reformation and Peasants’ War bring the late medieval agrarian struggle to a close, is based entirely on the south. Schilling’s confessionalization thesis, in which the reformation is the beginnning of the urbanterritorial passage into early modernity, is based entirely on the north. The debate chiefly turns on the place of the burghers in German and European history. For Blickle they are allied with the peasants, which reflects not only the similarities between their political forms (communes) but also their common standing at the bottom of the medieval aristocratic hierarchy; for Schilling their destiny lies in the state, which reflects their place in the genealogy of the modern bourgeoisie. 23 Heinz Schilling, Reformierte Kirchenzucht als Sozialdisziplinierung? – Die Tätigkeit des Emder Presbyteriums in den Jahren 1557–1562 (Mit vergleichenden Betrachtungen über die Kirchenräte in Groningen und Leiden sowie mit einem Ausblick ins 17. Jahrhundert), in: Wilfried Ehbrecht/Heinz Schilling (eds.), Niederlande und Nordwestdeutschland. Studien zur Regional- und Stadtgeschichte Nordwestkontinentaleuropas im Mittelalter und in der Neuzeit. Franz Petri zum 80. Geburtstag (Städteforschung, series

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apposite counterpart to the southern free cities that stood at dead center in the literature on the urban reformation. The southern cities’ politics were labeled with the phrase, “Turning Swiss.” Schilling’s views might be labeled “Turning Dutch.”24 Heinz Schilling thus breached the boundaries between two national historiographies and partnered the Dutch with the northern German cities. The Dutch burghers had traveled a straight, high road to modernity in a manner and at a pace quite distinct from what was possible under either the royal absolutism of continental European kingdoms or the parliamentary centralization of England/Great Britain.25 The northern German cities were not so fortunate. “By considering the early modern roots of modernization,” Schilling wrote in 1982, “which varied dramatically from country to country in […] pre-modern Europe, historians are confronted with realities that prevent them from assuming a unilinear pattern of development.”26 “The process of transformation in the early modern Netherlands is a particularly good test case,” because “the Dutch Republic displays an independent path of development that differs both from the English and the absolutist continental models.” The German cities, north and south, did not follow the Dutch way but a different way determined by “the triumph of princely absolutism.” Their path “not only limited the economic opportunities of the middle class, but it was also a blow to their self” – expresses the kernel of Schilling’s concept of the path of German history in the early modern era. It represents not a divergence (the infamous Sonderweg) from “western” development but a variation on the common European experience. The shift away from a purely German to a comparative German-Dutch context underpins Schilling’s understanding of the passage from burgher life to bourgeois political and cultural power: the Dutch cities, untrammeled by royal ___________ A, 15), Cologne/Vienna 1983, 261–327; Heinz Schilling, Vergleichende Betrachtungen zur Geschichte der bürgerlichen Eliten in Nordwestdeutschland und in den Niederlanden, in: Heinz Schilling/Herman Diederiks (eds.), Studien zur Sozialgeschichte des europäischen Bürgertums im Mittelalter und in der Neuzeit (Städteforschung, series A, 23), Cologne/Vienna 1985, 1–32. 24 Thomas A. Brady, Jr., Turning Swiss: Cities and Empire, 1450–1550, Cambridge, 1985. The phrase “Turning Dutch” I owe to Laura Ford Cruz. 25 He did not recognize in post-1689 England/Great Britain a kind of parliamentary absolutism working through fiscal centralization. But see John Brewer, The Sinews of Power: War, Money and the English State, 1688–1783, Cambridge, MA 1990; John Brewer and Eckhardt Hellmuth (eds.), Rethinking Leviathan: the Eighteenth-century State in Britain and Germany (Studies of the German Historical Institute London), London 1999. 26 Heinz Schilling, Die Geschichte der nördlichen Niederlande und die Modernisierungstheorie, in: Geschichte und Gesellschaft 8 (1982), 475–517, here at 478. I quote from the English version, The History of the Northern Netherlands and Modernization Theory, in: Schilling, Religion, Political Culture (note 22), 305–352, at 307.

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or aristocratic power, pioneered a way to economic, political, cultural, and psychological/spiritual modernity; the German cities, hedged in both locally and at the Imperial level by territorial principalities, moldered on all fronts. The argument for the Dutch origins of modernity, which is by no means peculiar to Schilling,27 bolsters the northern-centeredness of his vision and obviates the need to trace the genealogy of burgher mentalities via south German cities back to Italy, the Renaissance, and the Middle Ages. His northern vision of the European bourgeoisie’s descent from the burghers appears in fullest dress in Schilling’s study of what he calls “civic republicanism” as the ideological expression of urban values.28 This is an old battlefield, scarred by many debates about the genealogy of the European bourgeoisie. What is at stake is not Italian precedence in the creation or adaptation of commercial instruments, such as the bill of exchange, insurance, and double-entry bookkeeping, but nothing less than the history of liberty as a bourgeois value. A long tradition of scholarship has held the Italian communes to have been the seedbeds of liberty. The German refugee historian Hans Baron argued that what he called “civic humanism” was an ideology of liberty that sprang up at a particular place and time: Florence around 1400.29 His larger argument, rarely more than hinted at in his writings, was that, defeated in later Renaissance Italy, the civic humanist idea traveled via Machiavelli’s writings to England and Scotland, whence it journeyed westward to America.30 To a very great extent, ___________ 27

The argument has been most powerfully developed by Jan de Vries/Ad van der Woude, The First Modern Economy: Success, Failure, and Perseverance of the Dutch Economy, 1500–1815, Cambridge 1997. See also Jonathan I. Israel, Radical Enlightenment: Philosophy and the Making of Modernity, 1650–1750, Oxford 2001. 28 Heinz Schilling, Gab es im späten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit in Deutschland einen städtischen “Republikanismus”? Zur politischen Kultur es alteuropäischen Stadtbürgertums, in: Republiken und Republikanismus im Europa der Frühen Neuzeit (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 11), Munich 1988, 101–144 (English: Civic Republicanism in Late Medieval and Early Modern German Cities, in: Schilling, Religion, Political Culture [note 22], 3–60). I will cite both versions but quote from the English translation. 29 See the older evaluations of Baron’s contributions and the bibliography of his writings in Anthony Molho/John A. Tedeschi (eds.), Renaissance Studies in Honor of Hans Baron, DeKalb, IL 1971, xi-xxx (Denys Hay), xxxi-lviii (August Buck), lix-lxx (Eugenio Garin), and lxxi-lxxxvii (biliography by Johan A. Tedeschi and Andrew W. Lewis). Of the newer studies, most important are: Riccardo Fubini, Renaissance Historian: The Career of Hans Baron, in: Journal of Modern History 64 (1992), 541–574; and James Hankins, The “Baron Thesis” after Forty Years and some Recent Studies of Leonardo Bruni, in: Journal of the History of Ideas 56 (1995), 309–338. Baron’s self-evaluation appears in Hans Baron, The Course of My Studies in Florentine Humanism, in: Hans Baron, In Search of Florentine Civic Humanism. Essays on the Transition from Medieval to Modern Thought, Princeton 1988, vol. 2, 182–193. 30 I can attest, based on Baron’s remarks in seminar, that this genealogy of liberty was fully developed in his mind, if not in his writings.

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Baron’s Florentine thesis displaced from republicanism’s genealogy the Calvinism he had studied in the dissertation he had written under Ernst Troeltsch.31 Hans Baron’s Florentine origins of the idea of liberty found supporters, especially among English-speaking scholars.32 When Schilling analyzes “the political thinking of the German urban burghers within the history of European political theory,”33 however, he allows no place for southern ancestors, either German or Italian. “The internal civic order,” he writes, “rested upon four pillars”: belief in the citizens’ “fundamental rights and personal liberties”, in citizens’ equal participation in civic obligations, in the communal right to participate in power, and “the oligarchic and egalitarian structure of the burgher political elite.”34 Schilling rested his analysis of these subjects overwhelmingly on evidence from the northern German cities, including territorial cities, from the fifteenth into the seventeenth century. He concludes, as Bernd Moeller had done for the southern burghers, that the reformation strengthened rather than undermined the late medieval ethos of burghers’ liberty. Schilling also carried this argument into the discussions of the connections between burghers’ liberty and republicanism, where his chief target is the (widely shared) Troeltschian distinction between a Calvinist “passion for liberty” and a Lutheran “passion for obedience.” He calls this “a tenaciously defended cliché” which ignores the fact that “until well into the seventeenth century Lutheranism in the German cities was also driven by a ‘passion for liberty’, a type of liberty, however, determined by corporative not individualistic principles.” Instead of arguing, as many of Luther’s modern apologists have done,35 that Lutheranism promoted individualism, Schilling argues that the political movements in Calvinist cities, too, were “an expression of civic corpo___________ 31 Hans Baron, Calvins Staatsanschauung und das konfessionelle Zeitalter (Beiheft 1 der Historischen Zeitschrift), Berlin/Munich 1924. He returned to the theme in Hans Baron, Calvinist Republicanism and its Historical Roots, in: Church History 9 (1939), 30–42, which deals with political ideas of the Strasbourg reformer Martin Bucer. He never abandoned (I can attest) his belief that the German cities had also contributed to the spread of republican ideas. 32 Most importantly J. G. A. Pocock, The Machiavellian Moment: Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton 1975. 33 Schilling, Gab es im späten Mittelalter (note 28), 103 (Civic Republicanism [note 28], 6). At one point Schilling explicitly targets Baron’s thesis: Introduction: Reformation, Calvinism, and Urban Society, in: Civic Calvinism in Northwestern Germany and the Netherlands, Sixteenth to Nineteenth Centuries (Sixteenth Century Essays & Studies 17), Kirksville, MO 1991, 1–10, here at 1. 34 Schilling, Gab es im späten Mittelalter (note 28), 103 (Civic Republicanism [note 28], 6). 35 Notably Karl Holl, Die Kulturbedeutung der Reformation, in: Gesammelte Werke, vol. 1, Tübingen 1921, 359–370 (English: The Cultural Significance of the Reformation, tr. by Karl Hertz/Barbara Hertz/John H. Lichtblau, New York 1959).

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rate principles rather than modern libertarian ones.”36 His test case is the city of Emden in East Frisia, where, Schilling argues, “the Emden revolution” of 1595, “the greatest accomplishment of [Dutch] Calvinism on German soil,” represented the same corporate values.37 Civic Lutheranism was not modern, but neither was civic Calvinism. If these cities – German and Dutch, Lutheran and Calvinist – possessed a common political culture, why did early modern Dutch cities develop genuinely republican concepts of government, while the north German cities on the whole did not? Schilling’s answer has already been identified as the rise of the territorial states. While resistance to the princes revitalized civic corporate liberty, it was in the end a struggle the burghers could not win. With the onset of the Thirty Years War, resistance collapsed in the northern territorial towns and by the later seventeenth century it gripped the Imperial cities as well. In the long term, “the [northern] cities were unable to uphold the principles of autonomy and independence from territorial authorities.”38 In Schilling’s account by far the most important exception to this fate was Emden, where the Calvinist faith that streamed in from the Netherlands powerfully revitalized the burghers’ defense of corporate liberties. This was not a product, Schilling argues, of “the ideals of western European Calvinism that had an effect in this one place on German soil.”39 On the contrary, just as in the 1520s and 1530s “the German [Lutheran] Reformation strengthened the communal and corporate spirit within the cities,” around 1600 Calvinism played this same role.40 Calvinism – the kernel of Schilling’s Thesis I – was not a new religion, opposed to Lutheranism, but a “Second Reformation,” fundamentally compatible with but undeniably in tension with the first.41 Its civic character

___________ 36 Schilling, Gab es im späten Mittelalter (note 28), 115 (Civic Republicanism [note 28], 22). 37 Schilling, Gab es im späten Mittelalter (note 28), 115 (Civic Republicanism [note 28], 22). 38 Schilling, Gab es im späten Mittelalter (note 28), 127 (Civic Republicanism [note 28], 38). 39 Schilling, Gab es im späten Mittelalter (note 28), 129 (Civic Republicanism [note 28], 40). He is quoting Ulrich Wangerinǥs Hamburg dissertation of 1950. 40 Schilling, Gab es im späten Mittelalter (note 22), 130 (Civic Republicanism [note 28], 41). 41 Heinz Schilling, Die “Zweite Reformation” als Kategorie der Geschichtswissenschaft, in: Heinz Schilling (ed.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der “Zweiten Reformation” (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 195), Gütersloh 1986, 387–437 (English: The Second Reformation – Problems and Issues, in: Schilling, Religion, Political Culture [note 22], 105–248).

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and function following the “Emden revolution” of 1595 distinguishes Emden from all other Calvinist cities and principalities in the German lands.42 What did Calvinism bring to this new synthesis? Primarily it supplied the impetus for an expansion of civic ideas of liberty from one city to an entire territory, East Frisia, with the object of forming a corporative state on the Dutch model, “in which the Counts [of East Frisia] would have played a role similar to that of the stadhoulders of the House of Orange in the United Netherlands.”43 This did not happen, for in the event “the form of republicanism instituted by the Dutch regents,” never took place at Emden, nor, after 1650, did any further transformation take place “from Old European civic republicanism or ‘communalism’ – to use the term coined by Peter Blickle – to modern republicanism.”44 It is nonetheless clear, that the Dutch cities’ burghers completed “the transformation of burgher political thought to modern forms, which grew beyond the urban context and which resulted in a modern individualistic type of republicanism.”45 Turning Dutch!

IV. Where does the reformation fit into this story of successful Dutch and stalled German evolution from late medieval burghers to a modern bourgeoisie? One could well expect that Schilling would take a reductive, functionalist approach to religion and see the reformation as a facilitator of modernization. He does nothing of the kind. An assumption, valid for all of “the author’s writings on early modern confessionalization in general”, he writes, “is that the impact of confessional or denominational systems on society and politics is not primarily or, at least, not only shaped by its theology or (in Max Weberǥs terms) by its ___________ 42 See Heinz Schilling, Reformation und Bürgerfreiheit. Emdens Weg zur calvinistischen Stadtrepublik, in: Bernd Moeller (ed.), Stadt und Kirche im 16. Jahrhundert (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 190), Gütersloh 1978, 128–161 (English: Calvinism and Urban Republicanism. The Emden Experience, in: Civic Calvinism (note 33), 11–40); Heinz Schilling, Calvinismus und Freiheitsrechte. Die politischtheologische Pamphletistik der ostfriesisch-groningischen “Patriotenpartei” und die politische Kultur in Deutschland und in den Niederlanden, in: Bijdragen en Mededelingen Betreffende de Geschiedenis der Niederlanden 102 (1987), 403–434 (English: Calvinism and Civic Liberties: Political and Theological Pamphlets of the “Patriots” in Emden und Groningen and the Political Culture of Germany and The Netherlands, in: Civic Calvinism [note 33], 69–104). 43 Schilling, Gab es im späten Mittelalter (note 28), 136 (Civic Republicanism [note 28], 49). 44 Schilling, Gab es im späten Mittelalter (note 28), 136, 140 (Civic Republicanism [note 28], 49, 55). 45 Schilling, Gab es im späten Mittelalter (note 28), 142 (Civic Republicanism [note 28], 57).

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“spirit” but depends decisively on historical circumstances, that is on the social structure, the legal and political organization, and, last but not least, the culture and mentality of the societies affected.” The historian of the reformation, “and even more the historian of the confessionalization of European societies,” show that the relationship between religion and “the material conditions of society” was never a one-way street.46 Schilling’s critique of Weber can be expressed by a parody of what Marx said of Hegel: With him it is standing on its head. It must be inverted, in order to discover the historical kernel within the theoretical shell.47 The chief connection between religious and secular history in Schilling’s mature work is the concept of the confession. He is widely (and correctly) regarded as a principal formulator of what is called the “confessionalization thesis” and, more recently, the “confessional paradigm”.48 This concept’s odyssey began with the work of Ernst Walter Zeeden, whose concept of “confessional formation” (Konfessionsbildung) emphasized “the spiritual and institutional strengthening of Christian confessions into a halfway stabile church order in dogma, constitution, and moral-religious forms of life.”49 Zeeden, a Catholic convert from Protestantism, knew both sides of the confessional divide, which doubtless helped him to discover some similarities and even continuities between them.50 Little noticed at the time, later on his work and its implications – ___________ 46 Heinz Schilling, Introduction: Reformation, Calvinism, and Urban Society – The Controversies, in: Civic Calvinism (note 33), 1. 47 In an afterword to the Second German Edition of Capital, vol. 2, where the two terms are “rational kernel” and “mystical shell.” Schilling has not discussed Weber’s ideas at length, but his views (mostly critical in a negative sense) are accessible in many writings, for example, Heinz Schilling, Nationale Identität und Konfession in der europäischen Neuzeit, in: Bernhard Giesen (ed.), Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Frankfurt 1991, 192– 252. 48 Stefan Ehrenpreis/Ute Lotz-Heumann, Reformation und konfessionelles Zeitalter. Kontroversen um die Geschichte, Darmstadt 2002, use the latter term. Their book is a solid, up-to-date survey of the subject, on which the following remarks rely. My own views are presented in Thomas A. Brady, Jr., Confessionalization – The Career of a Concept, in: John M. Headley/Hans J. Hillerbrand/Anthony J. Papalas (eds.), Confessionalization in Europe, 1555–1700. Essays in Honor and Memory of Bodo Nischan, Aldershot, Hampshire 2004, 1–20. 49 Ehrenpreis/Lotz-Heumann, Reformation (note 48), 63. 50 Ernst Walter Zeeden, Die Entstehung der Konfessionen: Grundlagen und Formen der Konfessionsbildung im Zeitalter der Glaubenskampfe, Munich 1965; Ernst Walter Zeeden, Konfessionsbildung: Studien zur Reformation, Gegenreformation und katholischen Reform, Stuttgart 1985. Zeeden’s work is almost entirely untheorized, and it is not accurate to say that “In the works of Ernst Walter Zeeden on confessionalism and Gerhard Oestreich on social disciplining, a Weberian model was employed to emphasize social change over theological polemics.” David Lederer, review in: The Catholic Historical Review 90 (2004), 549. This is surely true of Oestreich but not of Zeeden, whose emphasis on “social change” was minimal.

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cultural symbiosis of the confessions, relativization of antagonisms, parallel development – were developed by Wolfgang Reinhard and Heinz Schilling, respectively historians of early modern Catholicism and Protestantism.51 Their writings laid the foundations of the confessionalization thesis, the evolution of which is very much still underway.52 Heinz Schilling’s configuration of confessionalization derives from the division-of-labor he established between the two Protestant confessions (Thesis I). Calvinism is an enhancement of Lutheranism that developed in a freer social environment.53 Lutheranism fostered and stiffened communal values and corporate life, and Calvinism, far from being Lutheranism’s opposite, had the same effect but later, more strongly, and more effectively. That Calvinism did not influence the German lands so strongly as it did burghers in Switzerland, France, and the Dutch Republic, Schilling writes, “was neither the consequence of a deficient power of German towns or citizenries nor an expression of the supposed decline of the German Reformation. It was the result of the specific history of the German Reformation,” and specifically of Calvinism’s success not in the German cities (always excepting Emden) as a “civic Calvinism” but only in certain territorial principalities as “court Calvinism.”54 Calvinist civic culture thus hatched the egg that Lutheran civic culture had laid, or, rather, incubated, for the whole process “proceeded along traditional lines that had been established in the European urban societies since the late Middle Ages.”55 Its agent was a church bent on the police of “social comportment” and “sexual discipline” in collaboration with the secular authority. Yet if the civic Calvinist church made “an independent contribution to early modern ___________ 51

Reinhard first applied the concept of confessionalization to the Catholic church. Wolfgang Reinhard, Gegenreformation als Modernisierung?, in: Archiv für Reformationsgeschichte 68 (1977), 284–301. 52 The best current guide is Ehrenpreis/Lotz-Heumann, Reformation (note 48), although, as Marc Forster has pointed out, for lack of an adequate body of research on Catholicism, they depend very heavily on literature about the Protestant reformations. See Forster’s review at H-Net http://www.h-net.msu.edu/reviews/showrev.cgi?path= 236801. 53 Heinz Schilling, Die politische Elite nordwestdeutscher Städte in den religiösen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts, in: Mommsen, The Urban Classes (note 9), 232–308 (English: Urban Elites and the Religious conflicts of the Sixteenth Century, in: Religion, Political Culture [note 22], 61–134); Heinz Schilling, Stadt und frühmoderner Territorialstaat: Stadtrepublikanismus versus Fürstensouveränität. Die politische Kultur des deutschen Stadtbürgertums in der Konfrontation mit dem frühmodernen Staatsprinzip, in: Michael Stolleis (ed.), Recht, Verfassung und Verwaltung in der frühneuzeitlichen Stadt (Städteforschung, series A, 31) Cologne/Vienna 1991, 19–39. 54 Schilling, Introduction: Reformation, Calvinism, and Urban Society, in: Civic Calvinism (note 33), 2. 55 Heinz Schilling, Calvinism and Urban Republicanism, in: Civic Calvinism (note 33), 39.

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social discipline”,56 this did not distinguish Calvinism from the other two confessions.57 On this score, Schilling’s concept of churchly discipline neatly complements Reinhard’s concept of what the Catholic reformation/ counterreformation was about.58 Yet while Reinhard’s work focuses, not surprisingly, much more on the intra-church consequences of confessionalization, Schilling develops a picture of confessionalization as relevant to all aspects of early modern Germany and Europe. It was by no means a matter of churchstate collaboration only, for “state and church interference in the Seelenhaushalt of the individual, and in early modern society in general, had not only different purposes but, more importantly, different consequences.”59 The confessional communities must be regarded, in his view, as at least semi-autonomous factors in the histories of early modern Germany and Europe.60 They helped to ___________ 56 Heinz Schilling, Calvinism and the Making of the Modern Mind: Ecclesiastical Discipline of Public and Private Sin from the Sixteenth to the Nineteenth Century, in: Civic Calvinism (note 33), 68 (not previously published in German); Heinz Schilling, “Geschichte der Sünde” oder “Geschichte des Verbrechens”? Überlegungen zur Gesellschaftsgeschichte der frühneuzeitlichen Kirchenzucht, in: Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento 12 (1986), 169–192; (English: “History of Crime” or “History of Sin”? – Some Reflections on the Social History of Early Modern Church Discipline, in: Erkki Kouri/Tom Scott (eds.), Politics and Society in Reformation Europe. Essays for Sir Geoffrey Elton on his 65th Birthday, London 1987, 289–310. 57 Heinz Schilling, Die Kirchenzucht im frühneuzeitlichen Europa in interkonfessionell vergleichender und interdisziplinärer Perspektive – eine Zwischenbilanz, in: Heinz Schilling (ed.), Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 16), Berlin 1994, 11–40. The best survey of this oft-trivialized topic is R. Po-chia Hsia, Social Discipline in the Reformation: Central Europe 1550–1750, London/New York 1989. Much the most important work for its theoretical yield is Philip S. Gorski, The Disciplinary Revolution: Calvinism and the Rise of the State in Early Modern Europe, Chicago 2003. 58 Wolfgang Reinhard, Was ist katholische Konfessionalisierung?, in: Wolfgang Reinhard/Heinz Schilling (eds.), Die katholische Konfessionalisierung. Wissenschaftliches Symmposion der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum und des Vereins für Reformationsgeschichte 1993 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 135), Münster 1995, 419–452. See now Wolfgang Reinhard, Glaube und Macht. Kirche und Politik im Zeitalter der Konfessionalisierung, Freiburg 2004. 59 Heinz Schilling, Calvinism and the Modern Mind, in: Civic Calvinism (note 33), 41, where he deftly quotes James Ussher to the same point. Ussher, of course, was much more than “an Irish churchman,” in Schilling’s phrase, for as archbishop of Armagh he was primate of the (Anglican) Church of Ireland. Schilling has rightly and often condemned the careless habit of marginalizing the activities of the churches and religion as though they were but functions of the state. It is worth reflecting on the fact that the confessions are the most durable and adaptable formations in the German-speaking world, where, by contrast, no state formed since the end of the Holy Roman Empire has survived longer than about sixty years. 60 See Heinz Schilling, Die Konfessionalisierung im Reich – Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland zwischen 1555 und 1620, in: Historische Zeitschrift 246 (1988), 1–45 (English: Confessionalization in the Empire: Religious and Societal Change in Germany between 1555 and 1620, in: Religion, Political Culture [note 22],

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shape European ethnic and national identities and played a major role in the formation of the European state system based on a balance-of-power.61

V. The widely accepted story of early modern confessionalization may be plotted as follows. The confessions were like three trains headed on parallel tracks for the same end station – modernity – but on offset schedules, so that they arrive and leave at each station in the same order: Calvinism first, followed by Lutheranism, and both trailed by Catholicism. All this seems new, though in some respects it merely recovers the inclusive and benevolent view of the confessions that Gotthold Ephraim Lessing expressed well over 200 years ago. “[T]he specific stages of improvement or worsening experienced by one [confession],” the Saxon literatus wrote, “soon occur in the other as well, as we have seen in the Reformation. Each of the mighty steps taken by the Protestants before the Catholics, was soon taken by the Catholics as well. The papacy’s influence on the state is now not less benevolent than that of the Protestant church. Indeed, if the latter were prevented from continuing to purify itself and expel all heterogeneous things, it will stand as far behind the papacy as it ever stood ahead.”62 The most remarkable feature of the confessionalization thesis is the inclusion of Roman Catholicism (Thesis II). The history of the reformation has always been a Protestant preserve, and even the terms “counterreformation” and “Catholic reformation” were Protestant coinages – both by pupils of Ranke – which Catholic historians resisted.63 The inclusion of Catholicism as a full ___________ 205–246); Heinz Schilling, Confessional Europe, in: Thomas A. Brady, Jr./Heiko A. Oberman/James D. Tracy (eds.), Handbook of European History, 1400–1600. Late Middle Ages, Renaissance, and Reformation, Leiden 1994–1995, vol. 2, 641–682. 61 Heinz Schilling, Nation und Konfession in der frühneuzeitlichen Geschichte Europas. Zu den konfessionsgeschichtlichen Voraussetzungen der frühmodernen Staatsbildung, in: Klaus Garber (ed.), Nation und Literatur im Europa der frühen Neuzeit (Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext 1), Tübingen 1989, 87–107; Heinz Schilling, Die Reformation und die Einheit Europas – die konfessionellen Identitäten als Wegbereiter von Partikularstaatlichkeit, in: Heiner Faulenbach (ed.), Standfester Glaube. Festschrift für J. F. G. Goeters, Bonn 1991, 37–46; Heinz Schilling, Konfessionalisierung und Formierung eines internationalen Systems während der frühen Neuzeit, in: Guggisberg, Reformation in Deutschland (note 1). 62 Gotthold Ephraim Lessing, Anmerkungen zu einem Gutachten über die Ietzigen Religionsbewegungen, in: Theologiekritische Schriften I und II (Werke, vol. 7), Darmstadt 1976, 715. My thanks to Michael O. Printy for this text. 63 John W. O'Malley, Trent and All That: Renaming Catholicism in the Early Modern Era, Cambridge, MA 2000, reviews the entire subject.

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partner in a triad of confessions represents at very least a recovery of Lessing’s optimism. Yet the confessionalization thesis expresses a very different view of the present and the future. If Lessing saw a benefit in the confessions’ competition with one another, the confessionalization thesis’ framers proclaim in word and deed the end of the reformation and confessional era. The reformation is over, and with it the deep culture of discrimination and antipathy that blossomed forth after Lessing’s day. “We have lost the Reformation,” Heinz Schilling sums up the situation, “ground up between the ‘intensified formation’ of the late Middle Ages on the one hand and the actual post-Reformation process of formation and modernization in the age of confessionalization on the other.”64 With the Reformation have gone “the idea of a special German contribution to the course of world history, […] [and] the idea of a monopolistic key role played by Protestantism on Europe’s path into the modern period.” Looking back over forty years of scholarship, the change appears dramatic. In the early phases, social historians of the reformation had sometimes been theologically literate, but they rarely dealt with religion as practice. While the confessionalization thesis did not entirely dispel this neglect, the inclusion of Catholicism (Schilling’s Thesis II) not only forced a recasting of the chronology of confessionalization,65 it also cast doubt on the adequacy of written confessions (in the sense of formal statements of doctrine to be professed) as the distinguishing mark of the confessions (in the other sense). No statement, including the Tridentine profession of faith, functioned for Catholics as the Confession of Augsburg did for Lutherans or the various Reformed confessions did for Calvinists. The more obvious differences were sensual and were to be seen, heard, and smelled. Once upon a time, a glance around and a few sniffs would tell a visitor whether a church were Catholic or Protestant. At this level there was ample reason to hold, as so many did, that the Protestant churches were the opposite of the Catholic church, one a faith and the other an anti-faith, though almost nothing of this near-universal antinomy, or the passions attached to it, survives in history as written today in the light of the confessionalization thesis. The further the confessionalization thesis is extended, the further it takes us from the great bulk of the sources, not to mention the near-universal early ___________ 64

Schilling, Profiles (note 3), 43–44. See Marc R. Forster, Catholic Revival in the Age of the Baroque: Religious Identity in Southwest Germany, 1550–1750, Cambridge 2001; Andreas Holzem, Religion und Lebensformen: katholische Konfessionalisierung im Sendgericht des Fürstbistums Münster 1570–1800 (Forschungen zur Regionalgeschichte 33), Münster 1996; Werner Freytag, Volks- und Elitenfrömmigkeit in der frühen Neuzeit: Marienwallfahrten im Fürstbistum Münster (Veröffentlichungen des Provinzialinstituts für Westfälische Landes- und Volksforschung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe 29), Paderborn 1991. For a larger perspective, see R. Po-chia Hsia, The World of Catholic renewal, 1540–1770, 2nd ed., Cambridge 2005. The dates commonly assigned to confessionalization, 1550 to 1650, hardly begin to cover the main phase of the Catholic reformation. 65

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modern belief that the “confessions” were in fact one true church against one or more false ones. Consequently, the principle of comparability contained in the confessionalization thesis tends to sacrifice, too much for some, understanding to explanation. The same is certainly not true of another approach, thinking about religion in terms of (especially popular) culture and worldviews. The great pioneer of this approach in the reformation field was Bob Scribner.66 Although he began, with characteristic brilliance, as an interpreter of the urban reformation, and in the mid-1970s – when confessionalization was still a gleam in Heinz Schilling’s and Wolfgang Reinhard’s eyes – Scribner published his classic studies on Erfurt and on Cologne.67 About the same time he turned from this kind of history to the study of ritual as a window onto worldviews. The study of ritual, he thought, opens to us “the pre-modern mentality, sacramentalism and magic.” Sacramentalism was “the belief that the sacred, non-material world could be present in, and experienced through, the profane and the material,” an attitude that went back through the Christian church into ancient times. Magic, while related to sacramentalism, differed from it in that magical acts were purely inner-worldly, while sacramental ones largely other-worldly.68 The study of ritual could nevertheless encompass both kinds of action, one regulated and official, the other unregulated and popular, two sectors of the same reality. Based on such reasoning, Scribner examined the cosmology and ritual repertory of the late medieval Catholic world in the German lands, to which popular Protestant practice and worldview could be considered a scaled-down adaptation but also an heir. In 1984 this line of inquiry yielded two superb studies that laid the foundations of most of his later work and inspired other historians to follow in his conceptual wake.69 Scribner was able to avoid the reductionist trap, because he construed sacramentalism and magic as constituting structures of the same popular culture, rather than, as the Protestant reformers had argued, one being a mask for the other. In his view they were linked by sacramentals ___________ 66 See Thomas A. Brady, Jr., Robert W. Scribner, A Historian of the German Reformation, in: Robert W. Scribner, Religion and Culture in Germany (1400–1800), ed. by Lyndal Roper (Studies in Medieval and Reformation Thought 81) Leiden 2001 (German: Religion und Kultur in Deutschland 1400–1800, ed. by Lyndal Roper, tr. by Wolfgang Kaiser [Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 175], Göttingen 2002, 21–40). 67 Not to mention his studies of literacy and images. His best work is anthologized in Robert W. Scribner, Popular Culture and Popular Movements in Reformation Germany, London 1987; and Scribner, Religion and Culture (note 66). 68 R. W. Scribner, Elements of Popular Belief, in: Religion and Culture (note 66), chap. 2. 69 R. W. Scribner, Cosmic Order and Daily Life: Sacred and Secular in Pre-industrial German Society, in: Popular Culture (note 67), 1–16; Ritual and Popular Religion in Catholic Germany at the Time of the Reformation, in: Popular Culture (note 67), 17–47.

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(functiones sacrae), objects, blessings, exorcisms, and consecrations similar to, though not defined as, sacraments.70 Such acts could flourish, Scribner thought, because of “the theological pluralism of the Middle Ages [which] contributed to the development of this gray zone of signs of holiness.”71 From here it was but a short step to placing acts and images at the center of medieval and early modern religious consciousness in particular and popular culture in general. In this Scribner found the right antidote to the long tyranny of the written word over popular religion. Few could read, fewer yet theologize, but all could see, hear, speak, touch, and smell.72 The new religious history made good headway in reformation studies during the later 1980s and early 1990s. In the fall of 1990, just days before the unification of the two Germanys, the Verein für Reformationsgeschichte and the Society for Reformation Research held a joint conference in Washington, D.C. In his paper the Tübingen historian Hans-Christoph Rublack warned his audience against views of the reformation that “proceeded one-dimensionally on the basis of ideas or religious consciousness,” because they inevitably lead to a kind of history “in which religion appears merely as a demonstration of national identities.”73 Rublack goes on to declare that today historians of theology and the churches must pay attention not only to high culture but also to popular culture and religion.

VI. Once the history of religion had pushed its way into the picture, it remained to trace the genesis of confessionalization – three lanes on one road – back into the history of the reformations’ first generation. On 7 July 1992 Heinz Schilling delivered his inaugural lecture at the Humboldt University in Berlin. Under the title, In the Beginning were Luther, Loyola, and Calvin – a Comparison Based on the Sociology of Religion and Historical Development, Schilling describes the transformation of the history of reformation and confessionalization in his time.74 He rejects the traditional glorification of the German reformation ___________ 70 He took the term and, in some measure the concept from Catholic sacramental theology. 71 R. W. Scribner, Perceptions of the Sacred in Germany at the End of the Middle Ages, in: Religion and Culture (note 66), 92–93. 72 R. W. Scribner, Perceptions of the Sacred in Germany at the End of the Middle Ages, in: Religion and Culture (note 66), 89. 73 Rublack, Reformation und Moderne (note 1), 18. Rublack had organized the second of three conferences on Reformed (1985), Lutheran (1988), and Catholic (1993) confessionalization. 74 Heinz Schilling, Am Anfang waren Luther, Loyola und Calvin – ein religionssoziologisch-entwicklungsgeschichtlicher Vergleich. Antrittsvorlesung 7.7.1992 an der

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as meaning “In the beginning was Luther,” against which recent German historical writing has set itself. “Freed from confessionalist interests and schooled in structuralist and comparative perspectives,” he continues, “in the 1970s a young generation of historians began, with radically broader horizons, the debate anew about Luther and the reformation turn in the sixteenth century. This time the debate was about not the special character of German history but European, even universal history; about not the particular history of churches and confessions but history as a whole or the history of society; about not the temporally restricted event of ‘the reformation’ but the place of religious discontinuities in the long-term transformation of emergent modernity in the sense of Max Weber or Norbert Elias.”75 The fruit of this transformation, Schilling declared, has been “a truly revolutionary shift in our picture of confessional traditions and their creators.” Whereas since the reformation Lutheranism, Calvinism, and Catholicism have been seen as rival communities of faith, “today the historians’ interest attaches not long principally to the differences among the individual confessions but to their structural and functional similarities.”76 This change can be seen not only in their internal developments, but also in the three confessions’ contributions to the cultural, psychological, social, and political foundations of the modern age. How deeply this change has affected Schilling himself is suggested by the fact that, following the introduction, his first subject is not a social group (burghers), political mentality (republicanism), or social agenda (ecclesiastical discipline), but the biographies of the three “founders” of confessions – Luther, Loyola, and Calvin. St. Ignatius Loyola, who here stands proxy as the founder of modern Catholicism, takes the middle place between the two Protestant reformers.77 Truly, looking back over 450 years of confessional rivalry in the German lands, in Schilling’s view we have reached, to borrow an American phrase, “the era of good feeling.”78 ___________ Humboldt-Universität zu Berlin (Öffentliche Vorlesungen 6), Berlin 1993. The lecture’s title echoes the Johannine turn of phrase in the opening sentence of Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1860. Bürgerwelt und starker Staat, Munich 1983, 11: “Am Anfang war Napoleon.” It was subsequently recycled by Schilling’s Humboldt University colleague, Heinrich August Winkler, Der Lange Weg nach Westen, 2 vols., Munich 2000, vol. 1, 1: “Am Anfang war das Reich.” 75 Schilling, Am Anfang (note 74), 3–4. 76 Schilling, Am Anfang (note 74), 4. 77 Needless to say, casting Loyola in this role flatters the Jesuits and may well irritate their Catholic critics. 78 The phrase refers to the national mood of the United States following what is called “the War of 1812,” when few contentious issues troubled American political life. The peak came in 1820 with the re-election of President James Monroe by all but one electoral vote.

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As good as his word, Schilling levels the theological and teleological discriminations among these three figures and the confessions they represent, topics which have occasioned oceans of print. Once our gaze is no longer distorted by a “compulsion to make false contrasts,” he says, “quickly appear astonished common characteristics,” above all that they appear not as signposts toward the future or back toward the past, but as contemporaries who shared fully in their own ages.79 Each was heir to late medieval sensibilities and purposes; each underwent a time of psychic unsettlement and uncertainty and remained, after his conversion, an unsure, driven man, who found no peace in the gospel; each struggled with the Devil and his demons in most unmodern fashion; and each – not only Luther, as German national historiography would have it – possessed a deep religious creativity. Schilling fellowship of three “founders” overcomes even the most formidable barrier, their theologies. “The Jesuit Jesus-theology corresponds to the [Protestant] reformationǥs theology of Christ alone,” he says, “in that Luther fashioned a theology of the Word – Christ – and Loyola a theology of the person – Jesus.”80 And so it goes, as Schilling marches through the other great topoi of (Luther’s) reformation theology, sola scriptura and sola fide. The outcome, Schilling declares, is that “today Luther and Loyola can no longer be thought of as opposites,” for they proceed from an almost identical ground of faith, though they took separate roads to renewal of the church. From the latter alone – shared faith but incompatible paths of reform – “developed the different, yes, radically opposed confessional churches.”81 Luther and Loyola represent no longer two principles of belief but – Schilling cites Hans Urs von Balthasar – two ways of seeing, that of the prophet and that of the priest. Finally, Schilling deals with the central theme of nineteenth-century interpretations of the reformation, the respective significance of the confessions for modern European civilization.82 The Scottish polymath Thomas Carlyle expressed his classic view about “the three great elements of modern civilization, Gun powder, Printing, and the Protestant religion.”83 Until recently Protestant culture was filled with versions of the succession narrative – Catholicism is medieval, Protestantism is modern – and folkloric (i.e., uncritical) history holds to such notions. Just about 100 years ago, Troeltsch, a scholar of immense ___________ 79

Schilling, Am Anfang (note 74), 5–6. Schilling, Am Anfang (note 74), 7. 81 Schilling, Am Anfang (note 74), 8. 82 See Introduction: Renaissance and Reformation, Late Middle Ages and Early Modern Era, in: Handbook of European History (note 60), vol. 1, xiii-xxiv, for an overview of the leading interpretations of this era. 83 Thomas Carlyle, The State of German Literature, in: Critical and Miscellaneous Essays, Boston 1860, vol. 1, 32. 80

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learning, great insight, and exemplary humanity, and a Christian at odds with all of the censors of his own Protestant tradition, founded the structure of his greatest work squarely on the succession narrative.84 By no means a bigot, he nonetheless could not apprehend Catholicism in any way other than as a medieval relic. “With all sympathy for pious Catholics and appreciation for Catholic scholarship,” he wrote in 1897 apropos the Spahn Affair, “we must side with the state and modern culture” against “the Catholic religious and moral idea with its moral bondage, its permanent immaturity, and its attachment of religious life to material, fabulous assumptions about divine church institutions, sacramental miracles, and inspired scriptures.”85 Schilling is aware that the condemnation of Catholicism as reactionary with respect to Protestantism also condemns a semi-Catholic Lutheranism as reactionary with respect to Calvinism. On precisely this point his Thesis I (Lutheranism and Calvinism) and Thesis II (Protestantism and Catholicism) come together. In closing the circle he began with his Habilitationsschrift, Schilling declares his deep skepticism “against the clichéd contrast of a democratic Calvinism, on the one hand, and an authoritarian Lutheranism or an autocraticabsolutist Catholicism, on the other.”86 The “functional equivalence of Protestant and Catholic confessionalization” is revealed in their “tireless attacks on deviation from fixed articles of faith […], on laxity in meeting ecclesiastical and religious obligations, on strife, violence, and dishonor, on immoderation, demonstrative luxury, and excess in gambling, dance, and or pleasures; against sexual delicts, fornication, and adultery; on drunkenness, uncleanliness, and idleness; and on all the other great and small deviations from the norms of sixteenth-century confessionalization’s newly defined code of morals and behavior.”87 All this becomes clear, Schilling says, “once we lay aside the cliché of a fundamentally backward Catholicism” and with it the notion that “only specific, allegedly ‘progressive’ forms of Protestantism unleashed a modernizing dy___________ 84

Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (Gesammelte Schriften 1), Tübingen 1912 (English: The Social Teachings of the Christian Churches, tr. by Olive Wyon, London 1931). The chapters are chronologically arranged to treat the Ancient Church (chap. 1), Medieval Catholicism (chap. 2), and Protestantism (chap. 3), but he does not deal with Catholicism since 1500. 85 Ernst Troeltsch, Voraussetzungslose Wissenschaft, in: Ernst Troeltsch, Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (Gesammelte Schriften 2), Tübingen 1913, 183–192, here at 185, 189. The Spahn Affair arose from the Prussian government’s appointment of Martin Spahn, son of a prominent Center Pary politician, to a chair at the University of Strasbourg. See Christoph Weber, Der “Fall Spahn” (1901). Ein Beitrag zur Wissenschafts- und Kulturdiskussion im ausgehenden 19. Jahrhundert, Rome 1980. 86 Schilling, Am Anfang (note 74), 10. 87 Schilling, Am Anfang (note 74), 11.

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namic.” 88 The three confessions are three forms of a single religion – not an inappropriate idea for a historian of Christianity. Schilling’s inaugural address of 1992 represents not a final station but only a pause for reflection in the progress of a new reformation history toward a future no one can predict.89 On one end, as now seems certain, it has to be adapted for the era after 1650, and one can imagine it being developed further, perhaps down to 1800 or even to 1914. But it also needs to be tied more securely to late medieval Christendom, for, as Heiko A. Oberman has argued, the sixteenth-century reformations are unintelligible without a solid knowledge of the fourteenth and fifteenth centuries.90 If it is to grow into a genuine paradigm, the confessionalization thesis must expand and evolve rapidly, or it will be impeded and eventually swamped by accumulated qualifications necessitated by its export into histories far from its native soil in central Europe.91 In addition, the thesis must weather the inconsistencies and criticisms of concepts on which it depends – secularization, modernization – not to mention the reefs of paradox on which, eventually, most theories founder. “Once freed of the compulsion to make a uniform synthesis,” remarks Hans-Christoph Rublack, “historical significance may change. This happened with printing, when its power to form public opinion faltered at the bounds of illiteracy but liberated the literate for a new kind of interiority. It happened with preaching, which seized a permanent place at the center of worship but, coming from the mouths of a clergy of urban professionals, remained alien to the religious life of the peasants.”92 In every sort of context, Rublack muses, wherever the reformation can be grasped as a united force, it failed to set in motion a universal process of development.93 One need not have read Hegel’s words on the cunning of reason to realize the challenge this trait of history poses. If one day the confessionalization thesis succumbs to conceptual entropy, it will nonetheless leave us with a permanent gain, because it has played a major ___________ 88

Schilling, Am Anfang (note 74), 12–13. See, among others, Jörg Deventer, “Confessionalization” – Useful Theoretical Concept for the Study of Religion, Politics, and Society in Early Modern East-Central Europe, in: European Review of History – Revue européenne d’histoire 11 (2004), 403– 425; Brady, Confessionalization – The Career of a Concept (note 48), 1–20. 90 See Thomas A. Brady, Jr./Katherine G. Brady/Susan C. Karant-Nunn/James D. Tracy (eds.), The Work of Heiko A. Oberman: Papers from the Symposium on his Seventieth Birthday, Leiden 2003. 91 See Ute Lotz-Heumann, Die doppelte Konfessionalisierung in Irland: Konflikt und Koexistenz im 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (Spätmittelalter und Reformation, new series 13) Tübingen 2000; Serhii Plokhy, The Cossacks and Religion in Early Modern Ukraine, Oxford 2001. 92 Rublack, Reformation und Moderne (note 1), 31–37. 93 Rublack, Reformation und Moderne (note 1), 38. 89

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role in our understanding and configuration of an early modern Europe in a new way. Like a strong patient when the crisis is past, David Herlihy wrote, from the late medieval depression Europe “emerged […] healthier, more energetic, and more creative than before.”94 It grew strong during the “long fifteenth century,” as Heiko Oberman called it, a time when “not only the stars but the whole realm of human society and nature could be investigated, as it were, with new eyes.”95 Wedged between the Middle Ages and the modern era of our minds, early modern was not merely an age of no longer and not yet. In the house of history – the historical discipline – it now possesses, to parody Virginia Woolfe, a room of its own. In the design of that room in its present colors, Heinz Schilling has played a leading role.

___________ 94 David Herlihy, The Black Death and the Transformation of the West, ed. by Samuel K. Cohn, Jr., Cambridge, MA 1997, 81. 95 Heiko A. Oberman, The Two Reformations: The Journey from the Last Days to the New World, ed. by Donald Weinstein, New Haven 2003, 8. See also Heiko A. Oberman, The Long Fifteenth Century: In Search of Its Profile, in: Thomas A. Brady, Jr. (ed.), Die Deutsche Reformation Zwischen Spätmittelalter Und Früher Neuzeit (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 50), Munich 2001, 1–18.

Confessio Augustana – Confessio Tetrapolitana: Die Bekenntnisse von 1530 in ihrem Zusammenhang Bernd Moeller Die Konfessionalisierung wäre nichts ohne die Konfessionen, diese aber wären nichts ohne die Reformation. Über diese elementare Gegebenheit muß der Historiker der Konfessionalisierung, dem unser Buch gewidmet ist, nicht belehrt werden, vielleicht aber der oder jener andere, der von der Tendenz zur Vereinerleiung, die diesem Forschungsparadigma anhaftet, allzusehr in Versuchung geführt werden könnte. Die Besonderheit des Zeitalters kam nicht zuletzt darin zum Ausdruck, daß in seiner Frühzeit eine Fülle neuer Bekenntnisse entstand, ganz überwiegend auf Seiten der reformatorischen Bewegung. Das Zeitalter, das die „Konfessionen“ zur Folge hatte, zeigte seine Vitalität in diesen „Bekenntnissen“. Selten in der Kirchengeschichte trat so konzentriert wie in dieser Ausnahmesituation der frühen Reformation in Erscheinung, daß das Christentum „seinem Wesen nach eine bekennende Religion“ ist1. Gottfried Seebaß hat das in einem beachtlichen Aufsatz, der erstmals 1980 erschienen ist, herausgestellt2. Er gibt dort einen Überblick über jene zahlreichen Texte, in denen in den 1520er Jahren „die zentralen Aussagen des von Luther über der akademischen Arbeit an der Heiligen Schrift entdeckten Evangeliums in eine zusammenfassend lehrhafte und lehrbare Form“ gebracht wurden3. Zu den verschiedensten Anlässen und Zwecken und in ganz unterschiedlicher literarischer Gestalt formuliert, waren diese Texte doch jeweils auf das eine Ziel gerichtet, die neu erkannte christliche Wahrheit in ihrem Kern und als Ganze zu übermitteln und damit Überzeugung sowohl auszudrücken als auch zu erwecken. Seebaß beginnt seine Reihe mit den Loci theologici, dem Fundamentallehrbuch Melanchthons von 1521, nennt Predigtanweisungen und Visitations-Richtlinien, Disputationsthesen und Katechismen, aber auch Luthers Glaubensbekenntnis ___________ 1 Hans Frhr. v. Campenhausen, Das Bekenntnis im Urchristentum, in: Zs. f.d. neutestamentl. Wiss. 63 (1972), 210–253 (210) = Ders., Urchristliches und Altkirchliches, Tübingen 1979, 217–272 (217). 2 Gottfried Seebaß, Die reformatorischen Bekenntnisse vor der Confessio Augustana, in: Kirche und Bekenntnis, hrsg. v. Peter Meinhold, Wiesbaden 1980, 26–55 = G. S., Die Reformation und ihre Außenseiter, Göttingen 1997, 11–30. 3 EBd. 28/12.

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im Abendmahlsstreit sowie die kirchenpolitischen Grundsatzerklärungen schon aus Anlaß der Aussicht auf ein Nationalkonzil 1524 und dann vor allem zur Begründung der Protestation von 1529. Jeweils findet man in diesen Texten so etwas wie ein Drängen der Protestanten nach dem Bekenntnis, ein offenkundiges Bedürfnis danach, Rechenschaft abzulegen, die zielgerichtet und in der Regel summarisch und knapp, sei es belehrend, sei es kämpferisch, im Kollektiv oder individuell, jedenfalls aber vor der Öffentlichkeit ihren Ausdruck fand. Im Gebiet des Reiches kamen diese Bestrebungen auf ihren Höhepunkt und zugleich zu einem gewissen Abschluß beim Reichstag von Augsburg 15304. Die Vorgänge der Bekenntnisbildung dort sind, so spektakulär sie waren und so berühmt sie sind, gleichwohl in mancher Hinsicht noch unaufgehellt und verdienen es, noch einmal wieder neu beschrieben und interpretiert zu werden. Mit seiner Ankündigung an die Reichsstände, bei der Versammlung solle „ains yeglichen gutbeduncken, opinion vnd maynung“ über die religiöskirchlichen Streitfragen erörtert werden5, forderte der Kaiser jenes Bedürfnis der Protestanten, so möchte man sagen, geradezu heraus. Obgleich das durch den Wortlaut des Ausschreibens gar nicht zwingend nahegelegt war, sahen sich beinahe alle evangelischen Stände dazu veranlaßt, zur Vorbereitung des Reichstags Texte nach der erprobten Art auszuarbeiten, Apologien, Geschichtserzählungen oder Darlegungen der Lehre, in denen sie die reformatorischen Neuerungen, die sie eingeführt hatten, zu rechtfertigen suchten6 – eine „suma unsers hailigen cristenlichen gloubens und dorus gevolgter handlung“, wie die Reichsstadt Konstanz den Inhalt ihres Memorandums umschrieb7. Der geschichtliche Prozeß, in dem sich im Verlauf des Frühjahrs 1530 aus dieser bunten Sammlung nach und nach – nicht ohne den Einfluß Johann Ecks8 – jene Schriften, die in Kursachsen vorbereitet worden waren, als die überlege___________ 4

Über die Fortsetzung im französischsprachigen Raum seit den späteren 1530er Jahren zuletzt Robert M. Kingdon, Confessionalism in Calvinǥs Geneva, in: ARG 96 (2005), 109–116, der freilich von der älteren Geschichte keine Notiz nimmt. Vgl. hierzu bereits Bernd Moeller, Zwinglis Disputationen II.Teil, in: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte / Kanonistische Abteitung 91 (1974), 213–364 (340–344: Genf; 344–348: Lausanne). 5 So im Reichstagsausschreiben vom 21. Januar 1530: Karl Eduard Förstemann (Hrsg.), Urkundenbuch zu der Geschichte des Reichstages zu Augsburg im Jahre 1530 Bd. 1, Halle 1833, 8. 6 Sie sind größtenteils bei Wilhelm Gussmann (Hrsg.), Quellen und Forschungen zur Geschichte des Augsburgischen Glaubensbekenntnisses Bd. 1/2, Leipzig/Berlin 1911, zusammengestellt. 7 Bei Johannes Ficker, Das Konstanzer Bekenntnis für den Reichstag zu Augsburg 1530, in: Theologische Abhandlungen. Festgabe f. Heinrich Julius Holtzmann, Tübingen/Leipzig 1902, 243–297 (249). 8 Seine 404 Artikel sind vom 14. März 1530 datiert: Gussmann (wie Anm. 6) Bd. 2, Kassel 1930, 99–151.

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nen heraushoben und zur Grundlage eines Gemeinschaftstextes, zur Confessio Augustana, wurden, der schließlich von einer Mehrheit der Stände, die 1529 protestiert hatten, unterschrieben werden konnte, ist in ausgedehnten Forschungen untersucht und einigermaßen geklärt worden9. An der Textgeschichte des Bekenntnisses selbst, vor allem am Wechsel der Vorredenentwürfe und des ‚Beschlusses‘, läßt sich im einzelnen nachzeichnen, wie jene Schrift, die schon früh Bekenntnus unsers Glaubens hieß10, doch erst allmählich ihr Profil fand und zu der politisch selbstbewußten, theologisch durchgebildeten Glaubenserklärung wurde, die wir kennen11. Unter anderem ergab sich im Verlauf dieses Entstehungsprozesses die Zweiteilung des Textes, das Nebeneinander von Aussagen zur Theologie und zur Kirchenreform mit zwar gleichem Gewicht, jedoch unterschiedlicher Bewertung. Als Adressaten und Gesprächspartner des Bekenntnisses faßten dessen Urheber in dieser Entstehungsphase eindeutig Kaiser und Reich sowie die katholischen Stände ins Auge. Nur von daher lassen sich die Unstimmigkeiten erklären, die die Schrift enthält, insbesondere die Divergenzen, die zwischen ihrer lateinischen und deutschen Fassung bestehen12. Diese Divergenzen ergaben sich im Zuge der Entstehungsgeschichte offenbar vor allem aus Ungleichmäßigkeiten in der Bearbeitung der einzelnen Artikel. Ob sie von den Verfassern der Texte bemerkt oder gar gewollt worden sind, mag eine offene Frage sein. Kein Zweifel jedoch kann daran bestehen, daß beide sprachlichen Versionen des Bekenntnisses „ernst gemeint“ waren, also als gleich authentisch angesehen wurden; denn sie wurden beide gleichmäßig unterzeichnet13. Offenbar erlaubte der Zweck, jenen Adressaten den reformatorischen Standpunkt darzulegen, eine gewisse Sorglosigkeit im Blick auf den Wortlaut des Textes. Vor ihnen mußte die evangelische Lehre ja nicht definiert werden. So war diese Sorglosigkeit Bekenntnismerkmal. Noch war die Notwendigkeit späterer Zeiten, ___________ 9 Maßgebliche kritische Ausgabe in: Bekenntnisschriften der evangelischlutherischen Kirche, Göttingen 198610 (im folgenden: BSLK), 35–137. – Zusammenfassung der Forschung: Gottfried Seebaß, Apologie und Confessio. Ein Beitrag zum Selbstverständnis des Augsburgischen Bekenntnisses, in: Bekenntnis und Einheit der Kirche, hrsg. v. Martin Brecht/Reinhard Schwarz, Stuttgart 1980, 9–21 = G. S., Außenseiter (wie Anm. 2) 31–44. 10 In der Handschrift Na: BSLK 83d, 32. Dann auch in der von Gregor Brück verfassten, endgültigen Fassung der Vorrede: EBd. 45, 31f. Ferner 83d, 18; 134, 33/136, 17. 11 Vgl. dazu Bernd Moeller, Augustana-Studien, in: ARG 57 (1966), 76–95; Wilhelm Maurer, Historischer Kommentar zur Confessio Augustana Bd. 1, Gütersloh 1976, 39ff.; Seebaß, Apologie (wie Anm. 9). 12 Vgl. dazu Moeller, Augustana-Studien (wie Anm. 11), 90f. 13 Dieser Tatbestand erledigt, wie mir scheint, alle Diskussionen und Spekulationen über diese Frage, die in späterer Zeit angesichts hierdurch ausgelöster dogmatischjuridischer Verlegenheiten aufgebrochen sind und manchmal bis in die Gegenwart fortdauern. Vgl. dazu Moeller (wie Anm. 11), 92f.

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Augsburgische Konfessionsverwandte von anderen Reformationsanhängern abzugrenzen14, nicht aktuell. Lediglich an einer Stelle, im Abendmahlsartikel15, kann man eine gewisse Vorwegnahme dieser Zukunft konstatieren. Bekanntlich enthält der Artikel, neu gegenüber seinen Vorarbeiten, eine – wenn auch vorsichtig formulierte – damnatio der Gegenlehr (eine improbatio der secus docentes). Innerhalb der Confessio Augustana ist dies (abgesehen von der Verwerfung der ‚Wiedertäufer‘ in Artikel 9) die einzige Aussage, die sich explizit gegen Kontrahenten der eigenen Zeit richtet – an Zwingli und dessen Anhänger zu denken, lag und liegt nahe. Damit ist das Bekenntnis an dieser einen Stelle nicht – oder vorsichtiger und besser gesagt: nicht nur – dem Kaiser und der katholischen Partei zugewandt. Auffallend ist nun freilich, daß gerade hier die Unstimmigkeiten innerhalb des Textes besonders groß sind; die lateinische und deutsche Fassung des Artikels sind theologisch kaum miteinander in Einklang zu bringen16. Er war, so könnte man sagen, besonders sorglos formuliert und folglich dazu prädestiniert, in späterer Zeit die größten Schwierigkeiten zu erwecken. In der Situation von Augsburg war es möglicherweise Rücksichtnahme auf den Landgrafen Philipp von Hessen, daß die lateinische Version dogmatisch undeutlicher und damit weitherziger gehalten war als die deutsche17. Aber warum nur sie? Die Confessio Tetrapolitana, das zweite Bekenntnis des Augsburger Reichstags, ist in vieler Hinsicht von der Confessio Augustana abhängig und ohne diese nicht zu denken18. Freilich ist sie auf eine gänzlich andere Weise entstanden. ___________ 14 Vgl. hierzu zuletzt Armin Kohnle, Theologische Klarheit oder politische Einheit? Die Frage der Geschlossenheit der evangelischen Stände im Jahrzehnt nach dem Augsburger Religionsfrieden, in: Glaube und Macht, hrsg. von Enno Bünz/Stefan Rhein/ Günter Wartenberg, Leipzig 2005, 69–86. 15 Artikel 10: BSLK 64f. 16 Wilhelm Maurer, Zum geschichtlichen Verständnis der Abendmahlsartikel in der Confessio Augustana, in: Festschrift für Gerhard Ritter, Tübingen 1950, 161–209; Moeller, Augustana-Studien (wie Anm. 11) 91f. Anm. 83; Leif Grane, Die Confessio Augustana, Göttingen 19802, 91f. Anm. 4; Gunther Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche Bd. 1, Berlin/New York 1996, 640–650. 17 Allerdings könnte es sich nur um allgemeine Rücksichtnahme handeln, da der Landgraf erst seit dem 20. Juni an den Beratungen über das Bekenntnis beteiligt war, als dieser Text schon feststand: Maurer, (wie Anm. 16), 193. Schon früher hatte er Bucers sog. Ratschlag A zur Abendmahlsfrage (BDS [wie Anm. 18] Bd. 3, 323–338) an Melanchthon und Brenz übergeben, die ihn jedoch am 11. Juni zurückgewiesen hatten: EBd. 322. 18 Die maßgebliche, kritische Textedition findet sich in: Martin Bucers Deutsche Schriften (im folgenden: BDS) Bd. 3, Gütersloh/Paris 1969, 35–185. In der neuen Ausgabe der reformierten Bekenntnisschriften (Eberhard Busch u.a. [Hrsg.], Reformierte

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Ihre Initiatoren, die Reichstagsgesandten der Stadt Straßburg, Mathis Pfarrer und Jakob Sturm, die zunächst ohne Theologen nach Augsburg gereist waren, vertraten, als sie Anfang Juni 1530 ihren heimischen Rat dann doch um die Entsendung Martin Bucers oder Wolfgang Capitos ersuchten19, zunächst die Meinung, diese sollten für eine Disputation der evangelischen Prädikanten mit Johann Eck20 oder für ein „verhör“ vor Kaiser und Reich zur Verfügung stehen21. Von einer Straßburger Bekenntnisschrift war auch zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Rede. In der Reichsstadt waren ebenfalls, wie überall sonst bei den Protestanten, für die in Augsburg anstehende Rechenschaft eine ganze Reihe schriftlicher Unterlagen mit zum Teil erheblichem Umfang ausgearbeitet worden – Memoranden zum Abendmahlsstreit und zum Konzil, ein juristisches Gutachten, eine Chronik der Geschehnisse mit theologischen Einschaltungen –, in denen dem Reichstagsausschreiben folgend die in Straßburg vertretenen „opinionen“ dargelegt wurden22. Offenbar galten diese Texte den Gesandten noch Anfang Juni für die Verantwortung vor Kaiser und Reich als genügend. Erst nach der Eröffnung des Reichstags am 20. Juni scheint ihnen endgültig klargeworden zu sein, daß mit diesen Schriftstücken in Wahrheit nichts Rechtes anzufangen war. Drei Ereignisse dürften diese Einsicht bewirkt haben: Erstens die veränderte Aufgabenstellung für den Reichstag, die der Proposition zu entnehmen war – nun wurden ‚Schriften‘ über den Konflikt „zu Teutsch vnnd latein“ gefordert23; sodann die Fertigstellung und Verlesung der Confessio Augustana, also eines den neuen Normen bereits entsprechenden Textes24, der jedoch von den Straßburgern nicht unterschrieben werden konnte; schließlich die Ankunft der beiden Prädikanten Bucer und Capito25 und deren Eingreifen in ___________ Bekenntnisschriften Bd. 1/1, Neukirchen-Vluyn 2002; im folgenden: RBS) ist, von Wilhelm H. Neuser bearbeitet, eine Version des Bekenntnisses, der deutsche Drucktext von 1531, wiedergegeben (456–494). 19 Hans Virck (Hrsg.), Politische Correspondenz der Stadt Straßburg im Zeitalter der Reformation (im folgenden: PC) Bd. 1, Straßburg 1882, Nr. 728 (2. 6.). 20 PC Nr. 726 (28.5.); zugleich übersandten sie Ecks 404 Artikel. 21 PC Nr. 728 (2.6.); 733; 737; 741 (16. 6.). 22 Größtenteils in BDS Bd. 3 ediert. 23 Förstemann (wie Anm. 5) 309. – Die Straßburger Gesandten meldeten diese Neuigkeit am 21. Juni an ihren Rat: PC Nr. 746. 24 Man darf annehmen, daß in dieser Weiterführung des Ausschreibens zur Proposition ein Entgegenkommen des Kaisers gegenüber jenen Protestanten, die der Kurfürst von Sachsen repräsentierte, lag; denn man forderte das ein, was diese, wie man in der Umgebung des Kaisers gewußt haben dürfte, bereits nahezu fertiggestellt hatten, und bereitete so für die günstige politische Position, in die sie dadurch gerieten, den Boden: Vgl. Moeller, Augustana-Studien (wie Anm. 11) 81 Anm. 23. 25 Sie trafen am 23. und 26. Juni in Augsburg ein: Bucer an Zwingli, 5./6.7.1530, in: Martin Bucer, Briefwechsel/Correspondance Bd. 4, Leiden u.a. 2000, Nr. 306 (S. 119).

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die Meinungsbildung am Reichstagsort. Die Schlüsselszene für das Folgende aber war wohl der Versuch der Straßburger Gesandten, zur Unterschrift unter das lutherische Bekenntnis ohne den Abendmahlsartikel zugelassen zu werden. Dieses Ersuchen wurde ‚von den Fürsten‘ glatt abgelehnt – ein demütigender Vorgang, über den wir allerdings nur indirekt und folglich nur ungenau unterrichtet sind26. Es muß daher eine offene Frage bleiben, ob den Straßburgern bei ungeteilter Zustimmung zur Confessio Augustana möglicherweise die Unterschrift gestattet worden wäre27. Doch mag es sich damit verhalten wie es will – jedenfalls kamen sie, als ihnen der Zutritt zu der zum Einheitsbekenntnis herangewachsenen sächsischen Schrift versperrt wurde, in Zugzwang, sie riskierten, ins Zwielicht und in bedrohliche Isolation zu geraten. Wollten sie der kaiserlichen Anforderung in der veränderten Lage entsprechen, mußten sie auch ihrerseits eine ‚Schrift‘ in zwei Sprachen vorlegen. In ihr aber konnten sie die bisherige lokale Beschränkung ihrer Rechtfertigung nicht fortführen, sie mußten mit der Confessio Augustana in der allgemein-christlichen Fundierung ihrer Position gleichziehen und zudem ihren Standpunkt in der Abendmahlsfrage klarstellen. Und schließlich waren sie dazu genötigt, für dieses Projekt auch ihrerseits möglichst viele Unterschriften gleichgesinnter Reichsstände zu sammeln. Nach Lage der Dinge aber war dieses ihr Schriftwerk unverzüglich zu produzieren und von Grund auf neu. So entstand, gewissermaßen durch den Kaiser und die Lutheraner provoziert, das Programm der Confessio Tetrapolitana. Tatsächlich ist dieses Programm in sehr kurzer Zeit, in höchstens einer Woche, sowohl konzipiert als auch realisiert worden. Am 23. Juni, also noch vor der Übergabe der Confessio Augustana, erklärten die Straßburger ihre Absicht darzulegen, „was ihre Prediger lehren“28; am 27. Juni, einen Tag nach der Ankunft des zweiten Verfassers Capito, und nachdem es ihnen gerade eben erst gelungen war, ein Exemplar der lutherischen Bekenntnisschrift zu erlangen, bekräftigten sie diese Absicht ihrem heimischen Rat gegenüber29. Schon am ___________ 26

Justus Jonas an Luther, Augsburg 30.6. (?) 1530: Argentinenses ambierunt aliquid, ut ex-cepto articulo sacramenti susciperentur, sed principes noluerunt gravibus causis (Luthers Werke Weimarer Ausgabe Briefwechsel [im folgenden : WA Br.] Bd. 5, Weimar 1934, Nr. 1618, 27–29; vgl. Gussmann [wie Anm. 6] Bd. 1/1, 381; PC Nr. 752 [S. 465 – 28. 6.]). Die Initiative dürfte nach dem 21. Juni, an dem sie von den Gesandten angekündigt wurde, stattgefunden haben: PC Nr. 746 (S. 458). 27 Auch wissen wir nicht, ob sie die lateinische Version des Abendmahlsartikels mit ihrer ihnen entgegenkommenden Tendenz (s. o. bei und mit Anm. 17) eigens kennengelernt haben. 28 So berichteten die Gesandten von Ulm ihrem Rat an diesem Tage: Gussmann (wie Anm. 6) Bd. 1/1, 189. 29 PC Nr. 750 (S.463): Es wird allein die lere in unser predicanten schrift angezeigt werden.

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Tag darauf kündigten sie die Fertigstellung des Textes an30, am 30. Juni lag er vor und wurde an diesem oder am nächsten Tag – „30 bis jnn 40 bletter“, wie der Memminger Gesandte Hans Ehinger nach Hause berichtete31, – zum Zweck der Werbung weiterer Unterzeichner verlesen32. Das reformatorische „Drängen zum Bekenntnis“ hatte die Straßburger erfaßt, in ihrem Quartier muß in diesen Tagen hektische Aktivität geherrscht haben. Die Arbeitsleistung der beiden theologischen Verfasser, die hinter diesen Daten steht, war groß und erscheint vollends erstaunlich, wenn man bedenkt, daß es ihnen für ein so umfassend angelegtes Werk nicht bloß an einem vorbereiteten Text, sondern sogar an Vorarbeiten weitgehend fehlte. Gewiß, unter den aus Straßburg mitgebrachten Unterlagen befand sich ein Schriftstück, der sog. Ratschlag D33, in dem in der Form einer apologetischen Geschichtserzählung mit eingefügten theologischen Darlegungen die Reformation in der Stadt geschildert und gerechtfertigt wurde und dessen Spur sich, wenn auch weniger im Wortlaut als in der Gedankenführung, in dem fertigen Bekenntnis an vielen Stellen, ja fast in jedem Artikel, finden läßt. Doch war dieser Text eigentlich ganz anders konzipiert als das Bekenntnis, und das galt für die übrigen Schriftstücke, die den Verfassern zur Hand waren, erst recht. Was andererseits die Konzeption anbetrifft, so konnte zwar die Confessio Augustana den Straßburgern zum Vorbild dienen und hat ihnen diesen Dienst auch geleistet. Gleichwohl aber wichen sie von ihr sowohl im ganzen wie in den Einzelheiten immer wieder – man möchte sagen: fast überall – ab. Offenkundig waren sie peinlich darum bemüht, ihre Schrift dem Schwesterbekenntnis gegenüber als eigenständig erscheinen zu lassen. Und in der Tat ist ihnen das gelungen. Man wird, insgesamt gesehen, das Vierstädtebekenntnis als ein durchaus originelles und beachtliches Werk bezeichnen dürfen, das die konfessorische Literatur der frühen Reformation charakteristisch bereichert34. Wie die Confessio Augustana bot die neue Schrift, den geschichtlichen Aufriß verlassend, ihre inhaltlichen Aussagen in einer Abfolge von Artikeln dar und erhob sie damit ins Grundsätzliche. Der Zweiteilung der Confessio Augu___________ 30

EBd. Nr. 751. Friedrich Dobel, Memmingen im Reformationszeitalter nach handschriftlichen und gleichzeitigen Quellen Bd. 4, Augsburg 1878, 37. 32 EBd. sowie PC S. 465 Anm. 2. 33 In BDS Bd. 3, 339–392 in zwei Versionen und mit umfangreichem Nachweis der Vorarbeiten veröffentlicht. 34 Vgl. zum folgenden James M. Kittelson, Confessio Tetrapolitana, in: Theol. Realenzykl. Bd. 8, Berlin/New York 1981, 173–177; Marc Lienhard, Bucer et la Tétrapolitaine, in: Bulletin de la Société de lǥHistoire du Protestantisme Français 126 (1980), 269–286; ders., Kirche und Theologie in Straßburg zwischen 1527 und 1531, in: Wolfgang Musculus und die oberdeutsche Reformation, hrsg. v. Rudolf Dellsperger u.a., Berlin 1997, 68–87. 31

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stana in theologische Hauptartikel, in denen „kein befindlicher Ungrund oder Mangel“ herrschen sollte35, und solche zu praktischen Fragen, „von welchen Zwiespalt ist“36, folgte das Straßburger Bekenntnis hingegen nicht, und damit auch nicht der Insinuation, der Konflikt beschränke sich auf die letzteren. Martin Bucers Urteil, das Bekenntnis der Lutheraner sei „perquam lenis“37, mag sich auf diese Differenz beziehen, doch ist zugleich zu konstatieren, daß die Straßburger auch ihrerseits keineswegs schroff, sondern durchaus werbend auftraten, viel ausführlicher und oft auch umständlicher argumentierten und knappen, prägnanten Aussagen, wie sie sich in der Confessio Augustana doch häufig finden, eher aus dem Weg gingen. Insgesamt dürfte ihr Text umfangreicher sein als derjenige der Lutheraner. Hierin kommt wohl der kürzere und einfachere Entstehungsprozeß, der die Konzentration beeinträchtigte, zur Geltung, aber doch auch ein Strukturmerkmal: Fast scheint es, die Straßburger Schrift schritte wie ein Traktat voran, dem die Überschriften der Artikel erst nachträglich eingefügt sind. Durch das ganze Werk zieht sich ein zusammenhängender Gedankengang, und dem Mangel an Prägnanz in der einzelnen Formulierung steht ein Vorsprung an systematischer Stringenz und Klarheit des Ganzen gegenüber. In der Religion haben sie, so erklären die Straßburger in der Vorrede des Bekenntnisses, „nichts begyrlichers“ gesucht, als „der lautern Leer vnnsers haylannds, die alain das Leben gipt“, zu folgen38. So beginnen sie ihren Text mit der Berufung auf die Bibel, die auch weiterhin – anders als in der Confessio Augustana – in nahezu jedem Artikel ausführlich zitiert wird, wie übrigens auch an Kirchenväterzitaten kein Mangel herrscht. Der eigentliche Inhalt des Bekenntnisses wird sodann in drei großen, jeweils thematisch zusammengehörigen Komplexen über Rechtfertigung und Glauben (Art. 3–5, lateinisch 3–7), christliches Leben (Art. 6–12, lateinisch 8–14) und Kirche (Art. 13–22, lateinisch 15–24) abgehandelt39. Der Text schließt – vor einem weitläufigen Schlußwort40 – mit einem Artikel Von den weltlichen Oberkaiten41.

___________ 35

BSLK 83d, 17f. EBd. 84. 37 An Zwingli, 5./6.7.1530 (wie Anm. 25). Bucer setzt freilich hinzu, es sei gleichwohl magis mascula quam ferant pontificij. Ähnlich hatten schon Sturm und Pfarrer am 27. Juni dem Straßburger Rat berichtet, die Lutheraner hätten alle ding uf das miltest dargethan: PC Nr. 750. 38 BDS 39, 1; 7. 39 Neuser (wie Anm. 18) 449 sieht eine abweichende Dreigliederung: Der rechtfertigende Glaube; Der Gottesdienst der Gemeinde; Die Obrigkeit. 40 BDS 162–185. 41 EBd. 162f. 36

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Das Ganze ist – wie ansatzweise auch die Confessio Augustana – als ein Gespräch der unterzeichnenden städtischen Reichstagsgesandten mit dem Kaiser stilisiert, der mehrfach direkt angesprochen wird. Ja, im Vorwort bringen die Verfasser sogar ihre Hoffnung zum Ausdruck, ihn „vermittels des hayligen gaists“ nicht bloß von der Unschuld, sondern auch der Wahrheit ihrer Position überzeugen zu können42. An diesen Stellen zeigt die Confessio Tetrapolitana einen Zug von Treuherzigkeit und Zutraulichkeit, als appelliere sie an den Kaiser in dessen Eigenschaft als Stadtherrn, was damit korrespondiert, daß die Schrift immer wieder städtische Denkmuster zu erkennen gibt – von der eigentümlich akzentuierten Kirchenkritik, die im Blick auf Frömmigkeitsübungen und kirchliche Institutionen vorrangig nach dem „Nutz des nechsten“ fragt43, bis zu der bekannten reformatorischen Sentenz der kommunalen Ethik, daß „burgerliche satzung ain Yeder so vil fleyssiger hallten württ, souil er ain besserer Crist vnnd im glouben Reicher ist“44. Daß der Kirchenbegriff der Confessio Tetrapolitana ganz von der Gemeinde der Glaubenden her konzipiert ist, versteht sich ebenso wie die Definition der Geistlichen als „diener Christi“ und die Zusammenfassung ihrer Aufgabe in der Predigt45. Neu gegenüber der Confessio Augustana ist der 22. Artikel, über die Bilder in der Kirche46. Hingegen wird die Frage des Laienkelchs, der die Confessio Augustana einen eigenen Artikel widmet, in der Confessio Tetrapolitana auffälligerweise nicht erörtert, und das gilt auch, genauso wie in der Confessio Augustana, für die heiklen Themen Ablaß und Papst. Auch das Straßburger Bekenntnis hätte sich Luthers Vorwurf des ‚Leisetretens‘47 zugezogen48. Die große Eile, in der das Vierstädtebekenntnis abgefaßt werden mußte, hat in der Überlieferung deutliche Spuren hinterlassen. Von Äußerlichkeiten wie dem Fehlen von zwei Artikeln in der lateinischen Originalhandschrift sowie Konfusionen bei der Zählung der Artikel abgesehen ist auffällig vor allem, daß uns auch von diesem Bekenntnis kein einheitlicher Text vorliegt. Ja in diesem Fall gehen die verschiedenen Fassungen sogar noch sehr viel weiter auseinander als im Fall der Confessio Augustana49. Auf weite Strecken scheinen die lateinische und die deutsche Version in einer gewissen Selbständigkeit nebenei___________ 42

EBd. 41, 19–29. EBd. 109; vgl. 67; 89; 93f. 44 EBd. 163. Ähnlich 113. 45 EBd. 99ff. 46 EBd. 150–161. 47 Luther an Jonas, 21. 7. 1530: WA Br. Bd. 5, Nr. 1657, 8. 48 Die Annahme von Neuser (wie Anm. 18) 449f., ein weiteres, durchgehendes Merkmal der CT sei ihre Orientierung an den in Ecks 404 Artikeln erhobenen Einwänden, überzeugt mich nicht. 49 Verzeichnis der Varianten bei Förstemann (wie Anm. 5) Bd. 2, Halle 1835, 21–70. 43

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nander entstanden zu sein, und das ist auch hier, ebenso wie bei der Confessio Augustana, nicht noch einmal korrigiert worden50. In interessanter Weise bestätigt das Straßburger Bekenntnis damit den Befund, den die Confessio Augustana bietet: Da auch in seinem Fall beide Textfassungen gleichmäßig unterzeichnet und beide, wie in der Proposition gefordert, dem Kaiser übergeben worden sind51, hat man anzunehmen, daß für die Verantwortlichen nicht auf dem Wortlaut des Textes das Gewicht lag und sich auf dessen Präzision und Einheitlichkeit kein besonderes Augenmerk richtete; auch er war ziemlich „sorglos“ formuliert. Ebenso wie das sächsische war auch das oberdeutsche Bekenntnis den Außenstehenden – Kaiser und Reich – zugewandt, zur Klärung der innerprotestantischen Diskussionen dagegen nicht bestimmt. Allerdings bestand in dieser Hinsicht auch hier eine Unstimmigkeit, die der Confessio Tetrapolitana von den Umständen ihrer Entstehung her anhaftete und die noch elementarer war als im Fall der Confessio Augustana. Gewissermaßen war prekär, daß die Straßburger Schrift überhaupt existierte; denn vor Kaiser und Reich dokumentierte sie die Trennung der Stadt von der Mehrheit der Protestanten52. Daß dies ein Makel war, war ihren Urhebern hinlänglich bewußt, und ihnen war klar, daß er nur durch Ansehnlichkeit ihres Produktes überdeckt werden konnte. Gerade deshalb betrieben sie die Fertigstellung ihres Werkes mit solchem Eifer53 und begannen, als diese sich abzeichnete, sofort mit ihren Verhandlungen um den Beitritt anderer, der Reformation zugeneigter Stände. Indessen fällt auf, daß sie sich hierfür offenbar nur an Reichsstädte wandten; es scheint, daß die Straßburger Politiker wie die Theologen bewußt und exklusiv auf ein ‚Städtebekenntnis‘ abzielten und ihrem Text wie der ganzen Aktion damit – unbeschadet der Tatsache, daß auch die Confessio Augustana von Reichsstädten unterzeichnet worden war – sein eigenes Profil zu geben suchten. Keineswegs ___________ 50 Johannes Ficker, Die verschiedenen Fassungen des Vierstädtebekenntnisses 1530/31, in: Glaube und Ethos. Festschrift für Georg Wehrung, Stuttgart 1940, 229– 253. 51 Johannes Ficker, Die Originale des Vierstädtebekenntnisses und die originalen Texte der Augsburgischen Konfession, in: Geschichtliche Studien für Albert Hauck, Leipzig 1916, 240–251. 52 Im Schlußwort der CT stellen die Verfasser selbst die Frage, ob es ihrer Schrift neben der CA bedurft hätte. Zur Antwort berufen sie sich auf ihren Gehorsam dem Begehren des Kaisers gegenüber, der die Sache damit dester grundtlicher vnnd bas verstehen könne – ein eher rhetorisches Argument: BDS 165, 4–37. Auch nehmen sie die Gelegenheit wahr, sich mit der Konzilsforderung der CA zu solidarisieren. 53 Am 28. Juni berichteten die Gesandten nach Hause von ihrer Sorge, man könnte nach der Übergabe der Confessio Augustana ihren Text beschwerlich annemen, als ob der etwas zu spet komme: PC Nr. 751 (S. 464). Ähnlich am 1. Juli der Memminger Gesandte Hans Ehinger: Dobel (wie Anm. 30) 37.

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hingegen beschränkten sie sich bei dieser Werbung auf die ihnen nahestehenden „oberdeutschen“ Städte. Vielmehr reichte der Radius zunächst viel weiter, und bis nach Weißenburg im Nordgau sowie Frankfurt am Main fanden sie auch Interessenten54. Besonders wäre ihnen, so liest man in den Straßburger Akten zwischen den Zeilen, an der Beteiligung der Reichsstadt Ulm gelegen gewesen, die sich dem Ansinnen jedoch auf eine eigene Weise entzog55. Daß sich am Ende nur drei geringere Reichsstädte aus der Nähe – Konstanz, Lindau und Memmingen – zur Unterschrift entschlossen, entsprach nicht den Straßburger Wünschen. Der mangelhafte Erfolg ihrer Werbung hatte einen wesentlichen Grund darin, daß die Verfasser ihren Text allerdings an einer Stelle nun doch der „innerprotestantischen Diskussion“ geöffnet hatten, im Artikel über das Abendmahl (Nr. 1856). Hier hatten Bucer und Capito ihren Sonderweg erläutert und gründlich, kritisch und in großer Ausführlichkeit ihre von Luther abweichende Position dargelegt, und das war für sie nach der Logik des ganzen Projekts konsequent, ja geradezu zwingend. Dieser Artikel begründete gewissermaßen das Daseinsrecht des Bekenntnisses, befreite dessen Entstehung vom Makel und bildete, so gesehen, das Zentrum des ganzen Buches. Zugleich aber spiegelte er, indem er auf ihn reagierte, den Artikel 10 der Confessio Augustana mit seinen Verwerfungen57. An dieser Stelle, an der sie beide ihren Blick von den eigentlichen Adressaten abwandten, beim Thema Abendmahl, waren die beiden Augsburger Bekenntnisse gleichsam ineinander verschränkt. Für die Confessio Tetrapolitana galt das jedenfalls in ihrer ursprünglichen Fassung. Indessen waren es nicht nur entferntere Städte, die sich der Straßburger Logik verweigerten58, sondern auch jene nahen Freunde, die zur Unter___________ 54 Zu Weißenburg vgl. Gottlob Egelhaaf, Deutsche Geschichte im sechzehnten Jahrhundert Bd. 2, Stuttgart 1892, 159 mit Anm. 2 (nach einer Biberacher Quelle). Zum Ganzen der Werbe-Aktion: Gussmann (wie Anm. 6) Bd. 1/1, 41; 381f. Anm. 32. 55 Die Ulmer Gesandten in Augsburg, zu denen der führende Politiker der Stadt, Bernhard Besserer, gehörte, übermittelten dem Kaiser, ohne ihre Kollegen zu unterrichten, in denselben Tagen („in den letzten Tagen des Juni“: Gussmann [wie Anm. 6] Bd. 1/1, 191) ein eigenes Memorandum, in dem sie jedoch, wie Sturm und Pfarrer nach Straßburg berichteten, nichts der leer oder enderung halb angezeigt sonder allein uf ein concilium getrungen und dasselb begert haben: PC Nr. 758 (S.471 – 12. 7. 1530). Der Memminger Gesandte beurteilte das als eine Art Verrat: Dobel (wie Anm. 30) 38f.; vgl. auch 43. Der knappe, von den Gesandten selbst verfaßte Text dieser Ulmer Eingabe ist bei Gußmann (wie Anm. 6) 324f. abgedruckt. EBd. 177ff.; 497ff. findet sich die beste, eingehende Schilderung der vielgewandten Ulmer Reichspolitik in der ersten Jahreshälfte 1530. 56 Der ursprüngliche Artikel: BDS 122/124/126/128–134. 57 S.o. 58 Vgl. den interessanten Bericht über die Verlesung und Beratung vom 30. Juni oder 1. Juli (s. oben bei und mit Anm. 29 und 30), den die Reichstagsgesandten der Stadt Frankfurt am 5. Juli an ihren heimischen Rat sandten. Dort teilen sie mit, sie hätten

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schrift bereit waren. Es erwies sich, daß sich selbst diesen das Straßburger Konzept, ein „Städtebekenntnis“ mit einer distinkten Darlegung der „oberdeutschen“ Abendmahlsauffassung zu vereinen, nicht vermitteln ließ. Vor allem von den Gesandten der Reichsstadt Konstanz wurde der Einwand erhoben, der von Bucer und Capito vorgelegte Abendmahlsartikel sei „weitloeffig oder dispotierlich, mit maynungen, darin der zwyspalt, so sich zwuschen den gelerten … erhept, angezogen vnd zu vßlöschung des luthers halltung allerlay yngefurt worden“, was doch in ihrer Stadt „vß beschaidenhait bißher vmbgangen“ worden sei59. Die Partner sprachen die Sorge aus, hieraus könnten Verdruß, Verschärfung des öffentlichen Streits und „vnuberwintlich vngnad“ beim Kaiser erwachsen, und dies alles, nachdem im Bekenntnis der Fürsten, der Confessio Augustana, vom Abendmahl nur „gar kurtz melldung gethan“ sei60 – eine Anspielung auf die bereits geschilderte Ambivalenz des Artikels 10 der Confessio Augustana61. Daß dort, kalkuliert oder zufällig, den Verwerfungen zum Trotz, die innerreformatorische Differenz verundeutlicht war, sollte nach dem Willen der Konstanzer nun auch in die Confessio Tetrapolitana eingeführt werden, auch diese sollte auf die interne Konfrontation verzichten und sich ungeteilt auf die Rechenschaft dem Kaiser gegenüber konzentrieren. Damit zielte der Einspruch auf eine wesentliche Veränderung des Straßburger Bekenntnisses. Und er hatte Erfolg. Die Verfasser zogen den inkriminierten Artikel alsbald zurück und lieferten einen neuen, der verhältnismäßig knapp und ohne größere Polemik das Sakrament beschrieb und dafür warb, es „einfälltigs glaubenns, hindan gestellt alle menntschliche fallsche glosen“, zu empfangen, wie es „der herr eingesetzt“ habe62. Ganz offenkundig ist, daß ihnen diese Korrektur schwerfiel. Vor allem Bucer hat in der Folge immer wieder seinen Unmut darüber kundgegeben, insbesondere in Briefen an seine oberdeutschen und Schweizer Freunde63. Aber er beugte sich der politischen Raison, für die, wie sich denken läßt, vor allem Sturm und Pfarrer eingetreten sein dürften. ___________ nicht unterschrieben, da biß anher bey vns deß sacraments halben ire opinion nit geprediget, schätzen jedoch den Text selbst als fast wol gestelt vnd etwas subtiler vnd zugtiger dan der fursten ein: Friedrich Wilhelm Schirrmacher (Hrsg.), Briefe und Acten zu der Geschichte des Religionsgespräches zu Marburg 1529 und des Reichstages zu Augsburg 1530, Gotha 1876, 407. 59 So eine (ungedruckte) Relation der Konstanzer Gesandten an den Rat, zitiert in BDS 21f. Nach Dobel (wie Anm. 30) 39 stimmte der Lindauer Gesandte zu. 60 EBd. 122/124, Anm. 49. In diesem Zusammenhang begegnet, soweit ich sehe, erstmals die Bezeichnung bekandtnus auch für die CT. 61 S. oben bei und mit Anm. 17. 62 BDS 127, 6–12. Hier klingt das Konstanzer Bekenntnis für den Reichstag an, wo es heißt, dort feiere man das Abendmahl nach der einfaltigen ynsatzung Christi: Ficker, Konstanzer Bekenntnis (wie Anm. 7) 248. 63 Aufschlußreich bereits das Schreiben der beiden Verfasser an die übrigen Straßburger Prediger vom 7.7.1530, wo das Dilemma, in dem sie sich befanden, in seiner

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Das Vierstädtebekenntnis wurde durch diesen Eingriff, was es doch eigentlich nicht sein sollte – eine Art Doublette der Confessio Augustana mit etwas abweichendem Profil und unterschiedlicher, aber nur schwer benennbarer Akzentuierung. Jedoch war dies die Bedingung, unter der es überhaupt ins Leben treten konnte. So wurde es in dieser Form unterzeichnet, am 8. bzw. 9. Juli zwar nicht, wie erhofft, dem Kaiser selbst, aber doch wenigstens dem kaiserlichen Vizekanzler Balthasar Merklin, der seit kurzem auch Bischof von Konstanz war, überreicht64 und in der Folge, wie die Confessio Augustana, einer Confutatio unterzogen65. Diese aber wurde am 25. Oktober der Verlesung vor versammeltem Reichstag und in Gegenwart des Kaisers gewürdigt, die drei Stunden gedauert haben soll66. Wenigstens bei dieser Gelegenheit, bei der Verwerfung, wurde dem Bekenntnis zuerkannt, woran seinen Urhebern so sehr lag – eine gewisse Ranggleichheit mit der Confessio Augustana. In dieser Form hat die Confessio Tetrapolitana dann auch ihre weitere geschichtliche Wirkung entfaltet, die für eine kurze Zeit spektakulär, aufs Ganze gesehen aber bescheiden war. In der Anfangsphase des Schmalkaldischen Bundes im Winter 1530/31 schien es einige Wochen lang, als könnte das oberdeutsche Bekenntnis, von kursächsischen Politikern ins Spiel gebracht, eine theologische Einigung des gesamten kirchlichen Protestantismus tragen, also mit Einschluß der Schweizer, was sich indessen bald als Illusion erwies67. Von dieser Episode blieb jedoch erhalten, daß Kursachsen die der Confessio Tetrapolitana anhängenden Stände künftig als mit den Anhängern der Confessio Augustana gleichberechtigt gelten ließ68. So fanden sie ohne zuviel Umstände ___________ ganzen Komplexität angedeutet ist: Multa oportuit dicere mollius, quam non modo nos sed etiam nostri legati maluissent, si nostro tantum nomine fuisset exhibenda, cum propter Saxonum confessionem plus nimio mollem, tum propter tres illas urbes …, quorum legati aegre tamen nobiscum subscripserunt. Articulus de eucharistia immutatus est, etsi ea immutatione magis ipsis imposuerimus socijs quam hostibus: Bucer, Briefwechsel (wie Anm. 25) Bd. 4, Nr. 308 (S. 128f.). Ähnlich Bucer an N.N. (Farel?), 29.12.1530: EBd. Bd. 5, Leiden u.a. 2004, Nr. 366 (S. 121f.); an Berchtold Haller, Anfang Jan. 1531: EBd. Nr. 370 (S. 162); an die Predigerversammlung in Memmingen, 20.2.1531: EBd. Nr. 393 (S. 282f.). 64 Die Szene ist anschaulich beschrieben in PC Nr. 758 (S. 469 – 12.7.1530). Vgl. Gussmann (wie Anm. 6) Bd. 1/1, 41f.; 383 Anm. 33. 65 Alfred Paetzold, Die Konfutation des Vierstädtebekenntnisses, Leipzig 1900. 66 EBd. LVI – LVIII. 67 Walther Köhler, Zwingli und Luther Bd. 2, Gütersloh 1953, 251 (nach PC Bd. 1, Nr. 861 [S.569]); 273 (nach PC Bd. 2, Straßburg 1887, Nr. 31 [S. 28f.]). 68 Vgl. z. B. die Instruktion des Kurfürsten Johann von Sachsen an seine Gesandten für die Friedstands-Verhandlungen in Schweinfurt, 20.3.1532, wo es heißt, man habe sich seit dem Dissens auf dem Augsburger Reichstag nunmehr verglichen, und so sei nun dafur zu halten, das die gemelten und andere stete unserer confession auch verwanth weren: Deutsche Reichstagsakten Jüngere Reihe (im folgenden: RTA) Bd. 10/3, Göttingen 1992, 1188f.

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ihren Platz im Schmalkaldischen Bund69 und konnten den politischen Gewinn, der hierin lag, genießen70. Auch kann man den Abendmahlsartikel der Confessio Tetrapolitana als eine Station auf dem Weg zur Wittenberger Konkordie von 1536 deuten71. Der Beitritt zur Confessio Augustana, der der Reichsstadt Straßburg verweigert wurde, als sie deren Abendmahlsartikel verschmähte72, wurde ihr zugestanden, als sie ihren eigenen Abendmahlsartikel mitbrachte, so könnte man den Vorgang zusammenfassen. Damit ist die Confessio Tetrapolitana an dieser Stelle aus der Geschichte der Reformation nicht wegzudenken. Danach allerdings ist ihr nur noch in den Unterzeichnerstädten eine gewisse Geltung zugemessen worden, am längsten in Straßburg selbst, wo sie, nach förmlicher und feierlicher Bestätigung durch den Rat im Jahre 153473, in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts als ein Lehrdokument der Opposition gegen das inzwischen lutherische Kirchenwesen fungierte und noch einmal heftige Kontroversen auslöste, vielleicht die heftigsten in ihrer Geschichte74. Förmlich widerrufen wurde das Vierstädtebekenntnis, soweit ich sehe, nie. Confessio Augustana und Confessio Tetrapolitana in ihrem Zusammenhang – was hat es damit auf sich? Es ist offenkundig, daß die beiden reformatorischen Bekenntnisse des Augsburger Reichstags von 1530, so ähnlich sie einander waren, eine völlig unterschiedliche Geschichte hatten. Während die Confessio Augustana in der Zukunft zentrale Bedeutung erlangte und sich diese bis zu unserer Gegenwart trotz oder gerade wegen der enormen Mutationen, die ihr zuteil wurden – zur Kurzdogmatik, zum Rechtsbuch, zur Integrations- wie auch zur AbgrenzungsUrkunde –, bewahrte, nimmt die Confessio Tetrapolitana in der Bekenntnisgeschichte des Protestantismus keinen besonders prominenten Platz ein. Diese Differenz hängt, wie mir scheint, weniger mit den Inhalten der beiden Schriften zusammen als mit den Ambivalenzen, die ihre Entstehung kennzeichneten. Von der ursprünglichen Zielsetzung ihrer Urheber, vor Kaiser und Reich Rechenschaft über den evangelischen Glauben abzulegen, sind beide Bekenntnisse in ___________ 69

Ein wichtiges Dokument auf diesem Weg war ein Gutachten Bucers, ebenfalls im Vorfeld der Schweinfurter Kommissionsverhandlungen, in dem der Verfasser nachwies, daß der Abendmahlsartikel der CA der warheyt, die wir jnn vnserer Confession dieses artickels halb nach inhalt vnnd vermöge götlicher schrifft bekennet haben, gleich vnnd gemess sei: BDS Bd. 4, Gütersloh-Paris 1975, 419. 70 So figurieren die vier Tetrapolitana-Städte unter den Mitunterzeichnern des Nürnberger Anstands: RTA Bd. 10/3, Nr. 549 (S. 1511–1517). 71 Vgl. Jan Rohls, Theologie reformierter Bekenntnisschriften, Göttingen 1987, 16. 72 S.o. bei und mit Anm. 26. 73 Ratsbeschluß vom 4.3.1534: Quellen zur Geschichte der Täufer Bd. 8 (Elsass II. Teil), hrsg. v. Manfred Krebs/Hans Georg Rott, Gütersloh 1960, 285f. (Nr. 518). 74 Dazu jetzt Irene Dingel, Concordia controversa. Die öffentlichen Diskussionen um das lutherische Konkordienwerk am Ende des 16. Jahrhunderts, Gütersloh 1996, passim.

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ihren Abendmahlsartikeln abgewichen, das lutherische, indem es sich von der innerreformatorisch dissentierenden Position (uneindeutig) distanzierte, das oberdeutsche, indem es diese Position (in seiner Endfassung ebenfalls uneindeutig) verfocht. Auf beiden Seiten waren in dieser Sache „Bekenner“, also solche Theologen und Politiker, die überzeugt waren, die jeweilige Position in der Abendmahlsfrage müsse – und sei es in abgemilderter, verschleierter Form – auf dem Reichstag zur Geltung kommen, maßgebend und erfolgreich tätig. Unter diesen Umständen waren die Straßburger und ihre Freunde freilich von Anfang an im Hintertreffen. Zumal den altgläubigen Adressaten gegenüber konnte ihre Schrift, das Votum einer Minderheitengruppe, der der Ruch des Radikalismus anhing, nur wenig Überzeugungskraft entfalten, sie traf hier auf eine verhärtete Front. Wurde schon die Confessio Augustana von den Repräsentanten des Reiches und der alten Kirche nur mürrisch entgegengenommen, so die Confessio Tetrapolitana erst recht. Es bedurfte bei den Politikern der altgläubigen Partei keiner besonderen Bosheit oder Raffinesse, um ihnen die Maxime Divide et impera nahezulegen. Indessen ist es den Entwicklungen im weiteren Verlauf des Reichstags zuzuschreiben, daß die Resonanz, die dem Vierstädtebekenntnis auf der Ebene des Reiches zuteil wurde, gleichwohl insgesamt harmlos blieb. Aber auch auf längere Sicht war die geschichtliche Bedeutung der Confessio Tetrapolitana nicht sehr groß. Ihr Beitrag zur Ausbildung und Festigung der evangelischen Identität in der Stadt Straßburg und in den übrigen oberdeutschen Städten blieb eher bescheiden. Zur „Konfessionalisierung“ trug dieses „Bekenntnis“ kaum etwas bei, eine „Konfession“ der oberdeutschen Protestanten begründete es nicht. Hierin wirkte sich auch aus, daß dem Vierstädtebekenntnis – seiner theologischen Qualitäten unerachtet – die markanten, tiefgründigen oder aufreizenden Texte fehlten. Es taugte nicht recht zum Symbol, und so waren seine lehrhaften Wirkungen ebenfalls begrenzt, wie auch dogmatische oder juridisch-politische Zwecke kaum erfüllt wurden. Die Confessio Tetrapolitana blieb, wie schon im Kontext ihrer Entstehung, so auch in ihrer geschichtlichen Wirkung, ein Zwittergebilde.

Luther und Calvin – eine Reformation1 Thomas Kaufmann

I. Eine historiographische Annäherung an das Verhältnis der beiden wirkungsmächtigsten protestantischen Theologen des 16. Jahrhunderts, zwischen denen es niemals einen direkten persönlichen oder brieflichen Kontakt gegeben hat, wird sich der komplexen Voraussetzungen des Themas anzunehmen haben. Denn die unterschiedlichen Ergebnisse, die die einschlägige Literatur zum Thema „Luther und Calvin“2 produziert hat, bestätigen in ihrer Weise, daß die ___________ 1 Abkürzungen folgen dem von Siegfried Schwertner zusammengestellten Abkürzungsverzeichnis der Theologischen Realenzyklopädie, Berlin, New York 21994. Ansonsten bedeuten: BAO= Brief und Akten zum Leben Oekolampads [QFRG 10/19], Leipzig 1927/34; Bcor= Martin Bucer, Correspondance, hrsg. v. J. Rott u.a., Leiden 1979ff; CO= Joannis Calvini Opera quae supersunt omnia, hrsg. v. G. Baum/E. Kunitz/ E. Reuss, Braunschweig 1887ff [CR], ND 1964; CSA= Calvin-Studienausgabe, hrsg. v. E. Busch/A. Heron/Chr. Link/P. Opitz/E. Saxer/H. Scholl, Neukirchen 1994ff; DBETh= Bernd Moeller (Hrsg.), Deutsche Biographische Enzyklopädie der Theologie und der Kirchen, 2 Bde, München 2005; Herminjard= A.L. Herminjard (Hrsg.), Correspondance de Reformateurs dans le Pays de langue française, Genf, Paris 1866, ND 1965 ; Köhler, Bibl.= Hans-Joachim Köhler, Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts, Teil I: Das frühe 16. Jahrhundert (1501–1530), Tübingen 1991ff; MBW= H. Scheible (Hrsg.), Melanchthons Briefwechsel. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977ff; Schwarz= R. Schwarz (Hrsg.), Johannes Calvins Lebenswerk in seinen Briefen, 3 Bde., Neukirchen 1961ff. 2 Vgl. etwa Wilhelm Niesel, Calvin und Luther, in: Reformierte Kirchenzeitung 81 (1931), 195f; weitere ältere Literatur verzeichnet Karl Schottenloher, Bibliographie zur deutschen Geschichte im Zeitalter der Glaubensspaltung 1517–1585, Bd. 1–7, Leipzig/ Stuttgart 1932–1966, Nr. 12070–12072; 53180; 53192; vgl. auch: A. Zahn, Calvins Urteile über Luther. Ein Beitrag zur Lutherfeier aus der reformierten Kirche Deutschlands, in: Theologische Studien aus Württemberg 4 (1883), 183–211; D. Nauta, Calvin and Luther, in: Ders., Opera minora. Kerkhistorische verhandelingen over Calvijn en de geschiedenis van de Kerk in Nederland, Kampen 1961, 13–19; August Lang, Luther und Calvin, in: Ders., Reformation und Gegenwart, Detmold 1918, 72–87; ders., Die Quellen der Institutio von 1536, in: EvTh 3 (1936), 100–113; Peter Meinhold, Calvin und Luther, in: Lutherische Monatshefte 3 (1964), 264–269; W. Nijenhuis, Der ökumenische Calvin: Calvin, Luther und das Luthertum, in: Nederlands Theologische Tijdschrift 34 (1984), 191–212; Joachim Rogge, Themen Luthers im Denken Calvins, in: Wilhelm H. Neuser (Hrsg.), Calvinus Servus Christi. Die Referate des Internationalen Kongresses

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methodischen Vorentscheidungen die Resultate präjudizieren. Der lange Schatten älterer deutungskultureller Interpretationsperspektiven ist bei dem Thema „Luther und Calvin“ allenthalben wahrnehmbar, gleichviel, ob man mit Herman Selderhuis in bezug auf den sogenannten „theozentrischen Charakter von Calvins Theologie“ und seine „Theologie des Kreuzes“ zu dem Ergebnis kommt, Calvin sei ein „guter Schüler“3 Luthers gewesen oder man auf der Linie der religionssoziologischen Typologisierungen Max Webers und Ernst Troeltschs4 mit Heiko A. Oberman5 die fundamentale Differenz zwischen der personal in Luther und Calvin repräsentierten, substantiell mittelalterlichen lutherischen Staatsreformation einerseits und der in die „neue Welt“ weisenden calvinistischen Flüchtlings- und Dissenterreformation andererseits betont. Eine wesentliche Grundfrage, die sich der älteren Forschung bei jeder Verhältnisbestimmung von Luther und Calvin zumindest implizit stellte, war die nach der Beziehung der Reformation zur Neuzeit bzw. nach den jeweiligen „Modernisierungspotentialen“ der einzelnen Konfession. Diese Diskussion hat sich unter den Impulsen der Konfessionalisierungsforschung nachhaltig verschoben bzw. aufgelöst. Gleichwohl sind wissenschaftsgeschichtliche Reminiszenzen um des Verständnisses insbesondere der kirchen- und theologiepolitischen Positionierungen willen hilfreich: Während die stärker auf die disjunktiven Momente unhintergehbar differenter theologischer Ansätze oder „Centraldogmen“ fokussierte Tradition vermittlungstheologischer protestantischer Dogmengeschichtsschreibung, Symbolik und Konfessionskunde, wie sie von Alexander Schweizer6, Karl Bernhard Hundeshagen7 oder Matthias Schnek___________ für Calvinforschung vom 25. bis 28. August 1986 in Debrecen, Budapest 1988, 53–71; Ernst Walter Zeeden, Das Bild Martin Luthers in den Briefen Calvins, in: Ders., Konfessionsbildung [Spätmittelalter und frühe Neuzeit 15], Stuttgart 1985, 222–239; instruktiv auch: ders., Calvins Verhalten zum Luthertum, in: Ebd., 240–258; Walther Köhler, Dogmengeschichte als Geschichte des christlichen Selbstbewusstseins, Bd. 2: Das Zeitalter der Reformation, Zürich 1951, 70ff; passim; Gottfried Wilhelm Locher, Grundzüge der Theologie Zwinglis im Vergleich mit denjenigen Martin Luthers und Johannes Calvins, in: Ders., Huldrych Zwingli in neuer Sicht, Zürich/Stuttgart 1969, 173– 274; Heiko A. Oberman, Zwei Reformationen. Luther und Calvin. Alte und neue Welt, Berlin 2003. 3 Herman J. Selderhuis, Gott in der Mitte. Calvins Theologie der Psalmen, Leipzig 2004, 273f. 4 Vgl. dazu zuletzt: Wolfgang Schluchter/Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.), Asketischer Protestantismus und der „Geist“ des modernen Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch, Tübingen 2005. 5 Oberman, Zwei Reformationen, wie Anm. 2. 6 Vgl. bes.: Die protestantischen Centraldogmen, 2 Bde., Zürich 1854–1856; vgl. über ihn: RGG4, Bd. 7, 2004, 1072; BBKL 9, 1995, 1212–1215; DBETh 2, 2005, 1242. 7 Vgl. bes.: Der deutsche Protestantismus, seine Vergangenheit und seine heutigen Lebensfrage im Zusammenhang mit der gesamten Nationalentwicklung, Frankfurt 3 1850; vgl. über ihn: Thomas Nipperdey, Carl Bernhard Hundeshagen. Ein Beitrag zum Verhältnis von Geschichtsschreibung, Theologie und Politik im Vormärz, FS Hermann

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kenburger8 ausgearbeitet wurde, von der Vorstellung einer legitimen Weiterentwicklung protestantischer Theologie unter den Bedingungen der Moderne ausging und insofern grundlegende theologische Unterschiede zwischen Luther und Calvin im Bewußtsein ihrer Historizität anerkennen konnte, wurzelt die die basalen theologischen Gemeinsamkeiten zwischen Luther und Calvin betonende Deutungstradition in den theologiepolitischen Formierungsdebatten des frühen 20. Jahrhunderts und erhielt vor allem im Zeichen des sogenannten Kirchenkampfes des „Dritten Reiches“ eine spezifische Ausprägung. Gegenüber der liberalprotestantisch konnotierten Leitbegrifflichkeit des Protestantismus9, der in der provozierenden Weiterentwicklung Ernst Troeltschs mittels der Unterscheidung zwischen Alt- und Neuprotestantismus Luther und Calvin gleichermaßen der dezidiert vormodernen religionskulturellen Formation des Altprotestantismus zuordnete, zugleich aber die relativ modernitätsaffineren Momente des Calvinismus gegenüber dem hoffnungslos „mittelalterlichen“ Luthertum betonte10, exponierte Karl Holl den Reformationsbegriff in neuer Weise, und zwar dahingehend, daß er ihn primär von der frühen Theologie Luthers her bestimmte11, Calvin aber durchaus in bisher unbekannter Manier in eine be-

___________ Heimpel, Bd. I, [VMPIG 36/I], Göttingen 1971, 369–409; TRE 15, 1986, 701–703; RGG4, Bd. 3, 2000, 1958; DBETh 1, 2005, 686f.8 Vergleichende Darstellung des lutherischen und reformierten Lehrbegriffs, postum hrsg. v. Eduard Güder, 2 Bde, Stuttgart 1855; ders., Vorlesungen über die Lehrbegriffe der kleineren protestantischen parteien. Aus dessen Nachlaß hrsg. v. Karl Bernhard Hundeshagen, Frankfurt/M. 1863; über Schneckenburger vgl. RGG3, Bd. 7, 2004, 942; DBETh 2, 2005, 1208f. 8 Vergleichende Darstellung des lutherischen und reformierten Lehrbegriffs, postum hrsg. v. Eduard Güder, 2 Bde, Stuttgart 1855; ders., Vorlesungen über die Lehrbegriffe der kleineren protestantischen Kirchenparteien. Aus dessen Nachlaß hrsg. v. Karl Bernhard Hundeshagen, Frankfurt/M. 1863; über Schneckenburger vgl. RGG3, Bd. 7, 2004, 942; DBETh 2, 2005, 1208f. 9 Vgl. nur: Johannes Wallmann, Protestantismus I, in: RGG4, Bd. 6, 2003, 1727– 1733; Christian Albrecht, Historische Kulturwissenschaft neuzeitlicher Christentumspraxis. Klassische Protestantismustheorien in ihrer Bedeutung für das Selbstverständnis Praktischer Theologie [BHTh 114], Tübingen 2000; Friedrich Wilhelm Graf, Art. Protestantismus II, in: TRE 27, 1997, 551–580. 10 Vgl. bes. Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, jetzt in: Ernst Troeltsch, Kritische Gesamtausgabe Bd. 8: Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906–1913), hrsg. von Trutz Rendtorff/Stefan Pautler, Berlin/New York 2001; ders., Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, neu ediert in: Ernst Troeltsch, Kritische Gesamtausgabe Bd. 7, hrsg. v. Volker Drehsen/Christian Albrecht, Berlin/New York 2004; vgl. auch Thomas Kaufmann, Luther zwischen den Wissenschaftskulturen. Ernst Troeltschs Lutherdeutung in der englischsprachigen Welt und in Deutschland, in: Hans Medick/Peer Schmidt (Hrsg.), Luther zwischen den Kulturen. Zeitgenossenschaft – Weltwirkung, Göttingen 2004, 455–481. 11 Vgl. zur Orientierung: Martin Ohst, „Reformation“ versus „Protestantismus“. Theologiegeschichtliche Fallstudien, in: ZThK 99 (2002), 441–479.

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sondere Nähe zum Wittenberger Reformator rückte12, die von beiden gemeinsam repräsentierte „reformatorische Theologie“ als Nukleus umfassender produktiver Kulturwirkungen der Reformation stilisierte und auf diese Weise die Gegenwartsbedeutung der Reformation mit durchaus modernitätskritischen Akzenten betonte. Daß diese Tendenz der Relationierung Luthers und Calvins auch im Zeichen der Dialektischen Theologie ihre Fortsetzung fand, dürfte allgemein bekannt sein13. Im Gegenüber zum sogenannten Kultur- oder Neuprotestantismus rückten die beiden Urgestalten evangelischen Christentums näher aneinander als dies Jahrhunderte lang denkbar schien. Eine konsequente Historisierung des Themas „Luther und Calvin – Calvin und Luther“ hat der deutungsgeschichtlichen Implikationen besonders im deutschsprachigen Kontext eingedenk zu sein. Dies aber bedeutet, daß nur eine kontextuelle Analyse einschlägiger Äußerungen Calvins über Luther, die den jeweiligen kommunikativen und literarischen Situationsbezügen Rechnung trägt, historisch angemessen ist, da sie allein der historischen Dynamik, der die Auseinandersetzung mit dem Wittenberger und seiner Theologie unterlag, Rechnung zu tragen vermag. Daß aufgrund dieser methodischen Prämissen bündige Gesamturteile über Calvin als den „größte[n] und wohl auch einzige[n] ‚Schüler‘, den Luther wirklich gehabt ha[be], d. h. der ihn zutiefst verstanden, und von ihm ausgehend, das Werk der Reformation mit einer eigenen Durchdringung der Botschaft des Evangeliums fortgesetzt und zu einer eigenen kirchlichen Gestalt gebracht“14 habe – so Peter Meinhold – oder umfassende Charakterisierungen seines Verhältnisses zu Luther im Sinne einer „spontane[n], lebenslange[n] Liebe zu … der Vaterfigur aus Wittenberg“15 – so Ober___________ 12 Karl Holl, Johannes Calvin (Rede bei der Calvinfeier der Universität Berlin am 10. Juli 1909), wiederabgedruckt in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte III, Der Westen, Tübingen 1928, 254–284; ders., Die Kulturbedeutung der Reformation, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte I, Luther, 2./3. verm. u. verb. Aufl., Tübingen 1923, 468–543, bes. 492ff; zu Holl allgemein vgl. die Hinweise von Heinrich Assel, Art. Holl, Karl, in: RGG4, Bd. 3, 2000, 1843; Johannes Wallmann, Karl Holl und seine Schule, in: ZTHK Beiheft 4: Tübinger Theologie im 20. Jahrhundert, Tübingen 1978, 1–33; vgl. auch Thomas Kaufmann/Harry Oelke (Hrsg.), Evangelische Kirchenhistoriker im „Dritten Reich“ [VWGTh 21], Gütersloh 2002 [Register]; Berndt Hamm, Hanns Rückert als Schüler Karl Holls, in: ebd., 273–309. 13 Zum Lutherbild in der frühen Dialektischen Theologie vgl. Eberhard Busch, Die Lutherforschung in der dialektischen Theologie, in: Rainer Vinke (Hrsg.), Lutherforschung im 20. Jahrhundert. Rückblick – Bilanz – Ausblick [VIEG.B 62], Mainz 2004, 51–70; zu Calvin vgl. etwa: Karl Barth, Die Theologie Calvins 1922, Zürich 1993; Matthias Freudenberg, Karl Barth und die reformierte Theologie. Die Auseinandersetzung mit Calvin, Zwingli und den reformierten Bekenntnisschriften während seiner Göttinger Lehrtätigkeit [Neukirchner Theologische Dissertationen und Habilitationen 8], Neukirchen 1997. 14 Meinhold, Calvin und Luther, wie Anm. 2, 264. 15 Oberman, Zwei Reformationen, wie Anm. 2, 195. Gegen die „Schülerschaft“ Calvins vgl. auch Obermans Votum: „But the traditional assessment that Calvin is best

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man – schwerlich zu erreichen sind, nehme ich um der Differenzierung willen in Kauf. Denn Calvins Lutherbild zeichnet sich durch eine Vielfalt der Nuancen, eine Differenziertheit der Hinsichten und eine Ambivalenz der Urteile aus, die in den zeitgenössischen Stellungnahmen zu Luther in allen konfessionellen und theologiepolitischen Lagern seiner Zeit beinahe ihresgleichen sucht. Am ehesten könnte man noch auf Parallelen bei Bucer verweisen16; doch der Straßburger Reformator neigte seit der Mitte der 1530er Jahre in weitaus stärkerem Maße dazu, die beschwerlichen oder befremdlichen Züge Luthers zu übergehen oder zu verharmlosen als Calvin es zumeist tat. Daß Calvin von Luther Anregungen empfangen hat, möglicherweise gar die entscheidenden Anregungen seines Lebens, bedeutete nicht, daß er ihm unkritisch gegenübergestanden hätte. Und daß Calvin scharfe theologische Kritik an Luther zu äußern wußte, bedeutete nicht, daß er seine historische und theologische Größe bestritten hätte. Die Vorstellung freilich, einem anderen Reformationsprojekt zu dienen als jenem, an dessen Anfang Luther gestanden hat, wäre Calvin – wie mir scheint – schwerlich in den Sinn gekommen. Gegen Obermans Sicht der Dinge17 plädiere ich deshalb für eine Reformation in der Vielfalt ihrer Ausprägungen, der ___________ characterised as a ‘faithful disciple’ of Luther who only redressed the balance by emphasising sanctification as much as justification, does not reflect sufficiently the differences in religious motivation, in piety, and ultimately in formative impact.“ Heiko A. Oberman, Subita Conversio. The Conversion of John Calvin, in: Ders./Ernst Saxer/ Alfred Schindler/Heinzpeter Stucki (Hrsg.), Reformiertes Erbe, FS G.W. Locher Bd. 2 [Zwa XIX/T.2], Zürich 1993, 279–295, hier: 293. 16 Vgl. Martin Brecht, Bucer und Luther, in: Christian Krieger/Marc Lienhard (Hrsg.), Martin Bucer and the Sixteenth Century Europe [SMRT 52/1], Leiden u.a. 1993, 351–368; vgl. Thomas Kaufmann, Reformatoren, Göttingen 1997, 16ff.; 35–37; vgl. auch: Matthieu Arnold, „Das niemand ihm selbst, sondern andern leben soll“: das theologische Programm Martin Bucers von 1523 im Vergleich mit Luther, in: Theologische Beiträge 32 (2001), 237–248; vgl. auch: Ders./Berndt Hamm (Hrsg.), Martin Bucer zwischen Zwingli und Luther [SuR N.R. 23], Tübingen 2003. 17 Oberman, Zwei Reformationen, wie Anm. 2. Daß ich die in des verehrten Jubilars Heinz Schilling Ausruf „Uns ist die Reformation abhanden gekommen!“ (in: Reformation – Umbruch oder Gipfelpunkt einer Temps des Reformes, zuletzt in: Ders., Ausgewählte Abhandlungen, s.u. Anm. 112, 11–31, hier: 11) zum Ausdruck gebrachte Einschätzung der gegenwärtigen Sachlage der Reformations- bzw. Frühneuzeitforschung nicht zu teilen vermag, versteht sich zwischen ihm und mir beinahe von selbst, vgl. zuletzt meine Überlegungen in: Thomas Kaufmann, Konfession und Kultur [SuR N.R. 29], Tübingen 2006, bes. 6 mit Anm. 14. In der etwas abgeschwächten Variante, nämlich daß die deutsche Reformation der historischen Forschung in den letzten Jahrzehnten „etwas ‚abhanden gekommen‘“ sei (Ute Lotz-Heumann, Die deutsche Reformation und die Konfesionalität in Europa, in: Heinz Schilling/Werner Heun/Jutta Götzmann [Hrsg.], Heiliges Römisches Reich deutscher Nation 962 bis 1806. Altes Reich und Neue Staaten 1495 bis 1806, Bd. 2: Essays, Dresden 2006, 145–157, hier: 145), tritt die Schillingsche Sicht der Dinge gegenwärtig in das Stadium ihrer historiographiepolitischen Kanonisation ein.

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Abgründigkeit ihrer Verwerfungen und der Diversität ihrer Lebens- und Lehrgestalten. Im Folgenden soll zunächst über Calvins theologische Anfänge und ihr Verhältnis zu Luther berichtet werden (II). In einem zweiten Schritt sollen seine ambivalenten Urteile vor allem im Spiegel der Korrespondenz betrachtet werden (III). Ich schließe mit einem knappen Plädoyer, das bereits im Titel dieses Beitrages anklingt (IV).

II. Daß Calvins in der spezifischen Form der „subita conversio ad docilitatem“18 vollzogene Abwendung von der Papstkirche und Hinwendung zum „Worte Gottes“ durch theologische Einsichten vorbereitet war, die ihm auch über der Lektüre lateinischer Schriften oder Übersetzungen Luthers zugewachsen waren, dürfte kaum zu bestreiten sein. Die produktive Aufnahme Lutherscher Texte und Anregungen in frühen Schriften Calvins bzw. in der mit ihm – aus guten Gründen – in Zusammenhang gebrachten Rektoratsrede Nicolas Cops vom 1.11.153319, kann als unstrittig gelten. Aus diesem Befund freilich mit Lang die Konsequenz zu ziehen, „Luthers Schriften“ hätten bei Calvins Bekehrung „eine große Rolle“20 gespielt oder in bezug auf die Rektoratsrede zu behaupten, ein „großer Teil“ derselben „schließ[e] sich Satz für Satz oder we___________ 18

In der Praefatio zum Psalmenkommentar 1552 heißt es: „Ac primo quidem, quum superstitionibus papatus magis pertinaciter addictus essem, quam ut facile esset e tam profundo luto me extrahi, animum meum, qui pro aetate nimis abduruerat, subita conversione ad docilitatem subegit.“ CO 3 (CR 31), 21; zur Interpretation vgl. Oberman, Subita conversio, wie Anm. 15; vgl. ders., Initia Calvini: The Matrix of Calvin’s Reformation, in: Wilhelm H. Neuser (Hrsg.), Calvinus Sacrae Scripturae Professor. Calvin as Confessor of Holy Scripture. Die Referate des Internationalen Kongresses für Calvinforschung vom 20. bis 23. August 1990 in Grand Rapids, Grand Rapids 1994, 113–154; einige wenige weitere ,autobiographische‘ Selbstzeugnisse Calvins finden sich CO 9 (CR 37), 51 [Seconde Defense contra Westphal, 1556] und Ad Sadoleti Epistolam, 1539; OS 1, 486, 23ff; CSA 1.2, 418, 33ff.; zu Calvins Selbstverständnis vgl. noch immer: Fritz Büsser, Calvins Urteil über sich selbst [QAGSP 7], Zürich 1950. 19 Ediert in: CR 10/2 (CR 38/2), 30–36; OS I, 4–10; CSA 1.1, 10–25; vgl. auch: August Lang, Die Bekehrung Johannes Calvins, in: SGTK Bd. II, Heft 1, Leipzig 1897, ND Aalen 1972, 43–53: Die akademische Rede vom Allerheiligen-Tage 1533; ders.; Luther und Calvin, wie Anm. 2, 75ff. Zur Verfasserfrage vgl. zuletzt das forschungsgeschichtliche Referat Hans Scholls in: CSA 1.1, 7–9; sowie: Jean Rott, Documents strasbourgois concernant Calvin. – I. Un manuscrit autographe: le harangue du recteur Nicolas Cop, zuletzt in: Ders., Investigationes historicae, hrsg. von Marijn de Kroon/Marc Lienhard, Bd. 2, Straßburg 1986, 266–287. 20 Lang, Luther und Calvin, wie Anm. 2, 75; vgl. ders., Bekehrung, wie Anm. 19, 31ff.

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nigstens Gedanke um Gedanke an Luthers Vorlage an“21, geht doch deutlich über das hinaus, was man sine ira et studio konstatieren kann. Calvin wird Luthers Predigt zum Perikopentext des Allerheiligenfestes, Mt 5,1–1222, in einem der von Martin Bucers lateinischer Übersetzung der Postille23 in Straßburg erschienenen Drucke kennengelernt haben. Die lateinische Postillenausgabe dürfte es auch gewesen sein, aus der Calvin erstmals vom innerreformatorischen Abendmahlsstreit erfuhr. Seine im Kontext der Westphal-Kontroverse 1556 mitgeteilte Erinnerung, Luthers Nachricht darüber, daß Zwingli und Oekolampad in den Sakramenten nur bloße Zeichen („nudas et inanes figuras“)24 sähen, habe ihn längere Zeit von der Lektüre der Schriften der Schweizer abgehalten, dürfte sich auf Luthers im vierten Band der lateinischen Postillenausgabe abgedruckten Brief an den Straßburger Drucker Herwagen beziehen25, einen der ___________ 21

Lang, Luther und Calvin, wie Anm. 2, 76. WA 10 III, 400–407. 23 Vgl. die bibliographischen Angaben (WA 10 I2, XXXVII-XL); ein weiterer lat. Druck in einer kleineren Straßburger Sammlung (vgl. WA 10 III, CLXVIII; XXI) käme auch als Vorlage Calvins in Betracht; zu Bucers Postillenausgabe, insbes. seiner Vorrede, vgl. Thomas Kaufmann, Die Abendmahlstheologie der Straßburger Reformatoren bis 1528 [BHTh 81], Tübingen 1992, 306ff.; s. auch: Gottfried Seebaß (Hrsg.), Martin Bucer (1491–1551) Bibliographie, Gütersloh 2005, 41 Nr. 12–16. Daß Calvin kein Deutsch lesen konnte, scheint communis opinio der Calvinforschung zu sein, vgl. nur: Wilhelm Niesel, Verstand Calvin Deutsch?, in: ZKG 49 (1930), 343–346; Ganoczy, Le jeune Calvin, wie Anm. 41, 149. 24 „Quum enim a tenebris papatus emergere incipiens, tenui sanae doctrinae gustu concepto, legerem apud Lutherum, nihil in sacramentis ab Oecolampadio et Zvinglio reliquum fieri praeter nudas et inanes figuras, ita me ab ipsorum libris alienatum fuisse fateor, ut diu a lectione abstinuerim.“ Secunda defensio piae et orthodoxae de sacramentis fidei adversus Joachimi Westphali calumnias, CO 9 (CR 37), 51; zur Entwicklung von Calvins Abendmahlslehre instruktiv die Einleitung zum kleinen Abendmahlstraktat von 1541 (Eberhard Busch), in: CSA 1.2, 431ff. 25 WA 19, 462–469; vgl. dazu Kaufmann, Abendmahlstheologie, wie Anm. 23, 440f.; 366ff.; zur Kritik an meinen Rekonstruktionen vgl. Martin Greschat, Martin Bucer. A Reformer and His Times, Louisville, London 2004, 258–260. Hinsichtlich der internationalen Rezeption des Abendmahlsstreites dürfte ansonsten Justus Jonasǥ Übersetzung von Luthers „Von Anbeten des Sakraments“ (1523) von 1526 (WA 11, 425; vgl. Walther Köhler, Zwingli und Luther Bd. I [QFRG 6], Leipzig 1924, 389; Gustav Kawerau [Hrsg.], Justus Jonas. Der Briefwechsel, Bd. 1, Halle 1884, ND Hildesheim 1964, 102f; Köhler, Bibl. II, 455 Nr. 2571; Ex. MF 777 Nr. 1953; vgl. auch Zwingli, Opera Bd. 9, 167,4; Kaufmann, 379) eine herausragende Bedeutung zukommen. Möglicherweise bezog sich Calvins spätere Polemik gegen Luthers Rede vom anbetungswürdigen Sakrament („adorabile sacramentum“ vgl. Calvin an Bucer Okt. 1549; CO 13 [CR 41], 437–440, hier: 439); Schwarz Bd. II, Nr. 282, 495–497, hier: 497; Calvin an Pastoren in Zürich [13.11.1554]; CO 15 [CR 43], 303–307; Schwarz Bd. II, Nr. 422, 720–722) auf diese Schrift, was angesichts dessen, daß die Anbetungsfrage in Luthers Kurzem Bekenntnis von 1544 (WA 54, 119–167; vgl. dazu Martin Brecht, Martin Luther Bd. 3: Die Erhaltung der Kirche 1532–1546, Stuttgart 1987, 323f.) nicht berührt wird, nicht ganz unwahrscheinlich sein dürfte. In bezug auf Calvin dürfte die in der reformationsgeschichtlichen Forschung bisher wenig erörterte Frage nach der 22

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spärlichen Texte, durch den die internationale Öffentlichkeit über den vornehmlich in der Volkssprache geführten sog. ersten Abendmahlsstreit informiert wurde. Cops Rektoratsrede ist insofern ein Beleg dafür, welche wichtige Rolle dem Lutherübersetzer Bucer in den späteren 1520er Jahren bei der Vermittlung reformatorischer Theologie ins Ausland zufiel26. Daß Bucer der erste Reformator im Reich war, mit dem Calvin korrespondierte27, unterstreicht, daß für Calvin die Lutherlektüre – im Unterschied zu zahlreichen anderen reformatorisch gesinnten Zeitgenossen – weder zum Anlaß einer direkten Kontaktaufnahme mit den Wittenbergern noch gar zum Antrieb für eine der üblichen gelehrten Pilgerreisen ins Sachsenland wurde. Daß Straßburg für Calvin der persönliche und sachliche Zugangsort zur deutschen Reformationstheologie wurde, war auch für seine Haltung gegenüber Luther alles andere als belanglos. In bezug auf die Rektoratsrede ist jedenfalls neben den eindeutigen Rezeptionsspuren des Lutherschen Postillentextes in der Übersetzung Bucers28, deren ___________ ‚Übersetzungspolitikǥ in Hinblick auf Luthers Rezeption in der lateinischen Sprachwelt besonders akut sein. Die in der älteren Literatur (vgl. August Lang, Die Quellen der Institutio von 1536, in: EvTh 3, 1936, 100–112, hier: 106; François Wendel, Calvin. Ursprung und Entwicklung seiner Theologie, Neukirchen/Vluyn 1968, 111) begegnende These, Calvin setze in seiner Institutio von 1536 die Kenntnis von Luthers Schrift Daß diese Worte: Das ist mein Leib, noch feststehen, wider die Schwarmgeister (1527) [WA 23, 38ff], die schon 1527 übersetzt worden sei, voraus, wird durch die bibliographischen Angaben der WA nicht bestätigt; die früheste dort verzeichnete lat. Übersetzung (WA 23, 49) stammt von 1554 bzw. 1556, also aus dem Kontext des sogen. zweiten, v.a. zwischen Calvin und Westphal geführten Abendmahlsstreit; vgl. VD 16 L 4279f. In einer lateinischen Übersetzung erschien allerdings Luthers Sermon von dem Sakrament des Leibs und Bluts Christi wider die Schwarmgeister (WA 19, 482–523) [vgl. Kaufmann, Abendmahlstheologie, 378f; WA 19, 469; Josef Benzing, Lutherbibliographie [BBAur 10] Baden-Baden 21989, Nr. 2311], der bei aller Deutlichkeit in der Sache von namentlichen Angriffen auf seine schweizerischen oder oberdeutschen Gegner absah und im ganzen in einem stärker katechisierenden Ton abgefaßt war. Zu Calvins Umgang mit dieser Schrift in der Institutio von 1536; vgl. Ganooczy, Le jeune Calvin, wie Anm. 41, bes. 148f. 26 Grundlegend: Jean Vincent Pollet, Études sur les relations de Bucer avec les PaysBas, l´Electorat de Cologne et l´Allemagne du Nord I/II [SMRT 33/34], Leiden 1985; weitere Bucer-Literatur in: Seebaß, Bucer, wie Anm. 23. 27 CO 10/2 (CR 38/2), 22–24; Herminjard III, 201–204; Neuedition in: Ioannis Calvini Epistolae Volumen I (1530- sept. 1538), edd. Cornelis Augustijn/Frans Pieter van Stam [Opera omnia Series VI/I], Genf 2005; die Datierung (1532/4?) ist ungewiß, vgl. Emile Dumerque, Jean Calvin: Les homes et les choses de son temps, Lausanne Bd. 1, 1899, 297–299; Bouwsma setzt die Datierung auf 4.9.1532 voraus, vgl. Willam J. Bouwsma, John Calvin. A Sixteenth Century Portrait, New York 1988, 242 Anm. 64; vgl., 20–24; auch Rott datiert auf „4 IX (32)“, Jean Rott, Correspondance de Bucer. Liste alphabetique des correspondants, Straßburg 1979, 23: zu Bucer und Calvin v.a. in systematisch-theologisch vergleichender Perspektive: Marijn de Kroon, Martin Bucer und Johannes Calvin, Göttingen 1991. 28 Vgl. im einzelnen die Synopse bei Lang, Calvins Bekehrung, wie Anm. 19, 49–52.

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Intensität noch über die im ersten Teil der Rede nachweisbaren Bezugnahmen und Adaptionen der Erasmischen Vorrede zum Neuen Testament29 (Paraclesis) hinausgeht, ebenso entscheidend, daß hier sehr eigenständig akzentuiert und interpretiert wird. Denn in der Rektoratsrede wird zwar die basale theologische Distinktion von Gesetz und Evangelium aus Luthers Predigt übernommen30, doch Luthers Rede vom Evangelium als einem „gut geschrey, ein gutte predig von Christo“31, das „zeytlich und ewiglich“ „an leyb und an seel“32 allen Leuten helfe, wird vom Verfasser der Pariser Rede allein auf das ewige Leben zugespitzt.33 Daß diese Unterscheidung von Gesetz und Evangelium von entscheidender Bedeutung ist, um ein meritorisches Mißverständnis der in den Seligpreisungen des Matthäus-Evangeliums gelehrten Verhaltensweisen auszuschließen, ist für Luther und seinen Pariser Rezipienten gleichermaßen zentral. Die von Christus selbst gelehrte Botschaft der Gotteskindschaft kraft göttlicher Gnade freilich ist für den Verfasser der Rektoratsrede die die menschliche „felicitas“ begründende „christiana philosophia“34 schlechthin. Christus ist der vollkommene Lehrer dieser Philosophie, aber er wird nicht so eindeutig wie bei Luther als Unterpfand, Inbegriff oder „Wesen“ des Evangeliums verstanden. Anders als in Luthers Predigt geht es denn auch im Fortgang der Rede primär um die Kritik an den „sophistae“35, die „leeres Stroh dreschen, mit Wortklaubereien um sich werfen, aber nichts über den Glauben, nichts über die Liebe Gottes, nichts über die Vergebung der Sünden, nichts über die Gnade, nichts über die Rechtfertigung und die wahren guten Werke vorzutragen haben …“36. Die radikale Gnadentheologie als wahre christliche, ja göttliche Philosophie37 wird damit zum Maßstab der Kritik am bestehenden theologischen Lehrbetrieb und am vorfindlichen Kirchenwesen; sie ist mit einer leidenstheologischen Grundtendenz verbunden, die sich so weder bei Erasmus noch in dieser Zuspitzung in der genannten Lutherpredigt findet und die – da sie an Calvins Schilderung der ___________ 29 Vgl. Lang, a.a.O., 46; Text der Paraclesis am einfachsten in: Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften lat. und dt. hrsg. v. Werner Welzig, Bd. 3, Darmstadt 1967, 2–37; vgl. auch: Scholl, in: CSA 1.1, 5. 30 Vgl. WA 10 III, 400, 3ff.; CSA 1.1, 12, 17ff. 31 WA 10 III, 400, 4. 32 WA 10 III, 400, 6. 33 „Ergo evangelium [bonum] est nuncium et salutifera de Christo praedicatio, quod a Deo patre missus sit, ut omnibus opem ferat et vitam eternam conciliet.“ CSA 1.1, 12, 20–22. 34 CSA 1.1, 10,4f; 12, 28. 35 CSA 1.1, 12, 29. 36 Zit. nach der Übersetzung Scholls, CSA 1.1, 13, 32–35: „sophistae …, qui de lana caprina perpetuo contendunt, rixantur, altercantur, nihil de fide, nihil de amore Dei et nihil de remissione peccatorum, nihil de gratia, nihil de iustificatione, nihil de veris operibus disserunt …“ CSA 1.1, 12, 29–32. 37 CSA 1.1, 14–10; 16, 23.

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ihm widerfahrenden Lebenswende im Sadoletbrief38 erinnert – vielleicht so etwas wie das religiöse und theologische „Urgestein“ seiner Reformation darstellt: Wenn wir wirklich verstünden, was es heißt, vor das „tribunal Christi“ gefordert zu sein, gäben wir uns ganz der pietas und dem Geist (soli pietati, soli spiritui) hin und nähmen die uns von Gott auferlegten Widerfahrnisse, Anfechtungen und Trübsale mit Freuden an39. Das Heil ist denen zugesagt, die um Gottes willen leiden und allein auf seine Gnade vertrauen. Sicher wäre es fragwürdig, die skizzierten Akzentdifferenzen überzubetonen oder gar als Ausdruck eines eigenständigen theologischen Ansatzes zu interpretieren. Aber doch lassen sie erkennen, daß der Verfasser der Pariser Rektoratsrede Einsichten und Formulierungen Luthers aufnehmen kann, ohne einfach nur dessen theologische Zentralgedanken zu reproduzieren. Indem Calvin – anders als Luther40 – in Gott Ursache und Grund der menschlichen Trübsal sieht, wächst der Frage nach dem unerschütterlichen Heilswillen in Gott selbst eine besondere Bedeutung zu. Calvins Theologie, so scheint es, wurzelt in seiner Religion; Luther war für ihn ein anregender Autor, der ihm auf der Basis einer kompromißlosen Gnadentheologie zu denken gab, seine Kritik am kirchlichen ancien régime zu artikulieren und ihm die iustificatio sola fide, allein wegen Christi Verheißung41, nahebrachte. Ein geistiger Leitstern, dem er bedingungslos nachgefolgt wäre, ist er aber wohl schon für den noch blutjungen theologischen Autodidakten Calvin nicht gewesen. Calvins Lutherrezeption erfolgte wohl von vornherein im Bewußtsein der innerreformatorischen Lehrdifferenzen und in der Absicht, deren Wirkungen im Hinblick auf sein primäres Bezugsfeld, die evangelische ___________ 38

Vgl. CSA 1.1, 16, 31ff; CSA 1.2, 418, 33f. „… an nescimus, viri fratres, quoniam omnes stabimus ante tribunal Christi? It si plane intelligeremus, soli pietati, soli spiritui incumberemus. Nos calamitatibus, aegritudine, afflictionibus, tribulationibus a Deo exercere gauderemus. Nam eos beatus esse Christus pronunciat qui in his lugent, qui in suis viribus desperant …“ CSA 1.1, 16, 30– 18, 2; vgl. aber WA 10 III, 405, 27ff. (zu Mt 5,4). 40 WA 10 III, 405,27–406,6. In Luthers Auslegung der Seligpreisung der Trübsal Leidenden (Mt 5,4) ist es Gott, der sie „inwendig“ (406,3) tröstet, der aber nicht die Trübsal verhängt. 41 „Evangelium remissionem peccatorum et iustificationem gratis pollicetur. Neque enim accepti sumus Deo quod legi satisfaciamus, sed ex sola Christi promissione, de qua qui dubitat pie vivere non potest et gehennae incendium sibi parat.“ CSA 1.1, 18,29–33. Die zentrale terminologische Bedeutung der ‚promissioǥ deutet v.a. auf die – auch ansonsten selbstverständlich vorauszusetzende (vgl. Oberman, Subita Conversio, wie Anm. 15, 291 mit Anm. 58; Detmers, Reformation, s. Anm. 43, 254; 262 u.ö.; CSA 1.1, 30; Alexandre Ganoczy, Le jeune Calvin, Genèse et évulution de sa vocation réformatrice [VIEG 40], Wiesbaden 1960, 137 ) Rezeption von Luthers De captivitate Babylonica (1520) hin (vgl. WA 6, 513, 24–315, 26); zu Luthers promissio-Konzeption noch immer: Oswald Bayer, Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie [FKDG 24], Göttingen 1971. 39

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Bewegung in seiner französischen Heimat, zu verhindern oder einzugrenzen. In dieser Hinsicht korrespondierte Calvins frühester Umgang mit Luther insbesondere dem Bucers, der seit 1525 in Kenntnis der irritierenden Wirkungen des Abendmahlsstreites unter den Sympathisanten der reformatorischen Bewegung eine Konzentration auf Luthers evangelische Hauptlehren propagiert und die Schärfe der theologischen Gegensätze camoufliert hatte42. Auch bei dem ggf. zweiten umfänglicheren theologischen Text, den wir aus Calvins Feder besitzen, seiner französischen Vorrede zum neutestamentlichen Teil der Olivetanbibel von 153543, ist ein prägender Einfluß Luthers, insbesondere seines Traktates De captivitate Babylonica (1520) und seiner 1524 von Justus Jonas, 1525 von Johannes Lonicer ins Lateinische übersetzten44 Flugschrift Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei45, nachweisbar. Der weite heilsgeschichtliche Prospekt, den Calvin in der Vorrede von der Schöpfung und dem Sündenfall bis hin zur in Christus beschlossenen „nouvelle alliance“46 zwischen Gott und dem Menschen ausspannt, gewinnt seine innere Struktur und Dynamik vor allem durch Gottes Verheißungen, die auf Christus verweisen. Die von Calvin verwendete Terminologie, insbes. die Begriffe „la promesse“47 und „testament“48 im Sinne der durch authentische Mittel beglaubigten ___________ 42 Vgl. etwa Bcor II, 11,29ff; Bcor II, 46,4–8; 191,38ff; siehe zu 1525 auch Herminjard I, 387; BAO 1, 423 mit Anm. 1; vgl. auch Kaufmann, Abendmahlstheologie, wie Anm. 23, 319; 327; 368f. 43 CO 9 (CR 37), 787–822; CSA 1.1, 27–32 (Einleitung von Ernst Saxer); 34–51 (frz.-dt. Textausgabe). Die von Bernhard Roussel (François Lambert, Pierre Caroli, Guillaume Farel … et Jean Calvin [1530–1536], in: Neuser, Calvinus Servus Christi, wie Anm. 2, 35–52, hier: 41) geäußerte These, der an jüdische Leser adressierte Einleitungstext der Olivetanbibel mit den Initialen „V.F.C.“ stamme nicht von Calvin, sondern von W.F. Capito, ist von der neueren Forschung aufgenommen, bekräftigt und in inhaltlicher Hinsicht ausführlich begründet worden, vgl. zuletzt: Achim Detmers, Reformation und Judentum. Israel-Lehren und Einstellungen zum Judentum von Luther bis zum frühen Calvin [Judentum und Christentum Bd. 7], Stuttgart 2001, 268ff; zu Calvin und den Juden vgl. zuletzt: J. Marius J. Lange van Ravenswaay, Die Juden in Calvins Predigten, in: Achim Detmers/ders. (Hrsg.), Bundeseinheit und Gottesvolk. Reformierter Protestantismus und Judentum im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts [Emder Beiträge zum reformierten Protestantismus 9], Wuppertal 2005, 59–70. 44 WA 11, 309f; vgl. Benzing, Lutherbibliographie, wie Anm. 25, Nr. 1540–1542; VD 16 L 4316–18; Köhler, Bibl. II, 454 Nr. 2570 (Jonas-Übersetzung, Wittenberg 1524), Ex. MF 1779 Nr. 4579. 45 Zur Interpretation dieser Schrift zuletzt: Thomas Kaufmann, Luthers „Judenschriften“ in ihren historischen Kontexten [NAWG Phil. hist. Kl. 6, 2005], Göttingen 2005, 14ff. 46 CSA 1.1, 40,2. 47 CSA 1.1, 40,13.17; 50,35; im Plural: 42,8.27; 52,23; als Verbalform: „le Messiah avoit de foys esté promis au Vieil Testament“ 44,20f. 48 CSA 1.1, 46,37: „Et telle alliance a esté confirmée et passée soubz instrumentes autentiques, du testament et tesmoingnage qui leur a baillé.“ 38,12–14.

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Zusage, ist nur vor dem Hintergrund des einschlägigen Sprachgebrauchs in Luthers bahnbrechender Sakramentsschrift aus dem Sommer 1520 zu verstehen. Auch der Begriff der „alliance“49 ist synonym mit „testamentum“ zu verstehen und entspricht der Analogisierung von pactum, foedus und testamentum in De captivitate Babylonica50. Der neue Bund („nouvelle alliance“)51 der definitiven, unzerstörbaren Versöhnung zwischen Gott und Mensch, der in dem Gottmenschen Christus geschlossen wurde, war als Verheißung seit Anbeginn der Welt, unmittelbar nach Adams Fall, als Hoffnungsgut vorhanden. Denn schon Adam war die Verheißung gegeben (Gen 3,15), daß durch die Nachkommenschaft des Weibes der Kopf der Schlange zertreten werde52. Dieses von Luther später sogen. „Protevangelium“53 steht am Anfang einer Reihe alttestamentlicher Verheißungen des kommenden Messias; auch der zweite Beleg, den Calvin anführt, die an Abraham ergangene Nachkommensverheißung (Gen 12,38), findet sich bei Luther, und zwar einerseits in De captivitate Babylonica 54, andererseits in Das Jesus Christus ein geborener Jude sei55. Daß Calvin die Kenntnis der sogen. ersten Judenschrift Luthers von 1523 voraussetzt, zeigt sich nicht nur an weiteren christologisch gedeuteten alttestamentlichen Versen56, sondern auch an dem insbes. auf die Diskussionssituation gegenüber den Juden ausgerichteten Skopus der Argumentation: Mose und die Propheten haben Christus in exakt der Weise verkündigt bzw. verheißen, in der er nach dem Zeugnis des Neuen Testaments erschienen ist. Durch die Verheißungen hat Gott Israel gegenüber allen anderen Völkern ausgezeichnet57. Der eindrückliche Zusammen___________ 49

CSA 1.1, 38,12; 40,2. „Hoc testamentum Christi praefiguratum est in omnibus promissionibus dei ab initio mundi … Inde usitatissima sunt illa in scripturis verba pactum, foedus, testamentum domini. Quibus significabatur deus olim moriturus. Nam ubi testamentum est, ideo necesse fuit eum mori …“ WA 6, 514,1–8. 51 s. Anm. 46. 52 CSA 1.1, 40,12–16: „Car mesme à Adam incontinent apres sa ruyne, pour le consoler et reconforter fut donné la promesse, que par la semence de la femme seroit brisée la teste du serpent. Qui estoit à dire que par Iesus Christ nay d’une vierge, la puissance de Satan seroit abatue et rompue.“ CSA 1.1, 40,12–16. „Sic Adae past lapsum dedit hanc promissionem, dicens ad serpentem ,Inimicitias pronam inter te et mulierem, inter semen tuum, et semen illius, Ipsa conteret caput tuum, et tu insidiaberis calcaneo illius‘. In hoc promissionis verbo Adam cum suis tanquan in gremio dei portatus est et fide illius servatus …“ WA 6, 514,26–30. 53 Vgl. etwa WA 29, 264, 16; 36, 680, 20f. 54 WA 6, 514,35f. 55 WA 11, 316, 5ff.; 317, 30ff. . 56 Jes 7,14: CSA 1.1, 40,28–30; WA 11, 320,21ff.; Gen 49,10: CSA 1.1, 40,31ff; WA 11, 325,25ff.; Dan 9,24: CSA 1.1, 40,40ff.; WA 11, 331,23ff.; Gal 4,4: CSA 1.1, 42,31ff.; WA 11, 319, 22ff. 57 CSA 1.1, 42, 24ff.; vgl. 44, 20ff. 50

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klang der Zeugnisse Alten und Neuen Testaments58 bestätigt die messianische Lesart der einschlägigen dicta und erweist eine jüdische Auslegung ab ovo als ungangbaren Weg. Diese heilsgeschichtlichen und hermeneutischen Überzeugungen Calvins, die sich seiner französischen Vorrede zur Olivetanbibel entnehmen lassen, aktualisieren die frühreformatorischen Impulse der Lutherschen Theologie der Verheißung ca. eineinhalb Jahrzehnte nach ihrem ersten Bekanntwerden, d. h. in einer historischen Situation, in der zwar auch Luther sich nicht ausdrücklich von dieser Konzeption verabschiedet hatte – das tat er nie! –, in der sie aber doch im deutschenKontext einiges von ihrer ursprünglichen organisierenden Erschließungs- und Gestaltungskraft eingebüßt hatte. In Calvins Lutherrezeption der 1530er Jahre begegnete die fortgeschrittene, in sich zerstrittene Reformation ihrer jugendlichen theologischen Urgestalt. Nun noch einige knappe Bemerkungen zur Erstfassung der Institutio, also jenem Text, an dem die Forschung seit ca. eineinhalb Jahrhunderten59 eindrücklich gezeigt hat, daß und in welchem Umfang Luthersche Schriften, allen voran die lateinische Version seines Kleinen Katechismus, aber auch De libertate Christiana, De captivitate Babylonica, die Kirchenpostille u.a., als „Quellen“ dieses Erfolgsbuches verwandt wurden. Mit Ausnahme des 1527 in einer lateinischen Übersetzung erschienenen Sermon von dem Sakrament des Leibes und Blutes Christi wider die Schwarmgeister60 (1526) waren es durchweg Luthertexte, die zeitlich vor und sachlich jenseits der zentrifugalen innerreformatorischen Kontroverse über das Abendmahl lagen und die als textuelle Referenzen für die Konstruktion einer evangelischen Elementarlehre besonders geeignet erscheinen konnten. Denn es ging Calvin ja um eine Darlegung der evangelischen Lehre für die angefochtenen Glaubensbrüder in Frankreich, um den Nachweis des friedlichen, in weitestgehender Übereinstimmung mit den Kirchenvätern stehenden Charakters der evangelischen Bewegung und um die Verbreiterung der gesellschaftlichen und politischen Basis der Reformation61. Die Lehrgestalt, die dieser Intention entsprach, speiste sich wesentlich aus der im Lichte der frühreformatorischen Texte Luthers gelesenen biblischen Über___________ 58

CSA 1.1, 46, 13ff. Als älteste einschlägige Arbeit, die auf Calvins Abhängigkeit von der lateinischen Version von Luthers Kleinem Katechismus hingewiesen hat, hat nach A. Lang (Quellen, wie Anm. 25, 104 Anm. 18) zu gelten: E. Stähelin, Johannes Calvin [LASVBRK IV.1], Elberfeld 1863, I, 75, Anm. Die Frage ist immer wieder behandelt worden; bes. hilfreich sind m.E. Wilhelm Diehl, Calvins Auslegung des Dekalogs in der ersten Ausgabe seiner Institutio und Luthers Katechismen, in: ThStKr 1898, 141–162; Lang, Quellen, wie Anm. 25; Wendel, Calvin, wie Anm. 25, 101ff.; Ganoczy, Le jeune Calvin, wie Anm. 41, 139ff.; zu weiterer Literatur zur Institutio von 1536 vgl. Calvin Theological Journal. 60 Vgl. oben Anm. 24; zur Bedeutung der Schrift im Kontext des Abendmahlsstreites vgl. Kaufmann, Abendmahlstheologie, wie Anm. 23, 274; 281; 372f; 378; 379; 384. 61 Vgl. dazu bes. die Widmungsvorrede an Franz I., in: CSA 1.1, 59–107. 59

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lieferung, ging auf die „horribiles istae dissensiones“62 der Abendmahlskontroverse aber nur in dem Maße des unabweisbar Notwendigen ein und diente damit der Stärkung des gemeinprotestantischen Profils im Gegenüber zu einem übermächtigen katholischen Feind. Die bemerkenswert eigenständige abendmahlstheologische Position, die der 26jährige theologische Autodidakt in seinem Basler Exil fand, zielte auf eine integrative, den wahren und wirksamen Gabecharakter des Sakrament mit der Konzentration auf die manducatio spiritualis verbindende Lösung ab63. Gerade die Darlegung der Abendmahlslehre in Calvins Institutio von 1536 ist ein eindrückliches Zeugnis seines differenzierten Umgangs mit Luther und den widersprüchlichen Wirkungen seiner Theologie aus der Zeit vor oder nach dem ersten Abendmahlsstreit: der nachhaltigen Rezeption von De captivitate Babylonica und wohl auch des Abendmahlssermons Luthers von 151964 stand die schon 1536 unmißverständliche Absage an die Calvin freilich gar nicht aufgrund von Eigenlektüre bekannte sogen. Ubiquitätslehre gegenüber65. Calvins ambivalente Urteile, die uns nun im folgenden beschäftigen sollen, wurzeln im Abendmahlsstreit. Der ihm innig vertraute frühreformatorische Luther repräsentierte für den jungen Franzosen das essentiell Reformatorische wie nichts und niemand sonst; der Luther des innerreformatorischen Abendmahlsstreites, den Calvin in theologischer Hinsicht kaum kannte, war hingegen eine dunkle, bedrohliche, in erster Linie moralisch zu bewertende Figur. Gerade im Spiegel der ambivalenten Lutherrezeption Calvins erweist sich Obermans These der „zwei Reformationen“ als überaus fragwürdig.

___________ 62

OS I, 139. „Quo tamen, in tanta opinionum turba et varietate, una certaque Dei veritas nobis constet, cogitemus primum, spirituale quiddam esse sacramentum, quo Dominus non ventres nostros, sed animas pascere voluit … Deinde ipsum spiritualiter obtinere, satis habeamus, sic enim in vitam ipsum obtinebimus: quod ipsum est percepisse, quidquid ex sacramento fructus percipi potest. Hanc cogitationem ubi quis animo praesumpserit ac meditatus fuerit, facile intelliget quomodo Christi corpus in sacramento nobis offeratur, nempe vere et efficaciter …“ OS I, 139f. 64 WA 2, 742–758; lat. Übers. 1524, WA 2, 741; Hinweise auf einschlägige Parallelen (OS I, 145; WA 2, 743f) bei Ganoszy, Le jeune Calvin, wie Anm. 41, 148f. 65 OS I, 140f. Da die christologisch einschlägigsten Ausführungen zur Lehre von den Präsenzmodi nur in Luthers großer Abendmahlsschrift von 1528 enthalten waren (vgl. WA 26, 327ff), diese aber nicht in einer lateinischen Übersetzung erschien, dürfte Calvin Luthers Lehre in ihrer ausgearbeitetsten Gestalt ausschließlich aus zweiter Hand gekannt haben. 63

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III. Calvin hat häufiger über Luther als über sich selbst geredet, in kontroverstheologischen Schriften ebenso wie in Briefen, in öffentlichen wie in privaten Kontexten. Bei seiner exegetischen Arbeit dürfte Calvin neben vielen anderen Auslegern auch die Kommentare Luthers regelmäßig und selbstverständlich benutzt haben66. Daß das Verhältnis zu den sogenannten Lutheranern seit dem Streit mit Joachim Westphal tiefgreifend und irreparabel zerrüttet war, hielt Calvin nicht davon ab, sich lobend über Luther zu äußern; freilich sind Äußerungen dieser Art in ihren jeweiligen Kontexten und unter Berücksichtigung der rhetorischen Strategien zu analysieren. Denn das Lob des Wittenberger Meisters diente auch der Polemik gegen seine mediokren Nachäffer, die „Affen Luthers“67. Maßlosigkeiten, die man angesichts der singulären heroischen Größe Luthers, des „ausgezeichneten Apostels Christi“, durch dessen „Dienst die Reinheit des Evangeliums in unserer Zeit wiederhergestellt worden ist“68, duldend hinnehmen mußte, waren der – v.a. von Nikolaus von Amsdorf, einem verrückten, hirnlosen Mann, der schon den alten Luther zu seinem fatalen Kurzen Bekenntnis gegen die Zürcher (1544) aufgestachelt hatte69, angeführten und angetriebenen – Horde der „Lutheraffen“ nicht zuzugestehen. Daß Calvin über den Konflikten mit denen, die sich auf Luther beriefen, die eigene Bindung an den Wittenberger nicht preisgab, ist das nicht eben unbedeutendste Moment seiner welthistorischen Größe. In bezug auf Calvins Auseinandersetzung mit den „Lutheranern“ dürfte nicht unwichtig geworden sein, daß diese mehrheitlich durch den „späteren“ Luther geprägt worden waren und die für das Lutherbild des Genfer Reforma___________ 66 Exemplarisch in bezug auf die Psalmenauslegung: CO 32 (CR 60), 350; vgl. Selderhuis, Gott in der Mitte, wie Anm. 3, 273. 67 Vgl. etwa Calvin an M. Schenk 22.4.1560, in: Schwarz III, Nr. 621, 1055 ; Calvin an Bullinger 11.5.1560, in: Schwarz III, Nr. 623, 1057 . Zur Westphal-Kontroverse vgl. Joseph N. Tylenda, Calvin and Westphal: Two Eucharistic Theologies in Conflict, in: Wilhelm H. Neuser/Herman Selderhuis/Willen vanǥt Spijker (Hrsg.), Calvinǥs Books, FS Peter de Klerk, Heerenveen 1997, 9–21. 68 So in der Responsio contra Pighium de libro arbitrio (1543), CO 6 (CR 34), 250; vgl. 6, 459. „De Luthero non est quod dubiam coniecturam sumat: quando nunc quque, sicut hactenus, non dissimulanter testamur, eum nos habere pro insigni Christi apostolo, cuius maxime opera et ministris restituta hoc tempore fuerit evangelii positas.“ CO 6 (CR 34), 250. In der Supplex Exhortatio (1543) heißt es: „Quum Deus initio Lutherum et alios excitavit, qui nobis facem ad reperiendam salutis viam praetulerunt …“ CO 6 (CR 34), 459. In einem Brief an die Pfarrer von Mömpelgard (8.5. 1544) tituliert er Luther als „prudentia et gravitate praeditus“ und mit „ingenii acumine“ ausgestattet, CO 11 (CR 39), 705. 69 Calvin an Bullinger 25.11.1544; Schwarz I, Nr. 120, 285f .

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tors besonders wichtigen frühreformatorischen Texte des Wittenbergers für die nachwachsende „zweite Generation“ der lutherischen Theologen eher eine untergeordnete Rolle spielten. In seinen lutherischen Kontrahenten begegnete Calvin also vornehmlich Theologen, deren Lutherbild auf anderen textlichen Grundlagen basierte als sein eigenes. Die Geschichte der innerreformatorischen Kontroversen ist auch von Spannungen zwischen dem „jungen“ und dem „alten“ Luther bzw. seiner jeweiligen Rezeption begleitet70. Für Luther ist der junge Franzose erstmals im November 1536 in den Horizont seiner Wahrnehmung getreten, als er durch Vadian vom Wirken Farels und Calvins in Genf erfuhr71. Im Zusammenhang mit dem Frankfurter Fürstentag 1539 war der inzwischen aus Genf vertriebene Pfarrer der frankophonen Straßburger Gemeinde erstmals Melanchthon begegnet und hatte mit diesem über die Kirchengüterfrage, die Abendmahlskonkordie und die Kirchenzucht gesprochen72; außerdem sollte er den anwesenden Reichsständen von der Lage der Protestanten in Frankreich berichten73. Luther erfuhr von seiner Anwesenheit; immerhin konnte Mykonius im März 1539 bereits voraussetzen, daß Luther etwas mit dem Namen Calvins verband74. Ein halbes Jahr später ließ Luther den Franzosen durch Bucer grüßen und ihm ausrichten, daß er seinen libellus gegen Sadolet „cum singulari voluptate“75 gelesen habe. Doch übermäßig hoch sollte man dieses freundliche Signal nicht werten, denn in einer Tischrede klagte Luther darüber, daß Calvin seine Meinung vom Abendmahl verberge; man solle dieser Leute Bücher besser nicht zu viele lesen76. Als „vir doctus, sed ___________ 70 Vgl. Thomas Kaufmann, Der „alte“ und der „junge“ Luther als theologisches Problem, demnächst in einem von Christoph Bultmann und Volker Leppin hrsg. Sammelband zu Luther; zur Lutherrezeption in der ‚zweiten Generationǥ vgl. auch verschiedene Abschnitte in: Kaufmann, Konfession und Kultur, wie Anm. 17. 71 WABr 7, Nr. 3109, 595–599, hier: 598, 90–94; immerhin bereits mit der Charakterisierung, diese „homines Galli“ seien „non linguae modo peritia, sed pietate etiam et eruditione insignes“ (Z. 93f.). 72 MBW Bd. 2 Nr. 2152; vgl. 2103; CO 10/2 (CR 38/2), 322–332 Nr. 162 u. 164; zum Kontext: Heinz Scheible, Melanchthon. Eine Biographie, München 1997, bes. 121f. 73 Vgl. WABr 8, 388 Anm. 9. 74 „Fuerunt cum eo [sc. Johannes Sturm] Calvinus et aliquot alii eruditi Iuvenes.“ WABr 8, Nr. 3308, 386–389; hier: 387,34f (Mykonius an Luther 3.3.1539). 75 WABr 8, Nr. 3394, 568–570 (Luther an Bucer 14.10.1539), hier: 569,29–31: „Bene vale [sc. Bucer], et salutabis D. Johannem Sturmium et Joh. Calvinum reverenter, quorum libellus cum singulari voluptate legi.“ Zu Calvins Antwort an Sadolet vgl. die Hinweise in CSA 1.2, 337ff. In einem Brief an Farel (20.11.1539) zitiert Calvin diesen Satz weitgehend wörtlich (CO 10/2 [CR 38/2], 432; WABr 8, 570 Anm. 40); vgl. Schwarz I, Nr. 43, 136f; vgl. auch CO 10/2 (CR 38/2), 402. 76 „Sic Calvinus de re sacramenta occultat suam sententiam. Sie sein irr und konnens nicht reden. Quia veritatis oratio simplex est. Man leß mir ire bucher nicht vill!“ WATr 5, Nr. 5303, 51,19–21 (19.10.1540).

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valde suspectus de errore sacramentariorum“77 galt Calvin für Luther – dies die wohl letzte bekannte Äußerung des Wittenbergers über ihn. Für Calvins Einschätzung Luthers ist allerdings interessant, wie er gegenüber seinem Vertrauten Farel mit dessen Lob über seine Antwort an Sadolet umging. Aus einem Brief Melanchthons hatte er nämlich Zusatzinformationen, nach denen Calvin sehr in der Gunst Luthers gestiegen sei78. Durch den Boten ließ Melanchthon dann aber erzählen, daß Calvin wegen seiner Ausführung über das Abendmahl in der Sadolet-Schrift bei Luther angeschwärzt worden war. Luther hätte sich die entsprechende Stelle näher angesehen und erkannt, daß sie gegen ihn gehe, und dann erwidert: er hoffe, Calvin werde einmal besser von uns denken79. Daß er ihn gleichwohl über Bucer freundlich und anerkennend grüßen ließ, wertete der Straßburger Exulant als Ausdruck von Offenherzigkeit und Mäßigung80. Doch bezeichnend für beider Verhältnis blieb, daß man nicht direkt miteinander korrespondierte, sondern über Bucer oder Melanchthon Grüße ausrichten ließ81. Ein einziges Mal hat Calvin direkt an Luther geschrieben, diesen Brief aber Melanchthon zugeleitet und in dessen Ermessen gestellt, ihn auszuhändigen oder es nicht zu tun. Melanchthon tat es unter Hinweis auf Luthers Mißtrauen nicht; statt der erbetenen gutachterlichen Stellungnahme zum Nikodemismus ___________ 77

WATr 5, Nr. 6050, 461,18f (undatiert, ca. 1545, vgl. a.a.O., Anm. 7). „Philippus autem ita scribebat: Lutherus et Pomeranus Calvinum et Sturmium iussuerat salutari. Calvinus magnam gratiam iusit.“ CO 10/2 (CR 38/2), 432; vgl. MBW Bd. 2, Nr. 2290; vgl. Herminjard VI, Nr. 835, 122–132, bes. 131. Der Bugenhagen-Brief scheint nicht überliefert zu sein, vgl. Rott, Liste, wie Anm. 27. 79 CO 10/2 (CR 38/2), 432; bei dem Passus dürfte es sich um CSA 1.2, 385f. = OS I, 472f. = CO 5 (CR 33), 399f. handeln; besonders in der Ablehnung einer „localis circumscriptio“ (CSA 1.2, 384,21) des Leibes Christi bzw. in der Kritik an der ,Herabziehung‘ des Herrlichkeitsleibes in die irdischen Elemente („ne gloriosum Christi corpus ad terrena detrahatur“, CSA 1.2, 384,22) neben der expliziten Kritik an der Transsubstantiationslehre ist natürlich eine spezifisch anti-lutherische Pointe in der Darstellung der Abendmahlslehre in der Sadolet-Schrift zu sehen. Luthers Urteil über die ,Suspektheit‘ Calvins in Sachen Abendmahlslehre dürfte sich auf dessen nachdrücklichen Anspruch, die Gegenwart Christi im Abendmahl zu lehren, beziehen: „Praesentiam Christi, qua nos illi inseramur, a coena minime excludimus.“ CSA 1.2, 384,19f. 80 „Cogita [sc. Farel] Lutheri ingenuitatem. … Tanta moderatione [sc. Luthers] si non frangimus sumus plane saxei.“ CO 10/2 (CR 38/2), 432. Die ,satisfactio‘, die Calvin gemäß seiner Ankündigung gegenüber Farel (ebd.) Luther in der Vorrede zu seinem Römerbriefkommentar zuteil werden lassen wollte (dat. 15.11.1539, CR 38/2, Nr. 191, 402–406), erfolgt nicht unter expliziter Namensnennung, sondern in der Beteuerung einer gemeinsamen Bemühung um brüderliche Verständigung im Zuge der gemeinsamen Arbeit an der Schriftauslegung, vgl. Ebenda 405. 81 Vgl. WABr 9, Nr. 3549, 264–266, hier: 265,39 [Bucer an Luther 8.11.1540, im Zusammenhang mit der Religionsgespräch läßt Calvin Luther grüßen]; vgl. WABr 9, 260,77; WABr 10, Nr. 4053, 706ff. 78

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v.a. in Frankreich, die Melanchthon lieber kurzerhand allein abfaßte82, würde Luther nur über die Sakramente schreiben83. Calvins von Melanchthon bestätigte Vorsicht84 sollte natürlich verhindern, daß sich der seit Luthers Kurzem Bekenntnis von 1544 wieder tüchtig aufwallende Abendmahlsstreit zu einem neuerlichen Flächenbrand entwickelte85. Calvins Vorsicht zeigt auch, wie wenig nach seiner und Melanchthons Einschätzung das euphorische Bekenntnis zu Luther als „ausgezeichnetem Apostel Christi“, das er in seiner Schrift über den freien Willen gegen Pighius (1543)86 abgelegt hatte und das Luther bekanntgeworden zu sein scheint87, eine hinreichende Gewähr dafür bot, vor „antisakramentiererischen“ Gemütsausbrüchen des cholerischen Grobians in Wittenberg sicher zu sein. Calvins Brief an Luther, dessen Inhalt Melanchthon durch einen Boten referiert worden war – das versiegelte Original ging wieder nach Genf zurück88 – enthält einige bemerkenswerte Züge, die für seine Haltung gegenüber dem Wittenberger bezeichnend sind: Da ist zunächst einmal die Anrede als „Vater“, die Calvin gleich dreimal gebraucht89 und die vor dem Hintergrund, daß dies der erste direkte Kontakt zwischen beiden war bzw. hätte werden können, die unbedingte Anerkennung des autoritativen Vorsprungs Luthers, des Hirtens und Diener Christi, aber auch emotionale Nähe zum Ausdruck brachte. Luther wird ___________ 82

MBW 4, Nr. 3886; CR 5, 734–739; CO 6 (CR 34), 621–624. 21.1.1545, Calvin an Melanchthon; MBW 4, Nr. 3803; CO 12 (CR 40), 9–12; Schwarz I, Nr. 123, 289f; 21.1.1545, Calvin an Luther; WABr 11, Nr. 4272, 26ff; CO 12 (CR 40), 6–8; Schwarz I, Nr. 122, 288f; Melanchthon an Calvin 17.4.1545 (nicht abgeschickt) MBW 4, Nr. 3884; dass. MBW 4, Nr. 3885; CO 12 (CR 40), 61f; Gutachten CR 5, 734–739 Nr. 3176; CO 6 (CR 34), 621–624; MBW 4, Nr. 3886. 84 Ähnlich verhielt sich Bucer im September 1544 (WABr 11, 27 Anm. 5; MBW 4, Nr. 3682; vgl. WABr 10, 653f.); man fürchtete eine weitere Eskalation des soeben neu aufgebrochenen Abendmahlsstreites; insbes. sollte natürlich vermieden werden, daß Bucer, Calvin u.a. in den Sog der v.a. die Züricher treffenden Verachtung Luthers hineingezogen würden. 85 Vgl. MBW 4, Nr. 3803; CO 12 (CR 40), 9–12. 86 CO 6 (CR 39), 250 zit. Anm. 68; zu Pigge vgl. Hubert Jedin, Studien über die Schriftstellertätigkeit Albert Pigges [RGST 55], Münster/W. 1931, bes. 40ff; vgl. Zeeden, Bild, wie Anm. 2, 225; Remigius Bäumer, A. Pigge, in: Erwin Iserloh (Hrsg.), Katholische Theologen der Reformationszeit Bd. 1 [KLK 45], Münster 1984, 98–106; Harald Rimbach, Gnade und Erkenntnis in Calvins Prädestinationslehre [Kontexte 19], Frankfurt/M. u.a. 1996, 123ff. 87 Vgl. die Hinweise WABr 11, Nr. 4072, 27f; CO 12 (CR 40), 6f. 88 WABr 11, 26f. 89 Zunächst in der Eingangssalutatio: „Excellentissimo Christianae Ecclesiae Pastori, D. Martino Luthero, Patri mihi plurimum observando“, WABr 11, 28,1f; zu Beginn des das eigentliche Anliegen vortragenden Passus heißt es: „Nunc ergo, Pater in Domino plurimum observande, per Christum te obtestor …“ 28,27f. Und in der Schlußsalutatio: „Vale, Clarissime Vir, Praestantissime Christi Minister ac Pater mihi semper observande.“ 29,39f. 83

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gleichsam als oberste menschliche Autorität in der Kirche Jesu Christi, als deren hochverehrter Hirte und erster Diener, angesprochen, als „evangelischer Papst“ sozusagen. Daß Calvin Luther zu behelligen wagt, sei der Notlage des evangelischen Christentums in Frankreich geschuldet. Denn einige Glaubensgenossen, die die reformatorische Wahrheit erkannt hätten, trauten sich nicht, die Gefahr eines offenen Bekenntnisses einzugehen und lebten als Nikodemiten. Calvin habe bereits dagegen angeschrieben90; er schicke Luther diese libelli mit; vielleicht könne er sie sich ja einmal ansehen oder von anderen lesen und sich ihren Inhalt referieren lassen91. Calvin verhehlt nicht, daß Luthers Urteil über den Nikodemismus von den französischen Brüdern erfragt wurde und daß er selbst sich davon eine tüchtige Stärkung des reformatorischen Kampfes in Frankreich erhofft92. Er tritt also als Bittsteller im Dienst anderer auf und stellt das gemeinreformatorische Interesse an einem Kampf gegen die Sakrilegien der Papisten93 in den Vordergrund. Unter recht massivem Einsatz von Bescheidenheits- und Respektstopoi unterstreicht Calvin, wie unangenehm es ihm sei, Luther in seinen vielen wichtigen Geschäften zu behelligen; aber die Not erfordere, daß er wenigstens mit wenigen Worten seine Meinung niederschreibe94. Der Schluß des Briefes ist geradezu verblüffend persönlich: „O wäre es mir doch möglich dorthin zu fliegen, wo ich wenigstens einige wenige Stunden die Zusammenkunft mit dir genießen könnte. Denn ich wollte lieber – und es wäre auch besser – nicht allein über diese Frage [sc. die des Nikodemismus] sondern auch über andere Dinge persönlich verhandeln. Doch was hier auf Erden nicht geht, wird uns, wie ich hoffe, in Kürze im Reich Gottes zuteil werden“95. Der einzige Brief, den der junge und bald wichtigste und bedeutendste Theologe des europäischenProtestantismus an den alternden Vater der deutschen Reformation schickte und der tragischerweise ungeöffnet nach Genf zurückkehrte, ist das anrührende Dokument einer tiefen Verbundenheit und eines unerschütterlichen Vertrauens darauf, daß sich im gemeinsamen Gespräch mit ___________ 90

Zu Calvins Kampf gegen den Nikodemismus vgl. die Einleitungen zu den Epistolae Duae (1537), in: CSA 1.2, 263ff; und zu Calvins Entschuldigungsschreiben: 1544 [1543], in: CSA 3, 209ff. 91 Vgl. WABr 11, 28,10ff; 28,27ff. 92 WABr 11, 28,15–22. 93 WABr 11, 28,5. 94 „… ut sententiam tuam paucis verbis rescribas.“ WABr 11, 28,32; „sed, quae tua est aequitas, cum non nisi necessitate coactus id faciam, veniam te mihi daturum confido.“ 28,34–29,35. 95 „Utinam isthuc mihi, quo saltem ad paucas horas tuo congressu fruerer, liceret advolare! Mallem enim et longe praestaret, non de hac quaestione modo, sed de aliis etiam coram tecum agere. Verum, quod hic in terris non datur, brevi, ut spero, in regno Dei nobis continget.“ WABr 11, 29,35–39.

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Luther Wege auch aus den abendmahlstheologischen Aporien finden ließen. Der Brief dokumentiert zugleich Calvins Glauben an die Einheit der Reformation und die Unmöglichkeit, diesem Glauben eine empirische Konkretion zu verleihen. Um Luthers Gunst geworben hat Calvin nie; auch – wie er Bullinger gegenüber betonte96 – geschmeichelt hat er ihm nicht, sondern dem Wittenberger gegenüber seine Freiheit gewahrt. In Freiheit aber hat er Luthers überragende historische Bedeutung als „Apostel Christi“, der durch seine Arbeit und seinen Dienst die Reinheit des Evangeliums in seiner Zeit wiederhergestellt habe, anerkannt97 und – ungeachtet deutlicher theologischer Sachkritik an dem Wittenberger im einzelnen –auch gegenüber kritischen Stimmen aus dem eigenen Lager verteidigt. Calvins eigene Unabhängigkeit gegenüber Luther war auch ein wesentlicher Grund dafür, daß er – ungeachtet aller Vermittlungsbereitschaft in der Abendmahlsfrage – Bucers zum Teil unklare, dissimulierende Theologiediplomatie98, die zur Camouflierung der Gegensätze und zur strategischen Anpassung an Luther zu neigen schien99, ablehnte. „Wenn Luther uns mit unserem Bekenntnis annehmen will, so ist mir nichts lieber“, ließ er Bucer wissen, „aber allein beachtenswert in der Kirche Gottes ist er doch auch nicht. … Was ich von Luther halten soll, weiß ich nicht, obschon ich von seiner wahren Frömmigkeit über___________ 96

Calvin an Bullinger 21.1.1549, CO 13 (CR 41), 164–166; Schwarz II, Nr. 255,

447f. 97

S. Anm. 68. Instruktiv ist etwa der gegenüber Farel angestellte Vergleich zwischen Zwingli und Luther (26.2.1540: „… nam si inter se comparantur [sc. Luther und Calvin], scis ipse quanto intervallo Lutherus excellat.“ CO 11 (CR 39), 23–26, hier: 24; Schwarz I, Nr. 45, 140–142, hier: 140), der sich gegen eine besonders in Zürich verbreitete Zwingliverehrung richtete: „Die guten Leuten [in Zürich] sind gleich zornentbrannt, wenn einer wagt, ihrem Zwingli Luther vorzuziehen. Als wenn das Evangelium unterginge, wenn Zwingli Abbruch geschähe! Und doch geschieht dabei Zwingli nicht das mindeste Unrecht; denn du weißt selbst, wie weit ihn Luther überragt, wenn man die beiden vergleicht.“ Zit. nach Schwarz I, 140; vgl. die positive Bewertung Oekolampads gegenüber der Zwinglis in: MBW 4, Nr. 3803. 98 Vgl. zu meiner Interpretation der Rolle Bucers im frühen Abendmahlsstreit: Kaufmann, Abendmahlstheologie, wie Anm. 23; eine deutlich andere Sicht der Dinge bieten verschiedene Beiträge in dem Band: Martin Bucer zwischen Zwingli und Luther, wie Anm. 16, darin insbesondere Reinhold Friedrich, Ein Streit um Worte? Bucers Position in der Abendmahlsfrage im Jahr 1530, Ebenda, 49–65. Friedrich hat die schon in seiner Dissertation (Martin Bucer – „Fanatiker der Einheit“? Seine Stellungnahmen zu theologischen Fragen seiner Zeit, Diss. Theol. masch. Neuchâtel 1989 [gedruckt: Bonn 2002] hier erneut vorgetragen, bedauerlicherweise allerdings abermals ohne eine Auseinandersetzung mit meinen Befunden und Rekonstruktionshypothesen für nötig zu halten. 99 Vgl. Calvins Brief an Bucer vom 12.1.1538, CO 10/2 (CR 38/2), 137–144, bes. 138f; Schwarz I, Nr. 15, 58–64, bes. 58f.

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zeugt bin …“100. Aus seinem Befremden über Luthers Christologie machte Calvin ebensowenig einen Hehl wie aus dem über Brenzens „Ubiquitätslehre“101. Darin war er freilich mit Bucer einig, daß Differenzen in äußeren Bräuchen kein Trennungsgrund von Luther waren102; daß die Schuld für die neuerliche Eskalation des Abendmahlsstreites nach Luthers Kurzem Bekenntnis ausschließlich in Wittenberg zu suchen war, war für Calvin unstrittig103. An Melanchthon schrieb er kurz nachdem sein ungeöffneter Brief an Luther wieder in Genf eingetroffen war: „Die Zürcher haben zwar schlimmer angefangen; wohin aber läßt sich Euer Perikles in seinem maßlosen, blitzeschleudernden Zorn reißen? … Ich wenigstens, der ich ihn von Herzen verehre, schäme mich heftig für ihn. Aber der Schlimmste ist, daß niemand es wagt, zur Unterdrückung solch ungebührlichen Benehmens sich ihm zu widersetzen, ja nur zu mucken. Wir sind ihm alle viel Dank schuldig, das gebe ich zu. Aber ich ließe ihn gern als größte Autorität gelten, wenn er sich nur selbst zu mäßigen wüßte“104. ___________ 100

Zit. nach Schwarz I, 59. Vgl. etwa Ebenda, 58f; Calvin an Bucer Oktober 1549 (CO 13 [CR 41], 437–440, hier: 439; Schwarz II, Nr. 282, 495–497, hier: 497). In einem Brief an den bereits im englischen Exil befindlichen Interimsflüchtling Bucer betonte Calvin [Okt. 1549], daß gegenüber Luthers Wort vom ,anbetungswürdigen Sakrament‘ (s. o. Anm. 25; 67; CO 13 [CR 41], 439; vgl. CO 15 [CR 43], 305), das den Götzendienst wieder aufrichte, die im Consensus Tigurinus (vgl. CSA 4, 1ff; vgl. CSA 4, 27,25ff mit Anm. 25) vollzogenen Scheidungen erforderlich seien, vgl. CO 13 (CR 41), 437ff; Schwarz II, Nr. 282, 495–497, hier: 497. Im Zusammenhang seiner Kontroverse mit Westphal äußerte Calvin gegenüber Vermigli, daß er mit Bucers Vermittlungstätigkeit in der Abendmahlsfrage nicht zufrieden gewesen sei: „Denn Butzer gab sich, um den Trotz Luthers und seinesgleichen zu erweichen, mit solcher Untertänigkeit selbst preis, daß er in einzelnen Worten ganz unklar blieb. Ein weiterer Grund, der ihn zwang, bestimmten Ausdrücken aus dem Weg zu gehen, war, daß er nicht ganz aufrichtig die Schmach seiner früheren unklugen Äußerungen verdecken wollte, wie er selbst es oft von mir hören mußte.“ Calvin an Vermigli 18.1.1555, CO 15 (CR 43), 386–389, hier: 386; Schwarz II, Nr. 433, 740– 743, hier: 741. Calvins Sicht der Dinge ist übrigens ein Argument zugunsten meiner Interpretation von Bucers Rolle im frühen Abendmahlsstreit und gegen die die Haltung Bucers vor und nach 1528 stark nivellierende Sicht früher Walther Köhlers, heute Reinhold Friedrichs u.a. (s. Anm. 98), das mir früher nicht hinreichend bewußt war. An Bucer kritisiert Calvin überdies, daß er Zwinglis seines Erachtens definitiv falsche Abendmahlstheologie durch gewundene Uminterpretationen partiell ,retten‘ wollte, Calvin an Zebedée 19.5.1539, CO 10/2 (CR 38/2), 344–347, hier: 345f; Schwarz I, Nr. 36, 116–118, hier: 117. Im Verhältnis zu Brenz gab es allerdings Annäherungen über der Haltung zum Interim (Calvin an Bullinger 21.1.1549, CO 13 [CR 41], 164– 166; Schwarz II, Nr. 457f), während Calvin Amsdorf, unbeschadet beider eindeutiger Ablehnung des Interims, für einen ,Irren‘ hielt (CO 13 [CR 41], 439). 102 April 1539, Calvin an Farel unter Referat über ein Gespräch mit Melanchthon über die zeremoniellen Differenzen, CO 10/2 (CR38/2), 330–332, hier: 331; Schwarz I, Nr. 35, 112–116, hier: 115. 103 Calvin an Farel 10.10.1545; CO 11 (CR 39), 754f.; Schwarz I, Nr. 118, 279f. 104 28.6.1545, Calvin an Melanchthon, CO 12 (CR 40), 98–100; MBW 4, Nr. 3928; dt. Übersetzung nach Schwarz I, Nr. 135, 308f, hier: 308. 101

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Die Maßlosigkeit des „stiernackigen Gottesbarbaren“ in der sächsischen Provinz ließ Calvin seine Loyalität ihm gegenüber sauer werden, denn er war von der zersetzenden Wirkung seiner Polemik und dem Gewinn, den die römische Seite davon haben würde, zutiefst überzeugt. Indem Calvin die Lutheraner mit den aus Jerusalem kommenden Gegnern des Paulus verglich, erkannte er einerseits an, daß das Evangelium einst von Jerusalem/Wittenberg ausgegangen war, betonte aber andererseits, daß seine jüngsten Repräsentanten in Wittenberg gleichwohl weit hinter der Größe der Erzapostel zurückblieben, Unruhestifter wären und Luther, lebte er noch, nicht weniger mißfielen als Calvin selbst105. Gerade weil Luther für Calvin ein „von angeborener Leidenschaftlichkeit hingerissener Mensch“106 war, durfte der Umgang mit ihm und den ihn nachäffenden lutherischen „Berserkern“ nicht seinerseits der Maßlosigkeit verfallen. Der unendliche Abstand, den Calvin zwischen Luther und seinen „Epigonen“ wahrnahm, ermöglichte es ihm, gegen die Lutheraner an Luther festzuhalten und den Wittenberger Reformator in seine geschichtstheologische Universalperspektive einzubeziehen: Luther habe die Burg der päpstlichen Tyrannei gestürmt und das Papsttum ins Wanken gebracht107; lebte er, dessen Heftigkeit zu ___________ 105 Calvin an die Pfarrer von Mömpelgard, 8.5.1544; CO 11 (CR 39), 704–708, hier: 705; Schwarz I, Nr. 113, 270–273, hier: 270; zum Vergleich Wittenberg-Jerusalem im skizzierten Sinne auch Calvin an M. Schenk (Augsburg) 22.4.1560, CO 18 (CR 46), 61f, hier: 61; Schwarz III, Nr. 621, 1054f, hier: 1054. 106 Calvin an die Pfarrer in Zürich, 13.11.1554; CO 15 (CR 43), 303–307, hier: 305: „Sed quum videbam hominem [sc. Luther] nativa alioqui intemperie elatum tales spumes evomere, prout aliunde erat impulsus, sepultis illis contentionibus, sumpsi quod ad pacem aptius erat.“ Schwarz II, Nr. 422, 720–722, hier: 721. In demselben Schreiben aber berichtet Calvin aus dem Kontext des Wormser Religionsgesprächs, daß der Markgraf von Baden nach Melanchthons Änderung des Abendmahlsartikels in der CA an Luther gesandt habe, um ihn gegen die Oberdeutschen aufzubringen. „Und da gab nun Luther einmal in seinem Leben ein Beispiel von Mäßigung, indem er diesen Verräter [sc. den Gesandten, einen Fürsten von Anhalt] sich davonmachen hieß und uns sogar freiwillig seine böse List aufdeckte.“ Ebenda, 722; zu Calvin auf dem Wormser Religionsgespräch vgl. Klaus Ganzer/Karl-Heinz zur Mühlen (Hrsg.), Akten der deutschen Religionsgespräche im 16. Jahrhundert: Zweiter Band: Das Wormser Religionsgespräch (1540/41), 2 Bde., Göttingen 2002 (s.v. Calvin im Register); ähnlich eine Berufung auf Luthers Milde gegenüber Marbach in Straßburg 25.8.1554, CO 15 (CR 43), 211–214, hier: 212f.; Schwarz II, Nr. 409, 701–703, hier: 702; im August 1554 (Calvin an Melanchthon 27.8.1554; CO 15, 215–217; MBW 7, Nr. 7273; Schwarz II, Nr. 411, 705) berief sich Calvin gegenüber Melanchthon darauf, daß Luther lebenslang vor allem dafür gekämpft habe, den Sakramenten ihre Wirksamkeit zu belassen. Genau dies aber wahre er, so daß sich Calvin geradezu als derjenige darstellen kann, der die entscheidende Intention der Sakramentenlehre Luthers aufrechterhielt, vgl. auch Calvin an M. Schalling 25.3.1557, CO 16 (CR 44), 428–431; Schwarz III, Nr. 522, 883–885. 107 Calvin, Widmungsvorrede zum Kommentar zu den katholischen Briefen an Eduard VI. von England; CO 14 (CR 42), 30–37, hier: 31: „Res quidem hactenus clara ac testata fuit, ex quo labefactari coepit a Luthero, quotquot illam tyrannidis arcem occuparunt …“. Vgl. Schwarz II, Nr. 311, 542–550, hier: 543.

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tadeln, dessen Vorzüge aber denen, die sich leidenschaftlich auf ihn beriefen, unendlich überlegen seien108, hätte sich die tiefgreifende Spaltung, die über den Kontroversen mit Luthers „Affen“109 aufgebrochen seien, vermeiden lassen. Luthers entscheidendes Verdienst, das der Glaubensexulant in Genf über den innerreformatorischen Zerwürfnissen nicht aus dem Blick verlor, war, daß er das organisierte Reich des Papstteufels zum Einsturz zu bringen begonnen hatte, als erster den Funken des Evangeliums aufglänzen sah und so die Tür zum Heil aufstieß und daß er, der nur heilen und bessern wollte, nach und nach erkannte, daß allein eine ab radice ansetzende, also eine „radikale“ Reformation die Kirche zu erneuern vermöge110.

IV. Calvin hat den reformierten Kirchentümern, die er gestaltete, die sich auf ihn beriefen, die mit Hilfe seiner Theologie überlebensfähig wurden, ja eine eindrückliche, expansive Lebenskraft zu entfalten vermochten, das Bewußtsein vermittelt, daß das Licht des Evangeliums nach Jahrhunderten der papstkirchlichen Finsternis zuerst durch Luther wieder zu leuchten begonnen habe. An Luther als einem Apostel Christi hat er stärker als irgend ein anderer führender Theologe des sich formierenden reformierten Protestantismus festgehalten und in bezug auf die maßgeblichen Grundentscheidungen reformatorischer Theologie das, was ihn mit Luther verband, stärker betont als die trennenden Momente, die er gleichwohl in aller Schärfe wahrnahm. Gegen Luthers theologische Parteigänger hat er an Luther festgehalten und die gemeinsame Front gegenüber Rom gegenläufig zur Konfessionalisierungstendenz zu sichern versucht. Gerade aus der für den französischen Exulanten zeitlebens prägenden Perspektive des bedrängten westeuropäischen Protestantismus heraus erschien das Gemeinsame der Reformation wichtiger als das konfessionell Trennende, dem freilich v.a. im Reich eine immer zentralere Bedeutung zufiel. In bezug auf Calvin und seine europäischen Wirkungen wird besonders fraglich, ob das als Interpretationskonzept der deutschen Geschichte relativ plausible Konfessiona-

___________ 108 Calvin an M. Sidemann (Erfurt), 14.3.1555; CO 15 (CR 43), 501f; Schwarz II, Nr. 444, 764. 109 Vgl. nur: CO 15 (CR 43), 384; CO 18 (CR 46), 62; CO 18 (CR 46), 84; CO 20 (CR 48), 76. 110 Vgl. Bes.: Defensio sanae et orthodoxae doctrinae de servitute et liberatione humani arbitrii adversus calumnia Alberti Pighii (1543), CO 6 (CR 34), 225–404, s. o. Anm. 86.

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lisierungsmodell für die europäische Geschichte der Frühneuzeit eine vergleichbare Durchschlagskraft besitzt111. Calvins intellektuelle Unabhängigkeit und innere Freiheit im Verhältnis zu Luther ging über das Maß der seitens sogenannter Lutherschüler angestrebten und erreichten Selbständigkeit gegenüber dem Wittenberger Reformator so deutlich hinaus, daß es eher zu Mißverständnissen führen als zu Klärungen beitragen dürfte, Calvin einen „Schüler Luthers“ zu nennen. Freilich diente sein Lebenswerk keiner anderen Reformation als der, die von Luther ihren Ausgang genommen hatte112: der einen Reformation in der Vielfalt ihrer Ausprägungen und Inkulturationsformen, der Widersprüchlichkeiten ihrer Theologien und Organisationsgestalten, der Differenziertheit ihrer Bekenntnisbildungen, ihrer Politik- und Gesellschaftstheorien; der einen Reformation in der Offenheit ihrer historischen Kontexte und der Diversität ihrer Konkretionen. Eine historische Konzeption, die mit Calvin eine andere, eine zweite Reformation nach der ersten, der Lutherschen, beginnen ließe, könnte sich zweifellos auf Luthers „Affen“, schwerlich aber auf Calvin berufen. Sofern man also dem Begriff der Reformation auch weiterhin eine spezifische historiographische Bedeutung zuerkennen will, sollte man ihn im Singular deklinieren: Luther und Calvin – eine Reformation.

___________ 111 Insofern ist es möglicherweise nicht nur Ausdruck der Ignoranz gegenüber der Konfessionalisierungsforschung, wenn der von Andrew Pettegree/Alastair Duke/Gillian Lewis hrsg. Band: Calvinism in Europe 1540–1620, Cambridge 1994, auf eine Auseinandersetzung mit dem Konfessionalisierungsparadigma verzichtet. Für Heinz Schilling war Calvin gleichwohl derjenige Theologe, der im Vergleich mit Luther, Loyola, Zwingli, u.a. „institutionell und theologisch die tragfähigste Basis für eine umfassende Beeinflussung der Gesellschaft im Geiste des neuzeitlichen Konfessionalismus und seiner Denk- und Verhaltensnormen gelegt hat“. Luther, Loyola, Calvin und die europäische Neuzeit, in: ARG 85 (1994), 5–34, hier: 24f. Zur Diskussion um die Konfessionalisierung in bezug auf das Reformiertentum vgl. Christoph Strohm, Ethik im frühen Calvinismus [AKG 65], Berlin u.a. 1996 sowie Heinz Schillings Auseinandersetzung mit Bodo Nischan, in: Nochmals „Zweite Reformation“ in Deutschland, in: ZHF 23 (1996), 501–524. 112 Entgegen dem von Heinz Schilling in religionssoziologischer Perspektive konturierten dreifältigen Anfang der frühmodernen europäischen Religionsgeschichte (Am Anfang war Luther, Loyola und Calvin – ein religionssoziologisch-entwicklungsgeschichtlicher Vergleich [1993], in: ders., Ausgewählte Abhandlungen zur europäischen Reformations- und Konfessionsgeschichte [Historische Forschungen 75], Berlin 2002, 3–10), entgegen aber auch der neuen, letztlich bei der Reichsreform 1495 einsetzenden Darstellung der Reformationsgeschichte von Helga Schnabel-Schüle (Die Reformation 1495–1555, Reclam 17048, Stuttgart 2006) halte ich es aus kirchen-, theologie- und allgemeinhistorischen Gründen für sachlich geboten, den Vorgang der Reformation hinsichtlich ihres Kerngehaltes von Luther her zu entwickeln, vgl. vorerst exemplarisch: Thomas Kaufmann, Vorreformatorische Laienbibel und reformatorisches Evangelium, in: ZThK 101 (2004), 138–174.

Martin Luthers frühe Ordinationen Dorothea Wendebourg Am 14. Mai, dem Sonntag Kantate, des Jahres 1525 vollzog Martin Luther seine erste Ordination. Der Ordinand, dem er die Hände auflegte, war ein Bayer, Georg Rörer aus Deggendorf, uns durch seine Mitschriften von Predigten und Vorlesungen des Reformators bekannt, Ort der Handlung war die Wittenberger Stadtkirche St. Marien. Im Jahr 1527 vollzog Luther wiederum eine Ordination, diesmal an einem gewissen Wolfgang Schwan; Ort war das Städtchen Elster, zwei Wegstunden elbaufwärts gelegen. 1529 ordinierte er den früheren Hallenser Kanoniker Michel Mulleberg in Bergwitz, ebenfalls nahe Wittenberg. Drei Ordinationen. Die erste wird vielfach erwähnt1. Die beiden anderen kamen bis in die jüngste Zeit in keiner reformationsgeschichtlichen oder ordinationsgeschichtlichen Darstellung vor2. Daß sie nicht vorkamen, verwundert kaum. Luther selbst hat nämlich über keine der drei Ordinationen je öffentlich gesprochen oder geschrieben. Wenn wir von der Georg Rörers wissen, verdanken wir das kurzen Notizen in Datumsangaben seiner mitgeschriebenen Lutherpredigten – die Predigt vom Kantatesonntag 1525 sei gehalten worden an jenem 14. Mai, quo ordinatus sum3. Die beiden anderen Ordinationen kamen bei der Visitation des Kurkreises von 1555 zur Sprache, in deren Rahmen die ___________ 1

Z. B. WA 17/I 511, Anm. 1; Georg Rietschel, Luther und die Ordination, Wittenberg 1889 (2.Aufl.), 55f.; Paul Drews, Einleitung zur Ordinationsliturgie von 1535 (WA 38,403ff.), 403; Ders., Die Ordination, Prüfung und Lehrverpflichtung der Ordinanden in Wittenberg 1535, Gießen 1904, 1f.; Hellmut Lieberg, Amt und Ordination bei Luther und Melanchthon, Göttingen 1962, 182; Wolfgang Stein, Das kirchliche Amt bei Luther, Wiesbaden 1974, 190; Georg Kretschmar, Die Ordination bei Johannes Bugenhagen, in: ders., Das bischöfliche Amt. Kirchengeschichtliche und ökumenische Studien zur Frage des kirchlichen Amtes, hrsg. v. Dorothea Wendebourg, Göttingen 1999, 191–220, 207f.; Martin Brecht, Martin Luther (Bd.I-III. Stuttgart 1981, 1986, 1987) II, 277; Ralph F. Smith, Luther, Ministry and Ordination Rites in the Early Reformation Church, New York 1996, 62; Harald Goertz, Allgemeines Priestertum und ordiniertes Amt bei Luther, Marburg 1997, 305. 2 Herausgestellt wurden sie erst kürzlich in der Dissertation meines Schülers Martin Krarup, Ordination in Wittenberg. Die Einsetzung in das kirchliche Amt in Kursachsen zur Zeit der Reformation, Tübingen 2007. 3 WA 16, 226 Anm. Ähnlich in den Zusätzen WA 17/I, 243 Anm. zu Z.26 sowie iBd. XXVII Anm. zu Z.4 und 4/5.

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visitierten Pfarrer gefragt wurden, wie sie ins Amt gekommen seien – Schwan und Mulleberg wiesen auf ihre ein gutes Vierteljahrhundert zurückliegenden Ordinationen durch Luther hin4. In den Akten der Visitation vermerkt, aus denen sie in die Ausgaben der Briefe Luthers gelangten5, entgingen diese Angaben ein Jahrhundert lang jeder weiteren Aufmerksamkeit. Es läßt sich nachweisen, daß Luther in den Jahren um 1530 noch ein oder zwei weitere Male ordiniert hat6. Ja, angesichts der dürftigen Quellenlage ist keineswegs ausgeschlossen, daß es damals noch mehr solcher Ordinationen durch den Reformator gab, von denen wir nur nichts wissen. Gleichwohl handelt es sich um Einzelfälle. Kam es zur offiziellen, allgemeinen Einführung der Ordination für Kursachsen doch erst 1535, als die Universität Wittenberg durch kurfürstlichen Erlaß mit dieser Aufgabe betraut wurde7. Vor allem aber handelt es sich um Akte, denen Luther und die anderen Beteiligten offenbar keine programmatische Bedeutung beimaßen derart, daß damit eine neue Praxis für die evangelischen Territorien oder jedenfalls für Kursachsen begonnen werden sollte wie etwa durch die Einführung obligatorischer Predigt im Gottesdienst oder des Abendmahls unter beiderlei Gestalt. Dagegen spricht nicht nur Luthers Schweigen über jene Vorgänge. Dagegen spricht auch, daß der Wittenberger in anderen Fällen anders vorging und Berufungen ohne rituelle Ordination vornahm oder vornehmen ließ. Und so stellt sich die Frage, wie jene vereinzelten, geradezu erratischen Ordinationen des Reformators einzuschätzen sind. Wie verhalten sie sich zu seinen Aussagen zur Übertragung des Amtes bis zu jener und zu jener Zeit? Wie verhalten sie sich zu seinen anderweitigen Tä-

___________ 4 Es ergab sich zu Schwan, daß er „im pfarramt zur Elster gewesen 28 iar, von Doctor Martino dorthin berufen und ordinirt“ war (Karl Pallas [Hrsg.], Die Registraturen der Kirchenvisitationen im ehemals sächsischen Kurkreise, Bd. II/1: Die Ephorien Wittenberg, Kemberg und Zahna, Halle 1906, 122), zu Mulleberg, daß er „26 iar auf dieser pfarr [sc.Bergwitz] gewest … von Doctore Martino Luthero und Doctore Justo Jona uff diese pfarr berufen und ordiniret“ (iBd. 212). Daß Mulleberg zuvor Kanoniker in Halle gewesen war, wurde bei einer Visitation in den frühen dreißiger Jahren (1533) vermerkt, die bezeichnenderweise an einer Ordination kein Interesse hatte (iBd. 210). 5 Nämlich in die Anmerkungen von Paul Flemming in: Ernst Ludwig Enders (Hrsg.), Dr. Martin Luthers Briefwechsel, Bd. 17, Leipzig 1920, 238f., die erste auf dieser Grundlage in WABr 4 Nr. 1148, Einleitung. 6 Auf jeden Fall die von Luther selbst brieflich (WABr 6 Nr. 2072) erwähnte Ordination von Wolfgang Baumheckel, die zwischen 1531 und 1533 stattfand (angeführt von Flemming [wie Anm. 5], 240 und erörtert von Krarup [wie Anm. 1], 151f.), sowie möglicherweise die von Wenzel Kilmann, die vielleicht 1529 stattfand, wenn sie nicht erst nach Einführung der kursächsischen Ordination vorgenommen wurde (Flemming, 238, Krarup, 259–261). 7 s. dazu Drews, Die Ordination (wie Anm. 1), vor allem aber Krarup (wie Anm. 2), 175ff., der die erste umfassende Darstellung nicht nur der Einführung der Ordination, sondern auch ihrer Vorgeschichte und ihrer Rezeption bietet.

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tigkeiten in derselben Angelegenheit? Welche Rolle spielen sie im Rahmen der Entwicklung von Theorie und Praxis der Ordination in Wittenberg?8 Die ersten Äußerungen Luthers zur Ordination sind kritischer Art. Im Kapitel seiner Schrift De captivitate ecclesiae praeludium über den ordo9 wendet er sich nicht allein gegen Lehre und Praxis des Amtes in seiner Kirche, sondern auch gegen die dazugehörige Priesterweihe. Dabei attackiert er drei Punkte – zwei, die im Grunde amtstheologischer Art sind, und einen, der die Priesterweihe unmittelbar betrifft: Zurückzuweisen sei, daß die Weihe in einen spezifischen Stand einweise und nicht in einen spezifischen Dienst. Abzulehnen sei, daß sie auf das Meßopfer ziele und nicht auf die Verkündigung. Und – das nun unmittelbar weihebezogene Argument – unannehmbar sei, daß sie als von Gott eingesetztes Sakrament und notwendige Zeremonie betrachtet werde. Den Ritus selbst, der schon so lange in Brauch stehe, müsse man allerdings nicht verwerfen. Als ritus Ecclesiasticus10, nicht divinitus institutus11 eingestuft, könne er um des lieben Friedens willen akzeptiert werden12 – ähnlich etwa der Weihe kirchlicher Geräte13. Was Luther bei diesem Ritus im Auge hat, macht er mit den Worten unguere und radere, „schmieren“14 und „scheren“ deutlich: die bei der Weihe vollzogene Scheitel- und Handsalbung und die bei der Aufnahme in den Klerus geübte Tonsur. Gegenüber diesen rituellen Elementen müsse festgestellt werden, daß das Eigentliche und Legitime dessen, was man jetzt als sacramentum ordinis vollziehe, nichts anderes sei als ein ritus quidam vocandi alicuius in ministerium Eccclesiasticum15 oder eligendi Concionatoris in Ecclesia16, also ein geregelter Berufungs- oder Wahlvorgang. Kein Geringerer als der englische König Heinrich VIII. veranlaßte Luther an diesem Punkt zu weitergehenden Überlegungen. In seiner scharfen Replik auf ___________ 8

Es soll hier strikt um diese Fragen gehen. Thema ist also nicht das geistliche Amt selbst (zu diesem vgl. Lieberg [wie Anm. 1], Stein [wie Anm. 1], Smith [wie Anm. 1] und den den Stand dieser Arbeiten in wesentlichen Punkten überholenden und sie korrigierenden Goertz [wie Anm. 1]), und Thema ist auch nicht die Ordinationsregelung von 1535 (dazu s. Drews, Die Ordination [wie Anm. 1], Lieberg, op.cit. und Otto Mittermeier, Evangelische Ordination im 16.Jahrhundert. Eine liturgiehistorische und liturgietheologische Untersuchung zu Ordination und kirchlichem Amt, St.Ottilien 1994, sowie jetzt insbesondere Krarup [wie Anm. 2]). 9 WA 6, 560,19–567,31. 10 IBd. 561,27. 11 IBd. 560,26. 12 IBd. 560,24f.; 563,3f. 13 IBd. 561,28–30. 14 So die – nicht unpolemische – Wiedergabe des lateinischen unguere in deutschen Texten Luthers, z. B. WA 12,318,12. 15 IBd. 566,31f. (hier im acc.). 16 IBd. 564,17.

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De captivitate, der Assertio septem sacramentorum von 152217, die dem königlichen Theologen den Ehrentitel defensor fidei einbrachte, hält Heinrich dem Wittenberger 1.Tim. 4,14, die Anweisung des Paulus an seinen Schüler Timotheus, vor, er solle neuen Amtsträgern die Hände auflegen. Hier sieht er einen Schriftbeweis für die sakramentale Priesterweihe, der dem Autor von De captivitate das Maul stopfe18. Nun treffen Heinrichs Argumente die Luthers nicht, insofern die Sakramentalität der Priesterweihe, wie De captivitate sie verstanden wissen will, mit jener Bibelstelle nicht zu begründen ist, worauf der Wittenberger in seiner Antwort Contra Regem Angliae bzw. Antwort deutsch auf König Heinrichs Buch19 auch sofort hinweist20. Doch der König hat einen Gedanken ins Spiel gebracht, dem sich Luther hinfort nicht mehr entziehen kann: daß seit apostolischen Zeiten Ordination und Handauflegung miteinander verbunden gewesen seien. In der Kritik des Wittenbergers an der Priesterweihe hatte dieser Gedanke bislang keine Rolle gespielt. Das ist nicht erstaunlich. Denn wohl gehörte die Handauflegung als Teilritus zur Priesterweihe, sie hatte aber nur untergeordnete Bedeutung. Wichtiger waren jene Elemente, die Luther in De captivitate anführt: Die Tonsur symbolisierte den besonderen Stand des Klerus, die Salbung war auf das Meßopfer bezogen; dies galt auch für die porrectio instrumentorum, die Übergabe der Meßopfergeräte, die als zentraler Ritus und konstitutive Materie des sacramentum ordinis betrachtet wurde21. Demgegenüber stand die Handauflegung theologisch – und vermutlich für den Priester Martin Luther, der die Weihe ja am eigenen Leibe erfahren hatte, auch erlebnismäßig – ganz im Hintergrund. Erstaunlich ist eher und durchaus ein Zeichen theologischer Bildung, daß König Heinrich – oder einer seiner Berater22 – diesen Teilritus in den Vordergrund schob. In seiner Antwort auf Heinrichs Assertio geht Luther nur am Rande auf die Handauflegung ein. Bei diesem Ritus handele es sich um eine Geistverleihungsgeste, die nach dem Zeugnis des Neuen Testamentes zur apostolischen Zeit in den unterschiedlichsten Zusammenhängen vollzogen worden und kei-

___________ 17 Assertio septem sacramentorum adversus Martinum Lutherum, hrsg. v. Pierre Fraenkel, Münster 1992 (CCath 43). 18 IBd. 211f. 19 WA 10 II, 180–222 bzw. 227–262. 20 IBd. 221,5–8. 21 Vgl. Dorothea Wendebourg, Das Amt und die Ämter, in: ZevKR 45 (2000), 5–37, 13. Lehramtliche Festlegung im Armenierdekret DS 1326. 22 Zur Verfasserschaft vgl. die Einleitung des Herausgebers Fraenkel zu der in Anm. 17 genannten Ausgabe, 14–23.

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neswegs in besonderer Weise mit der Einsetzung von Amtsträgern verbunden gewesen sei23. Im übrigen gehöre sie mit jener Epoche der Vergangenheit an24. Doch trotz dieser kurzen Abfertigung ist Heinrichs Hinweis offenbar bei seinem Gegner haften geblieben: Im folgenden Jahr, 1523, spricht Luther selbst von der Einsetzung ins kirchliche Amt mit Handauflegung. Das geschieht in der Schrift De instituendis ministris ecclesiae an die Böhmen25. Wieder wird die überlieferte Priesterweihe, wird das „Scheren“ und „Schmieren“ usw. abgelehnt26. Und wieder heißt es demgegenüber, die Ordination sei die Beauftragung mit dem Verkündigungsamt27. Eben in diesem Sinne sollten die böhmischen Adressaten jetzt verfahren: Sie sollten einen aus ihrer Mitte für das kirchliche Amt wählen28. Das aber – und dies ist nun neu bei Luther – sollten sie tun mit Gebet und Handauflegung (oratio ac manuum impositio)29. Der ritus eligendi bleibt das Entscheidende; er verbindet sich aber jetzt mit einem liturgischen Akt. Es ist nicht der übliche, theologisch wie kanonisch vorgeschriebene: Salbung, porrectio instrumentorum usw. fallen weg, statt dessen wird eine ganz neue bzw. erneut die ganz alte Geste empfohlen – aber eben eine liturgische Geste. Vielleicht gab Luther diese Empfehlung speziell den Böhmen, die er in ihrer schwierigen Stellung zwischen Auflehnung gegen und Abhängigkeit von Rom möglicherweise nicht mit einer unliturgischen Form der vorgeschlagenen Amtsträgerwahl bedenken wollte30. Findet sich doch in der kurz zuvor an die Gemeinde von Leisnig gerichteten Schrift Daß eine christliche Versammlung … Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen nur der Vorschlag der Berufung oder Wahl aus der Mitte der Gemeinde31. Aber wie dem auch sei – die ___________ 23 WA 10 II, 221,5–9; 240,13–16. Wenn Goertz (wie Anm. 1), 321 schreibt, Luther argumentiere hier „vielleicht aus taktischen Gründen wider besseres Wissen“, und das mit einem Hinweis auf einen Text von 1528 belegt, übersieht er, daß Luther sich in den Jahren vor der Antwort an König Heinrich auch sonst ähnlich äußert, s. WA 6,549,22– 24; 10 I/1, 117, 8–15. 24 WA 10 II 221, 8f.: Diese Geste gehöre in die damalige Zeit (tunc). 25 WA 12,169–196. 26 IBd. 191,4f.; 192,29f. 27 IBd. 191,15f. 28 IBd. 193,37f., s.a. 191,22f. 29 IBd. 191,23 (dort Plural, weil die Wahl mehrerer Amtsträger für möglich gehalten wird); s.a. 193, 22–39. 30 Vgl. die Einleitung zu De instituendis ministris, die auf die Entstehungssituation, die Lage der Adressaten sowie auf den literarischen Charakter der Schrift eingeht (iBd. 160–163) und vgl. die Beschwichtigung ihrer Ängste vor „Neuerung“ in der Schrift selbst (iBd. 192,34–193,21). Doch selbst bei den Böhmen soll dieser Ritus nicht sofort überall eingeführt werden, sondern nur in einzelnen Gemeinden, denen dann andere folgen können (iBd. 194, 4–6) – Luthers bevorzugte, weil freie Weise der Einführung neuer Formen des kirchlichen Lebens (vgl. WABr 3, Nr. 793, 25–27; WABr 4, Nr. 1071,20–24). 31 WA 11, 408–416, hier 411, 28; 412,32; 413,10–12; 414,13.

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Ordination mit Gebet und Handauflegung sollte in Luthers Überlegungen fortan einen festen Platz haben. Vom Jahr 1523 an finden sich immer wieder entsprechende Aussagen bei ihm32. Dabei gibt er auch an, welche Bedeutung diese rituellen Elemente für ihn haben: Entscheidend ist das Gebet, eine Bitte um den Beistand des Heiligen Geistes vor allem für die handelnde Gemeinde, die bei der Wahl der Hilfe des Geistes bedarf33, dann auch für den Ordinanden34. Das Gebet für den Ordinanden dient zusammen mit der Handauflegung seiner commmendatio und confirmatio, d. h., diese Akte sollen den Gewählten der Gemeinde als ihren neuen Amtsträger empfehlen und die Wahl öffentlich sichtbar bestätigen35. Im Mittelpunkt des Geschehens steht also die Berufung oder ___________ 32 So nach der Schrift an die Böhmen vom Herbst 1523 gleich zweimal in Predigten des Jahres 1524 (beide angeführt von Drews in der Einleitung zur Wittenberger Ordinationsliturgie von 1535, WA 38, 402): Zum einen in der vom 23. Mai 1524, wo davon die Rede ist, daß in apostolischer Zeit Amtsträger wie in Apg.13,2 „bestätigt“ (confirmare) worden seien und daß ihre Einsetzung wieder wie damals erfolgen sollte, d. h. ut coram ecclesia pro eis oraretur eisque commendaretur verbum dei praedicandum (WA 17/I 511, 3–7). Die zugrunde-liegende Stelle Apg.13,2 spricht ebenso wie die Rede vom confirmare, in dem Luther damals den Sinn der Handauflegung sieht (s. das Folgende), dafür, daß hier eine Ordinationsritus mit Gebet und Handauflegung gemeint ist und die Randglosse zu confirmare vocationem, nämlich per preces, manus impositionem die Stelle richtig interpretiert. Sodann in einer Predigt vom 21.Oktober 1524, wo es heißt, die Evangelischen müßten „mit der Zeit Prediger ordinieren“ (Debemus … cum tempore praedicatores ordinare), und sie würden diese in ihr Amt „empfehlen“ (in nostrum ministerium commendabimus) (WA 15, 720, 13f.; 721,2). Auch hier ist davon auszugehen, daß Luther einen rituellen Akt im Auge hat, denn das commendare ist für ihn damals ebenfalls Sinn der Handauflegung (s. das Folgende oben im Text), auch hätte ein Vorsatz für die Zukunft zu ordinieren, wenig Sinn, wenn damit nur die Berufung gemeint wäre, da solche Berufungen bereits vielfältig geübt wurden (gegen Rietschel [wie Anm. 1], der für die damalige Zeit ausschließt, daß Luther mit ordinare einen gottesdienstlichen Akt gemeint habe; vgl. Krarup [wie Anm. 2], 83); wie fließend die Dinge aber noch sind, zeigt ein Satz derselben Predigt wenige Zeilen später, in dem es heißt Ex ordinatione constituitur auß der wal, ut maneat ordo, ne quisquis velit praedicare (iBd. 721,12f.) – hier ist offensichtlich, wie in den frühen 20er Jahren, ordinare Begriff für die Berufung selbst. 33 WA 12, 193,29–35. 34 IBd. 191, 23f. 35 IBd. 193,39–194,2: tum [sc. nach der Wahl] impositis super eos [sc. die Gewählten] manibus illorum, qui potiores inter vos fuerint, confirmetis et commendetis eos populo et Ecclesiae et universitati, sintque hoc ipso vestri Episcopi, ministri seu pastores, Amen. 191,23–25: orationibus ac manuum impositionibus universitati commendare et confirmare, atque eos tum pro legitimis Episcopis et ministris verbi agnoscere et colere. Das Wort episcopus steht gemäß der theologischen Gleichsetzung von „Pfarrer“ und „Bischof“ durch die Wittenberger Reformatoren hier für den Gemeindepfarrer. In der Passage, in der die Schrift an die Böhmen auch die Einrichtung einer Diözesanordnung erwägt, nennt er diese folgerichtig archiepiscopatus, zustandegekommen dadurch, daß die Gemeindebischöfe einen oder mehrere aus ihrer Gruppe zum maior oder zu maiores illorum wählen (iBd. 194, 14–20). Vgl. Dorothea Wendebourg, Die Reformation in Deutschland und das bischöfliche Amt, in: dies., Die eine Christenheit auf Erden. Aufsätze zur Kirchen- und Ökumenegeschichte, Tübingen 2000, 195–224, 203.

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Wahl. Ihr sind die übrigen, rituellen Elemente unterstützend und interpretierend zugeordnet. Dem entspricht die Reaktion der Gemeinde: Sie bringt, indem sie den neuen Amtsträger annimmt, zum Ausdruck, daß in dem, was der consensus communis fidelium, Euangelion agnoscentium et profitentium bei dem vorangegangenen Akt getan hat, Gott am Werk gewesen ist36. Sowenig die Übertragung des Amtes als Sakrament betrachtet werden kann, so sehr ist sie doch ein geistlicher Vorgang, hinter dem Gott selber steht. Den Ausschlag dafür, daß das so ist, gibt der rechte, auf das Evangelium gerichtete Glaube derer, die den Akt vollziehen. Bei Vorschlägen und Überlegungen sollte es nun aber nicht bleiben. Anderthalb Jahre nach De instituendis ministris setzte Luther den Vorschlag an die Böhmen selbst in die Tat um – und damit sind wir zum Ausgangspunkt zurückgekehrt: Georg Rörer wurde mit Gebet und Handauflegung ordiniert. Vollzogen wurde der Ritus von fünf Personen: imponentibus manum Luthero, Pomerano, Philippo, Consule, Iudice37. D. h., außer Luther selbst, den der Ordinand als den Leiter des Vorgangs kennzeichnet38, waren Johannes Bugenhagen als Wittenberger Stadtpfarrer, Philipp Melanchthon als Repräsentant der Universität sowie der Bürgermeister und ein Richter beteiligt. Diese beiden vertraten die Gemeinde, in deren Hand die – durch den Rat vollzogene – Berufung lag. Die Gemeinde selbst – tota ecclesia Wittenbergensis, schreibt Rörer – war bei der Handauflegung gegenwärtig39. Damit hatten die Wittenberger Reformatoren eine evangelische Form für die Übertragung des kirchlichen Amtes gefunden. Und diese Form schloß einen liturgischen Akt, schloß Gebet und ___________ 36

WA 12, 191,25–27. WA 16, 226, Anm. Wenn es dort heißt, Rörer sei ordiniert worden in diaconum Ecclesiae Wittenbergensis, ist diese Angabe nicht im Sinne des mittelalterlichen Diakonats, also als Weihestufe unterhalb des Priesteramtes bzw. Presbyterats, zu verstehen, sondern meint nach Wittenberger Sprachgebrauch das eine geistliche Amt der Predigt und Sakramentsverwaltung in rechtlich untergeordneter Wahrnehmung, also in der Stellung eines Kaplans oder Hilfspredigers. Das wird bestätigt durch die Notizen Rörers, in denen er vermerkt, daß er am Sonntag zuvor von Luther berufen worden sei, und zwar zum Presbyterat (Hoc die vocatus ad presbyteratum per Doctorem erat 7.Maij Anno 25) (WA 17/I, 193 Anm. zu Z.1; ähnlich iBd. XVII Anm. zu Z.8 mit der irrtümlichen Angabe 3. Mai). 38 S. die anderen Hinweise auf die Ordination, die in Anm. 3 und 38 angeführt werden. Man sollte erwarten, daß Bugenhagen als Stadtpfarrer die leitende Rolle gespielt hätte, wie das später auch der Fall sein sollte. Doch ging dieser Akt auf Luthers Initiative zurück, während Bugenhagen einer solchen Ordination zunächst ablehnend gegenüberstand (s. u. Anm. 55); Kretschmar [wie Anm. 1], 206–208; daß die Tatsache der Ordination durch Luther, wie Kretschmar schreibt [208], Ausdruck eines Konflikts der beiden Reformatoren über diese Frage gewesen sei, ist aber überzeichnet, denn in diesem Fall hätte sich Bugenhagen kaum an der Ordination Rörers beteiligt – so zu Recht Krarup [wie Anm. 2], 90, Anm. 28). 39 WA 16, 226, Anm. 37

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Handauflegung ein. Es ist davon auszugehen, daß Luther in Elster und Bergwitz 1527 und 1529 ebenso verfuhr, auch wenn unsere Quellen dazu keine Angaben machen. Man sollte also meinen, mit der Rörerschen Ordination habe das Verfahren festgestanden, mit dem fortan Pfarrer im Wittenberger Einflußbereicht ins Amt kamen. Eben das trifft aber nicht zu. Die genannten Fälle sind, wie bereits gesagt, Ausnahmen. Daß sie Ausnahmen sind, geht allerdings nicht schon aus ihrer geringen Zahl hervor. Denn diese ließe sich u.U. damit erklären, daß in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren kein großer Bedarf an neuen Amtsträgern bestand, weil man genügend Pfarrer aus vorreformatorischer Zeit besaß, die sich für die Reformation entschieden hatten. In der Tat war oder wurde die überwiegende Zahl der kursächsischen Gemeinden auf diese Weise versorgt, aber durchaus nicht alle, zumal in den dreißiger Jahren nicht. Und so zeigen die Quellen, vornehmlich Briefe, Luther und die anderen Reformatoren mehrfach damit beschäftigt, evangelische Gemeinden mit neuen Amtsträgern zu versorgen. Auffällig ist nun hier – und das sind die Fälle, in denen sich Luther anders als bei den drei genannten Ordinationen selbst äußert –, daß eine rituelle Ordination bei jenen Bemühungen überhaupt keine Rolle spielt. So haben wir bis weit in die dreißiger Jahre hinein Belege, daß die Wittenberger Reformatoren junge Theologen als Amtsträger schickten, die nicht ordiniert wurden40. Ein besonders prominentes Beispiel am Ort selbst ist Caspar Cruciger, der von 1528 an als minister verbi divini an der Wittenberger Schloßkirche wirkte, ohne je ordiniert zu werden41. Diese Praxis spiegelt sich in dem wichtigsten kirchenrechtlichen Dokument der kursächsischen Reformation jener Jahre, dem Unterricht der Visitatoren von 152842. In dem Abschnitt „Von Verordnung der Superattendenten“43 wird dort lang und breit ausgeführt, daß neue Pfarrer auf Lehre, Lebenswandel und pastorale Geschicklichkeit geprüft werden müßten. Ein liturgischer Akt zur Amtsübertragung ist nicht vorgesehen44. Worauf es bei der Übertragung wie ___________ 40

Beispiele bei Krarup [wie Anm. 2], 103–106, 111–113. Vgl. Friedrich de Boor, Art. Cruciger, Caspar d.Ä., in: TRE 8, 238–240. 42 WA 26,195–240; CR 26, 43/44; Melanchthon, Werke in Auswahl, hrsg. v. R. Stupperich, Gütersloh 1951, I, 216–271; E. Sehling (Hrsg.), Die evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, Bd.I/1ff., Leipzig 1902ff., I/1, 149–174. 43 WA 26,235; CR 26, 43/44; Melanchthon, Werke [wie vorige Anm.], I, 264f.; Sehling [wie vorige Anm.], I/1, 171. 44 Auffällig ist der Kontrast zur Homberger Kirchenordnung (Reformatio ecclesiae Hassiae) von 1526 (Sehling [wie Anm. 42], VIII/1, 43–65), die nach Wahl, Prüfung und Bestätigung der Wahl von Amtsträgern deren Einführung mit Gebet und Handauflegung vorsieht (Kap.21). Bekanntlich trat diese Ordnung auf Luthers Einspruch (WABr 4 Nr. 1071) nicht in Kraft. Die Kritik des Wittenbergers galt zwar nicht speziell den Bestimmungen zur Amtsübertragung, machte mit dem gesamten Text aber auch diese gegenstandslos. 41

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bei der Führung des Amtes ankommt, ist allein die theologische und persönliche Eignung. Man muß Männer suchen, die „geschikt, gelert, gotfortig, verstendigk, tuchtig leut weren, die andere Christum leren und zeigen konden“, und sie senden, heißt es bei Luthers Mitvisitator Friedrich Mykonius45. Und der Gothaer Pfarrer fügt sogleich hinzu, was das negativ heißt: Man soll geeignete Männer suchen „unangesehen, das sie nit von pischoffen geschmirt werden.“ Ob diese Männer geweiht sind oder nicht, soll also keine Rolle spielen. Entscheidend ist allein: Man soll sie „examiniren, ob sie auch tuchtig weren, Christum zu predigen“. Examinieren – nicht etwa ordinieren. Ähnlich äußert sich Melanchthon einige Jahre später46 und gibt damit die Leitlinie des Wittenberger Verfahrens wider: Hier am Ort habe man bei der Besetzung kirchlicher Stellen bislang aus pragmatischen Gründen eher auf geweihte Priester (initiati) zurückgegriffen – das Volk habe sie lieber, und man müsse diese Leute, die es ja nun einmal gab, auch versorgen47. Auch in anderen Städten möge man so verfahren. Wenn man aber ungeweihten Männern das Amt übertragen wolle, solle man sie sorgfältig prüfen. „Öffentliche Zeremonien“ (publicae ceremoniae) seien dabei unnötig48 – eine Formulierung, mit der nur eine gottesdienstliche Ordination gemeint sein kann. Das sollte im übrigen hinsichtlich der Predigt ebenso wie hinsichtlich der Sakramentsverwaltung gelten. Im Jahre 1532 war dieser Gesichtspunkt unter den Wittenbergern zur Sprache gekommen, als ihnen von Spalatin ein gewisser Bonaventura aus der Superintendentur Altenburg geschickt wurde, damit sie über seine Eignung zum kirchlichen Amt befänden. Allerdings hatte der Mann bereits als Pfarrer gearbeitet. Geweiht war er nicht (non … initiatus more veteri)49. Nach Absprache mit Luther gab Melanchthon brieflich das Wittenberger Urteil kund50: Bonaventura solle eine Probepredigt halten. Falle die befriedigend aus und sei der Mann auch sittlich einwandfrei, spreche nichts dagegen, ihm wiederum eine Gemeinde anzuvertrauen. Ausdrücklich wird gesagt und mit Luthers eigenem Votum belegt, daß dazu auch die Sakramentsverwaltung ___________ 45

Der Bericht des Mykonius über die Visitation des Amtes Tenneberg im März 1526, hrsg. v. Paul Drews, in: ARG 3 (1905/06), 1–17, 13; vgl. dens., Einleitung zur Ordinationsliturgie [wie Anm. 1], 407. 46 Brief an Spalatin, geschrieben wohl Anfang 1533, CR 2, Nr. 1156 (MBW 1310); auch auf diesen Brief hat Flemming hingewiesen (wie Anm. 5, 239f.), erstmals herangezogen wurde er von Krarup [wie Anm. 2], 113–115. 47 Noster hic mos fuit hactenus, initiatos praeferre ĮȝȣȒIJȠȚȢ, non solum quod populus libentius utitur initiatis, sed etiam quod illorum necessitati consulendum est (Sp.695). 48 Ibd. 49 So der in der folgenden Anm. genannte Brief, Sp.573. 50 Brief an Spalatin vom September 1532, CR 2, Nr. 1039 mit 3,1271 (MBW 1279), vgl. Flemming [wie Anm. 5], 239f. und Krarup [wie Anm. 2], 111–113.

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gehören sollte, wie Bonaventura sie ja schon länger geübt habe und so auch weiterhin ohne Anstoß üben werde51. Davon, daß man eine Ordination erwogen oder gar für erforderlich gehalten hätte, ist keine Rede, eine „öffentliche Zeremonie“ gilt auch hier als unnötig. Eine rituelle Ordination ist nicht erforderlich, die Berufung ins kirchliche Amt möge getrost ohne einen solchen Akt geschehen – das war die Wittenberger Marschroute bis 153552, im Blick auf Amtsträger außerhalb Kursachsens, für die die 1535 eingeführte Ordinationsregelung nicht galt, auch noch darüber hinaus. Damit stellt sich nun einmal mehr und um so stärker die Frage: Was bedeuten dann jene drei Ordinationen, die Luther 1525, 1527 und 1529 vollzog? Kehren wir also nochmals zu ihnen zurück. Georg Rörers Ordination fand am 14. Mai 1525 statt. Das ist nicht irgendein Datum. Es ist ein Sonntag mitten im Bauernkrieg53. Eine Woche zuvor, am ___________ 51 Postquam intellexit Lutherus, hunc [sc.Bonaventuram] diu iam tractasse sacramenta eamque rem nihil habi-turam [esse] offensionis, iubet ei committi ecclesiolam, si mores tibi probentur (Sp.573f.). Klein sein soll die Gemeinde, da, wie es weiter heißt, Bonaventuras theologische Gaben beschränkt sind. – Deutlich ist, daß über die Frage der Sakramentsverwaltung pragmatisch entschieden wird. Prinzipiell wird sie nicht anders behandelt als die der Predigtbefugnis. Entscheidender Gesichtspunkt für das pragmatische Urteil aber ist die Haltung der Gemeinde. Von dem Fall Bonaventura fällt auch Licht auf die – vielfach und kontrovers diskutierte, wegen des dunklen historischen Hintergrundes nicht in allen Einzelheiten aufzuklärende – Stellungnahme Luthers zu der Frage, ob der Göttinger Prediger Johann Sutel ohne Ordination das Abendmahl verwalten dürfe (WABr 6,Nr. 1787); s. zu diesem Fall Krarup [wie Anm. 2], 106–111 mit Hinweisen auf die kontroverse Literatur. 52 Es trifft also nicht zu, daß es „Luther schon im Herbst 1524 klargeworden [sei], daß es einer Ordination zum kirchlichen Amt bedurfte“, wie sie 1525 bei Rörer geschah, was Brecht [wie Anm. 1], II, 277 schreibt. Ein Bedürfnis im Sinne strikter theologischer Notwendigkeit sahen die Wittenberger im übrigen hier niemals, auch nach der Einführung der Ordinationsregelung von 1535 nicht, wie deren Beschränkung auf Kursachsen zeigt. Als Mittel gegen eindringende Irrlehren, in denen Brecht (ibd.) den Grund für das Bedürfnis einer Ordination sieht, galten die ordentliche Berufung und die Prüfung. Wenn Lieberg [wie Anm. 1], 231 ausgerechnet die Schrift an die Böhmen als Beleg dafür ansieht, daß „Luther die Ordination von der Schrift her für notwendig“ gehalten habe, dann überliest er, daß es hier ausdrücklich heißt, sie sei nicht nur ein ritus Apostolicus, sondern auch ein ritus liber (WA 12, 194, 20f.) – sie wird damit ähnlich eingeordnet wie andere apostolische Bräuche, etwa das Heilen durch Handauflegung, denen kein Verpflichtungscharakter zukommt. Die Relativierung des Ritus, die Luther König Heinrich gegenüber vorgenommen hatte (s. o.), hält sich also durch, obgleich er das Relativierte nun positiv würdigt und selbst empfiehlt. Damit steht Luther nicht allein. So schreibt Bugenhagen 1524: Impositio … manuum servata est ab apostolis non ut necessaria res, alioqui cur etiam Christus non imposuit apostolis manum? (Bugenhagen, Annotationes ab ipso iam emissae. In Deuteronomium …, Basel 1524, 178); vgl. a. seinen Kommentar zu den Pastoralbriefen aus demselben Jahr (s. Drews, Einleitung zur Ordinationsliturgie [wie Anm. 1], 403, und Kretschmar [wie Anm. 38], 205f.) sowie die in Anm. 56 genannte Predigt. Daß Melanchthon über die Notwendigkeit der Ordination ebenso dachte, zeigen die oben angeführten Passagen. 53 Vgl. Kretschmar (wie Anm. 1, 207f.).

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6. Mai, war Luther tief verstört aus dem Aufstandsgebiet zurückgekehrt, seine zweite Bauernkriegsschrift „Wider die stürmenden Bauern“ wurde gerade gedruckt, einen Tag später, am 15. Mai, sollte es zur Entscheidungsschlacht von Frankenhausen kommen. Diese zeitliche Koinzidenz ist wohl kein Zufall. Wie aus Predigten und Vorlesungen Luthers54 und Bugenhagens55 hervorgeht, muß es schon etliche Monate lang Diskussionen über die Möglichkeit einer rituellen Ordination in Wittenberg gegen haben. Diese Überlegungen blieben vorerst Theorie; Bugenhagen äußerte sich noch im April ablehnend56. Warum dann aber im Mai der plötzliche Sprung in die praktische Umsetzung? Man wird nicht fehlgehen, diese Tat mit dem anderen einschnitthaften Akt zu parallelisieren, den Luther im Zusammenhang des Bauernkriegs vollzog: seiner Heirat. Lange erwogen und doch nicht realisiert, wurde der Schritt in die Ehe getan, als alles zusammenzustürzen und Himmel und Erde selbst ans Ende gekommen schienen. Es war ein Bekenntnisakt, mit dem der Reformator gerade jetzt, allen Widersachern und dem Teufel selbst zum Trotz, in spektakulärer Eindeutigkeit zu seiner Sache stand57. Wird Rörers Ordination auf diesem Hintergrund gedeutet, gewinnt sie beträchtliches Gewicht. Denn dann ist auch sie zu verstehen als konfessorische Tat von höchstem Ernst im Angesicht des Weltgerichts. Luther und die anderen Ordinatoren bekennen sich nicht nur erneut zum Evangelium, wie es die Reformation wiederentdeckt hatte. Sondern sie bekennen sich auch, gerade jetzt, angesichts des Zusammenbruchs aller Ordnungen, dazu, daß dies wiederentdeckte Evangelium öffentlich zur Sprache gebracht wird. Ist es doch die Öffentlichkeit der Verkündigung, für die das kirchliche Amt stehen soll – die Öffentlichkeit im Raum wie in der Zeit, die Geltung des Evangeliums „allenthalben und jmerdar“58. Dann aber ist es angemessen, die Übertragung dieses Am___________ 54

s. o. s. die beiden in Anm. 52 angeführten, auf Vorlesungen zurückgehenden Bibelkommentare sowie seine Predigt vom 22. April 1525, also einem Datum kurz vor Rörers Ordination, in der Bugenhagen nochmals die Handauflegung als einen unspezifischen, nur u.a. bei der Übertragung des Amtes und selbst da nicht immer gebrauchten Akt der Apostel kennzeichnet, sie auch für die Gegenwart nicht für unmöglich erklärt, aber als Anlaß zu Fehldeutungen ablehnt (Georg Buchwald [Hrsg.], Ungedruckte Predigten Johann Bugenhagens aus den Jahren 1524 bis1529, Leipzig 1910, 217,27–35). 56 s. vorherige Anm. 57 Vgl. Martin Greschat, Luthers Haltung im Bauernkrieg, in: ARG 56 (1965), 31– 47: „Dem letzten tobenden Ansturm des Teufels antwortet das Bekenntnis des Glaubens … In diese Front reiht er [sc.Luther] sich ein, wenn er jetzt, in der Erwartung des sicheren Todes, seinen Entschluß zur Heirat mit Katharina von Bora kundtut, um so für Gottes Willen, der die Ehe gebot, einzustehen“ (38 mit Verweis auf WABr 3, Nr. 860, 81– 83). 58 WA 21,284,14: Die Amtsträger sind dazu da, daß das Evangelium „allenthalben und jmerdar schallen sol in der welt.“ Zur Öffentlichkeit der Verkündigung im Sinne ihrer überindividuellen Wahrnehmung als Spezifikum des Amtes im Unterschied zum all55

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tes nicht nur öffentlich vorzunehmen, wie Luther es immer gefordert hatte, sondern sie auch in einer Weise zu gestalten, die schon seit ältesten Zeiten für diesen Akt belegt ist: nach „apostolischem Brauch“, dem mos apostolicus, wie der Wittenberger seit der Schrift an die Böhmen die Ordination mit Gebet und Handauflegung nennt. Nicht nur die Tatsache, sondern auch die Gestalt der ersten Wittenberger Ordination hat also konfessorischen Charakter. Mit diesem Bekenntnis geschah, was der Luthereditor Johannes Aurifaber später mit den Worten formulierte: Nach der Wiederentdeckung des Evangeliums und der Wiederherstellung des evangeliumsgemäßen Amtes denuo instaurata est ordinatio apostolica59. Was aber im Ernst des Bekenntnisaktes zur Geltung gebracht wurde, galt erst recht, als das Leben wieder seinen gewohnten Lauf nahm: Luthers Ordinationen von 1527 und 1529 bestätigen, daß er an der Entscheidung von 1525 festhielt. Insofern läuft eine gerade Linie vom 14. Mai 1525 zum 12. Mai 1535, der Einführung der allgemeinen kursächsischen Ordination. Dafür, daß Rörers Ordination als konfessorischer Akt zu verstehen ist, spricht nicht nur das Datum, sondern auch noch ein anderer Befund: Es bestand keinerlei äußere Notwendigkeit, den bayerischen Theologen in Wittenberg ins kirchliche Amt zu bringen. Es wird oft behauptet, die Reformatoren hätten ihre eigene Ordinationspraxis begründet, weil ihnen die geweihten Amtsträger ausgegangen seien und sie folglich Ersatz für die alte Priesterweihe hätten schaffen müssen60. Dafür gibt es in jenen Jahren keinen Anhaltspunkt. Was Melanchthon in dem zitierten Brief von 1533 schreibt, daß man nämlich Mühe habe, die vorhandenen ehemaligen Priester mit Stellen zu versorgen61, muß 1525 erst recht gegolten haben. Hinzu kommt, daß zumindest einer der drei von Luther in den zwanziger Jahren Ordinierten, Mulleberg, vor seiner Ordination lange Jahre Kanoniker in Halle, mit hoher Wahrscheinlichkeit geweiht war62, Bugenhagens Hamburger Kirchenordnung von 1529, die die Ordination mit Handauflegung für die norddeutsche Hansestadt vorsieht, schreibt sogar ausdrücklich vor, dieser Ritus sei zu vollziehen unabhängig davon, ob die Kandi-

___________ gemeinen Priestertum s. im übrigen etwa WA 6, 408,11–17; 11, 412,14–33; 12, 189,18– 27; 50, 632,36–633,8; zur Öffentlichkeit in ihrer zeitlichen wie ihrer räumlichen Dimension vgl. neben der erstgenannten Stelle a. 11,98, 21f. und 50, 634, 11–15. 59 Johannes Aurifaber, Der Erste Theil der Bücher, Schrifften, und Predigten … D. Martin Luthers deren viel weder in den Wittenbergischen noch den Jhenischen Tomis zufinden. Bd.I, Eisleben 1564, 277r. 60 Z. B. Drews, Die Ordination [wie Anm. 1], 2; Lieberg [wie Anm. 1], 181–183; Smith [wie Anm. 1], 61f.; Stein [wie Anm. 1], 190; Brecht [wie Anm. 1], III 127f. 61 s. o. 62 Vgl. Krarup [wie Anm. 2], 97f.

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daten geweiht seien oder nicht63. Die Ordination sei – was die Weihe gerade nicht gewesen war – Berufung ins Amt der Evangeliumsverkündigung. Deshalb ersetzte sie die Weihe nicht. Deshalb erwuchs sie aber auch nicht aus der Notwendigkeit, einem Mangel an Geweihten abzuhelfen64. Wenn das aber so ist, wenn die evangelische Ordination von Luther ursprünglich vollzogen wird zur Bekräftigung des Anspruchs auf allgemeine und bleibende Geltung der von der Reformation wiederentdeckten Wahrheit – wie paßt das zu dem Befund, daß die Wittenberger in Kursachsen bis 1535, für den außersächsischen Bereich auch noch darüber hinaus, die Berufung ins Amt nicht an eine rituelle Ordination banden? Bei allem Gewicht, das Luther der Ordination mit jener Einschätzung beimaß – er vollzog sie eben nur ganz selten. Er tat es zudem nur in der unmittelbaren Wittenberger Umgebung. Nur einmal 1531, erwog er, einem auswärtigen, schon im Pfarramt wirkenden Anhänger der Reformation, dem Göttinger Georg Sutel, die Ordination mit Handauflegung zu empfehlen65. Warum dies zehnjährige Zögern? Die Frage stellt sich noch dringlicher, wenn man bedenkt, daß Bugenhagen in Hamburg, wo er die Reformation zu organisieren hatte, die Ordination ja schon seit 1529 vorschrieb – eine Maßnahme, die er sicher nicht gegen den Widerspruch Luthers getroffen hätte. Die Antwort ist dreifältig: Das Zögern der Wittenberger wurde ermöglicht durch ihre Theologie. Es erschien zweckmäßig angesichts ihrer Situation. Und es war unumgänglich aufgrund der unter ihnen noch nicht abgeschlossenen Diskussion. Zum ersten: Das Amt der öffentlichen Evangeliumsverkündigung, zu dessen reformatorischen Sinn und reformatorischer Wahrnehmung die Wittenberger sich 1525 bekannten, ist bei aller Wertschätzung des mos apostolicus zu seiner Übertragung doch nicht an diesen gebunden. Entscheidend ist die Berufung zur apostolischen Aufgabe, wie sie auch im einzelnen gestaltet wird. So sehr König Heinrichs Hinweis auf die Handauflegung Luther beeindruckt und zur Korrektur seiner Aussagen geführt hat – notwendig erscheint der nun auch von dem Wittenberger vertretene Ritus diesem gleichwohl nicht66. Deshalb kann er, auch nachdem er ihn selbst vollzogen hat, doch darauf verzichten oder den ___________ 63 „se sint gesmeret edder nicht gesmeret“ – so der Prolog zum Ordinationsformular, Sehling [wie Anm. 42], V 502. Zur Anwendung kam das Formular nicht, durchgeführt wurden evangelische Ordinationen in Hamburg erst zwanzig Jahre später. 64 Wenn Mykonius, der so nachdrücklich auf der Notwendigkeit der Prüfung von Kandidaten als Voraussetzung für das kirchliche Amt besteht, ohne eine Ordination vorzusehen, ausdrücklich schreibt, es spiele dabei keine Rolle, ob diese geweiht seien oder nicht (s. o.), bestätigt er diesen Befund, auch wenn er eine andere Praxis voraussetzt. 65 WABr 6, Nr. 1787. 66 Vgl.o. Anm. 52.

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Verzicht empfehlen. Ja, deshalb wird selbst nach Einführung der rituellen Ordination in einzelnen Gebieten durch die Wittenberger – 1529, wenn auch zunächst nur auf dem Papier67, in Hamburg, 1531 in Lübeck68, 1535 in Kursachsen – diese andernorts nicht gefordert, solange die Kandidaten ordnungsgemäß berufen sind69. Was – zum zweiten – die situationsbedingte Zweckmäßigkeit des Verzichts auf die Ordination betrifft, ist der schon zitierte Brief Melanchthons von 1533 ___________ 67

S.o. Anm. 63. Vgl. u. Anm. 84. 69 Besonders bekannt ist der Fall Veit Dietrichs, weil darüber ein Konflikt entstehen sollte. Als Dietrich Ende 1535 mit Zustimmung der Reformatoren an die Nürnberger Sebalduskirche berufen wurde, kam niemandem in den Sinn, daß er ordiniert werden solle, obwohl die Ordination in Wittenberg, woher er nach Nürnberg kam, bereits eingeführt worden war. Acht Jahre später stellte sein Kollege Andreas Osiander deshalb infrage, daß Dietrich sein Amt zu Recht ausübe. Bezeichnenderweise wies Melanchthon, in Einklang mit Luther, Osianders Einspruch zurück (CR 5, Nr. 2766 [MBW 3329]), auch wenn er den Nürnbergern empfahl, den nicht notwendigen, aber durchaus schätzenswerten Ritus auch in der Reichsstadt einzuführen (iBd. Nr. 2786 [MBW 3357], Sp.210f.) (vgl. zu diesen Vorgängen Bernhard Klaus, Veit Dietrich. Leben und Werk, Nürnberg 1958, bes. 170–174 und Gottfried Seebaß, Das reformatorische Werk des Andreas Osiander, Nürnberg 1967, bes. 265–268). – Dieselbe theologische Linie bei veränderter kirchlicher Lage spiegelt die andere Stellungnahme zu einem Ordinationskonflikt, die Melanchthon nach Einführung der Wittenberger Ordination abzugeben hatte, die im Frederǥschen Ordinationsstreit. Johann Freder war 1540 an den Hamburger Dom berufen worden, ohne rituelle Ordination, was der allgemeinen Hamburger Lage entsprach (vgl. o. Anm. 63) und keinerlei Anstoß erregte. Erst nachdem Freder 1550 Superintendent in Pommern, zunächst in Stralsund, dann von Rügen, geworden war, gab es deshalb Widerspruch, so 1555 vom Greifswalder Generalsuperintendenten Johann Knipstro. Melanchthon, der schon 1549 auf Nachfrage der Hamburger die rituelle Ordination für ein Adiaphoron erklärt, aber als angemessen bejaht hatte (CR 7, Nr. 4516B [MBW 5504], Sp. 383), bestätigte, im pommerschen Konflikt von beiden Seiten um ein Urteil angegangen, den Adiaphoroncharakter der Handauflegung. Darin bestehe kein Lehrdissens (nulla de doctrina dissensio) mit Freder (CR 8, Nr. 5859 [MBW 7611], Sp.595f): Illud verum esse, quod hic ipse gestus impositionis manuum sit res non necessaria – so wie der frühere Ritus, dem Ordinanden das Evangelienbuch aufs Haupt zu legen, auch nicht notwendig gewesen sei (CR 8, Nr. 5860 [MBW 7685], Sp.597). Allerdings gehe Freder zu weit, wenn er deshalb die Prüfung und Bestätigung des Ordinanden und das Gebet für ihn abschaffen wolle (ibd.). Ja mehr noch, da in Pommern wie in Wittenberg nun einmal aus guten Gründen eine die alte Geste der Handauflegung umfassende Ordination eingeführt sei, solle auch er sich diesem Ritus unterziehen (iBd. 597f.). Gerade weil es sich bei jener Geste im strikten Sinne um ein Adiaphoron handle, bestehe kein Grund, sich dagegen zu wehren (iBd. 595f.) (zum Frederǥschen Ordinationsstreit, in dem sich mit dem theologischen Disput kirchenpolitische Kontroversen um jurisdiktionelle Prärogativen mischten, vgl. die – aufgrund ihrer theologischen Vorentscheidungen sehr unterschiedlichen – Darstellungen von Rietschel [wie Anm. 1], 90–101 und Lieberg [wie Anm. 1], 360–371 sowie Roxane Wartenberg, Weltliche Macht und geistlicher Anspruch. Die Hansestadt Stralsund und ihr Superintendent Johannes Freder. Ein innerstädtischer Konflikt um das Interim und seine Folgen. Diss phil. Frankfurt/Main 2005). 68

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über die Verwendung geweihter und ungeweihter Kandidaten als evangelische Amtsträger aufschlußreich, in dem der Praeceptor rät, Bewerber zu prüfen, aber keine „öffentlichen Zeremonien“ zu vollziehen70. Melanchthon begründet diesen Rat nämlich mit dem Satz: Solche publicae ceremoniae, also Ordinationen, seien bei evangelischen Amtsübertragungen seiner Ansicht nach „noch nicht notwendig“ (nec … opus esse puto adhuc quidem publicis ceremoniis). Wie die Fortsetzung zeigt, wäre es passender, wenn Melanchthon geschrieben hätte: Öffentliche Zeremonien seien noch nicht ratsam. Denn es folgt der Satz: Temporis ea in re habenda est ratio – „man muß in dieser Sache auf die Situation Rücksicht nehmen“71. Was mit tempus, „Situation“, gemeint ist, kann nicht zweifelhaft sein: Es ist das ungeklärte Verhältnis zum Reichsepiskopat. War doch die Übertragung des kirchlichen Amtes nach Tradition und geltendem Recht Sache der bischöflichen Hierarchie. Sie in die eigene, reformatorische Hand zu nehmen, bedeutete den Bruch mit der bisherigen kirchlichen Institution. Diesen Bruch hatte man in etlichen Einzelfällen bereits vollzogen. Programmatisch, mit offizieller Einführung und öffentlichem Vollzug eigener, evangelischer Ordinationen hatte man den Schritt aber in Kursachsen bislang nicht getan – Luther ordinierte ja nicht nur selten, sondern er sprach auch nicht davon. Man vermied den programmatischen Akt „noch“ (adhuc), weil man die Einigung mit den Bischöfen nicht ganz ausschließen wollte. Das Bemühen um solche Einigung prägt bekanntlich die Confessio Augustana und ihre Apologie ebenso wie Melanchthons Verhandlungen auf dem Augsburger Reichstag72. So heißt es bereits in einem – wohl auf Melanchthon zurückgehenden – Gutachten (A) für den zweiten Teil der CA, einem der sogenannten Torgauer Artikel73: Kursachsen solle unter der Bedingung der Anerkennung von evangelischer Lehre und Pfarrerehe bereit sein, Jurisdiktion wie Ordination bei den Bischöfen zu belassen, wobei die Klärung des Amtsver___________ 70

s. o. zu Anm. 46–48. CR 2, Nr. 1156. 72 Vgl. Herbert Immenkötter, Um die Einheit im Glauben. Die Unionsverhandlungen des Augsburger Reichstages im August und September 1530, Münster 1974 (2.Aufl.), bes. 30, 45, 49; Gerhard Müller, Die Anhänger der Confessio Augustana und die Ausschußverhandlungen, in: ders., Causa Reformationis. Beiträge zur Reformationsgeschichte und zur Theologie Martin Luthers, hrsg. v. G. Maron/G. Seebaß, Gütersloh 1989, 179–193, bes. 184f.; Ernst Honée, Die Vergleichsverhandlungen zwischen Katholiken und Protestanten im August 1530, in: QFIAB 42/43 (1963), 412–434, 430f.; Wilhelm Maurer, Erwägungen und Verhandlungen über die geistliche Jurisdiktion der Bischöfe vor und während des Augsburger Reichstags von 1530, in: ders., Die Kirche und ihr Recht. Gesammelte Aufsätze zum evangelischen Kirchenrecht, hrsg. v. G. Müller/G. Seebaß, Tübingen 1976, 208–253. 73 Zu der breiten Forschungsdiskussion um die sog. Torgauer Artikel einschließlich der Zuweisung von A an Melanchthon vgl. die Zusammenfassung bei Gunther Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Bd. I, Gütersloh 1996, 419–429. 71

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ständnisses und des Ordinationsritus vorerst auszuklammern wäre74. CA 28 bekräftigt das Angebot, die bischöfliche Jurisdiktion anzuerkennen75. Und als die offene Formulierung rite vocatus in CA 14 von der Confutatio im Sinne der kanonischen, also bischöflichen Berufung präzisiert wird76, gesteht die Apologie das zu77. Dabei ist freilich eines deutlich: Bei der um des Erhalts der kirchlichen Einheit willen zugestandenen bischöflichen Vokation geht es um eine Frage der kirchlichen Rechtsordnung (politia ecclesiastica), die im Laufe der Geschichte gewachsen und kraft menschlicher Autorität (humana auctoritate) geschaffen ist78. Es geht nicht um eine Frage der Gültigkeit des Amtes. Darum verteidigt dieselbe Apologie, die die überkommene politia ecclesiastica gerne gewahrt sehen möchte, doch zugleich, daß die amtierenden Bischöfe von „unseren Priestern“ nicht anerkannt werden. Und sie macht im Falle, daß die Bischöfe sich weiterhin gegen das Evangelium und seine Verkündiger stellen, diese Bischöfe für den dauerhaften Bruch der bisherigen politia ecclesiastica und der Einheit der Kirche verantwortlich79. Das ist nichts Geringeres als die Aussicht auf eine eigene offizielle Regelung der Übertragung des Amtes in den Gebieten der Reformation. Eine Aussicht freilich, die noch unter dem Vorbehalt einer Einigung mit der Gegenseite steht. Luther hat Melanchthons zurückhaltenden Augsburger Kurs in diesem Punkt gedeckt80. Und obwohl er in den frühen dreißiger Jahren zunehmend auf eine eigene Ordinationsregelung drängte81, verzichtete er auch noch weitere fünf Jahre auf die Konsequenzen seines Bekenntnisaktes von 1525 – nach dem Augsburger Reichstag ebenso wie nach dem Nürnberger Anstand von 1532, der noch einmal ähnliche Chancen auf Einigung mit den Bischöfen zu eröffnen

___________ 74

Karl Eduard Förstemann, Urkundenbuch zu der Geschichte des Reichstages zu Augsburg im Jahre 1530, Bd.I, Halle 1833, Nr. 27A, 80f.; CR 4, Nr. 678a (MBW 883), Sp.995f. 75 CA 28, 69–75. 76 Die Confutatio der Confessio Augustana vom 3. August 1530, hrsg. v. Heribert Immenkötter, Münster 1982 (2.Aufl.) (CCath 33), 111, 13–113,2. 77 Apol. 14. 78 Apol. 14,1. Im deutschen Text heißt es: „der Bischofe Regiment, das man nennet canonica politia.“ 79 IBd. 2–4. 80 Z. B. WABr 5, Nr. 1716. Wie wenig Hoffnung auf Erfolg er damit verband, zeigt freilich seine Schrift Vermahnung an die Geistlichen versammelt auf dem Reichstag zu Augsburg (WA 30/II, 268–356), wo er das Angebot der Wiederherstellung der bischöflichen Jurisdiktion mit äußerster Skepsis und stellenweise geradezu sarkastisch vorbringt (342,21–345,20). 81 WABr 6,Nr. 1762.; WA 38, 238, 3–8.

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schien82. Am Ende aber waren alle – realistischen oder illusionären – Hoffnungen dahin. Man konnte zur Tat schreiten. Schließlich – zum dritten – die unabgeschlossene Diskussion. So sehr Luther seit dem zweiten Drittel der zwanziger Jahre davon ausging, daß die Übertragung des kirchlichen Amtes möglichst mit Gebet und Handauflegung vor sich gehen solle, war mit dieser Präferenz doch eine Frage noch nicht entschieden: die Frage, wo und durch wen denn die Ordination stattfinden solle. War sie zu vollziehen in der zukünftigen Gemeinde des Ordinanden und durch deren Vertreter oder durch übergemeindliche Amtsträger an einem zentralen Ort? Die Ordinationsordnung von 1535 sah schließlich eine zentrale Ordination in Wittenberg für alle kursächsischen Kandidaten vor. Dieser Regelung ging aber eine längere Entwicklung und eine kontroverse Debatte unter den Wittenbergern voraus. Luther selbst zog zunächst die Ordination in der betroffenen Gemeinde vor. Das legen nicht nur seine frühen Schriften nahe83. Das zeigen vor allem wiederum die Ordinationen, die er in den zwanziger Jahren selbst vollzog – Rörer wurde in seiner zukünftigen Kirche unter Beteiligung der berufenden Gemeinde ordiniert, in den Fällen Schwan und Mulleberg begab Luther sich eigens an deren Ort; und auch die erwogene Ordination des Göttingers Sutel im Jahre 1531 wäre in dessen Gemeinde vollzogen worden. Bugenhagen schrieb ein solches Verfahren in seinen Kirchenordnungen ausdrücklich vor84. Für Städte wie Hamburg oder Lübeck ist das nicht erstaunlich; daran hielt aber auch die Pommersche Kirchenordnung, also die Ordnung einer Territorialkirche fest85. Denn für den Wittenberger Stadtpfarrer war die Bindung der Ordination an die Gemeinde, der der Ordinand zu dienen haben würde, und deren Beteiligung von grundsätzlicher Bedeutung86. Gegen die Einführung der zentralen Ordination in Kursachsen hat Bugenhagen folglich bis zuletzt, wenngleich erfolglos, Vorbehalte geäußert87. ___________ 82 Zu diesem Hin und Her der reichspolitischen Lage und Luthers Haltung dazu vgl. Brecht [wie Anm. 1], II 406–410. 83 Z. B. WA 6, 408,13–17; 11, 412,30–33; 414,3f. u. 12f.; 12, 189,21f.; 193,33– 194,2. 84 Sehling [wie Anm. 42], V 502f. für Hamburg (vgl. Mittermeier [wie Anm. 8], 48– 57); die Hamburger Ordnung wurde 1531 fast wörtlich für Lübeck übernommen, vgl. Sehling, V 502f. 349f., vollständig mit hochdeutscher Version in: Wolf-Dieter Hauschild (Hrsg.), Lübecker Kirchenordnung von Johannes Bugenhagen 1531. Text mit Übersetzung, Erläuterungen und Einleitung, Lübeck 1981, 96/96*-100/100*. Zu Pommern s. die nächste Anm. 85 IBd. IV 331f.; hier sollen der in der Gemeinde stattfindenden Ordination die zentralen Akte Examen und Konfirmation durch den Bischof bzw. Generalsuperintendenten vorausgehen. 86 Dazu Kretschmar [wie Anm. 1], 201–214. 87 So Luther noch am Tag der ersten Ordination nach der neuen Ordnung an Mykonius: Man habe heute ordiniert, licet D.Pomeranus non satis facilis ad hoc fuerit, ut qui

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In den frühen 1530er Jahren aber, als man in Wittenberg immer häufiger über die Ordination neuer Amtsträger nachdachte, nahm dieser Gedanke zunehmend die Gestalt eines zentralen Ritus an. Der Grund für die Modifikation war nicht amtstheologischer Art, er lag im Interesse an einem zentralen, von der Wittenberger Universität durchgeführten Examen und einer zentralen kurfürstlichen Amtsträgerkonfirmation – die Anliegen, die dann hinter dem Ordinationserlaß von 153588 stehen sollten89. Doch in der ersten Hälfte des Jahrzehnts war die Diskussion offenbar noch im Fluß, war die Frage „Gemeindeordination oder Zentralordination?“ noch nicht entschieden. Erst als man sie entschieden hatte, konnte eine allgemeine Regelung getroffen und die Ordination tatsächlich eingeführt werden. Luther, der 1533, in Von der Winkelmesse und Pfaffenweihe, erstmals von dieser Möglichkeit schrieb90, befürwortete schließlich die Zentralordination. Aber wie es scheint, entsprach sie nicht seinen eigentlichen theologischen Vorstellungen; der Beziehung von Amt und Gemeinde, die für seine Ekklesiologie seit seinen frühen amtstheologischen Aussagen grundlegend gewesen war, trug diese Form in seinen Augen offenbar nicht hinreichend Rechnung91. Und so äußerte Luther, als es dann so weit war und die zentrale Ordination für ganz Kursachsen in Wittenberg eingeführt wurde, die Hoffnung: Eines Tages – fiet tandem – werde man in Bugenhagens Sinn verfahren und die Ordination in die Gemeinden verlegen können92. Noch einmal ___________ adhuc sentit, quemlibet in Ecclesia sua ordinandem per suos presbyteros (WABr 7, Nr. 2263,6–8). 88 Sprachlich geglättet bei Drews, Die Ordination [wie Anm. 1], 33 (Beilage I), unverändert bei Krarup [wie Anm. 2], 304 (Anhang 1a). 89 So Luther in seiner Predigt zur ersten Ordination nach der neuen Regelung, WA 41,457,33–458,13, vgl. Drews, Die Ordination [wie Anm. 1], 35f. (Beilage IV). Daß die hier angesprochene zentrale Lehrprüfung neben der kurfürstlichen Konfirmation das eigentliche Motiv für die neue Regelung ist, obwohl sie im Erlaß Johann Friedrichs selbst nicht genannt wird, zeigt Krarup, 182–193. 90 WA 38,238, 5–7. 91 Diese Beziehung verlor auch dadurch für ihn nicht an Gewicht, daß er, anders als in den frühen zwanziger Jahren, das Amt nicht mehr mit dem Dienst an einer konkreten Gemeinde gleichsetzte, seine Übertragung für ihn also – modern gesprochen – nicht mehr mit der Installation identisch war, wie es Bugenhagen verfocht (vgl. Kretschmar [wie Anm. 1], 210, 214). Wenngleich Luther mittlerweile im Amt die Aufgabe der – öffentlichen – Verkündigung des Evangeliums überhaupt sah (so spätestens 1533, wie Von der Winkelmesse und Pfaffenweihe zeigt, WA38, 238,5–7), gab es doch diese Aufgabe in seinen Augen nur als Dienst an einer konkreten Gemeinde. Das schlug sich in der Ordinationsregelung von 1535 auch durchaus nieder: Der Ordination am zentralen Ort mußte die Berufung durch die Gemeinde, in der der Ordinierte sein Amt ausüben würde, vorausgehen und war schriftlich zu belegen (s. Krarup [wie Anm. 2], 258f.). Zentrale Ordination hieß also keineswegs absolute Ordination. Gleichwohl hätte Luther offensichtlich den liturgischen Ausdruck der Bezogenheit des Amtes auf den konkreten Dienst in der Form der Gemeindeordination für angemessener gehalten. 92 So im Brief an Mykonius vom Tag der ersten Ordination [wie Anm. 87]; man werde dann zu der eigentlich angemessenen Ordnung, der Ordination in der jeweiligen

Martin Luthers frühe Ordinationen

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ein Anklang an seine eigenen Ordinationen im Jahrzehnt davor – nun allerdings als Vision, die in Wittenberg nicht mehr zum Zuge kommen sollte.

___________ Gemeinde, übergehen können, wenn die evangelische Ordination Wurzeln geschlagen habe und zum festen Brauch geworden sei (Quod fiet tandem, ubi ista res nova et ordinatio radices altius egerit et mos firmius factus fuerit) (WABr 7,Nr. 2263,8f.). Der Vorbehalt deutet sich selbst in Luthers Ordinationspredigt an, wo es heißt: Si hoc daretur ius [sc. das der Ordination] cuilibet Civitatulae, wurds werden. Ideo sols blŊeiben in unitate unter mŊeines gnŊedigen herrn hand, bis anders wird (WA 41,458, 7–9).

Anabaptists in Calvin’s Geneva Robert M. Kingdon Several years ago I delivered a festrede in honor of Heinz Schilling on the occasion of his sixtieth birthday. A version of it was subsequently published in the Archiv für Reformationsgeschichte.1 Shortly after I delivered the talk, and just before the article was published, one of the key sources upon which they were based, the Registres du Conseil de Genève, which had never before been published in its entirety for the period upon which I was working, finally appeared in a fine critical edition. My analysis had been based on excerpts from those registers scattered about in a variety of secondary works. Now I could see the entire volumes in an easily available form.2 Going through the second volume of that edition made me aware of a fact I had overlooked when I prepared my article: there was a significant group of Anabaptists in Geneva in the years in which it first became Protestant,3 and this complicated my analysis. This has led me to prepare this new article as a supplement and, to a degree, a corrective to that earlier article. In that earlier article, I had concentrated upon the attempts of the Reformed ministers, Farel and Calvin, to persuade all the people of Geneva to subscribe to a Confession of Faith. It was the beginning in this particular community of the process of confessionalization upon which Heinz Schilling has become a leading authority and which he has stimulated so many other scholars to study. It was an attempt, however, which in its initial form in Geneva was a spectacular failure. Even though their government endorsed the Confession, and even though it was also endorsed by the government of Geneva’s powerful ally, Bern, many individual Genevans simply did not want to take a formal oath to support the new Confession. Massive opposition to attempts to ___________ 1 Robert M. Kingdon, Confessionalism in Calvin’s Geneva, in: Archiv für Reformationsgeschichte 96 (2005), 109–116. 2 Registres du Conseil de Genève a l’époque de Calvin, ed. by Paule Hochuli Dubuis/Sandra Coram-Mekkey (Travaux dǥHumanisme et Renaissance, no. 386), Geneva 2003–2004, vol. 2. Hereafter cited as R.C. 3 The fullest study of this phenomenon is Willem Balke, Calvin and the Anabaptist Radicals, Eugene, Oregon 1981, trans. from the Dutch. See particularly chs. 3, on Geneva, 1536–1538, and 7, on Geneva, 1541–1564. Hereafter cited as Balke. See also a brief account in Amédée Roget, Histoire du people de Genève depuis la Réforme jusqu’a l’Escalade, vol. 1/1, Geneva 1870, 31–33, linked to the argument over the Confession on p. 35 andff.

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enforce it led to a significant upheaval within the community. Farel, Calvin, and other leaders in both church and schools were expelled from the city in 1538, although the formal reasons for their expulsion were later developments. Only when Calvin was invited back alone in 1541, did Geneva resume its progress toward what was to become an international center of the Reformed variety of Protestantism. There was never again an attempt to require all Genevans to take a formal oath including a Confession. Other ways were used to create confessional unity within the city. The presence of Anabaptists complicated my story in several ways. Their presence in the community helped explain why Farel and Calvin were so eager to submit everyone in Geneva to a confessional test. They were not only worried about an obvious residue of Catholicism. They were also worried about the arrival in the community of another religious alternative, an alternative that seemed particularly dangerous at the time. For this was a period shortly after the Anabaptist seizure of the city of Münster in northern Germany. Anabaptists in that community had attempted to create a radically new form of society, including community of property and polygamy. Their attempts had provoked bloody repression by a coalition of Catholics and Protestants of a more conservative stripe. People all over Europe began to associate Anabaptism with radicalism of this sort and reacted in horror. Catholic polemicists suggested that this was the end result of any kind of Protestant reform. An early reason Farel and Calvin supplied in support of their requests for the right of excommunication, was that they needed to use it to keep Anabaptists from receiving communion. And the presence of Anabaptists in Geneva also helped to explain some of the opposition to this attempt at enforced confessionalization. The opponents to the Confession of 1537 were not only the recalcitrant Catholics who were its obvious target, complemented by local patriots unwilling to accept dictation from foreign-born clergymen. Some of them were also surely people who wanted to consider the Anabaptist alternative. This complication does not become evident from reading the text of the Confession of 1537 itself.4 It contains a number of clauses that harshly stigmatize Roman Catholic ideas and practices, specifically clauses on the sacraments, on holy communion, on human traditions, and on the church. Its harshness, indeed, continues to lead me to believe that it was drafted by the inflammatory Farel, not the often more moderate Calvin. But it does not contain any clauses that openly stigmatize Anabaptists. There is, to be sure, a clause on the sacrament of baptism, and it assumes that baptism will normally be administered to infants. But it does not attack anyone who holds an alternative view of this sacrament. In this it is quite different from the clause on holy communion, which, ___________ 4 See Ioannis Calvini Opera quae supersunt omnia, ed. by Baum/Cunitz/Reuss, vol. 22, cols. 85–96, for a copy of this Confession.

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among other things, calls “the Mass of the pope a cursed and diabolical ordinance designed to overthrow the mystery of the holy supper.”5 An Anabaptist presence in Geneva first became obvious in March of 1537. The governing Council of the city twice in that month received petitions from pairs of visiting Anabaptists from the southern Netherlands who wanted to challenge the members of the community to reconsider some of their religious ideas. Two visitors from a town in Brabant, Herman de Gerbihan and Andry Benoit, on March 9 asked for permission to challenge the local preachers to a debate.6 They were asked to submit their request in the form of a written set of articles. When the set of articles arrived a few days later, the Council found them dangerous, did not want them to be the subject of a debate open to the general public, and suggested they be submitted to another one of Genevaǥs governing councils, the Council of Two Hundred, which could at least give them wider consideration.7 When that Council duly met, William Farel, the acknowledged leader of the Reformed Church of Geneva, urged that the Anabaptist articles be discussed in a more public forum. He wanted them to be debated before as many people as possible. He was no doubt confident of his abilities to argue down the Anabaptists. His request was granted, and there was in fact a two-day public discussion of these articles, on March 16 and 17, at the College of Rive, a former Franciscan monastery and now a public school, with an auditorium often then used for lectures on religious topics.8 Unfortunately we have no surviving record of that discussion. We do, however, know the end results. The Council of Two Hundred decided that the discussion had revealed that the Anabaptists were wrong, dangerously wrong, and that there should be no more circulation of their ideas. It issued a decree prohibiting any publication on the matter, and in fact ordered that nothing be printed in the city on any subject without express advance permission from the government. It also ordered Farel and his associates to stop listening to the Anabaptists. It declared that their ideas could not be supported by Holy Scriptures. It offered to them a copy of a book by Platina on the historical origins of the practice of baptism. The reference is no doubt to the history of the popes written by that prominent Italian humanist of the fifteenth century. It comes as something of a surprise to find it in the text of this legal decree. One suspects it was inserted at the suggestion of Farel or Calvin. And this Council ordered that the Anabaptists no longer be called “Brethren,” which was apparently their own usage, because they would not pray with the rest of the community, and thus were no brothers ___________ 5

Ibid., col. 92. R.C. vol. 2, 101. 7 Ibid., 103. 8 Ibid., 104–106. 6

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to other Genevans.9 This decree was followed up the next day by a more peremptory one from the governing Small Council, requiring that these Anabaptists be banished in perpetuity from Geneva unless they recanted immediately. This decision was to be announced in public in the usual way.10 Only a couple of weeks later two other Anabaptists, Johannes Bomeranus, a printer, and Jehan Tordeur or Stourdeur, a turner, both from Liège in a similar part of the southern Netherlands, appeared before the Small Council. They wished to support the proposition, with their lives, that baptism should not be offered to little children. They were tartly told that this issue had already been decided and that they would be banished, just like others of their sect.11 There is some reason to believe, not from the registers but from ecclesiastical correspondence and a later memoir, that these two had discussed the matter at some length with Calvin and others before appearing before the Council.12 Stourdeur, incidentally, who joined Calvin in Strasbourg after his exile from Geneva the following year, seems to have become converted to regular Reformed belief, becoming a member of the Strasbourg church of French-speaking foreigners for which Calvin was then serving as minister. Stourdeur died before long, and his widow became Calvin’s wife. That obviously must have given Calvin a rather personal entrée into the Anabaptist community. In the following weeks, a number of other individual Anabaptists, both men and women, most of them local inhabitants rather than visitors from abroad, were summoned before Genevaǥs Small Council for questioning. Some of them seem to have won the interest of men prominent in the Genevan community. Jane la Gibessière, wife of Claude Pignard, was even jailed briefly because of her known Anabaptist sympathies. She was then examined and when asked whether she would present her own child for baptism as an infant, if she had one, replied that she would. Having passed that test, she was released, but remained under suspicion for the next several years.13 The one about whom we know the most was a man from Lyon, named Jaques Mérauld, son of Claude. He was imprisoned and cross-examined at some length in September of 1537. A record of his trial survives in the Geneva State Archives.14 This record is incomplete and not in order, posing some difficulties in piecing it out. Much of ___________ 9

Ibid., 107–108. Ibid., 109. 11 Ibid., 127. 12 See Balke, 82–83. 13 R.C., vol. 2, 134. 14 Archives d’Etat de Genève, Procès criminels, sér. 2, no. 385, 11–14 September 1537. I am indebted to M. Wallace McDonald for preparing a transcription of this trial record for me and also calling to my attention some biographical information about Mérauld used below. 10

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the examination asked Mérauld to identify other Anabaptists in the community, and in particular how information was being relayed to him from sympathizers while he was in prison. Jane la Gibessière, for one, had even sent him some useful practical advice, pointing out that he had the option, if treated roughly by the governing syndics, of lodging an appeal with the Council of Two Hundred, which was normally more lenient. She was one of several sympathizers who had smuggled messages into his prison cell by using children as couriers. Mérauld hesitated to snitch on others, and primarily for this reason was subject to torture “of the usual kind,” I would suspect thumb-screws rather than the estrapade used in serious cases. There is some information in this dossier, however, which tells us more about the ideas for which he was being persecuted. He was resolutely opposed to infant baptism, and found it a “doctrine of the devil.” And he had little use for the pastors of the Reformed Church of Geneva. He did not think they were very good as preachers, often preaching false doctrine, not firmly based on the Scriptures. In fact he thought the priests who had preceded them were better as preachers. He did not think these Reformed pastors set good examples to the laity. Particularly telling was his objection to the fact that in communion services these pastors offered the elements to both the good and the bad in the congregation. He did not think they deserved salaries from the public treasury. In sum, he did not enjoy the services over which these men presided. He found more of spiritual value in visits to the homes of pious friends where religious topics were discussed. At one point, he also admitted to some additional heterodox ideas. He thought Genevans had chosen the wrong day of the week for religious services. And he had adopted a variant belief in the virgin birth of Jesus, arguing that Jesus had been born solely of substance supplied by the Holy Spirit, without any substance derived from the body of the Virgin through which he had passed. This is a fine point separating some Anabaptists from other Protestants, based on a rather bizarre view of human physiology. It was argued at some length in subsequent years by Menno Simons in a set of sharp published polemics he exchanged with John Calvin,15 but it surprises me to find it here. It was a view held by the prominent early Anabaptist Melchior Hoffmann, and that may have supplied a source for Mérauld. Mérauld was even accused of having said that the Magistrate is not from God, but this he strongly denied, stating that the divine origin of government is obvious in Scripture. When the trial was finished the court did not know what to do with Mérauld. He was obviously somewhat frail and they did not want to keep him in prison. Finally it was decided that he be released to the custody of Antoine Froment, the somewhat eccentric sometime preacher at the very beginning of the Reformation in Geneva. Froment did secretarial work for François Bonivard. Boni___________ 15

Balke, 202–208.

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vard, a Savoyard nobleman who had been prior of St. Victor, is probably best known as Byron’s prisoner of Chillon, and was then living in Geneva on a state pension. Froment is also known for his highly educated wife, Marie Dentière, and his attempt to write his own chronicle of Geneva during the early Reformation. This referral did not work out at all. Froment reported a few days later that Mérauld had gone crazy and that he couldn’t cope with him. It was discovered that Mérauld had a fair amount of money and some relatives in the area. He was finally placed in the custody of a cousin.16 A month later Mérauld was summoned and told to avoid the company of a man named Gast, also suspected of Anabaptism.17 Gast soon left Geneva, and became a minister in small churches in nearby areas controlled by Bern, which apparently was not worried about his Anabaptist tendencies. It is revealing to explore what happened to Mérauld in later years. I have been able to gather quite a bit of information on that subject, thanks to a search taken on my behalf by my former student and present collaborator, Tom Lambert.18 That information turns out to be very suggestive. In spite of the harshness with which Mérauld had been treated in his trial, including torture, he seems to have remained in Geneva, perhaps with occasional trips to his original home in Lyon, with which he seems to have maintained connections. He also seems to have achieved good standing and prominence in Geneva, not only within the general community but also within its ecclesiastical institutions. He was clearly an educated man with literary skills of some value. In 1540, he asked for and received permission to set up a school to teach children to calculate and write.19 He was assigned a place to do this in the public school of Rive. In 1541, it was reported to the city council that he still remained attached to the “law of the Anabaptists,”20 and there was obviously some worry that he might corrupt his students. There was an inquiry and it was decided that since he was so good at teaching children to write and calculate, he would be kept, until someone better could be found.21 There were, incidentally, others in a similar situation in these years. Pierre Servand, dit Bochi, a former Catholic priest still living in Geneva, tried to teach writing in the Rive school in these same years,

___________ 16

RC, vol. 2, 326, 330, 341. Ibid., 346. 18 Much of this material was drawn from a large data base of information on Genevans of this period prepared by Isabella Watt and Lambert for our edition of the Registers of the Geneva Consistory in the time of Calvin. 19 Archives d’Etat de Genève, Registres du Conseil (still unpublished), vol. 34, fol. 485, 20 October 1540. Hereafter cited as AEG, R.C. 20 Ibid., vol. 35, fol. 79v., 18 February 1541. 21 Ibid., vol. 35, fol. 444v., 26 December 1541. 17

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and also encountered suspicion about his religious views from the authorities.22 In 1544, Mérauld appeared before the Council and complained that he did not have an appropriate place to teach children to write and calculate. It was decided to supply him with a room in the “Chanterie” near the cathedral, where boys had traditionally been taught to sing.23 In 1550, he was formally sworn in as a “habitant” of Geneva.24 It is odd that this should have been necessary, given the fact that he had already lived and worked in Geneva for a long time. The oath of habitation was normally tendered to newly arrived refugees as a way of giving them legal standing in the community. Perhaps he had been away from Geneva for a time. Or perhaps the authorities decided that this was a way of establishing his religious orthodoxy. Newly inscribed inhabitants, in fact, were asked to swear to a religious oath. That was a remnant of what Calvin and Farel had tried to establish for the entire community back in 1537, although it was briefer and less polemical. There was little reason for refugees to object to it, since they had come to Geneva to be able to associate with people holding those ideas. So it had never become controversial. Mérauld’s known earlier commitment to Anabaptism may have led the authorities to tender to him an oath of orthodoxy in this way in order to establish his credentials. Mérauld then went to work for the city’s general hospital. This was an allpurpose charitable institution run by the city government in close cooperation with the church’s pastors. It was directed by a “hospitallier” supervised by a group of commissioners, all called “deacons” by Calvin, and elected in consultation with the pastors. The institution had been created before Calvin arrived in Geneva back in 1536, to fill the vacuum caused by the collapse of Catholic charity. Calvin had sanctified it, declaring it to be an integral part of the Reformed Church, since it performed duties handled historically by churches in much of Europe. A high percentage of the people receiving care in the Hospital were children, most of them orphans. They were provided with elementary education there, so it is quite likely that Mérauld was continuing his work as a teacher among these orphans. On the strength of his contributions to the community there, he was promoted to the select company of bourgeois of the city in 1557, along with his son, “gratis,” without being asked to pay the large sum of money often required of new bourgeoisie, because of “the service he has

___________ 22 See Registres du Consistoire de Genève au temps de Calvin, vol. 3, ed. by Thomas A. Lambert/Isabella M. Watt (Travaux d’Humanisme et Renaissance, no. 387), Geneva 2004, 275–276, n. 51, for more on Bochi. I am indebted to Lambert for calling this parallel to my attention. 23 Ibid., vol. 38, fol. 27, 8 January 1544. 24 Livre des Habitants de Genève, ed. by Paul-F. Geisendorf (Travaux d’Humanisme et Renaissance, no. 26), Geneva 1957, vol. 1, 1549–1560, 5, 19 June 1550.

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done in our hospital.”25 He was in this way treated more like a newly arrived pastor or jurisconsult than a merchant or businessman, as someone providing important services to the community. In 1558, a man who felt it necessary to discipline his own son asked to be allowed to send the boy to the Hospital to be whipped by Mérauld. Any teacher of the period was expected to whip his students when they needed it, and Mérauld was apparently regarded as particularly good at whipping.26 The following year he seems to have been working as a notary in the hospital.27 In 1561, he returned to Lyon, during the first war of religion, shortly before that city’s government had briefly become Protestant.28 He stayed on in Lyon even after its government became primarily Catholic again in the middle of 1563, and seems to have been serving as the secretary of its Protestant Consistory later that year.29 Clearly Mérauld’s youthful Anabaptism had not kept him from developing a distinguished and honorable career in Calvinǥs Geneva. He had obviously made his peace with the ministers he had once despised. He no longer felt it necessary to fight against infant baptism. He might even be said to have been converted to Calvinism. I suspect this might have happened to many of the Anabaptists Calvin met in the course of his career. He never hated and feared them to the degree that Zwingli did. He had never campaigned to put them to death. He had one thing in common with Anabaptists which they did not share with other Protestants. That was a commitment to discipline. Anabaptists from the beginning wanted Christianity to require good behavior as well as correct belief. They felt Luther and Zwingli had both gone too far in trusting to faith alone. They felt a community did not deserve to call itself Christian if many within it were notorious and obvious sinners. So did Calvin and most of his followers. Many Calvinists made of discipline a third mark of the true church, adding it to the two marks of a true church taught by all Protestants: the correct teaching of the Gospel and the rightful administration of the sacraments. Calvin had not gone this far in his own published theology, but he certainly insisted on discipline in practice. He would never have returned from Strasbourg to Geneva in 1541, if the government had not promised him to establish discipline enforced by a new institution called the Consistory, and he would never have stayed in Geneva after his return if this institution had not been given the power to enforce proper behavior with excommunication. Calvin is said to have converted many French-speaking ___________ 25

Le livre des bourgeois de l’ancienne république de Genève, ed. by Alfred L. Covelle, Geneva 1897, 254, 22 January 1557. 26 AEG, Registres du Consistoire, vol. 13, fol. 49, 12 May 1558. 27 Ibid., vol. 14, 23 February 1559. 28 Ibid., vol. 18, fol. 171v., 11 December 1561. 29 Ibid., vol. 20, fol. 173v., 9 December 1563.

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Anabaptists to his church in Strasbourg,30 at a time when he and Bucer were both fighting for more discipline in the church, Calvin with more success than Bucer, although limited, to be sure, to a fairly small segment of the total population. I suspect Calvin similarly converted Anabaptists to his point of view in Geneva. After he returned in 1541, there is no longer any trace of an organized Anabaptist community in that city. There were still occasional visits by Anabaptists. In 1545, a man named Thyvent Bellot arrived in Geneva hoping to sell Anabaptist books. He was caught, tried, sharply questioned by Calvin as a part of the legal proceedings, and then banished in perpetuity from the community. But he did not seem to have had many customers, or to have been supported by others resident in Geneva.31 Calvin did, to be sure, get involved in polemics about baptism and even wrote tracts on the subject in these years, most notably his exchange with Menno Simons, but they were aimed at a group of Anabaptists in nearby Neuchatel, not at people resident in Geneva.32 And he got involved in ferocious polemics with other types of religious extremists, particularly with anti-Trinitarians of the stripe of Servetus. But if Anabaptists were willing to give up their strong opposition to infant baptism, they would find in Geneva the kind of church life they wanted. They could join Calvin in establishing discipline. By a combination of argument and good example, therefore, Calvin seems to have won the support of most of the Anabaptists with whom he had contact. Geneva certainly became at Calvin’s insistence a community with strong confessional commitments. But those commitments did not have to be enforced locally by requiring everyone to subscribe in public to a fixed Confession of Faith. Calvin had found other ways, and arguably more effective ways, of advancing his variety of confessionalism.

___________ 30

Balke, 129–131. Ibid., 195–198. 32 Ibid., 202–208. 31

Die Gefühle der Jungfrau: Weibliche Religiosität in einem „eisernen“ Zeitalter1 Susan C. Karant-Nunn Dieser Aufsatz geht davon aus, daß „Emotion“ eine bislang nicht adäquat anerkannte Dimension von Konfessionalisierung ist. Die Kirchen der postreformatorischen frühen Neuzeit haben sich bemüht, in Kooperation mit den weltlichen Behörden nicht nur die konfessionellen Identitäten ihrer Gemeindemitglieder zu prägen, nicht nur ihr äußerliches Benehmen zu „verchristlichen“, sondern auch ihre inneren Gefühle zu formen. Schauplatz dieses Unternehmens, ob unter Katholiken, Lutheranern oder Reformierten, war der Sakralraum. Die Werkzeuge waren verschiedene: die Liturgie des Gottesdienstes oder der Messe, die Bekleidung der Kleriker, die Innendekoration der Kirchen und Musik. Auch im Katholizismus diente die Predigt als Bestandteil der Liturgie zur Anleitung für das richtige Fühlen. Die empfohlenen Wahrnehmungen waren jedoch in den drei führenden Konfessionsgruppen unterschiedlich: Während Protestanten die auf dem Glauben basierende verinnerlichte, ja tiefeingewurzelte Überzeugung als Ideal ansahen, verbreiteten die Mitglieder der neuen katholischen Missionsorden, vor allem der Gesellschaft Jesu und der Kapuziner, und alle Prediger, die unter ihrem zunehmenden Einfluß standen, das vom mittelalterlichen Mönchtum übernommene Vorbild äußerlicher Demonstration der nicht zurückhaltbaren Emotionen. Ironischerweise hat der Westen – trotz aller Gegenbeispiele wie u.a. Bernhard von Clairvaux – traditionell solche Bewegtheit als überwiegend weiblich charakterisiert. Einige Historikerinnen der letzten Generation haben explizit und/oder implizit darauf aufmerksam gemacht, daß etablierter Protestantismus – also lutherischer und calvinistischer – eine Maskulinisierung des Kultus herbeigeführt hat2. Lyndal Roper hat zusammenfassend festgestellt, daß die protestantische ___________ 1

Ich habe eine frühere Version dieses Aufsatzes als Antrittsvorlesung an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, Evangelisch-Theologische Fakultät, Mai 2006, gehalten. 2 Lyndal Roper, The Holy Household. Women and Morals in Reformation Augsburg, Oxford 1989, passim, aber bes. Introduction, 1–5; Merry E. Wiesner, Women and Gender in Early Modern Europe, Cambridge 1993, bes. 179–95; Susanna Burghartz, Zeiten der Reinheit, Orte der Unzucht. Ehe und Sexualität in Basel während der Frühen Neuzeit, Paderborn 1999; Susan C. Karant-Nunn, Kinder, Küche, Kirche: Social Ideology in the Sermons of Johannes Mathesius, in: Germania Illustrata: Essays on Early Modern

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Reformation und auch die katholische Reformation den Patriarchalismus beförderten3. In bezug auf den Protestantismus markiert diese Auffassung einen Bruch mit der vorherigen Generation von (meist männlichen) Reformationshistorikern, die mit Roland H. Bainton die These vertraten, die Reformation – er meinte die lutherische Reformation – habe Frauen aus ihrem niedrigen, demütigenden, unterschätzten Status des katholischen Mittelalters erhoben und sie endlich an ihre richtige Ehrenstelle als Ehe- und Hausfrauen gesetzt4. „Ihr Ehemänner, liebet Eure Weiber“, fordert Paulus von den Ephesern (5, 25–33), und diese Ermahnung wiederholten fast alle evangelischen Prediger. Wieso dann die Schlußfolgerung einer „Maskulinisierung“? Ich habe darauf aufmerksam gemacht, daß Frauenfiguren aus den „gereinigten“ Kirchenräumen fast verschwanden5. Natürlich verschwanden auch die Repräsentationen der meisten männlichen Heiligen. Doch die Jünger Christi, später auch die Aposteln, wurden abgebildet und nahmen eine dauerhafte Stelle in der Ikonographie der neudekorierten Kirchenräume ein. Selbstverständlich ist diese Veränderung die visuelle Umsetzung von Luthers Auffassung, die Heiligen hätten Christus und die zentrale Bedeutung der Rechtfertigung allein durch den Glauben zur Seite geschoben. Ob dies Luther nun bewußt war oder nicht, Tatsache ist, daß Frauen kaum mehr vorhanden waren – höchstens die trauernde, bis zum Tod treue Jungfrau (stabat Mater) neben dem Kreuz mit Johannes auf der linken Seite Christi. Nur diejenigen Heiligen durften bleiben, die biblisch oder auch historisch bezeugt waren – aber sogar die Märtyrerinnen der alten Kirche verschwanden. An einigen Orten Deutschlands wurden die anstößigen Ikonen plötzlich und mit Gewalt und unter Teilnahme von Laien entfernt; an vielen anderen Orten, nicht zuletzt in den wettinischen Ländern, dauerte die Säuberung zwei oder drei Generationen und damit bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. Sie wurde auf Befehl von Fürsten oder Magistraten ausgeführt. Frauen standen in der Folge als religiöse Vorbilder nicht mehr vor den Augen der Gläubigen. Der Calvinismus ist, wie wir wissen, viel weiter in diese Richtung gegangen: Alle Kunstdarstellungen wurden entfernt oder übertüncht. Ein Mann, der Pfarrer oder Prediger, betrat den Predigtstuhl mehrmals in der Wo-

___________ Germany, hrsg. v. Andrew C. Fix/Karant-Nunn, Kirksville, Missouri 1992, 21–40; Karant-Nunn, ‚Fragrant Wedding Roses‘. Wedding Sermons and the Formation of Gender in Early Modern Germany, in: German History 17, 1 (1999), 25–40. 3 Was There a Crisis in Gender Relations in Sixteenth-Century Germany?, in: Roper, Oedipus and the Devil. Witchcraft, Sexuality and Religion in Early Modern Europe, London/New York 1994, 37–52, hier 38–39, 46. 4 Bainton, Here I Stand: A Life of Martin Luther, New York, 1950, 233. 5 Karant-Nunn, ‚Gedanken, Herz, und Sinn‘. Die Unterdrückung der religiösen Emotionen, in: Kulturelle Reformation: Sinnformationen im Umbruch 1400–1600, hrsg. v. Bernhard Jussen/Craig Koslofsky, Göttingen, 1999, 69–95.

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che und sprach ohne alle Hilfsmittel außer dem gedruckten Wort Gottes oder einem Abriß der Homilie. Seit der Mitte des ersten protestantischen Jahrhunderts mußten lutherische Geistliche als rituellem Bestandteil jeder Trauung eine Hochzeitspredigt halten. Im späten Mittelalter hörten Christen über den Ehestand hauptsächlich am zweiten Sonntag nach Epiphanie, wenn – nach dem traditionellen Postillenprogramm – die Hochzeit zu Kanaa oder ähnliches die Perikope war. Die Hochzeitspredigten stellten eine Mischung aus Ehe- und Frauenlob dar, die Vermahnung an Braut und Bräutigam zusammen sollte vermeiden helfen, daß die Braut eine der vielen „bösen Weiber“ würde. Unter den wahrscheinlich in die Zehntausende gehenden überlieferten Hochzeitspredigten gibt es nur wenige, in denen die Sorge über ein mögliches schlechtes Benehmen der Braut nicht das Lob des Ehestandes begleitet. Die Reformatoren, wie auch das Publikum, waren ambivalent: Das weibliche Geschlecht wird als moralisch schwach und emotional angesehen. Es sei leicht verführbar und deshalb unzuverlässig. Diese übernommene, aus alten Quellen schöpfende Herabwertung von Frauen darf nicht übersehen werden. Es ist nicht überraschend, daß das Erbe von vielen Jahrhunderten nicht sofort abgelegt werden konnte. Wieso entstand aus alten, tief eingewurzelten Haltungen eine „neue“ protestantische Maskulinität? Die Antwort liegt in der intensiven Verbreitung der Idee der unbeugsamen, der Herrschaft bedürfenden Ehegattin. Die Pflicht, bei jeder Trauung zu predigen (was im Mittelalter nie der Fall gewesen war), und der ambivalente Inhalt der Predigten vermittelte den Zuhörern regelmäßig den Eindruck, daß Frauen im Zaum gehalten werden müßten. Diese Überzeugung war nicht neu, aber sie wurde intensiver und unnachgiebiger als vorher verbreitet. Die Nachricht selbst wurde durch diese Intensität ein Aspekt der Konfessionalisierung. Der Hausherr mußte herrschen, und seine Frau mußte in allen Dingen gehorchen, auch in Sachen, die ihre Hausarbeit und ihre Mutterschaft betrafen. Die Ideenwelt der Protestanten schloß die Ehe als Norm fest ein, hegte aber Zweifel an der moralischen Zuverlässigkeit der Ehefrau6. Der Engländer Henry Kamen hat vor drei Jahrzehnten das Jahrhundert zwischen 1550 und 1660 als das „iron century“ bezeichnet7. Er charakterisierte es als Zeitalter des Krieges, der Krankheit, des Hungers, des Todes und der Apokalypseerwartungen8. Unter diesen beunruhigenden Zeitumständen ist es nicht verwunderlich, daß – wie Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling behaupten – ___________ 6

Judith Bennett ist der Auffassung, daß das europäische Mittelalter zutiefst frauenfeindlich war. Vgl. bes. Women in the Medieval English Countryside: Gender and Household in Brigstock before the Plague, Oxford 1987. 7 The Iron Century. Social Change in Europe 1550–1660, New York 1971. 8 Andrew Cunningham/Ole Peter Grell, The Four Horsemen of the Apocalypse. Religion, War, Famine and Death in Reformation Europe, Cambridge 2000.

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der Staat sich bemühte, die Kontrolle über viele Lebensaspekte, einschließlich Kirche und Kultus, in seine Hände zu bringen9. Im Kontext binärer Assoziationen kann das „Eisen“ des „iron century“ überhaupt nur das Männliche andeuten: Eisen erinnert an Krieg, aber auch an die schwierigsten Feld- und Bauarbeiten – alles hauptsächlich von Männern unternommene Tätigkeiten. Kultur ist aber immer komplex, mehrsträngig und verflochten. Gerade in dieser scheinbar harten, männerdominierten Umwelt nehme ich, wie oben bereits angedeutet, eine abweichende Tendenz in Richtung Erbarmen und Mitleiden wahr – Tugenden, die die Denker der Frühen Neuzeit als weiblich ansahen. Diese Tendenz wird von der Mutter Gottes personifiziert. Marienverehrung nahm mindestens seit dem 12. Jahrhundert zu und trat durch die Andachten und die Bemühungen von Bernard von Clairvaux immer stärker in den Mittelpunkt. In monastischen Kreisen wurde die Jungfrau zuerst als die Verkörperung nicht nur fast buchstäblich des sich entwickelnden Christuskindes, sondern, im abstrakten Sinn, des weiblichen Ideals hervorgehoben. Maria wurde allmählich in den Augen der weiblichen wie auch der männlichen Bevölkerung zur musterhaften Frau. Sie wurde in Malerei, Schnitzerei, Architektur, Gesang, Poesie, Prosa und Kirchenkalendern abgebildet. Als Modell stand sie allerdings zunächst außerhalb des gläubigen Christen. Sie war wie ein Maßstab, an dem man sich messen konnte. Ihre Charakterzüge sind deutlich: Sie ist fromm, gläubig, schlicht, demütig und Gott und ihrem ___________ 9

Es muß hier genügen, die Klassiker zu nennen: Heinz Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung. Eine Fallstudie über das Verhältnis von religiösem und sozialem Wandel in der Frühneuzeit am Beispiel der Grafschaft Lippe, Gütersloh 1981; idem, Die ‚Zweite Reformation‘ als Kategorie der Geschichtswissenschaft, in: Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der „Zweiten Reformation“, hrsg. v. idem, Gütersloh 1986, 387–438; idem, Die Konfessionalisierung im Reich. Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland zwischen 1555 und 1620, in: Historische Zeitschrift 246 (1988), 1–45; Wolfgang Reinhard, Gegenreformation als Modernisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters, in: Archiv für Reformationsgeschichte 68 (1977), 226–252; idem, Konfession und Konfessionalisierung in Deutschland, in: Bekenntnis und Geschichte. Die Confessio Augustana im historischen Zusammenhang, hrsg. v. idem, München 1981, 165–189; idem, Zwang zur Konfessionalisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters, in: Zeitschrift für historische Forschung 10 (1983), 257–277. Der heuristische Effekt der Konfessionalisierungstheorie ist bis heute immens. Es seien zumindest erwähnt: Wolfgang Reinhard/Heinz Schilling (Hrsg.), Die katholische Konfessionalisierung. Wissenschaftliches Symposion der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum und des Vereins für Reformationsgeschichte 1993, Münster/W. 1995; Ute Lotz-Heumann, Die doppelte Konfessionalisierung in Irland. Konflikt und Koexistenz im 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, Tübingen 2000; Kaspar von Greyerz/Manfred Jakubowski-Tiessen/Thomas Kaufmann/Hartmut Lehmann (Hrsg.), Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 201), Gütersloh 2003; Focal Point/Themenschwerpunkt: Confessionalization and Social Discipline in France, Italy, and Spain, in: Archiv für Reformationsgeschichte 94 (2003), 276–319.

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Ehemann täglich gehorsam. Im umfassenden Sinne ordnet sie sich ganz dem Willen Gottes unter. In den Kreisen der geistlich Berufenen, einschließlich der Beginen, die keine Geistlichen waren aber doch Berufene, wurde das Bild der Gottesmutter kultiviert10. Zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert wollten Nonnen und Mönche die Trennung zwischen ihnen und diesem Objekt ihrer Andacht dann überwinden und in Marias inneres Leben gelangen. Zu diesem Zweck stellten sie sich die persönlichen Details ihrer Existenz vor – ihre nichtbiblische Verwandtschaft, ihren Alltag, ja sogar, ob sie als Frau ohne Makel menstruiert habe oder nicht11. Mit der Ausbreitung und wachsenden Frequenz der Predigt im Spätmittelalter und auch als Resultat der Predigtinhalte wurde die Barriere zwischen Anbetendem und heiligem Modell aufgehoben. Zu Unrecht haben wir die vorreformatorische Epoche als predigtarm angesehen12. Auch wenn wir nicht im Besitz der Postillentexte sind, wissen wir von vielen Brüdern und Priestern, die – mit oder ohne kirchliche Erlaubnis – Europa oder bestimmte Gegenden wie Böhmen durchkreuzten und bei jeder Gelegenheit zum Volk predigten. Städte und einzelne Bürger habe Predigerstellen gestiftet, und begabte Prediger hatten massenhaften Zulauf. Wie Bernd Moeller vor vielen Jahren gezeigt hat, interessierten sich die spätmittelalterlichen Christen in den deutschsprachigen Territorien sehr für Heiligung und strebten nach der Erfüllung der Gebote des himmlischen Vaters13. Ein breiteres und überwiegend aus Laien bestehendes Publikum ___________ 10

Vgl. z. B. Martina Wehrli-Johns, Haushälterin Gottes. Zur Mariennachfolge der Beginen, in: Maria, Abbild oder Vorbild? Zur Sozialgeschichte mittelalterlicher Marienverehrung, hrsg. v. Hedwig Röckelein/Claudia Opitz/Dieter R. Bauer, Tübingen 1990, 147–167. 11 Charles T. Wood, The Doctorsǥ Dilemma. Sin, Salvation, and the Menstrual Cycle in Medieval Thought, in: Speculum 56 (1981), 710–727. 12 Unter anderen haben sich folgende Autoren mit der mitteralterlichen Predigt beschäftigt: Nicole Bériou, Lǥavénement des maîtres de la Parole. La prédication à Paris au XIIIe siècle, Paris 1998; idem, Lǥimage de lǥautre. Le lépreux sous le regard des prédicateurs au Moyen Age, Liège 1988; Modern Questions about Medieval Sermons. Essays on Marriage, Death, History and Sanctity, hrsg. v. Bériou/D. L. dǥAvray, Spoleto 1994; dǥAvray, Death and the Prince. Memorial Preaching before 1350, Oxford 1994; Medieval Marriage Sermons. Mass Communication in a Culture without Print, hrsg. v. idem, Oxford 2001; idem, The Preaching of the Friars. Sermons Diffused from Paris before 1300, Oxford 1985; Beverly Mayne Kienzle, Cistercians, Heresy, and Crusade in Occitania, 1145–1229, Rochester, NY 2001; Models of Holiness in Medieval Sermons, Louvaine-la-Neuve, 1996; idem, The Sermon, Turnhout 2000; Hervé Martin, Le métier de prédicateur en France septentrionale a la fin du Moyen Age, 1350–1520, Paris 1988; Siegfried Wenzel, Latin Sermon Collections from Later Medieval England. Orthodox Preaching in the Age of Wyclif, Cambridge 2005; idem, Macaronic Sermons. Bilingualism and Preaching in Late-Medieval England, Ann Arbor, Mich. 1994; idem, Monastic Preaching in the Age of Chaucer, Kalamazoo, Mich. 1990. 13 Frömmigkeit in Deutschland um 1500, in: Archiv für Reformationsgeschichte 56 (1965), 5–30.

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wurde zur Zielgruppe der Wortverkündiger – und tatsächlich war es die Absicht der Prediger, den Inhalt der Bibel unter die Leute zu bringen. Die Reformatoren tadelten sie als Schriftverfälscher oder mindestens als Schriftausschmücker, aber dieses Urteil stimmt nicht mit der Selbstschätzung der spätmittelalterlichen Prediger überein. In dieser heilsorientierten Atmosphäre nahm das Bild der Jungfrau an Intensität zu. Nonnen hatten bereits versucht, sich durch Meditation in die unmittelbare Umgebung von Maria zurückzuversetzen, die trennenden Jahrhunderte zwischen ihnen und der historischen Mutter des Jesus von Nazareth zu überwinden14. Die Schwestern sollten das Haus, die Bekleidung, die Lebensweise, sogar die Nachbarn der Jungfrau kennenlernen und den Kontrast zwischen ihnen und diesem reinen Menschen verschämt erkennen. Ja sie sollten sie sich so eng mit der Jungfrau identifizieren, daß sie ihren Schmerz mit-leiden konnten. Während Meister Eckhart im 14. Jahrhundert Maria als perfekt in ihrer vollkommenen innerlichen und äußerlichen Absonderung von der Welt beschreiben konnte, und als solche fast ohne Affekt15, empfahl Jean Gerson († 1429) seiner Schwester, einer Nonne, einhundert Jahre später, sich in die Zeit der Kreuzigung zurückzuversetzen. Sie sollte zur Wohnung der Jungfrau laufen, um sie über die Verhaftung und Tortur ihres Sohnes detailliert zu informieren: „Zur Vermehrung deiner Andacht stelle dir vor, du bringest diese Nachricht zu seiner Mutter, und wie du inǥs Haus tretest und unter Seufzen und Weinen fragest: ‚Ist nicht hier die Mutter meines Herrn Jesu?‘ Und wenn du sie triffst, wie du zu ihr sagst: ‚Ach, viel edle Frau! ach Mutter Jesu! ach, meine Hoffnung! Ich bringe dir traurige Kunde; fürwahr, es thut mir leid, sie dir zu melden, aber die Liebe zwingt mich dazu, und die Nothwendigkeit.‘ Nun wird sie dir ganz bestürzt und erschrocken sagen: ‚Was hast du? warum weinst du? sage es mir geschwind und verhehle es nicht!‘ Du aber erwiederst: ‚Ach, meine allersüßeste Jungfrau! komm eilig zu deinem lieben Kind, denn man hat es wahrhaftig

___________ 14 Holly Flora, A Book for Povertyǥs Daughters. Gender and Devotion in Paris, Bibliothèque Nationale, MS Ital. 115, in: Varieties of Devotion in the Middle Ages and Renaissance, hrsg. v. Susan C. Karant-Nunn, Turnhout 2003, 61–97. Der Aufsatz beschäftigt sich mit Armen Klarissen des frühen 14. Jahrhunderts und wie sie in ihren Gedanken Maria bei ihrer Armenfürsorge in Nazareth begleiten. 15 Z. B.: R. D. Hale, The ‘Silentǥ Virgin. Marian Imagery in the Sermons of Meister Eckhart and Johannes Tauler, in: Medieval Sermons and Society. Cloister, City, University, hrsg. v. Jacqueline Hamesse/Beverly Mayne Kienzle/Debra L. Stoudt/Anne T. Thayer, Louvain-la-Neuve 1998, 77–94. „He [Eckhart] says that emotions such as sadness and sorrow cannot be present in a soul spiritually turned from the world“ (82). „Eckhartǥs Mary is never set forward as an example of the unattainable perfection, but rather as a model of perfect detachment attainable by all“ (83).

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gefangen und gebunden. Komm geschwind, um daß du es noch lebendig findest!‘“16 Maria fällt in Wahnsinn. Gerson fährt fort: „O meine Schwester, denke, welchen Schmerz sie hatte!“ Seine Schwester soll Maria, die wieder zu sich gekommen ist, durch die Straßen führen, bis sie Jesus finden. Sie bleibt bei Maria und beobachtet die Tortur des Sohnes und jede Reaktion der Mutter17. Nach der Kreuzigung, erzählt Gerson, umarmt die Jungfrau das Kreuz und küßt es bis auch sie mit dem Blut ihres Sohnes bedeckt ist. Sie fällt sogar hin und versucht, die Blutpfütze mit ihrem Körper und ihrer Bekleidung aufzusaugen18. Durch Meditation kann seine Schwester – so meint der berühmte Bruder – neben Maria an jedem Schlag teilnehmen und mit der Mutter die tiefsten Schmerzen fühlen. Diese Schmerzen sind zwar körperlich, aber eben auch psychisch. Solche Überlegungen sind ganz in der andauernden Tradition von Bernhard von Clairvaux. Die weibliche Natur der Nonne beschleunigt die Identifikation, denn Frauen können leichter mitfühlen als Männer. Emotion war seit langem mit Weiblichkeit assoziiert. Schon im Paradies ist dieser Kontrast zwischen Adam und Eva sichtbar. Adam war ruhiger, klüger, vernünftiger als seine Partnerin; er war Mann. Eva war verwundbar und verführbar, eben weil sie ihren Gefühlen nachgab. Sie war nicht so intelligent wie Adam und nicht immer vernünftig; sie war Frau. Sie brauchte auch vor dem Fall die Aufsicht durch ihren Gatten, obwohl sie vor Gott von gleicher Würde war. Mittelalterliche Denker waren ähnlicher, allerdings nicht identischer Meinung. Die Schlange sei Eva nahegekommen, weil Satan wußte, wo er leichteres Spiel hatte. Er fand Anklang in Evas Stolz und Gier, also in ihren Gefühlen. Sein endgültiger Erfolg lag aber auch in Adams Emotionen: Obwohl er seine Übertretung erkannte, liebte er seine Frau zu sehr. Er erlaubte ihr ihren Willen. Gefühle sind also der Kern der menschlichen Urtragödie. Nach dem Fall muß Eva sich stärker unterordnen. Ehemänner haben weiterhin die Aufgabe, die negativen Auswirkungen der weiblichen Natur unter Kontrolle zu halten. Dieser Wahrnehmung – daß Frauen eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen – begegnet man am Ende des Mittelalters oft: Man denke nur an die weitverbreiteten Abbildungen von Phyllis auf dem Rücken von Aristoteles, Simson mit Delila und ihrer Schere, Salomo und seine götzendienerischen Konkubinen und ___________ 16

Dieser Text ist ursprünglich auf Französisch verfasst worden. Ich habe eine deutsche Übersetzung benutzt: Betrachtungen über das Leiden und Sterben unsers Herrn Jesu Christi, Passau 1840, 20–21. Cf. Gersons, In Dominicam Passionem expositio, e Gallico in Latinum versa, in: Johannes Gerson, Opera omnia, hrsg. v. Louis Ellies Du Pin, Bd. 3, Hildesheim, 1987, cols. 1153–1203, in dem das Leiden von Marien auch stark abgebildet ist. 17 Betrachtungen, 21. 18 Betrachtungen, 28. Gerson zitiert Bernhard von Clairvaux zu den Schmerzen der Jungfrau, 31.

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Virgilius im Korb. Die Mutter Christi heilt die Sünde Evas und ist das Gegenteil ihrer schuldigen Schwestern aus der Klassik und der Bibel. Ein neuer Wind weht – aber doch nicht ganz neu. Auch die Jungfrau als Frau wurde als sehr emotional dargestellt. Aber die neue Tendenz bevorzugt weibliche Gefühle – allerdings die richtigen Gefühle. Sie geht weiter als Gerson, indem sie allen Christen diese emotionsbeladenen Identifikationsübungen empfiehlt. Die Predigten zur Karwoche des Passauer Klerikers Paul Wann († 1489) sind uns überliefert. Als Domgeistlicher hat er um Ostern vor einem breiten Spektrum der Bevölkerung gepredigt. Wann vertrat bereits vor dem 16. Jahrhundert eine neue Strömung innerhalb der Kirche und zwar nicht nur unter denjenigen, die sich zum religiösen Leben berufen fühlten. Eine Serie von Karwochepredigten, die er im Jahr 1460 in der Kathedrale hielt, regt bei seinen Zuhörern das Weinen an. Zu diesem Zweck zieht er weibliche Figuren heran: „Vielliebe Seelen! Der hl. Gregorius der Gr. [Abkürzungen im Original] (34. Homilie über die Evangelien) beginnt eine Predigt über die Buße der Maria Magdalena mit den Worten: ‚Wenn ich daran denke, über die Buße der Magdalena zu sprechen, möchte ich lieber weinen als reden, Denn wer hätte ein so steinhartes Herz, daß es nicht weich würde beim Anblick ihrer Tränen?‘“19. In der vierten Predigt dieser Serie wendet er sich Maria zu: „Wir versetzen uns in die traurige Lage und bittere Stimmung der Mutter Jesu. Vielleicht gehen wir im Geiste zu ihr und melden ihr, was mit ihrem Sohne bisher geschehen ist“20. Johannes hatte die Aufgabe, Maria zu informieren. Er kommt in ihr Haus und „kann sich der Tränen nicht enthalten“. „‚Ach, ach, ich muß dir etwas Entsetzliches melden.‘ Was hast du, Johannes? Warum weinst du so bitter? Was hast du mir zu sagen? Ist meinem Sohne etwas zugestoßen? Er ist mir mein Teuerstes, ich liebe ihn über alles in der Welt“21. Johannes beschreibt ihr und ihren weiblichen Verwandten die grausame Lage. „Die Mutter Jesu ist während dieser mit Erregung und in abgerissenen Sätzen vorgebrachten Erzählung starr und leichenblaß geworden und sinkt nun wie leblos zusammen. Sie kann nicht sprechen, nicht die Augen öffnen, sie ist gleichsam aller Sinne beraubt vor übergroßem Leid und bitterem Weh.“ Nach und nach wird sie wieder munter und will sofort zu ihrem Sohn laufen. „Unaufhörlich fließen ihre Tränen, immer wieder bricht sie in die Klage aus: ‚Weh mir! Mein lieber, viellieber Sohn, wo bist du? Wo? Wo haben sie die Süßigkeit meines Herzens verborgen?‘“22. ___________ 19 Paul Wann, Die Passion des Herrn (Passauer Passionale). Gepredigt im Passauer Dom im Jahre 1460, hrsg. v. Franz Xavier Zacher, Augsburg 1928, Einleitungspredigt, 29. 20 Ibid., 63. 21 Ibid., 63. 22 Ibid., 64.

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Der Kleriker bemerkt den Kontrast zwischen ihrer Passahfreude vom vorigen Abend und dem Schrecken und der Trauer des jetzigen Tages. Sie erkennt, sagt er, den unversöhnlichen Haß der Juden gegen Jesus, seine gesamte Verwandtschaft und auch seinen Anhang. Ihre Schwestern und Basen sammeln sich unterstützend um sie. Sie alle weinen und klagen, „aber ihre Tränen und Klagen vermehren nur noch den Schmerz der schwer getroffenen Mutter“23. Maria nimmt allmählich wahr, daß alle Jünger sich von Jesus entfernt haben. Christus ist „wie ein wehrloses Lämmlein unter beutegierigen, reißenden Wölfen“. „War der Schmerz der Mutter schon tief und uferlos wie das Meer, so wurde dieses Meer durch diese Erzählung des Johannes von neuem zutiefst aufgewühlt …“24. „Ärmste Mutter, wie mag dich der Schmerz überwältigt haben, als du dieses Schauspiel ansehen mußtest! Wehe, jenes Schwert, von dem der greise Simeon bei deiner Reinigung im Tempel gesprochen hat, durchdringt nun deine Seele und martert all deine Glieder!“25. Jesus wird an ihr vorbeigezogen. Sie klagt: „Soll ich nun niemals mehr in deine Augen blicken dürfen? Soll mir dein liebes Angesicht für immer entzogen sein?“26. Diese unbiblischen Vorstellungen von der inneren Bewegung Marias sind charakteristisch für die katholischen Passionsabhandlungen des 16. und 17. Jahrhunderts. Prediger prägten sie ihren Zuhörern beziehungsweise Lesern – zunehmend Laien beiderlei Geschlechts – ein, diese sollten auch über das Leiden der Jungfrau meditieren und sich in ihre Umgebung versetzen. Dr. Ulrich Pinder, dessen Traktat über die Passionis Domini 1507 in Nürnberg erschien, erfindet eine berührende Unterhaltung zwischen Mutter und Sohn, als letzterer vor dem Kreuzigungsverfahren seinen endgültigen Abschied von der Jungfrau nimmt. Jesus spricht Maria als „O mater dulcissima“ an. Der Verfasser läßt später den Auferstandenen zuerst seiner Mutter erscheinen. Zweck seiner Ausführungen ist, die Gefühle der Frommen zu erregen, „ut non solum per intellectum cogetur, sed ut meditantis devotio per affectum inflammetur …“27. Seit der Gründung der Gesellschaft Jesu schärfte Ignatius von Loyola seinen Anhängern ein, beim Nachdenken ihre Empfindungen zu nutzen. Wie ihre geistlichen Vorfahren sollten sie sich in die Gegenwart der Jungfrau und Christi versetzen und ihrer Unterhaltung zuhören, ihre Sanftmut und die Süße ihrer

___________ 23

Ibid., 65. Ibid., 66. 25 Ibid., 66. 26 Ibid., 67. 27 Speculum passionis domini nostri Ihesu Christi, Nürnberg 1507, iii, xviii-xix, li, lxix-lxx; übersetzt ins Deutsche (von einem anon. „Liebhaber des bittern Leydens Christi“), Salzburg 1563. Eine moderne Faksimileausgabe wird eingeleitet von Helmar Junghans, o.O. o.J., 4–34. 24

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Göttlichkeit spüren28. Eine mystische Sinnlichkeit durchdringt die Exercitiae. Obwohl die Jesuiten später in ihren Theaterstücken auf den Neostoizismus setzten29, suchten sie mit ihren Predigten die Gefühle der Anwesenden zu erregen. Auch die Kapuziner, die seit dem Ende des 16. Jahrhunderts in Deutschland tätig waren, versuchten dezidiert, die Massen zu Tränen zu bewegen. Wenn die Prediger – so die Ordensverfassung von 1536 – „kalt“ seien, so ließen sie auch die Zuhörer kalt. Sie sollten das Publikum jedoch emotional entfachen. Ihr Modell müsse Franz von Assisi sein, von dem gesagt werde, sein ganzer Körper wurde eine Zunge30. Im Zeitalter des Tridentinums predigten und schrieben die Mitglieder dieser beiden Orden in ähnlichem Geist, aus dem Wunsch heraus, die Hörer beziehungsweise Leser emotional zu berühren. Petrus Canisius beschrieb in seinem Traktat über den Tod Marias auch ihr Leben und ihre Leistung31. Als Prophetin übertreffe die Jungfrau „alle andere Weissagerinn … als die, so gebenedeyet vnder allen Weibern, welche auch zu diser hohen gab der Weissagung desto geschickter vnnd füglicher kommen, je mehr sie vor andern ein raines gemüt, zu erkanntnuß Göttlicher dingen herzu gebracht, Ja je mehr sie auch on allen streit deß Flaisches mit dem Geist, den heyligen Gehaimbnüssen fleißig obgelegen“32. Sie wurde befangen von der Anbetung ihres Sohnes, ging jeden Tag zum Tempel, wo sie täglich das Sakrament der Eucharistie empfing. Sie war „manigmals mit grosser Liebhitz beladen … daß sie einen sonderlichen verdruß gegen der Welt, vnd nur wunderbarlicher weiß die eintzige anschawung vnnd vmbfangung jhres geliebten Sohns, hertzlichen begehret, auch sehr offt die liebe Trähernen vergosse …“33. Canisius stellt sich ihre eigene Beschreibung ihres Erlebnisses vor: „Da war das Fewr, da war das Schwerdt, das Fewr der Liebe, das Schwerdt deß Schmertzen, vnnd mein Seel war ein Brandtopffer: Dann dieselbig hat das Fewr anzündet, vnnd das Schwerdtdurchtrungen … ist mein Seel zerschmolzen, nit nur einmal als er starbe, ssondern auch so offt ich den ___________ 28 Jean-Marie Valentin, Les jésuites et le théâtre (1554–1680). Contribution à lǥhistoire culturelle du monde catholique dans le Saint-Empire romain germanique, Paris 2001, 32. 29 Jean-Marie Valentin, Theatrum Catholicum. Les jésuites et la scène en Allemagne au XVIe et au XVIIe siècles, Nancy 1990, bes. 275–300. 30 Arsenio dǥAscoli, La Predicazione dei Cappuccini nel Cinquecento in Italia, Loreto/Ancona 1956, 126–27. Siehe 222 über die Krönung einer Statue der Jungfrau in Mailand. Die Leute haben sehr geweint und geschrien, „Es lebe Maria! Es lebe Maria!“ 31 Christenlicher, Catholischer, wolbegründter Bericht, von dem seligen Ableiben, Sterben vnd Entschlaffen; Auch von der heyligen vnd frewdenreichen Aufferweckung vnd Auffnemmung in den Himmel, der Allerheiligsten Junckgraw vnd Gottes Gebärerin Marie … Genommen vnd verteutscht auß dem fünfften Buch deß … Herrn Petri Canisii …, hrsg. u. übers. v. Joachim Landolt, Dillingen 1592. 32 Ibid., fol. 9r-v. 33 Ibid., fol. 17v.

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Rigel meiner Thüren auffthät, vnnd er [Jesus] mit mir redet“34. Da sie die Mutter Gottes war, war es kein Wunder, „daß die heyligist Junckfraw Maria mit so vilen vnd grossen Stromen deß heyligen Geists erleuchtet, vnnd mit allerley Liebs pfeilen verwundt … worden“35. Die Apostel äußern sich in den Evangelien nicht über Marias Sterben, so Canisius, weil sie lange gelebt hat und weil sie damit beschäftigt waren, die Lebensgeschichte und die Lehre Christi zu verbreiten36. Canisius widerlegt die Behauptungen u.a. von Luther, Melanchthon, Johannes Brenz, Johannes Calvinus und Cyriakus Spangenberg. Nicht nur die Mitglieder dieser beiden Orden predigten mit Leidenschaft und mit Liebe zum Detail. Kaspar Franck (1543–84) hinterließ ein Handbuch als Hilfsmittel für Prediger. Zweifellos war er selbst ein erfahrener Kanzelredner. Er häuft Adjektive und Adverbien auf, um seine Leser mit den Schmerzen des Sohnes und der Mutter zu beeindrucken. Die Qualen Jesu wurden um so größer, weil seine Mutter zusehen mußte. Das fast universelle Schwert drang durch ihre Seele. Sie mußte dabei sein, als er mit „soliche(r) schnöde(n) vnmenschliche(n) lösterung, grewliche(r) marter, hündische(m) Sarcasmos vnd höngelächter …“ hingerichtet wurde37. Johannes Ferus oder Wild, der berühmte Kleriker von Mainz, der 26 Jahre lang dort gewirkt hat, war auch Teil dieser Strömungen. In seinem Sacrosancta Passionis Saluatoris nostri Iesu Christi (1555) beschreibt er detailliert nicht nur das Leiden Christi, sondern auch das der Mutter. Diese Abhandlung von 519 Seiten ist zwar an seine Mitkleriker gerichtet, aber es ist schwer zu glauben, daß er nicht ähnlich aus dem Predigtstuhl zu den Laien gesprochen hat38. Wild beschreibt die gefühlsbeladene Atmosphäre zwischen Mutter und Sohn, als Maria unter dem Kreuz stand: Sie ist erschüttert, aber die Liebesflammen in ihrem Herz brennen unbeschreiblich. Als Mutter leidet sie zutiefst mit Jesus – als dieser sich von Gott verlassen fühlt und sie seine bitterste Angst beobachten muß. Sie selbst wird innerlich gekreuzigt. Wild stellt sich die Gedanken Christi über seine Mutter vor – sie ist fromm, barmherzig, mitleidvoll, beängstigt. Er denkt: „Ego tui doloris vnica causa sim“. „Du bist mir eine treue Mutter gewesen“. Inmitten seiner Qual will er sie trösten. Das Wort Mulier, mit dem er Maria dem geliebten Jünger Johannes anvertraut, ist keineswegs herabschauend ___________ 34

Ibid., fol. 18v-19r. Ibid., fol. 21v. 36 Ibid., fol. 35v-36r. 37 Kaspar Franck, Passion, Das Leyden vnnd Sterben vnsers Herren IESV CHRISTI, auß den H. vier Euangelisten, zusammen gezogen …, Ingolstadt 1577, Vorwort, ii; 191 [es gibt zwei unterschiedliche Seiten 191; beide sind gemeint]. 38 Johann Wildt, Die Allerheyligste Historia der Passion vnsers lieben Herren vnd Heylandts Jhesu Christi, auß beschreybung der Heyligen vier Euangelisten …, Mainz 1558. 35

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oder verkleinernd gemeint. Jesus meint vielmehr: „Johannes ist jetzt dein Sohn und wird dich lebenslänglich verehren“39. Die amerikanische Historikerin Donna Spivey Ellington hat jüngst die These vertreten, die Marienverehrung habe sich in der frühen Neuzeit gemäßigt. Ihre körperliche Beteiligung am Erlösungsakt sei nicht mehr betont worden, auch nicht ihre Gefühle unter dem Kreuz (wo sie beunruhigt gewesen sein mag, aber doch still war), sondern ihre innere Trauer um ihren Sohn und ihre Zurückgezogenheit. Ellington bedient sich überwiegend der Predigtliteratur, und sie untersucht ganz Europa40. Ich kann ihre Schlußfolgerung für die deutschsprachigen Länder nicht bestätigen. Noch weit in das 17. Jahrhundert hinein beschreiben Prediger die Pein der Jungfrau und versuchen dabei, bei ihren Zuhörern das Mitempfinden und die Reue über die Sünde zu erregen. Der Kapuzinerpater und Domprediger Donatus von Passau erinnert seine Zuhörer daran, daß Maria das Kreuz mittragen wollte. „O ihr fromme Kinder dieser jungfräulichen Mutter, leget eure Hertzen mit Maria auf die Schultern und das Creutz JESU, helffet in Mittleiden ihme solches tragen, und so ihr etwan vor Schmertzen und herzlichem Mittleiden nicht könnet reden, so seuffzet auf das wenigst und sprecht mit gebrochener Stimme: ‚Ah JESU! Ah JESU! Salvator noster! ah JESU unser Erlöser!‘“41. Er ermuntert die Christen mit ihr unter dem Kreuz zu stehen und zu weinen: „Ach MARIA, MARIA Mater JESU stat ante crucem, und wir sollen mit ihr nicht trauern?“ Er ermahnt: „Wenn nun ihr Steinharte Hertzen das Schmertzen = Schwerd deß leydenden JESU nicht beweget, ey so weichet und erweichet doch durch Mitleiden an dem Mütterlichen Hertz und Seelen = Schwert MARIae!“42. Er vergleicht Christus mit einer gebärenden Mutter: „So sehe, JESU als eine treuliebende Mutter … da er dich zu dem ewigen Leben gebähren will, hatte er die Vorwehe an dem Oelberg …“43. Die zunehmende Rolle Marias als Fürbitterin bei ihrem Sohn für Sünder setzte eine aktive, nicht eine passive Vermittlung voraus. Der Jesuit Philipp Kisel beschrieb in seinen Passionspredigten ein Modell, wie man Hilfe bei der Jungfrau ersuchen sollte: „O Mutter der Barmhertzigkeit! Mutter der Betrübnuß! doch zugleich auch süsseste Mutter! ich wiewohl ein schwerer Sünder, dannoch aber dein unwürdiger ja Leibeigener Knecht (könnt ich nur mich noch mehrers verdemüthigen!) und ein Kind deines Jungfräulichen Hertzens, bitte ___________ 39

Sacrosancta Passionis, 460–64. From Sacred Body to Angelic Soul. Understanding Mary in Late Medieval and Early Modern Europe, Washington, D. C. 2001. 41 Donatus von Passau, Rosetum dolorosum Centifoliatum: Schmertzhaffter Rosen=Bart von hundert Blättigen Rosen, Das seynd Hundert … Predigen von dem Bitteren Leyden und Sterben JESU CHristi …, Passau 1694, serm. 64, 638–39. 42 Ibid., ser. 76, 761–73, hier 773. 43 Ibid., ser. 79, 805. Vgl. Caroline Walker Bynum, Jesus as Mother. Studies in the Spirituality of the High Middle Ages, Berkeley, CA 1982, 110–69. 40

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dich durch das Schwerd deines grossen Schmertzens, und deines Hertzens Bitterkeit, worinnen du diesen Abend den traurigen Abschied und Vale von deinem liebsten Sohn genommen hast, und flehe dich Fußfällig an, du wollest mir die jenige nach deiner Jungfraulichkeit Ermässigung bedörfftige und dißfalls vonnothen habende Gnad vermittels deiner hohen Vermögenheit von deinem hertzliebsten Sohn zu wegen bringen, als der ich einig und allein mein Absehen zu Vermehrung deiner und deines betrübtesten Sohns Ehr gerichtet habe“44. Kisel benötigt 75 Seiten, um die Schmertzen der Jungfrau zu beschreiben. Er faßt zusammen: „Ich weiß für gewiß, daß, soviel an dem Leib deß Sohns Wunden gewesen, also viel auch Wunden in dem Hertzen der Mutter gezehlet worden sein.“ Und er schließt seine Predigt mit den Worten: „Geliebte Zuhörer, mit der seufftzenden Jungfrauen, lasset uns gleichfalls seufftzen und weinen. Lasset uns die Seufftzer Mariae in unaufhörlichem Gedächtnis halten, lasset das Schwerd, das ihr Hertz durchgedrungen ist auch unser durchdringen, damit wir mit MARIA der hochgelobten Mutter Gottes in jhrem traurigen und kläglichen Leyden seufftzen …“45. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts – wir benötigen jedoch weitere Forschung zu diesem Thema – hat man angefangen, als Hilfsmittel für Meditationen der Kirchengemeinden Stationen des Kreuzes zu bauen. Ob in Kapellen- oder Gemäldeformat, ob Statuen oder Reliefs, allmählich wurden diese überall in der katholischen Welt verbreitet. Die Zahl der Stationen war und ist unterschiedlich, obwohl 14 offenbar oft vorkommen. Der Zweck war, die Geschichte der Passion des Herrn in Hauptabschnitte einzuteilen, um die Erinnerung an die Leiden zu erleichtern. Die Frauen von Jerusalem sind oft dargestellt, auch Veronika und Maria Magdalena, die Jungfrau erscheint selbstverständlich in einer prominenten Rolle. Ein Gedächtnisgarten in der Nähe von München wurde 1705 in einem Buch beschrieben. Die Jungfrau ist im Titel explizit eingeschlossen: Andächtige Gebett Und Betrachtung Uber Die vornemste Geheimbnussen deß bitteren Leyden vnd Sterben vnsers HErrn JEsu Christi Und Seiner liebsten betrübtisten Mutter MARJA. Diese Stationenreihe hat nur zehn Kapellen. Jeder Schritt ist in dem Text beschrieben, und besondere Gebete werden vorgeschlagen46. Der anonyme Verfasser empfiehlt, daß jeder Laie, der nicht zu den Kapellen kommen könne, jeden Freitag zu Hause die heiligen Ereignisse in verkürzter Form innerlich mit Hilfe von Passionsbildern nachempfinden ___________ 44

Philipp Kisel, S. J., Siebenfältig = Blutiges Schau = Spiel Deß Siebenströmigen Geistlichen Nili = Flusses, Das ist: Sieben Passions = Predigten …, Bamberg 1679, ser. 2, 84. 45 Ibid., ser. 7, 468. 46 Anonym, München: Johann Lucas Straub, 1705, beschreibt „Calvari Berg zu Hochenburg“.

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solle47. Die erste Kapelle ist dem Abschiednehmen Christi von seiner Mutter gewidmet. Jesus beschreibt ihr seine bevorstehende Tortur. Beide weinen wie trostlos. Bei den meisten Kapellen soll man neben Jesus auch Maria anbeten. Auf einigen Seiten befaßt sich der Verfasser wie in einer Litanei mit den Leiden Marias48. Der Gläubige soll zum Herzen der Jungfrau beten: „O Gebenedeytes Hertz Mariae, O selligistes Hertz, meiner gütigsten Jungfrawen, vnd Mutter Mariae … O Hertz auß allen Hertzen, das heyligiste, vnd nächst dem Hertzen JEsu Christi, dem Menschlichen Geschlecht am allernutzlichsten …“. Er oder sie soll Maria bitten, ihm oder ihr ihres Herzen teilhaftig zu machen, jetzt und in der Todesstunde49. Die Seelen im Fegefeuer seien auch in ihrer Macht, und man bittet sie um ihre Befreiung50. Ich möchte mit einigen Thesen enden: 1. Trotz aller Kritik beziehungsweise Modifikation bleibt die Theorie der Konfessionalisierung relevant. Sie beschreibt den Versuch von Staat und Kirche, die Menschen in einer Stadt oder einem Territorium so zu disziplinieren, daß sie sich nach den Vorstellungen der Obrigkeit als Christen verhielten. Sie beschreibt ein weitverbreitetes Programm. Erfolg ist eine ganz andere Frage. Auch eine andere Frage sind die Fälle, in denen die verschiedenen miteinander konkurrierenden Glaubensströmungen zu Kompromissen gezwungen waren. 2. Dieses Programm der Konfessionalisierung schließt die Formierung der Emotionen ein. Wahre, effektive Überzeugung muß sich in bewegtem Ausdruck zeigen. Der fleißige katholische Prediger, angeregt von dem Vorbild der neuen Orden, bemühte sich, seine Zuhörer tief zu berühren. Der Barockkatholik, ob Frau oder Mann, sollte seine Berührtheit – sowohl von der Passion Christi wie vom Leiden seiner Mutter – demonstrieren. 3. Gefühlsausdrücke wie Weinen, das Kultivieren von Mitleid, die SichUnterwerfung werden traditionell mehr mit Weiblichkeit als mit Männlichkeit identifiziert. Dieser Unterschied zwischen den Geschlechtern ist ein alter Bestandteil abendländischer Kultur. Ich habe hier die Definitionen verwendet, die schon im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit vorhanden waren, d. h. meine Analyse bezieht sich auf die herrschende Perspektive des damaligen Zeitalters. Die Menschen strukturierten ihre Welt binär51. Diese Assoziationen sind erst im 20. Jahrhundert in Frage gestellt worden. ___________ 47

Ibid., 5. Ibid., 46–52. 49 Ibid., 54–55. 50 Ibid., 55–57. 51 Die naturwissenschaftlichen Theoretiker des Mittelalters nahmen jedoch eine größere Verschiedenheit der beiden Geschlechtern wahr. Joan Cadden, Meanings of Sex 48

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4. Auch wenn die Mentalität des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit Gefühlsausdruck mit Weiblichkeit verband, die Praxis, auch die religiöse Praxis, variierte: Viele Männer – große Denker wie Augustinus, Chrysostom, Gregor der Große, Bernhard von Clairvaux, Albertus Magnus, Thomas Aquinus, und auch viele vorreformatorische Prediger des 15. und 16. Jahrhunderts – waren an dem Versuch beteiligt, die Herzen des eigenen Geschlechts, also des männlichen Geschlechts, zu erweichen. Bis zum Ende des Mittelalters zielten sie allerdings auf eine Zuhörerschaft hauptsächlich innerhalb der religiösen Orden. Ordensmänner waren bereit, einen Teil ihrer Männlichkeit Gott zu opfern. Erst allmählich wollten die Prediger auch das allgemeine Publikum berühren. Deshalb spreche ich von einer Intensivierung und einer Einbeziehung der Laien im 16. und 17. Jahrhundert. 5. Obwohl ich mich im vorliegenden Aufsatz auf das Bild von Maria konzentriert habe, um im Kontrast mit dem Protestantismus aufzuzeigen, daß Frauen im Katholizismus noch energisch als Vorbilder vorgestellt wurden, steht das Leiden Christi selbst im Zentrum der sehr großen Gattung der katholischen Passionspredigten: Nicht nur beim Tod Lazareths weint Christus, vielmehr sind seine Gefühle jetzt fast ununterbrochen sichtbar. In kleinsten, ausführlich beschriebenen Details bilden die Prediger sein Leiden ab. Sie bemühen sich, die Zuhörer zum Weinen zu bringen und damit zur Anerkennung ihrer persönlichen Verantwortung für die Leiden Christi. Ist Christus selbst damit als weiblich dargestellt? Meine Antwort wäre ja. Seine Pein, seine Demütigung, seine Hilflosigkeit, sein (so Donatus von Passau) Gebären der Seelen in die ewige Seligkeit – diese Züge sind traditionell alle mit Weiblichkeit verbunden. ‚Unsertwegen nimmt der Sohn Gottes die Charakteristiken von Frauen an!‘ Dieses Bild der katholischen Prediger steht im Gegensatz zu dem der protestantischen Passionsprediger. Der Lutheraner Johann Kymeus (1498–1552) predigte an einem Palmsonntag vor 1540: „Und ist also der endlich scopus gewesen, wenn man vns die Passion gepredigt hat, wie man das volck bewegen möchte, zu weinen, zu heulen, vnd zu klagen vber die vngütige Juden, vnd hartselige völker, so Christum, Gottes Son erwürget haben, Das erkentnis aber, der sünden, vnd glaube die man fürnemlich mit der Passion zu wegen bringen solt, sind da hinden geblieben. … Vnd war dis der beste Prediger, welcher das gröste geschrey vnd weinen kundte anrichten“52. Der Protestantismus wurde männlicher. 6. In der Tradition sind Frauen mit Körperlichkeit verbunden. Nichtsdestotrotz es ist klar, daß Leib und Leiche, Blut und Gehirn, Herz und Auge sich fast ___________ Difference in the Middle Ages. Medicine, Science, and Culture, Cambridge 1993, besonders Kapitel 4, „Feminine and Masculine Types“, 169–227. 52 Passional Buch. Vom Leiden vnd Aufferstehung vnsers Herrn Jhesu Christi …, Wittenberg 1540, bestehend aus Predigten von Urbanus Rhegius, Kymeus, Johannes Bugenhagen und Martin Luther.

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von Anfang auf zweierlei Weisen verstehen lassen. Im Katholizismus bleibt immer der irdische, physische Aspekt des Leidens. Die zwei Sphären von Spiritualität und Körperlichkeit sind unauflösbar vereint. In ihrer Andacht schreiten die Gläubigen von den Sinnenwahrnehmungen in ihrem Innern fort: Sie betrachten den leidenden Sohn, die leidende Mutter und verwandeln unter Anleitung des Predigers das sinnliche Mitleid in das seelenheilende Herzgefühl. Im Protestantismus wird das Körperliche stark vermindert. Zwar richten einige evangelische Prediger das Auge der Gemeindenmitglieder auf den verwundeten Leib Christi, und sie resümieren die Qualen Jesu. Der Grad dieser Rhetorik ist unter Lutheranern unterschiedlich. Unter Reformierten kommt diese Körperlichkeit kaum vor; der Inhalt der Homiletik ist abstrakt und psychisch. 7. Theoretisch sollte der Inhalt der Karwochenpredigten nicht nur ein Muster für die Vorosterandacht bilden, sondern für die Sehens- und Lebensweise des ganzen Jahres. Das Kruzifix erinnerte Katholiken an den passiven und gehorsamen, also an den „weiblichen“ Christus und sollte sie dafür begeistern, ihren Herrn nachzuahmen und ihr tägliches Leben zu reformieren. Das Kruzifix erinnerte Lutheraner an die Versöhnung zwischen Gott und Menschen, die ein Mal historisch vollzogen wurde; es sollte die sündhaften Menschen trösten. Die Reformierten sahen keine Kruzifixe, und dies ist auch von Bedeutung. Wenn katholischen Christen die Bereitschaft, weibliche Qualitäten auch in männliche Persönlichkeiten zu integrieren, eingeschärft wurde, so ist die angestrebte Verwandlung nicht gelungen. Am Ende bleibt das Zeitalter eisern. Die Intensität, mit der die Passionsgeschichte erzählt wurde, die herzrührende Pein von Christus und seiner Mutter, haben nicht bewirkt, daß Krieg, Armut, Krankheit und Verzweiflung vermindert wurden. Vielleicht hat das Programm der Predigten den Betroffenen, als diese ihrer eisernen Herausforderung gegenüberstanden, zumindest innerlich Kraft geschenkt.

Ökumenischer Dialog? Kardinal Hosius und Herzog Albrecht von Preußen Janusz Maááek Im Jahre 1846 veröffentlichte Augustin Theiner eine kurze Abhandlung, in der er zu beweisen versuchte, daß Herzog Albrecht gegen Ende seines Lebens in den Schoß der katholischen Kirche zurückgekehrt sei1. Diese Publikation traf auf die sofortige Reaktion von Johannes Voigt, Professor der Albertina und Direktor des Königsberger Geheimarchivs, der noch in demselben Jahr eine scharfe Polemik herausgab und anhand von Archivmaterial bewies, daß Theiner seine These auf unglaubwürdige Materialien gestützt hatte2. Tatsächlich hatte Theiner sich auf Informationen verlassen, die von Paweá Skalich, dem Ratgeber und Favoriten des gebrechlich gewordenen Herzogs Albrecht, der in Wirklichkeit ein Dokumentenfälscher und Hochstapler war, fabriziert worden waren3. Die katholischen Kreisen entstammenden Biographen von Hosius: Pfr. Anthon Eichhorn4, Pfr. Joseph Lortz5, Pfr. Józef UmiĔski6, Henryk Damian Wojtyska CP7 und Pfr. Alojzy Szorc8 kommen nicht mehr auf diese Diskussion zurück oder halten sie für abgeschlossen. Der letztgenannte Historiker schreibt folgendermaßen über diesen Streit: „Heute wissen wir mit Sicherheit, daß nicht Theiner Recht hatte, sondern Voigt“9. ___________ 1 A. Theiner, Herzog Albrecht von Preussen gewesenen Hochmeisters des deutschen Ordens erfolgte und Friedrich I. Königs von Preussen versuchte Rückkehr zur katholischen Kirche, Augsburg 1846. 2 J. Voigt, Sendschreiben an Augustin Theiner Priester des Oratoriums in Betreff des von ihm behaupteten Uebertritts des Herzogs Albrecht von Preussen zur katholischen Kirche, Königsberg 1846. 3 G. Krabbel/P. Skalich, Ein Lebensbild aus dem 16. Jahrhundert, Münster 1915, 168f. 4 A. Eichhorn, Der ermländische Bischof und Cardinal Stanislaus Hosius, Bd. II, Mainz 1855, 53f. 5 J. Lortz, Kardinal Stanislaus Hosius, Braunsberg 1931, 45, 51, 139. 6 J. UmiĔski, Kardynaá Stanisáaw Hozjusz, biskup warmiĔski 1504–1579, Opole 1948, 38, 73f. 7 H. D. Wojtyska CP, Cardinal Hosius Legate to the Council of Trient, Rome 1967, 75f. 8 A. Szorc, Sáuga BoĪy Stanisáaw Hozjusz, in: ĝwiĊci polscy, Bd. 12, Warszawa 1987, 61–62. 9 Ebd., 62.

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Das Ergebnis dieses Streits war jedoch das Interesse der Forscher für die gegenseitigen Beziehungen zwischen dem ermländischen Bischof Kardinal Stanislaus Hosius, einem der Begründer der Erneuerung und Reform der katholischen Kirche, und Herzog Albrecht, dem letzten Hochmeister des Deutschen Ordens und gleichzeitig Begründer des ersten protestantischen Staates in Europa. So veröffentlichte Johannes Voigt10 bereits im Jahre 1849 einen weiteren Artikel über die gegenseitigen Beziehungen von Hosius und Albrecht, den er mit dem Abdruck einiger Briefe, die diese herausragenden Gestalten einander geschrieben hatten, bereicherte. Eine Zusammenfassung des Forschungsstandes zu der uns interessierenden Frage findet sich in der Dissertation von Ernst Manfred Wermter11, die 1957 gedruckt wurde, also über 100 Jahre nach den Publikationen von Theiner und Voigt. Wermters Arbeit ist den vielfältigen Beziehungen der ermländischen Bischöfe zu dem preußischen Herzog Albrecht in den Jahren 1525 bis 1568 gewidmet, also von der Säkularisation des Deutschen Ordens in Preußen bis zum Tod des Herrschers des Herzogtums Preußen. Ein bedeutender Teil dieser Abhandlung behandelt die Kontakte zwischen Kardinal Stanislaus Hosius und Herzog Albrecht12. Eine außerordentlich wertvolle Ergänzung dieser Arbeit ist die Veröffentlichung der Korrespondenz aus den Beständen des Königsberger Archivs, die diese beiden herausragenden Persönlichkeiten in den Jahren 1560–1562, also während der dritten Tagungsperiode des Trienter Konzils, miteinander führten, durch Wermter13. Die in der genannten Edition veröffentlichten Briefe von Hosius und die Antworten Albrechts zeigen uns die ganze Breite der theologischen Argumente, deren sich diese beiden konfessionellen Gegner bedienten. Man könnte meinen, nach der Publikation Wermters sei das Thema erschöpfend dargestellt und ließe sich nicht weiter vertiefen. Zur erneuten Aufnahme dieses Themas ermutigen uns jedoch zum einen neue Quelleneditionen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschienen sind, sowie zum anderen neue methodologische Möglichkeiten im Zusammenhang mit dem Modell der „Konfessionalisierung“, dessen Autoren Heinz Schilling14 und Wolfgang Reinhard15 sind. ___________ 10

J. Voigt, Herzog Albrecht von Preußen und der Kardinal Stanislaus Hosius, Bischof von Ermland als Repräsentanten der protestantischen und katholischen Kirche in Preussen, in: Neue Preussische Provinzial Blätter, Band VIII, Königsberg 1849, 82–105, 208–219, 307–318. 11 E. M. Wermter, Herzog Albrecht von Preussen und die Bischöfe von Ermland 1525–1568, in: ZGAE 29 (1957), Heft 87, 198–311. 12 Ebd., 264–311. 13 Kardinal Stanislaus Hosius Bischof von Ermland und Herzog Albrecht von Preussen. Ihr Briefwechsel über das Konzil von Trient (1560–1562), hrsg. v. E. M. Wermter, Münster 1957, 1–83. 14 H. Schilling, Ausgewählte Abhandlungen zur europäischen Reformations- und Konfessionsgeschichte, Berlin 2002.

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Zunächst ist den Quellenpublikationen ein wenig Raum zu widmen. An der Spitze steht hier die Fortsetzung der Edition von Briefen und Schriften von Kardinal Hosius. Sie wurde initiiert durch die noch im 19. Jahrhundert erfolgte Publikation der beiden ersten Bände (Bd. I: Die Jahre 1525–1551 und Bd. II: Die Jahre 1551–1558) von Franz Hipler, einem ermländischen Kanoniker, und Wincenty Zakrzewski, einem Professor der Jan-Kazimierz-Universität in Lwów16. Von den geplanten weiteren Bänden dieser Edition, zu der man nach mehr als 100 Jahren zurückkehrte, erschienen im Druck Band III, Teil I (10. Mai 1558 bis 31. August 1560) in der Bearbeitung von Henryk Damian Wojtyska CP17 im Jahre 1980 und ein wenig früher, in den Jahren 1976 und 1978, die Bände V und VI (die Jahre 1564 und 1565) in der Bearbeitung von Pfarrer Alojzy Szorc18. In Band III Hosii epistolae (der von H.D. Wojtyska CP herausgegeben wurde) fanden sich sieben Briefe von Hosius an Albrecht und fünf Antworten des preußischen Herzogs auf diese Briefe19, in den (von Pfarrer Alojzy Szorc in Druck gegebenen) Bänden V und VI sind 13 Briefe des Kardinals an den preußischen Herzog und 19 Antworten des letzteren aus dem Jahre 156420 sowie 12 Briefe von Hosius an Albrecht und 11 Antworten von Albrecht an Hosius aus dem Jahre 1565 abgedruckt21. Insgesamt machten uns die Herausgeber (H.D. Wojtyska und A. Szorc) mit 67 Briefen die Korrespondenz zwischen Hosius und Albrecht in extenso zugänglich, nachdem sie sowohl weitreichende Forschungen in europäischen Archiven durchgeführt als auch ihre Suche in den Archiven in Königsberg und Frombork (Ermland) mit imposanten Resultaten abgeschlossen hatten. Eine weitere Quellenedition, die die Korrespondenz von Herzog Albrecht mit dem Bistum Ermland aus der Zeit der Amtsausübung des Stanislaus Hosius in dieser Diözese, das heißt aus den Jahren 1550–1568, enthält, veröffentlichte

___________ 15

W. Reinhard, Was ist katholische Konfessionalisierung?, in: Die katholische Konfessionalisierung, hrsg. v. W. Reinhard/H. Schilling, Gütersloh 1995. 16 F. Hipler/V. Zakrzewski (Hrsg.), Stanislai Hosii S.R.E. Cardinalis Maioris Poenitentiarii Episcopi Varmiensis (1504–1579) et quae ad eum scriptae sunt epistolae tum etiam eius orationes legationes, T. 1 (1525–1551), Cracoviae 1879; T. II (1551–1558), Cracoviae 1886–1888; Acta historica res gestas Poloniae ilustrantia T. IV, IX. 17 H.D. Wojtyska CP (Hrsg.), Stanislai Hosii Cardinalis et Episcopi Varmiensis epistolae ab eo scriptae et ad eum datae, 10 V 1558–31 VIII 1560. T. III, Pars I, SW XVII: 1980. 18 A. Szorc (Hrsg.), Stanislai Hosii Cardinalis et Episcopi Varmiensis epistolae ab eo scriptae et ad eum datae anno 1564, 1565, SW XIII: 1976, XV: 1978. 19 H.D. Wojtyska (Hrsg.), (wie Anm. 17), Einführung, 23. 20 A. Szorc (Hrsg.), (wie Anm. 18), Bd. V, 59f. 21 Ebd., Bd. VI, 41.

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Stefan Hartmann im Jahre 199322. Diese Edition umfaßt die imposante Zahl von 696 Regesten der preußisch-ermländischen Korrespondenz, hauptsächlich zwischen Herzog Albrecht und Bischof Hosius sowie Eustachy Knobelsdorf, dem Verwalter des Bistums in der Zeit der Abwesenheit des Bischofs während seiner Aufenthalte in Rom, Wien und Trient in den Jahren 1558–1564. Alle Briefe stammen aus den Beständen des Archivs in Königsberg und waren bisher größtenteils unveröffentlicht. E.M. Wermter hat diese Briefe, die damals noch nicht veröffentlicht waren, ausgiebig genutzt, doch ihre Herausgabe, selbst in Form von Regesten, hat den Forschern neue Perspektiven eröffnet. Zu erwähnen sind auch die neuesten Editionen, die das Material unseres Themas vervollständigen, und zwar: a) die Akten der Nuntiatur in Polen (Acta Nuniatura Polonae)23, insbesondere von Nuntius Alojzy Lippomano aus den Jahren 1555–1557 und Juliusz Ruggieri aus den Jahren 1565–1568 und b) die Briefe von Andrzej Dudycz24, des kaiserlichen Gesandten in Polen und Bischofs von Fünfkirchen, der auf dem Konzil von Trient in engem Kontakt mit Hosius stand und später Arianer wurde, aus den Jahren 1554–1568. Der Rückgriff auf das Modell der „Konfessionalisierung“ von Heinz Schilling und Wolfgang Reinhard bei der Erörterung der Beziehungen zwischen Kardinal Hosius und Herzog Albrecht eröffnet neue Möglichkeiten ihrer Interpretation. Das Modell der „Konfessionalisierung“ ist nach Meinung seiner Vertreter gut an die historische Wirklichkeit angepaßt, die die Jahre 1550–1650 umfaßt, also einen Zeitraum, der uns in seiner ersten Phase besonders interessiert. Dem Paradigma der „Konfessionalisierung“ liegt die These von der zentralen Rolle der Religion im Leben des einzelnen, der Kirche, der Gesellschaft und des Staates in der uns interessierenden Zeit zugrunde. Die „Konfessionalisierung“ begann ohne Zweifel mit der lutherischen Reformation, was an deren innovativem Charakter lag. Die Konsequenz war die Spaltung der abendländischen Kirche in eine „alte“ römisch-katholische und eine „neue“ protestantische. Die miteinander rivalisierenden Kirchen versuchten, eine deutliche zahlenmäßige Überlegenheit zu erzielen, indem sie die Konkurrenten in die Diaspora drängten. Die „Konfessionalisierung“ sollte nicht nur den „Besitzstand“ an Glaubensgenossen wahren, sondern ihn vergrößern. Das sollte durch die Anwendung verschiedener Methoden erreicht werden. An erster Stelle steht hier die Propagierung der inneren Disziplin, die Hervorhebung der konfessionellen An___________ 22 S. Hartmann (Hrsg.), Herzog Albrecht von Preussen und das Bistum Ermland (1550–1568). Regesten aus dem Herzoglichen Briefarchiv und den Ostpreussischen Folianten, Köln 1993, Nr. 1202–1898. 23 Acta Nunciaturae Polonae, Polonie. 2 Zacharias Ferreri (1519–1521) et nuntii minores (1522–1553), Bd. 3/1 Aloisius Lippomano (1555–1557), Bd. 6 Iulius Ruggieri (1565–1568), hrsg. v. H.D. Wojtyska, Romae 1991–1993. 24 Dudith Andras (1533–1589), Epistulae. P. 1, 1554–1567, P. 2, 1568–1573, hrsg. v. L. Szczucki/T. Szepessy, Budapest 1991, 1995.

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dersartigkeit und der Überlegenheit anderen Konfessionen gegenüber, die Monopolisierung des Schulwesens, Zensur usw. Jede Konfession verschanzte sich in ihrem eigenen Lager. Die „Konfessionalisierung“ führte im wesentlichen zu religiöser Intoleranz. Die Autoren des Modells der „Konfessionalisierung“ betonen jedoch deren Anteil an der Modernisierung von Gesellschaft und Staat, die Konkurrenz soll den Fortschritt erzwungen haben. Sowohl Max Webers These vom protestantischen Arbeitsethos als auch das effektive Schulwesen der Jesuiten sollen diese These bestätigen. Wenn wir das Modell der „Konfessionalisierung“ annehmen, fällt es uns leichter, den Charakter der Kontakte zwischen Kardinal Hosius und Herzog Albrecht zu verstehen. Es ist wahr, daß bis zum Konzil von Trient noch eine gewisse Hoffnung bestanden hatte, die Kirchenspaltung verhindern zu können. Das fand im Interim des Jahres 1548, den auf Einigung ausgerichteten Bemühungen von Kaiser Karl V. seinen Ausdruck, obwohl eine Vereinigung in Form einer Absorption sich als für die Protestanten nicht akzeptabel erwies. Der durch die Mißerfolge entmutigte Kaiser Karl V. dankte im Jahre 1556 ab. Die Spaltung der abendländischen Kirche vertiefte sich, und die Religionsdisputation in Poissy25 in Frankreich im Jahre 1561 unter Mitwirkung katholischer Theologen und Hugenotten mit Theodor Beza an der Spitze war ein Einzelfall. Ich erwähne dies alles, um vor Augen zu führen, daß es in der konkreten Situation der „Konfessionalisierung“ – sei es katholische oder lutherische – schwierig gewesen wäre, von Kardinal Hosius oder Herzog Albrecht Toleranz anderen Konfessionen gegenüber oder gar Ökumenismus zu verlangen. Kardinal Hosius tolerierte im Grunde keine Lutheraner in seiner Diözese und Herzog Albrecht keine Katholiken in seinem Staat. Diese Tatsache erlaubte es natürlich dennoch, korrekte „zwischenstaatliche“ Beziehungen zu unterhalten, was sich einfach aus der Nachbarschaft ergab, aber auch aus der Jahrhunderte währenden gemeinsamen Vergangenheit im Rahmen des Ordensstaates. Die beiden Staatsmänner waren also gezwungen, gegenseitige Kontakte zu unterhalten. In einem Brief an Herzog Albrecht vom 19. Februar 156826, der in Lidzbark/Heilsberg datiert ist, schrieb Kardinal Hosius, daß er seit 17 Jahren das Bistum Ermland verwalte, sich aber während dieser Zeit nie in die inneren Angelegenheiten anderer Territorien, die nicht seiner Jurisdiktion unterliegen, eingemischt habe, unabhängig davon, ob es Lutheraner, Calvinisten, Anabaptisten, Anhänger von Osiander sowie von Flacius und andere beträfe. Jedoch tue er in der Diözese, die ihm anvertraut sei, alles, damit seine Untertanen Christen, Papisten und Registen blieben. Diese Erklärung stimmt nicht völlig mit der Wirklichkeit überein, denn in demselben Brief ermahnt Hosius Herzog ___________ 25 26

J. Lecler, Historia tolerancji w wieku reformacji, Bd. 2, Warszawa 1964, 51–58. S. Hartmann (Hrsg.), (wie Anm. 22), 324–325, Nr. 1887.

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Albrecht, Joachim Mörlin aus dem Herzogtum Preußen zu entfernen. 15 Jahre vorher war Mörlin während des Osiandrischen Streites aus Preußen ausgewiesen worden, nun sollte er hier das Amt des lutherischen Bischofs von Samland übernehmen. Die gegenseitigen Kontakte des ermländischen Bischofs mit dem preußischen Herzog hatten vielfältigen Charakter. Ihre Korrespondenz ist durchzogen von politischen Angelegenheiten, also den Bemühungen von Bischof Hosius als Gesandtem des polnischen Königs, die auf Herzog Albrecht lastende Reichsacht aufzuheben, wirtschaftlichen Angelegenheiten, die u.a. das Ausfuhrverbot von Getreide aus dem Herzogtum ins Ermland und von Leinen in der umgekehrten Richtung betrafen, und schließlich kulturellen Angelegenheiten, z. B. im Zusammenhang mit dem Eindringen von Flugschriften und Reformationsliteratur nach Preußen, deren Verbreitung der ermländische Bischof bekämpfte. Doch die wichtigste Frage in den gegenseitigen Kontakten war die Konfessionspolitik sowie die theologische Diskussion zwischen Kardinal Hosius und Herzog Albrecht. Und nur auf diese Frage – schon allein im Hinblick auf den Umfang dieses Artikels – möchte ich ausführlicher eingehen. In den gegenseitigen Kontakten zwischen dem ermländischen Bischof und dem preußischen Herzog lassen sich drei Zeiträume unterscheiden: Die Jahre 1551–1558, d. h. von der Übernahme des Bistums Ermland durch Hosius bis zu seiner Reise zum Trienter Konzil; die Jahre 1558–1564, die Hosius in Rom, Wien und vor allem in Trient verbrachte; und schließlich die Jahre 1564–1568, die die Zeit von der Rückkehr des Kardinals vom Konzil bis zum Tod des Herzogs Albrecht (also bis zum 20. März 1568) umfassen. Bereits die Wahl von Stanislaus Hosius, dem Nicht-Einheimischen – was betont wurde – auf den Bischofsstuhl von Cheámno/Kulm im Jahre 1550 und um so mehr auf den ermländischen Bischofsstuhl stieß nicht nur auf Protest des lutherisch gewordenen GdaĔsk/Danzig und des späteren Anführers der Lutheraner im Königlichen Preußen, des Woiwoden von Malbork/Marienburg Achatius von Zehmen, sondern auch auf Ablehnung bei Herzog Albrecht27. Neben der Verletzung der Privilegien des ermländischen Kapitels im Hinblick auf die Wahl des Bischofs ausschließlich aus den Reihen der Einheimischen lagen die Gründe für die Ablehnung in Befürchtungen, Hosius könnte im Gegensatz zu seinen Vorgängern Jan Dantiscus und Tiedemann Giese mit größerem Engagement die Reformation bekämpfen. Dies waren keine unbegründeten Befürchtungen. Johannes Voigt28 stellte die These auf, die politischen Beziehungen zwischen Hosius und Albrecht hätten sich gut und friedlich gestaltet, dagegen sei___________ 27 E.M. Wermter, (wie Anm. 11), 266; R. Fischer, Achatius von Zehmen Woywode von Marienburg, in: Zeitschrift des Westpreussischen Geschichtsvereins XXXVI (1897), 80, 84. 28 J. Voigt, (wie Anm. 10), 81f.

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en die beiden in religiösen und theologischen Fragen grundlegend unterschiedlicher Meinung gewesen. Ernst M. Wermter29 ist der Ansicht, daß im Falle von Kardinal Hosius, und hier ist sicher hinzuzufügen auch von Herzog Albrecht, die politischen Fragen deutlich mit der konfessionellen Einstellung gekoppelt waren. Mehr noch, für Kardinal Hosius hätten der Zustand und die Angelegenheiten seiner Kirche Priorität besessen und politische Entscheidungen seien in hohem Maße kirchlich-religiösen Zielen untergeordnet gewesen. Das würde die Richtigkeit der Anwendung des Modells der „Konfessionalisierung“ sowohl für das Ermland als auch für das Herzogtum Preußen bestätigen. Nachdem Stanislaus Hosius das Bistum Ermland übernommen hatte, nahm in seinen Kontakten mit Herzog Albrecht der Versuch, diesen zur Rekonversion zur römischkatholischen Kirche zu bewegen und den katholischen Kultus im Herzogtum Preußen wiedereinzuführen, eine vorrangige Stellung ein. Ein günstiger Moment zur Realisierung dieses Vorhabens war der Streit zwischen Andreas Osiander und seinen Anhängern, auf deren Seite Herzog Albrecht stand, und orthodoxen Lutheranern mit Joachim Mörlin an der Spitze in Königsberg. Die Kontroverse betraf zwei zentrale theologische Fragen: die Rechtfertigungslehre und die Lehre von der menschlichen und göttlichen Natur Christi. Der Osiandrische Streit in Preußen schwächte die Position der lutherischen Kirche entscheidend. Im Zusammenhang mit dem Besuch von König Zygmunt August in GdaĔsk/Danzig im Jahre 1552 ergab sich die Möglichkeit eines persönlichen Gesprächs über theologische Themen zwischen Bischof Hosius und Herzog Albrecht. In der Zeit vom 14. bis zum 18. Juli führte Hosius mit Albrecht30 in Gesellschaft anderer Dignitare der Krone und Preußens Gespräche über wirtschaftliche Themen, doch nahmen religiöse Fragen in diesen Diskussionen den meisten Raum ein. Hierbei unternahm Hosius deutlich den Versuch, den preußischen Herzog zum Katholizismus zu bekehren. Er argumentierte, der Osiandrische Streit sei die Folge des Abfalls Martin Luthers von der Lehre der Kirche, so daß zu viele Menschen sich zur Auslegung des Wortes Gottes berechtigt fühlten. Auch die Confessio Augustana sei Menschen- und nicht Gotteswerk, und er folgerte, die Kirche Christi sei nur in der Kirche Petri und in der Kirche seiner Nachfolger, also in der katholischen Kirche. Interessant ist, daß Hosius sich nicht mit der theologischen Seite des Osiandrischen Streites befaßte. Seine kompromißlose Haltung ließ keinen Spielraum für Diskussionen und forderte eine eindeutige Deklaration: „ja“ oder „nein“. Herzog Albrecht erwiderte lakonisch – wie es der ermländische Kanoniker und Sekretär des Bischofs, Stanislaus Rescius, aufgeschrieben hat: „Es scheint mir,

___________ 29 30

E.M. Wermter, (wie Anm. 11), 266. A. Eichhorn, (wie Anm. 4), 197–201.

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du willst mich zum Papisten machen“31. Worauf Hosius scharf reagierte: „Ich bin ein Christ, ein Papist, ein Regist, aller meiner Obrigkeit, der mich Gott unterworfen hat, will ich Treu und Gehorsam leisten; aber davor behüte mich Gott, daß ich soll ein Lutherist, ein Calvinist, ein Satanist sein“32. Hosius war von Albrechts Haltung enttäuscht und äußerte gleichzeitig Zufriedenheit, einen Versuch unternommen zu haben. Der Verlauf der Danziger Gespräche führte dennoch zu einer merklichen Abkühlung der gegenseitigen Beziehungen, zog doch Hosius im Jahre 1553 die Möglichkeit in Erwägung, Herzog Albrecht im Zusammenhang mit dem Osiandrischen Streit durch seine Untergebenen zu vertreiben, was seiner Meinung nach im Interesse Polens gelegen haben könnte33. Eine ähnliche Enttäuschung erlebte Hosius, als sich die Bürger auch in Elbląg/Elbing während des erwähnten Besuchs von Zygmunt August im Jahre 1552 mit der Bitte an den König wandten, die Verkündigung der „reinen“, das heißt evangelischen Lehre zu gestatten. Die Beharrlichkeit, mit der die Elbinger die offizielle Anerkennung des Luthertums forderten, führte dazu, daß Bischof Hosius sie sogar „Elbinger Ziegenböcke“34 nannte. Eine weitere Chance, eine theologische Diskussion mit Herzog Albrecht zu führen, ergab sich im Zusammenhang mit einer diplomatischen Mission, die Bischof Hosius und der Woiwode Achatius von Zehmen im Namen von König Zygmunt August im Januar 1554 ausführten. Während der Vorbereitung der Gesandtschaftsinstruktion betonte Hosius, daß in Königsberg eine Versöhnung in der Sache, die sich in die vier Worte „Credo sanctam ecclesiam catholicam“ fassen lasse, herbeizuführen sei, dann lösten sich alle anderen Probleme, u.a. der Osiandrische Streit, von selbst35. Damals gelang es Hosius nicht, mit Albrecht Gespräche unter vier Augen zu führen, denn gemäß der korrigierten königlichen Instruktion wurde er von der Diskussion über den Osiandrischen Streit ausgeschlossen. Statt dessen wurden ihm die Gespräche zur Frage der Aufhebung der auf dem preußischen Herzog lastenden Reichsacht übertragen. Über die mißlungene diplomatische Mission äußerte er sich später ironisch: „Dem Woiwoden wurde aufgetragen, himmlische Angelegenheiten zu erledigen, und dem Bischof irdische“.36 Als der polnische König Hosius ein Jahr später erneut nach Königsberg senden wollte, um den Osiandrischen Streit zu be___________ 31 Stanislaus Rescius, Stanislai Hosii Viat, Pelplini 1938, 41: „Quantum video, tu velles me facere Papistam“. 32 Ebd., 42. „Ich bin ein Christ, ein Papist, ein Regist, aller meiner Obrigkeit, der mich Gott unterworfen hat, will ich Trew und Gehorsam leisten; aber da behüt mich Gott für, das ich sol ein Luterist, einCaluinist, ein Satanist sein“. 33 E.M. Wermter, (wie Anm. 11), 270. 34 A. Szorc, (wie Anm. 8), 40. 35 Ebd., 273. 36 E.M. Wermter, (wie Anm. 11), 275.

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enden, fand Herzog Albrecht verschiedene Gründe, um diese Gesandtschaft zu verhindern. Auch als Albrecht sich im Januar 1556 nach Warszawa/Warschau begab, nahm er nicht die Gastfreundschaft von Bischof Hosius in Lidzbark/Heilsberg in Anspruch37. Hosius richtete sich gegen eine Politik, die die Aufhebung des Ordens in Livland zum Ziel hatte, da er nicht ohne Grund Albrecht als Initiator annahm und ähnliche Folgen wie in Preußen befürchtete, also eine weitere Ausbreitung der Reformation38. Die Nachricht, Achatius von Zehmen habe sich Anfang 1557 zum König nach Wilna begeben, um das Privileg zur offiziellen Austeilung des Abendmahls in beiderlei Gestalt in den Danziger Kirchen zu erbitten, führte dazu, daß Bischof Hosius begann, über schlaflose Nächte zu klagen39. In den Jahren 1558–1564, als Bischof Hosius außerhalb seiner Diözese weilte und sie von dem Administrator Eustachy Knobelsdorf verwaltet wurde, verbesserten sich die Kontakte zu Herzog Albrecht und erinnerten wieder an die Zeiten, als Jan Dantyszek und später Tiedemann Giese ermländische Bischöfe waren. In dieser Zeit fand – wie eingangs bereits erwähnt – ein weiterer Versuch von Kardinal Hosius statt, Herzog Albrecht zum Katholizismus zu bekehren. Am 6. August 1560 sandte Bischof Hosius an Herzog Albrecht einen Brief aus Wien40, wo er sich als päpstlicher Legat am kaiserlichen Hof aufhielt. In diesem Brief dankte er dem preußischen Herzog für die Aufrechterhaltung der gutnachbarschaftlichen Beziehungen während seiner Abwesenheit, worüber ihn der Administrator des Bistums Ermland, Eustachy Knobelsdorf, informiert habe. Gleichzeitig gab er seiner Hoffnung Ausdruck, daß bald eine Wiederaufnahme der Beratungen des Trienter Konzils erfolgen werde, das die Einheit des christlichen Glaubens wiederherstellen werde, „so daß ein Gott, ein Glaube, ein Hirte und eine Herde sei“. Dem Brief fügte er die Wiener Neuausgabe seines Büchleins Confessio catholicae fidei christiana bei. Am selben Tag sandte er auch an Albrechts Frau, Herzogin Anna Maria, einen Brief mit dem erwähnten Büchlein41. Diese Briefe wurden sowohl von Herzog Albrecht als auch von seiner Frau am 29. September 1560 herzlich beantwortet42. Der damals wieder aufgenommene Kontakt führte dazu, daß der Kardinal in einem weiteren, auf den 21. Juni 1561 datierten Brief aus Wien43 dem Herzog den päpstlichen Legaten Jan Franciscus Canobius empfahl und dringend darum bat, Gesandte zum ___________ 37

Ebd., 277. Ebd., 280, 283. 39 R. Fischer, (wie Anm. 27), 102. 40 E.M. Wermter, (wie Anm. 13), 9–12, Brief Nr. 1. 41 Ebd., 13–14, Brief Nr. 2. 42 Ebd., 15–19, Briefe Nr. 4, 5. 43 Ebd., 19–21, Brief Nr. 6. 38

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Konzil von Trient zu schicken, wo die Einheit des Christentums wiederhergestellt werden solle. Tatsächlich kam Canobius gegen Ende August 1561 mit einem Breve von Papst Pius IV. vom 20. Mai 156144, in dem Herzog Albrecht zur Teilnahme am Konzil von Trient eingeladen wurde, in Königsberg an. Der päpstliche Legat wurde hier freundlich aufgenommen, obwohl unter den herzoglichen Beratern keine Einigkeit herrschte, ob der Brief des Papstes zu öffnen sei. Der Herzog entschied sich jedoch für die Öffnung des Briefes. Die Antwort Albrechts vom 4. September 156145 auf den Brief von Hosius fiel, wenn sie auch in freundlichem, beruhigendem Stil gehalten war, negativ aus. Herzog Albrecht erklärte, das Konzil von Trientsei nicht das, was Kaiser Karl V. den Ständen, die das Augsburger Bekenntnis angenommen hatten, versprochen habe, also frei und allgemein. Er versprach dem Kardinal, seinen Standpunkt durch die Vermittlung des päpstlichen Legaten Canobius detailliert darzulegen. Die dem Legaten am 5. September 156146 erteilte Antwort war jedoch schroff. Es wurde darin betont, daß das Konzil von Trient nicht frei und unabhängig sei. Eine Teilnahme daran bedeute die Anerkennung des Papstes, und zu diesem Joch wolle er nicht zurückkehren, denn die reine Lehre des Evangeliums nähme dann ernstlich Schaden. Interessant ist, daß diese Antworten Hosius nicht entmutigten, weitere Anstrengungen zu unternehmen, Albrecht für seine Pläne der Rekatholisierung Preußens zu gewinnen. Am 12. Dezember 1561 schickte Kardinal Hosius Herzog Albrecht aus Trient einen Brief, oder eher ein theologisches Traktat47 von 27 Seiten, in dem er zu beweisen versuchte, daß das Trienter Konzil volle Legitimation besäße. Hosius berief sich auf die konziliare Tradition und die Rolle der Päpste bei der Einberufung der Konzile, er unterstrich die Notwendigkeit der Einheit der Christen und wies auf das Fehlen einer einheitlichen Lehre bei den Protestanten hin. Dogmatische Fragen erörterte er nicht detailliert, dagegen machte er auf die übermächtige und heilende Rolle der Autorität der Kirche aufmerksam. Auf diesen Brief antwortete Herzog Albrecht ebenfalls mit einem theologischen Traktat, dessen Umfang sogar 80 Seiten betrug und das auf den 26. Juli 1562 datiert ist48. Es ist schwierig zu bewerten, inwieweit dieses Traktat vom Herzog selbst, der bekanntlich Autor zahlreicher theologischer Texte, Gebete und geistlicher Lieder war, erstellt worden war und wieviel seine Theologen dazu beigetragen haben. Ernst M. Wermter identi-

___________ 44

Ebd., 24–25, Brief Nr. 8a. Ebd., 21–22, Brief Nr. 7. 46 Ebd., 22–24, Brief Nr. 8. 47 Ebd., 25–42, Brief Nr. 9; S. Hartmann (Hrsg.), (wie Anm. 22), 178–180, Nr. 1587. 48 Ebd., 42–78, Brief Nr. 10; S. Hartmann (Hrsg.), (wie Anm. 22), 190–192, Nr. 1608. 45

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fizierte auf dem Entwurf des Traktats Randbemerkungen in der Handschrift Johann Aurifabers, des Präsidenten des Bistums Samland. Herzog Albrecht lehnte dieses Mal die Teilnahme am Konzil von Trient entschieden ab und erklärte, daß ausschließlich Befürworter des Papsttums daran teilnähmen, ein Konzil aber „wahrhaftig allgemein oder oecumenicum sein sollte“49. Er fügte hinzu, daß ein Konzil, das die wahre christliche Lehre, d. h. die evangelische, brandmarke, nicht als christlich gelten könne. Im weiteren Verlauf des Traktats stellte Albrecht nochmals die Autorität des Papstes in Frage. Das Haupt der Kirche sei Christus und nicht der Papst. Die kirchliche Autorität müsse sich nicht unbedingt auf die apostolische Sukzession stützen. Die wahre Kirche sei nur die, die an der reinen Lehre Christi festhalte und durch die Kraft des Heiligen Geistes gestützt sei. Er appellierte an Hosius, er möge seine Untergebenen zum Abendmahl in beiderlei Gestalt zulassen. Schließlich schrieb er, der Religionsstreit habe nicht mit Luther begonnen, sondern bereits tausend Jahre früher, also zur Zeit des heiligen Hilarius. Die in den Jahren 1561–1562 schriftlich geführte Polemik zwischen Kardinal Hosius und Herzog Albrecht würde im Blick auf ihren Umfang und die Argumentation eine genauere Analyse verdienen, und zwar sowohl durch einen katholischen als auch einen evangelischen Theologen. Der Historiker katholischer Herkunft Ernst Manfred Wermter kommentiert die besprochene Polemik folgendermaßen: „Dieser Gedankenaustausch hätte die Trennungslinie zwischen den Ansichten von Hosius und Albrecht gar nicht deutlicher ziehen können. Einer von ihnen wies fast ausschließlich auf äußerliche Motive und das Gewicht der Autorität hin, der andere dagegen legte Wert auf die inneren Motive von Gnade und Glauben. Zwischen diesen beiden Sichtweisen gab es keine Brücke mehr, obwohl beide fest auf dem Grund des Wirkens Gottes in der Kirche standen“50. Kehren wir jedoch zum weiteren Verlauf der Ereignisse zurück. Hosius begriff, daß weitere Versuche, Albrecht für den Katholizismus zu gewinnen, vergeblich sein würden, trotzdem dankte er in einem am 6. Oktober 1562 aus Trient abgeschickten Brief höflich für das zugesandte Traktat. Auf weitere Polemik ließ er sich aber nicht ein, was er damit erklärte, daß er mit anderen wichtigen Dingen beschäftigt sei. Dem Brief fügte er jedoch kritische Schriften einiger lutherischer Theologen über Prediger in Wittenberg und Leipzig bei. Zum Schluß scheint es angebracht, den Kontakten von Kardinal Hosius mit Herzog Albrecht nach seiner Rückkehr aus Trient in die Diözese Ermland noch ein paar Sätze zu widmen. Diese Kontakte waren naturgemäß von anderer Art. Herzog Albrecht war bereits hochbetagt und von Krankheit gezeichnet ___________ 49 50

Ebd., 46. E.M. Wermter, (wie Anm. 11), 291.

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(1563 hatte er einen Schlaganfall erlitten). Außerdem war er von einer Gruppe sogenannter neuer Berater mit Paweá Skalich an der Spitze umgeben, die für einige Jahre die faktische Herrschaft im Herzogtum übernahm. Die Grundsatzfrage, auf die sich das Interesse von Hosius in seinen „theologischen“ Kontakten mit Herzog Albrecht richtete, war die Zulassung der Gläubigen zum Abendmahl unter einer oder unter beiderlei Gestalt. Hosius war für die erste Lösung, das Konzil von Trient hatte diese Frage jedoch nicht endgültig entschieden und die Entscheidung war in den Händen des Papstes geblieben. Es ist anzunehmen, daß Kardinal Hosius befürchtete, die Erlaubnis zur Abendmahlsfeier unter beiderlei Gestalt könnte die Tür öffnen für weitere Forderungen – nicht nur der Protestanten, sondern auch der Katholiken51. Den Forderungen nach der Einführung des Abendmahls unter beiderlei Gestalt könnte – so befürchtete er – die Forderung nach der Aufhebung des Zölibats des Klerus folgen oder nach der Einführung der Nationalsprachen in der Liturgie52. Die Erfahrungen im deutschen Reich, wo in einigen Diözesen gemäß dem päpstlichen Breve vom 16. April 156453 in dieser Frage Zugeständnisse gemacht worden waren, ließen Spaltungen unter den Gläubigen erkennen, ein Teil kommunizierte unter einer, ein Teil unter beiderlei Gestalt54. Diese Befürchtungen teilte Hosius, der in einem Brief vom 20. April 1564 an Herzog Albrecht schrieb, daß es die Pflicht des geistlichen Amtes sei, die Gläubigen zu verbinden und nicht zu trennen55. Albrecht wiederum schrieb in einem an den Kardinal gerichteten Brief vom 22. April 156456, Christus habe das Abendmahl nicht unter einer, sondern unter beiderlei Gestalt eingesetzt, und das Konzil von Trient habe „Communio sub utraque specie“ zugelassen, selbst in Rom werde man nicht zum Empfang des Abendmahls unter einer Gestalt gezwungen, und er appellierte, in dieser Frage keine Entscheidung zu treffen, bis sie in ganz Polen rechtlich geregelt sei. Derweil unterlag das Verhältnis von Bischof Hosius zu Andersgläubigen einer Radikalisierung. Dies geschah vielleicht unter dem Einfluß der in der Diözese vorgefundenen religiösen Situation und insbesondere der Ausbreitung der Reformation in Braniewo/Braunsberg. Am 15. Juni 1564, als er schon in Lidzbark/Heilsberg war, schrieb Hosius an Kardinal Carlo Borromeo, daß er während der Begegnung mit König Zygmunt August in àomĪa den Erlaß eines ___________ 51

A. Szorc (Hrsg.), (wie Anm. 18), Bd. V, 85–87, Nr. 15: Hosius an Jakub Laynez, Oáomuniec, 15. Januar 1564. 52 A. Szorc, (wie Anm. 8), 83–84. 53 A. Szorc (Hrsg.), (wie Anm. 18) Bd. V, 241, Anm. 3. 54 Ebd., 396–398: Piotr Kanizjusz an Hosius, Augsburg, 8. August 1564. 55 S. Hartmann (Hrsg.), (wie Anm. 22), 239–240, Nr. 1711. 56 A. Szorc (Hrsg.), (wie Anm. 18) Bd. V, 241–243, Nr. 155; S. Hartmann (Hrsg.), (wie Anm. 22), 240–241, Nr. 1731.

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Edikts nicht nur gegen die Arianer, sondern gegen alle Andersgläubigen empfohlen habe. Er führte den Beweis, daß ein Krieg innerhalb der Andersgläubigen Frieden für die Kirche bedeute („bellum hereticorum pax sit Ecclesiae“) und es nicht angebracht sei, Lutheranern und Calvinisten den gefährlichen Konkurrenten, nämlich die Antitrinitarier57, zu nehmen. Abschließend können wir festhalten, daß beide Partner der religiösen und theologischen Diskussionen überzeugt waren, Recht zu haben, und mit großem Engagement die Realisierung ihrer Vorstellungen anstrebten. Der ermländische Bischof, Kardinal Stanislaus Hosius, stand sein Leben lang auf dem Standpunkt der Unfehlbarkeit der Kirche und der katholischen Theologie. Herzog Albrecht dagegen, obwohl er Luther seinen Papst nannte und fest auf dem Boden des Augsburger Bekenntnisses stand, befand sich ständig im Stadium der Suche nach Wegen und der Heilsgewißheit, was für viele Protestanten charakteristisch ist. Daß Herzog Albrecht sich in der Frage der Rechtfertigungslehre und der menschlichen und göttlichen Natur Christi auf die Seite von Andreas Osiander stellte und diesen Standpunkt bis ins hohe Alter gegen die orthodoxen Lutheraner im Herzogtum Preußen vertrat, eröffnete – so sollte man meinen – Hosius die Chance eines theologischen Dialogs mit dem preußischen Herzog. Für Hosius war jedoch weder die Lehre Luthers noch die dem Katholizismus nähere Lehre des Andreas Osiander akzeptabel. Diese konfessionellen Haltungen sollten uns jedoch nicht verwundern: Die westliche Kirche befand sich im Zustand der Spaltung, und Irenismus und Ökumenismus waren Zukunftsperspektiven.

___________ 57

A. Szorc (Hrsg.), (wie Anm. 18) Bd. V, 297–304, bes. 301.

Christian Anti-Judaism in the Seventeenth Century: Old and New Themes in the Age of Confessionalization Hans J. Hillerbrand Any study of historical anti-Judaism calls for methodological reflection, since the phenomenon defies, because of its complexity, easy generalization. There is virtually complete agreement to distinguish between “anti-Judaism” and “anti-Semitism,” the former referring to the centuries-long verbal and physical suppression of Jews, the latter focusing on the same, though triggered by the declaration of the racial inferiority of Jews and things Jewish. In this context, the question of the role and function of Christianity in this sordid story has received considerable attention, including the dictum that without Christianity there would be no anti-Judaism. Did it serve merely as ideology? Was it a driving force? Has scholarly discourse adequately distinguished between a “Christian” and a “non-Christian” polemic? The uneasy tension between doctrine and living as expressed in the clash between Orthodoxy and Pietism contributed to a rather complex situation. This essay will differentiate between several types of Christian writings.1

I. The Writing of Converts Writings by Jewish converts to Christianity form an important part of antiJewish literature. While not that numerous, they are important and noteworthy since they were able to use a cloak of authenticity to their generally negative portrayals of Jews and their religion. These writings exceeded in sharpness of tone and vehemence of argumentation most Christian polemics. The most popular seventeenth century work was a book originally published in 1530: Antonius Margarithaǥs Politiae Judaicae, in its German title Der gantze Jüdische Glaube, was repeatedly published in the course of the latter sixteenth and early seventeenth centuries. It saw three reprints still in the sixteenth century and two (1617 and 1689) in the seventeenth century, with a last edition published at Leipzig in 1705. In all likelihood, more people received their information about Jews and Judaism from Margaritha than from any other source. Martin Luther, ___________ 1 Richard S. Levy (ed.), Antisemitism: a Historical Encyclopedia of Prejudice and Persecution, Santa Barbara, CA 2005.

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for one, praised the book, and one is tempted to lay at least a portion of the blame for Luther's anti-Judaic tirades at the feet of Margaritha. Luther, after all, was dependent on writers with greater conversance and knowledge of Jews and their religion than he himself was able to marshal. Margaritha had painted a pointedly negative picture of Jews and their religion. To be sure, large portions of his book were descriptive (he reported, for example, in greater detail than his readers may have wished him to do, the procedural details of circumcision), but he also offered extensive reflections on the societal role of the Jews. The tone is derogatory throughout. Thus, the Jewish abstention from pork was the cause for the dark hair of Jews. Thus, Jews prayed not for but against the emperor, called Christian governments foolish, claimed that Jesus had been an illegitimate offspring, and that stealing from non-Jews was not a sin.2 Another Jewish convert, Ernst Ferdinand Hess, published two treatises early in the seventeenth century – the Flagellum Iudeorum, Juden Geissel (Strasbourg, 1601) and Speculum Iudeorum, das ist Juden Spiegel, published at Cologne and Erfurt in that same year. Hess must have considered his topic to be one of great significance (or of such extensive subject matter), since he burst into print no less than twice in a single year. The Flagellum Iudeorum was an appeal to Christians, while the Speculum Iudeorum an appeal to Jews. Hess purported to offer an inside picture of Jewish attitudes toward Christians and Christianity. The polemic in both books is fairly restrained. Hess addressed his (unlikely) Jewish readers as “my dear Jews,” though he chided them for reciprocating the good “we” Christians do for them with “cursing, spitting, condemnation, and derision.”3 In the main, the Flagellum Iudeorum focused on the proper interpretation of biblical passages. Hess took pains to argue – on the basis of a Christological reading of passages from the Hebrew Scriptures – that Jesus Christ, son of God and of Mary, was the promised Messiah. A theological argument thus stood in the center of his polemic. Much like Margarit, Hess apprised his readers of all possible negative Jewish traits so that the differences between Jews and Christians, as he saw them, were more than theological. They had to do with character traits. Hess reported that the Jews fervently pray for revenge against their enemies and for the destruction of all Christendom.4 He advised Christians not to be too friendly with ___________ 2 Antonius Margaritha, Der gantze Jüdische Glaube, Leipzig 1705, 12, 83, 81, 278. As noted, this is the most frequently published anti-Jewish polemic in early modern Germany, with editions from 1530, 1531, 1544, 1561. 3 Ernst Ferdinand Hess, Speculum Iudeorum, Erfurt 1601, 11. 4 E. F. Hess, Speculum (note 2), 3.

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Jews, yet not to curse or hurt them or cause them pain, since “they have caused themselves enough pain,” an echo of St. Augustine’s argument. 5 Another converted author with the intriguing baptismal name of Christian employed some 600 pages to propound on Jewish teaching and practice in general and on the Talmud in particular. Christian Gerson’s book, entitled Des Jüdischer Talmud Furnembster inhalt und Widerlegung (Goslar, 1609), introduced a non-partisan approach to its subject matter. Gerson denounced both Jews and Christians for their biased polemic: “The scholars who write about or against the Jews must not fill their pages with words of calumny or blasphemy … nor must they believe everything they read about Jewish books, but they … must read these books for themselves.”6 Surprisingly, Gerson used the term “liars” for Christian authors who had written about Jews and the Jewish religion. At the same time, he was not beyond showing high levels of credulity. For example, he informed his readers that an influential rabbi, Levi Ben Gerson, had “allowed Jews to kill Christians or Gentiles” and had permitted Jewish males to have sexual intercourse with married Christian women.7 While Gerson may well have sought an impartial perspective, he, too, succumbed to traditional patterns of anti-Jewish polemic. That same attitude is also found in Francis of Mantua’s Jüdischer abgezogener Schlangenbalg. Das ist: Betrügliche tückische Boßheiten der verblendten, von Gott verworffnen Juden, of 1631. Francis reiterated the vilest traditional Christian anti-Judaic polemic and in so doing repeated the whole list of traditional anti-Jewish charges. The very title of his book was telling – the image of the serpent (Schlange) evokes, of course, the serpent in the garden of Eden, only now its skin is shed (abgezogen), the true self revealed. To make sure that his sentiment was clear, the sub-title of his book spoke of the “deceitful, treacherous malice of the blinded Jews who have been rejected by God.” Echoing Christian writers through the centuries, Francis insisted that God had rejected the Jews – of which their centuries-long misfortunes were graphic proof. Their misfortunes and sufferings were the result of divine rejection. Francis also restated some of the traditional allegations against Jews, for example, that Jews cannot do without the blood of Christians, for “otherwise their stench is so ter-

___________ 5

E. F. Hess, Speculum (note 2), N vii. Christian Gerson, Des Jüdischer Talmud Furnembster inhalt und Widerlegung, Goslar 1609, Widmung. 7 Chr. Gerson, Des Jüdischer Talmud (note 6), a iij; see also 9: „und wissen selber noch nicht, was die Juden glauben oder nicht, viel weniger, das sie wissen solten, warum sie dieses oder jenes glauben oder nicht glauben“; note also 212: „auch meint gemelter Rabbi, es sey keine Sunde, einem Christen oder Heyden das seine zu stelen.“ 6

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rible, strange, and awful that no one can get close to another.”8 Another polemic, Georg Wilhelmǥs Kurtzer Beweis wider das heutige unsehlige Judenthum und das ihre Hoffnung auf den zukunftigen Messiam eitel und nicht sey (Hamburg 1697), argued that the dispersion of the Jews after the destruction of the Second Temple was proof for the (Christian) fulfillment of Scriptural prophecies in the Old Testament.9 While not numerous, these “conversionist” accounts must have been enormously important in setting the agenda of polemical Jewish-Christian relations in early modern Europe. After all, these writings purported to offer insiders’ accounts, and thus laid claim to accuracy and conversancy as well as insight. They were of far-reaching importance for communicating details of Jewish life and faith to the surrounding community. Since Jews lived in closely knit communities, from the later Middle Ages onward in ghettoes, and generally forced to keeping to themselves, details of Jewish life and belief were not easily accessible to Christian outsiders. The anti-Jewish polemicists, including the few arguing from a distinctly Christian theological perspective, were thus at a disadvantage when it came to factual knowledge. When they wrote – and only a few did – they wrote about a religion of which they knew very little – though they hardly perceived their ignorance as a liability. The writings of converted Jews, whose inside revelations purported to tell the true story, were thus of enormous importance.

II. The Writings of the Proselytizers A second genre of anti-Jewish writings was comprised of proselytizing books and pamphlets that intended to persuade Jews of the intellectual and religious superiority of the Christian religion. In so doing, they offered comments about the Jewish religion, almost universally negative. This genre of writings appeared throughout the seventeenth century, and in fact its frequency increased as the century progressed. A good case in point is Michael Havemann’s Wegeleuchte Wieder die Jüdische Finsternissen aus dem Festen Prophetischen Wort, published in 1663. Not surprising for an ambitious author, Havemann justified the publication of his book with the explanation that a previous work of his on the same subject published in 1642 had gone out of print. ___________ 8 Franciscus von Mantua, Jüdischer abgezogener Schlangenbalg. Das ist: Betrügliche tueckische Boßheiten der verblendten, von Gott verworffnen Juden, o.O. 1631, A iv. The word “Schlangenbalg” had a particular attraction for Christian polemicists, such as Samuel Friedrich Brentz, Jüdischer abgestreiffter Schlangenbalg, Augsburg 1614. 9 Georg Wilhelm, Kurtzer Beweis wider das heutige unsehlige Judenthum und das ihre Hoffnung auf den zukunftigen Messiam eitel und nicht sey, Hamburg 1697, 4.

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Havemann observed that Christians and Jews faced each other in complicated ways. Christians saw the Talmud as replete with rabbinical smears and human notions, while Jews took the Christian notion of the fulfillment of the Old Testament in Jesus’ messianic claim as fantasy. Both Jews and Christians cited the same Scripture passages, for example Ezekiel 38, but interpreted them differently.10 Obviously, this made communication difficult. Undaunted, Havemann proceeded to offer his own interpretation of Scripture in an attempt to persuade Jews. His book, while leaving no doubt about the inferiority of the Jewish religion, included a bare minimum of polemic. Earlier in the seventeenth century Johann Terrelius’ Juden Tauff. Das ist, Bericht und Ordnung, welcher massen Zwene nach dem fleisch geborene Juden … getaufft (Goslar, 1609) represented a different kind of proselytizing publication, namely, the unusual report of a Jewish conversion to Christianity. The underlying assumption was Terrelius’s insistence on the superiority of the Christian interpretation of the Hebrew Bible. The conversion of Jews to Christianity was seen as a promising strategy that would affirm Christian superiority and end the suppression of Jews. There were other polemical writings of that sort. Johannes Buxtorf’s Synagoga Iudaica: Das ist, Juden Schul, Darinnen der gantz Judische Glaub und Glaubensubung … Sampt einer Disputation eines Juden wider einen Christen (Basel, 1603) ended with the prayer that God may have mercy on the Jews and convert them.11 Philipp Heinrich Friedlieb’s Die den verstockten Juden zugedeckte Gottliche Klarheit, oder ein schriftmässiges Gespräch eines Christen mit einem Juden angestellet (Stralsund, 1645) used the form of a dialogue between a Jew and a Christian to parlay the standard christological tenets and interpretation of the Hebrew Scriptures. These publications appeared with increasing frequency during the second half of the seventeenth century. Sigismund Hosmann’s Das schwer zu bekehrende Juden-Hertz, Nebst einigen Vorbereitungs-Mitteln zu der Juden Bekehrung, published in Celle in 1699, may be said to occupy a transitional place in this genre. Hosmann’s book is highly gullible of various kinds of “facts” and “news” he shared with its readers. For example, Hosmann related that Jews liv___________ 10

Michael Havemann, Wegeleuchte wider jüdische Finsternis, Jena 1663, 83. Johann Buxtorf, Synagoga Iudaica, noviter restaurata. Das ist: Erneuerte Jüdische Synagog, oder Juden-Schul: Darinnen der gantze Jüdische Glaube, und GlaubensUbung, mit allen Ceremonien … Samt einen ausführlichen Bericht von ihren zukünfftigen Messia, Frankfurt 1729, Vorrede; the first edition appeared at Basel in 1603 and a second edition, also at Basel, in 1643. Buxtorf, a stunningly prolific writer, published the Synagoga Iudaica in two Latin versions – Synagoga Judaica. De Judaeorum Fide, Ritibus, Ceremoniis, tam Publicis et Sacris, tam Privatis …, Basel 1661, and Synagoga Judaica: Hoc est, Schola Judaeorum, in qua nativitas, institutio, religio, vita, mors …, Hannover 1604 and 1622. He also published a Bekehrung der Jüden, Erfurt 1624. 11

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ing among Brahmans in India (he knew this “on credible authority”) worshiped the devil.12 Hosmann also recounted the incidents of several ritual murders, notably that of Trent in 1475, which is related in great detail and in melodramatic fashion.13 Interestingly enough, Hosmann appears to have been familiar with Wagenseil’s 25-point demurrer of the accuracy of the traditional Christian allegations with respect to ritual murders but – upon observing “who knows the real truth” – promptly added: “who knows what all takes place in corners and hidden from sight.”14 The thrust of these writings was the hope of Jewish conversion. Johannes Buxtorf’s Synagoga Iudaica ended with the prayer that the merciful God graciously have mercy on the Jews and convert them. Caspar Calvör’s Gloria Christi oder Herrligkeit Christo. Das ist, Beweißthum der Warheit Christlicher Religion, published in Leipzig in 1710, contained both parallel Hebrew and German versions, ran to some 700 pages, and systematically sought to persuade its Jewish readers of the truth of the Christian interpretation of their own biblical writings. The book meant to be factual, focusing on the interpretation of biblical history and scripture passages. Similarly straightforward was Johann Schindler’s Geistliche Hall-Posaune, Womit den Juden das grosse Erlasz-Jahr und Jubelfest angekündigt wird. Oder, de illustri Judeorum Conversione.15 Schindler’s book, again focusing on Jewish conversion, addressed the Jewish involvement in finance but noted, plaintively, that this Jewish involvement resulted from the fact that no other vocational options were open to them. Neither Jews nor anyone else can, as he neatly put it, “live from air.”16 Written in a restraint tone, Schindler’s book is a good illustration for a strictly theological argumentation. To be sure, it is not devoid of a sharp polemic (such as, for example, the declaration that God’s spirit has been removed from the Jews as punishment for their unbelief), but in the main it focused strictly on theological

___________ 12

Sigismund Hosmann, Das schwer zu bekehrende Juden-Hertz. Nebst einigen Vorbereitungs-Mitteln zu der Juden Bekehrung, Celle 1699, 125. 13 S. Hosmann, Das schwer zu bekehrende Juden-Hertz (note 12), 115ff. A sample must suffice, though it was precisely the goriness of the detail which must have made these anti-Semitism-Judaic tirades to successful: “ihm darauf in die rechtere Backe mit dem Messer eine Wunde gemacht und ein Stücklein herausgeschnittenen Fleisches beyseit gelegt. Wobey die Beystehenden inzwischen das Blut aufgefangen und ein jeder mit der Scheere ein Stuecklein abgezwacket, biß die Wunde so groß wie ein Eye geworden.” 14 S. Hosmann, Das schwer zu bekehrende Juden-Hertz (note 12), 125. 15 Braunschweig 1674. 16 Johann Schindler, Geistliche Hall-Posaune, Womit den Juden das grosse ErlaszJahr und Jubelfest angekündigt wird. Oder, de illustri Judeorum Conversione, Braunschweig 1604, 65.

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arguments.17 Once again, the substantive argument rested on the fulfillment of Old Testament prophecies in Jesus. Christoph Crinesius’ Ein Geistliches Gespräch zwischen einen Christen und Juden vom Wucher und der Zukunft Messiae (1616) was singularly positive in advancing his arguments with a minimum of personal or cultural abusive indictments. Crinesius appropriated the dialogue genre, so popular in the early years of the Reformation, to let a Christian and a Jew engage in a friendly exchange. The topics of usury and of the Second Coming of Jesus were most prominent in their conversation. On the topic of usury, the Christian and the Jew quickly reached agreement, while the topic of the messiahship of Jesus proved to be cumbersome. Not surprisingly, Crinesius allotted far more space in this section to the Christian dialogist than to his Jewish counterpart, though in the end the Jewish speaker declared himself duly impressed by the Christian argumentation and assured the Christian that he would ponder his words. Of course, nothing else could be expected from the pen of a Christian author. Two aspects are telling here. Not only does the speedy agreement on usury come as a surprise, the Christian pursuit of Jewish conversion stood at the core of the dialogue. Clearly, Crinesius was committed to the traditional understanding of truth – that truth was one – and, convinced of the truth of his own position, he could see no other scenario than the conversion of others.

III. The Learned Discourse A further genre of anti-Jewish writings in the seventeenth century was the scholarly, learned discourse about Jews and their religion. These writings, understandably by academics, were addressed to the learned elites and written in Latin. While they may have been influential among the elites, there is no likelihood of any impact among the common people. Johann Hornbeek’s Pro Convincendis et convertendis Judaeis Libri Octo, published in 1655, avoided emotional pronouncements unrelated to straightforward theological argumentation on its 578 pages. Hoornbeek was unwilling to concede new synagogues to Jews, but at the same time, while acknowledging that Jews were “excommunicated and rejected from the Holy and from God,” he noted that at a given time the Jews will return to God. Once again, the echoes of notions of St. Augustine can be observed.18 Hoornbeek appealed to the educated and learned, provided a handbook of sorts, as to how one should deal with Jews so as to effect their salvation. ___________ 17

J. Schindler, Geistliche Hall-Posaune (note 16), 4. Johann Hornbeek, Pro Convincendis et convertendis Judaeis Libri Octo, in Summa controversiarum religionis, Lugduni Batavorum 1655, 1. 18

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The same is to be said of Johann Hilpert’s Disputatio Ebraeo-Philiosphica adversus Judaeos, published in Helmstedt, then the place of a sizable Jewish community, in 1653. Displaying an uncommon familiarity (for an outsider, rather than a convert) with Jewish writings, Hilpert explored the points of agreement of the Jewish and the Christian understanding of the Hebrew Bible. Earlier in the century Georg Calixt had written similarly in his Disputatio Theologica Demonstrans Adversus Iudaeos Messiam iam dudum venisse (Helmstädt, 1616), a factual, generally unemotional account emphasizing the interpretation of Scriptural passages. Once again, so typical for this genre of writings, the focus was on the messianic passages of the Hebrew Scriptures. A related genre of writings was the “baptismal sermon” preached at the baptism of Jews who had converted to Christianity. There were not many of such conversions, and thus sermons, but those published sought to make up with flair and drama for missing numbers. Several of these publications appeared toward the end of the seventeenth century. Balthasar Friedrich Saltzmann published his Juden Bruderschafft, Das ist, eine Christliche Predigt … neben Bericht von der gantzen Handlung für und bey der Tauff eines bekehrten Juden, in 1661, and Gottfried Olearus his Christliche Juden-Tauff-Predigt in 1678. Olearus plaintively, though also haughtily, informed his readers that neither in his own parish, nor in any other, had there ever been a Jewish conversion. He blamed this lack of proselytizing success on “the unchristian absence of love and the unmerciful hardness of heart of many Christians,” an argument that became the standard Pietist sentiment in the eighteenth century.19 The absence of Jewish conversions was interpreted, in other words, not as a lack of persuasiveness of the Christian message. Rather, it grew out of the lack of true commitment on the part of so-called Christians.

IV. The New Philo-Semitism Christian philo-Semitism has not been completely absent from the tragic story of Jewish-Christian relations. Philo-Semitic sentiment had proponents well before the seventeenth century (as well as afterwards) but it had remained a minority sentiment in Christian circles. The path-breaking study of Hans Joachim Schoeps, Philosemitismus im Barock, which made the term ‘PhiloSemitism’ part of the scholarly discourse, listed a limited, but impressive list of Christians, theologians and government officials, who shared a strikingly posi-

___________ 19 Gottfried Olearus, Christliche Juden-Tauff-Predigt. Das ist, Eine christliche Predigt, Leipzig 1678, A 2.

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tive disposition regarding Jews.20 This meant, of course, a special affection toward Jews and things Jewish. In a way, these philosemites were outsiders, dissenters, who thought their own thoughts in any number of ways, often in opposition to the religious and political establishment. Paul Felgenhauer is a good case in point. He studied theology and medicine, was comfortable in neither profession, but found time to publish more than 70 tracts and books during his unusually lengthy life (1593–1677). In all of them, the underlying theme is that of philo-Semitic notions. Felgenhauer’s novel (and positive) appreciation of Jews and their religion was grounded in his notion that the coming Messiah of the Jews and the returning Jesus were going to be one and the same. This intriguing notion put Felgenhauer at odds with both traditional Christian and Jewish thinking, a fact that left Felgenhauer undaunted. Felgenhauer had followers, such as the Swede Anders Kempe, whose Israels freundliche Botschaft, of 1688, focused, in a chiliastic context, on the affirmation of the eternal redemption of the Jews. The French Huguenot Isaac de la Peyrère (1596–1676) developed the notion of a pre-Adamite humanity (which he took from Genesis 1 in distinction from Genesis 2). His Rappel des Juifs (1643) and his Pre-Adamite (1655) were characterized by a deep appreciation of the Jews as God’s children. The common denominator, as indeed that of most Christian philo-Semitic thinking, is the assumption of the intimate relationship between Christian and Jewish salvation history. Johann Jacob Schudt’s Jüdische Merkwürdigkeiten, vorstellende was sich curieuses und denckwuerdiges in den neurn Zeiten (Frankfurt, 1714) may also be seen as a philo-Semitic tract. On the face of things, Schudt presented a long string of observations, facts, and notions having to do with Jews, much of it quite negative. Schudt purported to be a reporter, though he routinely inserted his opinions, as for example, when he voiced doubts about the allegation of poisoned wells and the charges of ritual murder.21 Much like Gottfried Arnold undertook to offer an “impartial” history of Christianity in his Unpartheyische Kirchen- und Ketzergeschichte, so Schudt sought to relate the history of the persecution of Jews in an objective fashion, in itself a rather positive turn. Underneath his descriptive account lay a winsome empathy.22 He noted disapprovingly that Jews were addressed by Christians with the familiar Du (“you”), the way children and inferiors were addressed. He also offered an explanation ___________ 20 Hans Joachim Schoeps, Philosemitismus im Barock. Religions- und geistesgeschichtliche Untersuchungen, Tübingen 1952. 21 Johann Jacob Schudt, Jüdische Merkwürdigkeiten, vorstellende was sich curieuses und denckwuerdiges in den neurn Zeiten, Frankfurt 1714, I, 467. 22 J. J. Schudt, Jüdische Merkwürdigkeiten (note 21), I, 448.

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as to why God had not allowed the Jews to perish.23 In response to the argument that the cause of Jewish misery was that they had killed and rejected the Messiah, Schudt wrote: “But, my friend, who has appointed you to avenge this bad deed? Have they not been severely punished? For hundreds of years they have been expelled from their land … cannot worship in their temple, but are dispersed among the peoples of the earth, derided, and rejected.”24 Moreover, Schudt continued, they are “a scorned and rejected people.”25

V. The Legal Briefs A surprisingly large number of briefs about Jews were issued in the course of the seventeenth and eighteenth centuries, both by theological and legal university faculties. Thus, the faculties of the universities of Helmstedt, Jena, Frankfurt, and Wittenberg propounded their sentiment in weighty statements. Uniformly, the question of toleration or treatment of Jews was at issue. The content of these briefs indicated that Luther’s anti-Judaic polemics were known at the time and were used to buttress arguments, even though the Wittenberg theologians found themselves at pain, in their brief of 1648, to argue the essential harmony of Luther’s writings of 1523 and 1543. In each case a city council or a territorial ruler approached the experts for their opinion when faced with pleas either for greater toleration or more restrictions for the Jewish community. In 1621 a series of four theological briefs concerning the toleration of the Jews was published, an indication that the question of how to deal with Jews continued to be unresolved. The collection included Martin Bucer’s brief for Landgrave Philip, together with commentaries by three Lutheran theologians from the first years of the seventeenth century – Johann Gerhard (1582–1637), Tobias Herold (d.1629), and Christoph Helwig (1581–1617).26 Particularly Helwig’s opinion seems to have been important, even though his document expressed deep ambivalence. Helwig observed that the toleration of Jews was problematic; there were positive and negative arguments in this regard. Helwig opined that it was better to tolerate Jews in Germany than to have them live among the Turks, where one could not be sure of their doings. While Jews were blasphemers of the Christian religion, they served the worthwhile purpose of providing quick access to financial capital. What a change from Augustine’s ___________ 23

J. J. Schudt, Jüdische Merkwürdigkeiten (note 21), II, 267; I, 466. J. J. Schudt, Jüdische Merkwürdigkeiten (note 21), II, 268. 25 J. J. Schudt, Jüdische Merkwürdigkeiten (note 21), II, 268. 26 Vier Theologische Bedencken, Deren eines ist Etlicher Hessischer Theologen … Gestellet von der Frage, Ob die Jüden in Christlicher Gemeinde von der Obrigkeit können und sollen geduldet werden?, Leipzig [1621]. 24

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argument that Jews should be tolerated because they were a constant illustration for divine wrath! Greater toleration would undoubtedly increase their stubbornness to conversion. Helwig’s conclusion was that of toleration, though under no less than 19 conditions of which the attendance at compulsory sermons was undoubtedly the pivotal one. Obviously conversion of the Jews formed the core of Helwig’s reflections. Only if Jews lived close to Christians could such conversion take place. All three briefs emphasized Jewish blasphemy as the most important offense. “No part of Jewish worship is free from blasphemy” was Tobias Herold’s categorical judgment, but Herold also argued in favor of intensified efforts to bring about Jewish conversion.27 Herold was one of the few theologians who held to the notion that to worsen Jewish living conditions was more likely to bring about their conversion. The other writers were convinced that Christian severity and brutality were no way to make Christianity attractive to Jews.28 The briefs clearly indicated an increasing importance of the moral polemic. This is not to minimize the theological argumentation. The moral argumentation, however, received increased attention and emphasis. Thus, Johann Gerhard belabored the traditional charges of ritual murder and the poisoning of the wells. Since Lutheran theology had abandoned the Catholic notion of a transubstantiation of the elements of bread and wine in the Lord’s Supper, the charge that Jews desecrated the host could no longer be levied against the Jews by Protestants as a major shortcoming. Drawing on notions that had been advanced during the sixteenth century by Martin Bucer in response to Landgrave Philip of Hesse, seventeenth century authors emphasized the strategy of compelling Jews to attend special Christian sermons or attend the regular services of Christian worship. Of course, this was not a novel stipulation, Martin Luther, for example, had manifested an unerring conviction in the power of the preached Word. For him the preaching of the Word possessed a sacramental quality, that is, it acted as a vehicle of divine grace. Underlying the anti-Jewish polemic must have been, at least on the face of things, the conviction that preaching the gospel would convert the Jews. This sentiment is found, for example, in Johann Gerhard’s Loci Communes of 1612. Tobias Herold, in turn, saw the possible conversion of the Jews as the only reason for their toleration. At the same time, however, he advocated re___________ 27

Vier Theologische Bedencken (note 26), C iv. Martin Friedrich, Zwischen Abwehr und Bekehrung. Die Stellung der deutschen evangelischen Theologie zum Judentum im 17. Jahrhundert, Tübingen 1988, 223ff. 28

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stricting the Jewish religious observances and supported Luther’s strictures.29 However, the theologians’ insistence that Jews attend obligatory sermons was not matched by an equally strong conviction that such efforts would be graced with success.

VI. The Professional Theologians Johann Müller’s Judaismus, oder Jüdenthumb, das ist ausführlicher Bericht von des Jüdischen Volckes Unglauben, Blindheit und Verstockung … zur Befestigung unseres Christlichen Glaubens, Hintertreibung der Jüdischen Lästerung of 1644 (republished in 1707) exemplifies the traditional theological treatment of Jews and the Jewish religion.30 The end of Müller’s tediously lengthy title conveyed the intentionality of the book: it was meant as a “necessary instruction for those Christians who have daily contact with Jews.” Müller, in keeping with the verbose Baroque title of his book, used some 1,490 pages to make the point that Christians needed greater familiarity with things Jewish, if their efforts to convert Jews were to be successful. In what appears to be the timeless argument of those who are convinced that they found the explanation for a complex problem (and ride special hobby horses), Müller assured his readers that he knew why the attempts at converting Jews had not been any more successful: there had not been enough Christian experts of Judaism. Accordingly, he advocated that time and effort be committed for the training of needed experts in Judaica. He proposed that these experts be pastors or theologians but be freed from preaching and teaching responsibilities to have time for studies – shades of faculty nowadays seeking release from teaching responsibilities to pursue special projects. The structure of Müller’s work was simple: Müller stated the Christian position, then came the Jewish response, and a final (Christian) conclusion. By and large, Müller wrote as a theologian with a theological focus, though toward the end of his book he discussed far broader topics “controversial questions which include Jewish houses, children’s days, physicians, usury, servants, oaths, trade, books, and the Kabbalah.”31 His focus shifted. The spotlight turned away from a theological appraisal. Importantly, as the topic shifted in Müller’s book, so did the tone. The language in this final section of his book is

___________ 29

Herold’s work is found in the Vier Theologische Bedencken, see above. Johann Müller, Judaismus, oder Jüdenthumb, das ist ausführlicher Bericht von des Jüdischen Volckes Unglauben, Blindheit und Verstockung … zur Befestigung unseres Christlichen Glaubens, Hintertreibung der Jüdischen Lästerung, Hamburg 1644. 31 J. Müller, Judaismus, oder Jüdenthumb (note 30), 1185. 30

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anything but benign, as Müller reiterates, for example, such pointed charges as the claim that Jewish doctors are rewarded for causing the death of Christians. A similar argumentation came from the pen of Christoph Helwig/Ludwig Seltzer who in two publications proffered no less than 43 “proofs” (overlapping, of course) for the Christian understanding of Jesus. Seltzer’s polemic was factual, even though he was not beyond using invectives against the Jews, such as “unbelieving people of the devil.”32 The traditional polemic continued very much unabated. Johann Rephun’s Judischer Heer-Zug, das ist Einfaltige Juden-Predigt (Bayreuth, 1666) illustrates not only the traditional polemic but also another important feature: the sense of apprehension and fear of the Jews. Rephun noted the “hostile attacks of the Jews” and observed that both Turks and Jews want the Christians ill.33 More painfully pointed was Heinrich Kornmann, Responsum Juris Uber die Frag, ob und wie die Juden von und unter Christlicher Obrigkeit zu dulden (Frankfurt, 1622). The Catholic author formulated no less than 52 conditions for Jewish toleration. These conditions included everything from the prohibition of eating, drinking, or socializing with Christians to the prohibition of marriage for Jews under age 25 for males and age 20 for females. Samuel Friedrich Brentz’ Judischer abgestreiffter Schlangenbalg. Das ist: Gründtliche Entdeckung und Verwerffung alles Lästerung und Lügen, derer sich das gifftige Jüdische Schlangengezifer vnd Otterngezicht etc. was published at Augsburg in 1614. It arguably was one of the vilest polemics of that time. Brentz was familiar with the anti-Jewish arguments of the church fathers as well as with that of Martin Luther. There was nothing original in Brentz’ polemic or argumentation, in fact, not even in his title which was a rather blatant plagiarism, if that be the proper word, of Francis of Mantua’s Jüdischer abgezogener Schlangenbalg. Das ist: Betrügliche tückische Boßheiten der verblendten, von Gott verworffnen Juden. After Brentz polemicized his case against the Jews on some two dozen pages, he informed his readers that much more could be told of the terrible blasphemies of the Jews, but that he was prepared to let it go at what he has writ-

___________ 32 Ludwig Seltzer, Triumph Wagen dess mit Ehrn und Schmuck gekronten Himmelskonigs Jesus Christi, o.O. 1633, with its 32 “proofs” (on 46 pages) “that Jesus of Nazareth is the true Messiah;” From the pen of the same author/translator also came: Sonnenklarer Beweiss vnd Vberweiss, daß der versprochene Messias gewiss allberei vor Sechzehenhundert J. kommen sey, o.O. 1633. 33 Johann Rephun, Judischer Heer-Zug, das ist Einfaltige Juden-Predigt, Bayreuth 1666, B 4, “wie Hieronymus und Luther schreibt.”

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ten.34 Some of his polemics had to do with the standard charges – the ritual murder of Simon of Trent, the Jewish penchant for swearing false oaths, the Jewish unwillingness to consider adultery as sinful, culminating in the statement that “in this world Christians have no greater enemies than the Jews.”35 Brentz repeated the allegation that Jews spit at crucifixes at waysides and blaspheme Jesus. At the same time, he made a great deal of sexual matters. Brentz asserted, for example, that Jews do not consider adultery a sin even as they do not feel obligated to keep an oath sworn to Christians.36 Perhaps most importantly, Brentz talked also about garlic, by all odds the most ludicrous, yet also most telling of the charges levied against Jews during that time. Brentz’s point was quite simple. The Jews’ use of garlic was a telling and convincing proof of their utterly despicable character and demeanor. Brentz sought to give this Jewish culinary custom a religious twist by insisting that Jews ate particularly large quantities of garlic on Christmas Eve so “that they will stink even more.”37 Brentz was by no means the only one making this observation. Early in the eighteenth century Johann Jacob Schudt’s Jüdische Merkwürdigkeiten, vorstellende was sich curieuses und denkwuerdiges in den neuern Zeiten had observed the same: Jews were derided, he wrote, because of the “despicable odor from their throats” and “their use of garlic.”38 This embarrassingly trite argument, which related a specific cultural custom, utterly devoid of any religious connotation, to lofty religious principles, serves as an important cue as to what the larger polemic against Jews was all about. It apprises us of what was in fact, the driving momentum of anti-Semitism in early modern Europe. We shall return to this issue at the end of our reflections. There is also found in the course of the seventeenth century evidence of anti-Jewish polemic without recourse to Christian argumentation. Vespanius Recht’s Juden Spiegel zur Messkram gemeiner Thalmudischer Judenschafft (Ursel, 1606), for example, confined itself to writing about Jewish usury without addressing religious topics or issues. In many of these publications traditional and new perspectives stood side by side. On the one hand, many restated the traditional Christian charges against Jews, while on the other hand there also were new themes. Balthasar Friedrich Saltzmann’s Juden bruderschafft is an excellent case in point. Saltzmann echoed a great deal of the traditional antiJudaism. The way he saw it, Jews were “exceedingly dangerous people,” ___________ 34 Samuel Friedrich Brentz, Judischer abgestreiffter Schlangenbalg. Das ist: Gründtliche Entdeckung und Verwerffung alles Lästerung und Lügen, derer sich das gifftige Jüdische Schlangengezifer vnd Otterngezicht etc., Augsburg 1614, 23. 35 S. Fr. Brentz, Judischer abgestreiffter Schlangenbalg (note 34), 16, 25, 28, 30. 36 S. Fr. Brentz, Judischer abgestreiffter Schlangenbalg (note 34), 28. 37 S. Fr. Brentz, Judischer abgestreiffter Schlangenbalg (note 34), 17. 38 S. Fr. Brentz, Judischer abgestreiffter Schlangenbalg (note 34), 165.

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“damned blasphemers,” “lazy,” “fail to perform manual labor, but walk around idly.” Moreover, Jews “let us Christians work and with sour sweat obtain our food, while they nourish themselves from the sweat and blood of the poor Christians.” Not unexpectedly, the charge of usury was made once again.39 By the same token, Saltzmann also sounded new themes. He pointedly affirmed the mandate of love for Jews and acknowledged that Christians were debtors to the Jews in that the Bible was received from them.40 Of course, Saltzmann’s invectives were deeply troublesome, even as they repeated the whole range of traditional accusations. The straightforward delineation of Christian theological affirmations against Jews found literary expressions in the seventeenth century as well. In 1633 Christoph Helvici published his Sonnenklarer Berweiß, daß der versprochene Seligmacher und Heiland bereits vor Sechzehnhundert Jahren kommen sey, vnd die Juden vergeblich auff einen andern warten. The author’s tone is triumphalist. Understandably, he left no doubt about the truth of the Christian affirmation and the error of the Jewish religion, but the tone of the tome was scholarly and almost detached. The book stood in the tradition of Christoph Mandel’ sixteenth century treatise, published in 1557 and entitled Beweisung aus der Juden gesetz … Das Vnser Herr Jesus Christus warer Gott und Mensch sei. The objective was always to point out the Scriptural persuasiveness of the Christian position. Despite the claims made in their titles, some publications, such as Georg Calixt’s Disputatio Theologica, of 1616, Johann Fecht’s Disquisitio de Judaica Ecclesia, of 1622, Jakob Martini’s Disputationum De Messia Iudeorum Blasphemiis Decas, of 1616, or Johannes Molther’s Disputatio Theologica, were not so much ‘disputations’ between two divergent positions as they were delineations of traditional Christian notions about the Messiah and the Trinity. Others, such as Johan Baptist Caesar’s Responsum Juris, … ob ein recht Christliche Obrigkeit in ihren Lande und Gebieten … Juden halte und leiden möge, of 1621, dealt with the question of toleration, even though the title of Joachim Pollio’s book, Zwey Theologische Fragen, Die Erste: Ob Christliche Obirgkeit gute macht, fug und recht habe, die Jüden aus ihren Herrschaften zu vertreiben?, of 1635, might be viewed as a change of climate. Matthias von Schwanenburg, who wrote Einfaltig bedencken Wie Christliche Oberkeiten gegen die jrrlaufende Judenschafft der wohnungne, schutz und schirm halben … mit gutem gewissen sich koennen und sollen bezeigen (1622), may be cited as an instance of non-religious anti-Jewish polemic. Schwanenburg joined the chorus of those who addressed the governmental authorities, ___________ 39 40

B. Fr. Saltzmann, Juden Bruderschafft, Strassburg 1661, 13. B. Fr. Saltzmann, Juden Bruderschafft, 14.

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hardly devoting any space for theological or religious argumentation. His point of departure was the dispersal of the Jews since the time of Jesus which he, in line with all the anti-Jewish polemicists, saw as proof for God's wrath over the Jews.41 Since some Jews might convert to Christianity, however (shades of the argument of the Apostle Paul), they should be tolerated: “The immeasurable cruelty and persecution, which expressed no sympathy, only enticed the Jews to greater blasphemy.”42 Three important themes hovering over seventeenth century attitudes toward Jews had been formulated many times before: what were the fundamental differences between Judaism and Christianity? Where was, from a Christian perspective, the Jewish religion in error? Secondly, what were the characteristics of Jewish behavior? And thirdly, what societal role and place should Jews be accorded? This last theme received, indeed, ever greater attention in the course of the seventeenth century, stated and discussed with increasing urgency: should Jews be allowed to live in Christian communities and lands? In other words, should Jews be tolerated? The question was posed in Germany against the backdrop of an ebb and flow of Jewish expulsions in German territories and cities throughout the sixteenth century. In other words, the issue had never died down. The publications, which addressed this topic, were rarely abstract theological discourses, or intellectual juxtaposition of Christian and Jewish positions. Rather, they focused on the eminently practical issues of the parameters of toleration, which in turn entailed an immediate practical dimension, related to public policy and legal ramifications. In other words, the pronouncements came from those who held power, and they had to do with the privileges to be given and concessions to be made. The question was always what concessions should we, who are holding power, be willing to make toward the Jews? This had been the question put to Martin Bucer by Landgrave Philip of Hesse, and this was the question which Martin Luther sought to address in his infamous Von den Juden und ihren Lügen. In the seventeenth century this question was put to jurists as much as to theologians. That was a new turn. Previously the theologians had the prerogative to pronounce on matters where religious notions influenced society. The rise of juridical importance shows the decreasing importance of the theologians or, for that matter, an increasing awareness that at issue were legal, and not theological considerations. The answers in the seventeenth century were differ___________ 41 Matthias von Schwanenburg, Einfaltig bedencken Wie Christliche Oberkeiten gegen die jrrlaufende Judenschafft der wohnungne, schutz und schirm halben … mit gutem gewissen sich koennen und sollen bezeigen, o.O. 1622, 3. 42 Matthias von Schwanenburg, Einfaltig bedencken Verzychnuß (note 44), 4. See also Verzeychnuß und kurtzer Außzug auß etlicher hochgelahrter … Menner. Beschreibungen Von den Erschrecklichen Jüdischen Gottslesterungen [S.l.] 1614, 7.

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ent from those of the sixteenth. Luther, for one, was not at all sure if Jews were to be tolerated in Christian communities. His lengthy list of conditions was meant to be operative only in those instances where they had to be. This was different a century later. Jews were to be tolerated, the major uncertainty being only to what extent. It was not unconditional toleration that the seventeenth century jurists (and their foot-dragging theological colleagues) affirmed. Toleration was related to lengthy lists of conditions and stipulations. This was neatly evidenced in the concluding paragraphs of the brief provided by the theologian Christoph Helwig in 1611 which left little doubt that Christians were superior to Jews.43 Jews were guests and had to behave properly in Christian eyes.

VII. The English Discourse In the course of the seventeenth century, this more positive view of Jews in Germany had its parallel in England, where in the seventeenth century the centuries-old ban on Jews was rescinded. King Edward I had prohibited Jews from entering England at the pain of death in 1290. Whatever the other consequences of this decision, it (even as Sweden, to use another illustration, where admission did not come until the late eighteenth century) was bound not to create the extensive lore of anti-Jewish agitation which became so characteristic of Germany. The admission of Jews in England occurred in the context of the intense religious and theological controversy which beset the country around the middle of the century when Oliver Cromwell was Lord Protector of the realm.44 The setting of the intense religious controversy undoubtedly triggered the conviction on the part of many devout souls, as had been the case a century earlier in Germany, that these were the end times. Therefore, the return of Christ was imminent but at the same time also the conversion of the Jews, vaguely anticipated by the Apostle Paul. Eschatological and even chiliastic speculation ran high. Amazingly, the intense religious agitation in seventeenth-century England not only remained free from anti-Judaic polemics, but – quite the contrary – also turned into numerous manifestations of philo-Semitism. The list of authors and ecclesiastical groupings of this category is lengthy – Edward Nicholas’ ___________ 43 The brief, repeatedly printed, is found in: Vier Theologische Bedencken, Deren eines ist Etlicher Hessischer Theologen … Das vierdte Doctoris Christophori Helvici, Professoris zu Giessen: Gestellet die Frage, Ob die Jüden in Christlicher Gemeinde von der Obrigkeit können und sollen geduldet werden?, Leipzig [1621]. 44 David S. Katz, Philo-Semitism and the Readmission of the Jews to England, 1603– 1655, Oxford 1982.

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Apology for the ehrwürdige Nation of the Jews (1648), John Tillinghast’s Knowledge of the Time, or, the Resolution of the Question, how long it shall be unto the Ende of Wonders (1654) or Thomas Brightman’s Christ’s Kingdom on Earth, Opened According to the Scriptures (1645), not to mention Brightman’s other intriguing book entitled A Revelation of Revelation (1615). The re-admission of Jews to England was the result of the efforts of Rabbi Manasseh ben Israel who proved to be an eloquent spokesman for the goal of Jewish admission. His The Hope of Israel and his petition addressed to Oliver Cromwell, of 1655, entitled To His Highness, the Lord Protector of the Commonwealth of England, Scotland, and Ireland: The Humble Address of Manasseh ben Israel, a Divine and Doctor of Physic, on Behalf of the Jewish Nation was profoundly influential.45 The eventual positive decision was accompanied by an extensive theological discourse. David Katz’ study has elaborated on the details of the argument. This English course of events suggests that the Christian discourse did not inevitably move in the direction of anti-Judaism. Indeed, if seventeenth century England affords any insights, it is that the situation was very much the other way around, namely that an intense theological discourse led to philoSemitism. What is more, the course of events in England reveals something else: a positive theological assessment of Jews and the Jewish religion led to the affirmation of principles of toleration. John Toland, one of the first English ‘Christian’ Deists, for whom Christianity and Judaism were identical manifestations of the religion of nature, save for the presence of the ritual law in Judaism, published (albeit anonymously) his Reasons for the Naturalizing of the Jews in Great Britain and Ireland, in which he made the case for full emancipation. In so arguing, Toland recurred to the tradition of the eschatological English writers of Cromwell’s period whose similar advocacy had had quite different rationales. The English notions of philo-Semitism based on the hopes of a Jewish conversion to Christianity were new. They inaugurated a new chapter in ChristianJewish relations, but only to the extent to which the hope for Jewish conversion underlay a friendlier attitude toward Jews. Otherwise, nothing changed. The ‘other’ religion was still seen as without salvatory merit, conversion to Christianity remained the goal, and friendliness (in addition to a Christian mandate) was a mere means toward that end.

___________ 45 The two works are available in: The Hope of Israel, English translation by Moses Wall, New York 1987.

Christian Anti-Judaism in the Seventeenth Century

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VIII. Conclusion The basic thesis of this essay is that the (Christian) anti-Jewish polemic in Germany sorted itself out into a theological and a cultural line of argumentation, the former arguing the case against the Jews on the grounds of theological or biblical, the other on the grounds of cultural or moral deficiencies. This distinction is helpful for understanding the polemics of the seventeenth century: both theological and cultural arguments were put forward. If we ask about the nature of the theological polemic in the seventeenth century, the answer is twofold. First is the Christian affirmation of Jesus as the Messiah and the doctrine of the Trinity. The orthodox theologians took that task quite seriously. The engagement is not with Jewish challenge of Christian affirmations, but with the delineation of the Christian affirmations. Helwig in a way argued like the writers of the New Testament gospels: the life of Jesus was a confirmation of the prophetic anticipation in the Hebrew Bible. One would assume that the controversial issue would be the Jewish repudiation of Jesus as the Messiah and the whole range of christological affirmations made by Christian theology. The main point made by the Christian polemicists, however, was that of Jewish blasphemy, understandable in light of the Orthodox preoccupation with theological truth which made its negation, blasphemy, an important element. Whatever their specific polemic, these writings raise the question whether their presumed readers shared the sentiment that, for whatever reason, Jews were a menace to society. Or did they assume that their readers had to be persuaded? The answer, no matter how crucial, will evade us. What is clear, all the same, is that a tone of urgency pervaded these publications. This tone might be attributable to the conviction of any author to be writing about an incisively crucial topic. It may also denote a tentative answer to our question if the authors felt that their understanding was not shared by the populace at large, and that, therefore, the alarm had to be sounded. The seventeenth century saw three separate developments as regards Christian anti-Jewish attitudes. One of these was traditional, while the other two were new. Traditional was the continuation of the standard anti-Jewish polemic of both the theological and the cultural sort. Without wishing to lessen the importance of this chapter in our study, the fact remains that not much that was new was argued, but evidently then as now the inability to proffer something new never deters an author. This essay sought to focus on anti-Jewish polemic in the seventeenth century that argued from an explicitly Christian vantage point. It, therefore, made the assumption that with regard to anti-Jewish polemics one may distinguish between several types, of which the “Christian” polemic is only one.

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Methodologically we observe that polemic in early modern Europe had a myriad of ways being propagated, not only in publications explicitly devoted to the topic. Anti-Judaic polemic was also clearly oral, now all but impossible to retrieve, and in literary form in a variety of genres of publications. Christian anti-Judaism was likely to be found in general expositions of Christian theology, in commentaries on the Bible or individual biblical books, not to mention in more informal means of transmitting ideas and ideology, such as religious poems, tales, or plays. The first observation about the sixteenth century is the sparse number of outrightly “Christian” polemics. Given the time span of a full century, the number of such polemical writings is surprisingly slight. All in all, some 20 books dealing with anti-Jewish themes were published in the German language area in the sixteenth century. Then came the seventeenth century and new kinds of voices and new patterns of discourse made for a stunning richness. Judging from the number of publications, the topic of the Jews gained in importance (or, the increased publishing business made publishing all sorts of materials easier than it had ever been). The interest in the topic of the Jews was on the rise. However, the focus was not so much on Jews in general, but on specific questions pertaining to Jews and their religion. Second, the seventeenth century polemic was more than a mere continuation of what had been argued in the sixteenth and even before. Martin Luther’s notoriety notwithstanding, surprisingly little was published by Protestant theologians explicitly on the topic of the Jews. We have already noted the striking paucity of publications in the sixteenth century, severely limiting the evidence concerning Christian attitudes towards the Jews. Finally, the seventeenth century polemic allows us to suggest a fundamental dichotomy in anti-Jewish polemics, distinguishing between what might be called “theological anti-Judaism”, on the one hand, and what might be called “moral-cultural anti-Judaism” on the other. Such a distinction is suggested by the polemics of Brentz and Schudt, for example, focusing on the Jewish use of garlic. Surely, there is no way one may relate the use, even excessive use, of garlic to Christian theology or the Christian understanding of salvation history. This is a cultural judgment and polemic that is turned into a moral one. One might opine that the authors’ invocation of the Jewish use of garlic represented the use of just about every last bit of evidence possible regarding the ramifications of a blasphemous religion – an erroneous religion leads to a detestable habit. More likely, however, is the notion that the garlic argument stems from a completely different line of reasoning: the demarcation of the Jews as the cultural “Other.”

Strategies for Religious Survival Outside the Public Church in the United Provinces: Towards a Research Agenda Willem Frijhoff

I. Church History or Religious History? Over the last thirty years the manner in which religious history has been conceived has changed completely. “Religious history” as such has grown from a liberating development by historians looking at the phenomenon of religion as opposed to a Church history controlled by the Churches themselves, as part of their quest for identity, often clerical, supervised by the ecclesiastical authorities, subservient even in their attempts at apologetics. Church history, confronted first with the social sciences, then went on to benefit from cultural history and a renewed political history and is now approaching a phase of enrichment through anthropology, ethnology and linguistics. At the present time, it has been raised to the status of a historical discipline in its own right, so much so that it is beginning to provoke a resistance movement from the upholders of a traditional Church history who regret either the disappearance of all theological or ecclesial perspective in the scrutiny of the phenomenon of religion, or the loss of influence of the organisational model of the Churches in their ancient ecclesiological form.1 According to the upholders of religious history the religious historian no longer needs to be a practising Christian in order to analyse faith nor be a believer in order to grasp the sacred – but is he capable of grasping it really with the full depth of spiritual experience? Ask their rivals in Church history. In the Netherlands today, the opposition between the two concepts of a history of the religious phenomenon has been obvious on several recent occasions. Basically, often without the protagonists realising it, it corresponds to the same basic distinction between an approach founded on human research and action (i.e. agency) and an approach which favours an organisation supervising and authenticating the “religious” (i.e. structure). The Dutch-Flemish Catholic re___________ 1 This is the leading question in the special issue ‘Theology in a World of Specialization’ to which I have contributed the article: Church History without God or without Faith?, in: Concilium. International Journal for Theology 42:2 (2006), 65–75.

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view Trajecta. Tijdschrift voor de geschiedenis van het katholiek leven in de Nederlanden, whose sub-title announces its wish to put religious life at the centre of the debate, competes with another review, principally Protestant although it has an ecumenical vocation, Nederlands tijdschrift voor kerkgeschiedenis, which has announced loud and clear its belief in a traditional history of the Churches. During a debate organised in order to prepare the new History of the city of Amsterdam, my own concept of religious history which basically starts off from the demand, that is to say from the person of the believer (whether layman, priest or pastor) and his needs, or from the research itself into the sacred or the religious, in actu, came up against a concept which favours existing ecclesiological structures as the best setting for “the religious”.2 Some time later, a similar plea expressed in a collection of articles written by myself provoked a violent response from the upholders of the opposing opinion.3 Then, after several decades with no attempt at a historiographical synthesis of Dutch religious history, two textbooks appeared in the same year in the Netherlands, proclaiming their radically different conceptions; the Nederlandse religiegeschiedenis [Religious history of the Netherlands] by the historians Joris van Eijnatten and Fred van Lieburg (Hilversum 2005), and the Handboek Nederlandse Kerkgeschiedenis [Handbook of the history of the Churches of the Netherlands], under the direction of the neo-Calvinist theologian Herman Selderhuis (Kampen 2006). At the same time, the faculties of theology find themselves losing control of religious history which is tending to become a field of history in its own right, either among all the other historical disciplines in the Arts faculty, or among those of the science of religion liberated from theology. It is important to keep this evolution in mind, for it coincides with the transformation of the field of research itself in religious history and the construction of new objects for historical research. Over the past decades, historians have often characterised this transformation as a passage from what is prescribed to what is actually experienced or, viewed from a somewhat simplistic angle, from the official Church to popular religion.4 If the institutional Church and its multiple forms of action continue to occupy the centre of so much research and so many debates, the field of research itself has broadened considerably. As a historical object the Church now has its place in a history of the religious phenomenon and, if we are to adopt an even broader anthropological perspective, ___________ 2 Willem Frijhoff, Religious life in Amsterdam’s Golden Age, in: Willem Frijhoff, Embodied belief. Ten essays on religious culture in Dutch history, Hilversum 2002, 17– 39. 3 Epilogue, in: Frijhoff, Embodied belief (note 2), 275–289. 4 In an exemplary form: Jean Delumeau (ed.), Histoire vécue du peuple chrétien, 2 vols., Toulouse 1979; cf. Willem Frijhoff, Popular religion, in: Stewart J. Brown/ Timothy Tackett (eds.), Cambridge History of Christianity, vol. VII, Cambridge 2006, 185–207 (in press).

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in the global history of the “sacred”, encompassing at the same time what we now call civil religion, that is to say the organised and ceremonial “sacred” of the secular domain. The perspective has thus shifted from the formal ecclesial structure to the community of believers, of whatever form and whatever orientation, in so far as they involve a religious reference. Even more so, in the case of civil religion, of these forms of transfer towards a secular “sacred” which involves the whole of the civil community in a common search for symbolic values supporting the communityǥs identity, in so far as this search goes further than simply utilitarian gestures.

II. Confessional Coexistence Research on religious experience and the history of religious communities has passed through several stages since then. Let us keep to the United Provinces here, a territory with many religious colours, which has won the reputation of having been a testing ground for religious toleration. Firstly, under the old image of a consolidated Protestant society – if not of a “Protestant nation” as she auto-proclaimed herself in the nineteenth century – tolerating just a few oppressed minorities, the reality of the confessional co-existence of various denominations was to be found. By now, a more nuanced picture has been sketched of the Golden Age in seventeenth-century Holland, formerly presented as the success story of the Protestant Reformation and peopled in popular historiography almost exclusively by Protestant pastors, believers and theologians. The very icons of Dutch success, such as the painters Rembrandt and Vermeer, the poet Joost van den Vondel, the great merchants of international trade like Van der Veken, Bartolotti, Bicker, De Geer or Trip, the philosophers Descartes or Spinoza, have been put in their rightful place: lukewarm protestants or liberals, Catholics, converts, even, in the case of Rembrandt, a man totally in search of his own spirituality on the fringe of all ecclesial obedience.5 Confessional coexistence implied a more or less peaceful juxtaposition in everyday life – but shaken by periodical eruptions of violence founded on the suspicion of conspiracy or political treason by the Other – of autonomous communities professing their faith differently and recognised as such by the authorities as well as by their neighbours. From time to time, this fundamental connivance could be justified by an appeal for public toleration, but we must stress that before the Revolution the debate on toleration was largely theoretical and intellectual and that the exceptions to this rule were founded on economic, ___________ 5 Cf. the recent PhD dissertation by S.A.C. Dudok van Heel, De jonge Rembrandt onder tijdgenoten. Godsdienst en schilderkunst in Leiden en Amsterdam, Nijmegen 2006.

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political or social reasons rather than on actual religious motivations.6 The Churches did not like rivals – which is not surprising given their pretension to be the holders of the unique truth, their self-awareness and their ambitions. The emphasis put on the religious experience has also benefited the upholders of the confessionalisation thesis, for this links the Church to the State in a common effort to control the daily life of the community by social discipline.7 In the United Provinces, some historians have tried to find a “national” form of this, underlying the evolution of the relations between the religious communities. Thus Simon Groenveld claimed to have found a sort of proto-verzuiling in the seventeenth century.8 Under this late nineteenth-century term (pillarization in English) was hidden the denominational dividing up of the society as a whole into practically watertight sections under the influence and control of the authorities, notably the ecclesiastical authorities, including the sectors of teaching and health, politics and the press, trade unions and organisations, and all forms of cultural action. The verzuiling would be a sort of delayed Dutch equivalent of confessionalisation, and the first signs of it were to be found as early as the mid seventeenth century. After the discovery of confessional coexistence and the avatars of confessionalisation, the time has come for a more systematic questioning, founded on an anthropological approach, of what enabled religious groups to survive positively, not so much as survivors of another era or barely tolerated clandestines but as religious communities by rights, fully conscious of their own identity and enjoying a collective life founded on an autonomous set of structures, values and beliefs, customs, gestures and traditions. Their feeling of identity was very real, for it allowed them to re-emerge as fully-fledged Churches as soon as political conditions changed, that is to say with the Batavian Revolution in 1795.

___________ 6

C. Berkvens-Stevelinck/J. Israel/G.H.M. Posthumus Meyjes (eds.), The Emergence of Tolerance in the Dutch Republic, Leiden 1997; R. Po-Chia Hsia/Henk van Nierop (eds.), Calvinism and Religious Toleration in the Dutch Golden Age, Cambridge 2002; Joris van Eijnatten, Liberty and Concord in the United Provinces. Religious Toleration and the Public in the Eighteenth-Century Netherlands, Leiden 2003. 7 Olaf Mörke, ‘Konfessionalisierung’ als politisch-soziales Strukturprinzip? Das Verhältnis von Religion und Staatsbildung in der Republik der Vereinigten Niederlande im 16. und 17. Jahrhundert, in: Tijdschrift voor sociale geschiedenis 16 (1990), 31–60; Heinz Schilling, Nationale Identität und Konfession in der europäischen Neuzeit [1991], in: Heinz Schilling, Ausgewählte Abhandlungen zur europäischen Reformations- und Konfessionsgeschichte, ed. by Luise Schorn-Schütte/Olaf Mörke, Berlin 2002, 541–587, 560–563. 8 Simon Groenveld, Huisgenoten des geloofs. Was de samenleving in de Republiek der Verenigde Nederlanden verzuild?, Hilversum 1995.

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III. The Public Church and the Denominations The history of the United Provinces – roughly the Netherlands today – from the end of the sixteenth to the end of the eighteenth centuries is in fact an excellent framework for studying these transformations, for it provides many examples of them. First of all there is a State which declares itself Protestant, while at the same time organising – or allowing to be organised – collective life on the pluralist model, not with a view to explicit and legalised toleration, but by mere connivance or laissez-faire, and thus subject to repeal in a more or less risky manner. If there were in fact a public Church, that is to say a Church which alone had the right to show itself in public and whose doctrinal orientation had been ratified by the State as being an orthodoxy which could benefit the public, there was never a State Church in the real sense, neither were there collective moral or religious constraints, nor any other form of effective theocracy, and thus the term of confessionalisation can only be applied by analogy. On the contrary, the adhesion to the public Reformed Church remained a strictly personal affair, strongly recommended it is true (and formally compulsory to be able to exercise a public function, including teaching and other intellectually sensitive jobs) but it was never imposed on the whole community. Other religious persuasions remained tolerated in the private domain, that of individual, family or group conscience, and the exercise of worship forbidden in public was largely tolerated in private or domestic settings, although often in return for a payment, and in a varying measure according to place and province. In fact, the confusion between religious and political motives which characterised the Revolt of the Netherlands against the Spanish sovereign immediately made any equivalence between the State and the Reformed Church fragile, for a number of the insurgents wanted neither the king of Spain nor the new Rome which in their eyes was the Calvinist persuasion from Geneva – not only among the Catholics, but also among the Anabaptists (Mennonites), the Lutherans and the pleiad of heterodox movements such as Hendrick Niclaesz’s Family of Love. So the regents of the new State very soon introduced a difference between their public Reformed Church which aimed at the purity of faith and their State which was nominally Protestant but religiously prudent and actually secular in everyday life. They used the tone of a civil religion in the guise of Reform rather than that of a real Protestant religion. This discrepancy between theory and practice, which in a certain way resembles, historiographically speaking, that between structure and agency, led to a certain number of characteristics peculiar to Dutch society. I shall name three. First of all, and this was very unusual in the Europe of the Ancien Régime, the existence of a very great number of inhabitants living outside any ecclesial structure, often unbaptised, far from any catechetical control, and with no religious practice; this may have concerned as much as half of the population at

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certain periods during the second half of the sixteenth century and it lasted until well into the seventeenth century when, after political and religious order was restored following the Peace of Westphalia (1648) and the Great Assembly of the States General (1651), the Reformed religious rites progressively became the rule as the public expression of belonging to the national community. Secondly the massive perseverance, well after the formal introduction of the Reformed religion as the public Church and the banning of the Catholic Church, of numerous groups of non-Reformed believers, and even of the Catholic community itself which took more than a century to reconcile itself to being a minority. Finally the freedom expressed by many believers to find an individual or collective form sufficient to satisfy their religious needs outside the established Churches, without needing to make any final choice. These are the famous “Christians without a Church” studied by Leszek Kolakowski.9 It was during the phase of institutional development of Dutch Calvinism, roughly before 1650, that the religious landscape was the most varied, the richest and the most colourful. During the following 150 years, until the revolutionary period, religious communities gradually took shape, integrating differences and keeping, sometimes even encouraging, their divergent currents of opinion, but without that necessarily leading to new institutional mergers. This pluralism was appreciated to a varying degree inside the country and by foreign visitors, but its reality cannot be questioned. It cannot be better characterised than by quoting once more the famous outburst of the Lieutenant-Colonel JeanBaptiste Stouppe (*1623) in his apology La Religion des Hollandois (1673) intended for his compatriots who were concerned about his participation in a war officially destined to stop, even to wipe out Protestantism in Holland. For Stouppe was a fifty-year-old Swiss, a Calvinist, commanding the town of Utrecht in the service of the occupier, the very Catholic king of France. Is this really a Protestant country that we have occupied? he asks. And he answers, surprised at the great number of sects, denominations and religions existing in the Republic: “The States give unlimited freedom to all sorts of religions, which are completely at liberty to celebrate their mysteries and to serve God as they wish. You will therefore know that besides the Protestants there are Roman Catholics, Lutherans, Brounisteds [congregationalists followers of Robert Browne], Independents, Arminians [Remonstrants], Anabaptists [Mennonites], Socinians, Arians, Enthusiasts, Quakers or Shakers, Borelists [partisans of the collegiant Adam Boreel, who tended towards prophecy], Armenians, Moscovites, Libertines, and others whom we can call Seekers because they are seeking a Religion and they do not profess any of those established. I do not say more about Jews, Turks, and Persians.”

___________ 9 Leszek Kolakowski, Chrétiens sans Église. La conscience religieuse et le lien confessionnel au XVIIe siècle, Paris 1969.

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– before letting fly against the libertine Spinoza, of whom he said he was “neither Jew nor Christian”, the obvious non-belief of the craftsmanphilosopher not fitting into a Swiss colonel’s idea of the world.10 His violent anti-Semitism, for that matter, was refuted by another francophone Calvinist, the refugee minister Jean Brun, in his Véritable religion des Hollandais (Amsterdam 1675).

IV. Varieties of Church Membership To clarify things, it is important to understand the relations that existed in the United Provinces between the official Church, minority or dissenting Churches tolerated to a varying extent, religious groups, sects, ways of thinking, and the State. When we talk of a religious minority, it can mean an official minority, according to a political criterion. In this precise sense, all the religious groups, with the exception of the public Reformed Church (including its linguistic variants, the Walloons who had their own synod, but also the Germans and the English Calvinists) were in the minority. However, until well into the seventeenth century the public Church only gathered together a very small part of the population as official members: 10% at the beginning of the century, maybe three times that at the end. To them we can add the liefhebbers (amateurs), sympathisers or believers when it suited them, who were probably more numerous at the beginning than the full members: they were the people who adhered more or less officially to the values, ethics and daily rituals of the Reformed Church without ever compromising themselves as far as becoming fully recognised members obliged to submit to ecclesiastical discipline. It is probable that many people who were obliged to adhere to the Reformed Church on account of their position or their public function (as for example the regents of the towns and provinces, the members of the established nobility, judges, civil servants or teachers), only did so as sympathizers, in public life expressing a certain sympathy for the public Church which could be contradicted in private, ___________ 10 “Les États donnent une liberté illimitée à toute sorte de Religions, lesquelles y ont une liberté entière de célébrer leurs mystères et de servir Dieu comme il leur plaist. Vous saurez donc qu’outre les Réformés il y a des Catholiques Romains, des Luthériens, des Brounistes, des Indépendants, des Arminiens, des Anabaptistes, des Sociniens, des Ariens, des Enthousiastes, des Quacquiers ou des Trembleurs, des Borrélistes, des Arméniens, des Moscovites, des Libertins et d’autres enfin que nous pouvons appeler des Chercheurs parce qu’ils cherchent une Religion et qu’ils n’en professent aucune de celles qui sont établies. Je ne vous parle point des Juifs, des Turcs et des Persans”; JeanBaptiste Stouppe, La Religion des Hollandois, Cologne [=Leiden?] 1673, 32, 79. On these religious groups: J. Lindeboom, Stiefkinderen van het Christendom, The Hague 1929 (reprint Arnhem 1973); C.W. Roldanus, Zeventiende-eeuwse geestesbloei, Utrecht/Antwerp 1961; Willem Frijhoff/Marijke Spies, 1650: Hard-Won Unity, Assen/ Basingstoke 2004, 349–427.

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and even in the very acts they undertook in the exercise of their functions. There is no lack of examples of this Nicodemus-like behaviour. The acts of the consistories, classes and Reformed synods, but also magistrates’ decisions and even registers of local and provincial justice, are teeming with accusations, proceedings and cautions that illustrate this. It is just as probable that the public Reformed Church continued for some time to give rise to a dual feeling of membership: on the one hand, and for the majority, it was simply the successor of the old public Church which formally had been Catholic but in fact was seen above all as the setting for the public organisation of religion, of whatever denomination.11 We can see this clearly in the ownership of church buildings, which belonged to the municipality, that is to say to the secular power, and in their multi-functional use as community buildings served several purposes: a place for a daily walk, a burial place for all, including non-Protestants, a site for public events organised by the corporations and other non-religious institutions, for public concerts, organs normally belonging to the municipality and the organist being a local government official – besides, until the middle of the seventeenth century, when organ music was declared by the synods to be an adiaphoron (a theologically indifferent matter that should not divide the community), the Reformed consistories violently rejected the playing of the organ during religious services. We can also observe this phenomenon in the basic rites of life: baptisms and weddings often took place in the public church, in front of the pastor, but that did not necessarily carry overtones of denominational restrictions. It was only the public confession of an adult which enlisted the believer in the Reformed Church, subjecting him to ecclesiastical discipline and authorising him to participate in the Lordǥs Supper. And it was only for those initiated members of the Reformed Church that the public buildings and the ecclesial community itself had an ideologically more restraining and theologically determined character: that of the true Reformed Church, chosen by God himself to be the successor of the old public Catholic Church which was hence abolished in their eyes and had thus lost all its rights in the public domain. As the centuries progressed, however, the amalgamation between the public Church and the Reformed faith became increasingly insistent and to a certain extent increasingly natural: the Reformed Church gradually integrated public values, including secular values, and the whole of public life in this way gained a sort of Reformed, Calvinist coloration. At the same time, this allencompassing Reformed Church lost its distinctive features in the Dutch religious landscape, and when the religious cards were redistributed after the Ba___________ 11 Willem Frijhoff, Kalvinistische Kultur, Staat und Konfessionen in den Vereinten Provinzen der Niederlande, in: Peter Claus Hartmann (ed.), Religion und Kultur im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2004, 109–142.

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tavian Revolution, it was the great loser on several occasions, first with the loss of substantial groups of strongly motivated believers on the occasion of the great splits in the Church, the Afscheiding [the Separation] in 1834 and the Doleantie [the Schism] in 1886, and then with the rapid decrease in religious practice in the second half of the twentieth century. This dual function of the public Church in a multi-denominational society – a community for all, denominational for its members only – determined part of the leeway left to the faithful of other persuasions. This leeway between the official rules and the everyday practice of life in common was all the greater that the person was protected by a special status. This was the case of the nobles (in almost all the provinces, many nobles remained attached to Catholicism and protected its domestic exercise in or near their castles) or of the autonomous political territories (such as the free seigneuries of Culemborg, Buren, Leerdam, Vianen and Ysselstein in the centre of the country, hiding places for fugitives of all kinds, from cheats to murderers, rapists or young couples without parental consent, but equally havens for Catholics and later for the Jansenist Old Catholics, not to mention the numerous Catholic enclaves on the borders of the Dutch Republic).12 This was particularly the case in the highly developed particularism of the legal and administrative structures of the Republic itself, which prevented any unification of rules and procedures while at the same time protecting the non-conformists who knew how to use them. Apart from the surprising persistence of the Catholic beguinage right in the centre of Amsterdam throughout the Ancien Régime, we can cite two examples that are well known in the history of international Protestantism: the village of Rijnsburg near Leiden, where as early as 1622 a free community of believers, later to be called the collegiants, was settled.13 Rejecting the ministry and professing the freedom to prophesy and the baptism of adults by submersion, it was later strongly influenced by the thought of Spinoza who, banished from Amsterdam by the Sephardic Jewish consistory, had settled there as a craftsman optician. Another example is the village of Wieuwerd in Friesland, where the local manor had since 1675 housed a group of followers of the ex-Jesuit Jean de Labadie (1610–1674) who became a Reformed pastor then a Pietist, among them some learned women, free thinkers with a European reputation:

___________ 12

Marijke Gijswijt-Hofstra, Wijkplaatsen voor vervolgden. Asielverlening in Culemborg, Vianen, Buren, Leerdam en IJsselstein van de 16de tot eind 18de eeuw, Amsterdam 1984. 13 Andrew C. Fix, Prophecy and Reason: The Dutch Collegiants in the Early Enlightenment, Princeton 1991.

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Anna Maria van Schurman (1607–1678) and Maria Sybilla Merian (1647– 1717).14

V. Perceptions of Minority Positions We must therefore distinguish between a formal minority through status, and a de facto minority through numbers. Thus it is more than likely that during the first half of the seventeenth century, in many towns and regions, Catholics as well as Mennonites, denominations which were formally forbidden or at least officially considered as minorities, remained more numerous in the United Provinces than the Protestant adults having made their official confession in the Reformed Church. In the case of the Mennonites there were numerous local communities, often fragmented, dividing continually into smaller groups with fastidious orthodoxy, jealous of each other and fighting over tiny points of doctrine or ethics.15 After 1650, these two great groups probably declined quite rapidly to the benefit of the Reformed Protestants, but the Catholic community, organised into the “Holland Mission” (Missio Hollandica), recovered in the eighteenth century, forming once more a third of the population at the revolutionary period and patiently winning back the majority of towns such as Bergen-op-Zoom and Nijmegen by the three major routes (demography, immigration, conversion).16 The minority factor was thus often a question of perception rather than of everyday relationships. This is particularly true for the so-called Generality Lands, that is to say those parts of Brabant, Flanders, Guelders and some other territories which had not adhered spontaneously to the Union of Utrecht in 1579, constituting the Republic of the Seven United Provinces, but had been conquered later during the war or been given up by the king of Spain in 1648, but not without having beforehand been subjected to an intensive effort at Catholic Reformation in the spirit of the Council of Trent which had borne fruit.17 After annexation these territories remained mainly Catholic while at the ___________ 14 On Schurman: Mirjam de Baar/Machteld Löwensteyn/Marit Monteiro/Agnes neller (eds.), Anna Maria van Schurman (1607–1678), een uitzonderlijk geleerde vrouw, Zutphen 1992; on Merian: Natalie Zemon Davis, Women in the margins: Three seventeenth-century lives, Cambridge, Mass./London 1995, 140–202. 15 Samme Zijlstra, Om de ware gemeente en de oude gronden. Geschiedenis van de dopersen in de Nederlanden 1531–1675, Hilversum 2000. 16 Hubert P.H. Nusteling, Binnen de vesting Nijmegen. Confessionele en demografische verhoudingen ten tijde van de Republiek, Zutphen 1979; Charles de Mooij, Geloof kan Bergen verzetten. Reformatie en katholieke herleving te Bergen op Zoom 1577– 1795, Hilversum 1998. 17 For Brabant, see Gerard Rooijakkers, Rituele repertoires: Volkscultuur in oostelijk Noord-Brabant 1559–1853, Nijmegen 1994.

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same time being subjected to an effort of protestantisation that was just as intense on the part of the States General and the Reformed Synod, churches, schools and local government being henceforth in the hands of a small Protestant elite, more often than not imported from elsewhere. The difference between the de jure and the de facto country led these territories to a state of permanent tension, but also to a set of practices, beliefs and symbols which transformed these tensions into the hope of change in the short or long term. Thus, when in 1799 the Protestant minister Stephanus Hanewinkel travelled the length and breadth (maybe only virtually) of the province of Brabant where he had been working for seven years taking note of the popular beliefs, that of course he called “superstitions”, of the Catholics of the region, he recorded on several occasions the conviction that the country would soon be freed from the Calvinist yoke by the French or other liberators, traditionally the knights of Malta, and that the Calvinists would then be put to death. Such predictions must have circulated widely in the United Provinces, as proved by the panic of Saint John’s Day in 1734. At that moment, in an exceptional year with Easter very late (25th April), when Corpus Christi coincided with the feast of Saint John, the Calvinists believed that they would all have their throats cut by the Catholics who, for their part, spread the rumour of an imminent social and political upheaval during which the gueux (Protestants) would be driven from their strongholds and killed; the Catholics would then win back their former rights.18 The most interesting aspect of this event was perhaps not the Catholic threat but the Protestant fear, that is to say the panic in the proper sense of the term: it probably reflects the persistence of a deep-rooted incertitude among the masses on the place of the Reformed religion in the structure of the State, 150 years after the Revolt and after the introduction of the Calvinist Church as the public Church. It illustrates in this way the remarks I have made above concerning the ambiguity of the position of a public church within the national community, while at the same time showing that the relations between majority and minority are sometimes quite ambiguous. The minority is not always where one thinks, and de facto minorities can sometimes behave as if they were de jure majorities and vice versa. It will be clear that the balance of power in such a multi-denominational society depends mainly on the type of boundaries that separate communities and groups. Are they unambiguous legal boundaries with no exceptions? This was rarely the case in the voluntaristic and particularistic pre-modern society of the United Provinces, ruled by their fundamentally federal system founded on the principle of local or regional privileges, under the aegis of the motto Concordia res parvae crescunt, that is to say cooperation, not unity. This Republic was certainly not a strong state in the sense of the absolute and centralised monar___________ 18

Frijhoff, Embodied belief (note 2), 153–160, 181–213.

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chies, but the force of the State depended on a common and constantly renewed search for unity within difference, negotiations as subtle as they were permanent, and the conviction that in spite of real denominational differences the unity of the country lay in a set of values and common qualities that transcended religious boundaries thus forming a properly “national” community. The awareness of this “national” unity was brought about by constant discussion on what founded the community as a whole.19

VI. Religious Diversity and Civic Unity A fine concrete example of this sense of unity beyond denominational differences is provided by the efforts undertaken with a remarkable constancy and coherence by the town of Haarlem in favour of civic concord, following the centrifugal tendencies which appeared in the town as early as the second half of the sixteenth century, following first the immigration of heterodox textile workers, often Mennonites, then the introduction of Protestantism as the official religion after the siege of the town and the massacre perpetrated by the Spanish troops in 1573. In this new situation, the civic community of Haarlem found itself deeply divided between Mennonites, Calvinists and Catholics, each forming about a third of the community if we do not count those with no religion. The municipality itself, officially Protestant, was in fact divided between surviving Catholics, liberal Protestants (Arminians) and orthodox Calvinists. In these conditions, it conducted an offensive for a supra-denominational unity of the civic community, fostering an already ancient motif, that of the heroic role played by the crusaders of Haarlem in the siege of Damiette in Egypt in 1219. The people of Haarlem had apparently made it possible to conquer this great port by using a huge saw fixed under the keel of a ship to saw through the chain stretched between two towers that blocked the entrance to the port. This motif written by a chronicler of the fifteenth century was to be used by the municipality to reinforce a civic spirit, the kernel of the message being that the people of Haarlem all together possessed qualities, as a civic corporation, which surpassed denominational cleavages. A whole new offensive was orchestrated to spread the motif of Damiette as an emblem of the unified town: paintings and tapestries were ordered for the town hall; stained glass windows depicting the motif of Damiette were given to a number of provincial churches, beginning with that of Gouda with its famous collection of stained-glass windows; the history of the town was rewritten according to the story, and families who descended from the crusaders brought out their coats of arms; schoolchil___________ 19 I have developed this thesis on the ‘discussion culture’ of the Dutch Republic in: Frijhoff/Spies, 1650: Hard-Won Unity (note 10), 50, 67, 220–225, 596–599.

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dren made a procession around the town every year (a rite of appropriation) carrying models of the famous boat, and one model of the boat, equipped with its saw, was hung in the main church, where it is still on display. In short, Damiette became the identifying emblem of the town which hoped in this way to ensure the perennity of its reputation for courage in the outside world and a feeling of identity within.20 Such a supra-denominational image of identity brings us back to the leeway for manoeuvre that the cleavages between the different communities had left open – I mean of course the toleration that was granted. Or again to the margins of which the minority communities availed themselves to build a common space of liberty beyond denominational constraints in their everyday lives, which I have called elsewhere “the ecumenicity of everyday life”.21 This common base of civic and human values is to be found in all the situations I have referred to so far. Thus during the trials in Friesland of people involved in the panic of 1734, a young Catholic milkmaid told how, when distributing milk to her Protestant neighbours, she talked with them of the terrible day to come while at the same time promising to spare them because they were neighbours. The value of neighbourliness took precedence over the value of vengeance by the group for denominational reasons. However these civic values went against the creation of a group identity within the denominational communities. In fact, it is precisely the impossibility to manifest in public as a Church or a religious group that hindered the creation of a clear-cut identity and the survival of the specific religious community as such. A group which cannot show itself in public will with time lose its raison d’être and its coherence and is destined to disappear. How did the dissident or forbidden religious communities of the United Provinces stand up to this problem? What conscious or unconscious strategies of identity did they develop? I cannot here develop this question in all its complexity. I simply hope that the above remarks have opened the door to this field of research while at the same time warning against a too simplistic view of denominational relations, also and above all in a relatively open society like that of the United Provinces.

___________ 20 Willem Frijhoff, Ritual acting and city history: Haarlem, Amsterdam and Hasselt, in: Heidi de Mare/Anna Vos (eds.), Urban rituals in Italy and the Netherlands. Historical contrasts in the use of public space, architecture and the urban environment, Assen 1993, 93–106; Willem Frijhoff, Damiette appropriée. La mémoire de croisade, instrument de concorde civique (Haarlem, XVIe-XVIIIe siècles), in: Revue du Nord 87 (2006), in press. 21 Frijhoff, Embodied belief (note 2), 39–65.

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VII. Religious Survival Strategies: A Research Agenda To conclude, I will draft the first outlines of such a research agenda through a series of short interrogations. One of the key-words of present-day social history is that of ‘survival strategy’. The awareness that individuals, groups or communities often have to realise their life in a hostile setting brings historians to search for ways in which people in the past and in a profoundly different economic, political, social and cultural setting, sought to cope with poverty, adversity, social inferiority, political pressure or religious persecution. This approach is the most promising for the renewal of religious history, because it leaves the simple paths of traditional, empiricist Church history. Turning towards the living community itself, it requires the alliance of cultural history, cultural and social anthropology, social psychology, and related disciplines. In fact, it implies also a post-confessional and post-national attitude, since the historian can no longer take for granted the definitions and limits set to the field of research by the more or less implicit convictions of the prevailing denominational ideology and national interests. Therefore the historiographical space formerly occupied by denominationally committed Church historians has to be redefined. The historical object itself must be revised as ‘the construction of minority group identities in changing settings’, in order to make it a general research object, available to all, and not limited beforehand by the need for some intimate religious involvement of the historian. The main shift from the former historiography toward a new vision is probably to exchange the approach based on confessional supply for that of religious demand and to privilege from the start agency, daily life and experience over institutions, ideas and norms. Group survival can never be taken for granted in a hostile environment. People have constantly to deploy initiatives and consciously or unconsciously to develop adequate strategies to ensure the cohesion of the group as such and thereby its survival. Such strategies have to respond narrowly to the actual context, in order to be effective. Any analysis should therefore take into account the interactions of the group with dominant or competing communities in as many aspects as possible. Survival strategies may involve a great variety of features. Let me just enumerate some of the most important ones. We may distinguish between internal and external strategies. Internal strategies should foster the cohesion of the group; external strategies define its image and position within the global community or the nation. The very first and indeed basic condition of existence of any community is a place to gather, in order to realise and embody the community socially, physically, and visibly. Hence the importance, both symbolically and in practice, of the church property question, and the recurrent role it plays especially for the Catholics throughout the whole minority period of the community. Even the

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smallest or remotest space will do, provided the community can recognise itself as both plural and united. Church presence and community gathering requires also a minimum of organisation, an agenda, a ceremonial, or a liturgy: hence the importance of a community bond, a formal or unspoken but recognised set of rules, texts, songs and rituals meant to reaffirm the identity of the group each time. Secondly, internal cohesion may be reached by demographic means, for example by a marriage strategy – which confront us with the degree of observance of the tacitly or formally established rules of the connubium and the efficacy of the sanctions applied by the community or its leaders in the case of a religiously mixed marriage. Mennonites in particular were known for their rigid preservation of the rule of in-group marriages (the so-called Meniste vrijage). Thirdly, internal strategies may concern aspects of social agency: how and by whom are the expenses linked to community work financed: church buildings, salaries of priests, ministers, admonishers and school teachers, poor relief, care of orphans and the elderly, and so on? How does protection and patronage work, and who depends socially and economically on whom inside the community? Are family ties and kinship essential to inner cohesion? Do Catholic (or Lutheran, Mennonite, etc.) consumers buy in Catholic shops, Catholic craftsmen engage Catholic apprentices, and Catholic lay people socialise in Catholic unions, clubs or organisations of whatever kind they may be? Do the members of the group monopolise a profession in society or translate such a general profession into a community-linked occupation (such as money lending, banking, the wholesale or retail trade in specific commodities)? Given the exclusion of adherents of minority religions from public office, do people, in particular the minority elites, take refuge in specific intellectual occupations (for instance the liberal professions: lawyer, solicitor, physician), or do they manage to escape the prohibitions, and with the connivance of whom? Do they invest their money in common enterprises? A fourth range of internal strategies is about feelings of belonging and common destiny: how does the group define its inner structure, its limits and fringes, its raison d’être? Who is entitled to claim membership and under what conditions, both formal and informal? Who decides about membership, how is it obtained and through which rituals? Are outsiders welcome, and what kind of initiation rites (open or disguised) are they put through? How are internal obligations communicated? Is there a coherent printing and communication strategy? How are the community’s leaders recruited, educated, appointed and controlled? Is there a common strategy for their intellectual formation? Are there specific moral requirements for the behaviour of the community’s members, and how are sanctions applied in order to be effective inside the group?

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VIII. Internal Cohesion and External Strategies Internal cohesion is of course subject to a variety of strategy types, depending on the interaction with others: strategies of continuity, of change and renewal, or of a utopian and prophetic character, strategies of exclusion and inclusion, not only of persons, objects and rituals, but also of myths, legends, stories and narratives. The most important feature however is that, in order to survive, any community has to develop a coherent narrative about its existence or survival as such, a historical ‘canon’ that tells from what founding events the community derives its historical legitimacy and that is able to unite all the faithful in a single spirit and a single perspective towards the future. The narrative will be stronger when expressed in its own visual language, but also if it achieves the intellectual legitimisation of the group’s existence, through a common philosophical or theological vision of its destiny. The Old-Catholic Schism in the Northern Netherlands (1723), strongly legitimised by a vision of past and present of the community different from that of the Roman Catholics, is a clear proof of the importance of such a common narrative and of the dangers incurred by the minority community if such a narrative is not shared by all those involved. External strategies are meant to foster the image of the group as a whole, and to anchor its existence firmly and recognisably in the social and political environment. Theology and political philosophy play an important role for the legitimisation of the community as a minority with its own inalienable right to existence, and so does historiography. What is the social, political and cultural image that the community wants to give of itself? Father Andriessen demonstrated, many decades ago, how the Jesuit strategy strengthened the feelings of the Catholics in the Northern and Southern Netherlands that they fundamentally belonged together and one day had to recover their common destiny and indeed their common identity.22 The Generality Lands figured in this constellation as a bridge, a sluice-gate of permeability, permitting at first the maintenance of the perspective of unity, and after the Peace of Westphalia the realisation of a steady stream of books, prints, devotional objects, ideas, and transfers of ritual agency. Though an enemy of their state, the Southern Netherlands were for the Dutch Catholics in the North an ally upon whom they could rely. But the question may be asked in a wider sense. Whose support for survival is sought outside the community: that of foreign sovereigns, of befriended communities, of influential intellectuals? What arguments about the minorities’ treatment elsewhere are brought forward to improve the community’s position, and how far do problems across the borders affect the community’s home situa___________ 22 J. Andriessen S.J., De Jezuïeten en het samenhorigheidsgevoel der Nederlanden 1585–1648, Antwerp 1957.

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tion? Are conversion stories capitalised for the community’s justification towards its opponents or rivals? Again, external strategies exist in varying degrees of openness. How openly does a minority community want to express itself? Does it publicly claim continuity of functions, institutions, buildings, or at least of appearances? Does it take refuge in semi-clandestine behaviour, or make itself totally invisible for the outside world, and for what reason? Does it develop an aggressive self-assertion in its hostile environment, claiming its rights against the established political order? What is the relation between domestic settings, the private sphere and public order? Where exactly does the domain that the community may claim as its own start, and what degree of tolerance does it enjoy outside? Was it possible to create a simulation of normality for the minority Church, could one survive individually as a heterodox believer, or was Nicodemism a realistic option? What were the formal and informal limits of denominational expression in the public space and, what is not quite the same, in the public order? In a final analysis, however, it is not the strategy that must interest us but the minority group identity that it intends to protect, create or promote. Therefore, all the aspects, elements and dimensions of survival strategy must be taken together in order to analyse as such the community they happened to bring about. The key question is here of course about the nature and the strength of the community’s self-consciousness. How strong exactly was the sense of community? Was it able to resist the pressures from outside or the centrifugal tendencies from within? Actually, Catholic minorities had the advantage over other persecuted or undesired religious minorities, like the Mennonites and the different groups of Dissenters, of having been the first practitioners of Christendom in their countries. No wonder that their self-consciousness played heavily with the historical argument, either in the form of priority claims or as a motive for continuity. Having been the first to realise the Gospel’s message in its ecclesiastical gown, the Catholic Church thought of itself as the prime owner of Christendom, and in the mentality of that time primacy was not only a fact but also a privilege with inalienable rights. No wonder that as late as 1632 Leiden University appointed a special Huguenot professor of European fame, the French philologist Claudius Salmasius, to combat Cardinal Baroniusǥs works on the primacy of the Roman Church. Once we have started to carry out this research agenda on a comparative scale, one final question remains and that is the evolution of the minority communities involved. As a historical construct, their identity was not stable. It proceeded from a changing and evolving balance between self-image, external context, objective conditions and subjective achievements, impulsions and responses, which had to be realised over and over again. Minorities too had to organise their future in spite of the past. Some of them may have felt they were victims of a hostile history; others certainly took their destiny in their own

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hands. It is the complexity of this multifaceted movement that makes such an approach of religious history a real challenge and a stimulating enterprise. (Translated from the French by Mary Robitaille)

Die calvinistischen Prädikanten in den Niederlanden (1566–1620): Zur Entstehungsgeschichte eines Berufsstandes Johannes Arndt

I. Einleitung Im November 1587 überquerte ein niederländischer Theologe den Ärmelkanal, um sich dauerhaft in England niederzulassen. Sein Name war Adrian Saravia. Zu diesem Zeitpunkt wußte der 55jährige Geistliche nicht, ob er am Ende einer steilen Karriere stand, oder ob sich ihm in der angelsächsischen Welt eine weitere berufliche Chance bieten würde, die mit seinem bisherigen Werdegang vergleichbar wäre. Saravia war als Sohn eines spanischen Vaters und einer niederländischen Mutter Franziskanermönch in Saint-Omer (Artois) geworden. 1557 verließ er den Orden, trat zum Protestantismus über und betätigte sich in verschiedenen Funktionen in der niederländischen calvinistischen Untergrundkirche. Zwischen 1559 und 1578 folgten mehrere Stationen in englischen Gemeinden und Schulen, unterbrochen von kurzen Tätigkeiten in niederländischen Gemeinden. Von einem protestantischen Theologiestudium ist nirgendwo die Rede. Seine franziskanische Ausbildung wurde offenbar als hinreichend betrachtet, um ihn 1578 als Prediger nach Gent zu berufen. Dort hatte er Anteil daran, ein radikal-calvinistisches Stadt- und Gemeinderegiment zu errichten, das einer sittenstrengen Theokratie reformierter Ausprägung sehr nahekam. 1582 war Saravia bei den Führern des Aufstands wie unter den reformierten Theologen so bekannt, daß er einen Ruf auf eine Theologieprofessur an der Universität Leiden erhielt. In der Folgezeit nahm er an zahlreichen politischen Debatten in Wort und Schrift teil. Dies führte dazu, daß er 1587 in den Konflikt um die politische und kirchliche Selbstverwaltung zwischen dem Leidener Magistrat und dem englischen Statthalter Graf Leicester verwickelt wurde. Die englische Partei unterlag, und Saravia wurde zur Auswanderung nach England gezwungen1. Adrian Saravias Biographie enthält Stationen und Elemente, die sich auch in den Lebensläufen vieler seiner Amtsbrüder wiederfinden lassen.

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Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Funktionsträgern der christlichen Glaubensgemeinschaften reicht viel weiter zurück als die Sozialgeschichtsschreibung neueren Typs. Kürzlich untersuchte Luise Schorn-Schütte den protestantischen Pfarrerstand im Heiligen Römischen Reich, nachdem die Soziologie des protestantischen Pfarrhauses zuvor von Martin Greiffenhagen betrachtet worden war2. Über die calvinistische Pfarrerschaft ist weniger bekannt. Die Lage der Prediger in der Provinz Holland um 1566 hat kürzlich Jurjen Vis zusammen mit Jan J. Woltjer in einem Beitrag untersucht3. Zu den kirchlichen Verhältnissen in der niederländischen Republik des 17. Jahrhunderts liegen die Studien von Arie T. van Deurssen und Gerrit Groenhuis vor4. Ingrid Dobbe hat die Modalitäten untersucht, durch die angehende reformierte Theologen geprüft und ausgewählt wurden5. Fred an Lieburg hat diejenigen Theologen untersucht, die wie Saravia ohne ein protestantisches theologisches Studium Prädikanten wurden6. Zur calvinistischen Sozialordnung generell ist die Monographie von Philip Benedict lesenswert7.

___________ 1 Zur Biographie und zum Werk Saravias: Willem Nijenhuis, Adrianus Saravia (c. 1532–1613). Dutch Calvinist, First Reformed Defender of the English Episcopal Church Order on the Basis of the Ius Divinum, Leiden 1980. 2 Zur kulturellen und sozialen Lage des protestantischen Pfarrhauses im Hl. Römischen Reich: Luise Schorn-Schütte, Evangelische Geistlichkeit in der Frühneuzeit, deren Anteil an der Entfaltung frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft. Dargestellt am Beispiel des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel, der Landgrafschaft HessenKassel und der Stadt Braunschweig, Gütersloh 1996; Martin Greiffenhagen (Hrsg.), Das evangelische Pfarrhaus. Eine Kultur- und Sozialgeschichte, Stuttgart 1984; ders. (Hrsg.), Pfarrerskinder. Autobiographisches zu einem protestantischen Thema, Stuttgart 1982. – Über den katholischen Pfarrerstand liegen zwei jüngere kritische Betrachtungen vor, bei denen die soziologischen die historischen Aspekte überwiegen: Eugen Drewermann, Kleriker. Psychogramm eines Ideals, Stuttgart u.a. 21992; Uta Ranke-Heinemann, Eunuchen für das Himmelreich. Katholische Kirche und Sexualität, Hamburg 21990. 3 Jurjen Vis/Jan Juliaan Woltjer, De predikanten in Holland in 1566, in: Dutch Review of Church History 80 (2000), 20–45. 4 Arie Theodorus van Deursen, Bavianen en slijkgeusen. Kerk en kerkvolk ten tijde van Maurits en Oldenbarnevelt, Assen 1974; Gerrit Groenhuis, De predikanten. De soziale positie van den gereformeerde predikanten in de Republiek der Verenigte Nederlanden voor ± 1700, Groningen 1977. 5 Ingrid Dobbe, Requirements for Dutch Reformed Ministers, 1570–1620, in: Dutch Review of Church History 83 (2003), 191–203. 6 Fred A. van Lieburg, Preachers between Inspiration and Instruction. Dutch Reformed Ministers without Academic Education (Sixteenth-Eighteenth Centuries), in: Dutch Review of Church History 83 (2003), 166–190. 7 Philip Benedict, Christ's Churches Purely Reformed. A Social History of Calvinism, New Haven, London 2002.

Die calvinistischen Prädikanten in den Niederlanden

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An dieser Stelle soll nicht die Geschichte der niederländischen Öffentlichkeitskirche im ganzen behandelt werden, sondern eine Akzentuierung auf die politische Bedeutung und soziale Stellung der Prädikanten stattfinden. Methodologisch knüpfe ich an die Verfassungs- und Sozialgeschichte an, wie sie durch Studien von Volker Press über den frühmodernen Adel und von Winfried Schulze über die ständische Gesellschaft im allgemeinen und den Bauernstand im besonderen entwickelt worden ist8. Wie entstand eine calvinistische Pfarrerschaft seit der Mitte des 16. Jahrhunderts? Was läßt sich über Prozesse der Rekrutierung, der Ausbildung und Professionalisierung sagen? Wie waren die politischen Ambitionen der Geistlichen? Wie war die soziale Verfaßtheit des Pfarrerstandes? Wie ist seine Stellung innerhalb der Gesellschaftsordnung der entstehenden Republik zu beurteilen?

II. Die Prädikanten vor der Revolte Die kirchliche Revolte in den Niederlanden ging der politischen voraus9. Bereits in den 1520er Jahren hatten sich lutherische Ansätze in Antwerpen und in einzelnen anderen Städten gezeigt10. Seit den 1550er Jahren wuchs die Zahl der calvinistischen und täuferischen Untergrundgemeinden. Guido Marnef hat in seinen Studien zum frühen Protestantismus in Antwerpen nachgewiesen, daß sich der Calvinismus in dieser Zeit zur beherrschenden Form der protestantischen Religiosität entwickelte11. Das Zentrum des Schweizer Bekenntnisses in den Niederlanden lag zu dieser Zeit in den Südprovinzen; für Holland sind vor 1566 kaum Spuren zu finden12. Für diese frühe Zeit kann kaum von einer festen sozialen Gruppe der calvinistischen Prädikanten gesprochen werden. Nur ihre Funktion, nämlich die Betreuung von Untergrundgemeinden, weist eine Signifikanz auf. Dagegen waren ihre Abstammung, ihr beruflicher Werdegang und die jeweilige Form der ___________ 8

Volker Press, Adel im Alten Reich. Gesammelte Vorträge und Aufsätze, hrsg. v. Franz Brendle/Anton Schindling, Tübingen 1998; Winfried Schulze, Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1980; ders. (Hrsg.), Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, München 1988. 9 Zur niederländischen Geschichte der Aufstandszeit: Simon Groenveld u.a. (Hrsg.), De kogel door de kerk? De Opstand in de Nederlanden 1559–1609, Zutphen 31991; Jonathan I. Israel, The Dutch Republic. Its Rise, Greatness, and Fall, 1477–1806, Oxford 1995; Geoffrey Parker, Der Aufstand der Niederlande. Von der Herrschaft der Spanier zur Gründung der Niederländischen Republik 1549–1609, München 1979. 10 Jacob Loosjes, Geschiedenis der Luthersche Kerk in de Nederlanden, Den Haag 1921; Caspar Ch. G. Visser, Hollands Lutheraner, Erlangen 1991 (ndl. 1983). 11 Guido Marnef, Antwerpen in reformatietijd. Ondergronds protestantisme in een internationale handelsmetropool, 1550–1577, 2 Bde., Diss. Löwen 1991, 93. 12 Darauf verweisen Vis/Woltjer, De predikanten in Holland in 1566, 20.

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Amtsausübung sehr verschieden. Die Hinwendung zur geistlichen Tätigkeit in der Denomination der Schweizer Lehre setzte zumeist einen Bekenntniswechsel voraus: Die Mehrzahl der Prädikanten war in katholischen Familien aufgewachsen. Ein kleinerer Teil stammte von lutherischen Eltern aus dem Hl. Römischen Reich ab. Die Prädikanten teilten sich in eine theologisch vorgebildete Gruppe, die zumeist früher eine katholische Pfründe innegehabt hatte, und eine andere, die sich aus der Lehrerschaft oder dem Handwerk rekrutierte13. Der erste bekannte Antwerpener Prädikant, der 1551 hingerichtete Jan van Ostende, war vor seinem Eintritt ins geistliche Amt Teppichweber gewesen. Sein Nachfolger, Gaspar van der Heyden, hatte zuvor als Schuhmachergeselle gearbeitet14. Angesicht des starken Verfolgungsdrucks durch die habsburgischen Behörden waren die calvinistischen Prädikanten zu einem Leben im Untergrund gezwungen. Selten wirkte ein Geistlicher länger als ein Jahr in einer Gemeinde, wobei er mehrfach seine Wohnung wechselte15. Mehr noch als für das Reich, wo sich bald ein calvinistisches Landeskirchentum ausbildete, galt für die Niederlande der Topos des „calvinistischen Wanderpredigers“. Der Prädikant im Untergrund hatte zwei Bezugspunkte: Zum einen seine Gemeinde, die sich auf Ankündigung eines verläßlichen Boten stets an verschiedenen Orten zum Gottesdienst traf; zum anderen seine Amtsbrüder in anderen Gemeinden, vor allem in den wichtigen niederländischen Auslandsgemeinden in London, Emden oder Frankfurt am Main16. Eingebettet war er in eine europaweit agierende Gemeinschaft: Das internationale calvinistische Netzwerk17 reichte noch viel weiter: Nicht wenige niederländische Pfarrer waren an der Genfer Akademie oder der ___________ 13 Vgl. zu diesem Zeitabschnitt: Lieburg, Preachers between Inspiration and Instruction, 167–172. 14 Marnef, Antwerpen in reformatietijd, 95f. 15 Von den 29 calvinistischen Prädikanten in Antwerpen vor 1566 dienten 17 weniger als ein Jahr, 5 weitere weniger als zwei Jahre: Marnef, Antwerpen in reformatietijd, 100. 16 Raingard Eßer, Niederländische Exulanten im England des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, Berlin 1996; Robert van Roosbroeck, Emigranten. Nederlandse vluchtelingen in Duitsland (1550–1600), Löwen 1968; Heinz Schilling, Niederländische Exulanten im 16. Jahrhundert. Ihre Stellung im Sozialgefüge und im religiösen Leben deutscher und englischer Städte, Gütersloh 1972; Andrew Pettegree, Foreign Protestant Communities in Sixteenth Century London, Oxford 1986; ders., Emden and the Dutch revolt. Exile and the Development of Reformed Protestantism, Oxford 1992. 17 Zum calvinistischen Netzwerk in Europa: Johannes Arndt, Das Heilige Römische Reich und die Niederlande 1566–1648. Politisch-konfessionelle Verflechtung und Publizistik im Achtzigjährigen Krieg, Köln, Wien, Weimar 1998, 168–190; Ole Peter Grell, Merchants and Ministers. The Foundation of International Calvinism, in: Andrew Pettegree/Alastair C. Duke/Gillian Lewis (Hrsg.), Calvinism in Europe, 1540–1620, Cambridge 1994, 254–273.

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Universität Heidelberg ausgebildet worden18. Für den einzelnen Prädikanten bedeutete der Kontakt zu den Amtsbrüdern eine Stützung seiner Tätigkeit und einen organisatorischen Hintergrund, der für sein unstetes Arbeitsleben wichtig war. Eine öffentliche Wirksamkeit war während der frühen Phase nur selten möglich. Um wenig aufzufallen, teilten sich die Gemeinden in mehrere Gruppen. In Antwerpen gab es seit etwa 1557 16–18 Sektionen mit jeweils 8 bis 12 Mitgliedern, die der jeweilige Prädikant zu verschiedenen Zeiten versammelte19. Jedes Zusammentreffen bedeutete existentielle Gefahr für den Prediger und die Gläubigen, wenn nicht zuständige Magistratspersonen insgeheim mit der neuen religiösen Bewegung sympathisierten und „wegschauten“. Auf heimliche Duldung konnten die Calvinisten jedoch nicht sicher vertrauen. 1566 kulminierte der adlige Widerstand gegen die spanische Herrschaftsausübung in öffentlichen Protesten und einem Bildersturm, der große Teile der Niederlande durchzog20. Auch wo keine Gewalt angewandt wurde, sammelten sich Gläubige zu Gottesdiensten unter freiem Himmel, den sog. „Heckenpredigten“21. Der Calvinismus gewann erst jetzt den Charakter einer Massenbewegung. Die neue Situation bedeutete Vorteil und Nachteil für die Prädikanten: Einerseits entstanden neue Gemeinden, was die Basis der reformatorischen Bewegung stärkte; andererseits stieg die persönliche Gefahr für viele Prädikanten, weil sie fortan der Obrigkeit bekannt waren, die sie an die Spanier verraten konnte. Die Quellen, die Vis und Woltjer für Holland auswerteten, entstammten nicht nur späteren Dokumentationen und Historienschriften, sondern auch den Recherchen der Inquisition, z. B. des Bischofs Wilhelm Lindanus22. ___________ 18

Zur Genfer Akademie: Karin Maag, Seminary or University? The Genevan Academy and Reformed Higher Education, 1560–1620, Aldershot u.a. 1995. Zur Bedeutung der Kurpfalz und der Heidelberger Universität für die calvinistische Pfarrerausbildung: Eike Wolgast, Reformierte Konfession und Politik im 16. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der Kurpfalz im Reformationszeitalter, Heidelberg 1998. 19 Marnef, Antwerpen in reformatietijd, 97. 20 In den meisten niederländischsprachigen Gebieten wurden die Heiligenbilder zerstört oder aus den Kirchen entfernt, während die wallonischen Städte mehrheitlich den Ikonoklasmus abwehren konnten: Israel, The Dutch Republic, 146–154; Groenveld, De kogel door de kerk?, 95–98. Wichtige Ausnahme im Norden war Haarlem, wo der Magistrat die Kirchen für mehrere Wochen schloß und damit die Kunstschätze schützte: Joke Spaans, Haarlem na de reformatie. Stedelijke cultuur en kerklijk leven, 1577– 1620, Diss. Leiden 1989, 34f. 21 Vis/Woltjer, De predikanten in Holland in 1566, 24f. Zu Heckenpredigten und Ikonoklasmus auch: Phyllis Mack Crew, Calvinist Preaching and Iconoclasm in the Netherlands, 1544–1569, Cambridge 1978. 22 Vgl. Vis/Woltjer, De predikanten in Holland in 1566, 25–35. Vgl. zu Lindanus: Wilhelm Schmetz, Wilhelm van der Lindt (Wilhelmus Lindanus): Erster Bischof von Roermond (1525–1588). Ein Beitrag zur Kirchengeschichte des Niederrheins und der Niederlande im 16. Jahrhundert, Münster 1926.

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Die öffentliche Wirksamkeit der Prädikanten wurde schon Ende 1566 durch die Truppen der Generalstatthalterin Margarethe von Parma wieder beendet, bevor im August 1567 der Herzog von Alba mit seiner Armee in Brüssel erschien. Ludwig Pfandl formulierte in seiner Biographie über Philipp II. die Wirkung dieses Ereignisses mit den Worten: „Der Schwarm der kalvinistischen Prediger zerstiebt in alle Winde“23. Ein Teil der Prädikanten verließ die Niederlande in Richtung England oder Deutschland, ein anderer ging zurück in den Untergrund, wo er durch die folgenden Repressionen noch schwerer bedroht wurde als vor 1566. Wie vor Beginn des Aufstands wurden erneut Prädikanten von auswärts in die Niederlande geschickt oder berufen, darunter auch Adrian Saravia, der nach mehrjähriger Tätigkeit in England 1570/71 der Untergrundgemeinde im seeländischen Vlissingen als Prediger diente24.

III. Die Prädikanten und der Aufstand Am 1. April 1572 eroberten die Wassergeusen die Stadt Den Briel. In den folgenden Wochen trat die Mehrzahl der Städte in Holland und Seeland mehr oder weniger freiwillig zur Aufstandsbewegung über. Überall übertrugen die Geusen Kirchen an bestehende oder neu gegründete calvinistische Gemeinden. Für die Prädikanten, die aus dem Untergrund auftauchten oder aus dem Ausland zurückkehrten, boten sich plötzlich zahlreiche freie Stellen. Der Amsterdamer Regent Laurens J. Reael umschrieb die neue kirchliche Situation mit viel verwendeter biblischer Metaphorik: „Die Ernte ist reif, doch es gibt zu wenige Arbeiter“ (nach Matth. 9,37)25. Dieser erhebliche Pfarrermangel der frühen Jahre führte dazu, daß zahlreiche Interessenten am Amt auch ohne den Nachweis hinreichender Qualifikation akzeptiert werden mußten. Neben den akademisch gebildeten Volltheologen rekrutierten sich die Prädikanten weiterhin aus früheren katholischen Geistlichen. Deren formale Vorbildung wurde in der Regel nicht überprüft, wie im oben genannten Fall des Adrian Saravia. Die dritte Gruppe der reformierten ___________ 23

Zitat: Ludwig Pfandl, Philipp II. Gemälde eines Lebens und einer Zeit, München 1938, 426. 24 Nijenhuis, Adrianus Saravia, 33. 25 Schreiben Reaels an den Prädikanten Cornelis Cooltuyn aus dem Jahre 1578, nachdem Amsterdam zum Calvinismus übergetreten war: J. Hartog, Geschiedenis van de predikkunde en de evangelie-prediking in de protestantse kerk van Nederland, Utrecht 1861, 26, zitiert nach Groenhuis, De predikanten, 163. Vgl. zum Quellenwert von Reael: Vis/Woltjer, De predikanten in Holland in 1566, 24 Anm. 21. Der ständig wiederholte zeitgenössische Gebrauch der Metapher ist vielfach bezeugt: Vgl. Andrew Pettegree, Coming to Terms with Victory: The Upbuilding of a Calvinist Church in Holland, 1572–1590, in: Ders. u.a. (Hrsg.), Calvinism in Europe, 1540–1620, Cambridge u.a. 1994, 160–180, hier 163.

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Prediger wies keinen dieser Ausbildungsgänge auf. Amtskollegen, die teilweise bereits als Untergrundpfarrer tätig gewesen waren, wurden duitse klerken genannt. Der Begriff hatte nichts mit Deutschland zu tun, sondern damit, daß die Prädikanten keine Fremdsprachen, insbesondere kein Latein beherrschten26. Auch wenn die qualifizierten Amtsbrüder vielfach von einer Hebung des Ansehens ihres Berufsstandes durch eine bessere Ausbildung sprachen, so mußten sie auf eine langfristige Veränderung bauen. Der Mangel an theologischen und juristischen Funktionsträgern in der Republik war der Grund dafür, daß 1575 die Universität Leiden und 1585 die Hochschule Franeker gegründet wurden27. Zunächst zeigte sich ein erheblicher Unterschied zwischen den Kommunen, in denen funktionsfähige Gemeinden schon im Untergrund bestanden hatten, und den Regionen, wo die Prädikanten erst die gemeindlichen Grundstrukturen aufbauen mußten. Dies war nur zu bewältigen, indem sich die Geistlichen mittels ihrer überlokalen Zusammenschlüsse gegenseitig unterstützten. In den sog. „Klassen“ verbanden sich mehrere Prädikanten und Kirchenvorstandsmitglieder in kollegialer Form. Die Klassen waren während der Aufbauphase der calvinistischen Kirche in den Niederlanden die eigentlichen tragenden Organisationen. Sie tagten durchschnittlich drei oder vier Mal im Jahr, im Gegensatz zu den Synoden der Provinzen, die nur im Abstand von mehreren Jahren zusammentraten28. Die Dordrechter Synode von 1574 übertrug den Klassen in Holland die Kompetenz, Pfarrer auszubilden und zu prüfen sowie Geistliche in Pfarrstellen einzuweisen29. Von Anfang an wurde auf eine kirchliche Organisationsstruktur von unten nach oben hingearbeitet. Wir würden dies heute „Subsidiaritätsprinzip“ nennen: Was auf der Ebene der einzelnen Gemeinde entschieden werden konnte, mußte nicht höhere Gremien belasten. Nur wenn im Presbyterium Streit entstand, entschied die Klasse. Meinungsverschiedenheiten der Klassenkonvente wurden auf der Provinzialsynode geschlichtet30. Die Prädikanten der reformier___________ 26 Sprachen die Akademiker unter den Theologen über diese Gruppe, nannten sie sie auch „idiotae“: Deursen, Bavianen en slijkgeusen, 35. 27 Vgl. zum Mangel an geistlichen Fachkräften: Groenhuis, De predikanten, 164f. Zu Leiden: Henrike L. Clotz, Hochschule für Holland. Die Universität Leiden im Spannungsfeld zwischen Provinz, Stadt und Kirche, 1575–1619, Stuttgart 1998, 176–179. Zu Franeker: G. Th. Jensma/F. R. H. Smit/F. Westra (Hrsg.), Universiteit te Franeker, 1585–1811. Bijdragen tot de geschiedenis van de Friese hogeschool, Leeuwarden 1985. 28 Zur Kirchenorganisation 1581 in Kirchenprovinzen und Klassen: Nordholland (6 Klassen), Südholland (8 Klassen), Seeland (3 Klassen), Geldern (4 Klassen), Overijssel (5 Klassen), Friesland und Groningen (zusammen 4 Klassen): Groenhuis, De predikanten, 21f. 29 Lademacher, Die Niederlande. Politische Kultur zwischen Individualität und Anpassung, 244; Deursen, Bavianen en slijkgeusen, 6. 30 Nationalsynoden sollten alle drei Jahre zusammentreten. Tatsächlich haben sie nur 1578 in Dordrecht, 1581 in Middelburg, 1586 in Den Haag sowie 1618/19 in Dordrecht

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ten Kirche der Niederlande schöpften ihr politisches Eigenverständnis daraus, daß ihre Kirchenstruktur älter war als die Republik. Erst später sicherten sich die lokalen Magistrate ihr Mitbestimmungsrecht in kirchlichen Fragen, nicht ohne immer wieder auf politisch selbstbewußte Prediger zu stoßen. Die Klassen dehnten ihre Befugnisse allerdings weiter aus, indem sie ein Kontroll- und Visitationsrecht gegenüber allen Gemeinden in Anspruch nahmen. Dies wurde auch gegenüber Prädikanten angewandt, die schon im Amt waren und daher ihre Ernennung noch nicht der Entscheidung des Klassenkonvents verdankten. Schnell traten Konflikte auf. Die Klasse Den Briel beispielsweise wies während der Dordrechter Synode 1574 darauf hin, es seien in ihrem Gebiet einige Geistliche unterwegs, die keine Approbation besäßen31. Es gehörte zum festen Bestandteil eines Prozesses der Professionalisierung, daß die organisierten Berufsmitglieder Maßnahmen ergriffen, um Anwärter auf das Amt hinsichtlich ihrer Befähigung zu prüfen32. Auch sollte die geistliche Tätigkeit von Nichtmitgliedern erschwert oder ganz verboten werden. Dabei schwang stets der Vorwurf mit, ihre fachliche Eignung sei zu gering oder fehle völlig. So wundert es nicht, daß die duitse klerken seit dem frühen 17. Jahrhundert zu einem Randphänomen wurden33. Die wichtigste Aufgabe der calvinistischen Prädikanten lag in der Verkündigung des biblischen Wortes. Die Predigt wandte sich an jedes einzelne Gemeindemitglied: Die Kirchenreform sollte nicht bei einer organisatorischen Veränderung stehenbleiben, sondern zu einer Erneuerung der persönlichen Lebensführung, einer reformatio vitae führen. Dieser Gedanke hat für die Forschung über den frühen Calvinismus zur Begriffsbildung der sog. „Zweiten Reformation“ geführt und erhebliche Debatten ausgelöst. Heute ist stattdessen der

___________ stattgefunden. Später wurden während der gesamten Zeit der Republik keine Nationalsynoden mehr einberufen: Groenhuis, De predikanten, 23. 31 Frederic L. Rutgers, Acta van de Nederlandsche Synoden der zestiende eeuw, Utrecht 1889, 196, zitiert nach Deursen, Bavianen en slijkgeusen, 9. 32 Zum Prüfungsverfahren, das aus zwei Prüfungsabschnitten nach dem Studium und nach der Erstberufung (jeweils eine Predigt und ein Prüfungsgespräch in dogmatischen Grundfragen) bestand: Vgl. Clotz, Hochschule für Holland, 177; Dobbe, Requirements for Dutch Reformed Ministers, bes. 195–202. 33 Charles McClelland, Zur Professionalisierung der akademischen Berufe in Deutschland, in: Werner Conze/Jürgen Kocka (Hrsg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 1, Stuttgart 1985, 233–247. Auf längere Sicht setzten die Klassen ihre entscheidende Kompetenz hinsichtlich der Zugangskontrolle zum geistlichen Amt innerhalb des niederländischen Calvinismus durch. Zur Praxis der Marginalisierung der unstudierten Theologen: Lieburg, Preachers between Inspiration and Instruction, 175–180. Lieburg spricht immerhin noch von einigen Dutzend unstudierten Predigern im 17. Jahrhundert: Ebd., 179.

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Begriff der „reformierten Konfessionalisierung“ breit konsensfähig geworden34. Für die Prädikanten zeigte sich schnell das bekannte kirchliche Dilemma, daß der praktische Lebenswandel ihrer Gemeindemitglieder mehr oder weniger deutlich hinter den Normen zurückblieb, die von der Kanzel als verbindlich gepredigt wurden. Für diesen Umstand hatten die Schweizer Reformatoren, besonders Johannes Calvin, eine spürbare Kirchenzucht vorgesehen, um die Übertreter zunächst durch Mahnung, dann durch Anprangerung zu maßregeln und – wenn alles nichts half – vom Abendmahlsgenuß auszuschließen. Ein zweites Dilemma resultierte aus der spezifischen Geschichte der Niederlande: Da der Aufstand sich unter anderem am Glaubenszwang der spanischen Großmacht entzündet hatte, war die Bevölkerung gegen jede Form von Gewissenskontrolle sensibilisiert. Es bestand ein breiter Konsens, daß die erfolgreichen Aufständischen nicht ihren Sieg über Spanien und seine Inquisition gegen eine strenge Verhaltensaufsicht durch die neuen Prediger eintauschen wollten35. Zudem befanden sich die Calvinisten weiterhin in der Minderheit. Die „Hervormde Kerk“ in der niederländischen Republik war keine Staatskirche (wie die katholische im damaligen Frankreich und Spanien, die anglikanische Kirche in England oder die lutherischen Kirchen in Skandinavien), sondern eine eigenständige Institution mit bevorzugten Rechten. In der Forschung wird daher von einer „Öffentlichkeitskirche“ (publieke kerk) gesprochen. Wie Enno van Gelder nachwies, besaß die Kirche ein eigenständiges Innenleben, besonders in geistlicher und organisatorischer Hinsicht, unterlag aber einer staatlichen Aufsicht. Diese Aufsicht diente vor allem dem Zweck, die Akquisition politischer Kompetenzen durch die Geistlichkeit zu unterbinden36. Für den ___________ 34 Vgl. zur Debatte: Heinz Schilling, Die „Zweite Reformation“ als Kategorie der Geschichtswissenschaft, in: Ders. (Hrsg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der „Zweiten Reformation“, Gütersloh 1986, 387–437; Wilhelm H. Neuser, Die Erforschung der „Zweiten Reformation“ – eine wissenschaftliche Fehlentwicklung, in: Ebd., 379–386. – Zum weiteren Fortgang der Forschung: Heinz Schilling, Die Konfessionalisierung von Kirche, Staat und Gesellschaft. Profil, Leistung, Defizite und Perspektiven eines geschichtswissenschaftlichen Paradigmas, in: Wolfgang Reinhard/Heinz Schilling (Hrsg.), Die katholische Konfessionalisierung, Gütersloh 1995, 1–47. 35 Der Leidener Magistrat brachte dies ausdrücklich auf den Punkt, wenn er erklärte, daß er „eer de Spaensche inquisitie dan de Geneefsche discipline soude toelaten of sich onder eene synode te begeven“: zitiert nach Jan Briels, De Zuid-Nederlandse immigratie, 1572–1630, Haarlem 1978, 68. Zur spezifisch niederländischen Form des Antiklerikalismus: Heinz Schilling, „Afkeer van Domineesheerschappij“. Ein neuzeitlicher Typus des Antiklerikalismus, in: Peter A. Dykema/Heiko A. Oberman (Hrsg.), Anticlericalism in Late Medieval and Early Modern Europe, Leiden u.a. 1993, 655–668. 36 Zum Verhältnis von Kirche und Kommune: H. A. Enno van Gelder, Nederland geprotestantiseerd?, in: Tijdschrift voor Geschiedenis 81 (1968), 445–464, hier 455, zitiert nach Groenhuis, De predikanten, 13.

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Bürger bedeutete dies, daß er der Öffentlichkeitskirche beitreten konnte, dies aber nicht tun mußte. Es erstaunt, wenn Wiebe Bergsma betont, daß 1587 nicht mehr als 10% der Bevölkerung der reformierten Kirche angehört habe37. In der Republik waren nämlich künftig zwei unterschiedliche Grade der Zugehörigkeit zur calvinistischen Gemeinde zu beobachten: Die Vollmitgliedschaft der sog. lidmaten und die eingeschränkte Mitgliedschaft der sog. liefhebbers38. Die Vollmitglieder unterwarfen sich selbst der Kirchenzucht und wurden dafür zum reformierten Abendmahl zugelassen. Die liefhebbers gehörten auch zur Gemeinde, unterlagen aber nicht der Kirchenzucht. Sie besuchten die Gottesdienste, ohne am Abendmahl teilzunehmen. Die Kategorie der liefhebbers wurde später so weit ausgelegt, daß jeder Niederländer, der nicht aus Überzeugung dissentierte, sich darunter fassen lassen konnte und damit die vollen bürgerlichen Rechte besaß inklusive der Wählbarkeit und Berufbarkeit in öffentliche Ämter39. Die Schärfe der calvinistischen Kirchenzucht wird üblicherweise überschätzt: Keineswegs mußte die Mehrzahl der Niederländer ständig davor zittern, durch kirchliche Inquisitionsorgane belangt zu werden. Die calvinistische Kirchengerichtsbarkeit beschränkte sich vielmehr auf die Vollmitglieder40. Die Kirchenratsprotokolle weisen vor allem Verhandlungen über Fälle von Heterodoxie, von sexuellen Verfehlungen oder von Trunkenheit aus. Derartige Vergehen konnten auch in anderen Ländern Ermittlungen nach sich ziehen, allerdings dort durch weltliche Obrigkeiten41. Viele calvinistische Prädikanten trugen Bedenken, denjenigen, die sich ihrer Kirchenzucht entzogen, die Eheeinsegnung zu erteilen. Daher führte die Pro___________ 37 Wiebe Bergsma, Church, State and People, in: Karel Davids/Jan Lucassen (Hrsg.), A Miracle mirrored. The Dutch Republic in European Perspective, Cambridge 1995, 196–228, hier 216. Bergsma bezieht sich dabei auf Ludwig Jakob Rogier, Geschiedenis van het katholicisme in Noord-Nederland in de zestiende en zeventiende eeuw, 5 Bde., Amsterdam, Brüssel 31945, hier Bd. 1, 439. 38 Das dahinterstehende System analysierte erstmals Arie T. van Deursen, Bavianen en slijkgeusen, pas. 39 Zur Transformation der Kategorie der „liefhebbers“ seit der Mitte des 17. Jahrhunderts: Joke Spaans, Violent Dreams, Peaceful Coexistence. On the Absence of Religious Violence in the Dutch Republic, in: De zeventiende eeuw 18 (2002), H. 2, 149–166, hier 159. 40 Wiebe Bergsma, Church, State and People, in: Karel Davids/Jan Lucassen (Hrsg.), A Miracle mirrored. The Dutch Republic in European Perspective, Cambridge 1995, 196–228, hier 217. 41 Vgl. zur Praxis der Kirchenzucht in Amsterdam: Herman Roodenburg, Onder censure. De kerklijke tucht in de gereformeerde gemeente van Amsterdam, 1578–1700, Hilversum 1990; ders., Reformierte Kirchenzucht und Ehrenhandel. Das Amsterdamer Nachbarschaftsleben im 17. Jahrhundert, in: Heinz Schilling (Hrsg.), Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa, Berlin 1994, 129–151.

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vinz Holland bereits 1572 die Zivilehe ein. Die übrigen Provinzen folgten diesem Beispiel bald nach ihrem Eintritt in die Utrechter Union. Die Überredungskunst der säkularisierten Herrschaftseliten gegenüber der Kirche trug dazu bei, daß die liefhebbers schließlich doch einen kirchlichen Ehesegen erhalten konnten, wenn beide Brautleute getauft worden waren. Auch hinsichtlich der Taufe wurde bald pragmatisch verfahren: Die Prädikanten tauften alle Kinder, die zu ihnen gebracht wurden, unabhängig davon, welche konfessionellen und moralischen Qualitäten die Eltern aufwiesen42. Die Zivilehe hatte zudem den günstigen Nebeneffekt, daß auch die Angehörigen der übrigen, nur geduldeten Bekenntnisse rechtmäßige und vom Staat geschützte Ehen schließen konnten.

IV. Die Prädikanten in der Republik Der politische Konsolidierungsprozeß der niederländischen Republik vollzog sich während der 1590er Jahre durch die militärischen Erfolge des Prinzen Moritz von Oranien43. Seit dieser Zeit betraf der Krieg gegen Spanien im wesentlichen nur noch die Randgebiete südlich der großen Flüsse. In den übrigen Regionen entstanden friedliche, zivile Zustände, so daß sich das kirchliche Leben ohne Bedrohung von außen entwickeln konnte. Mit der militärischen stellte sich auch eine soziale Konsolidierung in der Republik ein. Die Dominanz des Hochadels der Südprovinzen spielte für die Utrechter Union keine Rolle mehr, seitdem vor allem Flandern und Brabant an die spanische Krone zurückgefallen waren. Der Adel des Nordens war keineswegs unbedeutend, doch führte die herausragende Stellung Hollands, das fast 60% des Steueraufkommens des Gesamtstaates leistete, auch zum bestimmenden Einfluß der besitz- und gewerbebürgerlichen Schichten in den 18 stimmberechtigten Städten der holländischen Ständeversammlung44. Hinter dem sozialhistorischen Sammelbegriff der „Re___________ 42 Lademacher, Die Niederlande. Politische Kultur zwischen Individualität und Anpassung, 240. 43 Zur territorialen Konsolidierung: Parker, Der Aufstand der Niederlande, 270–303; Groenveld, De kogel door de kerk?, 159–169; Israel, The Dutch Republic, 241–262. Vgl. zur entscheidenden Rolle des Prinzen Moritz für die der militärische Konsolidierung der Republik vgl. die neue Biographie von Arie T. van Deursen, Maurits van Nassau (1567–1625). De winnaar die faalde, Amsterdam 2000, 77–183. 44 Zur Sozialstruktur und politischen Stellung Hollands: Johannes Wierd Koopmans, De Staten van Holland en de Opstand. De ontwikkeling van hun functies en organisatie in de periode 1544–1588, Den Haag 1990; Simon Groenveld, Holland, das Haus Oranien und die anderen nordniederländischen Provinzen im 17. Jahrhundert. Neue Wege der Faktionenforschung, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 53 (1989), 92–116. – Zum holländischen Adel während der Republik: Hendrik F. K. van Nierop, Van Ridders tot Regenten. De Hollandse adel in de 16de en de eerste helft van de 17de eeuw, Dieven 1984.

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genten“ verbargen sich Kaufleute, Bankiers, Reeder und auch reiche Handwerker. Interessanterweise verkörperte Johan van Oldenbarnevelt diese Gruppe, obwohl er als Adliger eigentlich zur alten Elite gerechnet werden müßte45. Neben Adel und Regenten spielten die Juristen als Funktionselite eine ebenso wichtige Rolle wie in den deutschen Reichsstädten. Während Seeland eine ähnliche Sozialverfassung wie Holland aufwies, bewahrte sich der Adel in den übrigen fünf Provinzen einen größeren Einfluß. In Friesland waren zusätzlich auch die Inhaber großer Bauernhöfe politisch mitbestimmungsberechtigt. Eine Gesamtstudie zur Verfassungs- und Sozialgeschichte der Republik im Sinne der Fragestellung dieses Aufsatzes liegt allerdings bislang noch nicht vor46. Obwohl Wilhelm von Oranien und seine Parteigänger stets die konfessionelle Duldung verfochten hatten, obwohl die „Utrechter Union“ 1579 ausdrücklich den Artikel 13 über das freie Religionsexerzitium enthielt, wurde der öffentliche katholische Kult im Laufe der 1570er und frühen 1580er Jahre in der gesamten Republik verboten47. 1581 erging ein Erlaß in Holland und Seeland, durch den auch die katholische Privatmesse untersagt wurde. 1587 wurde dieses umfassende Kultverbot auf alle anderen Provinzen ausgedehnt, und Edikte der Generalstaaten von 1622, 1629, 1641 und 1649 wiederholten den Inhalt fast wörtlich48. Dieser Befund repräsentiert allerdings nur die rechtshistorische Seite und die offizielle Außendarstellung, die Durchsetzung der Edikte unterschied sich von Provinz zu Provinz und von Ort zu Ort stark. In den 1630er Jahren hing ein Drittel der Nordniederländer weiterhin der römischen Lehre an, wenn sie auch vorwiegend im Süden und in den großen Städten lebten. In derselben Weise, wie einst die calvinistischen Untergrundprädikanten ihre Glaubensgenossen in den Gemeinden versorgt hatten, so spendeten nun die katholischen Priester Sakramente, Trost und Segen. Zusammenstöße mit der Obrigkeit kamen vor, wuchsen sich jedoch nicht zu Gewalttaten aus: Wie in vielen frühmodernen Gesellschaften in Europa waren Oranier wie Regenten bereit, groß-

___________ 45 Zur Persönlichkeit und politischen Stellung Oldenbarnevelts: Jan den Tex, Oldenbarnevelt, 5 Bde., Haarlem 1960–1972. 46 Die Verfassungsgeschichte der Republik wird in der älteren Studie von Robert Fruin unter rechtshistorischem Blickwinkel untersucht: Robert Fruin, Geschiedenis der staatsinstellingen in Nederland tot aan den val der Republiek 1795, Den Haag 21922. 47 Simon Groenveld u.a. (Hrsg.), De kogel door de kerk? De Opstand in de Nederlanden 1559–1609, Zutphen 31991, 225f. 48 Horst Lademacher, Freiheit – Religion – Gewissen. Die Grenzen der religiösen Toleranz in der Republik, in: Ders./Simon Groenveld (Hrsg.), Krieg und Kultur. Die Rezeption von Krieg und Frieden in der Niederländischen Republik und im Deutschen Reich 1568–1648, Münster u.a. 1998, 179–209, hier 187.

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zügig zu sein, solange die öffentliche Ordnung nicht direkt herausgefordert wurde49. Der Stellenwert des Calvinismus in der Republik gehört zu den Streitthemen der Forschung. Die nationale Geschichtsschreibung eines Guillaume Groen van Prinsterer hatte im 19. Jahrhundert den Eindruck einer durch und durch calvinistischen Republik vermittelt50. Eine Relativierung dieser Grundannahme setzte sich erst im frühen 20. Jahrhundert durch, wobei die Studien von Pieter Geyl und besonders Ludwig Jakob Rogier mit der Betonung des Untergrundkatholizismus eine herausragende Rolle spielten. Nicht religiöse Überzeugung, sondern die Werbekraft der Diakonie habe die sozial schwachen Schichten für das neue Bekenntnis gewonnen. Die Reichen und die Ambitionierten seien durch die ausschließliche Vergabe von öffentlichen Ämtern an Calvinisten gefügig gemacht worden51. In milderem Licht erscheint der Prozeß des Übergangs in den Arbeiten von Enno van Gelder, der das Fehlen unmittelbaren Zwanges und die Option konfessioneller Unentschiedenheit hervorgehoben hat52. Die Vorstellung von einem verbindlichen calvinistischen Kirchentum lag in den Intentionen der radikalen Prädikanten begründet, die sich mit drei Punkten umschreiben lassen: 1. Die Prediger strebten die Durchsetzung persönlicher Glaubensfrömmigkeit in der gesamten Bevölkerung an. 2. Sie nahmen Einfluß auf das weltliche Regiment; im Extremfall förderten sie die Verschmelzung von Kirchengemeinde und Bürgergemeinde. 3. Ein darüber hinausgehendes Ziel betraf die Rückeroberung und Calvinisierung der Südprovinzen.53 ___________ 49

Zur Stellung des Katholizismus in der jungen Republik: Groenveld, De kogel door de kerk, 232–235; Jonathan I. Israel, The Dutch Republic. Its Rise, Greatness, and Fall, 1477–1806, Oxford 1995, 377–389. 50 Zur niederländischen Geschichtsschreibung: Pieter A. M. Geurts/Antoon E. M. Janssen (Hrsg.), Geschiedschrijving in Nederland, Bd. 1: Geschiedschrijvers; Bd. 2: Geschiedsbeoefening, Den Haag 1981. Vgl. speziell über Groen van Prinsterer: Rolf Hendrik Bremmer, Er staat geschreven! Er is geschied! Introductie tot het leven en werk van Groen van Prinsterer als getuigend historicus, Apeldoorn 1981. 51 Pieter Geyl, De protestantisering van Noord-Nederland. Handelingen van het Xe Vlaamsche Philologencongres, gehouden op 25–27 april 1930 te Antwerpen, in: Verzamelde opstellen Pieter Geyl, Bd. 1, Utrecht, Amsterdam 1978, 205–218; Ludwig Jakob Rogier, Geschiedenis van het katholicisme in Noord-Nederland in de zestiende en zeventiende eeuw, 5 Bde., Amsterdam, Brüssel 31945. 52 Gelder, Nederland geprotestantiseerd?, pas.; zur Forschungsentwicklung: Groenhuis, De predikanten, 14. 53 Vgl. zur Thematik der Kriegspropaganda: Johannes Arndt, Die Kriegspropaganda in den Niederlanden während des Achtzigjährigen Krieges gegen Spanien 1568–1648, in: Ronald G. Asch/Wulf Eckart Voß/Martin Wrede (Hrsg.), Frieden und Krieg in der

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Die Vorstellung von der „Öffentlichkeitskirche“ suggeriert eine innere Stabilität des Kräftegleichgewichts zwischen weltlicher und geistlicher Seite, das in Wirklichkeit ungefestigt war. Dasselbe galt für den politischen Verfassungskompromiß, der in jeder Generation einer neuen Bekräftigung bedurfte. Die Hoffnung Adrian Saravias und anderer Prädikanten auf eine komplette Theokratie mit dem Zusammenfallen von geistlicher und weltlicher Gewalt ist nirgendwo völlig verwirklicht worden. Wenn man allerdings die kurze Zeitspanne der radikalen Genter Republik oder die Anfangszeit des Calvinismus in Amsterdam betrachtet, dann war man von diesem Zustand nicht sehr weit entfernt. In Amsterdam wurde der Calvinismus für holländische Verhältnisse erst spät eingeführt, nämlich 1578, sechs Jahre nach dem Beginn der geusischen Landnahme. Nach der Ratswahl 1578 entstand das calvinistische Presbyterium, und die personellen Überschneidungen zwischen Magistrat und Ältesten sind verblüffend: Die Presbyter Adriaan Cromhout, Reynier van Neck, Reynier Cant waren zwischen 1578 und 1595 mehrfach Bürgermeister, während Hendrick van Marcke das Amt eines Oberkapitäns der Schützen innehatte. Bei institutionellem Nebeneinander von städtischer und kirchlicher Administration dominierte in beiden dasselbe personelle Netzwerk54. Für andere nordniederländische Städte konstatiert Gerrit Groenhuis denselben Befund. Von einer „Unterschichtenkirche“, wie in älteren Studien zu lesen, kann angesichts dieses Umstands keine Rede sein55. Homogenität innerhalb der Pfarrerschaft trat aus einem anderen Grund nicht so schnell ein: Die Eroberung Flanderns und Brabants durch die spanischen Truppen des Herzogs von Parma in den Jahren 1584 und 1585 führte zu einem Massenexodus von Protestanten, darunter auch von zahlreichen Geistlichen, in die Provinzen der Republik56. Diese Prädikanten, die von der eingesessenen Bevölkerung zuiderlingen genannt wurden, stellten bis ins 17. Jahrhundert hinein die Mehrheit der Pfarrer in den Nordprovinzen57. Als Exulanten repräsentierten sie nicht die Provinz, in der sie gerade wirkten, sondern stellten sich – ___________ Frühen Neuzeit. Die europäische Staatenordnung und die außereuropäische Welt, München 2001, 239–258. 54 Vgl. zur Personalunion von Rats- und Kirchenämtern in Amsterdam nach 1578: Rudolf Bartelt Evenhuis, Ook dat was Amsterdam. De kerk der hervorming in de gouden eeuw, 3 Bde., Amsterdam 1965–1971, hier Bd. 1, 98f., zitiert nach Groenhuis, De predikanten, 14f. 55 Groenhuis, De predikanten, 178. 56 Zur Massenimmigration der Calvinisten aus dem Süden in die Republik: Jan Briels, Zuid-Nederlanders in de republiek 1572–1630. Een demografische en cultuurhistorische studie, Sint-Niklaas 1985. 57 In manchen Städten stammte auch ein beträchtlicher Bevölkerungsteil aus dem Süden, vor allem in Leiden (mehr als 60%) und in Haarlem (die Hälfte): Huib L. Ph. Leeuwenberg, De religie in de Republiek omstreeks 1609, in: Groenveld, De kogel door de kerk?, 223.

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im Gegensatz zu den Regenten – als Teil einer überregionalen Elite dar, die in Kategorien der Gesamtniederlande dachte. Viele dieser Geistlichen waren bei den politisch gemäßigten Gemeindemitgliedern unbeliebt, da sie wesentlich radikalere konfessionspolitische Anschauungen vertraten als ihre aus den Nordprovinzen stammenden Amtsbrüder58. Die Brüche in der Zusammensetzung der politischen Eliten und der Pfarrerschaft führten gerade während der Zeit des Waffenstillstands mit Spanien (1609–1621) zu einer schweren Zerreißprobe für die junge Republik. Ausgangspunkt war ein dogmatischer Disput zwischen den beiden Leidener Theologen und Professoren Jacobus Arminius und Franciscus Gomarus über Fragen der Rechtfertigungslehre, der an dieser Stelle nicht näher ausgeführt werden kann59. Es war für die Dimensionen des Konflikts bedeutsam, daß die damalige öffentliche Meinung, so wie sie sich in Büchern, Zeitungen, Traktaten, Bildflugblättern, im gesprochenen Wort von der Kanzel oder auf den Marktplätzen artikulierte, ganz wesentlich von Prädikanten getragen wurde60. Aus Sicht der Regenten wie auch der gemäßigten intellektuellen Öffentlichkeit war diese Dominanz der radikalen Ansichten ein Ärgernis. Der Dichter und Historiograph Pieter Cornelisz. Hooft schrieb darüber: „Der meiste Aufruhr in der Christenheit wird auf der Kanzel entzündet“61. Es war zunächst nicht ausgemacht, daß sich die gegensätzlichen politischen Strömungen der Oranierpartei des Prinzen Moritz und der Regentenpartei des Johan van Oldenbarnevelt mit jeweils einer der theologischen Disputationsparteien vereinigen würden. Die schnellen und gewaltsamen Aktionen, die Moritz von Oranien 1618 ergriff und die in der Hinrichtung Oldenbarnevelts gipfelten, verdunkeln zwar bis heute seinen historischen Nachruhm, verhinderten aber einen Bürgerkrieg62. Für die Prädikanten fiel die Entscheidung erst im Vorfeld ___________ 58 Die Auseinandersetzungen darüber verliefen an zwei Fronten: Zum einen zwischen verschiedenen Lagern der Prädikanten, zum anderen zwischen den radikalen Pfarrern und den gemäßigten Magistratsmitgliedern: Vgl. Groenhuis, De predikanten, 112. 59 Vgl. zu den Lehrunterschieden und zur Entwicklung der Kontroverse: Michael Abram Hakkenberg, The Predestination Controversy in the Netherlands 1600–1620, Diss. Berkeley 1989. 60 Zur Rolle der Prediger für die Druckpublizistik: Lademacher, Freiheit – Religion – Gewissen, 204; ders., Die Niederlande. Politische Kultur zwischen Individualität und Anpassung, 246–248. – Einige Prediger betätigten sich auch als Dichter, sowohl für geistliche Lieder als auch für weltliche Gedichte: Els Stronks, Vanity He Fear. SelfImaging and the Dutch Minister-Poet, in: Dutch Crossing 23 (1999), H. 2, 238–254. 61 Zitat: Pieter Cornelisz. Hooft, Leringen van Staat. Inleiding en keuze door Herman de la Fontaine Verwey, Den Haag 1961, 59, zitiert nach Groenhuis, De predikanten, 114. 62 Vgl. zur Zuspitzung des Konflikts zwischen Moritz von Oranien und Johan van Oldenbarnevelt: Deursen, Maurits van Nassau (1567–1625), 263–278. Vgl. auch den Katalog zur Moritz-Ausstellung von Kees Zandvliet (Hrsg.), Maurits, Prins van Oranje.

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der Dordrechter Synode. Die remonstrantische Minderheit wurde nur pro forma angehört, ehe der Bannspruch über sie erging. Die kontraremonstrantischen Lehrentscheidungen – in den sog. „fünf Artikeln“ zusammengefaßt – fanden den Beifall des Statthalters Moritz und der Ständevertretungen und bildeten seitdem die Grundlage des calvinistischen Lehrgebäudes in ganz Europa63. Nach Ende der Nationalsynode wurden die „fünf Artikel“ allen Prädikanten der Republik zur obligatorischen Unterschrift vorgelegt: Von den 1100 Prädikanten unterzeichneten 900, während die meisten der ca. 200 Remonstranten die Unterschrift verweigerten, ihre Pfarre verließen und zum großen Teil emigrierten64.

V. Selbstbild, Fremdbild und soziale Stellung der Prädikanten Auch wenn die Tätigkeit der niederländischen Prädikanten politisch von Bedeutung war, so verstanden sie sich selbst in anderer Weise. Ihnen standen die alttestamentlichen Propheten vor Augen, die in göttlichem Auftrag auf ihre Gesellschaft einwirken sollten, um sie durch Predigt zur Abkehr von falschen Göttern und zur Rückkehr zum einen wahren Gott zu bewegen. Wie einige andere Nationen im Laufe der Neuzeit konstruierten sich die Niederlande als ein „neues Israel“: Die Abkehr vom spanischen König wurde als das niederländische Äquivalent zum israelitischen Auszug aus Ägypten gedeutet65. Die biblischen Vorbilder förderten ein Denken in Schwarz-Weiß-Kategorien und eine reduzierte Achtung vor den weltlichen Obrigkeiten, die besonders im innercalvinistischen Lehrstreit nach 1610 je nach Perspektive als falsches Regiment wahrgenommen werden konnten. Hatten nicht auch die biblischen Propheten selbst vor Königen kein Blatt vor den Mund genommen, wenn sie einen göttlichen Auftrag ausführten? ___________ Tentoonstelling van het Rijksmuseum Amsterdam, 1 december 2000–18 maart 2001, Zwolle 2000, 26–30. 63 Zur Synode von Dordrecht: Peter Y. de Jong (Hrsg.), Crisis in the Reformed Churches: Essays in commencement of the great Synod of Dort, 1618–1619, Grand Rapids 1968; S. van der Linde, De Dordtse synode, 1619–1969, in: Nederlands Theologisch Tijdschrift 23 (1969), 339–349; Doede Nauta/Jan Pieter van Dooren (Hrsg.), De nationale synode van Dordrecht 1578. Gereformeerden uit de Noordelijke en de Zuidelijke Nederlanden bijeen, Amsterdam 1978; Willem van 't Spijker u.a. (Hrsg.), De Synode van Dordrecht in 1618 en 1619, Houten 1987. 64 Lademacher, Freiheit – Religion – Gewissen, 205f. 65 Zur Republik als „neues Israel“: Gerrit Groenhuis, Calvinism and National Consciousness. The Dutch Republic as the New Israel, in: Alastair C. Duke/Coenraad A. Tamse (Hrsg.), Church and State since the Reformation, Den Haag 1981, 118–133. Andere Interpretationen assoziierten Philipp II. mit König Saul oder Goliath: Groenhuis, De predikanten, 77–102, bes. 79.

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Das Fremdbild der Prediger, ihr Ruf bei den Gemeindemitgliedern, war nur in der Theorie hervorragend. Höhere Bildung, enger Kontakt zu den Mächtigen und ein prominenter Platz in der Öffentlichkeit durch die Verlautbarungen in Wort und Schrift verschafften dem Prediger einen Vorrang und Vertrauensvorschuß, den er in der Praxis des Alltags immer aufs neue bestätigen mußte. Die Gemeindemitglieder machten zwischen dem Prädikantenideal und dem real vorhandenen Prediger einen klaren Unterschied. Ein Geistlicher sollte nicht nur in seinem Amt brillieren, sondern im Rahmen eines frommen Lebenswandels ebenso auf das Betreiben von Handelsgeschäften wie auf Jagd, Tanz und Glückspiel verzichten66. Es wundert nicht, wenn die Prädikanten in der Realität nur teilweise den Erwartungen der Öffentlichkeit im allgemeinen und ihrer Gemeindemitglieder im besonderen entsprachen. Ebenso wie in katholischen und lutherischen Visitationsberichten in Deutschland finden sich auch in niederländischen Kirchenakten Klagen über ungebildete oder trunksüchtige Amtsträger67. Es ist bei diesen Berichten zu unterscheiden zwischen moralisch bedingten Vorwürfen, die von ansonsten unvoreingenommenen Beobachtern erhoben wurden, und den gehäuften Klagen während des innercalvinistischen Lehrstreits im Vorfeld der Dordrechter Synode: Damals warfen sich die Protagonisten der beiden Lager gegenseitig mangelnde Eignung für das Amt vor. Johannes Picardt, Prädikant in Coevorden, brachte 1650 ein Buch über den Pfarrerstand heraus, in dem er eine weit größere Anerkennung gerade durch den „kleinen Mann“ einforderte als die von ihm beobachtete. Den Mangel an Ehrfurcht führte Picardt allerdings nicht auf moralische Defizite der Amtsbrüder zurück, sondern auf ihre materielle Bedürftigkeit. In Abwendung von der Vorstellung der Imitatio Christi sollte ein Prädikant – so Picardt – materiell angemessen ausgestattet werden, damit er seine Stellung im Vergleich mit anderen Akademikern wahrnehmen könne68. Grund für die ärmliche Lage der Prädikanten war für Picardt die Einziehung des Kirchengutes durch die weltlichen Obrigkeiten: Picardt formulierte: „Sie [= die Regenten] verschlingen das Fleisch und Blut der Diener Gottes und springen mit Kirchen- und Pfarreigütern um wie die Katze mit der Maus“69. Wenn die Obrigkeiten alles herausge___________ 66 Bei dem Anforderungskatalog konnten sich Presbyterien und Amtsbrüder auf Vorgaben Calvins in seiner Institutio sowie auf die herrschende Praxis in Genf berufen: Deursen, Bavianen en slijkgeusen, 71. 67 Vgl. die Beispiele bei Groenhuis, De predikanten, 109f. 68 Johannes Picardt, Den Prediger, Dat is: Grondige verklaringe en Beweijs, genomen uyt Goddelycke, Kerckelycke ende Prophane Schriften: van de Authoriteit, waerdicheyt en uytnementheyt des H. Predigh-Ampts: Boven alle hoogheden, Digniteyten en Officien deser Werelt, Zwolle 1650, zitiert nach Groenhuis, De predikanten, 124–129. 69 Picardt, Den Prediger, 88, zitiert nach Groenhuis, De predikanten, 126.

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ben würden, was die alte Kirche vor der Reformation besessen habe, dann wäre der Mißstand schnell behoben. In Wirklichkeit war die materielle Lage der meisten Pfarrer keineswegs kärglich. Die Jahreseinkünfte setzten sich aus der Dotierung ihrer Pfarrei mit altem Kirchengut und aus der Bezuschussung durch die jeweilige Obrigkeit zusammen. Dabei konnten merkliche Unterschiede vorkommen. 1594 hatte die holländische Synode für Pfarrer auf dem Lande ein jährliches Mindestgehalt von 350 fl. festgesetzt. 1623 wurde dieser Satz auf 500 fl. angehoben70. Stadtpfarrer dagegen verdienten erheblich mehr, wobei die Gehaltschancen mit der Größe der Kommune wuchsen. Theologische Persönlichkeiten mit überregionaler Bedeutung – wie etwa der aus Leeuwarden kommende Präsident der Dordrechter Synode, Johan Bogerman – erhielten 900 fl. oder mehr71. Die Einkünfte stiegen im Laufe des 17. Jahrhunderts durchschnittlich um die Hälfte an. Als einziger öffentlicher Berufsstand erhielten Prädikanten nach dem Ausscheiden aus dem Dienst ein Ruhegehalt; es betrug im ausgehenden 16. Jahrhundert 200 fl. jährlich72. Damit gehörte der Pfarrerstand nicht nur materiell, sondern auch sozial zu den gehobenen Ständen in der Republik. Arie T. van Deursen und Gerrit Groenhuis haben in ihren Studien darauf aufmerksam gemacht, daß Prädikanten ihre Ehepartnerinnen zumeist im Bildungsbürgertum, aber auch in der Regentenschicht suchten. Es ist allerdings überliefert, daß sie aus Sicht der Kaufmannschaft keine erstklassigen Heiratskandidaten waren. Für zahlreiche Eheschließungen mit Regententöchtern wird darauf hingewiesen, daß die betreffende Kaufmannsfamilie nicht mehr zur vornehmsten Garde der Stadt gehörte oder die fragliche Braut vorgerückten Alters oder von unterdurchschnittlicher Attraktivität war73. Verbreitet waren Ehen von jungen Prädikanten mit Pfarrerstöchtern. Söhne von Prädikanten entschieden sich vielfach selbst für die geistliche Laufbahn, Phänomene, die auch aus der protestantischen Pfarrerschaft in den Reichsterritorien bekannt sind74.

___________ 70 Deursen, Bavianen en slijkgeusen, 72f. Vgl. zur sozialen Lage der Prädikanten auch Simon Groenveld/Huib L. P. Leeuwenberg (Hrsg.), De bruid in de schuit. De consolidatie van de Republiek 1609–1650, Zutphen 1985, 209. 71 Groenhuis, De predikanten, 134f. 72 Deursen, Bavianen en slijkgeusen, 72. 73 Groenhuis, De predikanten, 179. 74 Vgl. Schorn-Schütte, Evangelische Geistlichkeit in der Frühneuzeit, pas.

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VI. Abschließende Thesen 1. Im Zuge des niederländischen Aufstands gegen Spanien bildete sich ein calvinistischer Prädikantenstand als neue soziale Gruppe mit überprovinzialer Orientierung heraus. Die Prädikanten rekurrierten nicht nur auf ihr Prophetenamt im Sinne des Alten Testaments, sondern schöpften zusätzliches Selbstbewußtsein aus ihrer historischen Rolle im Vorfeld des Aufstands. 2. Die eigene Gemeinde (mit ihren Amtsträgern) und der Klassenverband stellten die zentralen sozialen Anknüpfungspunkte der Geistlichen dar. Die Klassenkonvente gewährleisteten – mehr noch als die relativ seltenen Provinzialsynoden – die praktische Kommunikation innerhalb der reformierten Kirche. Auch sorgten die Klassen für die Rekrutierung und Professionalisierung des Prädikantenstandes. 3. Auch wenn manche Pfarrer sich nicht hoch genug anerkannt und besoldet empfanden, so gehörte ihre soziale Gruppe zum oberen Mittelstand in der Republik. Nicht nur am Beispiel Adrian Saravias zeigte sich die Durchlässigkeit zwischen Pfarramt und Professorenamt. Bei einem vorwiegend bildungsbürgerlichen Konnubium waren Verbindungen zur Schicht der Regenten keine Seltenheit. 4. Der Preis für die herausgehobene Stellung war der erzwungene Verzicht auf eine radikale theokratische Veränderung der gesellschaftlichen Grundordnung, die zwar von manchen Prädikanten befürwortet wurde, jedoch bei den späthumanistischen Eliten in der Republik keine nennenswerte Unterstützung fand.

Katholische Erneuerung „im Hause des Islams“: Missionsbischöfe in Türkisch-Ungarn im 17. Jahrhundert István György Tóth † Die Missionsbischöfe in Türkisch-Ungarn stellen ein bisher unbekanntes Kapitel der katholischen Erneuerung auf dem Gebiet des Osmanischen Reiches, also „im Hause des Islams“, dar. Im 17. Jahrhundert existierten in Türkisch-Ungarn zwei verschiedene katholische Episkopate: die von den Habsburger-Kaisern ernannten Diözesenbischöfe durften das türkische Huldigungsgebiet nicht betreten, sie verwalteten ihre Gläubigen aus der Ferne durch Briefe, Emissäre und Vikare. Diese ungarischen Bischöfe betrachteten – im scharfen Widerspruch zur Auffassung des Heiligen Stuhles – die eroberten Teile des Königreichs Ungarn nur als vorübergehend besetzte Gebiete ihrer ungarischen Diözesen. Rom entsandte aber für dasselbe Gebiet auch Missionsbischöfe, die die Ansprüche der Diözesanbischöfe nicht anerkannten, im türkischen Huldigungsgebiet das Bischofsamt ausübten und die Katholiken in Türkisch-Ungarn betreuten. Die kirchliche Verwaltung dieses Gebietes an der Grenze zweier Reiche widerspiegelte die einzigartige politische Lage Türkisch-Ungarns, da dieses Gebiet ebenso in Wien wie in Konstantinopel als ein Teil des eigenen Reiches betrachtet wurde. Die Tätigkeit der Missionsbischöfe in TürkischUngarn stellt ein wichtiges, bisher kaum erforschtes Kapitel in der Geschichte der katholischen Erneuerung in den Gebieten des Islams dar. Ihre Rolle soll im folgenden anhand von größtenteils unbekannten Dokumenten aus dem Archiv der römischen Kongregation „de propaganda fide“ beleuchtet werden1. ___________ 1

Die Ausgabe der römischen Dokumente über die ungarischen Missionen, der wichtigsten Quellen für diese Studie: Litterae missionariorum de Hungaria et Transylvania, 1572–1717, I-II, hrsg. v. István György Tóth, Roma 2003 (III-IV im Druck, Roma 2005). Joachim Bahlcke, Ungarischer Episkopat und österreichische Monarchie. Von einer Partnerschaft zur Konfrontation (1686–1790), Habilitationschrift, Leipzig 2001, im Druck, mit weiterführender Literatur; István György Tóth (Hrsg.), Geschichte Ungarns, Budapest 2005, über die katholische Erneuerung: 288–315, Bibliographie: ebenda, 860–863; Heinz Schilling, Das konfessionelle Europa. Die Konfessionalisierung der europäischen Länder seit Mitte des 16. Jahrhunderts und ihre Folgen für Kirche, Staat, Gesellschaft und Kultur, in: Joachim Bahlcke/Arno Strohmeyer (Hrsg.), Konfessionalisierung in Ostmitteleuropa. Wirkungen des religiösen Wandels im 16. und 17. Jahrhundert in Staat, Gesellschaft und Kultur, Stuttgart 1999 (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 7), 13–77 mit weiterführender Literatur; Ferenc

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Kardinal Péter Pázmány, die herausragendste Gestalt der ungarischen katholischen Erneuerung, Kirchenorganisator und bester ungarischer Schriftsteller des Barock, avancierte vom Jesuiten zum Erzbischof von Gran, was uns leicht vergessen läßt, daß die Mitglieder des Jesuitenordens – bis auf einige Sonderfälle – kein Bischofsamt bekleiden durften. So konnten die jesuitischen Missionen trotz ihrer wichtigen Tätigkeit in Türkisch-Ungarn den Gläubigen nicht mit Missionsbischöfen beistehen2. Auch der Paulinerorden hatte keine missionarisch tätigen Bischöfe, obwohl dieser einzige in Ungarn gegründete Orden noch am Anfang des 17. Jahrhunderts in der Missionsarbeit eine herausragende Position eingenommen hatte: Viele Pauliner christianisierten in Ungarn – und hatten dabei sogar manchmal ihr Leben geopfert. Ágoston Benkovich wurde nach jahrzehntelanger Missionsarbeit „verbannter“ Bischof von Großwardein, und schließlich – nachdem die kaiserlichen Truppen seinen Sitz befreit hatten – der auch ebenda residierende Bischof. Márton Borkovich, General der Pauliner, späterer Bischof von Zagreb (Agram), schenkte der Ordensmission besondere Aufmerksamkeit, obwohl er selbst auch kein Missionsbischof war. Ein weiterer Ordensbruder der Pauliner, Graf László Nádasdy, korrespondierte oft mit der für die Missionen zuständigen apostolischen Behörde, zeigte doch die verwüstete und heruntergekommene Diözese von Csanád, die er 1710 übernahm, mit einem Missionsgebiet vergleichbare Zustände – einen wahren Missionar stellte aber auch dieser Bischof nicht dar3. Die Missionen der Pauliner waren im 17. Jahrhundert ___________ Szakály, Türkenherrschaft und Reformation in Ungarn um die Mitte des 16. Jh., in: Études historiques hongroises, hrsg. v. Ferenc Glatz, II, Budapest 1985, 437–459. Ein guter Überblick: Olivier Chaline, La reconquête catholique en Europe centrale, Paris 1998. 2 Heinz Schilling, Confessionalism and the Rise of Religious and Cultural Frontiers in Early Modern Europe, in: Eszter Andor/István György Tóth (Hrsg.), Frontiers of Faith. Religious Exchange and the Constitution of Religious Identities 1400–1750, Budapest 2001, 22–24; István György Tóth, Politique et religion dans la Hongrie du XVIIe siècle, Paris 2004, 13–58. Für einen Überblick vgl. Robert Bireley, The refashioning of catholicism, 1540–1700, Washington 1999, 45–69 mit reicher Bibliographie; Hermann Tüchle, Acta SC de Propaganda Fide Germaniam spectantia. Die Prothokolle der Propagandakongregation zu deutschen Angelegenheiten, 1622–1649, Paderborn 1962, 1–17. Über die Rolle der Propaganda-Kongregation mit aktueller Bibliographie: Giovanni Pizzorusso, Agli antipodi di Babele: Propaganda Fide tra immagine cosmopolita e orizzonti romani (XVII-XIX secolo), Roma, la città del papa. Vita civile e religiosa dal giubileo de Bonifacio VIII al giubileo di papa Wojtyla, Luigi Fiorani-Adriano Prosperi (dir.), (Storia d'Italia. Annali 16.), Torino 2000, 479–518. 3 Kálmán Juhász, Das Tschanad-Temesvarer Bistum während der Türkenherrschaft (1552–1699). Untergang der abendländisch-christlichen Kultur im Banat, Dülmen 1938, 6–38, 200–241; idem, Laien im Dienst der Seelsorge während der Türkenherrschaft in Ungarn, Münster 1960, 26–84; Heinz Schilling, Konfessionalisierung und Formierung eines internationalen Systems während der frühen Neuzeit, in: Archiv für Reformationsgeschichte, Sonderband, 1993, 591–613; Joachim Bahlcke, „Bischöfe der Ungari-

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nicht in Türkisch-Ungarn, sondern in den protestantischen Regionen des habsburgischen Ungarns tätig, wo die Bischöfe trotz der zerrütteten katholischen Kirchenorganisation zumindest im Prinzip in ihren Diözesen residierten – aus diesem Grund finden wir auch keine Missionsbischöfe der Pauliner vor4. Das Konzil von Trient (1545–1563), das das Leben der katholischen Kirche zu Mitte des 16. Jahrhunderts revolutionär erneuerte und für Jahrhunderte regulierte, hatte der Bischofswürde große Bedeutung beigemessen und hatte die Bischöfe ins Zentrum der katholischen Reform gestellt. Das Konzil verpflichtete die Bischöfe, in ihren Diözesen zu residieren, und nur entsprechend ausgebildete Männer im vorgeschriebenen Alter durften zu Bischöfen geweiht werden. Diese Verordnung diente ebenso der Festigung der Position der Bischöfe als zentrale Figuren der katholischen Reform wie dem entschlossenen Auftritt gegen die im späten Mittelalter weitverbreitete Häufung von Bischofsämtern in einer Hand. Die wichtigsten Verordnungen des Konzils bedurften des konsequenten Auftritts der residierenden, ausgebildeten, sich auf ihre Gläubigen konzentrierenden Bischöfe. Das Konzil von Trient schrieb den Bischöfen vor, Seminare für die Priesterschaft der Diözese zur Sicherung des Nachwuchses zu organisieren, die Pfarrer und Pfarreien regelmäßig zu visitieren und für die Pfarrer periodisch Diözesansynoden einzuberufen. Diese Verordnungen machten die Bischöfe zu zentralen Gestalten der Reformbewegung.

I. Die Bischöfe der osmanischen Wilayets In der katholischen Kirche ist die Präsenz eines Bischofs außerordentlich wichtig, aus mehreren Gründen sogar unentbehrlich, denn viele Rechte gebühren nur Bischöfen: Ein Vikar kann zwar die Diözese verwalten und die dort tätigen Pfarrer leiten, aber nur ein konsekrierter Bischof hat das Recht, das Sakrament der Firmung zu spenden, Kirchen, Altare, Kelche und Öl zu segnen, nur er darf von den schwereren Sünden freisprechen und am wichtigsten: nur ein geweihter Bischof hat das Recht, Priester zu weihen. Für die von den Osmanen besetzten Diözesen ernannte der Kaiser als ungarischer König auch nach der türkischen Eroberung Bischöfe, da aber diese ihre Gläubigen nicht aufsuchten, ja nicht aufsuchen konnten, wurden sie vom Papst in ihrem Amt nicht bestätigt und so wurden sie auch nicht geweiht. Sie konnten die bischöflichen Einnahmen – falls vorhanden – beziehen und im Oberhaus des Reichstags mitstimmen, durften aber die Bischöfen vorbehaltenen Sakra___________ schen Krone“. Ein Beitrag zur kirchlichen Sozial- und Verfassungsgeschichte des 17./18. Jahrhunderts (im Druck). 4 István György Tóth, Relationes missionariorum de Hungaria et Transilvania 1627– 1707, Budapest/Roma 1994, 147–208.

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mente den Gläubigen nicht spenden. Die Katholiken Türkisch-Ungarns konnten also nicht gefirmt werden. Wollte man in Türkisch-Ungarn einen Pfarrer weihen, Öl oder Kelche segnen, so mußte man den langen Weg zu einem Bischof in Polen oder im Fürstentum Moldau, gegebenenfalls nach Wien oder Tyrnau machen. Nach der Verbreitung der Reformen des Konzils von Trient im 17. Jahrhundert waren ungeweihte Bischöfe in Europa eine Seltenheit. Gerade aber die ungarischen Könige aus dem Hause der Habsburger waren – als deutsch-römische Kaiser – an hohe Geistliche gewöhnt, die nicht zum Bischof konsekriert, gegebenenfalls nicht einmal zum Priester geweiht worden waren. Im deutschrömischen Reich, wo zahlreiche Bischöfe gleichzeitig als Herrscher eines Kleinstaates fungierten und oft Mitglieder des Herrscherhauses waren, fielen diejenigen Aufgaben, die das Haupt der Diözese mangels Bischofsweihe nicht ausführen durfte, einem Weihbischof zu. Das Konzil von Trient veränderte das Leben der katholischen Kirche fast revolutionär, und im Zentrum der Änderungen stand die Gestalt der Bischöfe. Doch sowohl das Konzil als auch die Reformpäpste der nächsten Jahrzehnte weigerten sich, die Grenzen der bestehenden Diözesen zu ändern, obwohl dies im Falle der übergroßen oder zwergenhaften Bistümer zur Verwirklichung der Reformen unentbehrlich gewesen wäre. Auch im Fall Ungarns kam es nicht in Frage, die Diözesen für Türkisch-Ungarn neu zu gestalten, statt dessen schickte der Papst Missionsbischöfe als Vikare oder Administratoren bestehender Diözesen. Rom ernannte – nebst einiger Weltpriester – Franziskaner für diese Posten, aber weder Jesuiten noch Pauliner. Nicht nur in Ungarn, sondern auch in anderen Provinzen des Nord-Balkans waren Franziskaner-Bischöfe tätig, sie versorgten die katholische Bevölkerung von Bosnien, Serbien, Bulgarien, Moldau und Albanien5. Bereits der erste apostolische Visitator, Bonifacio da Ragusa, hatte 1571 die Errichtung eines Missionsbistums für die Völker jenseits von Donau und Save, also in Türkisch-Ungarn vorgeschlagen, was aber zu der Zeit noch nicht umgesetzt wurde. Papst Pius V. zeigte sich zwar mit der Idee einverstanden, und in Rom wurde sogar eine Liste der für das Bischofsamt geeigneten Franziskaner

___________ 5 Quellen und Materialien zur albanischen Geschichte im 17. und 18. Jh., I-II, hrsg. v. Peter Bartl, München 1975–79 (Albanische Forschungen 20), passim; Eusebius Fermendzin, Acta Bulgariae ecclesiastica, Zagrabiae 1887, 106–114, 144–147, 218–225; Moldvai csángó magyar okmánytár (Acta Hungarorum in Moldavia), I-II, hrsg. v. Kálmán Benda, Budapest 1989, 204–230, 342–459, 476–478; Giorgio Vinulescu, Pietro Diodato e la sua relazione sulla Moldavia. Diplomatarium Italicum (Roma), 1940, IV, 75–126; V. A. Urechia, Codex Bandinus. Annale Academia Romana, II/XVI, Bucuresti 1893–1894, 75–160.

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erstellt, ernannt wurde aber letztendlich niemand6. Zur Zeit des „langen Türkenkrieges“ von 1593 bis 1606 flammte die Hoffnung auf, daß die Ernennung eines Missionsbischofs gar nicht notwendig sein werde, da Ungarn nach den Siegen der christlichen Heere befreit werden könnte. Als aber 1607 zwei Benediktinermönche aus dem Kloster der Insel Mljet, Antonio Velislavi und Ignazio Alegretti, den südlichen Teil Türkisch-Ungarns visitierten, hatte der „lange Türkenkrieg“ bereits ohne einen Sieg über die Türken geendet. Velislavi bat deshalb Papst Paul V., seinen Gefährten Alegretti zum – früher nicht existenten – Bischof von Požega zu ernennen, da die Katholiken in Türkisch-Ungarn keinen Bischof hätten. Alegretti aber, der weiterhin in Türkisch-Ungarn christianisierte, wurde vom Papst nicht zum Bischof ernannt. Erst 1618 sollte TürkischUngarn schließlich seinen eigenen Missionsbischof erhalten7.

II. Buda oder Belgrad? Buda war geographisches, Handels- und Verwaltungszentrum TürkischUngarns, und so wäre es konsequent gewesen, den Sitz des Missionsbischofs hierher zu verlegen. Gerade aber die Bedeutung von Buda stellte ein Hindernis dar, denn die Türken tolerierten an den Sitzen der Paschas, in den wichtigsten militärischen Zentren, die Anwesenheit von allzu vielen Christen nur schwer, und nach dem „langen Türkenkrieg“ (also gerade in der Zeit der Entstehung des Missionsbistums) duldeten sie in Buda nicht einmal die Präsenz eines katholischen Pfarrers, geschweige denn eines Bischofs. Als Paolo Torelli, Weltpriester aus Ragusa und fiktiver Abt von Bács, der selbst gerne das Amt des Missionsbischofs in Türkisch-Ungarn bekleidet hätte, 1623 Buda aufsuchte, konnte er nur insgeheim und in einem Privathaus einen Gottesdienst abhalten, obwohl er dort 135 Katholiken vorfand, die seit vielen Jahren keinen katholischen Pfarrer zu Gesicht bekommen hatten. 1634 begannen zwei bosnische Franziskaner, Filippo a Camengrado und Paolo a Clamice, eine Mission, sie wagten es aber ebensowenig, die Messe am Sitz des Budaer Paschas zu lesen, ___________ 6 Archivio Segreto Vaticano, Roma, Archivum Arcis I-XVIII, 1851–1854; Archivio storico di Sacra Congregazione de Propaganda Fide, Roma (=APF) Miscellanee varie, vol. I/a, fol. 53, 67; Agustin Arce OFM, Bonifacio de Stephanis (c. 1504–1582). Último guardián de Monte Sión y obispo de Ston, in: Archivum Historicum Franciscanum 1983, 296–341; Antal Molnár, Katolikus missziók a hódolt Magyarországon (Katholische Missionen in Türkisch-Ungarn), Budapest 2002, 121–136; Augustinus Theiner, Annales ecclesiastici, III, Romae 1856, 271–276; Zdenko Zlatar, Our Kingdom come. The Counter-Reformation, the Republic of Dubrovnik, and the liberation of the Balkan Slavs, Boulder 1992, 225–251; Colin Imber, The Ottoman Empire, London 2002, 216– 244, mit einer Bibliographie: 362–376. 7 Biblioteca Casanatense, Roma, Ms. Cod. No. 2672, X, VI, 20, fol. 205–206/v.

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sondern waren in der Stadt Pest, am anderen Ufer der Donau, in einer den Reformierten enteigneten Kapelle tätig8. Belgrad lag am Rande der Diözese Türkisch-Ungarns, und so scheint es auf den ersten Blick nicht gerade der geeigneteste Sitz für einen Bischof zu sein, der südlich von Belgrad keine Gläubigen hat, dafür im Norden über Buda bis Gyöngyös und Jászberény zu visitieren hat. Belgrad war aber der wichtigste Knotenpunkt des nordbalkanischen Handels und verfügte über eine zahlreiche und – fast so wichtig – reiche katholische Händlerkolonie9. In der Stadt residierte kein Pascha, und auch die Zentrale des regional zuständigen Sandschaks befand sich nicht hier, sondern im nahegelegenen SzendrĘ, dem heutigen Smederovo. Für Belgrad als Sitz des Missionsbischofs sprach außerdem, daß die Stadt weit weg von der Grenze des Habsburgerreichs lag, tief im relativ friedlichen Inneren Türkisch-Ungarns, das die ungarischen Soldaten bei ihren Ausfällen aus den Burgen des Königreichs nur schwer erreichten. Aus dem Bericht des Belgrader Bischofs Matteo Benlich geht hervor, daß er – obwohl von den Türken mehrmals halbtot geschlagen – eher die ungarischen Hajducken fürchtete, die auf der Tiefebene von Batschka herumstreiften, die ihm im Vergleich zu den bosnischen Bergen ungeschützt vorkam. Die Tätigkeit der sechs in Belgrad residierenden Missionsbischöfe läßt sich in zwei Epochen einteilen: die ersten drei Bischöfe von 1618 bis 1647, ob dalmatischer oder italienischer Herkunft, kamen von außerhalb Türkisch-Ungarns und verfügten nicht über die nötigen Kenntnisse und Kontakte – ihre Tätigkeit war damit von vornherein zum Scheitern verurteilt. Auch der Heilige Stuhl und die Propaganda-Kongregation kamen zu dieser Einsicht und beriefen ab Mitte des 17. Jahrhunderts nur noch einheimische, also bosnische Franziskaner zu Bischöfen Türkisch-Ungarns. Alle drei nach 1647 ernannten Bischöfe gehörten als Franziskaner der bosnischen Ordensprovinz an10. Der letzte von ihnen, Mattia Berniakovich, erhielt das Bischofsamt noch als Student, und wurde am Ende seines Lebens verrückt – aber in der kurzen Epoche nach seiner Studienzeit und vor seinem Wahnsinn war er entscheidend auf dem Gebiet der Christianisierung und der Visitation tä___________ 8 István György Tóth, Between Islam and Catholicism. Bosnian Franciscan missionaries in Ottoman Hungary, in: Catholic Historical Review 89 (2003) 3, 409–433. 9 Zdenko Zlatar, Between the double eagle and the crescent. The republic of Dubrovnik and the origins of the Eastern question, New York 1992, 37–45; Pál Fodor, In quest of the golden apple. Imperial ideology, politics and military administration in the Ottoman empire, Istanbul 2000, passim. 10 Krista Zach, Die bosnische Franziskanermission des 17. Jh. im südostlichen Niederungarn, München 1979, 1–73; Anto Slavko Kovacic, Biobibliografija franjevaca Bosne Srebrene, Sarajevo 1991; Ivan Strazemanac, Povijest franjevacke provincije Bosne Srebrene, Zagreb 1993, 403–410; Petrus Capkin, De organisatione curae pastoralis Franciscanorum apud Croatorum gentem, Sibenici 1940, passim.

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tig. Marino Ibrishimovich, Belgrader Bischof zwischen 1647 und 1650, sowie Matteo Benlich, der zwischen 1651 und 1674 das Amt des Belgrader Bischofs bekleidete, waren die effizientesten Gestalten der Missionen in TürkischUngarn. Als bosnische Franziskaner hatten sie früher mehrere Jahrzehnte in den nordbalkanischen Provinzen des Osmanischen Reiches verbracht, kannten die dortige Gegend, die Sprache, die Pfarrer und die Gläubigen, und fanden sich in der komplizierten Welt der türkischen Behörden zurecht, wo einerseits Willkür herrschte, andererseits aber man mit Geld fast alles erreichen konnte. Die Visitationen der beiden ehemaligen bosnischen Franziskaner als Missionsbischöfe zählen zu den wichtigsten Quellen aus dem 17. Jahrhundert nicht nur für die katholische Kirchengeschichte Türkisch-Ungarns, sondern auch für die Demographie und die Kulturgeschichte.

III. Von Dalmatien durch Rom nach Belgrad Die ersten beiden Bischöfe Türkisch-Ungarns, der Weltpriester Pietro Katich und der Franziskaner-Observant Alberto Rengjich, kamen von weit her nach Belgrad. Ihre Ernennung war teilweise ihrer Herkunft aus Dalmatien zu verdanken (Katich stammte aus Sebenico, Rengjich aus Ragusa), d. h. nebst Italienisch sprachen sie Kroatisch, das im südlichen, Belgrad nahegelegenen Teil Türkisch-Ungarns die verbreiteteste Sprache war, als ihre zweite Muttersprache. Daß Katich und Rengjich nicht aus dem Osmanischen Reich stammten, erwies sich nach ihrer Ernennung als großer Nachteil, als sie ihren Dienst in der Mission in Türkisch-Ungarn antraten. Ihre lange Anwesenheit in Italien trug aber zu ihrer Ernennung in großem Maße bei, denn beide verkehrten oft in Rom. Pietro Katich diente als Pfarrer des Städtchens Monterotondo, etwa einen Tag Gehweg nördlich von Rom, und er verkehrte oft in Rom, wo man auf ihn aufmerksam wurde11. Der darauffolgende Bischof, Alberto Rengjich, war kein Weltpriester, sondern ein Observant aus der Ordensprovinz der Franziskaner in Ragusa, wo er das Amt des Definitors, des Visitators und des Provinzials gleichzeitig bekleidete und als einer der angesehensten Ordensbrüder der Ordensprovinz Ragusa galt12. Danach hatte Rengjich als kroatischsprachiger Beichtvater in der Laterankirche in Rom gedient, wo er mit Sicherheit gute Kontakte in der Kurie ausbauen und sich einflußreiche Befürworter erwerben konnte: So wurde dieser in Rom bekannte, gelehrte Franziskaner kroatischer Muttersprache für das Bi___________ 11 Miroslav Premrou, Serie dei vescovi romano-cattolici di Beograd, in: Archivum Franciscanum Historicum 17 (1924), 489–508; 18 (1925), 33–62. 12 Necrologium fratrum minorum de observantia provinciae S.P. Francisci Ragusii. Analecta Franciscana VI. Ad Claras Aquas (Quaracchi) 1917, 435–436.

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schofsamt ausgewählt. Seine Ernennung läßt sich sicher damit erklären, daß die Landsleute von Rengjich, die Händler von Ragusa, in Belgrad eine wichtige Rolle im Leben der Katholiken der Stadt spielten, auch wenn sie gegen die sich ebenfalls zur katholischen Religion bekennende Gruppe der bosnischen Händler in Belgrad einen ständigen erbitterten Kampf führten. Beide Bischöfe aus Dalmatien erlitten ein Fiasko bei der Verwaltung dieser „Diözese in Türkisch-Ungarn“. Pietro Katich wurde 1618 vom Papst zum ersten in Belgrad residierenden Bischof Türkisch-Ungarns ernannt. Katich war laut seinem Titel Bischof der Stadt Prizren im Kosovo (Süd-Serbien), hatte aber im Sinne der Verordnungen des Heiligen Stuhls sechs Monate im Jahr in Belgrad zu verbringen. Katich kam trotz seiner Herkunft aus Sebenico nicht über Dalmatien nach Türkisch-Ungarn, sondern über Wien. Er überschritt die türkisch-habsburgische Grenze in der Sicherheit bietenden Gesellschaft von Gesandten und kam in Begleitung des kaiserlichen Gesandten Ludwig von Molart und des Gesandten des türkischen Sultans, Gasparo Gratiani, späterer Woiwode von Moldau, nach Belgrad. In Belgrad erfuhr Katich schnell, was einen Missionsbischof in Türkisch-Ungarn erwartete: Mehmed, der abtrünnige Bey von SzendrĘ (Smederovo), wollte nicht zulassen, daß Belgrad zum Bischofssitz wird, denn, so behauptete er, hier habe nicht der Papst, sondern der Sultan das Sagen, und er bedrohte Bischof Katich mit dem Tode13. Die einheimischen Katholiken sammelten daraufhin die große Summe von 200 Dukaten für den Belgrader Mufti, der in seinem Rechtsgutachten sofort feststellte, daß der katholische Bischof in Belgrad bleiben könne. Dies war nur das erste, aber nicht das letzte Mal, daß ein Missionsbischof Türkisch-Ungarns das Geld der einheimischen Katholiken in Anspruch nahm, um die türkischen Behörden zu „schmieren“. Bischof Katich hielt sich abwechselnd auf seinen beiden Sitzen Prizren und Belgrad auf, die eine Entfernung von 300 Kilometern Luftlinie hatten und nur auf unwegsamen Wegen über die Berge des Balkans zu erreichen waren. Als Katich in Türkisch-Ungarn tätig war, christianisierte er nicht nur in Belgrad, sondern suchte auch z. B. Mohács auf, um dort Messen zu lesen. Pietro Katich ___________ 13 APF Misc. Diverse vol. 22, fol. 183–185/v; Andrija Nijic, Die Lage der Katholiken im 17. Jahrhundert in der Hercegovina aufgrund der Vatikanischen Quellen. Befreiungsversuche und Islamisierung, in: Pandzicev Zbornik, Regiones paeninsulae Balcanicae et proximi Orientis. Aspekte der Geschichte und Kultur. Festschrift für Basilius S. Pandzic, hrsg. v. Elisabeth von Erdmann-Pandzic, Bamberg 1988, 70–94; Colin Heywood, Bosnia Under Ottoman Rule 1463–1800, in: The Muslims of BosniaHerzegovina, their historic development from the Middle Ages to the dissolution of Yugoslavia, Cambridge (Mass.) 1994, 23–53; Matteo Sanfilippo, La Congregazione de Propaganda Fide e la dominazione turca sul Mediterraneo centro-orientale nel XVII secolo, in: I turchi, il Mediterraneo e lǥEuropa. Giovanna Motta (dir.), Milano 1998, 197– 211.

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starb jedoch bereits im Frühjahr 1622 kaum vier Jahre nach seiner Ernennung14. Als sein Nachfolger wurde Alberto Rengjich 1625 auf Vorschlag der Propaganda-Kongregation zum Bischof Türkisch-Ungarns ernannt. Rom wollte aber mit dem ungarischen König (zu dieser Zeit der deutsch-römische Kaiser Ferdinand II.), der sich das Recht zur Investitur der Bischöfe für Ungarn auf Grund eines alten, vom Heiligen Stuhl immer schon bestrittenen Privilegs vorbehielt, einen Kompetenzstreit vermeiden. So erhielt Rengjich den Titel der Diözese von SzendrĘ oder Smederevo, eines mittelalterlichen Bischofssitzes, der aber östlich von Belgrad jenseits der ehemaligen Grenze des Königreichs Ungarns schon auf serbischem Boden lag. Im Jahr 1626 visitierte Rengjich in mehreren Etappen den südlichen Teil Türkisch-Ungarns, kam bis nach Szeged, wagte sich aber aus Furcht vor den Soldaten des siebenbürgischen Fürsten Gabriel Bethlen nicht weiter. In seinem Bericht an die Kardinäle der PropagandaKongregation schilderte der Bischof die Verlassenheit der Gegend um Belgrad und Temeschwar: In der Umgebung von Temeschwar habe sich infolge des Mangels an Pfarrern ein Zigeuner, „der vom Alphabet vier Buchstaben kennt“, und wer weiß, welchen Glaubens sei, zum Pfarrer ernannt und taufe sogar, alle kirchlichen Vorschriften außer acht lassend15. Zwanzigjährige Erwachsene ließen sich in den Dörfern taufen, die früher keinen katholischen Pfarrer gesehen hätten. Rengjich trug als Bischof in großem Maße dazu bei, daß 1626 in Krassóvár die erste bosnische Franziskaner-Mission in Türkisch-Ungarn, die Mission der Region Banat unter der Leitung von Fra Marco Bandini, dem späteren Missionsbischof von Moldau, zustande kam16. Die bischöfliche Tätigkeit des Franziskaner-Observanten von Ragusa wurde von Tommaso Ivkovich, Bosniens de facto Bischof, hintertrieben, der laut Rengjich „noch bevor er den Bischofsstab in die Hand nehmen würde, mit einem Stock herumschlägt“17. Ivkovich belästigte Rengjich mit Hilfe von Briefen der türkischen Behörden, seine Beauftragten stempelten Rengjich vor den Türken als Spion und Verräter ab und bedrohten ihn sogar mit dem Tod. Auch die bosnischen Franziskaner waren gegen Bischof Rengjich, denn sie sahen in ihm, da er von außerhalb Türkisch-Ungarns kam, einen Eindringling und einen gefährlichen Konkurrenten – auch wenn er ebenfalls kroatisch sprach und zum gleichen Zweig des Franziskanerordens gehörte wie sie. Die bosnischen Fran___________ 14

APF Acta SC vol. 3. fol. 8–9/v. APF Scritture originali riferite nei congressi (= SOCG) vol. 56, fol. 236, 237/v., fol. 247–248/v. 16 Kálmán Juhász, Das Tschanad-Temesvarer, 208–240; Lucian Peris, Le missioni Gesuite in Transilvania e Moldavia nel Seicento, Cluj-Napoca 1998, 93–119. 17 APF SOCG vol. 56, fol. 212, 216, 217; vol. 146, fol. 213; vol. 67, fol. 262–263/v, 265–266/v; vol. 387, fol. 57; APF SC Dalmazia Misc. vol. 3, fol. 45. 15

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ziskaner behinderten mit Hilfe ihrer engen Kontakte zu den einheimischen türkischen Behörden Rengjichs bischöfliche Tätigkeit18. Einer der bosnischen Franziskaner, der spätere bosnische Provinzial Andrea da Camengrado, drohte Rengjich sogar an, mit Hilfe seiner mohammedanischen Verwandten dafür zu sorgen, daß Rengjich von den Türken gepfählt wird, sollte dieser mit seinen Visitationen nicht aufhören19. Rengjich verließ daraufhin 1627 verzweifelt Belgrad und seine Diözese und kehrte zunächst nach Ragusa, dann nach Rom zurück. Er ließ den eingeschworenen Feind der bosnischen Franziskaner, den Weltpriester Don Simone Matkovich, Pfarrer in Mohács, der aus der Familie der alten bosnischen Könige stammen soll, als Vikar in seiner Diözese zurück. Nachdem Alberto Rengjich Belgrad verlassen hatte, erhielt er von Rom den Auftrag, die dalmatischen Uskoken (uscocchi), dieses südslawische Soldatenvolk, zu visitieren, die mal als freie Bauern, mal als Seeräuber lebten, und kehrte nie wieder in seine Diözese im Osmanischen Reich zurück. Er starb in März 1630 in Wien20.

IV. Ein albanischer Erzbischof aus dem Kosovo Nach dem Tode Alberto Rengjichs ernannte der Heilige Stuhl ein Jahrzehnt lang keinen neuen Bischof für Belgrad. Statt dessen vertraute er 1631 die Gläubigen in Türkisch-Ungarn dem Albaner Pietro Massarecchi (Masarek) an, dem Erzbischof von Bar (Antivar), der die Gegend sehr gut kannte; er wurde der apostolische Administrator der Diözese von Belgrad (laut Titel von SzendrĘ). Pietro Massarecchi war ein albanischer Weltpriester aus dem Kosovo, beherrschte also die kroatische Sprache („Illyrisch“) genauso gut wie seine Vorgänger, die beiden dalmatischen Bischöfe21. Massarecchi wurde um 1584 in der Stadt Prizren im Kosovo geboren22. Die Propaganda-Kongregation wählte ihn 1623 wegen seiner Erfahrungen in den balkanischen Provinzen des Os___________ 18

APF SOCG vol. 56, fol. 236, fol. 221–227/v; APF SC Dalmazia Misc. vol. 3, fol. 64/r-v, 69–71/v, 64/r-v. 19 APF SOCG vol. 67, fol. 270–272/v, 284, 286/r-v; vol. 56, fol. 247–248/v; APF SC Dalmazia Misc. vol. 3, fol. 65/r-v, 66. 20 Premrou, op. cit., 507–508; APF SOCG vol. 382, Memoriale 1622, fol. 78. 21 APF Acta SC vol. 3, fol. 18–22; Krunoslav Draganovic, Izvjesce apostolskog vizitatora Petra Masarechija o prilikama katol. naroda u Bugarskoj, Srbij, Srijemu, Slavoniji i Bosni g. 1623 i 1624, Starine (Zagreb) 1938, 1–48; Hierarchia catholica medii et recentioris aevii, IV, hrsg. v. Patritius Gauchat, Münster 1935, 204; Djuro Koksa, L'organizzazione periferica delle missioni in Ungheria e Croazia, in: Sacrae Congregationis de Propaganda Fide Memoria rerum, I/2, hrsg. v. Joseph Metzler, Rom/Wien/Freiburg 1972, 274–285. 22 Daniel Farlatus, Illyricum Sacrum, VII, Venetiis 1817, 123; M. Premrou, op. cit., 33.

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manischen Reiches und seiner Ortskenntnis aus, als sie – wie aus den meisten Gebieten der Welt – auch bezüglich des von den Türken besetzten Balkans einen ausführlichen Bericht anforderte, um zu Beginn ihrer Tätigkeit die Chancen der Missionen einschätzen zu können. Aus den Instruktionen an Massarecchi geht auch hervor, daß die Kardinäle der Propaganda-Kongregation der Ansicht waren, die in Habsburg-Ungarn lebenden „verbannten“ katholischen Bischöfe, die keinen Fuß nach TürkischUngarn setzten und ihre Diözesen bzw. deren unter türkischer Herrschaft stehende Gebiete nur aus Briefen kannten, seien nicht geeignet zur Verwaltung und zum Schutz der Katholiken in Türkisch-Ungarn. Ihre Eingriffe seien sogar schädlich, würden sie die Türken doch nur mißtrauisch machen. Diese Bischöfe wurden oft nicht mehr nach ihrem Bischofstitel, sondern nach ihrem tatsächlichen Sitz benannt, wie z. B. der – nicht existierende – Bischof von Zips oder Kaschau23. Diese „verbannten“ ungarischen Bischöfe betrachteten die türkischen Wilajets als nur vorübergehend besetzte Gebiete und hofften mit Recht, daß diese in absehbarer Zukunft befreit würden. Die Briefe des in Süd-Serbien geborenen Massarecchi spiegeln hingegen die Anschauung der Katholiken des Balkans: Sie akzeptierten die türkische Herrschaft als eine Realität, mit der man auf Dauer zu leben hatte, und wußten, daß man die Existenzbedingungen für die Katholiken unter den Verhältnissen des Osmanischen Reiches schaffen mußte. Massarecchi bekleidete das Amt des Belgrader Administrators von 1631 bis zu seinem Tode im Jahre 1634 und hatte im Jahr sechs Monate in Serbien und sechs Monate in Belgrad zu verbringen24. Der albanische Erzbischof konnte sich mit seinen südungarischen Gläubigen, die genauso gut Kroatisch sprachen wie er, problemlos verständigen. Er schrieb, seine Predigten in Syrmien seien erträglich gewesen, denn die Einwohner der Dörfer, die sich früher verwehrt hätten, hätten ihm nun versprochen, den neuen, also den Gregorianischen Kalender zu akzeptieren. Anscheinend war es sogar noch 1632 nicht leicht, die Katholiken in Türkisch-Ungarn vom Kalender des Papstes zu überzeugen. Aus Massarecchis Briefen geht weiterhin hervor, daß das Wissen um die Grenzen der katholischen Diözesen (und auch der ehemaligen Komitate) am Anfang des 17. Jahrhunderts im südlichen Teil Türkisch-Ungarns im Bewußtsein der Bevölkerung durch die fast acht Jahrzehnte bestehende türkische Wilajet- und Sandschak-Einteilung langsam verdrängt wurde. Nicht einmal die katholischen Pfarrer erinnerten sich manchmal genau an die ehemaligen Diözesen. Der Erzbischof von Antibar führte in der Tat eine gründliche Untersu___________ 23 Archivum generale ordinis fratrum minorum conventualium, Convento Santi Apostoli, curia generalizia, Roma, XXX. 1. B, fol. 3, Relationes, 15–16. 24 M. Premrou, op. cit., 33; P. Gauchat, Hierarchia, 86, 9.

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chung durch, er forschte sogar in den Schriften des Graner Erzbischofs Péter Pázmány nach, aber – so schrieb er – „ich finde niemanden, der mich über die Grenzen aufklären könnte, keiner kann sagen, wie weit die Diözese dieses oder jenes Bischofs reicht und es liegen auch keine Bücher vor, aus denen ich mir Gewißheit verschaffen könnte“.

V. Ein mesopotamischer Bischof für Türkisch-Ungarn Nach dem Tod von Pietro Massarecchi ließ sich in Rom sechs Jahre lang kein geeigneter Kandidat für die Diözese von Belgrad in Türkisch-Ungarn finden. Massarecchi war bereits seit vier Jahren begraben, als die PropagandaKongregation den Brief des Wiener Nuntius Malatesta Baglioni erhielt, in dem er den Guardian des Wiener Franziskanerklosters der Konventualen, den italienischen Franziskaner Giacomo Boncarpi, für ein höheres Amt in seinem Orden empfahl25. Giacomo Boncarpi stammte aus der Kleinstadt Carpi, nördlich von Modena in der Provinz Emilia. Zwischen 1630 und 1642 diente er in Pfarreien um Wien und in Mähren, versorgte sogar zwei Pfarreien gleichzeitig und wurde später zum Guardian des Wiener Klosters der Franziskaner-Konventualen (des Stiftshauses, das heute noch am Minoritenplatz steht) gewählt. Der Nuntius schrieb, daß Boncarpi außer seiner italienischen Muttersprache die deutsche Sprache so gut beherrsche, daß er auf deutsch predigen könne, außerdem spreche er auch „auf Mährisch“, sicher auf tschechisch. Zwar habe er – so der Nuntius – noch nicht die Gelegenheit gehabt, ungarisch oder kroatisch („illyrisch“) zu lernen, da er aber über ein gutes Sprachtalent verfüge, werde er dies schnell nachholen können. Die Propaganda-Kongregation, die das Problem des verwaisten Belgrader Missionsbistums schon seit langer Zeit lösen wollte, dachte, die passende Person für dieses Amt gefunden zu haben. Die römischen Kardinäle kannten sich – davon zeugen mehrere Aufzeichnungen – in der Sprachfamilie der slawischen Sprachen nur schlecht aus, Kroatisch und Tschechisch mögen ihnen nahe verwandt vorgekommen sein26. Auf den ersten Blick mag Boncarpis Ernennung vielleicht überraschend erscheinen, da er noch nie im Leben einen Türken gesehen hatte, nie im Osmanischen Reich gewesen war und die dortigen Verhältnisse, die Gläubigen und ihre Probleme überhaupt nicht kannte. Die italienischen Franziskaner-Konventualen führten aber in den 1630er Jahren im habsburgischen Ungarn mit großem Erfolg Missionen durch, und in fast jeder Sitzung der Propaganda-Kongregation wurde in dieser Zeit den Kardinälen über die Missionserfolge der italienischen Franziskaner-Konventualen in Oberun___________ 25 26

APF Acta SC vol. 13, fol. 149–149/v. Relationes, 7, 17–18.

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garn berichtet27. Dies kann Boncarpis Ernennung erklären, was sich aber, wie sich bald herausstellte, als großer Irrtum der Kardinäle erwies. Boncarpi nahm die Kandidatur zum Bischof von SzendrĘ im April 1639 an und hatte die Absicht, in Belgrad zu residieren. Aber Kaiser Ferdinand III. als ungarischer König behielt sich das Recht vor, den Bischof von SzendrĘ zu ernennen. Während in der römischen Kurie noch die Ernennung von Boncarpi vorbereitet wurde, berief Ferdinand III. einen anderen norditalienischen Ordensbruder, den Franziskaner-Observanten Giovanni Battista Dovaria von Cremona, zum Bischof von SzendrĘ, der aber nie die päpstliche Bestätigung bekam. Urban VIII. – der zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges zum Habsburgerreich ein gespanntes Verhältnis hatte, jetzt aber die Rechte des Kaisers berücksichtigte – ernannte deshalb Boncarpi in der Sitzung des Konsistoriums am 16. Januar 1640 zum Bischof mit dem „in partibus infidelium“-Titel der mesopotamischen Stadt Himeria mit Sitz in Belgrad. Durch diese praktisch einzigartige Lösung in der Geschichte der Missionen auf dem Balkan, daß nämlich der neue Bischof Türkisch-Ungarns den Bischofstitel einer längst verfallenen, weit entfernten Diözese erhielt, ließ sich die erneute Konfrontation mit dem Kaiserhof vermeiden28. Giacomo Boncarpi wurde am 26. Mai 1641 in Wien zum Bischof geweiht, übereilte aber nicht den Besuch seiner unter türkischer Herrschaft lebenden Gläubigen. Ähnlich wie Bischof Pietro Katich, der auch von außerhalb des Osmanischen Reiches, aus Richtung Wien – und nicht aus Ragusa oder Konstantinopel kommend – nach Belgrad reiste, hatte auch Boncarpi die Absicht, unter Obhut der kaiserlichen Gesandten die Grenze zwischen dem Habsburgischen und dem Osmanischen Reich zu überschreiten29. Boncarpi wollte die Friedensverhandlungen zwischen den Habsburgern und den Türken in SzĘny ausnutzen, um über die Grenze zu gelangen. Er nutzte die Wartezeit zum Sprachenlernen. Ein 24jähriger Kroate sollte ihm in Wien die „illyrische“ Sprache beibringen, er scheint sich aber nicht allzu sehr darin vertieft zu haben. Wo die Grenzen seines Sprachtalents lagen, zeigt auch sein Brief an die Propaganda-

___________ 27 Archivum generale ordinis fratrum minorum conventualium, Convento Santi Apostoli, curia generalizia, Roma, XXX. A. 1. busta 1; Archivum Fratrum Minorum Conventualium, Conventus Sancti Spiritus, Zagreb (Agram), Archivum provinciae Dalmatiae OFM Conv, Registrum provinciae Dalmatiae, Acta Congregationis provinciae annorum 1655, 1662, 1664, 1666, 1669, 1670, 1673, 1674; Franciscus Monay, De provincia Hungarica ordinis fratrum minorum conventualium memoriae historicae, Romae 1953, 12–19; Relationes, 57–78. 28 Josip Buturac, Katolicka crkva u Slavoniji za turskoga vladanja, Zagreb 1970, 31, 89, 93–100, 110, 177, 184, 223. 29 APF SOCG vol. 85, fol. 233–235/v.

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Kongregation, daß „ich nur einen winzigen Unterschied zwischen der tschechischen und der kroatischen Sprache sehe“30. Boncarpi machte sich endlich doch auf den Weg. Anfang 1643 weilte er einige Tage in Buda, erhielt vom Pascha einen neuen Paß und besorgte einen anderen Wagen für die Weiterreise. Aus seinen Briefen geht hervor, daß die Budaer Katholiken Boncarpi mit heller Freude empfingen: Unter Tränen sagten sie ihm, daß er der erste katholische Bischof seit der türkischen Besatzung von Buda vor 102 Jahren sei. Der Bischof schrieb, daß er in Buda Gottesdienste abgehalten, gepredigt und gefirmt habe, wahrscheinlich erfolgte dies aber nicht in Buda, sondern am anderen Ufer der Donau, in Pest, in der kleinen Kapelle der bosnischen Franziskaner. Boncarpi konnte nur schwer den Mut aufbringen, sich in das für gefährlich gehaltene türkische Gebiet zu begeben und zögerte zwei volle Jahre nach seiner Konsekration. Aber gleich nach seiner Ankunft in Belgrad nahm er die Visitation seiner Gläubigen in Angriff. Boncarpi begann im Jahr 1643 mit der Visitation und soll laut seiner Briefe die meisten Pfarreien der Fünfkirchner Diözese aufgesucht haben. Die Hälfte der ihm anvertrauten Diözesen habe er bereits inspiziert und werde seine Visitation im Frühjahr fortsetzen, versprach er den Kardinälen der PropagandaKongregation. Boncarpi zählt in seinem „Vorbericht“ insgesamt 54–56 Pfarreien und 17 Weltpriester in seiner Diözese auf. Trotz seiner Krankheit habe er, prahlt Boncarpi, „Orte visitiert, an denen seit der türkischen Eroberung kein Bischof verkehrte“. Boncarpi hatte auch vor, 1644 ein Diözesankonzil für die Pfarrer einzuberufen, aber auf keinen Fall in Belgrad, weil die Stadt allzu sehr im Visier der Türken liege und gefährlich werden könnte31. Ähnlich wie Rengjich war Boncarpi bald mit den bosnischen Franziskanern konfrontiert, die Türkisch-Ungarn als ihren Alleinbesitz betrachteten und auf die örtlichen türkischen Behörden gestützt alles versuchten, um die Tätigkeit des Bischofs zu behindern32. Im Frühling 1644 verschlechterte sich das Verhältnis Boncarpis zu den bosnischen Franziskanern in der Umgebung von Belgrad endgültig. Die bosnischen Ordensbrüder nutzten ihre „innigen“ Kontakte zu den Türken aus und „hetzten“ den Alaybey, den Kommandanten der Janitscharen in Syrmien, auf den Missionsbischof. Boncarpi, vom Alaybey und den bosnischen Franziskanern immer heftiger verfolgt, hielt seine Situation nach weniger als anderthalb Jahren Dienst als Missionsbischof für unhaltbar. Der Bischof hoffte auf die Hilfe des kaiserlichen Gesandten, der Belgrad passieren sollte, der Gesandte kam aber nicht, und Boncarpi verließ seinen Bischofssitz verzweifelt. ___________ 30

APF SOCG vol. 83, fol. 27/r-v; APF SOCG vol. 85, fol. 226/r-v, 240/v; fol. 227. APF Acta SC vol. 16, fol. 64, no. 37; APF SOCG vol. 89, fol. 27, 26/r-v. 32 APF SOCG vol. 89, fol. 1, 3–5/v, 6/v, 15–18/v. 31

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Im August 1644 brach Boncarpi auf und reiste nach Bosnien, wo er das Franziskanerkloster in Olovo besuchte. Er wird an der berühmten MadonnaWallfahrt in Olovo am 15. August, zu Mariä Himmelfahrt, teilgenommen haben. Diese Pilgerreise kann der Vorwand gewesen sein, um seine Gläubigen in Belgrad verlassen zu können. Aus Olovo reiste der Bischof in seine Heimat, nach Ragusa, dann weiter nach Wien und kehrte nie wieder nach TürkischUngarn zurück33. Er hatte zwar die Absicht zurückzukehren, denn er hoffte, in Wien mit Hilfe des kaiserlichen Hofes auf diplomatischen Wegen einen Schutzbrief zu erhalten, der ihn vor den türkischen Belästigungen schützen sollte. Den gewünschten Brief erhielt er jedoch nie, ein solcher Brief hätte ihn aber auch kaum vor der Verfolgung der türkischen Behörden oder des Alaybeys geschützt. Boncarpi berichtete in seinen Briefen nach Rom, daß er – obwohl wegen seines Podagras oft bettlägerig – anhand seiner Aufzeichnungen aus TürkischUngarn fleißig an einem großen Bericht über die Visitation arbeite – dieser Bericht wurde aber nie fertiggestellt. Boncarpi starb schließlich 1649 in der Nähe von Wien, ohne seine Gläubigen in Türkisch-Ungarn je wiedergesehen zu haben34. Giacomo Boncarpi machte in den letzten Jahren seines Lebens große Anstrengungen, um die Nachfolge eines „intransigenten“, ihm gegenüber feindlich eingestellten Ordensbruders der bosnischen Provinz der Franziskaner, Marino Ibrishimovich da Posega, im Belgrader Missionsbistum zu verhindern35. Boncarpi war jedoch erfolglos, Ibrishimovich erkämpfte sich den Titel des Missionsbischofs von Belgrad. Marino Ibrishimovich erwarb für seine Ernennung die Unterstützung aller drei in Angelegenheiten der Katholiken in TürkischUngarn zuständigen Machtzentralen, so daß ihm eine einzigartige Leistung unter den Missionsbischöfen in Belgrad gelang.

VI. Der „Mann der Türken“ an der Spitze der Belgrader Diözese Marino Ibrishimovich da Posega wurde um 1600 in Požega geboren, war also als slawonischer Kroate Ordensbruder der bosnischen Franziskanerprovinz36. In dieser Zeit ernannte Kaiser Ferdinand III. – im Gegensatz zur früheren Praxis der Habsburger-Könige – auch bosnische Franziskaner für die Bischofsämter in den türkischen Provinzen, für Bosnien oder die Diözese in Syr___________ 33

Fermendzin, Acta Bosnae, 447–449, 450, 452, 455–458. APF SOCG vol. 89, fol. 15. 35 APF SOCG vol. 90, fol. 50, 51/v, 59/r-v, 62/r-v; E. Fermendzin, Acta Bosnae, 457–458. 36 Buturac, op. cit., 97–101. 34

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mien. Ibrishimovich pflegte auch zu den türkischen Behörden gute Kontakte, und laut seinen Kontrahenten sollen die türkischsprachigen „teuflischen“ Aufzeichnungen der Paschas in seinem Besitz der Ordensprovinz viel geschadet haben37. Ibrishimovich suchte Ende 1645 den Budaer Pascha, Wesir Nakkas Mustafa, mit Geschenken auf und reiste dann nach Wien an den Kaiserhof. Auch der jesuitische Beichtvater von Ferdinand III., Johann Gans, hatte eine gute Meinung von Ibrishimovich, und der bosnische Franziskaner soll auch – zumindest laut seinen Feinden – den Veszprémer Bischof und ungarischen Kanzler, György Szelepcsényi, mit großen Summen bestochen haben, um dessen Unterstützung zu erwerben. Szelepcsényi lobte Ibrishimovich in seinem Brief an Francesco Ingoli, den Sekretär der Propaganda-Kongregation, im Juli 1646 tatsächlich außerordentlich und bat ihn, den bosnischen Franziskaner für Belgrad zu ernennen. Szelepcsényi war mit der kaiserlichen Deputation auf dem Weg nach Konstantinopel schon dreimal durch Türkisch-Ungarn gereist und kannte das traurige Schicksal der dortigen Katholiken besser als alle anderen Bischöfe Habsburg-Ungarns. (Auch mehrere Jahrzehnte später, schon als Erzbischof von Gran, kümmerte sich Szelepcsényi weiterhin um seine Gläubigen unter türkischer Herrschaft38.) Marino Ibrishimovich war ein gelehrter und energischer Mann, einer der Provinzleiter der bosnischen Franziskaner, des erfolgreichsten Ordens in den Missionen in Türkisch-Ungarn. Die Türken mochten ihn, er fand einflußreiche Befürworter am Wiener Hof, und auch die Kardinäle der PropagandaKongregation schenkten ihm Vertrauen. Das Fiasko von Giacomo Boncarpis Tätigkeit als Bischof ließ nämlich dem Wiener Hof, den Kardinälen in Rom und dem Motor der Propaganda-Kongregation, Sekretär Francesco Ignoli, bewußt werden, daß sie, wenn sie für die Katholiken in den türkischen Gebieten Ungarns effektiv Sorge tragen wollten, keinen Missionsbischof mehr „exportieren“ durften, sondern einen Bischof aus den türkischen Provinzen wählen, d. h. einen bosnischen Franziskaner ins Amt berufen mußten, der das Land, die Sprache, die Pfarrer und die türkischen Beys kannte. Da Ibrishimovich – im Gegensatz zu seinen Vorgängern – auch vom Kaiser akzeptiert wurde, erübrigten sich die verschiedenen Lösungen zur Umgehung des Rechts des ungarischen Königs als Patronatsherr, die die römische Kurie früher angewandt hatte, als sie kosovarische oder mesopotamische Bischöfe nach Belgrad schickte. Am 7. Oktober 1647 ernannte Papst Innozenz X. Marino Ibrishimovich zum Belgrader Bischof, beauftragte ihn als apostolischen Administrator mit der Verwaltung der nicht besetzten Diözese von SzendrĘ und machte ihn gleichzeitig zum ___________ 37 APF SOCG vol. 93, fol. 108–112; vol. 172, fol. 392, 403–406, 410, 417; vol. 176, fol. 233. 38 APF SOCG vol. 320, fol. 54; vol. 413, fol. 72–73.

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apostolischen Vikar der ungarischen Diözesen unter türkischer Herrschaft (diese Diözesen hatten nämlich keine residierenden Bischöfe)39. Wie die Bischöfe Rengjich und Boncarpi sowie der apostolische Vikar Massarecchi betrachtete auch Ibrishimovich die sorgfältige Visitation der Pfarreien als eine der wichtigsten Aufgaben eines Missionsbischofs. Als Marino Ibrishimovich den lang ersehnten Bischofstitel von Belgrad erwarb, war er jedoch schon ein schwerkranker Mann. Er wurde im Herbst 1647 zum Missionsbischof von Belgrad ernannt, aber den Großteil des darauffolgenden Jahres, etwa sieben Monate, verbrachte er im Krankenbett. Nach seiner Genesung brach er 1649 auf, und im Laufe des Jahres visitierte er unermüdlich Türkisch-Ungarn. Während seine Vorgänger Alberto Rengjich, Pietro Massarecchi und Giacomo Boncarpi nur den südlichen Teil des türkischen Huldigungsgebietes, Belgrad und seine Umgebung, Slawonien sowie Banat, inspiziert hatten, besuchte Ibrishimovich das nördliche Gebiet und firmte auch in Pest, Gyöngyös und Jászberény. Seine Rundreise markierte einen Umbruch in der katholischen Kirchengeschichte Türkisch-Ungarns, denn seit der türkischen Eroberung hatte kein katholischer Bischof in diesem Gebiet eine Visitation durchgeführt40. Ibrishimovich wurde von den Gläubigen dementsprechend mit heller Begeisterung empfangen. Ihre Briefe zeugen vom außerordentlichen Erlebnis der einheimischen Katholiken, einen „lebendigen“ Bischof gesehen zu haben: Sie hätten gespürt, daß die katholische Kirche sie nicht vergessen habe und der „Heilige Vater“ an sie denke41. Ibrishimovich visitierte, obwohl er ganz bis in den Norden des türkischen Huldigungsgebietes, sogar bis nach Gyöngyös, kam, nicht das gesamte Gebiet Türkisch-Ungarns. Sein Itinerar veranschaulicht die politische und kirchliche Situation sehr gut: Ibrishimovich wollte nicht nur eine Auseinandersetzung mit den Jesuiten in Fünfkirchen vermeiden, er „distanzierte“ sich auch von den türkischen Behörden. Er mied die Sitze der Paschas und Beys, hielt sich nur in ihrer Gegend auf. So predigte er in Pest, aber nicht in Buda, bekehrte in Gyöngyös, aber nicht in Erlau, dem Sitz des Paschas. Marino Ibrishimovich visitierte im März und April 1649 Belgrad und dessen Umgebung zuerst, firmte die dortigen Gläubigen und brach dann zu seiner großen Rundreise nach Norden auf. Was dem Franziskaner Rengjich aus Ragusa und dem italienischen Franziskaner aus Wien, Boncarpi, nicht gelungen war, voll___________ 39

APF Acta SC vol. 17, fol. 410, no. 6. E. Fermendzin, Acta Bosnae, 467–468; Krista Zach, Die Visitation des Bischofs von Belgrad, Marin Ibrisimovic in Türkisch-Ungarn (1649), in: Ungarn-Jahrbuch 8 (1977), 1–31; Marco Jacov, Le missioni cattoliche nei Balcani durante la guerra di Candia (1645–1669), I, Roma 1992, 276–278; Antun Devic, Dakovacka i srijemska biskupija. Spisi generalnih sjednica Kongregacije za Sirenje Vjere, 17. Stoljece, Zagreb 2000, 376–378; Antun Devic/Ilija Martinovic, Djakovacka I srijemska biskupija. Biskupski procesi i izvjestaji 17. i 18. stoljece, Zagreb 1999, 366–369. 41 APF SOCG vol. 269, fol. 35, 36, 37, 54, 70, 93, 100/v, 35, 36, 37, 54, 70. 40

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brachte der bosnische Franziskaner Ibrishimovich: Die Türken hinderten ihn nicht daran, die Grenzgebiete Türkisch-Ungarns aufzusuchen. Der Budaer Pascha, Wesir Siavus, genehmigte Ibrishimovich für 40 Taler, auch in den Gebieten um Gyöngyös an der osmanisch-habsburgischen Grenze zu visitieren. (Auch sein Nachfolger, der ebenfalls bosnische Franziskaner Matteo Benlich, durfte Pest und Gyöngyös aufsuchen.) Der Bischof hielt sich am 11. Juli in Pest auf, wo er in acht Tagen 238 Gläubige firmte. Mit der Genehmigung des Budaer Paschas begab er sich ins Kloster der Franziskaner-Observanten in Gyöngyös. Laut Ibrishimovichs Berichten nach Rom hat er während seiner Visitation Priester sowie Friedhöfe und tragbare Altäre geweiht, früher von Protestanten besetzte Kirchen und Friedhöfe neu gesegnet. Diese Tätigkeiten waren in der katholischen Kirche nur geweihten Bischöfen vorbehalten, wodurch die außerordentliche Bedeutung der Reise von Ibrishimovich zu erklären ist. Durch die Existenz des Franziskaner- und des Jesuitenklosters in Gyöngyös lebten in der Umgebung zahlreiche katholische Gemeinden. Unter den Firmlingen fand Ibrishimovich angeblich 100jährige und noch ältere, denn seit der türkischen Eroberung war hier kein katholischer Bischof verkehrt. Leider geht aus dem Bericht von Ibrishimovich nicht hervor, wie viele und namentlich welche Priester er geweiht hat, er schrieb aber in seinem Brief nach Rom, daß er viele verheiratete Laien, Lizentiaten genannt, vorgefunden habe, die die fehlenden Pfarrer ersetzt hätten, und daß viele geeignete Personen in der Gegend zu Priestern geweiht werden wollten, was aber mangels eines Bischofs nicht möglich gewesen sei, oder aber man habe sie nach Polen schicken müssen. Am 8. September begab sich der Belgrader Bischof nach Gyöngyöspata, wo er vom Richter der Gemeinde mit großer Freude empfangen wurde. Ibrishimovich berichtet den Kardinälen der Propaganda-Kongregation, der katholische Richter von Gyöngyöspata habe ihm erzählt, daß sein Vater dreimal der Königswahl in Buda beigewohnt hätte, der Wahl von König Matthias, János und Lajos, die alle drei Gyöngyöspata aufgesucht hätten, aber im Leben des Vaters und in seinem Leben sei außer Ibrishimovich kein Bischof gekommen. Daß die drei vor 100–140 Jahren verstorbenen Könige Matthias Corvinus (1458–1490), János Szapolyai (1526–1540) und Lajos II. (1516–1526) Gyöngyöspata aufgesucht hätten, war Teil einer populären, sagenhaften Erinnerung und entbehrte genauso jeder Grundlage wie die Anwesenheit des Vaters des Richters bei der Wahl von Matthias vor 191 Jahren42. Daß aber im Marktflecken seit über hundert Jahren kein katholischer Bischof auftauchte, können wir dem Richter von Gyöngyöspata getrost glauben. ___________ 42 István György Tóth, Literacy and Written Culture in Early modern Central Europe, Budapest 2000, 86–89.

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Ibrishimovich war schon während seiner Visitation im Norden vom Wechselfieber geschüttelt worden, er kränkelte, wurde dann bettlägerig und starb am 21. Januar 1650 in seiner Heimatstadt Požega43.

VII. Matteo Benlich, der wichtigste Missionar Türkisch-Ungarns Die Kardinäle der Propaganda-Kongregation waren sich über den entscheidenden Einfluß der bosnischen Franziskaner in der Belgrader Diözese im klaren. Marino Ibrishimovichs unbestreitbare Erfolge, die er in der kurzen Zeit im Bischofsamt erreicht hatte, lassen sich dadurch erklären, daß er selbst ein Mönch der bosnischen Ordensprovinz war, die Sprache, die Gegend und die Pfarrer kannte und durch seinen früheren Posten in der Ordensprovinz großes Ansehen gewonnen hatte. Deshalb beschloß die Propaganda-Kongregation, wieder einen bosnischen Franziskaner mit der Verwaltung der bosnischen Diözese zu beauftragen, und zwar nicht irgendeinen Mönch, sondern den Provinzial Matteo Benlich44. Diese Entscheidung erwies sich als außerordentlich glücklich, denn man hatte sich für den besten Missionar Türkisch-Ungarns entschieden. Unter allen in Türkisch-Ungarn tätigen Missionaren hatten der Observantenmönch und Missionsbischof Matteo Benlich die größte Wirkung auf die katholische Erneuerung in osmanischem Gebiet. Während seiner fast ein Vierteljahrhundert dauernden Amtszeit als Belgrader Bischof visitierte er mehrmals seine sich auf das ganze osmanisch besetzte Gebiet Ungarns ausdehnenden Diözese. Bisher wurden seine Berichte nur als demographische Quellen für die Bevölkerungsentwicklung unter türkischer Herrschaft benutzt, diese Visitationsberichte sind aber auch die besten Quellen für die Kirchengeschichte Türkisch-Ungarns. Benlich suchte nicht nur den südlichen, von Kroaten bewohnten Teil Türkisch-Ungarns auf, er firmte sogar im Norden, in Pest, Esztergom, Gyöngyös, an der Grenze zum Habsburgerreich. Für den Visitator aus dem Inneren des Osmanischen Reiches schien nicht die Gegend um Belgrad, sondern eher das Grenzgebiet des Osmanischen Reiches gefährlich. Obwohl die vom Kaiser als ungarischem König ernannten Diözesanbischöfe Türkisch-Ungarn nicht aufsuchen konnten, übte Benlich 23 Jahre lang sein Bischofsamt aus, sogar während des großen Krieges gegen den Kaiser und Vene___________ 43 Eusebius Fermendzin, Chronicon observantis provinciae Bosnae Argentinae ordinis Sancti Francisci Seraphici, Starine JAZU (Zagreb) 1890, 39; István György Tóth, Les missionaires Franciscains venus de l'étranger en Hongrie au XVIIe siècle, in: XVIIe siècle 50 (1998), 219–231. 44 Schematismus provinciae ordinis fratrum minorum Bosnae Argentinae, Romae 1963, 14.

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dig in den 1650er Jahren45. Benlich wurde mehrmals von den Türken festgenommen, geschlagen, eingekerkert und sogar zum Tode verurteilt mit der Anklage, er sei ein Spion des Papstes und der Venezianischen Republik, der unter dem Vorwand einer Visitation Türkisch-Ungarn ausspähen wolle. 1653 wurde in Temeschwar sogar der Pfahl für Benlich gespitzt, als aber die dortige katholische Gemeinde die Summe von 400 Talern gesammelt und den türkischen Behörden übergeben hatte, wurde Benlich freigelassen und konnte seine Visitation fortsetzen, als ob nichts geschehen wäre. Die Muslime betrachteten den Bischof nicht als ihren Feind; die scheinbar so ernst gemeinte Anklage der Spionage im Dienste des Papstes war nur ein guter Vorwand, zusätzliche Gelder von den einheimischen Katholiken zu erpressen. Benlich war als Untertan des Sultans geboren worden und kam nicht aus den feindlichen habsburgischen Gebieten nach Türkisch-Ungarn, sondern aus dem Inneren des Osmanischen Reiches, aus Sarajevo in Bosnien, wie einige bosnischen Händler in Temeschwar vor dem Pascha aussagten46. Matteo Benlich starb am 30. Januar 1674 im Franziskanerkloster von Velika. Die Bedeutung Benlichs kann man nur mit der Rolle der anderen franziskanischen Missionsbischöfe des osmanischen Balkans für das Leben der Katholiken dieser Provinzen vergleichen: Eine ähnliche Rolle spielten in Moldau Marco Bandini, Erzbischof von Marcianopolis, in Bulgarien Pietro Deodato, Erzbischof von Sofia, oder in Albanien Pietro Bogdan, Erzbischof von Skopje – sie waren alle Missionsbischöfe und Observanten-Franziskaner. Nach dem Tod von Matteo Benlich überlegten die Kardinäle der Propaganda-Kongregation zwar, das vakante Bischofsamt einem Weltpriester zu übertragen, ließen dann diese Möglichkeit aber schnell fallen. Das Wort des Wiener Nuntius entschied wieder in dieser Frage: Der damalige Nuntius, Mario Alberizzi, war früher, zwischen 1657 und 1664, Sekretär der PropagandaKongregation, durch dessen Hände alle Briefe und Aufzeichnungen bezüglich der Missionen im türkischen Huldigungsgebiet Ungarns gegangen waren. Alberizzi kannte also die Lage genau und wollte deshalb keinen Weltpriester, sondern einen Franziskaner im Missionsbischofsamt sehen47. ___________ 45 Als eine Ausnahme können wir den Erzbischof von Gran, György Szelepcsényi, ansehen, der als kaiserlicher Gesandte nach Konstantinopel mehrmals Türkisch-Ungarn durchquerte. Der Tschanader Bischof Giacinto Macripodari war ein griechischer Dominikanermönch von der Insel Chios. Da er als Untertan des Sultans geboren worden war, konnte er ungehindert durch Türkisch-Ungarn reisen. APF SOCG vol. 310, fol. 137; vol. 93, fol. 112, 122/v. 46 Iván Borsa/István György Tóth, Benlich Máté belgrádi püspök jelentése a török hódoltság katolikusairól, 1651–1658 (Der Bericht des Belgrader Bischofs Matteo Benlich über die Katholiken des türkischen Huldigungsgebietes, 1651–1658), in: Levéltári Közlemények 60 (1989), 1, 83–142 (Studie und Quellenedition). 47 Donato Squicciarini, Nunzi apostolici a Vienna, Roma 1998, 138–139.

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VIII. Mattia Berniakovich – ein Bischof auf der Schulbank Die Propaganda-Kongregation wählte tatsächlich einen bosnischen Franziskaner, diese Entscheidung erwies sich aber als sehr unüberlegt, denn der Kandidat, Fra Mattia Berniakovich, war erst 23 Jahre alt und studierte noch. Seine Familie zählte zu den wichtigsten und reichsten Patronen der bosnischen Franziskaner. Allein dadurch läßt sich seine Ernennung erklären, ein klassisches Beispiel für den Nepotismus in der katholischen Kirche des 17. Jahrhunderts, der auf allen Ebenen vom apostolischen Staatssekretär bis zum Pfarrer zur Geltung kam48. Der Franziskaner-Observant trug mehr als drei Jahrzehnte lang den Titel des Belgrader Bischofs, des Bischofs Türkisch-Ungarns, verbrachte aber kaum dreieinhalb Jahre unter seinen Gläubigen. Noch als hoffnungsvoller Student wurde er zum Bischof geweiht und beendete sein Leben voller Fiaskos als stiller Wahnsinniger in ehrbarer Gefangenschaft in der päpstlichen Festung von Ancona. Die Familie Berniakovich (Brnjakoviü) war eine der reichsten Händlerfamilien von Bosnien, die in Wien, Ragusa, Konstantinopel und Venedig tätig war. Das 1950 zugemauerte und vor einigen Jahren wiederentdeckte Archiv des Franziskanerklosters in Gyöngyös beherbergte wichtige Unterlagen bezüglich der bosnischen Provinz, aus denen hervorgeht, daß das im Handel aktivste Mitglied der Familie, Filippo Berniakovich aus Sarajevo, als Generalkurator die Finanzen der Ordensprovinz der bosnischen Franziskaner verwaltete. Der junge Fra Mattia Berniakovich hatte seine Ernennung zum Bischof also nicht seiner früheren Tätigkeit oder seinen bischöflichen Tugenden zu verdanken, sondern den großen Verdiensten seines Onkels in der Finanzverwaltung der Ordensprovinz49. Im Dezember 1675 ernannte Clemens X. Berniakovich tatsächlich zum Belgrader Bischof. Die Weihe des jungen Bischofs mußte wegen der kanonischen Vorschriften verschoben werden. Zunächst ging Berniakovich nach Tivoli bei Rom, um weiter zu studieren. Obwohl die Ernennung von Berniakovich sowohl von den im Kloster von Fojnica versammelten bosnischen Franziskanern als auch von den Belgrader Gläubigen – davon zeugen zumindest ihre Briefe nach Rom – mit großer Freude aufgenommen wurde, war der 23jährige Mann sicherlich nicht der ideale Kandidat für das Bischofsamt Tür___________ 48

Antonio Menniti Ippolito, Il tramonto della curia nepotista, Papi, nipoti e burocrazia curiale tra XVI e XVII secolo, Roma 1999, 32–58; Wolfgang Reinhard, Nepotismus. Der Funktionswandel einer papstgeschichtlichen Konstante, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 86 (1975), 145–185. 49 Archivum Fratrum Minorum, Budapest, Archivum conventi Gyöngyös, No. 7, 9. Aug. 1697; Srecko M. Dzaja, Konfessionalität und Nationalität Bosniens und der Herzegowina. Voremanzipatorische Phase 1463–1804, München 1984, 175–177; E. Fermendzin, Acta Bosnae, 515.

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kisch-Ungarns, auch wenn zu dieser Zeit noch nichts auf seine spätere Geisteskrankheit hinwies50. Immerhin hatten die Kardinäle der Propaganda-Kongregation mit der Ernennung eines Vikars für den abwesenden Bischof eine gute Wahl getroffen. Der bosnische Franziskaner Giovanni Braenovich a Derventa hatte in seiner Ordensprovinz verschiedene hohe Ämter bekleidet, wie z. B. Präfekt der Noviziaten im Kloster von Olovo, dann fünf Jahre lang Sekretär des bosnischen Bischofs, weitere drei Jahre Pfarrer in Sarajevo und schließlich Sekretär der bosnischen Ordensprovinz, was als eine Vertrauensstellung galt. Am 16. Februar 1676 ernannte Papst Clemens X. Giovanni a Derventa zum Vikar der Belgrader Diözese, und der Mönch begab sich bald zurück nach Ungarn. Aus den Briefen des Vikars nach Rom geht hervor, daß die kirchenrechtlichen Verhältnisse Türkisch-Ungarns seit 1618, als der Papst den ungarischen Katholiken unter türkischer Herrschaft mit Pietro Katich den ersten Bischof geschickt hatte, nicht eindeutiger geworden waren. Im türkischen Huldigungsgebiet wirkten fünf Vikare gleichzeitig, worüber sich auch Berniakovich bitter beklagte: Als Vikar des im italienischen Kloster von Tivoli studierenden Mattia Berniakovich fungierte der bosnische Franziskaner Giovanni Braenovich a Derventa, früherer Missionspräfekt von Lippa. Außer ihm würden zwei weitere bosnische Franziskaner, ein Jesuit und ein ungarischer Franziskaner-Observant, das Vikarsamt bekleiden, die sich alle in Türkisch-Ungarn für zuständig hielten – beklagten Berniakovich und Derventa einstimmig. Der Franziskaner Luca Ibrishimovich da Posega aus dem Kloster von Velika verwaltete als Vikar des Zagreber Bischofs das Land zwischen der Save und der Drau, während Luca Marunchich da Posega, ebenfalls bosnischer Franziskaner, sich als Budaer Vikar des Graner Erzbischofs, György Szelepcsényi, bezeichnete und in Buda mit dem sich ebenfalls als zuständig betrachtenden Missionsvikar massive Konflikte austrug. Der Bischof von Fünfkirchen schickte Jesuiten als Vikare nach Türkisch-Ungarn, meistens den Superior der jesuitischen Mission in Fünfkirchen, der Tschanader Bischof beauftragte hingegen den ungarischen Guardian des Klosters der Franziskaner-Observanten in der Stadt Szeged mit den Vikarsaufgaben51. Nicht einmal den Weg wollten ihm diese Vikare zeigen, wenn er visitiere und firme, grollte später der junge, in Türkisch-Ungarn unbewanderte Bischof Berniakovich, obwohl diese Vikare ihre Aufgaben schlecht verrichteten und sogar die Ehe zwischen Verwandten genehmigten. Berniakovich beklagte sich mit Recht, daß ihm, dem Bischof Türkisch-Ungarns, fast kein Wirkungs___________ 50

Premrou, op. cit., 56–58; Buturac, op. cit., 140–147; APF Acta SC vol. 48, fol. 110, no. 14; vol. 51, fol. 72, no. 1; vol. 50, fol. 151, no. 5; Bozitkovic, Kriticki ispit popisa bosanskih vikara i provincijala (1339–1735), Beograd 1935, 95; Archivum provinciae Sanctae Mariae Fratrum Minorum, Bratislava, 416, Lad. 52. Fasc. 5. No. 20. 51 APF SC Ungheria Transilvania vol. 2, fol. 94–95/v, fol. 121, 122/v.

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gebiet übrig bleibe, wenn die Mehrheit der Pfarrer und Gläubigen die Vikare der in Habsburg-Ungarn im „Exil“ lebenden, vom König ernannten Bischöfe akzeptiere. Dies war ein klares Zeichen dafür, daß – im scharfen Gegensatz zu den Kraftverhältnissen zu Beginn des 17. Jahrhunderts – die infolge der katholischen Reform und der Gegenreformation immer stärkeren, obwohl weiterhin „verbannten“ Bischöfe ihren Einfluß durch ihre Vikare auch in TürkischUngarn zunehmend zur Geltung bringen konnten – sowohl in seelsorgerischen als auch in finanziellen Angelegenheiten. Diese Vikare hatten auch die Aufgabe, den Zehnten und die dem Bischof gebührenden grundherrschaftlichen Einnahmen von den Bauern im türkischen Huldigungsgebiet einzutreiben. 1679 weihte Papst Innozenz XI. Berniakovich nach dem Abschluß seiner Studien zum Belgrader Bischof, und Ende 1679 reiste Berniakovich von Rom nach Belgrad, wo er seine kurzfristige Tätigkeit als Bischof aufnahm. Der immer noch erst 28jährige neue Belgrader Bischof geriet – wie fast alle in Belgrad tätigen bosnischen Franziskaner – mit den Händlern aus Ragusa in Belgrad in heftige Konflikte, die er im Januar 1680 exkommunizierte, worauf er von ihnen angezeigt wurde52. Die Briefe des Bischofs nach Rom berichten über den Anfang und das rasch eintretende Fiasko seiner engagierten bischöflichen Tätigkeit. Dem jungen und selbstbewußten Bischof schwebten große Pläne vor Augen, als er in Belgrad eintraf, er wurde aber bald mit großen Enttäuschungen konfrontiert. Er stritt sich auch mit seinem bisherigen Vikar, dem bosnischen Franziskaner Giovanni Baenovich a Derventa, eine weitere Eskalation des Konflikts ließ sich nur durch Derventas Tod im Sommer 1680 vermeiden. Berniakovich, der aus dem reichen Italien nach Türkisch-Ungarn kam, war über die örtlichen Verhältnisse entsetzt. Er war bei den italienischen Bischöfen nicht daran gewöhnt, daß sie in Lumpen predigten und von den Gläubigen nur ein oder zwei Hühnchen oder etwas Wein bekamen. Im Vergleich zu den italienischen Diözesen galt das Bistum von Belgrad als sehr bescheiden: In Belgrad habe er 130 bosnische und 10 Ragusaner katholische Haushalte vorgefunden, außerdem lebten in SzendrĘ 3–4 weitere Katholiken ohne Familie und einige katholische Familien in Višnjevci, dies sei seine gesamte Diözese, schrieb Berniakovich verzweifelt. Die Ragusaner behaupteten, Bernakovich habe sich nicht wie ein Hirte, sondern wie ein Wolf aufgeführt, und als ihm das Pluviale überreicht worden sei, damit er die sich seit langem danach sehnenden Gläubigen firme, habe er es in der Mitte der Kirche empört auf den Boden geworfen und eines aus Brokat verlangt. Am 2. Februar, zu Mariä Lichtmeß, brach in Belgrad ein neuer Konflikt aus: Statt zu predigen exkommunizierte der Bischof die Gemeinde der Belgra___________ 52 APF SOCG vol. 481, fol. 235; APF SC Ungheria-Transilvania vol. 2, fol. 121– 122/v, fol. 84–85/v; Buturac, op. cit., 143–146; APF SOCG vol. 480, fol. 216.

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der Händler aus Ragusa. Sie durften den Gottesdiensten nicht mehr beiwohnen, und Berniakovich, der sich nach Sarajevo begab, verbot dem Kaplan sogar, den Kranken die Sakramente zu spenden – da in der Stadt die Pest tobe, könnten wegen des Bischofs viele Seelen verdammt werden, schrieb ein Abt aus Ragusa. Das Verhalten von Bischof Berniakovich habe sogar die Türken bestürzt, schrieb der Abt und fügte hinzu: Berniakovich habe die Exkommunikation zwecks größerer Demütigung in slawischer Sprache verkündet, d. h. sicherlich in Kyrillika (bosanþiüa) geschriebenem bosnischem Kroatisch, und nicht in Lateinisch oder Italienisch. Dieser „schandhaften“ Exkommunikation hätten aber die Ragusaner Katholiken in Belgrad nicht lange zugeschaut – wie Berniakovioch berichtet: Sie hätten die Urkunde vom Kapellentor abgerissen, die Macht des Bischofs völlig mißachtend. Die Ragusaner zeigten dann Berniakovich in Rom und bei der türkischen Behörde gleichzeitig an und schrieben – als besondere Schande für den jungen Bischof – auch dem Vater des Bischofs in Sarajevo. Berniakovich sah sich gezwungen, die Exkommunikation zurückzuziehen, und so kam der Streit zwischen Bosniern und Ragusanern zu einem Abschluß53. Aus den Briefen von Berniakovich geht hervor, daß in diesen Jahren alle, die osmanischen Herren genauso wie ihre katholischen Untertanen, eine lange, relativ friedliche Epoche türkischer Herrschaft prognostizierten. Das auch durch Belgrad strömende Heer des Großwesirs Kara Mustafa, dann der Sturm des sechzehnjährigen großen Krieges nach der erfolglosen Belagerung von Wien im Jahre 1683 fegten aber diese türkisch-bosnisch-ungarisch-dalmatische Welt für immer weg. Mit ihr verschwanden das Bistum von Berniakovich, der jahrzehntelange Zwist zwischen den bosnischen Katholiken und jenen aus Ragusa um die Belgrader Kapelle sowie der gesamte modus vivendi, der auf der Bestechung der türkischen Herren basierte. Es versanken die Missionen der bosnischen Franziskaner nördlich von Belgrad, die Missionshäuser in Lippa und Arad samt ihren ungarischen, kroatischen und rumänischen Gläubigen, und auch der Streit der Guardiane der Klöster in Bosnien, von Olovo und Tuzla, um die Einkommen dieser Missionen hatte ein Ende. Der anderthalb Jahrzehnte währende große Krieg sollte alles ändern, sowohl in Belgrad als auch in Lippa oder Sarajevo. 1683, kaum drei Jahre nachdem Berniakovich nach Belgrad gekommen war, brach das Heer von Großwesir Kara Mustafa nach Wien auf, und der große Krieg, der den Balkan und Ungarn sechzehn Jahre lang heimsuchen sollte, hatte begonnen. Der Bischof entfloh den in Belgrad einmarschierenden türkischen Heeren nach Sarajevo. Seinen Briefen ist zu entnehmen, daß er sich als bosnischer Franziskaner in bosnischen Klöstern vor den Türken versteckte und gleichzeitig seine eigene Todesnachricht verbreitete, um von den Türken nicht ___________ 53

APF SOCG vol. 481, fol. 238.

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gesucht zu werden. Dies scheint aber schon das erste Zeichen dafür zu sein, daß das seelische Gleichgewicht des Bischofs aus den Fugen geriet. Später reiste Berniakovich von Sarajevo nach Ragusa und beobachtete den ungarischen Befreiungskrieg in der befestigten Hafenstadt dreizehn Jahre lang aus sicherer Entfernung – sicherlich auch von den weitläufigen Kontakten seiner Händlerfamilie unterstützt. Es wurde aber immer deutlicher, daß sich der Geist des Bischofs trübte, da er sich wie ein melancholischer Sonderling zu benehmen begann. Die Propaganda-Kongregation schickte den Flüchtling nach Spalato (Split) in Dalmatien, wo er aber keine Ruhe fand und in den Kirchenstaat, in den Hafen von Ancona, zurückkehrte. Hier wurde der geisteskranke Bischof in die Festung von Ancona eingesperrt, und der Festungskommandant berichtete der PropagandaKongregation in Rom regelmäßig über seine Versorgung und seinen Zustand54. Mattia Berniakovich, der letzte Missionsbischof Türkisch-Ungarns, starb am 10. Januar 1707, kaum 55 Jahre alt, als Gefangener der Festung von Ancona, in tiefer Unwissenheit über seine inzwischen von den Türken befreiten Gläubigen.

IX. Das Ende des Missionsbistums Zu dieser Zeit gehörte aber das Missionsbistum von Belgrad nicht mehr den Türken, auch wenn sein Sitz, Belgrad, weiterhin in türkischen Händen war. Nach dem Tod von Berniakovich wurde 1708 der kroatische Weltpriester Luca Natale in das Amt des Belgrader Bischofs eingesetzt. Als Missionar und Vikar des syrmischen Bischofs hatte er mehrere Jahrzehnte in Türkisch-Ungarn verbracht und in den blutigen Jahrzehnten des Befreiungskrieges an der Grausamkeit der Türken gelitten. Als Belgrader Bischof fungierte er aber nicht mehr als Missionsbischof, sondern – ähnlich wie die vom König eingesetzten Bischöfe Türkisch-Ungarns im 17. Jahrhundert – als „verbannter“ Bischof. Papst Clemens XI. ernannte ihn 1708 zum Belgrader Bischof und zum apostolischen Vikar des früheren Türkisch-Ungarns. Der neue Bischof beförderte seinen eigenen Neffen, Andrea Natale, zu seinem Generalvikar55. Obwohl Belgrad weiterhin eine wichtige türkische Festung darstellte, lagen die dazugehörigen Pfarreien schon auf dem Gebiet des Kaisers. Hier in Syrmien lebte auch Luca Natale. Der Erzbischof von Gran ernannte Natale zum Administrator von Syrmien und des türkischen Grenzgebiets, und er brach nach seiner Konsekration auf, um zu visitieren und zu firmen. Viele Tausende Firmlinge hätten sich versammelt, berichtete er, von dieser Gegend könne man nicht ___________ 54 55

APF SOCG vol. 538–558, passim. APF SOCG vol. 569, fol. 199–200/v, fol. 198/r-v; vol. 575, fol. 199–203a.

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einmal feststellen, zu welcher Diözese sie gehöre. Die erwähnten Dörfer lagen an der türkischen Grenze, aber schon auf christlichem Territorium. Natale hatte aber die feste Absicht, auch seine Gläubigen jenseits der Grenze aufzusuchen. Der Wiener Nuntius besorgte Natale von Kaiser Joseph I. einen Paß, und er reiste tatsächlich nach Belgrad und Temeschwar. Die Paschas empfingen den Bischof in beiden Städten mit Anstand und nach langwierigen Verhandlungen mit den Beys neigten sie dazu, ihm das Spenden der Sakramente und das Predigen zu genehmigen. Da sie aber den Zorn des Sultans fürchteten, verweigerten sie ihm später doch ihre Einwilligung, bis sie von der Hohen Pforte eine eindeutige Antwort bekämen. Die Türken beanstandeten auch, daß die Diener des Bischofs Waffen trugen, um sich vor Straßenräubern zu schützen. Der Dolmetscher des Temeschwarer Paschas schlug einen zur Zeit der Türkenherrschaft oft verwendeten, aber keinesfalls effektiven Weg vor: Der kaiserliche Gesandte in Konstantinopel sollte beim Sultan erreichen, daß Natale als Bischof das türkische Gebiet visitieren dürfe, denn im Frieden zu Karlowitz seien keine Bischöfe, nur katholische Priester erwähnt. So war Natale gezwungen, diesen weiterhin unter türkischer Herrschaft befindlichen Teil seiner Diözese zu verlassen. Der sächsische Herzog Christian August, Erzbischof von Gran, beförderte Luca Natale zu seinem Auxiliarbischof und vertraute ihm Oberungarn an. Luca Natale visitierte 1715–16 im Auftrag des Erzbischofs die oberungarischen Pfarreien sowie Buda und Pest. Da Belgrad 1717 von kaiserlichen Truppen befreit wurde, hoffte Natale bis zu seinem Tod, seinen Sitz in Belgrad einnehmen zu können. Dies erfolgte aber nie, und er bemühte sich auch umsonst um eine andere, konsolidiertere Diözese56. Nach der Vertreibung der Türken und dem Frieden zu Karlowitz (1699) „rückeroberte“ die vertriebene ungarische katholische Hierarchie die Pfarreien, und die fast dem Titel „in partibus infidelium“ gerecht werdenden Diözesen in Türkisch-Ungarn wurden langsam zu tatsächlichen, lebendigen Bistümern. Auch wenn christianisierende und die Katholiken in ihrem Glauben bekräftigende Missionen in Ungarn weiterhin tätig waren, war das Zeitalter des Missionsbistums in diesem Gebiet ein für allemal abgeschlossen. Die Geschichte dieses einzigartigen, neben den weiterhin existierenden Diözesen aufgebauten Missionsbistums zeigt nicht nur die Möglichkeiten und Grenzen der katholischen Erneuerung im „Hause des Islams“. Diese Geschichte der unter den osmanischen Paschas lebenden katholischen Oberhirten macht auch die wahre Natur der „muslimischen Toleranz“ im Osmanischen Reich deutlich. ___________ 56 APF SOCG vol. 577, fol. 59, 62/v; István György Tóth, La tolérance religieuse, la réforme catholique et l'islam en Hongrie aux temps modernes, in: L'Europe à un an de l'an 2000, hrsg. v. Michel Dumoulin, Louvaine-la-Neuve 1999, 47–57.

Edward Gibbon, das antike Christentum und die anglikanische Kirche Wilfried Nippel Edward Gibbon (1737–1794) hat zwischen 1776 und 1788 seine History of the Decline and Fall of the Roman Empire veröffentlicht. Sie behandelt in sechs Bänden mit weit über 3000 Seiten die Zeit vom 2. Jahrhundert nach Christus bis zum Fall Konstantinopels im Jahre 14531. Gibbon wollte eine „philosophische Geschichte“ vorlegen, die sich jedoch – anders als bei Voltaire – durch Faktengenauigkeit und Quellengebundenheit auszeichnen sollte. Dieses Programm hatte er schon in seinem 1761 publizierten Essai sur l'étude de la littérature entwickelt. Er ist sich allerdings lange nicht schlüssig gewesen, an welchem Gegenstand er dieses Konzept umsetzen sollte. Dies gilt auch noch für die Zeit nach seiner Italienreise – trotz der in seiner Autobiographie so eindrucksvoll stilisierten Beschreibung seines Gangs auf das Capitol am 15. Oktober 1764 als Konzeptionsstunde seines Werkes2. Vielmehr ist Gibbon noch mehrere Jahre ein Historiker auf der Suche nach dem ___________ 1 Zitate aus den ersten drei Bänden (=Kap. I-XXXVIII) werden nach der neuen deutschen Übersetzung gegeben: Edward Gibbon, Verfall und Untergang des römischen Imperiums. Bis zum Ende des Reiches im Westen, 6 Bde. Übersetzt von Michael Walter und Walter Kumpmann, München 2003 (zitiert als: VU), Zitate aus den Bänden 4–6 (=Kap. XXXIX-LVII) des Originals nach der jetzt maßgeblichen Edition: Edward Gibbon, The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, hrsg. v. David Womersley, 3 Bde., London 1994 (zitiert als: DF; diese Ausgabe enthält in Bd. 3 auch den Text von Gibbons Replik auf seine Kritiker, zitiert: Vindication). Da nur die Kapitelzählung in sämtlichen Editionen und Übersetzungen identisch ist, die Bandaufteilungen dagegen variieren, wird den Zitaten aus Gibbons Werk jeweils die Kapitelangabe vorangestellt. – Gibbons Autobiographie wird zitiert nach: Edward Gibbon, Memoirs of My Life, hrsg. v. Betty Radice, Harmondsworth 1984 (zitiert als: Memoirs), seine Briefe sind ediert in: The Letters of Edward Gibbon, 3 Bde., hrsg. v. Jane Elizabeth Norton, London 1956 (zitiert als: Letters). – Für eine ausführliche Darstellung von Gibbons Leben und Werk sei verwiesen auf Wilfried Nippel, Der Historiker des Römischen Reiches: Edward Gibbon (1737–1794), in: VU, Bd. 6, 7–102 (und Bibliographie der Sekundärliteratur 103– 114). 2 Memoirs 143. Zu den Stilisierungen vgl. Patricia B. Craddock, Young Edward Gibbon. Gentleman of Letters, Baltimore 1982, 222f.; dies., Edward Gibbon and the „Ruins of the Capitol“, in: Anabel Patterson (Hrsg.), Roman Images, Baltimore 1982, 63–82; Catharine Edwards, Writing Rome. Textual Approaches to the City, Cambridge 1996, 69ff.

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adäquaten Gegenstand gewesen, sei es eine Geschichte der Schweiz oder von Florenz unter den Medici oder auch eine Biographie Walter Raleighs. Die Entscheidung für eine Geschichte des Römischen Reiches bedeutete eine Identitätsfindung. Bei Vollendung seines Werkes überkam Gibbon nicht nur „Freude über die Begründung des Ruhms“, sondern auch „nüchterne Melancholie“, da er sich nach über zwei Jahrzehnten von dem Gegenstand trennen mußte, dem er „Namen, Rang und eine Rolle in der Welt“ verdankte, die ihm sonst „nie zugestanden hätten“3. Eine Position in der englischen Gesellschaft hätte Gibbon beinahe in seiner Jugend verspielt. Als fünfzehnjähriger Student in Oxford hatte er sich in das Studium theologischer Kontroversliteratur vertieft. Er beschäftigte sich mit dem Werk von Conyers über die Wunder in der nach-neutestamentlichen Zeit der Kirche4. Middleton hatte zwar vorgegeben, an der Authentizität der Wunder Christi und der Apostel festzuhalten, die der späteren Zeit jedoch verneint, um die Autorität der späteren Kirche zu unterminieren. Middletons Werk hat in der öffentlichen Wahrnehmung lange Humes Essay über die Wunder (1748) – zu dessen Verärgerung – überschattet5. Middletons Zäsur hat Gibbon nicht überzeugt; deshalb las er anti-protestantische Werke von Bossuet – und zog die Konsequenz, sich im Juni 1753 von einem Geistlichen der sardinischen Botschaft in London in die katholische Kirche aufnehmen zu lassen. Nach der in England geltenden gesetzlichen Regelung konnte ein Katholik weder an den Universitäten studieren noch ein öffentliches Amt bekleiden. (Der „Test Act“ von 1673 ist erst 1829 aufgehoben worden). Sein Vater schickte Gibbon deshalb zu einer protestantischen „re-education“ in die Obhut eines calvinistischen Pfarrers nach Lausanne, was schließlich den gewünschten Erfolg einer – jedenfalls äußerlichen – Rückkehr zum Protestantismus zeitigte. Als Gibbon Weihnachten 1754 in Lausanne am Abendmahl in einer presbyterianischen Gemeinde teilnahm, war ihm bewußt, daß es Differenzen zum Anglikanismus gab, doch tröstete er sich damit, daß letztlich der gemeinsame Glaube zähle6. Gibbons Werk fand eine sensationelle Aufnahme, die vor allem auf seine Behandlung des Christentums zurückging. Zeitgenossen delektierten sich ent___________ 3

Memoirs 169 und 175. Conyers Middleton, A Free Inquiry into the Miraculous Powers, Which are Supposed to Have Subsisted in the Christian Church, London 1747, 21749 (ND New York 1976). – Daß Gibbon, wie er in seiner Autobiographie (Memoirs 84–87) behauptet, Middleton schon damals gelesen hat, wird bezweifelt von David Womersley, Gibbon and the ‚Watchmen of the Holy Cityǥ. The historian and his reputation 1776–1815, Oxford 2002, 311. 5 Vgl. Ernest C. Mossner, The Life of David Hume, Oxford ²2001, 223; John Gascoigne, Cambridge in the Age of the Enlightenment. Science, religion and politics from the Restoration to the French Revolution, Cambridge 1990, 138ff. 6 Brief an Catherine Porten, Februar 1755; Letters I, 3. 4

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weder an seiner Ironie oder empörten sich über den impertinenten Angriff auf den christlichen Glauben, der „so viele Seelen verdorben“ habe7. Wenn es im allgemeinen Bewußtsein bis heute eine Vorstellung von Gibbons Werk gibt, so ist dies seine – tatsächliche oder vermeintliche – These, das Christentum habe entscheidend zum Untergang des Römischen Reiches beigetragen. Schließlich findet sich ja im letzten Kapitel seines Geschichtwerks die immer wieder zitierte Sentenz vom „Triumph von Religion und Barbarei“8. Gibbon ist von seiner eigenen Zeit bis ins 20. Jahrhundert immer wieder als ein aufklärerischer Thesenhistoriker, eine Art englischer Voltaire wahrgenommen worden9. Dieser Schein trügt, nicht nur, weil Gibbon wiederholt gegen Voltaires nonchalanten Umgang mit Fakten und Daten polemisiert10. So sehr sich Gibbon im Arsenal aufklärerischer Religionskritik bediente, so sehr kam er doch, je mehr sein Werk fortschritt, zu einer höchst komplexen Bewertung der Rolle des Christentums. Ein Diktum wie dasjenige Voltaires, das Christentum habe den Himmel geöffnet, aber dabei das Römische Reich zerstört11, findet sich in dieser Form bei Gibbon nicht. Gibbon bedient sich lieber der Technik, durch den Aufbau seines Werkes dem Publikum bestimmte Deutungen zu suggerieren, ohne sich damit selbst auf eine dezidierte These festlegen zu lassen. Seine umfassende Auswertung der Quellen und der gelehrten Literatur auf allen Fachgebieten seit der Renaissance dokumentiert er in einem Anmerkungsapparat von mehr als 8000 Fußnoten. Deshalb kann er sich die Freiheit nehmen, von einer Ereignisgeschichte in der strikten Abfolge der Chronologie abzuweichen. Im 1776 publizierten ersten Band behandelt er zunächst die Zeit bis zur Etablierung der Alleinherrschaft Konstantins im Jahre 324, ohne auf das Christentum einzugehen. Erst in den Kapiteln 15 und 16 kommt er auf den Aufstieg des Christentums und auf die ___________ 7

So die Evangelikale Hannah More, zitiert bei Roy Porter, Gibbon. Making History, London 1988, 111. 8 Sie dient jetzt als Titel für das vielbändige Werk von John G. A. Pocock, Barbarism and Religion, 4 Bde. [bisher], Cambridge 1999–2005. 9 Für die Verfestigung dieses Bildes unter dem Eindruck der Kritik von Burke an Aufklärung und französischer Revolution vgl. Paul Turnbull, ‚Une marionnette infidèleǥ: The fashioning of Edward Gibbonǥs reputation as the English Voltaire, in: David Womersley (Hrsg.), Edward Gibbon, Bicentenary Essays, Oxford 1997, 279–307; für das deutsche Gibbon-Bild: Friedrich Meinecke, Bemerkungen über Gibbon, in: Reine und angewandte Soziologie. Festgabe Ferdinand Tönnies, hrsg. v. Gerhard Albrecht, Leipzig 1936, 35–41; ders., Die Entstehung des Historismus, München 41965, 229ff.; dazu Wilfried Nippel, Gibbon and German Historiography, in: Benedikt Stuchtey/Peter Wende (Hrsgg.), British and German Historiography 1750–1950, Oxford 2000, 67–81. 10 Kap. I, VU, Bd. 1, 41, Anm. 87; Kap. XIX, VU, Bd. 3, 16, Anm. 23; Kap. LI, DF, Bd. 3, 252, Anm. 55. 11 Voltaire, Essai sur le mœurs et lǥesprit des nations, hrsg. v. René Pomeau, Paris 1963, Bd. I, 304.

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Christenverfolgungen zu sprechen. Da diese beiden Kapitel den Abschluß des Bandes bildeten, erhielten sie besonderes Gewicht, schienen sie doch die Deutung nahezulegen, das Christentum sei entscheidend für den Untergang des Reiches gewesen. Allerdings findet sich schon in einem früheren Kapitel eine bemerkenswerte Fußnote. Sie zeigt, wie sehr Gibbon bewußt war, daß er sich auf einem verminten Gelände bewegte: „Apollonius von Tyana wurde etwa zur selben Zeit geboren wie Jesus Christus. Sein Leben (das des ersteren) wird von seinen Schülern in so fabulöser Weise erzählt, daß wir nicht zu erkennen vermögen, ob er ein Weiser, ein Betrüger oder ein Schwärmer war“12. Die Klammer macht die Aussage formal unangreifbar und suggeriert zugleich, daß man sie eben doch auf Jesus beziehen könne. Der Satz evoziert eine Fülle von Bezügen. Apollonius von Tyana war ein neupythagoreischer Wanderprediger des 1. Jahrhunderts n. Chr., dem eine wunderbare Geburt, Dämonenaustreibungen, Krankenheilungen, Auferweckung von Toten, schließlich die Himmelfahrt nach seinem Tode nachgesagt wurde13. Er wurde in der Folgezeit sowohl als Zauberer und Scharlatan denunziert wie als göttlicher Mann verehrt. Im frühen 3. Jahrhundert hat Philostratos eine Biographie geschrieben, die den Status des Apollonius als heiliger Mann festigen sollte. Die Idealkonkurrenz mit Christus war damit wahrscheinlich noch nicht intendiert gewesen. Als eine Christus überlegene Figur wurde Apollonius jedoch spätestens Ende des 3. bzw. zu Beginn des 4. Jahrhunderts von Porphyrius und vor allem von Hierokles Sossianus dargestellt. Dieser Hierokles war ein hoher Beamter unter Diokletian und einer der geistigen Urheber der großen Christenverfolgung. Auf seine Schrift reagierten wiederum Laktanz und Eusebius von Caesarea14. Die Figur des Apollonius fand auch in der Neuzeit großes Interesse. 1680 hat Charles Blount, ein englischer Deist, eine kommentierte Übersetzung der Apollonius-Biographie des Philostratos vorgelegt, die als Attacke auf das Christentum wahrgenommen wurde15. Ob Gibbon den Text von Blount kannte, ist ___________ 12

Kap. XI, VU, Bd. 1, 383, Anm. 63. Belege bei Hans Dieter Betz, „Gottmensch II“, Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 12 (1983), 234–312, 249–251. 14 Vgl. zu diesen Kontroversen u.a. Gerd Petzke, Die Traditionen über Apollonius von Tyana und das Neue Testament, Leiden 1970; Marie Theres Fögen, Die Enteignung der Wahrsager. Studien zum kaiserlichen Wissensmonopol in der Spätantike, Frankfurt am Main 1993, 185ff.; Michael Fiedrowicz, Apologie im frühen Christentum. Die Kontroverse um den christlichen Wahrheitsanspruch in den ersten Jahrhunderten, Paderborn 2000, 80ff.; Johannes Hahn, Weiser, göttlicher Mensch oder Scharlatan? Das Bild des Apollonius von Tyana bei Heiden und Christen, in: Barbara Aland u.a. (Hrsgg.), Literarische Konstituierung von Identifikationsfiguren in der Antike, Tübingen 2003, 87–109. 15 Vgl. John Redwood, Charles Blount (1654–93). Deism and English Free Thought, Journal of the History of Ideas 35 (1974), 490–498; Henning Graf Reventlow, Bibelautorität und Geist der Moderne. Die Bedeutung des Bibelverständnisses für die geistes13

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nicht klar, die von ihm ausgelöste Diskussion, die noch im 19. Jahrhundert heftige Reaktionen zeitigen sollte16, kann ihm nicht entgangen sein. Der Jansenist Tillemont – ein wichtiger Materiallieferant für Gibbon17 – hat geschrieben, der Teufel habe, aus Furcht sein Reich vernichtet zu sehen, Apollonius gleichzeitig mit Jesus geboren werden lassen18. Pierre Bayle hat in seinem Wörterbuch Apollonius und seiner widersprüchlichen Bewertung in Antike und Neuzeit einen Artikel gewidmet, in dem er auch auf Blount und Tillemont Bezug genommen hat19. Gibbons Begriff des Betrügers („impostor“) verweist zugleich auf einen weiteren Diskussionszusammenhang, auf eine berühmte Schrift über die drei Betrüger: nämlich Moses, Jesus, Mohammed. Es handelt sich um einen Text, der nach einer langen, teils legendären Vorgeschichte 1719 als angebliche Quintessenz aus Spinoza veröffentlicht worden ist20. Er bietet eine Montage aus religionskritischen Texten des 17. Jahrhunderts – wie Hobbes und Spinoza – und aus Celsus, dem (indirekt durch die Gegenschrift des Origenes überlie___________ geschichtliche und politische Entwicklung in England von der Reformation bis zur Aufklärung, Göttingen 1980, 472. 16 So bei Ferdinand Christian Baur, Apollonius von Tyana und Christus oder das Verhältnis des Pythagoreismus zum Christentum. Ein Beitrag zur Religionsgeschichte der ersten Jahrhunderte nach Christus, Leipzig 1876 (ND Hildesheim 2000), 10 mit unmittelbarem Bezug auf Blount: „Wie so viele von den neuern Gegnern des Christenthums erhobene Angriffe nur eine Wiederholung der alten heidnischen Polemik sind, so wurde auch die Parallele zwischen Christus und Apollonius aufǥs neue hervorgesucht, um den wundervollen Charakter des Christenthums in ein zweideutiges Licht zu setzen, und die Vertheidiger desselben durch das Dilemma in die Enge zu treiben, dass entweder die Wunder Christi nur in dem Sinne für wahr gehalten werden können, in welchem auch die Wunder des Apollonius für wahr gehalten werden müssen, oder dass, wenn die Fälschung dieser nicht bezweifelt werden dürfe, auch für jene kein entscheidendes Kriterium der Wahrheit festgehalten werden könne“. 17 Vgl. Martin P. R. McGuire, Louis-Sebastien Le Nain de Tillemont, Catholic History Review 52 (1966), 186–200; David P. Jordan, Le Nain de Tillemont. Gibbonǥs ‚sure-footed muleǥ, Church History 39 (1970), 483–502; Ronald T. Ridley, On knowing Sébastien le Nain de Tillemont. For the tercentenary of his ‚Histoireǥ, Ancient Society 23 (1993), 233–295. 18 Sebastien Le Nain de Tillemont, Histoire des Empereurs et des autres Princes, qui ont regné durant les six premiers siècles de lǥEglise, Brüssel 1732, Bd. II, 50–56. 19 Zu Blount: „Nicht vor allzulanger Zeit hat eine Übersetzung dieses Lebens [= Apollonius-Vita des Philostratos], mit Noten, fromme Seelen auf das grausamste geärgert“; Pierre Bayle, Historisches und Critisches Wörterbuch. Nach der neuesten Auflage von 1740 ins Deutsche übersetzt … von Johann Christoph Gottfried Gottsched, ND Hildesheim 1997, Bd. I, 268–271, 268. 20 Traktat über die drei Betrüger. Französisch-deutsch, hrsg. v. Winfried Schröder, Hamburg 1992 (mit ausführlicher Einleitung des Herausgebers); vgl. für knappe Einordnungen Silvia Berti, At the Roots of Unbelief, Journal of the History of Ideas 56 (1995), 555–575, 561; Jonathan I. Israel, The Dutch Republic. Its rise, greatness and fall, 1477–1806, Oxford 1995, 1047f.

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ferten) antichristlichen Polemiker des 2. Jahrhunderts, der Moses wie Jesus als Betrüger bezeichnet hatte. Dieser Traité des trois imposteurs ist einer der wenigen eindeutig atheistischen Texte der Aufklärung. Gibbon, der eine der im 18. Jahrhundert kursierenden Manuskriptfassungen dieses Textes besaß21, sollte darauf erst sehr spät in seinem Werk zurückkommen, als er nämlich im 5. Band den Islam behandelte. Er stellte dort Mohammed in einer Weise dar, die diesen weder als Betrüger noch als Repräsentanten eines gegenüber dem Christentum vorzuziehenden Monotheismus erscheinen ließ; letztere Deutung wurde von einer anderen Denkschule der Aufklärung vertreten22. Dieses Beispiel zeigt bereits, daß Gibbons Ausführungen zum Christentum virtuous mit einer komplizierten Tradition spielen, mit den antiken Polemiken zwischen Heiden und Christen ebenso wie mit den religionsphilosophischen Debatten der Neuzeit. Hinzu kommt, wie dann an seiner ausführlichen Darstellung des Christentums deutlich wird, der ständige Rückbezug auf die, seit der Reformation unterschiedlichen, Deutungen der Geschichte der frühen Christen in den verschiedenen christlichen Konfessionen und bei den Deisten. In den Kapiteln 15 und 16 stellt Gibbon zum Abschluß die Entwicklung des Christentums und die Christenverfolgungen dar. Ihre Brisanz liegt auch darin begründet, daß Gibbon sich hier programmatisch zur Aufgabe des Historikers äußert, der sich mit kirchengeschichtlichen Fragen auseinandersetzt. „Eine freimütige, aber wissenschaftliche Untersuchung der Ausbreitung und Durchsetzung des Christentums kann als ein ganz wesentlicher Teil der Geschichte des Römischen Reiches gelten“. (Wohlgemerkt: der „Geschichte“, nicht des „Untergangs“). Es geht um die Geschichte einer Religion, die schließlich das „Panier des Kreuzes auf den Trümmern des Kapitols“ hisste. „Dem Theologen sei das erquickliche Werk gegönnt, die Religion so zu schildern, wie sie einst in ihrem ursprünglichen Gewand der Reinheit vom Himmel herniederstieg. Dem Historiker obliegt eine eher schmerzliche Pflicht. Er muß die unvermeidliche Mixtur von Irrtum und Verfälschung aufzeigen, von der sie während eines langen Aufenthalts auf Erden unter einem so schwachen und degenerierten Menschengeschlecht befleckt wurde“23. Im Anschluß an eine Fragestellung von David Hume hat sich Gibbon deshalb nicht mit der ersten Ursache, die man im Walten der göttlichen Vorsehung finden möge, sondern nur mit den „sekundären“, das heißt den sozialen Fakto___________ 21 Vgl. David Womersley, Gibbonǥs Religious Characters, in: Stefan Collini u.a. (Hrsgg.), History, Religion, and Culture. British Intellectual History 1750–1950, Cambridge 2000, 69–88. 22 Vgl. Womersley, Gibbon (Anm. 4), 147ff. 23 Kap. XV, VU, Bd. 2, 122f.

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ren für den Erfolg des Christentums auseinandergesetzt. Gibbon geht „mit einer so zweideutigen Verbeugung an dem göttlichen Ursprung des Christenthums [vorüber], um desto ausführlicher zu zeigen, wie menschlich es bei seiner Ausbreitung zugegangen“, charakterisierte David Friedrich Strauß 1847 dieses Vorgehen24. Auf die Geschichte Jesu und der Apostel geht Gibbon in der Sache überhaupt nicht ein und vermeidet damit auch eine Stellungnahme zu der seit der Reformation immer wieder diskutierten Frage, ob die Entwicklung der Kirche einen Abfall von der Reinheit des Urchristentums bedeutet habe. Jesus wird allerdings en passant einige Male kurz erwähnt. Der Titulierung als „göttlicher Meister“, „göttlicher Stifter des Christentums“ und „unser Erlöser“ werden dabei Hinweise auf die abwertenden Urteile bei Celsus, Porphyrius, Julian und Libanios beigesellt25. In einer Mischung aus weitreichenden Generalisierungen und minutiösen Darlegungen von Details erörtert Gibbon die religiöse Exklusivität des Christentums, den Unsterblichkeitsglauben, die der Urkirche zugeschriebene wundertätige Macht, die tugendhafte Lebensführung der Christen und schließlich die Organisationsstärke der Kirche. Gibbon stellt heraus, daß die Christen sich mit ihrer religiösen Exklusivität aus ihrer sozialen Umwelt absonderten. Es galt als „erste aber schwierigste Pflicht eines Christen, sich rein und unbefleckt vom Götzendienst zu halten. […] Die unzähligen Gottheiten und Riten des Polytheismus waren aufs engste verwoben mit allen Umständen der Geschäfte und der Vergnügen im öffentlichen und privaten Leben, und es schien unmöglich, ihnen die Achtung zu verweigern, ohne gleichzeitig dem Umgang mit anderen Menschen und allen Ämtern und Ergötzlichkeiten der Gesellschaft zu entsagen“26. Die Christen sahen zwar die Notwendigkeit, daß der Staat innere wie äußere Sicherheit zu gewährleisten habe, weigerten sich aber, dabei mitzuwirken. „Diese gleichgültige, ja fast schon kriminelle Geringschätzung des Staatswohls setzte sie der Verachtung und den Vorwürfen der Heiden aus, die häufig wissen wollten, wie es wohl um das Schicksal des auf allen Seiten von Barbaren bedrängten Reiches bestellt wäre, wenn alle Welt die kleinmütige Gesinnung dieser neuen Sekte annehmen wollte“27. Gibbon führt die religiöse Intoleranz der Christen auf ihr jüdisches Erbe zurück. Seine Formulierungen, die Juden hätten sich als einziges Volk aus der Gemeinschaft der Menschheit separiert und sich durch ihren Haß auf die übrige ___________ 24

David Friedrich Strauß: Der Romantiker auf dem Throne der Cäsaren oder Julian der Abtrünnige (1847), ND Heidelberg 1992, 8. 25 Kap. XV, VU, Bd. 2, 161; Kap. XVI, VU, Bd. 2, 217 mit Anm. 13. 26 Kap. XV, VU, Bd. 2, 140f. 27 Kap. XV, VU, Bd. 2, 169.

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Menschheit ausgezeichnet, gehen auf Tacitus zurück28. Gibbon nimmt weiter die zugleich antijüdische wie antichristliche Polemik der Kaiserzeit auf. Danach ist bei einer, auf eine bestimmte ethnische Gemeinschaft beschränkten Religion die Selbstisolierung noch hinnehmbar, nicht jedoch bei der neuen Religion der Christen mit ihrem universalistischem Anspruch29. Dies ist vor dem Hintergrund der Positionen von englischen Deisten wie französischen Aufklärern zu verstehen, für welche die – aus der Antike übernommene – Kritik am Judentum auch als Vehikel ihrer Angriffe auf das Christentum diente30. Zu den Faktoren, welche die Attraktivität des Christentums begünstigt haben könnten, zählen auch die Wunder. Gibbon verweist auf die Kontroverse um das Buch von Middleton31, meint aber, daß die Frage, wann die echten Wunder aufgehört hätten, den Historiker nichts angehe32. Manchmal erweckt er den Eindruck, als gläubiger Christ zu schreiben, um dann gleich wieder an seiner rationalistischen, auch von David Hume geprägten33, Einstellung keinen Zweifel zu lassen, ohne jedoch eine explizite Bewertung zu formulieren. Er stellt einfach fest, daß an naturwissenschaftlichen Fragen so interessierten Autoren wie Seneca und dem älteren Plinius die Sonnenfinsternis in der Todesstunde Jesu offensichtlich entgangen sei34. Aber als Historiker kann er bei diesem Agnostizismus nicht stehen bleiben. Der auch im Weltbild der Heiden verankerte Wunderglaube habe die Ausbrei___________ 28

Kap. XV, VU, Bd. 2, 124; Kap. XVI, VU, Bd. 2, 230f. – Tacitus, Historien 5, 5, 1; vgl. Annalen 15, 44, 4 (Übertragung dieses Motivs auf die Christen während der Neronischen Verfolgung). 29 Kap. XVI, VU, Bd. 2, 213f. übernimmt Gibbon dieses Argument aus Celsus. Vgl. zur antiken Diskussion u. a. Stephen Benko, Pagan Criticism of Christianity during the First Two Centuries, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt, Bd. II/ 23, 2 (1980), 1055–1118; Michael Frede, Celsusǥ Attack on the Christians, in: Jonathan Barnes/Miriam Griffin (Hrsgg.), Philosophia Togata, Bd. II: Plato and Aristotle at Rome, Oxford 1997, 218–240; Jeffrey W. Hargis, Against the Christians. The rise of early antiChristian polemic, New York 1999. 30 Vgl. u.a. Paul H. Meyer, The Attitude of the Enlightenment towards the Jew, Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 26 (1963), 1161–1205; Jacob Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700–1933, München 1989, 30ff.; Adam Sutcliffe, Judaism in the Anti-Religious Thought of the Clandestine French Early Enlightenment, Journal of the History of Ideas 64 (2003), 97–117; ders., Judaism and Enlightenment, Cambridge 2003. 31 Kap. XV, VU, Bd. 2, 157. 32 Kap. XV, VU, Bd. 2, 157–159. 33 Vgl. aus der neueren Literatur Stephen Paul Foster, Melancholy Duty: The HumeGibbon Attack on Christianity, Dordrecht 1997; Peter Harrison, Prophecy, Early Modern Apologetics, and Humeǥs Arguments against Miracles, Journal of the History of Ideas 60 (1999), 241–256. 34 Kap. XV, VU, Bd. 2, 207.

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tung des Christentums gefördert; somit sei es irrelevant, ob es sich dabei um „echte oder vermeintliche Wunder“ gehandelt habe35. Die demonstrativ tugendhafte Lebensführung der Christen trug ebenfalls zur Anziehungskraft ihrer Gemeinden bei, auch wenn Gibbon insinuiert, daß sie in der Praxis nicht notwendig ihrem Sittlichkeitsideal folgten. Die Christen boten zum einen noch Außenstehenden mit der Sündenvergebung eine Entlastung, die sie von den heidnischen Göttern nicht erfahren konnten, und übten – unter den Augen einer feindseligen sozialen Umwelt – zum anderen im Inneren einen Disziplinierungsdruck auf ihre Mitglieder aus, der sich des Mittels der Exkommunikation bediente. Die Tugend der Christen ist aber nicht die Tugend von Bürgern, die sich für das Gemeinwesen verantwortlich wissen, sondern wird auf den Aufbau einer eigenen Organisation gelenkt, die mehr und mehr zum Staat im Staate wird. „Die frühen Christen waren für die Geschäfte und Freuden der Welt unempfänglich, aber ihr niemals ganz auszulöschender Tatendrang lebte bald wieder auf und fand in der Verwaltung der Kirche eine neue Beschäftigung“36. Die Entwicklung der Kirchenverfassung folgt mit der fortschreitenden Zerstörung republikanischer Strukturen derjenigen der Verfassung des Reiches, jedoch zeitlich versetzt. Gibbon lässt keinen Zweifel daran, daß die – zumal von dem Göttinger Kirchenhistoriker Johann Lorenz Mosheim etablierte – protestantische Version der Kirchengeschichte zutreffend ist, nach der das Bischofsamt nicht unmittelbar auf die Apostel zurückgeht, sondern sich erst seit Ende des 1. Jahrhunderts herausgebildet hat37. Das entsprach im übrigen nicht der offiziellen Position der Anglikanischen Kirche, die an der apostolischen Sukzession ihrer Bischöfe ungeachtet der zunehmenden historischen Kritik festhielt38. Das Zusammenwirken von Presbytern und Bischof auf der Ebene der Ortsgemeinde gewährleistete bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts eine ausbalancierte Verfassung. Die einzelnen Gemeinden waren autonome Gemeinwesen, die untereinander nur locker verbunden waren. Mit der Etablierung von Regionalsynoden ging die Stärkung der Bischöfe einher, die mit der Verfügung über die materiellen Ressourcen der Kirche und unter Einsatz ihrer Disziplinargewalt zunehmend das in der Mitwirkung von Laien und Klerus liegende demokratische Element der Verfassung eliminierten. Die fortschreitende Hierarchisierung ___________ 35

Kap. XV, VU, Bd. 2, 160. Kap. XV, VU, Bd. 2, 169. 37 Kap. XV, VU, Bd. 2, 170–172 mit dem Verweis auf Mosheim in Anm. 105. 38 Vgl. Gareth V. Bennett, Patristic Tradition in Anglican Thought 1660–1900, in: Günther Gassmann/Vilmos Vajta (Hrsgg.), Tradition in Luthertum und Anglikanismus, Gütersloh 1972 (Oecumenica. Jahrbuch für ökumenische Forschung 1971/72), 63–87. 36

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führte schließlich zum Anspruch des Bischofs von Rom auf eine monarchische Regierungsgewalt über die ganze Kirche. Die zunehmende Macht des Bischofsamtes mußte Männer anziehen, die in der Kirche mehr Entfaltungsmöglichkeiten für ihre Ambitionen entdeckten als im Staat. Prototyp ist Cyprian, der Bischof von Karthago in der Zeit von 248 bis 258. Dieser verstand es, „die Schliche des höchst ehrgeizigen Staatsmanns mit jenen christlichen Tugenden zu vereinen, die eines Heiligen und Märtyrers würdig zu sein schienen“39. Er sah die Vorzüge einer Herrschaft, die sich nicht auf weltliche Machtmittel gründete. „Die Erlangung einer so uneingeschränkten Herrschaft über Gewissen und Verstand einer Gemeinde, und sei sie noch so gering und von der Welt verachtet, schmeichelt dem Stolz des menschlichen Herzens wahrlich mehr als der Besitz der extrem despotischen Macht, die durch Waffen und Eroberung einem widerstrebenden Volk aufgezwungen wird“40. Gibbon zollt Cyprian Respekt für seinen Widerstand gegen den Suprematsanspruch des römischen Bischofs. Dies entsprach der anglikanischen Position, da man das Beispiel Cyprians zur Legitimation für eine vom Papst unabhängige Stellung der englischen Bischöfe heranzog41. Gibbon bedient sich durchgehend einer militärischen Metaphorik in bezug auf die Macht der Bischöfe und den Erfolg der Kirche. Die Bischöfe setzten die Kirchenzucht ein, „um die Desertion jener Truppen zu verhindern, die sich unter der Fahne des Kreuzes versammelt hatten“42. Die Disziplin der Christen bedingte ihre „Tapferkeit, leitete ihre Waffen und verlieh ihren Bestrebungen jenes unwiderstehliche Gewicht, durch welches sogar eine kleine Schar gutgeübter und unerschrockener Freiwilliger so oft schon einer undisziplinierten Menge überlegen gewesen ist, die den Grund des Krieges nicht kannte und um dessen Ausgang unbekümmert war“43. Gibbon betont aber auch, daß die Zahl der christlichen Freischärler nicht überschätzt werden dürfe. Das Christentum habe sich gewiß durch alle Provinzen und in allen Schichten der Gesellschaft verbreitet – Gibbon relativiert hier die antike antichristliche Polemik von der Armut und Unbildung der Christen44. ___________ 39

Kap. XV, VU, Bd. 2, 176. Kap. XV, VU, Bd. 2, 187. 41 Vgl. Womersley, Gibbon (Anm. 4), 112f. 42 Kap. XV, VU, Bd. 2, 186f. 43 Kap. XV, VU, Bd. 2, 188. 44 Kap. XV, VU, Bd. 2, 161 mit Anm. 83; 169, Anm. 103; 201ff. – Zur Wahrnehmung dieser Darstellung bei einem Theologen des frühen 19. Jahrhundert siehe M. G. A. Osiander, Über die Ausbreitung des Christenthums. Ein kritischer Beitrag zur Kirchengeschichte der ersten drey Jahrhunderte, Archiv für alte und neue Kirchengeschichte 4 (1819), 331–378, 332: „Selbst Gibbon, der sich doch so viele Mühe gibt, das Christen40

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Man dürfe jedoch nicht den christlichen wie heidnischen Quellen folgen, die jeweils ein Interesse daran gehabt hätten, die Zahl der Christen viel zu hoch anzusetzen. Bis zur Hinwendung Konstantins zum Christentum habe man mit einem Anteil von maximal fünf Prozent Christen an der Bevölkerung des Reiches zu rechnen45. Indem Gibbon im 15. Kapitel die Selbstisolierung der Christen in der Gesellschaft einerseits, den Aufbau ihrer schlagkräftigen Organisation andererseits herausstellt, bereitet er die Erklärung für die Ursachen der Christenverfolgungen im folgenden Kapitel vor. Gibbon hatte zuvor in seiner Darstellung der Lage des Reiches im 2. Jahrhundert in Anlehnung an David Hume die dem Polytheismus eignende Toleranz gepriesen. Die Religionspolitik der Kaiser „fand glücklicherweise […] Unterstützung durch das Denken der aufgeklärten und durch die Gewohnheiten der abergläubischen Untertanen. Die verschiedenen in der Welt herrschenden Kulte galten sämtlich dem Volk als gleich wahr, den Philosophen als gleich falsch und der Obrigkeit als gleich nützlich“46. Der aufgeklärte Leser weiß, daß Religion ein Instrument sozialer Kontrolle ist. Da die Tatsache der Christenverfolgung als solche nicht zu leugnen ist, muß ihre Ursache im Verhalten der Christen selbst begründet liegen, wie schon durch die Disposition nahegelegt wird. Gibbon beteuert, es könne gewiss nicht Aufgabe der Geschichtsschreibung sein, Tyrannei und Verfolgungen zu rechtfertigen. Aber er will doch verständlich machen, warum die römischen Autoritäten gegenüber den Christen eine Toleranz aufgaben, die sie traditionell als Mittel zur Befriedung der Gesellschaft geübt hatten. Die Erklärung kann nur darin gesehen werden, daß sich die Christen aus der Gesellschaft selbst ausschlossen und mit ihrer Martyriumssucht die Autoritäten zu Maßnahmen provozierten, die sie eigentlich lieber vermieden hätten. Das Problem für den Historiker liege darin, die maßlosen Übertreibungen und Ausschmückungen der christlichen Legenden auf ihren historischen Kern zu reduzieren. „Die Hinrichtungen einiger berühmter Märtyrer sind sorgfältig aufgezeichnet worden […] Aus dem Wust von Erfindungen und Erdichtungen, […] einige wenige zuverlässige und interessante Tatsachen auszusondern und auf klare und vernünftige Weise die Ursachen, das Ausmaß, die Dauer und nur die wichtigsten Umstände der ersten Christenverfolgungen darzutun, das ist die Absicht des vorliegenden Kapitels“47. Zu den schon übertreibenden Märtyrerakten kommen die Darstellungen der „Mönche der nachfolgenden Jahrhunder___________ thum unserer Periode zu entgöttern, und namentlich auch in seinen Berechnungen eine sehr geringe Stärke der Christen herausbringt, spricht von der Ausbreitung des Christenthums im Allgemeinen mit Ehrfurcht“. 45 Kap. XV, VU, Bd. 2, 201. 46 Kap. II, VU, Bd. 1, 44. 47 Kap. XVI, VU, Bd. 2, 210.

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te, die in ihrer friedlichen Abgeschiedenheit zum Zeitvertreib das Sterben und Leiden der ersten Märtyrer ausschmückten“48. Die abergläubischen, vernunftwidrigen Praktiken des Heiligen- und Märtyrerkultus, der eine Anpassung an den heidnischen Polytheismus darstellte, sollten dann die Geschichte des Christentums bis zur Reformation bestimmen49. Beim Durchgang durch die einzelnen Phasen der Verfolgung stellt Gibbon heraus, daß es bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts nur lokal begrenzte, keine systematischen, im ganzen Reich durchgeführten Repressalien gegen die Kirche gegeben hat. Selbst in der Zeit der „großen“, von Galerius und Diokletian im Jahre 303 initiierten Verfolgung ist die Zahl der Todesopfer vergleichsweise gering geblieben. Kaiser und Statthalter zeigten nicht „den unerbittlichen Eifer eines Inquisitors […], der auch noch den geringsten Anzeichen von Ketzerei unbedingt nachspüren muß und über die Zahl seiner Schlachtopfer frohlockt“50. Sie waren „gesittete Männer von freisinniger Erziehung […], welche die Regeln der Rechtsstaatlichkeit achteten“51. Dazu zählte insbesondere, daß sie keine anonymen Anzeigen akzeptierten, die Christen auf juristische Schlupflöcher hinwiesen und sie, wenn es sich denn nicht vermeiden ließ, lieber zu Verbannung und Zwangsarbeit als zum Tode verurteilten. Wenn die staatlichen Autoritäten damit nicht immer Erfolg hatten, so lag dies an den Christen selbst: „Die Christen ersetzten manchmal durch ein freiwilliges Geständnis einen fehlenden Ankläger […], drängten sich in hellen Scharen um den Richterstuhl der Magistrate und forderten diese auf, den Urteilsspruch zu fällen und an ihnen zu vollstrecken“52. Ein Bischof wie Cyprian, der sich den Verfolgungen zunächst durch die Flucht entzogen hatte, lief damit Gefahr, in seiner Kirche unglaubwürdig zu werden; er hatte schließlich keine andere Wahl, als die „einmal angenommene Rolle [des Bischofs]“ durchzuhalten, sich dem Gericht zu stellen, das Angebot des Abschwörens vom Glauben auszuschlagen und den Märtyrertod zu sterben53. Für Gibbon steht fest, daß die antike Kirchengeschichtsschreibung „den römischen Obrigkeiten denselben unversöhnlichen und unablässigen Eifer [unterstellte], der in ihrer eigenen Brust gegen die Ketzer und Götzendiener ihrer Zeit brannte“54. Die Zahl der Opfer der Christenverfolgungen sei viel geringer an___________ 48

Kap. XVI, VU, Bd. 2, 240. Kap. XXVIII, VU, Bd. 4, 179f. und 184ff. 50 Kap. XVI, VU, Bd. 2, 237. 51 Kap. XVI, VU, Bd. 2, 242. 52 Kap. XVI, VU, Bd. 2, 251. 53 Kap. XVI, VU, Bd. 2, 249. 54 Kap. XVI, VU, Bd. 2, 241. 49

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zusetzen, als allgemein behauptet werde. Aus dem Bericht des Eusebius über die Verfolgung in Palästina in der Zeit von 303 bis 311 rechnet Gibbon hoch, daß die Gesamtzahl der Opfer im gesamten Reich während der schlimmsten Verfolgungswelle unter 2000 geblieben sein müsse55. Er vergleicht dies mit der Zahl der Protestanten, die Mitte des 16. Jahrhunderts in den Niederlanden durch die spanische Herrschaft verfolgt wurden, und nennt als Gewährsleute den Protestanten Hugo Grotius, der von 100.000, und den Katholiken Paolo Sarpi56, der immerhin von 50.000 Opfern gesprochen hatte57. Alles in allem schließt das Kapitel – und damit der erste Band – mit der „traurigen Wahrheit […], daß die Christen im Verlauf ihrer inneren Zwietracht mehr Grausamkeiten gegeneinander verübt haben, als sie je durch den Fanatismus der Heiden erfuhren“58. In diesen beiden Kapiteln hatte Gibbon, wie etwa seine Ausführungen zu den Wundern zeigen, Punkte erörtert, die schon seit langem kontrovers diskutiert worden waren, sei es unter konfessionellen Gesichtspunkten, sei es im Kontext aufklärerischer Christentumskritik. Insgesamt hatten die Diskussionen aber wohl in erster Linie den auch noch in der eigenen Zeit relevanten Fragen gegolten – der apostolischen Sukzession der Bischöfe, dem Primat des Papstes, der Trinitätsfrage. Das Problem der Christenverfolgung hatte eher eine geringe Rolle gespielt. Die Behauptung von der relativ geringen Zahl der Opfer war schon 1684 von Henry Dodwell, einem Gelehrten aus Oxford, aufgestellt worden59. Auf ihn ___________ 55

Kap. XVI, VU, Bd. 2, 292f. Gibbon war natürlich bewußt, daß Sarpi wegen seiner kritischen Einstellung eine Ausnahme innerhalb der katholischen Kirchengeschichtsschreibung darstellte (und deshalb als Krypto-Protestant verdächtigt wurde); eben deshalb rechnet er ihn unter die zuverlässigen, objektiven Historiker; vgl. u.a. Kap. LXVI, DF, Bd. 3, 879, Anm. 36; Vindication, DF, Bd. 3, 1129. 57 Kap. XVI, VU, Bd. 2, 294f. mit Anm. 186. – Dieser Vergleich war auch im 19. Jahrhundert noch aktuell, wie eine Bemerkung Niebuhrs zeigt: „Dodwell hat Recht, daß sie [die diokletianische Verfolgung] kein Schatten gewesen ist von dem was der Herzog von Alba in den Niederlanden gethan hat“; Barthold Georg Niebuhr, Vorträge über römische Geschichte, an der Universität Bonn gehalten, hrsg. v. M. Isler, Bd. III, Berlin 1848, 295. Bei Ludwig Friedländer, Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms, 9. Aufl., hrsg. v. Georg Wissowa, Bd. III, Leipzig 1920, 222 wird dieses Niebuhr-Zitat gegeben und (aus Gibbon?) um die Opferzahlen von Sarpi und Grotius (hier aber irrtümlich nur 10.000) ergänzt. – Realistisch ist die Zahl von Sarpi dann, wenn man die Exulanten einbezieht; vgl. Israel, Dutch Republic (Anm. 20), 155ff. 58 Kap. XVI, VU, Bd. 2, 294. 59 In diesem Sinne wird er zitiert Kap. XVI, VU, 232, Anm. 43; 249, Anm. 90; 263, Anm. 125. – Dodwell hat 1691 seine Professur verloren, weil er sich weigerte, den Eid auf das neue Königspaar Wilhelm (von Oranien) und Maria zu leisten; vgl. C. D. A. Leighton, The Religion of the Non-Jurors and the Early British Enlightenment: A study of Henry Dodwell, History of European Ideas 28 (2002), 247–262. 56

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hatte der Mauriner Thierry Ruinart, ein Schüler von Mabillon, in seiner Ausgabe der Märtyrerakten 1689 repliziert60. Wie auch sonst oft, übernimmt Gibbon die Deutung eines protestantischen Autors und nutzt die Quellenedition eines Katholiken61. (Von der katholischen Kirchengeschichtsschreibung hielt Gibbon dagegen nichts; Cesare Baronius zählte zu seinen „Lieblingsfeinden“, als zuverlässig gelten ihm hier nur Protestanten)62. Gibbons Darlegungen müssen für einen Teil der Leserschaft überraschend bis schockierend gewesen sein, da vielen immer noch die zunehmende Zahl der Christen trotz anscheinend permanentem Verfolgungsdruck als Beweis für die Wahrheit des christlichen Glaubens galt. Die Wirkung dieser Darstellung beruhte nicht nur auf der Fülle des vorgelegten Materials – zu einem Zeitpunkt, als es in England praktisch noch keine Kirchengeschichtsschreibung gab –, sondern auch darauf, daß der Verfasser sich strikt auf die Rolle des unparteilichen Historikers beschränkt hatte. Dennoch – oder gerade deswegen – fielen die Reaktionen so heftig aus. Gibbons Kritiker aus unterschiedlichen theologischen Lagern – von Vertretern der hochkirchlichen anglikanischen Position, über einen Methodisten bis hin zu dem Unitarier Joseph Priestley63 – taten sich schwer mit einem Autor, der sich partout nicht festlegen lassen wollte. Sie forderten ihn verschiedentlich auf, seine Position zu bekennen, und sei es die des Atheismus, Deismus, Arianismus oder Socinianismus. Der Göttinger Theologe Walch, der 1781 das deutsche Publikum über die Kontroverse informierte, meinte: Gibbon „beo___________ 60 Deutsche Ausgabe: Theoderich Ruinart, Echte und ausgewählte Acten der ersten Martirer. Nach den ältesten Ausgaben und Handschriften kritisch gesammelt. Mit einer allgemeinen polemischen Einleitung, Wien 1831/32, gegen Dodwell Bd. I, 63ff.- Vgl. Daniel Feuling, Theoderich Ruinart, dem Mauriner, zum Gedächtnisse, Historischpolitische Blätter für das katholische Deutschland 144, 1909, 425–439; 505–516 (Aufsatz eines Benediktiners, der noch einmal Partei für Ruinart gegen Dodwell nimmt); Thierry Barbeau, Dom Jean Mabillon et dom Thiery Ruinart: lǥamitié du maitre et du disciple, Collecteana Cisterciensia 61 (1999), 224–237. 61 Über die von den Bollandisten veranstalteten Editionen der Heiligenviten schreibt Gibbon, sie hätten durch das „Medium der Fabeln und des Aberglaubens weitreichendes historisches und philosophisches Wissen verbreitet“ und bedauert, daß die Aufhebung des Jesuitenordens im Jahre 1773 dieses Unternehmen wohl beenden würde; Kap. XXXIII, VU, Bd. 5, 32, Anm. 46. 62 Vgl. Owen Chadwick, Gibbon and the Church Historians, in: Glen W. Bowersock u.a. (Hrsgg.), Edward Gibbon and the Decline and Fall of the Roman Empire, Cambridge, Mass., 1977, 219–231. Vgl. auch die Rede von „most enlightened Protestant critics“ (im Gegensatz zu Katholiken), Vindication, DF, Bd. III, 1182. 63 Vgl. Shelby T. McCloy, Gibbonǥs Antagonism to Christianity and the Antagonism it had Provoked, Chapel Hill, NC, 1933; Myron C. Noonkester, Gibbon and the Clergy: Private vices, public virtues, Harvard Theological Review 83 (1990), 399–414; Nigel Aston, A ‚disorderly squadronǥ?. A fresh look at clerical responses to ‚The Decline and Fallǥ, in: Womersley (Hrsg.), Bicentenary Essays (Anm. 9), 253–277; Womersley, Gibbon (Anm. 4), Kap. 1.

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bachtet über den Verdacht gegen seine eigenen Religionsgesinnungen ein tiefes Stillschweigen. Wäre es nicht für ihn Pflicht gewesen, bey einer so natürlichen Gelegenheit rein heraus zu bekennen, ob er die christliche Religion für wahr halte?“64. Die Kritiker waren auch empört über die bösartige Ironie und die Insinuationen, mit denen Gibbon seinen Text „vergiftet“ hatte65. Dazu gehörte vor allem Gibbons Obsession vom Thema Sex, das er gerade auch im Zusammenhang mit dem Christentum immer wieder traktierte. So kommentiert Gibbon (im Anschluß an Eusebius) die Selbstentmannung des Origenes, daß dieser, der doch sonst die Schrift immer allegorisch ausgelegt habe, sie in diesem einen Falle leider wörtlich genommen habe. Gemeint ist das Wort aus dem MatthäusEvangelium (19, 12) von den Eunuchen um des Himmelreichs willen66. Oder Gibbon mokiert sich über die Lebensform der „Syneisakten“ des 3. Jahrhunderts. Frauen, die sich der Jungfräulichkeit geweiht hatten, lebten mit Klerikern zusammen, um sich eben so in ihrer Keuschheit zu beweisen67. „Die Jungfrauen im warmen Klima Afrikas verschmähten die schimpfliche Flucht und stellten sich dem Feind auf engstem Raum: Priester und Diakone durften ihr Lager teilen, und inmitten der Flammen rühmten sie sich ihrer unbefleckten Reinheit. Doch manchmal rächte sich die verhöhnte Natur und forderte ihr Recht, und diese neue Form des Märtyrertums bescherte der Kirche nur ein neues Ärgernis“68. Gibbon beruft sich an dieser Stelle auf Cyprians Kritik an dieser Praxis, somit auf einen unverdächtigen Zeugen; mit dem Motiv der Flucht vor dem Märtyrertum fällt jedoch zugleich ein Seitenhieb auf dessen umstrittenes Verhalten während der Verfolgungen. Gibbon ließ sich durch die zahlreichen publizistischen Angriffe nicht zu einem persönlichen Bekenntnis provozieren. Seine Rechtfertigungsschrift, A ___________ 64

Christian W. F. Walch, Nachricht von der zwischen Eduard Gibbon und seinen Gegnern geführten Streitigkeit über die Ausbreitung und den Zustand der christlichen Religion in den ersten drey Jahrhunderten, in: ders., Der Zustand der Neuesten Religionsgeschichte, Teil 8, Lemgo 1781, 91–172, hier 167. 65 Joseph Milner, Gibbonǥs Account of Christianity Considered Together with Some Strictures on Hume's Dialogues Concerning Natural Religion (1781), ND New York 1974, 2 und 56: „There is a remarkable uniformity of insinuation, which runs through every thing that affects Christianity in his history“. – Gibbon benutze immer „the poison of satire”. 66 Kap. XV, VU, Bd. 2, 167 mit Anm. 96. 67 Vgl. zu diesem, über Jahrhunderte fortdauernden Phänomen und den diversen Versuchen der christlichen Autoritäten, dagegen vorzugehen, aus der neueren Literatur: Elizabeth A. Clark, John Chrysostom and the Subintroductae, Church History 46 (1977), 171–185; Susanna Elm, ‚Virgins of Godǥ. The making of asceticism in late antiquity, Oxford 1996, 48ff.; Ines Stahlmann, Der gefesselte Sexus. Weibliche Keuschheit und Askese im Westen des Römischen Reiches, Berlin 1997, 204–207. 68 Kap. XV, VU, Bd. 2, 167.

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Vindication of Some Passages in the Fifteenth and Sixteenth Chapters of the History of the Decline and Fall of the Roman Empire, veröffentlichte er 1779 nur deshalb, weil der junge Oxforder Theologe Henry Edwards Davis (vielleicht als Strohmann für andere) ein langes Pamphlet veröffentlicht hatte. Darin wurde Gibbon schon im Titel vorgeworfen, er habe Quellen verfälschend wiedergegeben, sich Ungenauigkeiten zuschulden kommen lassen und Plagiate begangen69. Für Gibbon war dies eine „Kriegserklärung“. Mit den üblichen Angriffen der „Wächter der Heiligen Stadt“ wolle er sich nicht abgeben. Auch auf Davis hätte er nicht geantwortet, wenn dieser sich auf den Vorwurf des Unglaubens beschränkt hätte. Aber Davis habe „kriminelle Beschuldigungen“ erhoben, die sein Ansehen als Historiker und seine Ehre als Gentleman in Frage stellten70. Gibbons Glaubensbekenntnis ist die Genauigkeit, Zuverlässigkeit und Unparteilichkeit des Historikers. In diesem Zusammenhang bekennt er sich dankbar als Schüler von Mosheim, der dieses Ideal der Unparteilichkeit erfüllt habe71. Gibbon hatte mit seiner Vindication in den Augen der Öffentlichkeit einen eindrucksvollen Sieg über seine Kritiker errungen. Aber die Erfahrung dieser Auseinandersetzungen könnte seine weiteren Ausführungen zum Christentum doch in dem Sinne beeinflußt haben, daß er noch mehr Wert darauf legte, nicht als dezidiert anti-christlich zu gelten. Jedenfalls bot die Fortsetzung seiner Geschichte für alle, die sich ihr Bild von seiner feindseligen Einstellung zu Christentum und Kirche gemacht hatten, einige Überraschungen. Die Herrschaft des ersten christlichen Kaisers Konstantin stellt für Gibbon eine entscheidende Etappe im Niedergang des Reiches dar. Die Trennung zwischen ziviler und militärischer Verwaltung, die Ausgliederung der Grenztruppen, die zunehmende Barbarisierung des Heeres, der wachsende Steuerdruck, die Abziehung von Ressourcen aus dem ganzen Reich zur Ausstattung der neuen Hauptstadt Konstantinopel, die Zerstörung eines erblichen Senatorenstandes, der Aufbau eines Spitzelapparates, die Ausdehnung der Folter auch auf die freien Bürger – dies alles fügte dem Reich eine „tödlichen Wunde“ zu, von der es sich nicht mehr erholen sollte72. Verheerend wirkten sich Konstantins Privilegien für die Kirche und den Klerus aus. Mit ihnen wurden „die Müßiggänger auf Kosten der Fleißigen“ be___________ 69 Henry Edwards Davis, An Examination of the Fifteenth and Sixteenth Chapters of Mr. Gibbon‘s History … in which His View of the Progress of the Christian Religion is Shewn to be founded on the Misrepresentation of the Authors he cites, and numerous Instances of his Inaccuracy and Plagiarism are produced, London 1778 (ND New York 1974). 70 Vindication, DF, Bd. 3, 1108–1110. 71 Vindication, DF, Bd. 3, 1151f. 72 Kap. XVII, VU, Bd. 2, 343.

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günstigt73, wodurch Staat und Heer die dringend benötigten Ressourcen verloren gingen. Indem Konstantin und seine Söhne immer mehr in die innerkirchlichen Streitigkeiten einbezogen wurden, wurden die „Bande der bürgerlichen Gesellschaft [civil society]“ durch die „Wut der Religionsparteien“ aufgelöst74. Gibbon hebt hervor, daß Konstantin lange ein eindeutiges Bekenntnis zum Christentum vermieden hat. Dieser habe dann aber in der christlichen Lehre von der Gehorsamspflicht gegenüber der gottgewollten Obrigkeit eine Chance gesehen, eine Disziplinierung der Gesellschaft herbeizuführen, die weder von den heidnischen Kulten noch von der Philosophie geleistet werden konnte. Als der Kaiser das Bündnis mit der Kirche einging, unterlief ihm allerdings die Fehlkalkulation, daß von ihm als widerrufbar gedachte Privilegien für die Kirche von dieser als „unveräußerliche Rechte [inalienable rights]“ betrachtet wurden75. Was immer Gibbon auch Konstantin an rationalem, wenn auch nicht aufgegangenem Kalkül unterstellt – bemerkenswert sind seine Äußerungen zur persönlichen Religiosität des Herrschers. Die Schlacht an der Milvischen Brücke vor den Toren Roms im Oktober 312 hatte Gibbon zuvor (im Kapitel 14) geschildert, ohne jene Konstantin angeblich zuteil gewordenen Erscheinungen zu nennen, die ihn sein Heer im Zeichen des Kreuzes antreten ließen. Erst später (im Kapitel 20) geht er auf diese christlichen Traditionen über die „tatsächliche oder vermeintliche Ursache“ des Sieges Konstantins ein und legt ebenso detailliert wie genüßlich die einander widersprechenden Versionen einer Geschichte dar, die einen Ehrenplatz in der Tradition des Aberglaubens eingenommen habe, bis sie erstmals im 17. Jahrhundert durch rationale Kritik in Zweifel gezogen worden sei76. Gibbon hält Eusebius vor, daß er in seiner Konstantin-Vita die Geschichte von der Himmelserscheinung vor der Schlacht wiedergebe, die ihm der Kaiser viel später unter Eid mitgeteilt habe – ohne sie, wie es Aufgabe des seriösen Historikers gewesen wäre, durch Einholung anderer Zeugnisse zu überprüfen77. Aber für Gibbon steht damit durchaus nicht fest, daß Konstantin in diesem Augenblick bewußt gelogen haben muß, wie es ein Teil seines Publikums unter___________ 73

Kap. XX, VU, Bd. 3, 102. Kap. XXI, VU, Bd. 3, 180. 75 Kap. XX, VU, Bd. 3, 96. – Die Anspielung auf diesen Schlüsselbegriff der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ist sicherlich kein Zufall; Gibbon hat 1779 auf Französisch ein Memorandum für die britische Regierung verfaßt, das deren Haltung gegenüber den abtrünnigen amerikanischen Kolonien verteidigte; vgl. Solomon Lutnick, Edward Gibbon and the Decline and Fall of the First English Empire: The Historian as Politician, Studies in Burke and His Time 10 (1967/68), 1097–1113. 76 Kap. XX, VU, Bd. 3, 83 mit Anm. 53 (Verweis auf Gothofredus). 77 Kap. XX, VU, Bd. 3, 82. 74

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stellen werde: „Die protestantischen und philosophischen Leser heutiger Zeit werden der Annahme zuneigen, Konstantin habe bei der Schilderung seiner Bekehrung eine absichtliche Unrichtigkeit durch einen feierlichen und bewußten Meineid bekräftigt“78. Gibbon will jedoch nicht ausschließen, daß Konstantin später selbst diese Geschichte geglaubt haben könnte. Er zeigt sich insgesamt mit seiner Konstantin-Deutung sensibler für eine fremdartig anmutende Mentalität als Mitte des 19. Jahrhunderts Jacob Burckhardt, für den die mögliche persönliche Religiosität des Kaisers kein ernstzunehmendes Thema war79. Noch deutlicher von der Erwartung „philosophischer Leser“ distanziert sich Gibbon bei seiner Darstellung der kurzen Regierungszeit (361–363) des Kaisers Julian. Wegen seiner Abwendung vom Christentum war dieser in den christlichen Quellen der Spätantike als Apostat verdammt worden; seit der Renaissance faszinierte er dann eben deswegen80. Für Montaigne war Julian Vorkämpfer für die Gewissensfreiheit81. Julian wurde schließlich der große Held aufklärerischer Kritiker des Christentums. Shaftesbury, der Repräsentant des englischen Deismus, und Voltaire hatten ihn als einen „Philosophenkönig“ gefeiert, der dem Ideal der Toleranz verpflichtet war82. Während Gibbon im Anschluß an Ammianus Marcellinus Julians militärische Leistungen positiv bewertet, ist er im Hinblick auf dessen Innenpolitik erheblich kritischer. Julians demonstrative Respektsbezeugungen vor Consuln und Senat erscheinen ihm als entweder illusorisch oder heuchlerisch, da eine Rückkehr zu republikanischen Formen längst anachronistisch geworden sei und nur noch die Autorität des Herrschers untergraben habe. Gibbon kritisiert auch, daß Julian keine Nachfolgeregelung getroffen und somit das Reich in einem Zustand der Gefährdung hinterlassen habe. Die von Julian verursachte Instabilität wird wiederum als Folge seiner Religionspolitik verstanden. Julian habe sich einer Mischung aus Neuplatonismus und alten Kultpraktiken hingegeben und dabei einen religiösen Fanatismus ___________ 78

Kap. XX, Bd. 3, 83. Jacob Burckhardt, Die Zeit Constantins des Großen (1853), ND München 1982, v.a. 286. 80 Vgl. Heinz-Günther Nesselrath, Zur Wiederentdeckung von Julian Apostata in der Renaissance. Lorenzo de Medici und Ammianus Marcellinus, Antike und Abendland 38 (1992), 133–144. 81 Michel de Montaigne, Essais, II. Buch, XIX. Hauptstück, Übers. v. Johann Daniel Tietz (1753/54), Zürich 1992, Bd. 2, 511ff. 82 Vgl. J. S. Spink, The Reputation of Julian the ‚Apostateǥ in the Enlightenment, Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 57 (1967), 1399–1415; Robert J. Ziegler, Edward Gibbon and Julian the Apostate, Papers on Language and Literature 10 (1974), 136–149; Jean-Paul Larthomas, Julien en Angleterre dans le milieu whig. Julien chez Gibbon, in: René Braun/Jean Richer (Hrsgg.), Lǥempereur Julien, Bd. II: De la légende au mythe (de Voltaire á nos jours), Paris 1981, 61–78. 79

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entwickelt, für den auch seine asketische Lebensführung bezeichnend sei. Sein Schulgesetz, das de facto auf den Ausschluß christlicher Lehrer aus öffentlichen Schulen zielte, bedeutete einen Anschlag auf Wissenschaft und Kultur, da in dieser Zeit christliche Theologen bereits zu Bewahrern kultureller Tradition geworden waren83. Dieser Kaiser betreibt keine Verfolgung der Christen, nimmt aber entsprechendes Vorgehen durch Provinz- und Lokalautoritäten billigend in Kauf. Muß er sich einmal selbst mit einem Fall befassen, diskreditiert er die offizielle Politik der Toleranz, wenn er einerseits Ausschreitungen von Christen ohne jede Untersuchung bestraft, andererseits nur mit mildem Tadel auf den von einem heidnischen Mob vollzogenen Lynchakt an einem alexandrinischen Bischof reagiert. Wer so verfährt, verrät eine „parteiische Regierungsführung“ und praktiziert ein „ausgeklügeltes System“, mit dem er „den Effekt einer Verfolgung zu erzielen und sich selbst von Schuld und Vorwürfen reinzuhalten hoffte“84. Gibbons Kritik wiegt umso mehr, als er das prominente Opfer in Alexandria, den arianischen Bischof Georg von Kappadokien, als „barbarischen Eroberer“ und „Tyrannen“ bezeichnet85. (Nebenbei läßt er sich nicht die Geschichte entgehen, daß gerade dieser dubiose Bischof das Vorbild für jenen Heiligen Georg abgegeben haben soll, der seit dem 13. Jahrhundert offizieller Schutzpatron Englands war)86. Julian hat nach Gibbon den Religionskrieg so geschürt, daß sein Nachfolger Jovian alle seine Energie auf die Wiederherstellung des inneren Friedens richten und dafür einen schmachvollen Friedensschluss mit den Persern in Kauf nehmen mußte. Angesichts dieser Bilanz kann es nur „einseitiger Unkenntnis“ entspringen, wenn man Julian als „Philosophenkönig“ bezeichnet, „der sich bemühte, über die religiösen Parteien des Römischen Reiches in gleicher Weise seine schirmende Hand zu halten und das theologische Fieber zu mäßigen“87. Für seine gegenläufige Interpretation von Julians Religionspolitik hat sich Gibbon auf die zuerst 1732 erschienene Julian-Biographie des Abbé de La Bléterie [auch: Bletterie] gestützt88, die von Voltaire scharf kritisiert worden war89. ___________ 83

Kap. XXIII, VU, Bd. 3, 279ff. Kap. XXIII, VU, Bd. 3, 294 und 297. 85 Kap. XXIII, VU, Bd. 3, 291 und 294. 86 Kap. XXIII, VU, Bd. 3, 292f. mit Anm. 126. Zur Geschichte dieser Legende vgl. Bernhard Kötting, „Georg, hl.“, Lexikon für Theologie und Kirche², Bd. 4 (1960), 690f.; Wolfgang Haubrichs, „Georg, Heiliger“, Theologische Realenzyklopädie, Bd. 12 (1984), 380–385. 87 Kap. XXIII, VU, Bd. 3, 242. 88 Jean Philippe René de La Bléterie, Vie de lǥempéreur Julien, 1732; deutsch: Das Leben des Kaysers Julians. Übersetzt von Johann Gebhard Pfeil, Frankfurt am Main 1752. Vgl. Glen W. Bowersock, Gibbon and Julian, in: Pierre Ducrey (Hrsg.), Gibbon et Rome à la lumière de l'historiographie moderne, Genf 1977, 181–217; Bruno Neveu, Un 84

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Gibbons Darstellung mag auch von dem Bestreben beeinflußt worden sein, christlichen Kritikern keine neuen Angriffsflächen zu bieten, aber sie ist damit allein keinesfalls zu erklären. Nach seiner Auffassung war die Christianisierung des Reiches mittlerweile so weit fortgeschritten, daß der Versuch, diese rückgängig zu machen, nur weiteren Schaden anrichten konnte. Dahinter steht gewiß auch die Erfahrung der englischen Geschichte mit der Religionspolitik der Stuarts. Karl I. hatte auch mit seiner Kirchenpolitik den Bürgerkrieg von 1642 provoziert und damit den puritanischen Fanatismus freigesetzt; Jakob II. mit seiner Konversion zum Katholizismus und vor allem mit der Suspendierung der Gesetze gegen Katholiken und Dissenter die Glorious Revolution von 1688 ausgelöst, deren Folgen in Staat und Kirche noch lange nachwirkten; eine mögliche Rückkehr der Stuarts hatte bis Mitte des 18. Jahrhunderts eine Gefahr dargestellt. Auch Gibbons Vater hatte die Partei der Jakobiten genommen, als diese 1745 in Schottland einen Aufstand begonnen hatten.90 Die Anspielung auf die Parallele von Julian und Jakob II., die in England seit der Glorious Revolution Tradition hatte91, läßt sich bei Gibbon allerdings nur in höchst verschlüsselter Form finden92. Da nach der Mitte des 4. Jahrhunderts die Christianisierung der Gesellschaft unumkehrbar war, erschien Gibbon auch die Rolle der Kirche partiell in einem anderen Licht. So sehr das Reich auch unter den innerchristlichen Konflikten litt, so sehr wären zumindest einzelne herausragende Bischöfe mit ihren politischen Fähigkeiten in der Lage gewesen, zur inneren Befriedung beizutragen. Athanasius, der über Jahrzehnte den Kampf gegen den Arianismus (und den mit ihm sympathisierenden Kaiser Constantius II.) geführt hat, verfügte nicht über die Gelehrsamkeit, die andere Kirchenführer auszeichnete. Er ist eben deshalb der „scharfsinnigste Theologe“, weil er zugab, das Trinitätsproblem, das die innerkirchlichen Kämpfe verursachte, selbst nicht zu verstehen93. Aber Athanasius wäre auf Grund seiner politischen Qualitäten für die Rolle des Kaisers weitaus besser geeignet gewesen als die „degenerierten Söhne“ Konstantins94. Athanasius als ebenso geschickter wie skrupelloser Kirchenpolitiker, der ___________ académicien du XVIIIe siècle, traducteur et biographe de lǥempereur Julien: LǥAbbé de La Bletterie, Académie des Inscriptions et Belles-Lettres. Comptes rendus des seánces de l‘année 2000, 93–111. 89 Voltaires Text von 1767, „Julien le philosophe“, in: Voltaire, Dictionnaire philosophique, hrsg. v. René Pomeau, Paris 1964, 249–252. 90 Memoirs 58; vgl. Paul Turnbull, „Buffeted for Ancestral Sins“. Some neglected aspects of Gibbonǥs Roman conversion, Eighteenth Century Life 11 (1987), 18–35. 91 Vgl. Edgar Wind, Julian the Apostate at Hampton Court, Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 3 (1939/40), 127–137, 130–133. 92 Kap. XXI, VU, Bd. 3, 197; vgl. Kap. XXII, Bd. 3, 234, Anm. 68. 93 Kap. XXI, VU, Bd. 3, 126f. 94 Kap. XXI, VU, Bd. 3, 155.

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die dogmatischen Streitfragen rein instrumentell einsetzt, war ein verbreitetes Bild in jener zeitgenössischen Literatur, die in der Trinitätslehre einen Abfall vom Urchristentum sah, aber Gibbon gibt ihm eine andere Deutung95. Der einerseits bedauerlichen Tatsache, daß die Kirche solche Talente dem Staat entzog, steht andererseits gegenüber, daß sie zu einem letzten Refugium bürgerlicher Freiheit wurde. Der hartnäckige Widerstand, den Athanasius gegen Constantius geleistet hat, zeigt, „daß die Privilegien der Kirche bereits das Gefühl für Ordnung und Freiheit im römischen Staat wiederbelebt hatten“96, so daß auch das Kirchenvolk gegen die Absetzung von Bischöfen protestierte, weil es sich in seinem Wahlrecht verletzt sah. Mit seiner Würdigung des Athanasius als Verteidiger der Kirchenfreiheit folgt Gibbon dem Jansenisten Tillemont97. Während die ersten Christen es abgelehnt hatten, sich „in dieser Welt nützlich zu machen“98, konnte die Kirche als Organisation, die in Staat und Gesellschaft integriert wurde, nunmehr partiell den Niedergang bürgerlicher Verantwortung kompensieren. Gibbon hatte in seiner Darstellung der politischen Entwicklung Roms mit einem Modell der Aufspaltung und Reduktion der Bürgertugend gearbeitet. Auf die Republik, die auf der Einheit von Bürger und Soldat gegründet hatte, folgte der Principat, in der der Senat zeitweise noch die politische Seite der Bürgergesellschaft repräsentierte, während die Legionäre ihren soldatischen Geist verkörperten; der Ausbau des despotischen Regierungssystem und die Barbarisierung des Heeres bedeutete dann, daß auch diese Restbestände verschwanden. In dieser Konstellation bot die Kirche in bestimmten Hinsichten einen, allerdings nicht verläßlichen, Ersatz. Ganz anders bewertet Gibbons dagegen das Mönchstum. Die Klöster boten Zuflucht vor den Drangsalen der Zeit und förderten damit wiederum eine Fluchtbewegung, durch die die Lage nur noch verschlimmert wurde: „Verschreckte Provinzbewohner aus allen Schichten, die vor den Barbaren flohen, fanden hier Schutz und Unterhalt, ganze Legionen wurden in diesen frommen Asylen vergraben, und was die Not des Einzelnen linderte, schwächte zugleich die Stärke und die Kraft des Reiches“99. ___________ 95

Womersley, Gibbon (Anm. 4), 135. Kap. XXI, VU, Bd. 3, 166. 97 Vgl. Timothy D. Barnes, Derivative Scholarship and Historical Imagination: Edward Gibbon on Athanasius, in: Corolla Torontonensis. Studies in Honour of Ronald Morton Smith, hrsg. v. Emmet Robbins/Stella Sandahl, Toronto 1994, 13–28; ferner Leslie William Barnard, Gibbon on Athanasius, in: Robert C. Gregg (Hrsg.), Arianism. Historical and theological reassessments. Papers from the Ninth International Conference on Patristic Studies, September 5–10, 1983, Oxford, Philadelphia 1985, 361–370. 98 Kap. XV, VU, Bd. 2, 164. 99 Kap. XXXVII, Bd. 5, 198. 96

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Während einem Teil der Mönche in den Klöstern immerhin das Verdienst zukommt, „die Denkmäler der griechischen und römischen Literatur […] bewahrt und vervielfältigt zu haben“100, legten es die Einsiedlermönche mit ihrer extremen Askese darauf an, „sich auf jenen rohen elenden Status zu erniedrigen, in dem das menschliche Tier von seinen animalischen Verwandten kaum zu unterscheiden ist“101. Sie repräsentieren damit den schlimmsten Barbarismus, der inmitten einer zivilisierten Gesellschaft möglich ist. Als „Schwärmer, die sich selbst kasteien“, können sie keinerlei Zuneigung für die menschliche Gesellschaft empfunden haben102. Sie haben die Rolle der Feinde des Menschengeschlechts übernommen. Gibbon hat sich an verschiedenen Stellen ausgiebig mit den Streitigkeiten über die Trinität befaßt, durch die die Einheit der Kirche seit dem 4. Jahrhundert immer wieder erschüttert wurde, wobei dann eben die Frage, ob eine Position orthodox oder häretisch sei, oft eine des Datums war103. Natürlich spart Gibbon auch hier nicht mit Spott, so, wenn er einmal lakonisch notiert, daß ein Autor diese Frage in einem, ein anderer in drei Büchern behandelt habe104. Oder wenn er feststellt, daß aufgeklärte Geister aller Zeiten über den Streit über homo-ousious und homoi-ousious – Vater und Sohn wesensgleich oder wesensähnlich –, der sich doch nur um einen Buchstaben drehte, nur lachen konnten105. Der bibliophile Gibbon hätte es auch als eine Wohltat für die Menschheit empfunden, wenn bei den diversen Zerstörungen der Bibliothek von Alexandria die christologische Kontroversliteratur vernichtet worden wäre106. Aber Gibbon nahm diese Kontroversen ernst, und zwar auch deshalb, weil sie weitreichende Folgen bis in die eigene Gegenwart hatten. Deisten und jene Antitrinitarier, die im England des 17. und 18. Jahrhunderts als Arianer, Socinianer und Unitarier bezeichnet wurden, lehnten das Trinitätsdogma als Abfall vom ursprünglichen Christentum ab107. Sie zogen den Arianismus einer Trinitätslehre vor, die sich dem verderblichen Einfluß des Neuplatonismus verdanke. Oder sie sahen in der judenchristlichen Sekte der Ebioniten, die Jesu mes___________ 100

Kap. XXXVII, Bd. 5, 204. Kap. XXXVII, VU, Bd. 5, 209. 102 Kap. XXXVII, VU, Bd. 5, 211. 103 Z. B. Kap. XLVII, DF, Bd. 2, 954ff. zu Nestorius, dem Patriarchen von Konstantinopel, dessen Auffassung von den zwei Naturen Christi auf dem Konzil von Ephesos 431 mit knappster Mehrheit verurteilt wurde, der aber, hätte er nur länger gelebt, in Chalkedon 451 rehabilitiert worden wäre. 104 Kap. XXI, VU, Bd. 3, 138, Anm. 62. 105 Kap. XXI, VU, Bd. 3, 142. 106 Kap. LI, DF, Bd. 3, 284ff. 107 Vgl. Maurice F. Wiles, Archetypal Heresy. Arianism through the Centuries, Oxford 1996; Brian W. Young, Religion and Enlightenment in Eighteenth-Century England. Theological Debates from Locke to Burke, Oxford 1998. 101

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sianischen Status, aber nicht seine Göttlichkeit anerkannte, die Verkörperung der wahren christlichen Lehre, die auf die Jerusalemer Urgemeinde zurückging108. Gibbon nimmt beides auf, zeigt Sympathie für das Jesus-Bild der Ebioniten109 und führt auch mit aller Deutlichkeit aus, daß die als neutestamentlicher Beleg für die Trinität geltende Stelle von den „drei himmlischen Zeugen“ im 1. Johannesbrief110 eine spätere Interpolation, einen „frommen Betrug“ darstellte, der in Rom wie in Genf nur zu gern akzeptiert worden sei111. In diesem Punkt konnte er sich gegen theologische Attacken112 später (1790) durch eine Schrift des Gräzisten Richard Porson glänzend gerechtfertigt sehen113. Aber Gibbon zog aus diesen Erkenntnissen eben nicht die gleichen Konsequenzen wie die Dissenter seiner Zeit. Er zeigte keine Sympathie für jene Arianer, die auf den Synoden des 4. Jahrhunderts alle Kompromißformeln verworfen hatten. Sie hatten die Spaltung der Kirche und damit die Schwächung des Reichs herbeigeführt, so daß sich in Nordafrika das terroristische Schwärmertum der Circumcellionen entfalten konnte. Indem Gibbon die Circumcellionen mit der „Kühnheit, den Verbrechen und dem Enthusiasmus“ der Kamisarden, der aufständischen Hugenotten im Languedoc anfangs des 18. Jahrhunderts, ___________ 108

V.a. John Toland, Nazarenus, or Jewish, Gentile and Mahometan Christianity (1718), ND Oxford 1999. Deutsche Übersetzung bei: Gesine Palmer, Ein Freispruch für Paulus. John Tolands Theorie des Judenchristentums. Mit einer Neuausgabe von Tolands ‚Nazarenusǥ von Claus-Michael Palmer, Berlin 1996. – Für seine Forderung nach bürgerlicher Emanzipation der Juden in England hat Toland jedoch kaum Zuspruch gefunden. 109 Kap. XLVII, DF, Bd. 2, 932ff. 110 Einschub hinter 1. Joh. 5, 7: „Drei sind es, die Zeugnis geben im Himmel, der Vater, das Wort und der Heilige Geist“. 111 Kap. XXXVII, VU, Bd. 5, 230–232. – Auch zu einer anderen, seinerzeit noch umstrittenen Textstelle, der Bezeichnung von Jesus als der Christus bei Josephus, Jüdische Altertumer 18, 63 („Testimonium Flavianum“) hatte Gibbon dezidiert (und richtig) festgestellt, daß es sich um eine Fälschung handeln müsse; Kap. 16, VU, Bd. 2, 229, Anm. 36. 112 George Travis, Letters to Edward Gibbon, Esq., London 1785 (ND New York 1974). 113 Memoirs 163. -Vgl. Martin L. Clarke, Richard Porson. A biographical essay, Cambridge 1937, 23–30; Charles O. Brink, Klassische Studien in England. Historische Reflexionen über Bentley, Porson und Housman, Stuttgart 1997, 135ff.; Nigel Aston, Christianity and Revolutionary Europe, c. 1750–1830, Cambridge 2003, 121. Zur umstrittenen Stelle im Johannes-Brief, die seit dem 6. Jahrhundert in die Vulgata aufgenommen worden war, von Erasmus in seiner Ausgabe des Neuen Testaments zunächst weggelassen, von ihm später aber aus Furcht vor dem Häresie-Vorwurf wieder aufgenommen worden ist und die definitiv erst im 20. Jahrhundert als unecht verworfen worden ist, vgl. kurz Benedikt Kraft, „Comma Joaennum“, Lexikon für Theologie und Kirche², Bd. 3 (1959), 18f.; Henk Jan de Jonge, „Comma Johaennum“, Religion in Geschichte und Gegenwart4, Bd. 2 (1999), 430.

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vergleicht114, impliziert er auch, daß religiöser Toleranz durch die Erfordernisse gesellschaftlicher Stabilität Grenzen gesetzt sein müssen. Gibbons Haltung hängt eindeutig mit seiner Einstellung zur anglikanischen Staatskirche zusammen. Das Trinitätsdogma war in seiner angeblich auf Athanasius zurückgehenden Fassung offizielle Lehre der anglikanischen Kirche, Kernstück der „39 Artikel“ von 1563. Es mußte nicht nur von allen anglikanischen Geistlichen, sondern seit 1689 auch von Predigern der Gemeinden außerhalb der Staatskirche unterzeichnet werden, wenn diese Dissenter den Schutz des Toleranzgesetzes genießen wollten, von dem Antitrinitarier ausdrücklich ausgenommen waren115. Die Leugnung der Trinität konnte unter dem Blasphemie-Gesetz von 1697 auch strafrechtlich verfolgt werden116. De facto herrschte im 18. Jahrhundert in England eine weitgehende Toleranz für antitrinitarische Positionen innerhalb wie außerhalb der Staatskirche, was jedoch Forderungen nach Anwendung der Gesetze und strafrechtliche Verfolgung in Einzelfällen nicht ausschloß117. Aber alle Anläufe seit den 1770er Jahren, die gesetzlichen Regeln zu ändern, scheiterten118. Gibbon teilte die seit langem geäußerten Zweifel an der Authentizität der Athanasischen Formel119, aber das hinderte ihn nicht daran, für die weitere Geltung der anglikanischen Lehre mit allen ihren rechtlichen Konsequenzen einzutreten. Das Abschmettern einer parlamentarischen Initiative zugunsten der Antitrinitarier im Jahre 1772 kommentierte Gibbon in einem Brief als „Victory of our Dear Mamma the Church of England“ über eine Gruppe von „rebellious sons“; den führenden Repräsentanten der Ablehnungsfront bescheinigte er, daß sie die Verpflichtung auf die 39 ___________ 114

Kap. XXI, VU, Bd. 3, 189. Text in Auszügen bei E. Neville Williams (Hrsg.), The Eighteenth Century Constitution. Documents and Commentary, Cambridge 1974, 42ff. 116 Vgl. Justin A. I. Champion, The Pillars of Priestcraft Shaken: The Church of England and its enemies, 1660–1730, Cambridge 1992, 107; John Brewer, The Pleasures of the Imagination. English culture in the eighteenth century, London 1997, 131; Robert E. Florida, British Law and Socinianism in the 17th and 18th centuries, in: Lech Szczucki (Hrsg.), Socinianism and its Role in the Culture of XVIth to XVIIIth Centuries, Warschau 1983, 201–210 (zur Rechtslage und –praxis in Schottland). 117 Vgl. Aston, Christianity (Anm. 113), 148. 118 Vgl. Leslie Stephen, History of English Thought in the Eighteenth Century, London ³1902 (ND London 1962), Bd. I, 356ff.; G. M. Ditchfield, The Subscription Issue in British Parliamentary Politics, 1772–1791, Parliamentary History 7 (1988), 45–80; ders., Anti-Trinitarianism and Toleration in Late Eighteenth-Century British Politics: The Unitarian Petition of 1792, Journal of Ecclesiastical History 42 (1991), 39–67; John G. A. Pocock, Gibbon and the Primitive Church, in: Stefan Collini u.a. (Hrsgg.), History, Religion, and Culture. British Intellectual History 1750–1950, Cambridge 2000, 48–68, 61. 119 Zur Geschichte dieser Diskussion vgl. John N. D. Kelly, The Athanasian Creed, London 1964, Kap. 1; Roger J. H. Collins, „Athanasisches Symbol“, Theologische Realenzyklopädie, Bd. 1 (1979), 328–333. – Gibbon bezog sich auf den Jansenisten Pasquier Quesnel (1634–1719); Kap. XXXVII, VU, Bd. 5, 230, Anm. 114. 115

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Artikel, die sie doch selbst für absurd hielten, mit unerschütterlichem Humor verteidigt hätten (und fügte hinzu, daß sie die Verabredungen für diesen „Heiligen Krieg“ beim gemeinsamen Glücksspiel getroffen hätten)120. In der Sache, dem Festhalten an den etablierten Regeln, teilte Gibbon ihre Position. Dies wird deutlich in seiner Reaktion auf den Unitarier Joseph Priestley, der zugleich für seine radikalen politischen Ansichten bekannt war. Priestley hatte in einer Schrift von 1782 Gibbon für seine Position vereinnahmen wollen, daß die Trinitätslehre eine platonistische Verfälschung des ursprünglichen Christentums darstelle und daß Staat und Kirche getrennt werden müßten121. Auf Priestley reagierte Gibbon wütend, und zwar nicht nur, weil dieser seinen Briefwechsel mit Gibbon ohne dessen Zustimmung veröffentlichen wollte122. Gibbon verwies Priestley auf das Ende von Servet, der 1553 in Genf auf Betreiben Calvins wegen Verhöhnung der Dreifaltigkeit hingerichtet worden war, fügte gleich hinzu, daß ein solches Schicksal nun nicht mehr möglich sei; aber an Servet erinnere man sich nur noch wegen seiner naturwissenschaftlichen, nicht wegen seiner theologischen Erkenntnisse, und Priestley werde es genauso ergehen123. In einem Kapitel seines 1788 erschienenen fünften Bandes pries Gibbon das Klima der Toleranz in England, wo die Kleriker die 39 Artikel „mit einem Seufzer oder einem Lächeln“ unterschreiben124. Er machte aber zugleich auf die immer noch bestehende Rechtslage aufmerksam, verwies auf die Besorgnis darüber, daß die Auffassungen von Arminianern, Arianer, Socinianern auch innerhalb der anglikanischen Kirche zunehmende Resonanz fanden, und scheute sich nicht darauf hinzuweisen, daß die Auffassungen von Priestley das Einschreiten der religiösen und staatlichen Autoritäten erfordern könnten125. Daß er sich in theologischen Grundfragen (Ablehnung der Trinität und der Göttlichkeit Jesu) durchaus in Übereinstimmung mit Priestley befand126 (auch wenn dieser Gibbon für einen „Ungläubigen“ hielt127), zählte ___________ 120 Brief an John Holroyd (später: Lord Sheffield) 8. 2. 1772; Letters I, 305; vgl. David Dillon Smith, Gibbon in Church, Journal of Ecclesiastical History 35 (1984), 452–463, 460. 121 Joseph Priestley, An History of the Corruptions of Christianity (1782), Auszüge bei David Womersley (Hrsg.), Religious Scepticism. Contemporary Responses to Gibbon, Bristol 1997, 235–249. 122 Vgl. Paul Turnbull, Gibbonǥs Exchange with Joseph Priestley, British Journal for Eighteenth-Century Studies 14 (1991), 139–158; Pocock, Gibbon (Anm. 118), 64f. 123 Brief vom 28. 1. 1783, Letters II, 321. Vgl. Memoirs 181. 124 Kap. LIV, DF, Bd. 3, 439. 125 Ebd., Anm. 42. Vgl. Memoirs 181. 126 In seinen Erinnerungen (Memoirs 87f.) hat sich Gibbon mit William Chillingworth (1602–1644) verglichen, der nach seiner Rekonversion zum Protestantismus zunehmend Zweifel an der Trinitätslehre der Anglikanischen Kirche entwickelte und daher dem Socianismus zuneigte, vgl. Joseph M. Levine, From Tradition to History: Chillingworth to Gibbon, in: Historians and Ideologues. Essays in Honor of Donald R. Kelley, hrsg. v. Anthony Grafton/John H. M. Salmon, Rochester 2001, 181–210.

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nicht, wenn es um eine Frage der Staatsräson ging, die er im Falle von Priestley natürlich auch wegen dessen im engeren Sinne politischen Ansichten gefährdet sah. Für Gibbon erlaubt die anglikanische Kirche eine Toleranz annähernd vergleichbar derjenigen in der vorchristlichen römischen Kaiserzeit. Nur setzt dies, was immer der Einzelne glauben mag (oder nicht) gerade voraus, daß das System der Staatskirche erhalten bleibt, damit nicht politischem Radikalismus und religiösem Schwärmertum Tür und Tor geöffnet oder gar ein Rückfall in den konfessionellen Bürgerkrieg möglich werde128. Anders als manchen französischen Aufklärern, die nach seiner Einschätzung mit intolerantem Eifer einen dogmatischen Atheismus predigten129, ging es Gibbon mit seiner historischen Darstellung des Christentums nicht um einen Angriff auf die Institution der Kirche. Dies gilt im übrigen auch im Hinblick auf die katholische Kirche, so sehr er besonders die Inquisition attackiert. Auch dem Papsttum kann Gibbon im weiteren Verlauf der Geschichte eine positive Rolle zuschreiben. Während die orthodoxe Kirche kein Gegengewicht zum byzantinischen Despotismus bildet, ist Gregor VII. in seinem Kampf mit Kaiser Heinrich IV. ein neuer Athanasius130. Die Kirche wehrt sich gegen eine Universalmonarchie und fördert so die Entstehung der christlichen Republik Europa, die auf der gehegten Konkurrenz souveräner Staaten auf gleichartiger kultureller Basis beruht131. Im Schlußkapitel seines Werkes führt Gibbon aus, daß es gerade die Päpste seit der Renaissance waren, die am meisten für die Erhaltung des architektonischen Erbes der Antike getan hatten, zuletzt 1744 Bene-

___________ 127

So wieder Joseph Priestley, Jesus and Socrates Compared (1803), ND Whitefish 1997, 57f. 128 Zur religiösen Rechtfertigung von Bürgerkriegen im modernen Europa vgl. die Bemerkungen Kap. V, VU, Bd. 1, 156; siehe ferner Gibbons briefliche Äußerung, daß die antikatholischen Ausschreitungen von 1780 („Gordon Riots“) das immer noch vorhandene, überraschend großes Potential an Fanatismus gezeigt hätten; Letters II, 245; 129 Memoirs 136 zu dǥHolbach und Helvétius im Hinblick auf seine persönliche Bekanntschaft mit ihnen in Paris 1763. Für Briten war diese Haltung offenbar irritierend; als Hume sich im gleichen Jahr im selben Zirkel aufhielt, sagte er, er kenne keinen einzigen Atheisten, und erhielt von dǥHolbach die Antwort von achtzehn anwesenden Personen seien fünfzehn Atheisten, die übrigen hätten sich noch nicht entschieden; nach der Wiedergabe bei Diderot zitiert bei Mossner, Hume (Anm. 5), 483. 130 Kap. LVI, DF, Bd. 3, 504, Anm. 83. 131 Vgl. John Robertson, Gibbonǥs Roman Empire as a universal monarchy: The 'Decline and fall' and the imperial idea in early modern Europe, in: Rosamond McKitterick/ Roland Quinault (Hrsgg.), Gibbon and Empire, Cambridge 1997, 247–270; Wilfried Nippel, Edward Gibbon und die christliche Republik Europa, in: Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte. Festschrift für Hartmut Kaelble zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Rüdiger Hohls u.a., Stuttgart 2005, 128– 133.

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dikt XIV., der das Kolosseum dadurch vor dem Verfall rettete, daß er es – ausgerechnet – als Gedenkstätte für die Märtyrer weihte132. Für Gibbon konnte es keinen Ausstieg aus der Kontinuität der Geschichte durch die Rückkehr zu unverfälschten Ursprüngen geben. Alle historischen Prozesse bedeuten Zerstörung, Umformung und Neuaufbau zugleich, in jedem Verfall liegt auch die Chance des Fortschritts. Dies gilt nicht nur für das Christentum, sondern auch für die Germanen, die zur Zerstörung des Römischen Reichs beitrugen, aus deren Traditionen sich jedoch langfristig freiheitliche Institutionen im Abendland entwickelten – ganz anders als in Byzanz, das den Ansturm der Barbaren abgewehrt hatte. Der berühmte Satz aus dem Schlußkapitel des gesamten Werkes, den ich eingangs angesprochen hatte, lautet denn auch vollständig: „In den Bänden dieser Geschichte habe ich den Triumph von Barbarei und Religion beschrieben, und ich kann nur in wenigen Worten ihren tatsächlichen oder vermeintlichen Zusammenhang mit dem Untergang des alten Rom zusammenfassen“133. – „Tatsächlich oder vermeintlich“, „real or imaginary“, ist eine Lieblingsformel Gibbons, die deutlich macht, daß er sich nicht auf eindimensionale Aussagen reduzieren lassen will. Gibbon ist der große Historiker der Ambivalenz geschichtlicher Entwicklungen, der deren langfristige Auswirkungen bis in die eigene Zeit stets reflektiert. Eben deshalb fasziniert sein Werk bis heute. Seine eigene Erwartung, es werde noch mindestens einhundert Jahre lang „mißbraucht“ werden134, ist längst übertroffen worden.

___________ 132

Kap. LXXI, DF, Bd. 3, 1080. Kap. LXXI, DF, Bd. 3, 1068. 134 Memoirs 171. 133

Instrumentalisierung von Geschichte: Nationalsozialismus und Lutherinterpretation am Beispiel des Erlanger Kirchenhistorikers Hans Preuß Irene Dingel Der erstaunliche Erfolg und die verhängnisvolle Durchsetzung des Nationalsozialismus in Deutschland in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts waren das Resultat eines Zusammenspiels vieler unterschiedlicher Faktoren, sowohl politischer als auch gesellschaftlicher, als auch solcher, die im weitesten Sinne in einen mentalitäts- und ideengeschichtlichen Zusammenhang einzuordnen wären. Vor allem die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen und Hintergründe haben im Rahmen der Forschungen zur Geschichte des Dritten Reichs, zur Haltung der Kirchen1 und zur Geschichte des Kirchenkampfs2 in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder im Vordergrund gestanden, wobei ein besonderes Augenmerk auf der Frage des Widerstands, seinen Voraussetzungen und Möglichkeiten gelegen hat3. Dieser Beitrag will eine andere Richtung einschlagen und die Frage danach stellen, was die nationalsozialistische Ideologie in einer Weise befördern konnte, daß sie annähernd ungehemmt alle Ebenen von Politik, Gesellschaft und Kirche durchtränken konnte. Dazu scheint ein ideengeschichtlicher Zugang geeignet, der das in der Überschrift vorangestellte Thema in der Weise angeht, daß zu fragen ist, auf welche Überzeugungen der Nationalsozialismus in Deutschland traf und inwiefern seine Ideologie auf diesem Substrat mit Hilfe theologischer oder kirchenhistorischer Interpretamente verstärkt und befördert wurde, so daß er über eine solche ___________ 1

Vgl. hierzu den Überblick von Joachim Mehlhausen, Art. Nationalsozialismus und Kirchen, in: Theologische Realenzyklopädie Bd. 24, Berlin/New York 1994, 43–78 und die hier genannte Literatur, insbesondere Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, 2 Bde., Frankfurt/M. 1985–1986, sowie Kurt Meier, Der evangelische Kirchenkampf, 3 Bde., Göttingen I-II ²1984, III 1984, und ders., Kreuz und Hakenkreuz. Die evangelische Kirche im Dritten Reich, München 1992. 2 Zu diesem Begriff, dessen Geschichte und inhaltlicher Füllung vgl. Klaus Scholder, Art. Kirchenkampf, in: Evangelisches Staatslexikon, Stuttgart/Berlin ²1975, 1177–1200, neu abgedr. in: Klaus Scholder, Die Kirchen zwischen Republik und Gewaltherrschaft. Gesammelte Aufsätze hrsg. v. Karl Otmar von Aretin/Gerhard Besier, Berlin 1988, 131–170. 3 Vgl. z. B. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler, hrsg. v. Jürgen Schmädeke/Peter Steinbach, München ³1994.

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pseudo-religiöse Legitimierung eine breite Akzeptanz in der deutschen Bevölkerung finden konnte. Dazu beigetragen haben solche Persönlichkeiten, die als Universitätsprofessoren nicht nur zu den Funktions- oder Entscheidungsträgern der damaligen Gesellschaft gehörten, sondern die durch ihre Arbeit mit Studenten und ihre theologische Vortragstätigkeit vor Pfarrern und Gemeinden auch zu Multiplikatoren von Anschauungen und Überzeugungen wurden. Der Erlanger Kirchenhistoriker Hans Preuß, dessen Name heute kaum noch geläufig ist, nahm unter ihnen eine seinerzeit viel beachtete Stellung ein. Vermutlich hat er mit seiner Lutherinterpretation, kombiniert mit einer typisch nationalprotestantischen Sicht der Geschichte, prägender gewirkt als die großen, aus der sog. Lutherrenaissance4 hervorgegangenen Gelehrten, wie z. B. Emanuel Hirsch oder auch Werner Elert und Paul Althaus, deren Rolle im Nationalsozialismus in letzter Zeit immer wieder zur Debatte gestanden hat5. Hans Preuß kann deshalb in eminenter Weise für das stehen, was ich in diesem Zusammenhang „Instrumentalisierung von Geschichte“ nennen möchte, denn er war es, der vermutlich als erster die Parallelisierung von Martin Luther und Adolf Hitler durchgeführt hat. Das Phänomen als solches, nämlich daß eine Person oder Situation des gegenwärtigen Lebens mit einer herausragenden Persönlichkeit bzw. bemerkenswerten Konstellation der Vergangenheit gleichgesetzt wird, ist im Grunde nicht neu. Wir können es in nahezu allen Epochen der Geschichte und Kirchengeschichte beobachten. Zugrunde liegt dabei eine Struktur, die auf Einordnung der eigenen Zeit in ein Geschichtskontinuum und damit auf Gegenwartsdeutung und Selbstvergewisserung zielt. Die Übertragung eines allgemein bekannten historischen Musters auf eine neue, gegenwärtige Situation oder die Parallelisierung einer geschichtlichen Autorität mit einer Person der jeweiligen Ge___________ 4

Vgl. dazu die Untersuchung von Heinrich Assel, Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance – Ursprünge, Aporien und Wege: Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann (1910–1935), (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 72), Göttingen 1994. 5 Vgl. z. B. Robert P. Ericksen, Theologians under Hitler: Gerhard Kittel, Paul Althaus and Emanuel Hirsch, New Haven 1985; Berndt Hamm, Schuld und Verstrikkung der Kirche. Vorüberlegungen zu einer Darstellung der Erlanger Theologie in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Kirche und Nationalsozialismus, hrsg. v. Wolfgang Stegemann, Stuttgart 1990, 11–55; A. James Reimer, Emanuel Hirsch und Paul Tillich. Theologie und Politik in einer Zeit der Krise, Berlin/New York 1995; Jendris Alwast, Theologie im Dienste des Nationalsozialismus: Mentalitätsanalyse als Schlüssel zum Verständnis der Anfälligkeit von Theologen für den Nationalsozialismus. Eine sozialpsychologische Untersuchung der NS-Theologie von Emanuel Hirsch, in: Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus, hrsg. v. Leonore Siegele-Wenschkewitz/Carsten Nicolaisen (Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B, Darst. 18), Göttingen 1993, 199–222; Berndt Hamm, Werner Elert als Kriegstheologe: zugleich ein Beitrag zur Diskussion „Luthertum und Nationalsozialismus“ in: Kirchliche Zeitgeschichte 11 (1998) 206–254.

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genwart verschafft den Zusammenhängen eine Orientierung gebende Relevanz bzw. verleiht der Person eine über jeden Zweifel erhabene Autorität und bietet eine nach uneingeschränkter Anerkennung verlangende Deutung ihres Handelns. So wurde z. B. schon Martin Luther selbst von seinen Zeitgenossen als ein neuer Elias bezeichnet6. Seine auf die Reinheit der Lehre – nämlich die evangelische Rechtfertigungslehre – zielende und falschen Gottesdienst anprangernde Verkündigung wurde damit als schriftgemäß, sein Auftreten als gottgewollt herausgestellt. Zahlreiche weitere Beispiele lassen sich finden: Elisabeth I. von England (reg. 1558–1603), die nach dem Schreckensregiment Maria Tudors, der sog. „blody Mary“, den evangelischen Glauben in England wieder herstellte und für ein Wiedererstarken der von Rom unabhängigen englischen Staatskirche sorgte, wurde in eine Reihe mit Kaiser Konstantin gestellt7. Auch Ludwig XIV., der Sonnenkönig, der mit der Aufhebung des Edikts von Nantes eine konfessionelle Vereinheitlichung Frankreichs im Sinne des Katholizismus heraufführte, galt als „neuer Konstantin“ und wurde sogar zugleich mit Theodosius verglichen8. Tertium comparationis war in dem einen wie in dem anderen Fall die als Befreiung von Fremdbestimmung oder aber häretischer Überfremdung gewertete Integration der Kirche in den Staat. Die jeweiligen kirchenpolitischen Konstellationen (Anglikanismus – Gallikanismus) spielten für die Anwendung der Typologie keine Rolle. Als zweiter David und damit als erwähltes Werkzeug Gottes und vorbildlicher Herrscher in Gottesfurcht und Frömmigkeit wurde Wilhelm III. von Oranien tituliert, der in den Augen der Zeitgenossen mit der Glorious Revolution von 1688 den Kampf gegen die Ungläubigen aufgenommen hatte und mit der Toleranzakte endlich den bisher Ausgegrenzten Religionsfreiheit garantierte9. Und wenn Bismarck ___________ 6

Vgl. Irene Dingel, Ablehnung und Aneignung. Die Bewertung der Autorität Martin Luthers in den Auseinandersetzungen um die Konkordienformel, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 105 (1994), 35–57, bes. 38–43. 7 Es existierte auch die Vorstellung, daß die Kaiserkrone in einer ungebrochenen Linie von Konstantin dem Großen auf die englischen Inhaber der Königskrone gekommen sei. Vgl. Arthur Geoffrey Dickens, The English Reformation, London ²1989, 140. John Foxe hatte in seiner Kirchengeschichte (Acts and monuments of matters … happening in the Church) das elisabethanische Zeitalter und damit auch seine herausragende Repräsentantin in die Sukzession Konstantins gestellt. Vgl. Patrick Collinson, Godly People. Essays on English Protestantism and Puritanism (History Series 23), London ²1983, 112f. 8 Vgl. Elisabeth Labrousse, „Une foi, une loi, un roi?“. Essai sur la Révocation de lǥÉdit de Nantes, Genève/Paris 1985 (Histoire et Société 7), S. 118 mit Anm. 6. Nach Labrousse soll Bossuet diesen Vergleich in seiner Leichenrede auf den Kanzler Michel Le Tellier vorgenommen haben. Vgl. Jacques Bénigne Bossuet, Oraison funèbre de … messire Michel Le Tellier … prononcée le 25 janvier 1686, Paris 1686. 9 Der Bischof von Salisbury, Gilbert Burnet, hatte den Oranier in einer Predigt in St. James mit König David verglichen und tatsächlich galt Wilhelm von Oranien den Zeitgenossen als der zweite David, vgl. dazu Walter Rex, Essays on Pierre Bayle and Religious Controversy (Archives Internationales d'Histoire des Idées – International Archi-

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schließlich in einer Reichstagsrede während des Kulturkampfs (1872–1887) ausrief: „nach Canossa gehen wir nicht“10, so spielte er auf das damals als deutsche Demütigung interpretierte Zusammentreffen Heinrichs IV. mit dem Papst an und gab seiner Position so historischen Rückhalt. In allen Fällen haben wir es mit einer Indienstnahme von geschichtlichen Konstellationen zum Zweck der Legitimation einer Haltung oder autoritativen Überhöhung einer Person zu tun, die ihr eine über jeden Zweifel erhabene Stellung verschafft. Ganz ähnlich verhielt es sich mit der Parallelisierung von Luther und Hitler, die sich – anders als die genannten Beispiele – freilich deshalb in so erschreckender Weise auswirkte, weil sie in eine Situation hineintraf, in der mit der Machtergreifung Hitlers bereits die Weichen zum Totalitarismus gestellt waren. Die Person Adolf Hitlers wurde als Endpunkt der Reihe ‚Karl der Große – Luther – Friedrich der Große – Bismarck‘ in eine historische Kontinuität eingebettet, die darauf zielte, ihn als eine aus dem Gewöhnlichen herausgerufene Person und sein Handeln als Bestandteil einer eben nicht kontingenten, sondern in gewisser Weise vorgezeichneten Geschichte Deutschlands und des deutschen Volkes zu legitimieren. Entscheidend dazu beigetragen hat Hans Preuß mit seinem Werk.

I. Zu Person und Werk des Hans Preuß – eine Orientierung Wer war dieser heute vergessene Gelehrte? Hans Preuß gehörte zu jener Generation, die noch das Wilhelminische Zeitalter, den Ersten Weltkrieg und den Zusammenbruch von 1918 erlebt hatte. Am 3. September 1876 wurde er in Leipzig geboren und stammte aus dem sächsischen Luthertum, das er auch später als Theologe kultivierte. Studiert hatte er bei Albert Hauck in Leipzig, einem der bedeutendsten protestantischen Kirchenhistoriker des wilhelminischen Deutschland11. Bevor Preuß im Jahre 1914 als außerordentlicher Professor nach Erlangen berufen wurde, war er als Lehrer im Höheren Schuldienst tätig gewesen. In seinen Unterrichtsfächern erwies er sich als ausgesprochen vielseitig12. 1919 wurde er zum ordentlichen Professor ernannt; im Inflationsjahr ___________ ves of the History of Ideas 8), The Hague 1965, 248–250. Zur Aufnahme dessen bei Pierre Bayle und Pierre Jurieu vgl. Irene Dingel, Zwischen Orthodoxie und Aufklärung. Pierre Bayles Historisch-Kritisches Wörterbuch im Umbruch der Epochen, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 110 (1999), 229–246, 240. 10 So Otto von Bismarck in seiner Rede vor dem Reichstag 1872. 11 Vgl. zu Hauck Kurt Nowak, Albert Hauck. Historiker des deutschen Mittelalters im wilhelminischen Kaiserreich, in: ders., Kirchliche Zeitgeschichte interdisziplinär. Beiträge 1984–2001, hrsg. v. Jochen-Christoph Kaiser (Konfession und Gesellschaft 25), Stuttgart 2002, 101–118. 12 Er unterrichtete die Fächer Religion, Latein, Deutsch, Hebräisch, Französisch, Geschichte und Geographie.

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1922/23 amtierte er als Rektor der Universität. Bis 1945 hat Preuß in Erlangen gelehrt – er ließ sich mit 69 Jahren aus Altersgründen emeritieren – und ist dort im Jahre 1951 gestorben. Preuß gehörte mit seinem kirchengeschichtlichen Kollegen, dem konfessionsbewußten Lutheraner Hermann Sasse13, zu jener Erlanger theologischen Fakultät, die seinerzeit durch die beiden Systematiker Werner Elert und Paul Althaus geprägt wurde. Deren systematischtheologischer Erschließung Martin Luthers stellte er – wie er selbst meinte – einen bewußt historischen Zugang zur Seite, der, möglichst unter Absehung von den theologischen Aspekten, auch auf die frömmigkeitsgeschichtlichen Dimensionen in der Person Luthers Wert legen wollte14. Dabei glitt Preuß jedoch immer mehr auf die Seite einer stringent durchgeführten völkischnationalen Interpretation, mit der er den sich ab 1933 etablierenden Deutschen Christen und den Nationalsozialisten deutlich in die Hände arbeitete. Weder Walther von Loewenich, der 1951 einen ausführlichen Nachruf auf seinen Vorgänger in der Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung veröffentlichte15 und sich noch in seinen Memoiren wohlwollend an Preuß erinnerte16, noch Karlmann Beyschlag, der den Kirchenhistoriker in seinem Buch über „Die Erlanger Theologie“ erwähnt17, haben darauf hingewiesen. Für beide war Preuß in erster Linie ein ungemein fleißiger Lutherforscher und –kenner, der – gemäß einem Diktum des Erlangers selbst – die gesamte Weimarana „Blatt für Blatt“ gelesen habe18. Er war der Autor einer sechsmal wiederaufgelegten Kirchengeschichte19, seine kunsthistorische Versiertheit stieß allseits auf Bewunderung, und seine Wirkung über die Grenzen der Wissenschaft hinaus wurde als bemerkenswert angesehen. Loewenich sprach zwar von Unausgeglichenheiten und Einseitigkeiten im Werk des Erlangers, dessen „kindlich fromme[s] Gemüt … sich in manches Diabolische einfach nicht [habe] hineindenken“20 können

___________ 13

Vgl. Maurice Schild, Hermann Sasse, in: Profile des Luthertums. Biographien zum 20. Jahrhundert, hrsg. v. Wolf-Dieter Hauschild (Die lutherische Kirche. Geschichte und Gestalten 20), Gütersloh 1998, 591–604. 14 Vgl. z. B. Hans Preuß, Martin Luther. Der Künstler, Gütersloh 1931, 1–5; außerdem ders., Martin Luther. Der Christenmensch, Gütersloh 1942, III. 15 Vgl. Walther von Loewenich, Zum theologischen Lebenswerk von Hans Preuß, in: Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung 15 (1951), 229–233. 16 Vgl. Walther von Loewenich, Erlebte Theologie. Begegnungen, Erfahrungen, Erwägungen, München 1979,112–114, 163f, passim. 17 Vgl. Karlmann Beyschlag, Die Erlanger Theologie (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns 67), Erlangen 1993, passim. 18 Vgl. Preuß, Luther. Der Künstler (Anm. 14), 3. 19 Vgl. Hans Preuß, Von den Katakomben bis zu den Zeichen der Zeit. Der Weg der Kirche durch zwei Jahrtausende, Erlangen 1936, die Ausg. letzter Hand stammt aus dem Jahr 1952. 20 Loewenich, Zum theologischen Lebenswerk (Anm. 15), 233.

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und bescheinigte ihm, ähnlich wie später Beyschlag, politische Naivität21, aber diese Wertungen verschleiern eher die verheerende Wirkung der Preußischen Lutherforschung als sie aufzudecken. Schon 1923 hatte Preuß, wie viele seiner Zeitgenossen, Sympathien für die völkische Bewegung geäußert. Der NSDAP ist er jedoch nicht beigetreten. Dies hinderte ihn freilich nicht, in den Jahren 1932 und 1933 Wahlaufrufe für die Partei zu unterzeichnen. Bezeichnend ist außerdem, daß er als einziger Erlanger Ordinarius zu dem achtköpfigen „Kampfausschuß“ zur Durchführung der Aktion der deutschen Studentenschaft, d. h. der Bücherverbrennung vom Mai 1933, gehörte. Dieser Kampfausschuß hatte sich über die Tagespresse mit einem Aufruf an die Erlanger Bevölkerung gewandt und sie zur Ablieferung zersetzenden jüdischen und marxistischen Schrifttums bei der Studentenschaft aufgefordert. Auch wenn Preuß bei der Erlanger Bücherverbrennung vom 12.5.1933 selbst nicht in Erscheinung trat, so wurde er doch immer mehr zu einer Art „Vertrauensmann“ zwischen Universität, Studentenschaft und nationalsozialistisch besetztem Kultusministerium22, zumal er im Herbst 1933 als Stellvertreter des Universitätsrektors und Dekan der Theologischen Fakultät amtierte23. Bekannt geworden ist Preuß durch seine viel gelesenen Lutherbücher, mit denen er die Etablierung und Entfaltung des Nationalsozialismus regelrecht begleitete: Martin Luther. Der Künstler, Gütersloh 1931; Martin Luther. Der Prophet, Gütersloh 1933; Martin Luther. Der Deutsche, Gütersloh 1934, und Martin Luther. Der Christenmensch, Gütersloh 1942. Ursprünglich scheint der Band „Luther der Deutsche“ noch nicht vorgesehen gewesen zu sein. Denn in seinem ersten Buch „Luther der Künstler“ wies Preuß lediglich auf zwei weitere geplante Bände hin, nämlich zu dem „Deutschen Propheten“ und zu Luther als Christenmensch24. Wenn im Jahre 1934 „Luther der Deutsche“ zusätzlich erschien, so konnte dies als akademische Untermauerung dessen dienen, was Preuß bereits im Oktober 1933 in seinem Aufsatz über „Luther und Hitler“ in populärer und eher schlichter Weise vertreten hatte25. In der Monographie wur___________ 21

Beyschlag spricht bei Preuß von einer „peinlichen Verbeugung vor der NSRassenkunde“, vgl. ders., Die Erlanger Theologie (Anm. 17), 180, Anm. 354. 22 Seit dem März 1933 war Hans Schemm kommissarischer Kulturminister, dann „Leiter der kulturellen und erzieherischen Angelegenheiten Bayerns“. Über Preuß’ Beteiligung an den Aktivitäten des „Kampfausschusses“ vgl. Björn Mensing, 70 Jahre Bücherverbrennung. Theologen als Brandredner, in: Sonntagsblatt 03/2003, publiziert im Internet: http://www.sonntagsblatt-bayern.de/03/2003_19_05_01.php (19.11.2004). 23 Detaillierte biographische Informationen über Preuß finden sich bei Loewenich, Zum theologischen Lebenswerk (Anm. 15), 229f. 24 Vgl. Preuß, Martin Luther. Der Künstler (Anm. 14), 5. 25 Vgl. Hans Preuß, Luther und Hitler, in: Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung 66 (1933) 970–973. 994–999.

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de lediglich genauer ausgeführt, was Preuß auch früher schon geäußert hatte. Ausgelöst durch den nationalen Aufbruch des 19. Jahrhunderts und bezugnehmend auf das Bedürfnis der gegenwärtigen Zeit, wurde Luther von Preuß als Identifikationsfigur des Deutschen schlechthin stilisiert. Der Reformator steht für die Verbindung des echten Evangeliums mit echtem Deutschtum. Auf diesem Hintergrund zeichnete Preuß die Person Luthers darüber hinaus in die Kategorien der nationalsozialistischen Rassenideologie ein und stellte seine deutsche „Art“ unter Beweis26. Nicht nur Luthers Frömmigkeit galt ihm, im Gegensatz zu einer als international abgewerteten Mystik, als typisch deutsch und ausgerichtet an deutschen Strukturen, sondern auch die göttliche Sendung des Reformators wird auf das Nationale hin enggeführt. Wenn Luther sich an seine „lieben Deutschen“ richtet, so wird dies in der Interpretation von Preuß zu einem Indiz für die Erwähltheit des deutschen Volkes, dessen göttliches Sendungsbewußtsein sich entsprechend von daher speist. So konnte Preuß in gleicher Weise, ohne auch nur in den geringsten Zweifel an seiner Deutung zu geraten, vertreten, daß die religiöse Frage bei Luther in die nationale übergegangen und dementsprechend seine Empörung gegen die Juden keine aus seiner Theologie heraus motivierte, sondern ebenfalls eine nationale gewesen sei. Luther wird darüber zwischen den Zeilen zum Anwalt der nationalsozialistischen Rassenideologie und Politik, zu einer ‚nordischen Führergestalt‘, die spätere Führergestalten machtvoll vorabbildet. Auch wenn der Erlanger gelegentlich daran erinnerte, daß Luthers erstes und letztes Anliegen nicht Deutschland, sondern doch das Evangelium gewesen sei, auch wenn – wohl auf dem Hintergrund des Skandals der Sportpalastkundgebung im November 1933 – an der ein oder anderen Stelle verhaltene Kritik an den Deutschen Christen anklingt, denen er vorwarf eine „neuromantische[n] Germanomythologie“27 zu vertreten und in Luther nur noch den Repräsentanten einer „deutschen Religion“, einer Naturreligion oder Erlebnis- und Volksreligion zu erkennen, so ist doch mehr als deutlich, daß sich Preuß mit den Nationalsozialisten in Übereinstimmung sah, die er gegen Mißinterpretationen in Schutz nehmen zu müssen glaubte. „Bekanntlich bekennt sich der § 24 des unabänderlichen Parteiprogramms“, so führte Preuß in seinem Lutherbuch aus, „zum positiven Christentum, und die evangelischen Vertreter der Bewegung haben sich schon des öfteren zu Martin Luther bekannt als dem deutschen Reformator schlechthin“28. Die Nationalität also bzw. die kulturgeschichtliche Einpassung in die Sphären von Rasse und Nation wurden zum Kriterium seines Lutherverständnisses, selbst wenn Preuß strikt darauf hinwies, daß es Luther keineswegs um die Nation oder die Propagierung eines „Deutschtums“, sondern einzig und allein um das Evangelium ___________ 26

Hans Preuß, Martin Luther. Der Deutsche, Gütersloh 1934. Vgl. hier besonders den „Luthers deutsche Art“ überschriebenen Abschnitt, ebd., 24–51. 27 Preuß, Luther der Deutsche (Anm. 26), Vorwort. 28 Vgl. Preuß, Luther. Der Deutsche (Anm. 26), 112–120, Zitat 120.

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gegangen sei. Aber – so Preuß –, es sei eben doch ein Deutscher gewesen, der das Evangelium aufgrund typisch deutscher Eigenschaften wiederentdeckt habe29.

II. Politisches Umfeld und gesellschaftliche Stimmung Was diese Anschauungen so brisant machte, war das zeitliche und politische Umfeld, in das sie hineintrafen und die Wirkung, die sie hervorbrachten. Von entscheidender Bedeutung war ohne Zweifel die Tatsache, daß das Jahr der Machtergreifung 1933 mit einem großen Lutherjubiläum zusammenfiel, nämlich dem 450. Geburtstag des Reformators am 10. November. Seit Mai 1933 liefen deshalb auf Reichsebene zahlreiche Vorbereitungen für koordinierte und zentrale Veranstaltungen. Im August, September und Oktober sollten groß angelegte Lutherwochen in Eisleben30, Wittenberg und Coburg stattfinden. Die Indienstnahme des Lutherjubiläums durch die politischen Kräfte zielte auf eine Konsolidierung und Einigung der Bevölkerung hinter der Idee nationaler Einheit und Stärke unter einer zukunftsmächtigen Führerpersönlichkeit. Vorbereitet war die inhaltliche Stoßrichtung einer solchen „Lutherinszenierung“ durch das zu jenem Zeitpunkt 16 Jahre zurückliegende große Reformationsjubiläum von 1917, um das es zunächst kurz gehen soll31. Die Konstellationen waren seinerzeit ganz ähnlich gewesen: Damals wie 1933 standen Kirche und Gesellschaft im Schatten politischer, wirtschaftlicher und moralischer Depression. In Reminiszenz an Martin Luthers die Reformation in Gang setzenden 95 Thesen32 und an die von Claus Harms zum Jubiläum 1817 herausgebrachten „95 Thesen“33 erschienen jetzt wiederum „95 Leitsätze zum Reformationsfest 1917“, verfaßt von Friedrich Andersen, Hauptpastor in Flensburg, Adolf Bartel, Professor in Weimar, Ernst Katzer, Kirchenrat in Oberlößnitz bei Dresden ___________ 29

Vgl. Preuß, Luther der Deutsche (Anm. 26), 125–132, bes. 128. Vgl. dazu Siegfried Bräuer, Die Lutherfestwoche vom 19. bis 27. August 1933 in Eisleben: Ein Fallbeispiel en detail, in: Stefan Laube, Karl-Heinz Fix (Hgg.), Lutherinszenierung und Reformationserinnerung (Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 2) , Leipzig 2002, 391–451. 31 Dazu hat Gottfried Maron eine ausführliche Darstellung vorgelegt, vgl. ders., Luther 1917. Beobachtungen zur Literatur des 400. Reformationsjubiläums, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 93 (1982), 177–221. Zu den einzelnen Strömungen in der Lutherinterpretation von 1917 bis 1933 vgl. James M. Stayer, Martin Luther. German Saviour. German Evangelical Theological Factions and the Interpretation of Luther, 1917–1933, Montreal & Kingston/London/Ithaca 2000. 32 Vgl. Martin Luther, Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum (1517), in: WA 1, 233–238. 33 Vgl. Claus Harms, 95 Thesen, in: Johann Schmidt (Hg.), Claus Harms. Ein Kirchenvater des 19. Jahrhunderts. Auswahl aus seinen Schriften (Gütersloher Taschenbücher Siebenstern 209), Gütersloh 1976, 60–71. 30

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und Hans Paul Freiherr von Wolzogen, Literat in Bayreuth. Hierin ging es um einen erneuernden Aufbruch, den man durch eine „Verdeutschung des Christentums“34 gewährleistet sah. Dies jedenfalls wurde als vordringliches Anliegen entfaltet. Man wollte ein „Deutschchristentum auf rein evangelischer Grundlage“35. Eingekleidet war dies in den Gedanken einer Weiterführung und Vollendung der Reformation. Nachdem Luther den ersten Schritt zur Befreiung des deutschen Volkes aus fremdem geistigen Bann getan habe und Bismarck den zweiten, sei nun der dritte und entscheidende selbst zu tun. All dies ging einher mit einem starken Interesse an der Persönlichkeit Luthers, d. h. an seinen, und damit für einen Deutschen, für typisch gehaltenen Eigenschaften und Tugenden: Offenheit, Wahrhaftigkeit, Selbstlosigkeit, Demut, Selbstbewußtsein, Mut, Beständigkeit, Optimismus, Leidenschaftlichkeit, Gemüt. Der Elberfelder Pfarrer Heinrich Niemöller, der Vater Martin Niemöllers, sprach von Luther als Mann deutschen Gemüts, und der Heidelberger Kirchenhistoriker Hans von Schubert zeigte im Sinne deutschnationaler Einbindung Interesse an dem politischen Helden Luther und zog eine Linie von Luther zu Bismarck36. Im Rückblick deutet sich die auf die Glaubensbewegung Deutsche Christen hinsteuernde Entwicklung bereits an. Jene formulierten in ihren Richtlinien vom 26.5.1932 im Sinne eines vordergründig volksmissionarischen Anliegens: „Wir wollen das wiedererwachte deutsche Lebensgefühl in unserer Kirche zur Geltung bringen und unsere Kirche lebenskräftig machen. …Wir wollen, daß unsere Kirche in dem Entscheidungskampf um Sein oder Nichtsein unseres Volkes an der Spitze kämpft“37. Wenn Luther dabei in den Vordergrund rückte, dann nicht auf dem Hintergrund von Theologie und Bekenntnis, sondern als „Mann aus dem Volke“, als „Urbild des deutschen Glaubens“38. Rasse, Volkstum und Nation avancierten darüber zu neuen Bekenntnissätzen bzw. zu gottgewollten Lebensordnungen, für die zu kämpfen und die zu bewahren als Gesetz Gottes erschien. Die Relativierung theologischer Bekenntnisinhalte wurde durch das Bekenntnis zu Rasse, Nation und – später auch – Führer ausgeglichen. ___________ 34

Zitiert nach Maron, Luther 1917 (Anm. 31), 195. Zitiert nach Maron, Luther 1917 (Anm. 31), 182. 36 Vgl. Maron, Luther 1517 (Anm. 31), 192f. 37 Richtlinien der Glaubensbewegung „Deutsche Christen“, 26.5.1932, in: Die Bekenntnisse und grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage des Jahres 1933, ges. u. eingel. v. Kurt Dietrich Schmidt, Göttingen o.J [²1937], 135f. Zu deren volksmissionarischem Anliegen vgl. Notger Slenczka, Das ‚Ende der Neuzeit‘ als volksmissionarische Chance? Bemerkungen zum volksmissionarischen Anliegen der Glaubensbewegung ‚Deutsche Christen‘ in der Hannoverschen Landeskirche in den Jahren 1933/34, in: Kirchliche Zeitgeschichte 11 (1998), 255–317. 38 Hans-Jörg Reese, Bekenntnis und Bekennen. Vom 19. Jahrhundert zum Kirchenkampf der nationalsozialistischen Zeit (Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes 28), Göttingen 1974, 151. 35

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Auch Hans Preuß war bei dem Reformationsjubiläum 1917, wie viele andere, in den Festlichkeiten zu verschiedenen Gelegenheiten stark engagiert. Seine kleine Schrift „Unser Luther“, aus dessen Titel bereits die Vereinnahmung des Helden unter völkisch-nationalem Aspekt herausscheint, hatte Ende 1917 schon die 100. Auflage erreicht39. Preuß selbst spricht in seinen Memoiren von einer solchen Auflagenhöhe, „die er, wenn er Amerikaner wäre, in Kilometerlängen angeben würde“40. Im Jahre 1933 gehörte er wieder zu jenen, dessen Vorträge und Veröffentlichungen ausgesprochen weite Verbreitung erfuhren und eine Reichweite über akademische Schichten hinaus hatten. Was er am 20. und 27. Oktober 1933 in der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung unter dem Titel „Luther und Hitler“ veröffentlichte41, war im Blick auf das vorangegangene große Lutherjubiläum keine aus der Luft gegriffene freie Assoziation eines vereinzelten Gelehrten, sondern ein lange vorbereiteter und von Preuß lediglich in letzter Konsequenz ausformulierter Gedanke, den er übrigens bei einem Festvortrag des Martin-Luther-Bundes vom 31.10.1933 erneut in die Öffentlichkeit trug. Er sah in Hitler sozusagen einen „neuen Luther“. Das tertium comparationis lag für ihn dabei in einem Doppelten: zum einen in der ‚deutschen Art‘: Beide seien „deutsche Führer“; zum anderen in ihrer Sendung durch Gott: Beiden gehe es bzw. sei es gegangen um die „Errettung ihres Volkes“, eine „Errettung aus deutscher Not“, zu der sie sich berufen gewußt hätten42. Es gebe nicht nur „grundsätzliche Parallelen, sondern auch merkwürdige Übereinstimmungen im Abgeleiteten und scheinbar Zufälligen“43. In 24 Punkten entfaltete Preuß dementsprechend in seinem Beitrag die Gemeinsamkeiten zwischen Luther und Hitler. Zum überwiegenden Teil handelte es sich übrigens um Beobachtungen oder Kategorien, die er auch in seinen Lutherbüchern als charakteristisch für den Reformator herausarbeitete. Sie zielten in der Übertragung auf Hitler zwischen den Zeilen darauf ab, die Integrität eines aus dem Geist eines „nordischen Führertums“ heraus Handelnden nachzuweisen und seine Aktionen zu legitimieren. Wenn Preuß z. B. feststellte, daß sowohl Luther als auch Hitler als deutsche Männer eine tiefe Erdverbundenheit auszeichne, dann diente dies als Begründung dafür, warum beide gleichermaßen zuallererst für das Wohlergehen des Bauernstands eintraten und gegen Börsenunwesen und Zinswucher auftraten. Darin sah Preuß zugleich eine Legitimation für den in Deutschland begonnenen Kampf gegen das Judentum. „Wenn auch bei Luther mehr die religiösen Gründe als wirtschaftliche und nationale überwie___________ 39

Vgl. Hans Preuß, Unser Luther. Eine Jubiläumsgabe der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Konferenz, Leipzig 1917. 40 Hans Preuß, Miniaturen aus meinem Leben, Gütersloh 1938, 88. 41 Vgl. o. Anm. 25. 42 Preuß, Luther und Hitler (Anm. 25), 970 u. 998. 43 Preuß, Luther und Hitler (Anm. 25), 970 (alle Sperrungen so bei Preuß).

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gen, so fehlen doch solche keineswegs bei ihm“, meinte Preuß44. Darüber hinaus offenbarten alle auch noch so geringfügigen Parallelen eine Art göttlicher Vorsehung, aus der heraus die Sendung Luthers und entsprechend die Hitlers als Rettergestalten in Krisenzeiten einsichtig werden sollte. „Zunächst ist klar“, so führte Preuß aus, „daß große entscheidende Führer der Menschheit nicht aus eigener Kraft und Sendung kommen“45. Zwar spreche Hitler nur selten von Gott und eher von ‚Vorsehung‘, aber manches spreche für „seine persönliche Verbundenheit mit dem persönlichen Gott“. Preuß war überzeugt davon, daß Hitlers Weg „von der ewigen Weisheit Gottes bestimmt“ werde46 und der Führer seine gottgewollte Aufgabe erkenne und wahrnehme. Jedenfalls verwies er dafür auf Äußerungen Hitlers, die ihm dies zu verbürgen schienen. Und so lautete denn sein pathetisches Fazit: „Man hat gesagt, das deutsche Volk habe dreimal geliebt: Karl den Großen, Luther und Friedrich den Großen. Wir dürfen nun getrost unseren Volkskanzler hinzufügen. Und das ist wohl die lieblichste Parallele zwischen Martin Luther und Adolf Hitler“47. Die von Preuß so wirkungsvoll konstruierte Parallele wurde schnell aufgegriffen, wiederholt und ausgebaut. Er selbst konnte vergleichbare Äußerungen bei dem Kieler Kirchenhistoriker und Kollegen Otto Scheel finden, der in einer 1933 gehalten Lutherrede ebenfalls, allerdings nur zwischen den Zeilen auf Hitler hinwies, damit aber letzten Endes eine Rechtfertigung der nationalsozialistischen Machtergreifung anklingen ließ. Dies trat denn auch in der daran anschließenden Publikation von 1934 deutlich zu Tage48. Im Anschluß an Preuß äußerte z. B. Hermann Werdermann, Professor an der Hochschule für Lehrerfortbildung in Dortmund, daß Luther und Hitler „bedeutsame Beispiele für positives, praktisches und persönliches Christentum“49 seien. Die evangelischlutherische Landessynode von Sachsen plakatierte am 17.11.1933: „Mit Luther und Hitler für Glauben und Volkstum“. Und der Leiter des NS-Pfarrerbundes und Mitbegründer der Deutschen Christen in Sachsen, Walter Grundmann50, resümierte das Programm der Glaubensbewegung dahingehend, daß man die Revolution Adolf Hitlers hineingründen wolle in die deutsche Reformation ___________ 44

Preuß, Luther und Hitler (Anm. 25), 972. Preuß, Luther und Hitler (Anm. 25), 996. 46 Preuß, Luther und Hitler (Anm. 25), 997. 47 Preuß, Luther und Hitler (Anm. 25), 999. 48 Vgl. Hartmut Lehmann, Luther als Kronzeuge für Hitler. Anmerkungen zu Otto Scheels Lutherverständnis in den 1930er Jahren, in: ders., Protestantische Weltsichten. Transformationen seit dem 17. Jahrhundert, Göttingen 1998, 152–173, bes. 161. 49 So Dietrich Kuessner in einem im Internet zur Verfügung gestellten, populärwissenschaftlich gehaltenen Vortrag unter dem Titel Luther – Hitler. Ein Blick in die Schreckenskammern der Luther-Jubiläen 1933 bis 1946, http://bs.cyty.com/kirche-vonunten/archiv/kvu103/luthit.htm (19.11.2004). 50 Vgl. Christoph Schmitt, Art. Walter Grundmann, in: BBKL 26 (2006) [in Vorb., Art. im Internet, http://www.bautz.de/bbkl/g/grundmann_w.shtml]. 45

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Martin Luthers. Auch in den Textvorschlägen für Lutherfeiern in den Schulen findet sich ein bemerkenswertes Echo, nämlich die Konstruktion der bekannten geschichtlichen Kontinuitätslinie von Luther über Friedrich den Großen und Bismarck zu Hitler51. Für Hitler selbst, der aus katholischem Milieu stammte, blieb Luther dagegen fremd. Er ging in seinen Reden vom November 1933 mit keinem Wort auf den Reformator ein. Dennoch arbeiteten ihm all diese Verlautbarungen und Geschichtskonstruktionen in die Hände. Sie konsolidierten ein Regime, das sich vor diesem Hintergrund ein pseudoreligiöses Fundament schaffen konnte.

III. Die Lutherinterpretation des Hans Preuß und ihre Instrumentalisierung für politische Ziele Was ist die Grundlage für Preußǥ Lutherinterpretation und ihren damaligen großen Erfolg? Auf welche Weise konnte sie für politische Ziele in Dienst genommen werden? Zunächst ist auffallend – und dies ist ein erster Gesichtspunkt –, daß es Hans Preuß in seiner Beschäftigung mit dem Wittenberger Reformator erklärtermaßen nicht um den Theologen Martin Luther ging. Die reformatorische Formulierung der Rechtfertigungslehre, die Entfaltung seiner Theologie und deren Wirkung im historischen Zusammenhang standen für ihn nicht zur Debatte. Preuß sah darin vielmehr eine unzulässige Engführung auf die Beschäftigung mit einem letzten Endes „diskutablen Lehrbegriff“, die an dem „Genius“ Luther vorbeigehe52. Dagegen rückten die Person des Wittenbergers und das, was Preuß als typische Frömmigkeits- und Verhaltensmuster oder als Charaktereigenschaften bestimmen zu können meinte, in den Vordergrund. Die theologische Leistung trat hinter der einseitigen Zuspitzung des Interesses auf die Person und ihre „Art“ zurück. Eine solche theologische Entleerung bot sozusagen die geeignete Voraussetzung dafür, die Person Martin Luthers in die herrschenden kulturpolitischen Vorstellungen des aufsteigenden nationalsozialistischen Regimes einzupassen. Man könnte von einer „Politisierung“ Martin Luthers sprechen, dessen als heroisch stilisierte Person sowohl für das Führerprinzip als auch für die sich etablierende Rassenideologie legitimierend in Dienst genommen wurde. Luther wurde auf diese Weise zu einer historischen Legitimationsfigur der herrschenden Politik. Wer bis dahin noch Zweifel an Adolf Hitler und den Deutschen Christen, jenem „Stoßtrupp der NSDAP in der ___________ 51

So Kuessner, Luther – Hitler, s. o. Anm. 49. Bräuer berichtet in seinem Artikel über die Lutherfeier in Eisleben 1933, daß in der Aula der städtischen Mittelschule Bilder von Luther, Friedrich dem Großen, Hindenburg und Hitler aufgehängt worden seien. Vgl. ders., Die Lutherfestwoche in Eisleben (Anm. 30), 397 52 Vgl. Preuß, Luther der Künstler (Anm. 14), 1f.

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Kirche“53, gehabt hatte, konnte nun durch den Verweis auf eine anerkannte geschichtliche Autorität überzeugt und beruhigt sein. Diese theologische Entleerung und Politisierung Luthers, die 1933 u.a. durch das Wirken des Hans Preuß ihren Höhepunkt erreichte und eine weitgreifende öffentliche Wirkung entfaltete, war, ebenso wie die Ausrichtung des Lutherjubiläums auf den nationalen Helden, lange vorbereitet. Man hat in Houston Stewart Chamberlain, geboren 1855 in Portsmouth, gestorben als Schwiegersohn Richard Wagners 1927 in Bayreuth, den maßgeblichen Vorläufer für die ideologische Lutherdeutung gesehen54. Denn schon Chamberlain führte den Reformator in seinem Werk „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ von 189955 als deutschpatriotischen Politiker vor Augen, dessen Theologie im Grunde die altgläubige Scholastik in keiner Weise angetastet habe, und wenn, dann nur um schließlich Dubletten zur katholischen Theologie zu formulieren56. Auch wenn Luther, nach dieser Deutung, theologisch keine besondere Leistung hervorgebracht habe, so sei doch aus seiner Religion die Kraft für sein politisches Handeln erwachsen. Luthers angebliche Vaterlandsliebe wird auf diesem Wege als Teil seiner religiösen Haltung interpretiert. Damit waren schon 1899 die Weichen für die spätere Instrumentalisierung Luthers im Interesse einer völkischen und antisemitischen Ideologie gestellt57. In engem Zusammenhang mit der Indienstnahme einer völkischen Lutherdeutung stand – zweitens – die Vorstellung, daß nur eine „nationale Erwekkung“ oder „Wiedergeburt“ aus der damals bestehenden Krisensituation herausführen könne. Hartmut Lehmann hat gezeigt, daß diese religiösen und eigentlich aus dem Pietismus stammenden Kategorien bereits Anfang des 19. Jahrhunderts auf politische Zusammenhänge übertragen wurden58. So wurde die Auflehnung gegen die Herrschaft Napoleons mit den Freiheitskriegen 1813–1815 als „nationale Erweckung“ verstanden. Und als Kaiser Wilhelm I. ___________ 53

Reese, Bekenntnis und Bekennen (Anm. 38), 148. Vgl. Johannes Brosseder, Luthers Stellung zu den Juden im Spiegel seiner Interpreten. Interpretation und Rezeption von Luthers Schriften und Äußerungen zum Judentum im 19. und 20. Jahrhundert vor allem im deutschsprachigen Raum (Beiträge zur ökumenischen Theologie 8), München 1972, 100f. 55 Das Buch hatte ungeheuren Erfolg und erschien 1942 schon in 28. Auflage. 56 Was diese theologische Einordnung Luthers angeht, so wurde sie übrigens von Adolf von Harnack in ganz ähnlicher Weise vertreten. Vgl. Adolf von Harnack, Dogmengeschichte (Grundriß der Theologischen Wissenschaften 4. Teil, 3), Tübingen 6 1922, § 81, 466–474. Vgl. auch Brosseder, Luthers Stellung zu den Juden (Anm. 54), 101, Anm. 5. 57 Vgl. zu Chamberlain als Wegbereiter des Nationalsozialismus Doris Mendlewitsch, Volk und Heil. Vordenker des Nationalsozialismus im 19. Jahrhundert, RhedaWiedenbrück 1988, 18–50. 58 Vgl. Hartmut Lehmann, Hitlers evangelische Wähler, in: ders., Protestantische Weltsichten (Anm. 48), 130–152. 54

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im September 1870 in Sedan einen militärischen Sieg über die Franzosen davontrug, erkannte er darin ein großartiges, eine Wende heraufführendes Wirken Gottes. „Welch eine Wendung durch Gottes Führung!“ soll er ausgerufen haben59. Gott, so sah und erfuhr man es, griff offenbar als Geschichtsgott auch in die Geschicke der Deutschen ein, die sich auf dem Hintergrund solcher Erfahrungen unter einem gottgläubigen Herrscher zu Einheit und Größe berufen glaubten. Ein geeinter Nationalstaat unter einer herausragenden Führerpersönlichkeit konnte deshalb als gottgewollte Ordnung erscheinen. Nach dem Zusammenbruch von 1918 erhielt der Wunsch nach einer nationalen Erweckung und Wiedergeburt erneuten Auftrieb. Man könnte die Stimmung in folgendem Satz zusammenfassen: Deutschland brauchte wieder einen vorbildlichen Helden oder Retter, wie Luther es einst gewesen war60. Dies fand Erfüllung in dem nationalsozialistischen Aufbruch von 1933. Die Kombination solcher Vorstellungen mit dem modernen Nationalismus übte eine ungeheure Anziehungskraft aus und trug zugleich – wie wir wissen – eine ungeahnte, verheerende Sprengkraft in sich. Diese durch ihre Übertragung ins Politische als pseudoreligiös zu qualifizierenden Erklärungsmuster für historische Zusammenhänge ermöglichten es, auch die ersehnte Führerpersönlichkeit, von der man die Wende erwartete, wiederum „pseudoreligiös“ zu überhöhen und zu verklären. Auf diesem Hintergrund konnte die für uns heute unvorstellbare Parallelisierung von Luther und Hitler als gottgesandte Retter in Krisensituationen, wie Preuß sie vor Augen führte, für viele plausibel werden. Nicht zuletzt hier liegt auch der Grund dafür, daß die NSDAP so große Erfolge gerade unter evangelischen Wählern verzeichnen konnte. Und schließlich ist ein dritter Faktor zu nennen, der mit dem zuvor Ausgeführten in engem Zusammenhang steht. Er liegt in der Interferenz von lutherischem Geschichtsbild und nationalprotestantischer Aneignung desselben. Dabei wird das alte lutherische Geschichtsverständnis zu einem nationalen umfunktioniert. Schon die Zeitgenossen und Schüler Martin Luthers hatten in dem Wittenberger einen von Gott gesandten Propheten erkannt61. Freilich stand diese Deutung seines Auftretens in engem Zusammenhang mit der erfahrenen, befreienden Wirkung der von ihm unter Rückbezug auf die Heilige Schrift verkündigten Rechtfertigungslehre. Sie stand zugleich auf dem Hintergrund der Vorstellung, daß nun, mit dem Sturz des im Papsttum verkörperten Antichristen, das Ende der Zeiten angebrochen sei. Luther war – so glaubte man – der ___________ 59 So Hamm, Schuld und Verstrickung der Kirche (Anm. 5), 26–30, Zitat 26, und Lehmann, Hitlers evangelische Wähler (Anm. 58), 141. 60 Vgl. Lehmann, Hitlers evangelische Wähler (Anm. 58), 141, und Hamm, Schuld und Verstrickung (Anm. 5), 26–30. 61 Vgl. dazu Dingel, Ablehnung und Aneignung (Anm. 6), 38–43; außerdem Robert Kolb, Martin Luther as Prophet, Teacher, and Hero. Images of the Reformer, 1520– 1620, Grand Rapids 1999.

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endzeitliche Prophet, der, wie die Propheten des Alten Testaments, zurückrief zu einem rechten Gottesverhältnis. Hier konstruierte man eine Geschichtslinie, die Personen und Situationen in Korrelation zueinander stellte62. Genau dies wurde, allerdings unter Abstrahierung der theologischen Komponenten und unter Betonung der national-geographischen Sendung Luthers, eben zu den Deutschen, nun, d. h. beginnend mit dem 19. Jahrhundert, zu einem Geschichtsverständnis ausgebaut, welches das Deutsche schlechthin mit göttlicher Sendung begabt sah. Von hier aus konnte sich in Kombination mit nationalen Gesichtspunkten ein deutsches Sendungsbewußtsein entwickeln, das darüber hinaus verquickt war mit dem Glauben an ein Eingreifen Gottes in deutsche Geschichte im Sinne göttlicher Vorsehung. Die von Preuß vorgenommene Parallelisierung von Luther und Hitler steckt in den Einzelheiten und zwischen den Zeilen voll davon. Sie ist so konzipiert, daß gerade in der erstaunlich wirkenden Parallelität von scheinbaren Nebensächlichkeiten ein göttliches Wirken vermutet werden muß, das auf die Erweckung einer neuen Retter- und Führergestalt in vergleichbaren Situationen zielt. Denn beide, Luther und Hitler, so Preuß, erfahren das Elend ihrer Zeit; beide treten in den dreißiger Jahren ihres Lebens als zunächst unbekannte Leute auf; beide ziehen sich dann für eine Zeitlang zurück und schaffen im Verborgenen (Bibelübersetzung – Mein Kampf), um schließlich erneut an die Öffentlichkeit zu treten; dem Wirken beider kommt eine neue Errungenschaft zugute: die Buchdruckerkunst einerseits, der Rundfunk andererseits63. Diese Aneignung führte zur Perversion eines für die Geschichte und das Verständnis des frühen Luthertums eigentlich wichtigen und ausschlaggebenden Geschichtsverständnisses. Preuß aber wurde damit zugleich zu einem Wegbereiter des Nationalsozialismus. Seine und vergleichbare Lutherinterpretationen, gegen die freilich auch unter den Zeitgenossen Widerspruch laut wurde64, führten in der Folgezeit zu heftigen Reaktionen sowohl gegen Luther als auch gegen die Deutschen und veranlaßten die Gegner65, fortan den Wittenberger Reformator selbst zu einem ___________ 62 Vgl. zu solchen geschichtstheologischen Aspekten Irene Dingel, „Der rechten lehr zuwider“ – Die Beurteilung des Interims in ausgewählten theologischen Reaktionen, in: Das Interim 1548/50: Herrschaftskrise und Glaubenskonflikt, hrsg. v. Luise SchornSchütte, Gütersloh 2005 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 203), 292– 311, bes. 303–307. 63 Vgl. Preuß, Luther und Hitler (Anm. 25), 971. 64 Vgl. z. B. Karl Barth, Lutherfeier 1933 (Theologische Existenz heute 4), München 1933; Ernst Wolf, Martin Luther. Das Evangelium und die Religion (Theologische Existenz heute 6), München 1934; Hermann Sasse, Was heißt lutherisch? München 1934. 65 Dazu gehörte in prominenter Weise Peter F. Wiener, dessen seinerseits plakativ überzogene Deutung der Geschichte von E. Gordon Rupp widersprochen wurde. Wiener vertrat die These, Luther sei Hitlers geistiger Ahnherr gewesen. Er sah in dem Wittenberger Reformator, dessen gesamte Theologie für ihn keinerlei Rolle spielte, einen Antisemiten schlimmsten Kalibers und ‚die dunkelste Gestalt, die die Geschichte je hervorgebracht habe‘. Vgl. Peter F. Wiener, Martin Luther – Hitler’s spiritual Ancestor, Lon-

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Vorläufer des Nationalsozialismus abzustempeln. So wurden auf beiden Seiten auf diese Weise verhängnisvolle Klischees aufgebaut, die aufzudecken und denen gegenzusteuern noch heute Aufgabe der Kirchengeschichte und auch der Reformationsgeschichtsforschung ist. Das Erfordernis der kritischen Überprüfung der eigenen Maßstäbe und Kriterien muß als Aufgabe aller Wissenschaft stets bewußt bleiben, ebenso wie das Recht der historisch arbeitenden Geisteswissenschaften, sich vorschneller Vereinnahmungen selbstbewußt zu entziehen.

___________ don u.a. o.J [= 1944], 65. Diese Darstellung fand eine Widerlegung durch Ernest Gordon Rupp, Martin Luther – Hitlerǥs Cause – or Cure? London-Redhill 1945, der Luthers Äußerungen über die Juden in den jeweiligen historischen Kontext einbettete und auf den Unterschied zwischen einem aus mittelalterlichen Wurzeln hervorgehenden Antijudaismus und dem Rassismus bzw. Antisemitismus der NS-Zeit hinwies.

Konfessioneller Pluralismus und deutsche Identität* Etienne François In der überwiegenden Mehrzahl der europäischen Länder sind religiöse und nationale Identität bis heute aufs engste miteinander verbunden; dabei ist je eine Religion dominant und scheint in manchen Fällen sogar mit dem Lande selbst zu verschmelzen – ob es sich, wie in Griechenland, Rußland, Rumänien, Bulgarien oder Serbien, um die Orthodoxie handelt, um das Luthertum in den skandinavischen Ländern, oder den Katholizismus im Falle Polens, Irlands, Spaniens, Italiens, Kroatiens oder auch sogar Frankreichs. Deutschland hingegen, und darüber hinaus verschiedene Länder, die aus dem Reich bzw. dessen Einflußbereich hervorgegangen sind – wie etwa die Schweiz, die Niederlande oder Ungarn –, lassen sich nicht in dieses Modell einordnen. In der Tat zeichnen sich all diese Länder seit der Reformation durch einen strukturellen Pluralismus aus, der durch die Koexistenz unterschiedlicher und rivalisierender Konfessionsgemeinschaften charakterisiert ist, die die Differenzen ihrer Bekenntnisse betonen und sich in Bezug auf diese definieren1. So stellen sich folgende drei Fragen: Zunächst: Warum ist Deutschland – im Unterschied zur Mehrzahl der anderen europäischen Länder – zu einer Heimstatt des konfessionellen Pluralismus geworden? Des weiteren: Wie haben sich diese unterschiedlichen, im 16. Jahrhundert verfestigten Konfessionen in den folgenden Jahrhunderten in spezifische und dauerhafte Identitäten verwandeln können? Und schließlich: Wie verlief die Entwicklung dieses konfessionellen Erbes von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis heute?

___________ * Der folgende Beitrag stützt sich im wesentlichen auf einen französischen Aufsatz, der unter dem Titel „LǥAllemagne du XVIe au XXe siècle“ in dem von Grace Davie und Danièle Hervieu-Léger herausgegebenen Band „Identités religieuses en Europe“, Paris 1996, 65–88, erschienen ist. In vielen Teilen orientierte er sich an Thesen, die zuerst von Heinz Schilling formuliert wurden. Die überarbeitete Übersetzung dieses Aufsatzes ins Deutsche im Rahmen der Heinz Schilling gewidmeten Festschrift bietet mir die beste Gelegenheit, ihm meinen Dank für seine vielfältigen Anregungen wie auch für einen freundschaftlichen Austausch zum Ausdruck zu bringen, der vor mehr als dreißig Jahre in Bielefeld begann. 1 Heinz Schilling, Nationale Identitäten und Konfession in der europäischen Neuzeit, in: Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, hrsg. v. Bernhard Giesen, Frankfurt/M. 1991, 192–252.

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Der Bezug auf die Konfession und das Bekenntnis als Kennzeichen religiöser Identität geht auf die Anfänge der Reformation selbst zurück. Die protestantische Reformation war nicht nur eine zuerst im deutschsprachigen Raum auftretende Bewegung; vielmehr war sie eine Bewegung, deren Wortführer und Symbolfiguren Theologen waren und sich als solche definierten. Diese zentrale Stellung der Theologen in den religiösen Debatten des 16. Jahrhunderts erklärt wiederum die Bedeutung, die seit dieser Zeit theologischen Lehrsätzen und Dogmen beigemessen wurde. Die beiden hier in Frage kommenden Modelle wurden die aus Anlaß des Reichstags zu Augsburg im Jahre 1530 unter der Leitung von Melanchthon verfaßte – und von Luther gebilligte – „Augsburger Konfession“, in welcher, der Intention Kaiser Karls V. entsprechend, die Hauptpunkte der Doktrin präzisiert wurden, der sich die Anhänger der neuen Strömung verpflichtet fühlten, einerseits, und die beiden fast zur gleichen Zeit durch Luther verfaßten Katechismen andererseits2. Beide Modelle führten zu unmittelbaren Reaktionen, und zwar sowohl bei den Anhängern als auch bei den Gegnern der reformatorischen Bewegung; man sehe sich nur den sprunghaften Anstieg an „Konfessionen“ an, die andere Reformatoren des deutschen Raumes (wie Zwingli, Bucer oder Bugenhagen) niederschrieben, oder auch die großen theologisch-doktrinalen Konstruktionen der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts („confessio helvetica“, „Konkordienformel“ und „Konkordienbuch“, „Heidelberger Katechismus“, „Katechismus des heiligen Canisius“ etc.). In der Folge hatte die starke Betonung dogmatischer Aspekte und ihre Formulierung unter der Form der „Konfession“ dauerhafte Effekte. Ihr ist die anhaltend bedeutende Stellung der theologischen Fakultäten (und ihrer Streitigkeiten!) in der deutschen universitären und intellektuellen Landschaft geschuldet, und zwar sowohl in symbolischer, zahlenmäßiger als auch kultureller Hinsicht; sie macht aber auch verständlich, warum sich diejenigen Teile des deutschen Protestantismus, welche die Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus zurückwiesen und sich ihm auf das Entschiedenste entgegenstellten, sich als „Bekennende Kirche“ bezeichneten. Der konfessionelle Pluralismus seinerseits war engstens mit den politischen Strukturen des damaligen Deutschlands verbunden, genauer gesagt mit den sich im Jahrhundert der Reformation zwischen der politisch-regionalen Struktur des Reiches einerseits und seiner religiösen Entwicklung andererseits vollziehenden Interaktionen. In der Epoche, in der das Abenteuer der Reformation anhieb, war das Reich in der Tat ein außerordentlich komplexes System, in welchem unterschiedlichste Aspekte eng miteinander verbunden waren: profane und religiöse (es wurde als „heilig“ bezeichnet und umfaßte eine bedeutende Anzahl von geistlichen Territorien, deren Landesherr zugleich Erzbischof, Bi___________ 2 Wolfgang Reinhard (Hrsg.), Bekenntnis und Geschichte. Die Confessio Augustana im historichen Zusammenhang, München 1981.

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schof oder Abt war), universelle (daher seine Bezeichnung als „römisches Reich“) und deutsche (daher seine Kennzeichnung als „von deutscher Nation“). Sicher stand an seiner Spitze ein Kaiser, aber dieser Kaiser war ein Wahlkaiser, und als solcher war er nur ein Glied des Reiches unter anderen; dazu noch war seine Macht begrenzt – selbst wenn es Brauch war, daß er der Familie der Habsburger entstammte, d. h. den mächtigsten Landesfürsten des Reiches. Obwohl ein komplexes, in sich gegliedertes und ausgewogenes System, war das Reich doch in Wirklichkeit eine fragile und altertümliche, dezentralisierte und anpassungsfähige politische Struktur, deren primäre Bestimmung in der Verteidigung und Erhaltung – hinsichtlich ihrer Besonderheiten und Autonomie – von Hunderten politischer Entitäten unterschiedlichster Größe und Natur (Reichsstädten und Herrschaften, weltlichen und geistlichen Territorien) bestand, aus denen es sich zusammensetzte. Von Beginn an wurde das Abenteuer der Reformation durch diese politische Realität geprägt, und zwar um so mehr, als sie sich in einer Periode entfaltete, da die imperiale Macht geschwächt war (Nachfolge Kaiser Maximilians). Unter der Protektion des Kurfürsten von Sachsen gerieten Luther und seine Sache in der Tat sehr bald zwischen die internen Spannungen und die zentrifugalen Kräfte, die das Reich auseinander sprengten – was es der reformatorischen Bewegung sicherlich gestattete, sich überhaupt zu etablieren, sie zugleich jedoch daran hinderte, sich auf das gesamte Reich auszudehnen. Auf signifikante Weise waren die großen Momente des Beginns der Reformation in Deutschland mit ebenso vielen Reichstagen verbunden (die wichtigsten darunter waren die Reichstage zu Worms 1521, zu Speyer 1529, und zu Augsburg 1530). Unfähig, eine Lösung der Krise zu finden, haben diese Reichstage, selbst immer wieder unterbrochen durch bewaffnete Konflikte zwischen dem neuen Kaiser Karl V., der die katholische Sache verteidigte, einerseits, und den auf die Seite der Reformation übergewechselten Fürsten und Städte andererseits, letztlich keine andere Wahl, als die Teilung des Reiches in entgegengesetzte religiöse Lager entsprechend der kurze Zeit später formulierten Regel des cujus regio, ejus religio zu bestätigen3. Dieser auf der Basis einer konfessionellen Zweiteilung des Reiches zustande gekommene Kompromiß hatte entscheidende Auswirkungen auf die Zukunft. Von diesem Augenblick an nämlich gewann der Prozeß der dogmatischen Verfestigung und des kirchlichen Aufbaus im Rahmen der Landeskirchen, der auf Wunsch von Luther durch mehrere Landesfürsten und Städten begonnen worden war, an Tiefe und Breitenwirkung. Das Modell, das sich nunmehr auf protestantischer Seite durchsetzte, war dasjenige der „Landeskirche“. Zum ersten Mal in Sachsen ausprobiert und durch die zahlreichen damals erlassenen Kir___________ 3 Carl A. Hoffmann/Markus Johanns/Annette Kranz/Christof Trepesch/Oliver Zeidler (Hrsg.), Als Frieden möglich war. 450 Jahre Augsburger Religionsfrieden. Begleitband zur Ausstellung in Maximilianmuseum Augsburg, Regensburg 2005.

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chenordnungen präzisiert, beruhte es auf Kontrolle, Normalisierung und Disziplinierung; es unterstellte die Kirche der Vormundschaft des Landesfürsten bzw. des Stadtrates und machte aus den Pfarrern einen hierarchisierten Beamtenapparat. Weit entfernt davon, sich nur auf die zur Reformation übergegangenen Gebiete zu erstrecken, breitete sich dieses Modell gewissermaßen per Osmose auf die durch den Katholizismus beibehaltenen oder wiedergewonnenen Gebiete aus, wobei das Herzogtum Bayern in dieser Entwicklung eine führende Rolle spielte. Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ließ sich das Prinzip des Landeskirchentums in der überwiegenden Mehrheit der das Reich bildenden Herrschaften, Territorien und Städte nachweisen4. Damit sich der Augsburger Kompromiß dauerhaft durchsetzte, sich die konfessionelle Situation des Reiches stabilisierte und sich in eine anerkannte und angenommene, garantierte und unwiderrufbare Pluralität transformierte, brauchte es allerdings noch mehr als ein Jahrhundert voller Spannungen und Konflikte, die schließlich zum schrecklichen Dreißigjährigen Krieg führten, der der letzte große Religionskrieg der deutschen Geschichte, ein gewaltiger deutscher Bürgerkrieg (überlagert noch durch den Konflikt um die politischen Strukturen des Reiches) – und ein europäischer Konflikt um das politische Gleichgewicht des Kontinents zugleich war5. Am Ende des Dreißigjährigen Krieges, der den Abschluß der großen politisch-religiösen Auseinandersetzungen um die religiöse Struktur Deutschlands bildete, war das Reich zu einer Heimstatt des konfessionellen Pluralismus geworden, und zwar dauerhaft und strukturell. Erst einmal war dies ein de-facto-Pluralismus, der in der Präsenz nicht nur der drei großen christlichen Konfessionen, sondern auch von vielen protestantischen Sekten und jüdischen Gemeinden zum Ausdruck kam. Aber der Pluralismus war mehr noch ein de-jure-Pluralismus, der durch die Bestimmungen des Westfälischen Friedens garantiert und sanktioniert wurde. Der Friedensschluß ging in der Tat auf die Prinzipien des Augsburger Friedens von 1555 zurück; er erkannte zunächst offiziell die Existenz der drei großen christlichen Konfessionen an (und nicht nur, wie noch 1555, diejenige des Katholizismus und des Luthertums). Des weiteren präzisierte er deren Gleichberechtigung auf Reichsebene und sah zu diesem Zweck eine Teilung der Institutionen des Reiches zwischen Protestanten und Katholiken vor – vom Kurfürstenkolleg, dem ___________ 4

Heinz Schilling, Die Konfessionalisierung im Reich: Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland zwischen 1555 und 1620, in: Historische Zeitschrift 246 (1988), 1–45; Luise Schorn-Schütte, Evangelische Geistlichkeit in der Frühen Neuzeit. Deren Anteil an der Entfaltung frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft (16.-18. Jahrhundert), Gütersloh 1995. 5 Claire Gantet, La paix de Westphalie (1648), une histoire sociale, Paris 2001; Claire Gantet, David El-Kenz, Guerres et paix de religion en Europe, XVIe-XVIIIe siècles, Paris 2003.

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es oblag, den Kaiser zu wählen, über die Reichsgerichte (dem Reichskammergericht und dem Hofgericht) bis zu den Reichstagen, die in allem, was konfessionelle Angelegenheiten berührte, in zwei getrennten Körperschaften, d. h. im Corpus Catholicorum und im Corpus Evangelicorum, berieten. Indem er schließlich festlegte, daß die Rechte und Besitztümer jeder Konfession in dem Zustand fixiert werden, den sie am 1. Januar 1624 innehatten („Normaljahr“) – mit der einzigen Ausnahme der Gebiete des Hauses Habsburg –, stellte der Westfälische Frieden eine klare Regel auf, die mit aller Deutlichkeit und auf unwiderrufliche Weise deren jeweiligen Besitzstand festlegte und dadurch den Anzweifelungen und auseinandergehenden Interpretationen, die die Uneindeutigkeiten des Augsburger Friedens erzeugt hatten (wie man es insbesondere am „geistlichen Vorbehalt“ feststellen konnte), ein für allemal ein Ende setzte. Sicherlich bezog sich die durch den Westfälischen Frieden garantierte Religionsfreiheit eher auf die das Reich bildenden Reichsstände (d. h. vor allem die Landesherrschaften und die freien Reichsstädte), denn auf die Einzelpersonen. In zwei Punkten allerdings schwächte der Westfälische Frieden die Rigidität der alten Regel des cujus regio, ejus religio ab und nahm so dem konfessionellen Pluralismus den Charakter eines Einsatzes in den politischen Rivalitäten: Zunächst setzte er dem jus reformandi ein Ende, indem er festlegte, daß ein eventueller Konfessionswechsel des Fürsten nicht automatisch denjenigen seiner Untertanen nach sich ziehen sollte; sodann garantierte er das Recht auf Emigration für Untertanen, die nicht die Konfession ihres Fürsten teilten. Insgesamt gesehen beruhte der konfessionelle Pluralismus des Reiches seit 1648 auf zwei Grundlagen: zum einen auf der Stabilisierung der religiösen Grenzen und zum anderen auf der impliziten Entpolitisierung der Konfessionen6. Ein kurzer Blick auf die politisch-religiöse Karte des Reiches nach 1648 macht es augenscheinlich: Wenn das damalige Deutschland pluralistisch war, dann nicht nur, weil es zwischen drei mittlerweile anerkannten und gefestigten Konfessionen aufgeteilt war, sondern auch, weil diese Konfessionen in einer Vielzahl an Regionen eng ineinander verflochten waren, womit sie der deutschen konfessionellen Karte dieses unvergleichbare Aussehen eines Harlekinmantels verliehen, das sie bis heute kennzeichnet. Zwischen den konfessionell homogenen regionalen Blöcken, die das massiv lutherische Nord- und Nordostdeutschland einerseits und das (zumindest nominell) massiv katholische Süd- und Südostdeutschland andererseits bildeten, erstreckte sich in der Tat ein ausgedehntes regionales Gebilde, das sich vielmehr durch die Verflochtenheit der Konfessionen charakterisierte und sich, grob gesehen, vom Niederrhein bis Franken und Schlesien zog. In diesem „dritten Deutschland“, um den Ende des 19. Jahrhunderts durch W. H. Riehl geprägten Ausdruck zu verwenden, gingen ___________ 6 Etienne François, Les confessions dans lǥEmpire: exclusion, coexistence et intériorisation de la différence, in: Etudes germaniques 46 (1991), 21–34.

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die politische Zersplitterung und die zahlreichen Enklaven mit der konfessionellen Vielfalt einher und versetzten Lutheraner, Reformierte und Katholiken in eine Situation unmittelbarer Nähe und struktureller Nachbarschaft. Zwischen Speyer und Mainz, um nur ein Beispiel anzuführen, fand man auf diese Weise, auf einer Entfernung von ca. 70 km, Seite an Seite katholische Gebiete (die geistlichen Territorien von Mainz, Worms und Speyer), reformierte (die Kurpfalz) und lutherische (die freien Reichsstädte Speyer und Worms). In diesem „dritten Deutschland“ konnten die rivalisierenden Konfessionen, aus offensichtlichen praktischen und ökonomischen Gründen, einander nicht entbehren, ja sie brauchten einander sogar, um zu überleben. Aus der Not eine Tugend machend, haben die objektiven Zwänge des Zusammenlebens hier zur Weiterentwicklung und zur Verinnerlichung von originellen Formen alltäglicher Toleranz geführt. In der Folge praktizierten viele Städte und Territorien mehr oder weniger elaborierte Formen des konfessionellen Zusammenlebens, die, wenngleich minoritär, doch zu zahl- und variantenreich waren, um als marginal zu gelten. Die am meisten verbreiteten waren die sich aus den Umständen ergebenden, allerdings stets restriktiven Formen der Toleranz, die man in der Mehrzahl der Handelsstädte antraf, aber auch in den Städten, die sich in den Regionen konfessioneller Vielfalt befanden. So definierte sich die freie Reichsstadt Frankfurt als eine streng lutherische Stadt, und das Bürgerrecht wie auch die Ausübung der politischen Rechte waren den Lutheranern vorbehalten; doch fanden sich hier auch eine der größten jüdischen Gemeinden des Reiches (die mehr als 10% der städtischen Bevölkerung umfaßte) und mehrere katholische Stifte und Klöster ebenso wie eine bedeutende Anzahl von Beisassen, die zwar, als Nichtlutheraner, vom Bürgerrecht ausgeschlossen waren, aber doch sehr aktiv im Handels- und Bankwesen, wie insbesondere die reformierten Kaufleute – oftmals wallonischer Herkunft – oder die aus Norditalien stammenden katholischen Händler. Umgekehrt tolerierte die freie Reichsstadt Köln, deren Katholizität noch ausgeprägter als die lutherische Identität von Frankfurt war, nichtsdestoweniger eine Minderheit reformierter Kaufleute, die auch von den öffentlichen Institutionen ausgeschlossen und sozial marginalisiert waren, aber unverzichtbar für den reibungslosen Ablauf der Geschäfte und für die Beibehaltung eines gewissen städtischen Wohlstands7. Andere Städte und Territorien kannten institutionalisierte Formen konfessioneller Koexistenz. In bestimmten Fällen handelte es sich schlichtweg um Überbleibsel eines durch die Regel des „Normaljahres“ fixierten Zustands konfessioneller Unbestimmtheit, wie sie zum Beispiel die institutionellen Kuriosi___________ 7 Gérald Chaix, De la cité chrétienne à la métropole catholique. Vie religieuse et conscience civique à Cologne au XVIe siècle, unver. Habilitationsschrift, Straßburg 1994.

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täten der multikonfessionellen adligen Stifte, die Ernennung protestantischer Pfarrer durch den katholischen Bischof von Würzburg oder auch die abwechselnde Besetzung des Osnabrücker Bischofssitzes durch einen katholischen Bischof und einen lutherischen Administrator darstellten. Interessanter waren allerdings die Städte, die innerhalb ihrer Institutionen und ihrer alltäglichen sozialen Praktiken im Detail die gleichberechtigte Koexistenz von Katholiken und Protestanten organisierten, wie insbesondere die „paritätischen“ Reichsstädte Süddeutschlands (Augsburg, Ravensburg, Biberach, Kaufbeuren und Dinkelsbühl), die sich nicht nur durch das numerische Gleichgewicht der Konfessionen auszeichneten, sondern auch durch die perfekte Gleichheit ihrer Rechte, ihrer Macht und ihres Besitztums. Schließlich wäre den Territorien ein gesonderter Platz einzuräumen, die mit dem damals noch überwiegenden Ideal des cujus regio, ejus religio gebrochen hatten; bedeutendstes (aber nicht einziges) Beispiel hierfür war das Kurfürstentum Brandenburg, wo, nach dem Übertritt von Kurfürst Johann Sigismund zum reformierten Bekenntnis im Jahre 1613, das Herrscherhaus feierlich dem jus reformandi abgeschworen, die gleichberechtigte Koexistenz der Lutheraner und der Reformierten garantiert und auf diese Weise die ersten Richtlinien einer innerprotestantischen Toleranz aufgestellt hatte. In weiten Teilen des frühneuzeitlichen Deutschlands war mithin „der Andere“ weniger der unbekannte, unerreichbare und phantasmagorische Fremde, sondern vielmehr der in der Nähe wohnende Nachbar, den man besuchte und der einem ähnelte, obwohl er doch auch anders war und insofern verdächtig8. Innerhalb dieser pluralistischen Struktur ließen sich in der zweiten Hälfte des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts drei gegensätzliche und doch komplementäre Dynamiken beobachten. Die am meisten sichtbare war eine Abgrenzungsdynamik, die die Unterschiede zwischen katholischer und protestantischer Kultur betonte, die interne Homogenität innerhalb derselben verstärkte und auf diese Weise einen eindeutigen intoleranten Charakter aufwies. Drei Gründe erklären die Beschleunigung dieser Dynamik. Der erste bestand in der letztlich erzielten Festigung der konfessionellen Grenzen: Was bis dahin nur unbestimmte, schwankende und immer wieder angreifbare Konturen hatte, gewann nunmehr einen definitiven Charakter und konnte sich in die Landschaften wie in die Köpfe einschreiben. Der zweite Grund war die deutlich spürbare Akzentuierung des psychologischen Grabens, der die Konfessionen trennte, eines Grabens, der durch die konfessionelle Polarisierung am Ende des 16. und am Anfang des 17. Jahrhunderts und mehr noch durch die Verfolgungen, die Dramen und die Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges und die Erinnerung daran hervorgerufen wurde. Der dritte Grund schließlich war das ___________ 8 Ronnie Po-Chia Hsia, Social Discipline in the Reformation. Central Europe 1550– 1750, London/New York 1989.

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Bestreben der politischen und religiösen Obrigkeiten, die auf erstaunlich ähnliche Mittel zurückgriffen, um, ausgehend von der Basis, d. h. vom Dorf, von der Stadt und dem Territorium, im Schutze der stabilisierten Grenzen und mit der Hilfe einer besser ausgebildeten Geistlichkeit, die konfessionelle Homogenität wieder herzustellen, die auf der Ebene des Reiches endgültig aufgegeben worden war. Diese Dynamik manifestierte sich in erster Linie in der Verstärkung von Maßnahmen, deren Ziel darin bestand, die religiöse Konformität der unterschiedlichen Territorien herzustellen und darin die heterodoxen Überbleibsel zu resorbieren. Dieser Prozeß der „inneren Rückgewinnung“ und der konfessionellen „Normalisierung“ war besonders ausgeprägt in den katholischen Territorien. In den habsburgischen Erblanden, die mit der pietas austriaca das durch die Wittelsbacher seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wirkungsvoll ins Leben gerufene Modell der Bavaria sancta aufgriffen, erfolgte diese „innere Rückgewinnung“ durch den Rückgriff auf antiprotestantische Verfolgungen (wie diejenigen, die sich nach 1620 in Böhmen abspielten und eine Massenflucht zur Folge hatten) ebenso wie über Missionen, Konversions- und Katechisierungskampagnen oder durch die Verschärfung der Überwachung derjenigen Bevölkerungsteile, die protestantischer Sympathien verdächtigt wurden. Im Laufe der Zeit ließen zwar diese repressiven Dimensionen nach; ihre intolerante Dimension wurde dadurch allerdings nicht berührt. In der Tat gingen die unter der Herrschaft der Habsburger stehenden Gebiete erst zu diesem Zeitpunkt von einem nominalen zu einem tatsächlichen Katholizismus über. Die Dynamik der Intoleranz, wie sie in der Mehrzahl der katholischen Territorien des Reiches im Gange war, hing allerdings mehr mit dem Ungleichgewicht im Kräfteverhältnis zwischen Katholizismus und Protestantismus im Inneren des Reiches zusammen als mit einer angeblichen katholischen Besonderheit. In der Tat war der Katholizismus in der Folge des Dreißigjährigen Krieges zahlenmäßig nicht nur auf Reichsebene unterlegen; selbst in den Territorien, die sich theoretisch zu ihm bekannten, war er durch die Präsenz aktiver und sozial starker protestantischer Minderheiten (etwa der österreichische Adel) gefährdet und noch nicht in der Lage, der kulturellen und ideologischen Ausstrahlung des Protestantismus die Stirn zu bieten. Schon um nur die ihm durch die Friedensverträge zuerkannten Positionen beizubehalten, war er daher gezwungen, auf die Strategie des Schwachen gegenüber dem Starken zurückzugreifen, sich hinter hermetisch abgeriegelten Grenzen zu verbarrikadieren und ohne Unterlaß auf die ideologische „Normalisierung“ der seiner Autorität unterworfenen Bevölkerungsteile hinzuwirken9. ___________ 9 Christophe Duhamelle, Les espaces du catholicisme dans le Saint-Empire à lǥépoque moderne, in: Histoire, Economie et Société 23 (2004), 55–68.

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In den protestantischen Gebieten stellte sich die Situation recht anders dar: Die meisten unter ihnen beherbergten (außer Restbeständen) keine katholischen Minderheiten mehr, und die schwache ideologische Ausstrahlung des Katholizismus reduzierte dementsprechend die Risiken einer möglichen „Verunreinigung“. Die dargelegten Erscheinungsformen der Intoleranz waren hier daher weitaus seltener als in den katholischen Territorien. Heißt dies nun indes, der soziale Druck in Richtung konfessioneller Homogenität und religiöser Konformität wäre hier weniger stark gewesen? Die folgenden zwei Beispiele lassen daran zweifeln: Im Herzogtum Württemberg, das doch zu 98% lutherisch war, bat das Konsistorium im Jahre 1662 den Herzog, die wenigen Reformierten und Katholiken bei Strafe der Ausweisung dazu zu zwingen, ihre Kinder in der lutherischen Konfession zu erziehen, und in der ebenfalls lutherischen Reichsstadt Ulm ging die katholische Minderheit zwischen der Mitte des 16. und der Mitte des 18. Jahrhunderts um vier Fünftel zurück, d. h. von 1000 auf 200 Personen. Auf der einen wie der anderen Seite der nunmehr gefestigten und immer weniger fiktiven religiösen Grenzen verstärkten sich in der Folge des Dreißigjährigen Krieges die Unterschiede zwischen der katholischen und den protestantischen Kulturwelten; dabei entwickelte sich eine jede entsprechend ihrer eigenen Logik innerhalb eines Prozesses, der nicht ohne Analogie ist mit dem zunehmenden Auseinanderdriften der beiden deutschen Teilstaaten nach 1945– 1949. Auf katholischer Seite behauptete sich die Dynamik von innerer Reformation und äußerer Gegenreformation in einer ganz anderen Stärke und Intensität als vor dem Krieg; nun erst setzte sich in den deutschsprachigen Ländern das tridentinische Modell der Erneuerung des religiösen Lebens durch, dessen hauptsächliche Propagandisten die religiösen Orden wurden (Jesuiten und Kapuziner) und das vor allem auf der eucharistischen Frömmigkeit, dem Marienund dem Heiligenkult und den Wallfahrten beruhte. Den sinnfälligsten Ausdruck seines Erfolgs stellte sicherlich die Blüte der barocken Architektur und Kunst dar. Umgekehrt wiederum veränderten der Wettbewerb zwischen Reformierten und Lutheranern und mehr noch der Einfluß des Pietismus – als einer Art zweiter reformatorischer Welle innerhalb der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen – das innere Gleichgewicht der protestantischen Kultur und trugen zur Verbreitung einer immer weniger dem mittelalterlichen Erbe verpflichteten Frömmigkeit und Mentalität bei; ihren ursprünglichsten Ausdruck fand sie in den Gebetsbüchern (den sogenannten „Alten Tröster“), in der Musik (wie man es an der zunehmenden Bedeutung der Gesangsbücher sehen kann) und in der Behauptung einer von historischen und biblischen Bezügen durchdrungenen Identität10. Diese Differenzierungsdynamiken fanden ihren ___________ 10 Patrice Veit, Piété, chant et lecture: les pratiques religieuses dans lǥAllemagne protestante à lǥépoque moderne, in: Revue dǥHistoire Moderne et Contemporaine 37 (1990), 624–641.

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Höhepunkt im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts. Zeugen davon waren auf der einen Seite die barocke Überschwenglichkeit des katholischen Deutschlands und auf der anderen Seite die protestantischen Jubiläen, die die großen Ereignisse der heiligen Geschichte vom evangelischen Deutschland verherrlichten. Der Unterschied zwischen der katholischen und der evangelischen Kulturwelt, der zu Beginn überwiegend dogmatischer und religiöser Natur gewesen war, war im Laufe der Zeit zu einem immer mehr kulturell und anthropologisch geprägten Unterschied geworden. Er stellte von nun an zwei sich ausschließende und weitgehend antithetische Mentalitätssysteme einander gegenüber – auf protestantischer Seite eine verinnerlichte, um nicht zu sagen introvertierte, pastorale, bürgerliche und deutsche Mentalität, die wesentlich auf der Vermittlung durch das Wort oder die Schrift beruhte, und auf katholischer Seite eine weitaus mehr nach außen und auf die Gemeinschaft gerichtete, herrschaftliche und ländliche, klerikale und italienische Mentalität, die v.a. auf der gefühlsbetonten und sinnlichen Vermittlung der sakralen Inszenierung und der Bildwelt beruhte11. Diese Differenzierung war um so realer, als sie nicht einfaches Resultat von Maßnahmen war, die der Bevölkerung von der Obrigkeit aufoktroyiert wurden, sondern vielmehr durch eine zweite Dynamik der Verinnerlichung konfessioneller Zugehörigkeit begleitet wurde, die aus der Konfession ein Symbol kollektiver Identität, ein Zeichen familiärer und regionaler Zugehörigkeit wie auch ein Zeichen der Selbstbehauptung und Unterscheidung machte12. Um diese zweite Dynamik, für die sich die historische Forschung erst seit jüngster Zeit interessiert, besser einordnen zu können, ist es notwendig, die Perspektive zu wechseln und diesmal den monographischen und mikro-historischen Zugang zu wählen. Einer der am meisten aussagekräftigen Beobachtungsorte in dieser Hinsicht ist zweifelsohne die freie Reichsstadt Augsburg, die in sich insofern die Charakteristika des Reiches zusammenfaßte, als in dieser Stadt von ca. 20.000 Einwohnern am Ausgang des Dreißigjährigen Krieges, welcher sie ganz besonders stark verwüstet hatte, Katholiken und Protestanten zwei ähnlich starke Bevölkerungsgruppen bildeten und, auf der Basis einer totalen Gleichberechtigung (auch in politischer Hinsicht), gemischt miteinander lebten (es gab dort keine konfessionell getrennte Stadtteile)13. ___________ 11 Richard van Dülmen, Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 3: Religion, Magie, Aufklärung, 16.-18. Jahrhundert, München 1994; Peter Claus Hartmann, Kulturgeschichte des Heiligen Römischen Reiches 1648 bis 1806. Verfassung, Religion und Kultur, Wien/Köln/Graz 2001. 12 Christophe Duhamelle, De la confession imposée à lǥidentité confessionnelle. Les cas de lǥEichsfeld, XVIe-XVIIIe siècles, in: Etudes germaniques 57 (2002), 513–527. 13 Etienne François, Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648–1806, Sigmaringen 1991.

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Um die erlebte Wirklichkeit der konfessionellen Grenze nachvollziehen zu können, habe ich also auf den Augsburger Mikrokosmos den Indikator angewendet, den Tocqueville bereits empfahl, um den Grad der Verschmelzung der Eliten des postrevolutionären Frankreichs zu bemessen: „Wollen Sie wissen, ob die Kaste, die Ideen, die Gewohnheiten, die Schranken, die sie bei einem Volk geschaffen hat, hier endgültig vernichtet sind? Schauen Sie sich die Eheschließungen an. Gerade dort finden Sie den entscheidenden Zug, der Ihnen fehlt. Selbst in unseren Tagen, nach 60 Jahren Demokratie, werden Sie in Frankreich vergeblich danach suchen. Die alten und die neuen Familien, die in allem miteinander verschmolzen scheinen, vermeiden hier doch aufs strengste, sich durch Eheschließung miteinander zu vermischen.“ Deswegen habe ich mich speziell für die Mischehen interessiert, d. h. für diejenigen Ehen, die man im frühneuzeitlichen Frankreich als „bunte Ehen“ („unions bigarrées“) und in Augsburg als „ungleiche Ehen“ bezeichnete. Die durch diesen Indikator für die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg erzielte Antwort ist ebenso deutlich wie erstaunlich, stellt man die außergewöhnliche Situation konfessionellen Zusammenlebens in Rechnung, die die Stadt kennzeichnete. Am Ende des 16. Jahrhunderts waren solche Ehen noch relativ verbreitet: Montaigne, der sich, im Kontext seiner Reise nach Deutschland und Italien, eine Woche in Augsburg aufhielt, notierte nicht ohne Erstaunen in seinem Reisetagebuch: „Die Eheschließungen von Katholiken und Lutheranern kommen ganz gewöhnlich zustande, und derjenige, der sie am meisten ersehnt, unterwirft sich den Gesetzen des anderen; es gibt Tausend solcher Ehen: unser Gastgeber war Katholik, seine Frau Lutheranerin.“ Nach 1648 aber wurden die „ungleichen Ehen“ ebenso selten wie schwer auszumachen: Zwischen 1774 und 1799, wo ein besserer Zustand der Dokumentation glaubhafte Zählungen gestattet, konnte ich nur noch 77 „bunte Ehen“ auf eine Gesamtheit von 7 775 Ehen zählen, d. h. gerade einmal 1%! Die „ungleichen Ehen“ waren nicht nur selten. Sie waren Abenteuer, da sie mit vielen Risiken verbunden waren: Risiken des Konflikts mit der Verwandtschaft, Risiken des Konflikts zwischen den Eheleuten durch die konfessionelle Differenz und noch dazu die bei der Geburt von Kindern fast unumgänglichen Risiken, da ab diesem Augenblick die durch die Eheschließung aufgehobene bzw. negierte konfessionelle Grenze bei der folgenden Generation gewissermaßen Revanche übte. Daher die unzähligen Konflikte um die Taufe und die Erziehung der Kinder, die im Jahre 1727 den Stadtrat dazu führten, die Eheleute unterschiedlicher Konfession zu zwingen, zum Zeitpunkt der Eheschließung in der Form eines verbindlichen Vertrages schriftlich ihre Intentionen hinsichtlich der zu erwartenden Kinder zu erklären. So einzigartig – und vielleicht außergewöhnlich – auch immer, war der Augsburger Mikrokosmos doch nicht weniger repräsentativ für den deutschen Makrokosmos: In anderen Orten mit einer gemischten konfessionellen Bevölkerung waren die „ungleichen Ehen“ im 18. Jahrhundert fast genau so selten (2,3% in Straßburg zwi-

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schen 1774 und 1784, 4% in der kleinen pfälzischen Stadt Oppenheim zwischen 1775 und 1798). Die extreme Seltenheit der „ungleichen Ehen“ als Indiz für die Verinnerlichung der konfessionellen Identitäten wird in seiner Aussagekraft noch durch die Tatsache verstärkt, daß auch die Konversionen genauso selten waren, obwohl sich ihnen kein institutionelles Hindernis in den Weg stellte. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bewegten sie sich in Augsburg in einer Größenordnung von 25 bis 30 pro Jahr – damit ist man weit entfernt von den 900 Konversionen, die zwischen Sommer 1556 und Ostern 1560 vollzogen zu haben Petrus Canisius sich rühmte. Die Konversionen als seltene und individuelle Handlungen betrafen im übrigen vorwiegend Alleinstehende und junge, abhängige resp. entwurzelte Personen; bei nicht wenigen Konversionen handelte es sich um Protestakte von Jugendlichen gegen ihre Familie. Schließlich und endlich waren diese Konversionen oftmals schwierig und fragil. Unter den 320 Konversionen, deren Entwicklung ich verfolgen konnte, machte ein Viertel den Eingriff der Stadtobrigkeit erforderlich, um die Wahlfreiheit und die Rechte des Konvertiten zu schützen; ein Fünftel schlug fehl, wobei die aufschlußreichsten Fälle die Konversionen von Frauen bildeten, die, vor der Hochzeit zur anderen Konfession übergetreten, nach dem Tode ihres Mannes zur ursprünglichen zurückkehrten und, eine damals übliche Wendung benutzend, erklärten, „nach der Konfession leben und sterben zu wollen, in der sie geboren waren“. Indem er die durch die extreme Seltenheit der „ungleichen Ehen“ nahegelegte Interpretation unterstützt, ist dieser Gegenbeweis zugleich Beweis sowohl für die Dauerhaftigkeit als auch für die Aneignung der konfessionellen Identitäten. Im Augsburg der Zeit zwischen 1650 und 1800 waren Katholiken und Protestanten, um einen Ausdruck Rimbauds zu verwenden, „Gefangene ihrer Taufe“; die Verinnerlichung und Aneignung der konfessionellen Zugehörigkeit erfolgte derart tiefgreifend und frühzeitig, daß diese zu einer zweiten, für die Identität der Einzelpersonen konstitutiven Natur wurde, vergleichbar in etwa dem Schatten, den man nicht los wird und über den man nicht springen kann. Diese These wird gestützt durch weitere Beobachtungen, auf die ich hier nur kurz eingehen kann. Die erste ist diejenige der verzweifelten Suche nach Unterscheidung (im Sinne von Pierre Bourdieu), die sich in beiden „Konfessionsverwandtschaften“ feststellen ließ; die dadurch verursachte Vervielfältigung von äußerlichen Zeichen der Erkennung und Zugehörigkeit hatte nämlich zur Folge, daß sich im damaligen Augsburg wie in den französischen Cevennen Protestanten und Katholiken „weitaus mehr im Verhältnis zueinander als zu sich selbst und zu ihrer eigenen Glaubenslehre definierten“14. Die zweite ist diejenige eines Hin und Her zwischen institutioneller und klerikaler Pädagogik einerseits und familiärer Pädagogik andererseits. In Augsburg wie im übrigen ___________ 14

Philippe Joutard, La légende des Camisards. Une sensibilité au passé, Paris 1977.

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Reich bildeten die Jahre 1650 bis 1730 den Höhepunkt der durch die Geistlichkeit und die politischen Autoritäten unternommenen Initiativen (Lutherjubiläen, Predigten und Streitschriften, katholische Missionen etc.) zur Stärkung des Zugehörigkeitsgefühls der Gläubigen zu der einen oder anderen Konfession und ihrer Furcht vor der Konversion; nach 1730 hingegen ließen diese Bemühungen nach, und das ganze Arsenal der Indoktrination verlor immer mehr an Bedeutung. Doch genau zu dem Zeitpunkt, wo sich die konfessionelle Rivalität zu beruhigen schien, gaben immer mehr Familien ihren Kindern konfessionell geprägte Vornamen und eliminierten weitestgehend diesbezüglich indifferente Vornamen, womit sie stärker als je zuvor ihren Willen bekundeten, auf unmißverständliche Weise die konfessionelle Zugehörigkeit ihrer Nachkommenschaft zu markieren. Im Jahre 1656 waren zwei von drei Vornamen in konfessioneller Hinsicht neutral; 1716 aber betraf dies nur noch zwei von fünf, und 1776 sogar weniger als einen von fünf Vornamen15! Als dritte ergänzende Beobachtung gilt die Marginalisierung der konfessionellen Indifferenz. Im Jahre 1598 wurde der aufrührerischer Machenschaften verdächtigte David Altenstetter, ein geachteter Goldschmied, zunächst verhaftet; von der Stadtobrigkeit als unschuldig angesehen, wurde er letztlich freigelassen. Während des Verhörs nun, das über sein Schicksal entscheiden sollte, machte er überhaupt keinen Hehl von seiner religiösen Freiheit, gab offen zu, keinerlei Konfession anzugehören, vielmehr seine eigene Religion zu haben, die sich aus Elementen des Katholizismus, des Luthertums und der Doktrin von Zwingli zusammensetzte, und niemand hatte letztlich etwas dagegen einzuwenden. Nach 1650 wurde ein derartiges Eingeständnis praktisch undenkbar; die konfessionelle Indifferenz wurde viel rigoroser verfolgt und war Gegenstand quasi einstimmiger Verdammung. Wenn sie noch auftrat, dann im Zusammenhang mit extremer Marginalität, wie im Falle von Sebald Scherer, dem vermutlichen Vater eines 1754 getauften unehelichen Kindes, den das Kirchenregister mit den folgenden Worten beschrieb: „conjugatus (ut mater ait), olim calvinista, catholicus mox, mox lutheranus, nunc item catholicus“. „Offensichtlich“, um die vergleichbaren Beobachtungen Louis Châtelliers über das ländliche Elsaß anzuführen, „ist es gerade der Begriff der Konfession mit all dem, was dieser Terminus an sozialen und kulturellen Konnotationen impliziert, der sich im 18. Jahrhundert in den katholischen und lutherischen Gemeinden insgesamt durchsetzt. Was vor 1650 insbesondere für die einfachen Gläubigen nur fließende Umrisse hatte, nimmt ein Jahrhundert später eine scharf konturierte Gestalt an“16. Um so verständlicher wird das Scheitern der ___________ 15 Christophe Duhamelle, Le prénom catholique masculin dans le Saint Empire à lǥépoque moderne, in: Annales de lǥEst 49 (1998), 159–178. 16 Louis Châtellier, Tradition chrétienne et renouveau catholique dans lǥancien diocèse de Strasbourg, 1650–1770, Paris 1981.

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Bemühungen um Versöhnung und Wiederaufnahme des interkonfessionellen Dialogs, die in den 1670er Jahren unternommen wurden, wie die innerprotestantischen Dialoge zwischen dem Direktor des Konsistoriums von Hannover, Molanus, Leibniz und dem Berliner Hofprediger Jablonsky, die Initiativen des pfälzischen Kurfürsten Karl Ludwig, oder, noch bemerkenswerter, die Dialoge zwischen Katholiken und Protestanten, die auf Initiative des Fürstbischofs von Würzburg, Johann Philipp von Schönborn, und mit der Unterstützung von Kaiser Leopold I. ins Leben gerufen wurden, und wo man wiederum Molanus, Leibniz und den Bischof von Wiener Neustadt, Spinola, antraf17. So unbestreitbar sie auch war, hatte die Verhärtung der konfessionellen Fronten und Identitäten nach dem Dreißigjährigen Krieg jedoch nicht ausschließlich negative Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen den rivalisierenden Konfessionen. Wenngleich es paradox anmutet, so waren doch die Festlegung des Bereiches einer jeden, die größere Klarheit der Definitionen und die Verinnerlichung der jeweiligen Identitäten genau in dem Maße Ursache der friedlichen Koexistenz der Konfessionen, in dem sie den Situationen der Unsicherheit bzw. der Unbestimmtheit ein Ende setzten, die stets Quellen von Streitigkeiten und Konflikten gewesen waren. Das Beispiel der paritätischen Städte Süddeutschlands ist in dieser Hinsicht ebenso überzeugend wie signifikant: In Augsburg wie in Biberach war die Entkrampfung der alltäglichen Beziehungen zwischen Katholiken und Lutheranern aufs engste mit der exakten Eingrenzung ihrer Macht und ihrer Rechte verbunden, wie auch mit der Konsolidierung ihrer jeweiligen Identitäten. Ihre konkreten Alltagsbeziehungen hatten sich genau in dem Moment beruhigt und normalisiert, als die „unsichtbare Grenze“ – die mentale Grenze, die Katholiken und Protestanten voneinander trennte – unübertretbar geworden war. Der Bürgerfriede entstand hier dank der Anerkennung und Akzeptanz der konfessionellen Differenz. In dieser Sicht bedingten sich die Dynamik der Differenzierung einerseits und diejenige des friedlichen Zusammenlebens andererseits wechselseitig. Scheinbar einander ausschließend, erwiesen sie sich doch als einander auf geheimnisvolle Weise ergänzend und ermöglichten dieserart den zunehmenden Übergang von einer Situation aufoktroyierter Koexistenz zu einer Situation akzeptierter Koexistenz. Drei Elemente der „neuen Lage“ von 1648 lassen die Kraft der für das damalige Deutschland ebenso charakteristischen Dynamik des konfessionellen Zusammenlebens verstehen. Das erste ist der Umfang des Aderlasses, den der Krieg verursacht hatte: In den Regionen, die mehr als die Hälfte ihrer Bevölkerung verloren hatten, war der Wiederaufbau von so unmittelbarer Priorität, daß er alle anderen Erwägungen in den Hintergrund drängte – darunter auch, wenn ___________ 17 Heinrich Lutz (Hrsg.), Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, Darmstadt 1977.

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es sein mußte, die konfessionellen. Das zweite ist die durch den Westfälischen Frieden herbeigeführte relative Dekonfessionalisierung des Politischen: Ab 1648 hörte die Konfession auf, Haupteinsatz im Kräftemessen der Territorien des Reichs zu sein; wenn sie noch einbezogen wurde, dann nur noch als ein ihr selbst äußerlichen Zielen untergeordnetes Mittel. Das dritte Element schließlich ist der Machtzuwachs der Territorialstaaten, die aus dem Krieg als Sieger hervorgegangen waren und sich entsprechend einer absolutistischen, merkantilistischen und bevölkerungspolitischen Logik verhielten, die weitgehend frei von konfessionellen Rücksichten war. Diese drei Elemente schufen in der Tat sehr günstige Bedingungen für eine systematische Politik der gezielten Einwanderung, der Aufnahme und des Schutzes von Flüchtlingen und religiösen Minderheiten, die anderswo verfolgt waren. Sie erklären die Ausbreitung von Praktiken, die vor dem Dreißigjährigen Krieg marginal und begrenzt blieben, auf eine Vielzahl deutscher Territorien. Vor 1618 gingen die Errichtung neuer Städte und die Aufforderung an Flüchtlinge, diese zu bevölkern, meistens mit dem Bestreben des Landesfürsten einher, die Anzahl der Untertanen zu erhöhen, die seine Konfession teilten. Zur Zeit ihrer Gründung am Beginn des 17. Jahrhunderts durch den pfälzischen Kurfürsten (Privileg von 1607) war die neue Stadt Mannheim nicht nur darauf ausgerichtet, den Handel am Zusammenfluß von Rhein und Neckar zu beherrschen; sie hatte auch zur Funktion, eine Bastion des militanten Kalvinismus zu werden, indem sie insbesondere die durch die Verfolgung aus den Niederlanden vertriebenen reformierten Unternehmer und Geschäftsleute aufnahm. Nach dem Dreißigjährigen Krieg hingegen verlieh der Kurfürst, um den Wiederaufbau der durch die Armeen der Katholischen Liga zerstörten Stadt zu gewährleisten, derselben im Jahre 1652 neue Privilegien, die sich durch eine beispiellose Liberalität auszeichneten, und machte aus Mannheim eine den Zuwanderern aller Konfessionen offen stehende Stadt. Weit davon entfernt, einen Einzelfall zu bilden, ähnelt der Fall Mannheim vielmehr demjenigen der neuen Stadt Neuwied am Rhein, deren erster Bewohner ein Mennonit war, demjenigen der neuen Stadt Christian-Erlangen, die 1686 durch den lutherischen Markgrafen von Ansbach-Bayreuth gegründet wurde, um die durch den Widerruf des Edikts von Nantes vertriebenen französischen Hugenotten zu empfangen – ganz zu schweigen von Berlin, dem berühmtesten Fall in dieser Hinsicht18. Zwei weitere Indizien bestätigen schließlich die Kraft dieser Dynamik konfessioneller Koexistenz und damit indirekt der Toleranz. Das erste ist der Eifer, den viele Territorien an den Tag legten, um die Frankreich verlassenden Hugenotten zu sich heranzuziehen – ein Eifer, von dem sowohl die den Zuwanderern in den Aufnahmeedikten angebotenen Privilegien als auch die Vorwegnahme des Widerrufs durch viele Fürsten zeugen, die mit Ungeduld der Aufnahme der Hugenotten bei ihnen entgegensahen ___________ 18 Walter Grossmann, Städtisches Wachstum und religiöse Toleranzpolitik am Beispiel Neuwied, in: Archiv für Kulturgeschichte 62–63 (1980/1981), 207–232.

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(wie man es am Beispiel der durch den Landgrafen von Hessen-Kassel im April und August 1685 erlassenen Aufnahmeedikte sehen kann). Der zweite ist die zunehmend tolerante Haltung des Hamburger Rates gegenüber den NichtLutheranern (trotz der Proteste der lutherischen Geistlichkeit), eine Haltung, die sich zum Ziel setzte, gegen die aus dem Aufschwung der Nachbarstadt Altona – einer dänischen Gründung, die allen Flüchtlingen unabhängig von ihrer Konfession offenstand – erwachsende Konkurrenz zu bestehen19. Die zunehmende Dekonfessionalisierung des Politischen und die Aufgabe des jus reformandi erklären schließlich die geographische Ausweitung der Gebiete, die nach 1648 unterschiedliche Formen institutionalisierter konfessioneller Koexistenz praktizierten – so die Herzogtümer Jülich, Berg und Cleve, in denen der Kurfürst von Brandenburg und der Herzog von Pfalz-Neuburg in den Religionsprotokollen von 1666 bis 1672 die Rechte der drei christlichen Konfessionen bekräftigten; die Kurpfalz, wo die Deklaration von 1705 die Modalitäten der gleichberechtigten und friedlichen Koexistenz der drei Konfessionen infolge der durch den dynastischen Wechsel von 1685 und die Politik Ludwig XIV. verursachten partiellen Rekatholisierung regelte; Schlesien, wo die Konvention von Altrandstädt aus dem Jahre 1707 den antiprotestantischen Schikanen der Habsburger ein Ende setzte und auf diese Weise den Übergang von einer konfliktreichen zu einer befriedeten konfessionellen Koexistenz ermöglichte – um vom Kurfürstentum Sachsen oder dem Herzogtum Württemberg, beides Bastionen des lutherischen Protestantismus, nicht zu sprechen, die jedoch seit 1697 resp. 1712 durch zum Katholizismus übergetretene Landesfürsten regiert wurden. Nach 1750 wurden diese stark strukturierten, voneinander unterschiedenen und zugleich miteinander verbundenen konfessionellen Identitäten von verschiedensten Entwicklungen betroffen, die ihren Kontext veränderten und sie in unterschiedlichster Hinsicht in Frage stellten. Da diese Veränderungen durchaus mit denen vergleichbar sind, die sich in anderen europäischen Ländern feststellen lassen, begnüge ich mich hier damit, sie in eher beiläufiger (und daher notwendigerweise schematischer) Form zu skizzieren. Die ersten Veränderungen waren ideologischer und kultureller Natur. Sie begannen in der Epoche der Aufklärung (selbst wenn die deutsche Form dieser Bewegung weitaus weniger antireligiös war als die französischen Lumières), fanden ihren Ausdruck in der Infragestellung der göttlichen Offenbarung, in der Aufwertung der Vernunft und einer immer schärfer werdenden Kritik an den Ansprüchen der Kirchen, ihren Normen und Dogmen, um seit dem Ende des 18. Jahrhun-

___________ 19 Joachum Whaley, Religious Toleration and Social Change in Hamburg 1529– 1816, Cambridge 1985.

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derts in eine radikale Denunziation der Religion zu münden20. Das deutschsprachige Europa, um an eine bekannte Tatsache zu erinnern, war nicht nur die Heimat von Luther oder Melanchthon, sondern auch die von Kant und Marx, Nietzsche und Freud. Die zweiten Veränderungen waren politischer und institutioneller Natur. Sie wurden durch die Reformen des „aufgeklärten Despotismus“ ausgelöst, die die Inanspruchnahme der Kirchen durch den Staat verstärkten und in den katholischen Territorien eine Entwicklung in Richtung Säkularisierung und Toleranz herbeiführten (Toleranzedikt von Joseph II. 1781). Sie beschleunigten sich alsdann mit den Strukturreformen, die mit den Erschütterungen der revolutionären und napoleonischen Zeit einhergingen (Ende der Reichskirche, dann des Reiches selbst, Anerkennung der religiösen Freiheit und der Rechtsgleichheit, Neudefinition der Beziehungen zwischen Kirche und Staat in Richtung einer zunehmenden Distanz)21. Sie weiteten sich schließlich aus mit der Reichseinigung von 1871 und ihren Konsequenzen (Behauptung des Nationalstaats als oberste Bezugsgröße, Auftrieb des Nationalgefühls und des Nationalismus als neue übergreifende Identitäten, die den Anspruch erheben, über die besonderen, aus der Vergangenheit überkommenen Identitäten hinauszugehen und sie zu beseitigen), mit der Entwicklung politischer Ideologien und Bewegungen, die frei von jeglichem konfessionellen und religiösen Bezug, ja sogar explizit antireligiös waren (Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus und Nationalsozialismus u.a.), und schließlich mit den beiden Momenten offenen Kampfes des Staates gegen die Kirchen und das Christentum, dem Dritten Reich einerseits, der DDR andererseits. Die dritten Veränderungen schließlich sind verbunden mit den durch die Industrialisierung, das ökonomische Wachstum und die Urbanisierung hervorgerufenen Transformationen, die man mangels eines besseren Begriffs allgemein als „Modernisierung“ bezeichnet. In Deutschland wie anderswo bestand die für lange Zeit am meisten sichtbare Konsequenz dieser Evolution im Rückgang des sozialen Einflusses und der Macht der Kirchen, mit einer dreifachen Bewegung der Distanzierung im Verhältnis zur Kirche als Institution (Entkirchlichung), der Säkularisierung, ja gar der Entchristianisierung (was auch immer man für Einwände gegen diesen Begriff haben mag). Zwei grobe, aber doch aussagekräftige zeitgenössische Indikatoren sollen helfen, die Entwicklungen zu ermessen, die sich seit der Wiedervereinigung in einer Phase zunehmender Beschleunigung befinden: 1992 erklärte einer von zwei Deutschen, an Gott zu glauben, während der Prozentsatz an Deutschen, die einer der beiden Konfessionen angehören und regelmäßig den Gottesdienst besuchten, nicht mehr als 12% betrug. ___________ 20

Horst Möller, Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1986. 21 Georg Schwaiger (Hrsg.), Zwischen Polemik und Irenik. Untersuchungen zum Verhältnis der Konfessionen ind Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 1977.

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Daß diese Veränderungen die konfessionellen Identitäten zutiefst geprägt haben, ist zu evident, als daß man darauf weiter insistieren müßte. Allerdings wäre nichts irreführender, als letztere auf simple Überbleibsel einer vergangenen Epoche zu reduzieren und aus ihnen ein Objekt von Entwicklungen zu machen, auf welche sie keinen Einfluß haben. Weit entfernt davon, eine erstarrte Struktur zu sein, die allein durch die Kraft der Trägheit passiv in Gang gehalten wurde, war die konfessionelle Pluralität vielmehr eine in beständiger Anpassung befindliche Struktur und stand in permanenter Interaktion mit dem Kontext, in welchem sie sich entwickelte. Untrennbar von der deutschen Moderne, war sie in mehrerlei Hinsicht konstitutives Element derselben. Die bemerkenswerte Stabilität der konfessionellen Karte Deutschlands seit der Mitte des 17. Jahrhunderts ist ein erstes Indiz dieser Fähigkeit zu überdauern, sich zu reproduzieren und zu erneuern. Diese Permanenz gilt nicht nur für die großen, quasi homogenen konfessionellen Blöcke des katholischen Südwestens oder des protestantischen Nordostens Deutschlands, sondern ebenso für die vielfältigen Enklaven, die Isolate oder die Zonen der Verschränkung und des Verflochtenseins des „dritten Deutschlands“. Und auch wenn die jüngere (durch die massiven Bevölkerungswanderungen nach 1945 beschleunigte) Entwicklung die Situation der Gemischtheit und des Miteinanderlebens bis zu dem Punkt verallgemeinerte, daß diese heute überwiegende Realität geworden ist, so sind doch die Unterschiede in der konfessionellen Zugehörigkeit nach wie vor deutlich erkennbar in der äußeren Gestalt der Städte und Landstriche wie auch in den Interieurs, den Vorstellungen und Verhaltensweisen. Ein zweites Indiz dafür ist die Beständigkeit, in manchen Punkten sogar das Erstarken, der institutionellen und sozialen Macht der Kirchen. Diese Macht, zugleich Ursache und Wirkung der Erneuerungsfähigkeit der konfessionellen Identitäten, schreibt sich, was den Beobachter nicht in Erstaunen versetzen sollte, in eine jahrhundertealte Geschichte ein. Sie erklärt sich zunächst aus der (bereits erwähnten) Tatsache, daß die Entstehung des modernen Staates in Deutschland untrennbar verbunden war mit der Errichtung von Landeskirchen. Sie hängt des weiteren damit zusammen, daß die Entfernung zwischen Kirchen und Staat (oder vielmehr den Staaten) zwar seit zwei Jahrhunderten zunahm, dieses Auseinanderdriften jedoch zumeist ohne Bruch verlief und vielmehr Formen der Partnerschaft und der Mitverantwortung bewahrte oder neu entwickelte. Sie stützt sich schließlich auf die Überzeugung, daß es eine notwendige Beziehung zwischen der Kirchenfeindlichkeit auf der einen Seite und der Entstehung der beiden deutschen Diktaturen auf der anderen Seite gab – und daß von daher die Verteidigung der Freiheit und der Schutz vor den Gefahren von Diktatur und Nationalismus mit einer Konsolidierung der institutionellen Position der Kirchen und ihrer moralischen Heilkräfte einhergehen müssen. Als durch das Grundgesetz anerkannte Körperschaften des öffentlichen Rechts, die mit dem föderalen Staat und den Ländern durch juristisch garantierte Partnerschaftsabkommen verbunden sind, profitieren die Kirchen insbesondere von

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zwei Vorteilen, die man praktisch nirgendwo anders findet: zunächst die Erhebung der Kirchensteuer durch die öffentlichen Finanzämter, einer Steuer, die jeder kirchlich Getaufte automatisch zahlen muß und von der er nur befreit wird, wenn er formell seinen Kirchenaustritt erklärt, sowie die Übernahme der Verantwortung für den Religionsunterricht als obligatorisches, den anderen Fächern gleichgestelltes Fach durch die Bildungsministerien (welche man im übrigen weiterhin als „Kultusministerien“ bezeichnet). Statt diese starke gesellschaftliche Stellung der Kirchen in Frage zu stellen, hat sie die Wiedervereinigung (zumindest zu Beginn) vielmehr gestärkt, da auch in dieser Hinsicht die institutionellen Strukturen Westdeutschlands auf das Gebiet der DDR ausgedehnt wurden. Die drei unmittelbaren Konsequenzen dieser Ausdehnung waren die Erhöhung der Anzahl der erfaßten Christen als solche (ca. fünf Millionen zusätzlich nach der Wiedervereinigung), die Umkehrung der interkonfessionellen Relationen zugunsten der Protestanten (zwischen 1987 und 1992 stieg die Anzahl der Protestanten von 25,4 auf 28,9 Mio. und die der Katholiken von 26,2 auf 27,7) und die Steigerung der Einnahmen der Kirchen aus der Kirchensteuer auf ein bis dahin nie erreichtes Niveau (8,5 Mrd. DM für jede von ihnen im Jahre 1992). Aber diese scheinbare Stärkung der institutionellen Position der Kirchen wurde mehr als kompensiert durch zwei Veränderungen, die sich als weitaus folgenschwerer erweisen könnten: einerseits durch den starken Rückgang des Prozentsatzes an „institutionalisierten“ Christen innerhalb der deutschen Gesellschaft (85% der Bevölkerung der Bundesrepublik laut Volkszählung von 1987, aber nur noch 65,5% der Bevölkerung des vereinigten Deutschlands im Jahre 2001) und andererseits durch die rapide Zunahme der Kirchenaustritte (nach einem Höhepunkt im Jahre 1992 mit 555.000 Austritten, d. h. ca. 1% der Mitgliederzahl der beiden Kirchen, bewegt sich seit 2000 die Zahl der Kirchenaustritte zwischen 250.000 und 300.000 pro Jahr). Diese sehr starke institutionelle Präsenz der Kirchen ist untrennbar von einem allerdings unterschiedlich intensiven Streben nach individueller Identifikation mit ihnen. Auf elementarste Weise kommt diese Identifikation darin zum Ausdruck, daß die überwiegende Mehrheit der getauften Deutschen, ob praktizierend oder nicht, gläubig oder ungläubig, es akzeptiert, in die Kirchenregister eingetragen zu werden, mit all den Konsequenzen, die dies impliziert; so sind, trotz ihrer Zunahme in jüngster Zeit, die Kirchenaustritte deutlich geringer als das, was man auf Seiten der Gewerkschaften oder der politischen Parteien beobachtet. Des weiteren zeigt sich diese Identifikation am Festhalten einer großen Anzahl von Christen beider Kirchen an der alten Norm der konfessionell homogenen Ehe: Noch 1990 vereinigten 63% der protestantischen und 69% der katholischen Ehen zwei Partner derselben Konfession. Im Preußen des 19. Jahrhunderts, dessen Bevölkerung etwa zwei Protestanten auf einen Katholiken zählte, blieb der Prozentsatz an Mischehen konstant unter 10%, (4,1% zwischen 1840–1844, 6,9% 1871–1872, 10,8% 1911–1912), und die durch die

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Einmischung des preußischen Staates in den Mischehenstreit erzeugte Entfesselung der Emotionen bewies, wie ernst und wichtig die Bevölkerung diesen Gegenstand nahm, was ein Zeichen für das Überdauern des Verbots der Mischehen über die Zeit hinaus ist, die man als konfessionelles Zeitalter zu bezeichnen pflegt, wie auch seiner Verankerung im kollektiven Unterbewußten. Schließlich drückt sich die Identifikation mit den Konfessionen im Überdauern von unterschiedlichen Praktiken und Vorstellungen auf den beiden Seiten der „unsichtbaren Grenze“ aus – selbst in der Art und Weise, auf Distanz zur eigenen Kirche zu gehen: 1989 waren 23% der westdeutschen Katholiken regelmäßige Kirchgänger (trotz eines Rückgangs um die Hälfte seit 1960), hingegen nur 5% bei den Protestanten, und nach den Ergebnissen einer Meinungsumfrage aus demselben Jahr betrug der Prozentsatz an Katholiken, die von sich behaupteten, an Gott zu glauben, 70% in Westdeutschland und 56% in Ostdeutschland gegenüber 54% bzw. 44% unter den Protestanten. Ein viertes Indiz des prägenden Einflusses der konfessionellen Identitäten auf die „deutsche Moderne“ ist in der Entwicklung des Verhältnisses zwischen religiöser Zugehörigkeit und politischer Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert zu suchen. Im Vergleich mit den vorher angeführten Indikatoren ist dieser insofern weitaus signifikanter, als er über die Grenzen der religiösen Sphäre im traditionellen Wortsinne hinausging und an ihm vor allem die Dynamiken der Erneuerung, Anpassung und Reaktivierung ablesbar sind22. Das Wiederauftreten des konfessionellen Moments in der modernen politischen Geschichte Deutschlands war in der Tat eine relativ späte Erscheinung und stand insofern im Kontrast zur hier verfolgten Entwicklung seit der Mitte des 17. Jahrhunderts. Dieses Wiederauftreten ließ sich zuerst im Rheinland der 1840er Jahre beobachten, und zwar im Zusammenhang mit dem bereits erwähnten Mischehenstreit. Weit davon entfernt, ein Überbleibsel zu sein, war es vielmehr in zweifacher Hinsicht modern und direkt mit den Konsequenzen der Französischen Revolution verbunden, da es einerseits eines der Nebeneffekte der Angliederung des (mehrheitlich katholischen und bis dahin zu Frankreich gehörigen) Rheinlandes im Zuge der Neustrukturierung der politischen Geographie Deutschlands durch die Wiener Verträge bildete, und es sich andererseits in unmittelbar demokratischen Formen ausdrückte. Die nur wenig später erfolgende Bildung einer explizit konfessionellen und strukturell demokratischen Partei, des Katholischen Zentrums, ordnet sich in diesen Prozeß ein; die bestimmende Rolle dieser demokratischen Partei bei der Verteidigung katholischer Interessen in einem mehrheitlich protestantischen Preußen wie auch auf Reichsebene ist bekannt, ___________ 22 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983; Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990; Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992; Olaf Blaschke (Hrsg.), Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2002.

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von dem erfolglos unter der Führung Bismarcks gegen sie geführten Kulturkampf bis hin zur Weimarer Republik, innerhalb derer das Zentrum eine der wichtigsten Säulen der neuen Republik darstellte23. Besonders deutlich kam die konfessionelle Spaltung im Verhältnis zum Naziregime zum Ausdruck, wobei die Zurückhaltung großer Teile der katholischen Wählerschaft gegenüber den Verführungen der national-sozialistischen Propaganda (trotz der katholischen Herkunft von Hitler, Goebbels oder Himmler – um nicht von der Feigheit des Episkopats zu sprechen) in starkem Kontrast zur offenen Sympathie breiter Kreise der protestantischen Öffentlichkeit für den Nationalsozialismus stand24. Nach dem letzten Krieg wurde die gesamte politische Geschichte der Bundesrepublik zutiefst vom Einfluß der CDU geprägt, einer christlich-demokratischen Partei, die die konfessionellen Spaltungen überwand, ohne sie zu negieren (wenngleich der katholische Einfluß meistens dominant blieb); die SPD ihrerseits zog eher die Wählerschaft protestantischer Herkunft an und bekannte sich seit dem Godesberger Programm explizit zu den Werten des Christentums (welche denselben Stellenwert erhielten wie die Werte der Aufklärung und das Erbe der Arbeiterbewegung); zu den alternierend von der katholischen bzw. der evangelischen Kirche organisierten Katholiken- bzw. Kirchentagen strömt jedes Jahr ein ebenso zahlreiches wie junges und gemischtes Publikum zusammen, und diese Foren stellen zentrale Orte der Gesellschaftsdebatte und der Konfrontation unterschiedlichster Vorstellungen über die Zukunft des Landes dar. Erinnert sei schließlich (ohne hier ins Details zu gehen, da der Sachverhalt bekannt ist) an die oppositionelle Rolle, die die evangelische Kirche – zunächst als Ersatz, dann als neue politische Schicht – in der DDR und zur Zeit der „Wende“ gespielt hat25. Eine vergleichbare Prägnanz der konfessionellen Identitäten findet sich auf kulturellem Gebiete (im weitesten Sinne des Wortes) wieder, wobei, wie im politischem Bereich, das Verhältnis zwischen religiösem Pluralismus und Moderne kein Verhältnis des Gegensatzes war, sondern vielmehr ein Verhältnis der wechselseitigen Bestimmung. Heute wie ehedem beruht in der Tat die Fruchtbarkeit und kulturelle Dynamik der deutschen Länder weitestgehend auf dem Pluralismus und Polyzentrismus. Und diese wiederum sind untrennbar verbunden mit dem anerkannten konfessionellen Pluralismus und dem frucht___________ 23

David Blackbourn, Class, Religion and Local Politics in Wilhelmine Germany: The Centre Party in Württemberg before 1914, Wiesbaden 1980; Jonathan Sperber, Popular Catholicism in Nineteenth-Century Germany, Princeton 1984. 24 Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1, Frankfurt/M. 1977; Bd. 2, Berlin 1985. 25 Detlev Pollack, Kirche in der Organisationsgesellschaft. Zum Wandel der gesellschaftlichen Lage in der DDR, Stuttgart 1995; Oliver Janz, Das evangelische Pfarrhaus, in: Etienne François/Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte 3, München 2001, 221–238.

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baren Wettbewerb zwischen unterschiedlichen kulturellen Modellen. Um den schönen Ausdruck von Wilhelm Heinrich Riehl aufzunehmen, sind sie weitgehend „auf die Verschiedenartigkeit dieser sich ergänzenden, reibenden und treibenden Bekenntnisse gebaut“26. Dieselbe Beobachtung kann auf die Mehrzahl der großen kulturellen Bewegungen ausgedehnt werden, die für die deutsche Moderne konstitutiv wurden. Dies gilt zuerst für die Aufklärung. Zu ihren primären Bestrebungen zählte der Wille, alle Traditionen (darunter auch und gerade die religiösen) der Kritik zu unterwerfen und, mittels Vernunft, zu Toleranz und Fortschritt sowie zur Überwindung der konfessionellen Spaltungen beizutragen. Aber in demselben Maße, in dem ihre Ursprünge von der religiösen und konfessionellen Kultur durchzogen waren und sich ihre Verbreitung weitestgehend innerhalb überkommener Strukturen abspielte (neben einer überwiegend protestantischen Aufklärung sollte man nicht die spezifisch katholische Aufklärung vergessen), hat die Aufklärung, indem sie ihnen eine neue kulturelle Bedeutung verlieh, in Wirklichkeit diejenigen Spaltungen verlängert, die sie zu überwinden trachtete. Als zweites Beispiel kann man auf den indirekten, jedoch tiefgehenden Einfluß des Kulturprotestantismus auf die neue bürgerliche Kultur des 19. Jahrhunderts hinweisen, wie auch auf seine dezidiert antikatholische Prägung: „Auch als Abgrenzungsmerkmal gegenüber dem Katholizismus bleibt das Zugehörigkeitsgefühl zum Protestantismus, für die Gebildeten zumal zur protestantischen Kultur, sehr stark und überdeckt die substantiellen Abschwächungen der protestantischen Kirchlichkeit. Im AntiKatholizismus fühlen sich auch die Nicht-Christen noch ‚protestantisch‘“27. Schließlich sieht man, wie erst seit dem Ende des 18. bzw. der Mitte des 19. Jahrhunderts, insbesondere in den Regionen, wo mehrere Konfessionen zusammenlebten, neue signifikante „kulturelle“ Unterschiede in den Verhaltensweisen von Katholiken und Protestanten auftraten, sei es im demographische Verhalten (größere katholische Fruchtbarkeit), oder, umgekehrt, in der Beziehung zu Bildung und Kultur (katholischer Bildungsrückstand)28. Am Ende dieses langen historischen Parcours können zunächst vier Feststellungen allgemeinen Charakters getroffen werden. Die erste ist diejenige der strukturellen und existentiellen Wirklichkeit des konfessionellen Pluralismus. Dieser Pluralismus, dessen Ursprung auf den Beginn der Reformation selbst zurückgeht, findet seinen Höhepunkt zwischen etwa 1650 und 1750. Und wenn ___________ 26

Wilhelm Heinrich Riehl, Religiöse Studien eines Weltkindes, Stuttgart 1902 (2. Auflage), 284. 27 T. Nipperdey, Deutsche Geschichte (Anm. 18), 431–432. 28 Annemarie Burger, Religionszugehörigkeit und soziales Verhalten. Untersuchungen und Statistiken der neueren Zeit in Deutschland, Göttingen 1964; Alfred Wahl, Confession et comportement dans les campagnes dǥAlsace et de Bade (1871–1939). Catholiques, protestants et juifs : démographie, dynamisme économique et social, vie de relations et attitude politique, Straßburg 1980; Gerhard Schmidtchen (Hrsg.), Konfession – eine Nebensache?, Stuttgart 1984.

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auch seine Bedeutung seitdem abgenommen zu haben scheint, so wirkt er doch immer noch auf die Realitäten des heutigen Deutschlands ein, bis in die Tiefen der Identitäten, der familiären Gefühlswelten und der individuellen Verhaltensweisen hinein. Die zweite Feststellung betrifft den grundlegend dialektischen und komplexen Charakter der konfessionellen Identitäten. Sie definieren sich mindestens ebensosehr durch die Beziehungen, die sie untereinander eingehen, wie durch ihre jeweiligen Besonderheiten, und sie ziehen ihre Kraft wesentlich aus den weltlichen Vermittlungen, in denen sie sich ausdrücken und brechen. Sie gehen in ihrer Komplexität, Originalität und Tiefe weit über die Definitionen der Theologen und Geistlichen hinaus, setzen sich aus dem Zusammentreffen von allgemeinen und lokalen, religiösen und profanen, notwendigen und kontingenten Elementen zusammen, die eng miteinander verflochten sind und sich wechselseitig bestimmen. Die dritte Feststellung ist diejenige des zugleich stabilen und sich wandelnden Charakters dieser Identitäten und ihrer Beziehungen zueinander. Die beiden stabilsten Elemente, auf denen sie beruhen, sind einerseits die lokale und regionale Verwurzelung der unterschiedlichen Konfessionen und andererseits die frühzeitige Aneignung und lang andauernde Verinnerlichung des Verbots der Mischehe und des Konfessionswechsels. Wahrhafte „Gefängnisse von langer Dauer“ (F. Braudel), bleiben diese beiden Realitäten von Ende des 16. Jahrhunderts bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts praktisch unangetastet. Aber mit Ausnahme dieser beiden Grundelemente unterliegt die Mehrzahl der anderen für die konfessionelle Differenz konstitutiven Elemente oftmals derart grundlegenden Veränderungen, daß die konfessionellen Identitäten und die religiöse Pluralität, je nach der Perspektive, aus welcher man sie betrachtet, entweder als unveränderliche Strukturen oder, im Gegenteil, als sich permanent verändernde Strukturen erscheinen. Diese strukturelle Ambivalenz der konfessionellen Pluralität und Identitäten, die Tatsache, daß sie stabil und beweglich zugleich sind, erklärt nicht zuletzt ihre erstaunliche Fähigkeit, selbst im Prozeß der Säkularisierung zu überdauern und sich zu reproduzieren. Letzte Schlußfolgerung schließlich: So divers und variantenreich die durch den konfessionellen Pluralismus berührten Gebiete auch sein mögen, so klar ist es doch auch, daß sie sich bei weitem nicht auf die Totalität der sozialen Verhältnisse erstrecken – auch nicht in der Epoche, in welcher diese konfessionellen Identitäten ihren Höhepunkt erreichten –, und daß ganze Bereiche der Wirklichkeit der Konfessionalisierung vollkommen entgingen und entgehen. Die Existenz dieser weiten Bereiche der Indifferenz ist nicht nur negativ als Form der „Resistenz“ von Zwischenstrukturen gegenüber den kulturellen Determinanten zu interpretieren. Sie ist ebensosehr die Konsequenz eines breiten wie unausgesprochenen Konsenses, der auf der Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg beruhte und dafür Sorge trug, daß die konfessionelle Differenz

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nicht, indem sie zu weit ausgedehnt wurde, den Bürgerfrieden und die elementaren Regeln des sozialen Lebens gefährdete. In vielerlei Hinsicht hat man den Eindruck, daß sich die den Katholiken wie den Protestanten eigene Sorge, sich zu differenzieren, aber auch die Weise, in der sie sich voneinander zu unterscheiden suchten und suchen, letztendlich dazu beitrugen, ihr Zusammenleben zu ermöglichen und zu befrieden, d. h. dieses „Miteinander trotz und in der Trennung“ zu schaffen, das für jeden erfolgreichen Pluralismus charakteristisch ist. Diese vier Feststellungen genügen allerdings nicht, um die gesamte Tragweite der deutschen konfessionellen Identitäten zu erfassen. Sie münden vielmehr in eine Vielzahl offener Fragen, die ebenso viele Einladungen zu weiteren Forschungen darstellen. Eine erste Fragestellung müßte die Beschaffenheit und mehr noch die Entwicklung des Verhältnisses der Konfessionen zueinander seit dem 16. Jahrhundert bis in unsere Tage betreffen. Denn wenngleich Deutschland zur Heimstatt des Pluralismus wurde, so war dieser Pluralismus doch weder vollkommen befriedet noch vollkommen symmetrisch. Daher sollte sich die Forschung eingehender mit dem Ungleichgewicht zwischen den Konfessionen befassen, mit seiner Entwicklung in den jeweiligen Epochen und Bereichen, aber auch mit seinen Konsequenzen – handele es sich dabei um den dominanten Einfluß des Protestantismus auf die intellektuelle, literarische und philosophische Kultur der deutschen Länder oder um die Umkehrungen des Einflusses der einen oder anderen Konfession im politischen Leben Deutschlands (Überlegenheit des Katholizismus im späten 17. und beginnenden 18. Jahrhundert wie auch nach dem Zweiten Weltkrieg, Überlegenheit des Protestantismus im 16. und später im 19. Jahrhundert). Der zweite aufzunehmende Aspekt wäre derjenige der Kosten wie auch der mentalen und psychologischen Konsequenzen des zunächst aufoktroyierten, dann akzeptierten und angeeigneten Pluralismus. Bis in unsere heutigen Tage hinein ist dieser Pluralismus verbunden mit einer „Kultur des Mißtrauens“, die gewissermaßen seine notwendige Kehrseite bildet. Was waren die langfristigen (direkten oder indirekten) Folgen dieser „Kultur des Mißtrauens“? Wie und worin wurde dieser innerchristliche Pluralismus von der Emanzipation und dem Streben nach Assimilation der jüdischen Bevölkerung berührt? Warum hat sich dieser so schwer errungene Pluralismus einer Ausdehnung auf das Judentum widersetzt, mit all den bekannten tragischen Folgen? Des weiteren: Welche Beziehungen bestehen zwischen der Tiefe der konfessionellen Spaltungen, der Beharrlichkeit der „Kleinstaaterei“, dem verspäteten Charakter des deutschen Nationalgefühls und seinen extremen Auswüchsen im 19. und 20. Jahrhundert? Schließlich: Auf welche Art und Weise wirkt sich im heutigen Deutschland die „mißtrauische Komplizenschaft“ zwischen den christlichen Konfessionen auf den Islam aus, und auf welche Weise wiederum werden ihrerseits die Regeln des deutschen religiösen Pluralismus durch die Präsenz und die Herausforderung des Islam berührt?

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Ein dritter Fragenkomplex sollte sich mit der Natur und den Folgen der sich beschleunigenden Veränderungen befassen, deren Zeugen wir sind und die mit der Säkularisierung und den Konsequenzen der Wiedervereinigung zugleich zusammenhängen. Die Eingliederung Ostdeutschlands, welches das am meisten dechristianisierte Land des gesamten sowjetischen Blocks war, durch Westdeutschland hatte in der Tat eine doppelte Konsequenz: auf der einen Seite einen deutlichen Rückgang des relativen Gewichts, das den Kirchen und dem Christentum im Rahmen der deutschen Gesellschaft zukam (im wiedervereinigten Deutschland von 1992 war die Anzahl der Personen, die weder der einen noch der anderen der beiden großen christlichen Konfessionen angehörten, dreieinhalb Mal so groß wie diejenige der praktizierenden Gläubigen, und schenkt man den Ergebnissen einer Erhebung von 1995 Glauben, so bezeichnen sich 54% der Westdeutschen und nur 21% der Ostdeutschen als „religiös“); auf der anderen Seite offenbarte die Wiedervereinigung einen Grad der Säkularisierung der deutschen Gesellschaft, der weitaus mehr fortgeschritten war, als man es bis zu diesem Zeitpunkt angenommen hatte (von daher auch u.a. die spektakuläre Zunahme der Kirchenaustritte zu Beginn der 1990er Jahre). Handelt es sich hierbei nur um eine wesentlich der Wiedervereinigung geschuldete Übergangserscheinung, oder hat man es hier nicht eher mit einer grundlegenden Veränderung und einem wahrhaft qualitativen Sprung zu tun, die zu einer Infragestellung des Platzes der Kirchen in der deutschen Gesellschaft und darüber hinaus zu einem Verschwinden der jahrhundertealten konfessionellen Kulturen führen könnten? Schließlich wäre danach zu fragen, ob nicht im Rahmen eines sich auf der Basis des Pluralismus im Aufbau befindenden Europa das deutsche Modell des religiösen und konfessionellen Pluralismus, trotz seinen eindeutigen Verschleißerscheinungen, letztlich angemessener und zukunftsträchtiger ist als die Laizität nach französischer Art. (Aus dem Französischen von Effi Böhlke)

Europäischer Wertewandel am Ende des 20. Jahrhunderts. Ein internationaler Vergleich Hartmut Kaelble Von der jüngsten Geschichte der Werte fühlten sich Europäer meist stark betroffen, teils weil sie mit neuen Werten in ihrer unmittelbaren Umwelt, in ihrer Familie und Nachbarschaft, konfrontiert waren, teils weil sie sich selbst auf neue Werte einstellten oder im Zwiespalt befanden. Soziale, religiöse und politische Werte wandelten sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tiefgreifend, und zwar nicht nur einmal und nicht nur in einer Richtung. Die Wertewelt der Europäer um 1950 sah erheblich anders aus um 1970 und um 2000 lebten die Europäer wieder in einer veränderten Wertewelt. Dieser Wertewandel war teilweise eine „stille Revolution“, teilweise ging er auf öffentliche Debatten in Medien, auf soziale Bewegungen, auf staatliche Eingriffe und Erziehung zurück. Gleichzeitig vollzog sich in diesem Themenbereich eine besonders auffällige Uminterpretation der Geschichtsschreibung. Um 1970 wurden Wertewandel und Religiosität noch nicht als wichtige Gegenstände der Zeitgeschichte angesehen und deshalb von Historikern oft überhaupt nicht behandelt. Wenn überhaupt auf Wertewandel und Religiosität eingegangen wurde, standen andere Tendenzen als heute im Vordergrund: vor allem der Rückgang der Familienbindung und der Milieubindung, die Säkularisierung, die Distanzierung von Primärwerten wie Pflicht, Fleiß, Gehorsam. Um 2000 dagegen sind Wertewandel und Religiosität zu Standardthemen der jüngeren Geschichte Europas geworden. Andere Tendenzen werden ins Zentrum gestellt: die unverminderte Stärke der Familienbindung und der Einbindung in lokale Netzwerke am Arbeitsplatz und im Wohnviertel, die Auswirkung von Werten auf Leistung, die neue Religiosität. Heinz Schilling hat sehr viel zu dieser Veränderung der Interpretation der Geschichte der Werte, insbesondere der religiösen Werte, beigetragen. Zum Wertewandel und zur Religiosität in Europa wurden in den letzten Jahren eine ganze Reihe von internationalen Vergleichen geschrieben. Trotzdem fehlen bisher Überblicke über die europäische Gesamtentwicklung. Die einflußreichen Untersuchungen von Ronald Inglehart und von Henri Mendras sind eher sozialwissenschaftliche Monographien, behandeln nicht das volle halbe Jahrhundert zwischen 1945 und 2000. Die Überblicke über die Geschichte der Religion von René Rémond, von Giacomo Marramao und von Henk van Dijk behandeln umgekehrt weit größere Zeiträume und können deshalb kein trenn-

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scharfes Bild von den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts geben. Die schönen Überblicke von Detlef Pollack und Gert Pickel, die genau diesen Zeitraum behandeln, beschränken sich auf Religion und zudem auf das östliche bzw. westliche Europa1. Die grundsätzlichen Fragestellungen zu Wertewandel und Religiosität in der Zeitgeschichte wurden allerdings in diesen Büchern und Aufsätzen sehr klar umschrieben. Es geht um den Wandel von Werten und um die Frage, ob es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tatsächlich eine Abwendung von den Werten der Familienbindung, den Leistungswerten im Beruf, der Loyalitäten in der Politik, eine Abkehr von Primärtugenden wie Fleiß, Gehorsam, Disziplin, eine Hinwendung zu Sekundärtugenden wie Rücksichtnahme, Toleranz, Verantwortungsbewußtsein, Selbstentfaltung gab und ob auch der Säkularisierungsprozeß tatsächlich immer weiter fortschritt. Es geht weiter um innereuropäische Divergenzen und um die Frage, ob sich Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tatsächlich in zwei unterschiedliche Wertewelten spaltete, in eine westeuropäische Wertewelt, in der Selbstverwirklichung, individuelle Freiheit, Risikobereitschaft, Demokratie, Menschenrechte und internationale Friedenssicherung immer breiter akzeptiert wurden, und in eine osteuropäische Wertewelt, in der soziale Sicherheit, öffentliche Ordnung, hoher Lebensstandard, Angst vor Hegemonie und vor dem Verlust der nationalen Souveränität höchste Priorität erhielten. Es wird schließlich drittens gefragt, ob es im späten 20. Jahrhundert ein gemeinsames Europa der Werte und der Religiosität gab und durch welche Werte sich dieses Europa von außereuropäischen Gesellschaften unterschied, durch besondere Einstellungen zur Gewalt und Todesstrafe, zu Staat und öffentlicher sozialer Sicherung, zu Ethnie und Rassekon___________ 1

Vgl. R. Rémond, Religion und Gesellschaft in Europa, München 2000; R. Rémond, Société sécularisée et renouvaux réligieux: Xxe siècle, Paris 1992 (Histoire de la France réligieuse, Bd. 4); H. van Dijk, Religion and Secularisation in West European Perspective, in: H. Kaelble (Hrsg.), The European Way, New York/Oxford 2004; G. Marramao, Die Säkularisierung der westlichen Welt, Frankfurt 1996; Gert Pickel, Religiosität und Kirchlichkeit in Ost- und Westeuropa. Vergleichende Betrachtungen religiöser Orientierungen nach dem Umbruch in Osteuropa, in: Detlef Pollack/Irena Borowik/Wolfgang Jagodzinski (Hrsg.), Religiöser Wandel in den postkommunistischen Ländern Ost- und Mitteleuropas, Würzburg 1998, 55–85; Detlef Pollack, Einleitung. Religiöser Wandel in Mittel- und Osteuropa, in: ebd.; Detlef Pollack, Religiös-kirchlicher Wandel in Mittelund Osteuropa – ein Überblick, in: Horst Dähn/Ralf Rytlewski (Hrsg.), Säkularisierung in Osteuropa. Ursachen und Folgen, Berlin 2000; vergleiche zudem: O. Blaschke (Hrsg.), Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2002; F. W. Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, 2. Auflage, München 2004; H. Joas/K. Wiegandt (Hrsg.), Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt 2005; K. Nowak, Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München 1995; H. Schilling, Nationale Identität und Konfession in der europäischen Neuzeit, in: B. Giesen (Hrsg.), Nationale und kulturelle Identität, Frankfurt am Main 1991, 192–252.

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zepten, zu Einwanderung, Nation und Staatsbürgerschaft, zu Umwelt und Energieverbrauch, zur Friedenssicherung und zu Krieg, zu multilateralen Verhandlungen und Einsatz von Militär, auch durch eine weitergehende Säkularisierung als in den USA oder in Lateinamerika oder in Indien oder in Afrika. Dazu gehört auch die Frage, wo die räumlichen Grenzen dieses gemeinsamen Europas der Werte im späten 20. Jahrhundert lagen2. Dieser Beitrag beschränkt sich auf die erste dieser Fragen, auf den Wandel der Werte. Er beginnt mit einem knappen Aufriß einiger wichtiger Konzepte, die die jüngste Geschichte der Werte und der Religiosität behandeln. Er verfolgt danach den Wandel der Werte in den verschiedenen Epochen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dafür stützt sich der Beitrag meist auf die europäischen und weltweiten Werteuntersuchungen, die seit den 1980er Jahren durchgeführt wurden. Die Entwicklung in der Zeit davor wird aus den Veränderungen der Werte zwischen älteren und jüngeren Altersgruppen in den Umfragen der 1980er und 1990er Jahre zu erschließen versucht. Man kann dieses Verfahren für den Wertewandel verwenden, weil Werte im wesentlichen im Jugendalter und im jungen Erwachsenenalter ausgeprägt werden und sich danach in der Regel nur noch wenig ändern. Allerdings lassen sich auf diese Weise nur grobe Tendenzen erfassen. Der Beitrag beschränkt sich zudem auf Werte, also auf Normen, Vorstellungen, Absichten. Wie sie in Handlungen umgesetzt wurden, läßt er offen. Er konzentriert sich zudem weitgehend auf Westeuropa, da nur für Westeuropa genügend dichte Umfragen über Werte, aufgeteilt nach Altersgruppen, durchgeführt wurden. Erst für die 1990er Jahre läßt sich Europa als Ganzes behandeln.

I. Konzepte des Wertewandels Der tiefgreifende Wandel der Werte in Europa während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat in den Sozialwissenschaften ganz verschiedene Namen erhalten. Es sei nur auf drei besonders bekannte und einflußreiche Konzepte verwiesen. Der Politikwissenschaftler Ronald Inglehart hat diesen Wandel mit dem Konzept des Übergangs von materiellen zu postmateriellen Werten zu fassen versucht. Materielle Werte bewerten einen hohen Lebensstandard, große öffentliche Sicherheit gegen Kriminalität, die starke Autorität des Staates, der ___________ 2

Dieser Beitrag ist ein Ausschnitt aus einer geplanten Sozialgeschichte Europas 1945–2000, in dem auch die anderen genannten Fragen der innereuropäischen Divergenzen und der europäischen Besonderheiten in der Geschichte der Werte behandelt wird. Das Buch soll beim Beck-Verlag erscheinen.

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Gewerkschaften, der Unternehmen, der Kirchen besonders hoch. Postmaterielle Werte dagegen geben der individuellen Selbstverwirklichung, dem zivilen sozialen Umgang, der Bindung an kleine Gruppen und soziale Bewegungen, der Partizipation, den Menschenrechten und der internationalen Zusammenarbeit eine besondere Priorität. Die Verschiebung von materiellen zu postmateriellen Werten fand nach Inglehart seit den 1960er und 1970er Jahren statt. Sie vollzog sich langsam, da sich Werte in der Regel nur dadurch wandeln können, daß eine neue Generation im Jugendalter und frühen Erwachsenenalter andere Werte übernimmt, während sich innerhalb derselben Generation mit steigendem Alter Werte kaum verändern. Ronald Inglehart untersuchte diesen Wertewandel in Europa und auch weltweit und wertete dafür die seit 1981 mehrfach durchgeführten europäischen Wertestudien und Weltwertestudien aus3. Der Soziologe Henri Mendras und mit ihm viele andere Soziologen sprechen dagegen von einem Individualisierungsprozeß, der in Europa in einer großen Vielfalt von nationalen und regionalen Varianten abläuft. Mit Individualisierung ist eine Ablösung von der starken Bindung an Milieus gemeint. Bindungen an soziale Milieus wie das Bürgertum, die industrielle Arbeiterklasse, das bäuerliche Milieu und das kleinbürgerliche Milieu schwächten sich ebenso ab wie Bindungen an konfessionelle Milieus und an ethnische Milieus. Individualisierung meint darüber hinaus auch eine Ablösung von den Werten der lebenslangen, legalisierten Zwei-Eltern-Familie verbunden mit einer Arbeitsteilung zwischen außer Haus arbeitendem Ehemann und der für Hausarbeit und Kindererziehung verantwortlichen Ehefrau. Statt dessen setzte sich eine individuelle Wahl zwischen einer ganzen Reihe von Familienmodellen und unterschiedlichen Familienwerten durch. Individualisierung meint zudem eine Lockerung der dauerhaften, lebenslangen Bindung und Abschwächung der unbedingten Loyalität und des Gehorsams gegenüber Großorganisationen wie Nation, Gewerkschaft, Kirche. Neue freiwillige, in individueller Entscheidung eingegangene Engagements und Bindungen an Freundesnetze, an Assoziationen, an Freikirchen und private Formen der Religion entstanden, konnten aber auch rasch wieder aufgelöst und ausgetauscht werden. Engagement als Wert erhielt sich, aber die Dauerhaftigkeit von Bindung verlor ihren vorrangigen Wert. Zur Individualisierung gehört in der Regel auch eine Verschiebung der vorrangigen Erziehungswerte, eine Abschwächung von überindividuellen Werten wie Treue, Gehorsam, Disziplin und eine Verstärkung von individuelleren Werten wie Selbstentfaltung, persönliche Verantwortung, Risikobereitschaft, Toleranz. Entscheidende Ursachen für diesen Individualisierungsprozeß war ___________ 3 R. Inglehart, Kultureller Umbruch. Wertewandel in der westlichen Welt, Frankfurt 1995; ders., Globalization and postmodern Values, Washington Quarterly (Winter 2000); ders., Modernization and postmodernization. Economic and political Change in 43 societies, Princeton 1997; ders./P.R.Abramson, Value change in global perspective, 1995.

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die umfassende soziale Sicherung durch den Wohlfahrtsstaat, die besseren Bildungschancen, der günstige Arbeitsmarkt vor allem auch für Frauen, die größere geographische Mobilität4. Mit all dem verbunden ist schließlich speziell für die Religiosität das Konzept der Säkularisierung entwickelt worden, das viele Bedeutungen besitzt. Mit Säkularisierung meint man im Allgemeinen drei verschiedene Prozesse, die eng miteinander zusammenhängen, aber im Folgenden nicht alle im Zentrum stehen können. Man versteht erstens darunter den Rückgang der politischen Macht der Kirchen, die Abschwächung ihres Einflusses auf die Politik, das Ende ihrer weltlichen Aufgaben von der Königskrönung bis hin zur Führung von Geburts, Heirats- und Sterberegistern, auch den Rückgang des riesigen Kirchenbesitzes. Diese Säkularisierung war längst vor 1945 vollzogen, endete in einer großen Vielfalt von Verhältnissen zwischen Staat und Kirche in Europa, manchmal in einer strikten Trennung von Staat und Kirche wie in Frankreich, manchmal in einer vielfältigen Einbindung der Kirchen in staatliche Sozialund Bildungsaufgaben wie in Deutschland. Diese Säkularisierung ist Thema früherer historischer Epochen. Unter Säkularisierung versteht man zweitens eine zurückgehende Bedeutung der Kirchen für die leitenden Werte und Sinngebungen einer Gesellschaft. Die ursprünglich zentrale Rolle der Religion für die Sinngebung aller Bereiche der menschlichen Tätigkeit schrumpfte in einem Desakralisierungsprozeß. Verschiedene Sphären wie Wirtschaft, Politik, Kunst, Wissenschaft und auch Religion differenzierten sich aus und verselbständigten sich, entwickelten ihre eigenen Normen, Sinngebungen, Werte, Sprachen. Wenn überhaupt, dann spielte nur noch die politische Sphäre eine übergreifende Rolle. Den Kirchen blieb nur noch die Sphäre der Religion. Sie boten nur noch Dienstleistungen in diesem Bereich der menschlichen Bedürfnisse an. Auch diese Säkularisierung vollzog sich längst vor der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Unter Säkularisierung versteht man drittens die Schwächung der Bindung an die Kirchen, den Rückgang der Kirchenmitgliedschaft und des Besuches der Gottesdienste, die zurückgehende Erwartung auf Rat und Hilfe der Kirche in persönlichen Krisensituationen, die nachlassende Nutzung kirchlicher Riten bei den grundlegenden Ereignissen des privaten Lebens, der Geburt, des Übergangs zum Jugendalter, der Heirat und des Todes, die zunehmende Privatisierung der Religion. Diese Art von Säkularisierung konnte verschiedene Gründe haben: Zwänge und Pressionen von Seiten der Politik; gesellschaftliche Modernisierung, Verstädterung, Verwissenschaftlichung und Bildungsexpansion, soziale Sicherung; und auch die Abkapselung der Kirchen gegenüber sozialem und kulturellem Wandel. Diese Art der Säkularisierung setzte ebenfalls ___________ 4

H. Mendras, La seconde révolution française 1965–1984, Paris 1988; ders., L'Europe des européens. Sociologie de l'Europe occidentale, Paris 1997; vgl. auch P. Ester/ L. Halman/R.de Moor (Hrsg.), The individualizing society. Value Change in Europe and North America, Tilburg 1994.

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längst vor der Mitte des 20. Jahrhunderts ein, hat aber in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wichtige Entwicklungsschübe durchlaufen. Deshalb wird im folgenden vor allem diese Art von Säkularisierung behandelt5. Der Wandel der Werte und der Religiosität entwickelte sich allerdings in dem halben Jahrhundert zwischen 1945 und 2000 nicht einfach in der Richtung dieser drei Konzepte. Er war komplizierter, wie man bei dem Durchgang der drei Epochen, der unmittelbaren Nachkriegszeit, der 1960er bis 1980er Jahre und dann der 1990er Jahre sehen kann. Diese Epochen sollen eine nach der anderen durchgegangen werden.

II. Die widersprüchliche Nachkriegszeit Die Entwicklung der Werte und der Religiosität in der Nachkriegszeit paßt nur schwer in diese Konzepte. Setzt man diese Konzepte als Maßstab, dann entwickelten sich die Werte höchst widersprüchlich. Einerseits zwang die materielle Not der Nachkriegszeit zu einer Orientierung auf materielle Werte, auf Sicherung des nackten Überlebens und auf Verbesserung des Lebensstandards, auf die Rückkehr zur öffentlichen Ordnung, die in weiten Teilen Europas in der unmittelbaren Nachkriegszeit verfallen war, auf eine starke Bindung an Milieus, die Hilfe in der Notlage bieten konnten, an Klassenmilieus ebenso wie an kirchliche Milieus oder an ethnische Milieus. Die Mitgliedschaften in Kirchen nahmen überall in Europa zu, trotz mancher Verstrickung in die Diktaturen. Der Säkularisierungsprozeß setzte sich nicht fort, sondern schlug eher in das Gegenteil um. Auch die Gewerkschaftsmitgliedschaften, auf die im Kapitel über soziale Bewegungen zurückzukommen ___________ 5 Vgl. neben den in Anm. 1 genannten Arbeiten: G. Davie/D. Hervieu-Léger (Hrsg.), Identités religieuses en Europe, Paris 1996; L. Halman et al., The religious factor in contemporary society, in: International Journal of Comparative Sociology 40 (1999); D. Hervieu-Léger, Religiöse Ausdrucksformen der Moderne. Die Phänome des Glaubens in den europäischen Gesellschaften, in: H. Kaelble/J. Schriewer (Hrsg.), Diskurse und Entwicklungspfade, Frankfurt 1999; Hartmut Lehmann, Säkularisierung. Der europäische Sonderweg in Sachen Religion, Göttingen 2004; H. Schilling, Nationale Identität und Konfession in der europäischen Neuzeit, in: B. Giesen (Hrsg.), Nationale und kulturelle Identität, Frankfurt 1991; G. Besier, Kirche, Politik und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, München 2000; K. Gabriel, Christentum zwischen Tradition und Postmoderne, Freiburg 1992; K. Gabriel, The post-war generation and institutional religion in Germany, in: W. C. Roof et al. (Hrsg.), The post-war generation and establishment religion, Boulder 1995; Chr. Halbrock, Evangelische Pfarrer der Kirche Berlin-Brandenburg, 1945–1961, Berlin 2004; (Vergleich mit Polen, Tschechoslowakei, Ungarn) L. Halman et al., The religious factor in contemporary society, in: International Journal of comparative sociology 40 (1999), R. Köcher, Zur Entwicklung der religiösen und kirchlichen Bindungen in Deutschland und Frankreich, in: dies./J. Schild (Hrsg.), Wertewandel in Deutschland und Frankreich, Opladen 1998.

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sein wird, erreichten eine Zahl wie nie zuvor oder danach in der europäischen Geschichte. Nationale Bindungen nahmen in vielen Ländern zu. Andererseits war die Nachkriegszeit auch eine Epoche der Individualisierung, wenn auch oft durch die Umstände erzwungen. Die traditionellen Hierarchien in den Familien wurden von den Jugendlichen weniger als je zuvor und danach akzeptiert. Die vom Krieg heimkehrenden jungen Soldaten hatten sich weitgehend aus den Familienhierarchien gelöst. Die jungen Frauen lebten ein von ihren Familien oft losgelöstes Leben oder wünschten sich das jedenfalls und gerieten in Konflikt vor allem mit den Vätern. Die Ehefrauen hatten sich während des Kriegs an Selbständigkeit gewöhnt und waren oft nicht mehr bereit, den alten Familienwerten und Eherollen zu folgen. Die existentialistische Philosophie, die das Geworfensein des Menschen in seine Situation beklagte, war in der Nachkriegszeit besonders populär.

III. Wertewandel der 1960er bis 1980er Jahre: Die Zeit der Individualisierung und Säkularisierung Die eigentliche Zeit des Individualisierungsprozesses, des Übergangs von materiellen zu postmateriellen Werten und eines neuen Schubs der Säkularisierung waren die Jahrzehnte zwischen den 1960er und den 1980er Jahren. In dieser Zeit entwickelten Mendras und Inglehart ihre Konzepte. Genau zeitlich abgrenzen läßt sich diese Epoche des Wandels nicht. Sie ist auch von Land zu Land verschieden. In diesen Jahrzehnten wandelten sich die politischen Werte, die Familienwerte, die Arbeitswerte und die Religiosität grundlegend. In dieser Epoche vollzog sich der Wertewandel, den man von der Individualisierung erwartet: die wachsende Permissivität. In den europäischen Werteumfragen wurde die Permissivität an der Hinnahme von Homosexualität, von Abtreibung, von Scheidung und von Sterbehilfe, manchmal auch von ehelichen Seitensprüngen und von Prostitution gemessen, wobei es nicht darum ging, ob die Befragten das alles selbst praktizierten. Diese Permissivität nahm in den 1980er Jahren in fast allen westeuropäischen Gesellschaften deutlich zu. Dieser Wertewandel beruhte weniger auf einem Sinneswandel der einzelnen Altersgruppen, zumindest nicht zwischen 1981 und 1990, sondern auf einer allmählichen Zunahme der Permissivität zwischen den Altersgruppen. Die erdrückende Mehrheit der Älteren lehnte 1990 Homosexualität, Scheidung, Prostitution (nicht dagegen Abtreibung) ab, während eine große Mehrheit der Jungen sie akzeptierte. Der Wandel setzte schon in den älteren Altersgruppen ein, die ihre Wertewelt in den fünfziger Jahren ausgebildet hatten. Dabei ist nichts von einer bestimmten, besonders bewegten Altersgruppe zu erkennen, die die Permissivi-

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tät auf einen Schlag durchsetzte, etwa von einer besonders permissiven Generation von 19686. Man versteht diese wachsende Permissivität nicht ohne einen zweiten Wertewandel: Das Vertrauen in die Mitmenschen stieg in den meisten westeuropäischen Ländern deutlich an, und zwar nicht nur in die Angehörigen der engeren Familie, sondern auch in die Mitmenschen außerhalb der Familie. Auch dies war ein längerer allmählicher Prozeß. In jeder Altersgruppe wurde dieses Vertrauen in die Mitmenschen etwas größer. Die jüngeren Altersgruppen besaßen in ihrer großen Mehrheit Vertrauen zu den Mitmenschen. Die Älteren, die oft noch den Verfall der mitmenschlichen Hilfe im Krieg und während der unmittelbaren Nachkriegszeit miterlebt hatten, mißtrauten den Mitmenschen dagegen noch überwiegend7. Allerdings war das Vertrauen in die Mitmenschen unter den Europäern insgesamt nicht sehr groß. Nur in wenigen Ländern, vor allem in skandinavischen Ländern und in den Niederlanden, hatte in den 1980er Jahren die Mehrheit Vertrauen in den Anderen außerhalb der Familie. In der großen Masse der europäischen Länder traute nur eine Minderheit dem Anderen. Dieses zivile Mißtrauen gegenüber dem Anderen hatte in Europa eine lange Tradition. Es war durch die Erfahrung der beiden Weltkriege und der Gewalt in politischen Auseinandersetzungen massiv verstärkt worden. Dieses Mißtrauen bestand deshalb in den 1980er Jahren in alten Demokratien wie Frankreich, Großbritannien und Belgien ebenso wie in Ländern, die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts eine Diktatur erlebt hatten wie Deutschland oder Italien und auch in Ländern, die damals gerade eine lange Diktaturperiode hinter sich hatten wie Tschechien oder Polen, Ungarn, Rußland oder Bulgarien. Es mag erstaunlich sein, aber die Kriegs- und Gewalterfahrung war offensichtlich auch in Ländern mit langer Demokratieerfahrung beherrschend, wo man weniger Mißtrauen in Mitmenschen erwarten würde. Erst unter den jüngeren Europäern milderte sich diese Kultur des Mißtrauens allmählich ab8. Die Werte der Toleranz gegenüber Minderheiten veränderte sich dagegen zwischen den 1960er und 1980er Jahren erstaunlich wenig. Die große Masse der Europäer hatte um 1980 nichts gegen Immigranten oder gegen einen Angehörigen einer anderen Religion als Nachbarn einzuwenden. Auch als diese Fra___________ 6 European values study. Offizielle Homepage. Umfragen 1981, 1990, 1999–2000; S. Ashford/N. Timms, What Europe thinks. A study of Western European Values, Aldershot 1992, 136. 7 European values study. Offizielle Homepage. Umfragen 1981, 1990, 1999–2000; dagegen: S. Ashford/N.Timms, What Europe thinks. A study of Western European Values, Aldershot 1992, 12 (geringes Vertrauen in Mitmenschen außerhalb Familie, auch keine Veränderung). 8 European values study. Offizielle Homepage. Umfragen 1981, 1990, 1999–2000.

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ge 1990 detaillierter gestellt und nach jüdischen, moslemischen, hinduistischen Nachbarn gefragt wurde, blieb die überwiegende Mehrheit der Europäer quer durch alle westeuropäischen Länder bei dieser toleranten Einstellung, und zwar besonders gegenüber jüdischen Nachbarn. Die Toleranz bestand dagegen weit weniger gegenüber Alkoholikern und, als 1990 danach gefragt wurde, auch gegenüber Drogenabhängigen. Rund die Hälfte der Westeuropäer, jüngere wie ältere, tolerierte solche Nachbarn nicht, bei Alkoholikern mit großen Unterschieden zwischen Nordeuropa und Kontinentaleuropa wegen ihren ganz verschiedenen Trinkkulturen. Den öffentlichen Institutionen begegnete man zwischen den 1960er und 1980er Jahren im westlichen Europa – sicher ähnlich wie im östlichen Europa – mit immer mehr Mißtrauen. Eine Mehrheit, wenn auch meist eine knappe Mehrheit der Westeuropäer, mißtraute der Armee, der staatlichen Verwaltung, aber auch dem Parlament, der Presse, den Gewerkschaften und den Großunternehmen. Die Kirchen und die Sozialsysteme erreichten nur das Vertrauen der Hälfte der Europäer. Weiter zugenommen hat dieses Mißtrauen in den 1980er Jahren vor allem gegenüber der Armee, aber auch gegenüber den Kirchen, dem Rechtssystem, der Polizei und den Parlamenten. Nur die Polizei und das Erziehungssystem besaßen das Vertrauen einer deutlichen Mehrheit, und das Vertrauen in das Erziehungssystem stieg sogar noch. Insgesamt sank das Vertrauen in die öffentlichen Institutionen. Dieser Vertrauensverlust setzte nicht erst in den 1980er Jahre ein, sondern begann schon früher. Er war schon in den Alterskohorten zu beobachten, die ihre politischen Werte in den 1950 und 1960 Jahren ausbildeten9. Gleichzeitig faßten die Westeuropäer immer mehr Vertrauen in eigene politische Aktionen. Am populärsten waren Petitionen und Demonstrationen, die zumindest bei den Jüngeren die Sympathie einer großen Mehrheit besaßen. Boykotte fanden eine knappe Mehrheit zumindest unter den Jüngeren, während in Hausbesetzungen und wilde Streiks die Mehrheit der Westeuropäer, jüngere wie ältere, wenig Vertrauen hatten. Auch dieses Vertrauen in die eigene politische Aktion wuchs nicht erst in den 1980er Jahren, sondern hatte schon in den Jahrgängen zugenommen, die sich ihre politische Wertewelt in den 1960er und 1970er Jahren gebildet hatten. Insgesamt sank also in den 1960er bis 1980er

___________ 9

S. Harding/D. Phillips/M. Fogarty, Contrasting values in Western Europe. Unity, diversity and change, London 1986, 95; S. Ashford/N. Timms, What Europe thinks. A study of Western European Values, Aldershot 1992, 16, 132ff.; European values study. Offizielle Homepage. Umfragen 1981, 1990, 1999–2000.

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Jahren das Vertrauen in die öffentlichen Institutionen, während das Vertrauen in die Mitmenschen und in die eigenen politischen Aktionen stieg10. Eng verbunden mit dem wachsenden Vertrauen in den Anderen und in die eigenen politischen Aktionen veränderten sich in den 1960er bis 1980er Jahren auch die Familienwerte der Europäer. Die familiären Erziehungsziele konzentrierten sich zwischen 1981 und 1990 eindeutiger auf innengeleitete Erziehungsziele: Toleranz und Verantwortungsgefühl, Ehrlichkeit, gute Umgangsformen wurden zu den beherrschenden familiären Erziehungswerten und gewannen an Akzeptanz erheblich dazu. Außengeleitete Werte wie Gehorsam, Selbstlosigkeit, Geduld, Sparsamkeit wurden zwar von einer wachsenden Minderheit der Europäer zäh beibehalten, stießen aber in den 1980er Jahren bei weitem nicht auf den Konsens wie die innengeleiteten Werte. Das Ehemodell änderte sich. Die Werte der lebenslangen Zweielternfamilie mit strikter Arbeitsteilung zwischen Ehemann und Ehefrau verloren nach und nach an Boden. Die Vorstellungen von der Mutterrolle wandelten sich. Die Mehrzahl der Westeuropäer – mit Ausnahme der Westdeutschen – hielt 1990 eine erwerbstätige Mutter für eine genauso gute Mutter wie eine reine Hausfrau, jedenfalls ab dem Schulalter der Kinder. Die Mehrzahl der Europäer erwartete auch, daß Ehefrauen mitverdienten. Die strikte Ablehnung der Ehescheidung ging zurück. 1980 lehnten sie noch zwei Drittel der Westeuropäer, 1990 nur noch rund die Hälfte ab. Auch dieser Wertewandel hatte schon in den 1960er Jahren eingesetzt. In jeder Alterskohorte wurde die Ablehnung etwas weniger strikt. Unter den jungen erwachsenen Westeuropäern lag sie 1990 nur noch bei einem Drittel. Vor allem bei Gewalttätigkeit, Untreue, Trunksucht eines Ehepartners, aber auch bei einem Auseinanderleben der Ehepartner, war die Scheidung schon um 1980 überall in Europa ebenso breit akzeptiert wie die Abtreibung. Gegen eheliche Seitensprünge hatte noch die Mehrheit der älteren Jahrgänge etwas einzuwenden, schon nicht mehr die Jahrgänge, die sich seit den siebziger Jahren ihre Familienwerte gebildet hatten. Die Billigung der Homosexualität nahm zu. Auch dieser Wertewandel beruhte nicht primär darauf, daß die Europäer im Laufe der Jahre ihre Werte veränderten, alte Werte ablegten und sich neuen Werten zuwandten, sondern darauf, daß die jüngeren Europäer andere Werte besaßen als die älteren. Auch in diesem Wertewandel gab es keinen einzigartigen und tiefen Generationsbruch durch eine besonders revolutionäre neue Generation. Auch er setzte sich allmählich von den Jahrgängen, die ihre Werte in den 1940er Jahre entwickelt hatten, bis zu jungen Erwachsenen der frühen 1980er Jahre durch. Aber auf jeden Fall gehörten zu diesem Wertewan-

___________ 10 S.Ashford/N.Timms, What Europe thinks. A study of Western European Values, Aldershot 1992, 134; European values study. Offizielle Homepage. Umfragen 1981, 1990, 1999–2000.

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del der 1960er bis 1980er Jahre in Europa erhebliche Spannungen und wenig Konsens zwischen den Altersgruppen11. Allerdings hatte dieser Wandel der Familienwerte während der 1960er bis 1980er Jahre auch klare Grenzen. Die Bedeutung der Familie nahm in den Augen der überwiegenden Mehrheit der Europäer nicht ab, sondern sogar weiter zu. Auch unter den jüngeren Europäern sah nur eine Minderheit die Familie als eine veraltete Institution an, 1990 sogar eine etwas kleinere Minderheit als 1981. Die Werte, nach denen sich eine gute Ehe richten sollte, also Toleranz, wechselseitiger Respekt und Treue, blieben bemerkenswert stabil. Ältere und Jüngere waren sich darin einig. Noch in den 1980er nahmen in den meisten westeuropäischen Ländern Familienwerte, die heutige Soziologen als traditionell einstufen, wie etwa die Aufopferung der Eltern für ihre Kinder, die bedingungslose Kinderliebe, die Bevorzugung der Zwei-Eltern-Familie vor der EinEltern-Familie sogar zu und verloren – wie wir gleich noch sehen werden – erst in den 1990er Jahren in den meisten europäischen Ländern an Boden. Es wäre daher eine Fehleinschätzung, die 1960er bis 1980er Jahre grundsätzlich als eine Zeit des Verfalls der Familienwerte anzusehen12. Die Arbeitswerte änderten sich zwischen den 1960er und 1980er Jahren ebenfalls. Allerdings wurde der Wandel unterbrochen durch eine wichtige Trendveränderung während der 1980er Jahre. Der Wandel der Arbeitswerte hing eng mit der zunehmenden Selbstverantwortlichkeit, mit dem wachsenden Vertrauen in den Anderen und in die eigene politische Aktion zusammen. Seit den 1960er Jahren hatte die Mitentscheidung der Beschäftigten unter den Westeuropäern erheblich an Boden gewonnen. Die Jüngeren brachten ihr deutlich mehr Sympathien entgegen als die Älteren. Aber in den 1980er Jahren änderte sich in allen Altersgruppen dieser Trend: Die Alleinentscheidung der Unternehmer gewann wieder mehr an Unterstützung. Die Unterschiede zwischen den Altersgruppen nahmen deutlich ab. Ähnlich das Leistungsprinzip in der Arbeit. Es hatte zwischen den 1960er und 1980er Jahren erheblich an Anhängern verloren. Noch 1980 waren die jüngeren Westeuropäer davon weniger überzeugt als die älteren Europäer. In den 1980er Jahren änderte sich auch dieser Trend. Um 1990 hatte das Leistungsprinzip wieder eindeutig die Oberhand. Ein breiter Konsens zwischen allen Altersgruppen über eine Bezahlung nach Leistungsprinzip war entstanden. Die Europäer entwickelten zudem immer ent___________ 11

R. Inglehart, Kultureller Umbruch. Wertewandel in der westlichen Welt, Frankfurt 1995, 246, 512f.; S. Harding/D. Phillips/M. Fogarty, Contrasting values in Western Europe. Unity, diversity and change, London 1986, 20f., 126 (familiäre Erziehungsziele, Scheidungen); S. Ashford/N. Timms, What Europe thinks. A study of Western European Values, Aldershot 1992, 63ff., 119ff., 136 (familiäre Erziehungsziele; erwerbstätige Mütter, Scheidungen). 12 S. Ashford/N. Timms, What Europe thinks. A study of Western European Values, Aldershot 1992, 67, 122, 135.

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schiedenere Vorstellungen von ihrem Arbeitsplatz. Ob Arbeit gut bezahlt wurde, ob ein Arbeitsplatz sicher war, ob die persönlichen Leistungen am Arbeitsplatz eingebracht werden konnten, ob das Arbeitsklima angenehm war, interessierte die Europäer mehr und mehr. Ihre Meinungen wurden bei Umfragen zunehmend entschiedener. Anders als manche Autoren annehmen, gab es dabei allerdings keinen eindeutigen Trend zu mehr postmateriellen Arbeitswerten. Sowohl materielle Arbeitswerte, also gute Bezahlung und Arbeitsplatzsicherheit, als auch postmaterielle Arbeitswerte, also persönliche Entfaltungsmöglichkeiten am Arbeitsplatz und gutes Arbeitsklima, wurden wichtiger genommen als früher13. Allerdings hatte der Wandel der Arbeitswerte auch seine Grenzen. Für die Mehrheit der Europäer blieb der Arbeitsplatz zentral in ihrem Leben. Sie lehnten es jedenfalls ab, daß Arbeit weniger wichtig für das Leben werden solle. Die Zufriedenheit mit der Arbeit änderte sich kaum, unterschied sich auch zwischen den verschiedenen Altersgruppen wenig. Daß Vorgesetzte nicht nur befehlen, sondern überzeugen sollten, blieb ebenfalls breiter Konsens. Gleichzeitig blieb unter Westeuropäern umstritten, wie die Entscheidungshierarchie in Unternehmen auszusehen hatte. Die Alleinentscheidung der Unternehmer und die Partizipation der Beschäftigten hatten unverändert ungefähr gleich viel Anhänger. Dagegen fand die Verstaatlichung der Wirtschaft oder Arbeiterselbstverwaltung unter den Westeuropäern unverändert und in allen Altersgruppen keine Unterstützung14. Für diesen Wandel der Werte zwischen den 1960er und 1980er Jahren werden drei ganz unterschiedliche Erklärungen angeboten. Eine erste Erklärung argumentiert, daß der Wertewandel im wesentlichen eine Wohlstandsfolge war. Die kontinuierlich steigenden Einkommen, die hohe Arbeitsplatzsicherheit, die zunehmende Bildung, die immer besser ausgebaute soziale Sicherung führte zu wachsender Individualisierung. Solange der Wohlstand nicht wieder einbricht, werden sich auch die individualisierten Werte erhalten. Erst dieser wachsende Wohlstand der westeuropäischen Gesellschaften schuf Raum für die individualistischeren Werte. Eine zweite Erklärung sieht den Wandel der Werte durch politische und kulturelle Akteure, durch Intellektuelle und Experten, durch Medien und soziale Bewegungen wie die Studentenbewegung durchgesetzt. Der Wertewandel war demnach keine stille Revolution der Masse der Bürger, sondern ein gewollter und erfolgreich herbeigeführter Wertewandel. Eine dritte Erklärung sieht im Wertewandel das Ergebnis dieser bestimmten Situation, zu ___________ 13

S. Ashford/N. Timms, What Europe thinks. A study of Western European Values, Aldershot 1992, 117f.; European values study. Offizielle Homepage. Umfragen 1981, 1990, 1999–2000. 14 S. Ashford/N. Timms, What Europe thinks. A study of Western European Values, Aldershot 1992, 134.

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der nicht nur der Wohlstand, sondern auch der Generationskonflikt zwischen Kriegs- und Nachkriegsgeneration, der massive Einfluß der USA gehört. Diese Situation war in sich besondersartig. Neue Situationen führen zu erneutem Wertewandel. Schließlich entwickelten sich auch die Kirchenbindung und die Religiosität von den 1950er bis zu den 1980er Jahren ganz in der Richtung des Konzepts der Säkularisierung. Fast überall in Europa gingen die Kirchenmitgliedschaften in diesen drei bis vier Jahrzehnten spürbar zurück. Nur die Besucher moslemischer Moscheen stiegen an, allerdings nicht durch wachsende Religiosität, sondern vor allem durch Zuwanderung. Auch der Besuch der kirchlichen Riten, der regelmäßige Gottesdienst ebenso wie die Festtagsreligiosität, die Taufe, die Kommunion bzw. Konfirmation, die kirchliche Hochzeit, die kirchliche Beerdigung gingen stark zurück, meist sogar noch stärker als die Kirchenmitgliedschaft. Die Erwartungen an die Kirche sanken. Europäer erwarteten immer weniger, daß die Kirche in persönlichen Krisenlagen eine Hilfe sein könne, weder materiell noch moralisch. Ohne Zweifel war dieser Rückgang der Kirchlichkeit im östlichen, kommunistisch beherrschten Europa wesentlich stärker als im westlichen Europa. Aber auch im Westen war die Entkirchlichung eine beherrschende Tendenz, nicht überall in der gleichen Zeit, nicht überall gleich dramatisch und auch nicht überall gleich intensiv, aber im Grundsatz doch eine europaweite Entwicklung. Kaum ein Land war von ihr ausgenommen, nicht einmal die Bastionen der Kirchlichkeit in Europa, Irland und Polen15. Dieser Rückgang der Religiosität und der Kirchenbindung hatte vor allem drei Gründe. Im östlichen wie im westlichen Europa hatte er viel mit den rasch steigenden Einkommen, mit dem Ausbau der staatlichen sozialen Sicherung, mit der steigenden Gesundheit und Lebenserwartung, auch mit dem steigenden Bildungsniveau zwischen den 1950er und 1980er Jahren zu tun. Die persönlichen Krisen des Lebens erschienen dadurch kalkulierbarer. Die Angst vor einer kontinuierlichen Bedrohung von Not und Tod, in der die Kirchen traditionell Trost und Hilfe boten, ging zurück. Die Geistlichen verloren viel von ihrer lokalen moralischen Autorität, da die Europäer in praktischen Lebensfragen zunehmend mehr auf Ratschläge im Radio, im Fernsehen, in der Presse, in Fami___________ 15 Vgl. neben den in Anm. 1 genannten Arbeiten: Steve Bruce, God is Dead. Secularization in the West, Oxford 2002; Karel Dobbelaerel/Luigi Tomasi/Liliane Voyé, Religious syncretism, in: Research of the social scientific study of religion 13 (2002), 221– 243; L. Halman et al., The religious factor in contemporary society, in: International Journal of comparative sociology 40 (1999); Loeck Halman/Thorleif Pettersson, Moral pluralism in contemporary Europe: evidence from the project religious and moral pluralism (RAMP), in: Research of the social scientific study of religion 13 (2002), 173–204; Wolfgang Jagodzinskig/Karel Dobbelaere, Der Wandel kirchlicher Religiosität in Westeuropa, in: Jürg Bergmann/Alois Hahn/Thomas Luckmann (Hrsg.), Religion und Kultur, Opladen 1993.

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lienratgebern hörten. Psychologische, medizinische und wissenschaftliche Experten erschienen ihnen zunehmend kompetenter als der lokale Geistliche. Darüber hinaus privatisierte sich der religiöse Glaube. Eine Mehrheit der Europäer glaubte auch noch in den 1980er Jahren an Gott, an ein Leben nach dem Tod, an eine Seele. Aber daraus entstand immer weniger eine kirchliche Bindung und eine Teilnahme an religiösen Riten. Schließlich hatte der Rückgang der Kirche im östlichen Europa viel mit der politischen Repression gegen die Kirchen und mit den Kirchenkämpfen zu tun, die allerdings je nach Land unterschiedlich ausgetragen wurden und auch ganz unterschiedliche Konsequenzen für die Entkirchlichung hatten. In der DDR oder in Tschechien war die Wirkung weit dramatischer als in Polen.

IV. Der andere Wertewandel: die 1990er Jahre Die 1990er Jahre passen nicht so gut zu den Konzepten des Postmaterialismus, der Individualisierung und der Säkularisierung wie die vorhergehenden Jahrzehnte. Der Wandel der Werte und der Religiosität der 1960er bis 1980er Jahre setzte sich in den 1990er Jahren nicht einfach fort, sondern drehte vielfach in eine andere Richtung. Eine erste Richtungswende gab es im Vertrauen in den Anderen und in die öffentlichen Institutionen. Das Vertrauen in den Anderen, das seit den 1960er Jahren in Westeuropa gestiegen war, sank in den 1990er Jahren in den meisten europäischen Ländern, darunter in fast allen großen Ländern, in Großbritannien, Frankreich, Italien, Polen und Deutschland. Nur in einer Minderheit von Ländern, vor allem in kleineren Ländern, stieg es weiter an. Das Vertrauen in den Anderen verfiel sicher nicht völlig, aber eine wesentliche Voraussetzung für eine funktionierende Zivilgesellschaft war nicht mehr ganz so stark wie zuvor. Sehr groß war das Vertrauen in den Anderen in Europa sowieso nie gewesen. Gleichzeitig war allerdings die direkte persönliche Solidarität hoch. In den meisten europäischen Ländern unterstützte die Mehrheit persönliche Hilfeleistungen an Alten, Kranken und Behinderten, an Arbeitslosen freilich nur in einem kleinen Teil der Länder16. Genau umgekehrt entwickelte sich das Vertrauen in die öffentlichen Institutionen. Der Trend des wachsenden Mißtrauens in die öffentlichen Institutionen kehrte sich in den 1990er Jahren um. Das Vertrauen in die öffentlichen Institutionen stieg in den meisten westeuropäischen Ländern, nachdem es in den Jahrzehnten davor gefallen war. Allerdings machten diesen Trend einige große westeuropäische Länder, Frankreich, Großbritannien und Spanien, nicht mit. Während sich also in den achtziger Jahren das Vertrauen vom öffentlichen Be___________ 16

European values study. Offizielle Homepage. Umfragen 1981, 1990, 1999–2000.

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reich abwandte und dem privaten Bereich zuwandte, drehte sich der Wind in den 1990er Jahren. Im privaten Bereich herrschte wieder mehr Mißtrauen, in die öffentlichen Institutionen wieder mehr Vertrauen17. Es ist allerdings erstaunlich, daß sich das sinkende Vertrauen in den Anderen nicht in wachsender Intoleranz gegenüber Minderheiten niederschlug. Ganz im Gegenteil nahm in den 1990er Jahren die Toleranz gegenüber Minderheiten sogar etwas zu. Um 1999 waren mehr Europäer als um 1990 im westlichen wie im östlichen Europa zumindest in Umfragen bereit, einen Ausländer oder einen Menschen anderer Ethnie als Nachbarn zu akzeptieren. Nur in einer Minderheit der europäischen Länder nahm diese Bereitschaft ab. Dazu gehörten freilich auch große Länder. Auch gegenüber Moslems, die während der 1990er Jahre deutlich weniger akzeptiert waren als Juden oder Hindus, wurden die Europäer in fast allen westeuropäischen Ländern im Durchschnitt toleranter. Überhaupt war in allen europäischen Ländern die überwiegende Mehrheit dazu bereit, einen Ausländer oder einen Menschen anderer Ethnie oder Hautfarbe, auch Moslems, als Nachbarn zu akzeptieren, auch in den wenigen Ländern, in denen diese Bereitschaft während der 1990er Jahre abnahm. Freilich bedeutete Toleranz nicht auch Hilfsbereitschaft. Zu persönlicher Hilfe gegenüber Immigranten war im westlichen wie im östlichen Europa nur eine kleine Minderheit bereit18. In zwei Familienwerten kam es während der 1990er Jahren ebenfalls zu einem Richtungswechsel. Fast in allen Ländern wandten sich die Europäer von dem Wert der engen und ausschließlichen Eltern-Kinder-Beziehung, der Aufopferung der Eltern für die Kinder und der bedingungslosen Elternliebe der Kinder ab. In der Mehrzahl der westeuropäischen Länder, darunter auch in vier der fünf großen westeuropäischen Länder, stimmten die Europäer diesen Familienwerten weniger zu. Diese Veränderung war nicht dramatisch. In einer ganzen Reihe anderer Länder gewann dieser Wert sogar an Boden, vor allem auch in den Ländern im östlichen Europa. Aber er hatte insgesamt in Europa doch etwas weniger Rückhalt. Eindeutiger war der Umbruch in den Frauenrollen. Die alleinerziehende Mutter wurde weniger mißbilligt und umgekehrt die Mutter weniger als einzige Frauenrolle angesehen. Die traditionelle Einstellung zur Frauenrolle verlor in der Mehrzahl der westeuropäischen und in allen Ländern des östlichen Europa an Zustimmung, mit Ausnahme der alten Bundesrepublik und Dänemarks. Dieser Bruch war scharf, weil noch in den achtziger Jahren dieser traditionelle Familienwert in der großen Mehrzahl der westeuropäischen Länder an Boden gewonnen hatte19. ___________ 17

European values study. Offizielle Homepage. Umfragen 1981, 1990, 1999–2000. S. Ashford/N. Timms, What Europe thinks. A study of Western European Values, Aldershot 1992, 14; European values study. Offizielle Homepage. Umfragen 1981, 1990, 1999–2000. 19 European values study. Offizielle Homepage. Umfragen 1981, 1990, 1999–2000. 18

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In den Arbeitswerten hatte – wie wir sahen – schon in den 1980er Jahren ein Wandel eingesetzt. Gleichheit der Bezahlung und Entscheidungsbeteiligung der Beschäftigten nahmen die Westeuropäer weniger wichtig. Das Leistungsprinzip und die Alleinentscheidung der Unternehmer gewannen unter den Westeuropäern mehr Anhänger. Gleichzeitig nahm das kritische Interesse an der Qualität des Arbeitsplatzes zu. Betriebshierarchien wurden eher akzeptiert, aber sie mußten auf Leistung beruhen, Betriebsführung mußte überzeugend sein und die Qualität des Arbeitsplatzes mußte stimmen. Auch die Religiosität änderte in den 1990er Jahren ihre Entwicklungsrichtung, wenn auch nicht so deutlich wie andere Werte. Drei neue Entwicklungen waren zu beobachten. In Europa als Ganzem schwächte sich die Säkularisierung spürbar ab. Der Kirchenbesuch ging nicht mehr so eindeutig zurück wie noch in den 1980er Jahren, sank nur noch in rund der Hälfte der europäischen Länder, stieg in der anderen Hälfte der Länder wieder an. Der Glaube an Gott schwand nicht mehr so eindeutig, sondern nahm in den meisten Ländern im westlichen wie im östlichen Teil Europas wieder etwas zu. Die Personen, die sich als nicht religiös oder nicht gläubig ansahen, nahmen nicht mehr so deutlich zu wie in den 1980er Jahren. Darüber hinaus kam es während und direkt nach dem Umbruch von 1989/91 und dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums zu einem Wiederaufschwung der klassischen Kirchen, der katholischen, protestantischen und orthodoxen Kirche im östlichen Teil Europas. Der Kirchenbesuch und die Mitgliedschaft in den Kirchen nahmen wieder zu, freilich nur vorübergehend vor allem während der Transformationskrise, die den Lebensstandard und die soziale Sicherheit für einen beträchtlichen Teil der Europäer im östlichen Europa beeinträchtigte. Auch die negativen Seiten der Religiosität, die Religionskonflikte kehrten vorübergehend zurück, besonders im Jugoslawienkonflikt, hinter dem auch Konflikte zwischen katholischen Kroaten, orthodoxen Serben und muslimischen Bosniern standen. Schließlich zeichnete sich schon vorher ab, daß die Abkehr von den Kirchen nicht immer auch eine Abkehr von der Religion war. Europäer wandten sich christlichen Sekten oder ostasiatischen Religionen zu oder konvertierten zum Islam, auch wenn diese Konversionen und synkretistischen Religionen immer ein Randphänomen blieben. All das sind keine starken Anzeichen für eine Rückkehr von Religiosität und Kirchenbindung, aber doch für eine Abschwächung der Säkularisierung20. Der Umbruch der Trends in den 1990er Jahren hatte auch seine Grenzen. Es gab auch deutliche Kontinuitäten. Die Permissivität nahm in den 1990er Jahren überall in Europa weiter zu, mit nur ganz wenigen Ausnahmen wie Finnland, Litauen und Ungarn. Die Familienwerte änderten sich nicht völlig. Die Werte, die eine Ehe trugen, blieben dieselben: Toleranz, wechselseitiger Respekt und ___________ 20

Wie Anm. 1, 5 und 15.

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Treue waren nach wie vor die vorherrschenden Werte für eine stabile Ehe, während umgekehrt gleiche Religion, gleiche politische Ansichten und gleiche soziale Herkunft der Ehepartner weiterhin nicht als wichtig angesehen wurden. Auch die familiären Erziehungsziele entwickelten sich in einer ähnlichen Richtung wie schon zuvor. Die innengeleiteten Erziehungswerte, also Unabhängigkeit, Toleranz, Entschiedenheit nahmen in den meisten Ländern weiterhin zu, die außengeleiteten Erziehungswerte, also Gehorsam, Treue, harte Arbeit, Sparsamkeit blieben weiterhin Minderheitswerte. Nur in einigen wenigen Ländern nahm die Befürwortung der innen- wie der außengeleiteten Werte zu oder ab, war also ein Trendbruch in der Verschiebung von außen- zu innengeleiteten Werten zu erkennen. Dazu gehörten vor allem Großbritannien und die alte Bundesrepublik. Kontinuitäten gab es schließlich auch in den Arbeitswerten. In den 1990er Jahren wurden weiterhin, wie schon in den achtziger Jahren, die eher materiellen Arbeitswerte wie Löhne und Arbeitsplatzsicherheit für die Europäer genauso wichtig wie die eher postmateriellen Arbeitswerte der persönlichen Entfaltung am Arbeitsplatz und des Betriebsklimas. Wieder gab es keine klare Verschiebung zu postmateriellen Arbeitswerten, wiederum weil die entscheidenden Voraussetzungen, günstiger Arbeitsmarkt und rasch steigende Realeinkommen, nicht mehr gegeben waren. Auch die religiösen Werte kehrten sich nicht völlig um. Das Vertrauen in die Kirche, aber auch die private Religiosität, der Glaube an Gott etwa, entwickelten sich in den 1990er Jahren nicht völlig anders als in den Jahrzehnten zuvor21.

V. Schlußbetrachtung Dieser Wandel in den 1990er Jahren, den man nicht überschätzen sollte, hatte mehrere Gründe. Die lange Zeit der wirtschaftlichen Schwierigkeiten seit den späten 1970er Jahren, der schwierigen Karrieren und der steigenden Arbeitslosigkeit übertrug sich nach und auch auf die Werte. Die Bedeutung der Familie erhöhte sich für den Einzelnen, das Vertrauen in die Mitmenschen und in die Zivilgesellschaft sank dagegen. Die Zunahme der Gewalt in Südosteuropa in den 1990er Jahren kann dieses Mißtrauen vorübergehend weiter vertieft haben. Vor allem nach dem Fall der Mauer hat umgekehrt die Erfahrung der erfolgreichen Friedens- und Demokratiesicherung durch die europäischen Regierungen, auch der Rückgang von Gewalt zwischen Staat und sozialen Bewegungen das Vertrauen in die öffentlichen Instanzen langsam etwas erhöht. Die lange Erfahrung des modernen Wohlfahrts- und Leistungsstaats kann eine weitere wichtige, wenn auch ambivalente Voraussetzung für dieses größere Vertrauen sein. ___________ 21

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Insgesamt sah der Wertewandel in Europa zwischen 1945 und 2000 erheblich anders aus als es in den Konzepten des Postmaterialismus, der Individualisierung und der Säkularisierung angenommen wird. Man muß allerdings herausheben, daß diese Konzepte die Entwicklung während der 1960er bis 1980er Jahren recht gut erfassen, auch wenn dabei oft die zentrale Frage unbeantwortet bleibt, ob es sich dabei um einen Erfolg von politischen und sozialen Bewegungsakteuren handelte, die Werteumbrüche wollten und durchgesetzt haben oder ob es eher eine stille, allmähliche Wandlung war, die vor allem durch die steigenden Einkommen, die Vollbeschäftigung, die bessere soziale Sicherung, das steigende Bildungsniveau, die anwachsende geographische Mobilität ausgelöst wurde. Die Konzepte des Wertewandels vermitteln aus drei Gründen nur einen unvollkommenen Eindruck. Erstens fassen diese Konzepte den Wertewandel der unmittelbaren Nachkriegszeit und dann wieder der 1990er Jahre schlecht. In der unmittelbaren Nachkriegszeit mischten sich Tendenzen der Individualisierung mit der Wiederverkirchlichung und der verstärkten Bindung an Milieus. Angesichts der materiellen Notlage und der moralischen Depression der Nachkriegszeit war dies keineswegs so widersprüchlich wie das in der Theorie dieser Konzepte erscheint. Die 1990er Jahre lassen sich mit diesen Konzepten ebenfalls nur schwer verstehen, da einerseits die Individualisierung und der Postmaterialismus weiter zunahmen, andererseits diese Zeit aber auch von ganz anderen Tendenzen geprägt war wie dem wachsenden Vertrauen in öffentliche Institutionen, dem wachsenden Mißtrauen in den Mitmenschen, der starken Familienbindung, den wachsenden Sympathien für die Alleinentscheidungen von Unternehmern, der Abbremsung der Säkularisierung. Selbst für die 1960er bis 1980er Jahre fassen diese Konzepte zweitens nicht alles am Wertewandel. Sie betonen zu sehr die Abkehr von Werten, die Ablösung von Bindungen und die Ablehnung bestimmter Normen und erschließen zu wenig die Entwicklung neuer Werte wie das wachsende Vertrauen in die Mitmenschen, wachsende Solidarität und individuelle Verantwortung, das zunehmende bürgerschaftliche Engagement, das wachsende Interesse für den Arbeitsplatz, die Selbstanforderungen bei wachsender Permissivität gegenüber anderen, die Rückkehr der Religiosität. Drittens haben diese Konzepte oft einen zu starken Westdrall, gründen zu sehr auf der Erfahrung von Entwicklungen in Westeuropa und tendieren dazu, das östliche Europa als weit zurückgeblieben anzusehen.

Geschichte eines nicht-bestehenden Staates Wim Blockmans Historikern ist nur selten gegenwärtig, in welchem Maße ihre Sicht der Dinge vom Staatsdenken, das im 19. Jahrhundert sein volles Gewicht bekommen hat, durchdrungen ist. Schon in der Grundschule wurde uns gelehrt, in den Grenzen der Staaten, in denen wir aufgewachsen sind, zu denken. Die in diesem Staat vorherrschende Sprache wurde unterrichtet mit den dazugehörigen literarischen Werken, die zu einem nationalen Kanon erhoben wurden. Die Sprachen der Minderheiten und Dialektvarianten wurden zurückgedrängt auf einen unwichtigen, wenn nicht gar verachteten Status. Bis tief in das 20. Jahrhundert wurde die Geschichte immer als eine selbstverständliche Entwicklung dargestellt, die beinahe unvermeidlich zu dem glänzenden Endresultat führen mußte, als das der aktuelle Staat wohl gelten sollte. Es fiel schwer, in anderen geographischen Kategorien zu denken als in jenen der Staaten, wenn auch die zu beobachtende historische Wirklichkeit erheblich davon abwich. Die Geschichte ist im Schulunterricht dargestellt worden nicht so sehr „wie es eigentlich geschehen ist“, sondern eher „wie es eigentlich wohl geschehen mußte“1. Dabei ist die zentrale Frage, ob die Betonung der politischen Einheit „Staat“ und ihrer Grenzen unserer Einsicht in andere Dimensionen der Wirklichkeit nicht im Wege steht. Zur Zeit schreibe ich ein Buch über eine Phase, die Jahre 1100 bis 1550, der Geschichte eines Gebietes, der alten Niederlande, das damals nur während einer Generation eine gewisse politische Einheit gekannt hat. Die Eroberung des Herzogtums Geldern durch Kaiser Karl V. im Jahr 1543 brachte das letzte selbständige Herzogtum in den Niederlanden unter die Gewalt der Dynastie der Habsburger. Dadurch konnte im Nordwesten des Reichs kein Großterritorium mehr entstehen wie beispielsweise Bayern oder Sachsen. Gleichzeitig zog der Kaiser eine Trennlinie zu anderen rheinländischen Fürstentümern, die vorher von denselben Herzögen und ihren nächsten Verwandten regiert wurden: Kleve, Jülich, Berg und Mark2. So schuf er eine Grenze, die sich, abgesehen von ___________ 1 Wim Blockmans/Jean-Philippe Genet (Hrsg.), Visions sur le développement des états européens. Théories et historiographies de lǥétat moderne (Collection de lǥEcole française de Rome, 171), Rom 1993. 2 Heinz Schilling, Aufbruch und Krise. Deutschland 1517–1648 (Deutsche Geschichte, 5), Berlin 1988, 228; Wilhelm Janssen, De geschiedenis van Gelre tot het Tractaat

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späteren, geringfügigen Korrekturen, als dauerhaft erwies, jedoch bis dahin, wie man es auch betrachtet, nicht bestanden hatte: Im Gegenteil, in geographischer, wirtschaftlicher, politischer, kultureller und religiöser Hinsicht waren im Niederrheingebiet die Übergänge fließend und die Beziehungen immer intensiv gewesen. So gesehen hätte durch andere politische Entscheidungen im Jahr 1543 die Grenze auch weiter östlich gezogen werden können, einschließlich der Gebiete, die letztendlich „deutsch“ wurden. Man hat diese Einheit in den Niederlanden oft die „XVII Provinzen“ genannt, in der Annahme, daß die Bezeichnung damals, in der Zeit der pragmatischen Sanktion von 1548, die die Nachfolgeregelungen in allen niederländischen Fürstentümern und Herrlichkeiten auf die gleiche Art festlegte, auch wirklich neu war. Inzwischen hat sich jedoch herausgestellt, daß schon seit 1466 die vielen Territorien, die Herzog Karl dem Kühnen von Burgund unterstanden, des öfteren mit der Zahl siebzehn gekennzeichnet wurden, ohne daß zu diesem oder irgendeinem späteren Zeitpunkt eindeutig festgestanden hätte, welche Titel damit genau gemeint waren. Niemals erreichte die Anzahl der Fürstentümer und Herrlichkeiten die genaue Zahl siebzehn, immer gab es mehr oder weniger, abhängig von den gewählten Kriterien. So liegt es auf der Hand, diese Zahl als eine biblische Verweisung auf ein großes, aus vielen Teilen bestehendes Reich zu betrachten3. Trotz der 1548 feierlich festgelegten Einheit der Erbfolge in allen „XVII Provinzen“ und ihrer 1549 erfolgten Anerkennung als innerhalb des Kaiserreichs (zusammen mit der Freigrafschaft Burgund) zum „burgundischen Kreis“ gehörend, fiel diese Konstruktion später durch die Gewalt des Aufstandes und seiner Unterdrückung wieder auseinander. Die Einheit innerhalb des Ganzen der Niederlande war nicht nur von kurzer Dauer, sondern auch sehr relativ, da die Herrscher aller Herzogtümer, Grafschaften und Herrlichkeiten und die noch wenig entwickelten zentralen Institutionen einen viel geringeren Einfluß auf das tägliche Leben ausübten als die kommunalen und regionalen Verbände. Außerdem stand das weltliche Herrschaftsgebiet der Bischöfe von Lüttich bis Ende des 18. Jahrhunderts außerhalb der Dynastie der Habsburger, die bis dahin über die südlichen Niederlande herrschte. Genau genommen kann man nur die Periode von 1815 bis 1830 als eine politische Einheit in den Niederlanden bezeichnen. ___________ van Venlo in 1543 – een overzicht, in: Het hertogdom Gelre. Geschiedenis, kunst en cultuur tussen Maas, Rijn en IJssel, hrsg. v. J. Stinner/K.-H. Tekath, Zutphen 2003, 19– 20; Geoffrey Parker, Die politische Welt Karls des V., in: Karl V. 1500–1558 und seine Zeit, hrsg. v. Hugo Soly, Antwerpen/Köln 2000, 113–225, 172–176; Jonathan Israel, The Dutch Republic. Its Rise, Greatness, and Fall 1477–1806, Oxford 1995, 55–73. 3 Robert Stein, Seventeen. The multiplicity of a unity in the Low Countries, in: The Ideology of Burgundy. The Promotion of National Consciousness 1364–1565, hrsg. v. DǥArcy Jonathan Dacre Boulton/Jan R. Veenstra, Leiden/Boston 2006, 223–285.

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Wenige Historiker haben sich bis jetzt an das Schreiben eines wissenschaftlich fundierten Übersichtswerks über eine längere Periode für die ganzen Niederlande herangewagt. E. H. Kossmann hat dies sehr luzide für die Periode 1780–1940 getan, später ausgeweitet bis 1980, und zusammen mit seiner Frau hat er danach noch eine bündige Übersicht über eine längere Periode publiziert4. Schon an den Titeln der Publikationen wird offensichtlich, daß die beiden Autoren von einer Zweiteilung ausgegangen sind zwischen den Nördlichen und den Südlichen Niederlanden, die logischerweise aus den zwei separaten Staatsverbänden, die während des größten Teils der behandelten Periode bestanden, hervorgegangen sind. Kossmann verglich systematisch die Entwicklungen und suchte nach gleichlaufenden Tendenzen. Im Jahr 1930 hatte Pieter Geyl versucht, eine Einheit aufzuzeigen, die seiner Meinung nach wegen der starken Neigung, Geschichtsschreibung mit den Grenzen der bestehenden Staaten zu verbinden, unterbelichtet geblieben war. Er ging von der Einheit dessen aus, was er den „niederländischen Stamm“ nannte, den er als Gemeinsamkeit der Muttersprache definierte. Das führte ihn zu einer paradoxen Auswahl, indem er einerseits die Assimilierung von Friesen und Sachsen und die niederländische koloniale Expansion in der modernen Zeit begrüßte, andererseits jedoch Französischsprachige außer Betracht ließ. Er erkannte jedoch selbst das Gekünstelte seiner Auswahl hinsichtlich der Zeit vor dem Aufstand des 16. Jahrhunderts: „Das Nationalgefühl stieß die Wallonen nicht aus“5. Ganz abgesehen von der Tatsache, daß seine bestimmende Analyse-Einheit, die „Volksgruppe“, durch spätere Forschung nicht in der historischen Wirklichkeit wiedererkannt wurde, bedeutet seine einseitige Betonung von politischen und kulturellen Dimensionen eine Einschränkung, die seinen Ausgangspunkt unhaltbar macht. Unter dem Einfluß Geyls und anderer Historiker wurden auch schon vor 1940 Initiativen ergriffen, um die Geschichtsschreibung doch über die Staatsgrenzen der Niederlande und Belgiens hinaus auszuweiten. Seitdem richten sich verschiedene Zeitschriften, Handbücher und mehrteilige Nachschlagwerke auf die Behandlung der ganzen Region6. Keine einzige dieser Schriften entwik___________ 4 Ernst H. Kossmann, The Low Countries 1780–1940, Oxford 1978; Ders., De Lage Landen 1780–1980, 2 Bde., Amsterdam 1986–88; Johanna A. Kossmann-Putto/Ernst H. Kossmann/Jozef Deleu, De Lage Landen: geschiedenis van de Noordelijke en Zuidelijke Nederlanden, Rekkem 1995. 5 Pieter Geyl, Geschiedenis van de Nederlandsche stam, 3 Bde., Amsterdam 1930– 1937; revidierte Ausgabe 1948–1959; Ders., History of the Low Countries: episodes and problems, London 1964. 6 Die Zeitschrift „Nederlandsche Historiebladen“ erschien von 1938 bis 1940 und wurde ab 1945 erneut herausgegeben als „Bijdragen tot de Geschiedenis der Nederlanden“; seit 1970 heißt sie „Bijdragen en Mededelingen betreffende de Geschiedenis der Nederlanden“ (BMGN). Die Redaktion setzt sich aus Niederländern und Flamen zu-

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kelt jedoch eine einheitliche Sichtweise, die in der Systematik ihrer Ausarbeitung mit der von Geyl und Kossmann vergleichbar wäre. Fragmentierung des Stoffes in Regionen, Perioden und Aspekte steht der Erfassung von Zusammenhängen und Vergleichen im Weg. Letzteres gilt auch für die vielen kommunalen, provinzialen und regionalen Übersichtswerke, die in den letzten Jahrzehnten erschienen sind. Jedes dieser Werke fügt einen Schatz an Informationen hinzu, aber ihre Einbindung in größere Verbände fehlt7. In der neuen Reihe „Geschiedenis van Nederland“ ist für die Zeit seit dem Aufstand des späten 16. Jahrhunderts das Gebiet des heutigen Staates und sein Kolonialbesitz gemeint, für die frühere Zeit sollen aber weitere Territorien behandelt werden. Der gleiche Zwiespalt zeigt sich auch in der neu erschienenen Erinnerungsgeschichte8. Der Versuch von Geyl und Kossmann, Zusammenhänge deutlich zu machen und Vergleiche aufzuzeigen, wird heute wieder durch aktuelle Grenzen von Provinzen und Staaten versperrt. Im Augenblick scheint es deswegen sinnvoll, die große Menge neuer Daten in einer Konstruktion, die zweifelsohne Lücken und subjektive Züge aufweisen wird, neu zu ordnen. Im Spannungsfeld zwischen Detailforschung und Synthese ist letztere auf erstere angewiesen, kann jedoch hoffentlich auch neue Anregungen bieten. Sobald man die Wahl getroffen hat, das zu behandelnde Gebiet nicht von aktuellen oder historischen politischen Einheiten bestimmen zu lassen, erhebt sich selbstredend die Frage nach einer anderen Abgrenzung, die den Zusammenhängen, die den Zeitgenossen sinnvoll erschienen, gerecht werden. Das Kriterium der dynastischen Union ist schließlich nur eine der vielen Möglichkeiten und nicht einmal die am meisten auf der Hand liegende, wenn man den politischen Aspekten der Wirklichkeit nicht a priori eine entscheidende Bedeutung beimessen möchte. Überdies bedeutet die dynastische Vorgehensweise auch eine sehr spezielle Einsicht in politische Prozesse, nämlich einen Akzent ___________ sammen. Gleiches gilt für die „Tijdschrift voor Sociale Geschiedenis“, 1975 gegründet, und seit 2004 nach einer Fusion „Tijdschrift voor Sociale en Economische Geschiedenis“ (TSEG) genannt. Aus dem Kreis der Redaktion der BGN ist in den fünfziger Jahren die zwölfbändige „Algemene Geschiedenis der Nederlanden“ entstanden. Davon erschien um 1980 eine neue Version in fünfzehn Bände. Das Handbuch von J.C.H. Blom und E. Lamberts (Hrsg.), Geschiedenis van de Nederlanden, erster Druck 1993, vierte Ausgabe Baarn 2006, amerikanische Übersetzung als History of the Low Countries, 2. Ausgabe, New York/Oxford 2006, zeichnet sich durch eine getrennte Gliederung in Nord und Süd seit 1579 aus. 7 Das jüngste Vorbild betrifft eine gelungene Geschichte des Herzogtums Brabant, das seit Anfang des 17. Jahrhunderts geteilt war zwischen der Republik der Vereinigten Provinzen und den südlichen Niederlanden, und den fünf heutigen Provinzen in demselben Gebiet: Raymond van Uytven u. a. (Hrsg.), Geschiedenis van Brabant, van het hertogdom tot heden, Zwolle/Leuven 2004. 8 Geschiedenis van Nederland, einziger bisher erschienener Band: Arie Th. van Deursen, De last van veel geluk, Amsterdam 2004. Jan Bank u.a. (Hrsg.), Plaatsen van Herinnering, 4 Bde., Amsterdam 2006–7.

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auf Steuerung von einem Machtzentrum aus. Natürliche Grenzen bieten im Fall der Niederlande keinen Anhaltspunkt, da es nun einmal keine offensichtlichen Grenzen in der Landschaft gab und alle Abgrenzungen des Gebietes im Laufe der Jahrhunderte Verschiebungen unterworfen waren. Sogar die Küsten haben sich im Laufe der Zeit verschoben. Die Maas hätte für einen kleinen Teil als Grenze in Betracht kommen können, wenn sich nicht alle Siedlungskerne schon seit dem Mesolithikum an beiden Ufern des Flusses gleichzeitig entwikkelt hätten. Auch die Karolinger hatten ihre Kerndomäne sowohl östlich als westlich der Maas. In der späteren karolingischen Periode bedeutete die Schelde eine wichtige Grenze zwischen dem West- und dem Ostfränkischen Reich. Im 11. Jahrhundert eroberten die Grafen von Flandern jedoch Gebiete östlich der Schelde, das Land von Aalst, wodurch die Grenze zum späteren Brabant nur teilweise vom Fluß markiert wurde. Auch in den Abgrenzungen zwischen Seeland und Flandern und zwischen Holland und Brabant versuchten die Fürsten oft mit Erfolg, ihre Positionen gerade auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses zu verstärken. Im Jahr 1304 mußte der Graf von Flandern die Lehnshoheit über den Teil Seelands westlich der Schelde aufgeben zum Vorteil des Grafen von Holland und Seeland. Diesem gelang es im Laufe des 14. Jahrhunderts, auch seine Position südlich der Maas zu stärken, zum Nachteil des Herzogs von Brabant. Wasserläufe verbinden mehr als sie scheiden. Undurchdringliche Wälder, wie es sie in Luxemburg gab, waren sicherlich große Hindernisse. Sie machten das Gebiet schwer zugänglich, wodurch sich dort keine großen Städte entwickelten und zahllose selbständige kleine Herrlichkeiten bestehen blieben. Waren die Konzentrationen entlang der Maas, des Rheins (Nimwegen) und die Begrenzungen entlang der Schelde (mit den Marken Antwerpen, Ename und Valenciennes) Überreste aus der Karolingerzeit, so gingen andere Basisstrukturen der spätmittelalterlichen Gesellschaft noch weiter zurück. Die Einteilung in Bistümer und die Wahl der Bischofsstädte basierten auf der Verwaltungsstruktur des spätrömischen Kaiserreichs. Die Sprachgrenzen stabilisierten sich um das 10. Jahrhundert. Als Folge davon lagen alle Bischofsstädte innerhalb der Grenzen des römischen Reichs, wobei Utrecht sich als einzige Stadt im germanisch-sprachigen Raum befand. Wegen der relativ dichten Besiedelung südlich der Straße von Köln nach Bavay in römischer Zeit konzentrierten sich die Bischofssitze in diesem Gebiet9. Wenn man den beträchtlichen Einfluß, die Macht und den Reichtum der Kirche in Betracht zieht, hatte diese Struktur Auswirkungen auf ihr Funktionieren, das in nächster Umgebung eines bischöflichen Zentrums unmittelbarer und eindringlicher gewesen sein muß als in größerer Entfernung. Die geringere Einflußnahme der bischöflichen Hierar___________ 9 Marc van Uytfanghe, De orbis Romanus en de linguïstische identiteit van Europa, in: Handelingen Koninklijke Zuid-Nederlandse Maatschappij 56 (2002), 71–103.

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chie auf die niederländisch sprechende Bevölkerung hat sich sicher in zunehmendem Maße bemerkbar gemacht, als sich seit dem 12. Jahrhundert in den niederländisch-sprachigen Gebieten ein verhältnismäßig stärkeres Bevölkerungswachstum ergab. Erst 1559 wurden dort neue Bistümer gegründet, jedoch stellt sich die Frage, ob diese Anpassung in der Zeit der Reformation nicht zu spät kam, um den Abstand zwischen der Hierarchie und den Gläubigen zu verkleinern10. Eine andere Folge der Festlegung der Grenzen war die Tatsache, daß in allen Bistümern mehrere Volkssprachen gesprochen wurden. Das galt auch für die Fürstentümer in den südlichen Niederlanden, mit Artesien als einziger Ausnahme: Flandern und Brabant hatten im Spätmittelalter ungefähr 10% französisch-sprachige Bevölkerung, das Fürstbistum Lüttich hatte ca. 10% niederländisch-sprachige, der Hennegau umfaßte die Stadt Halle – wo ein wichtiger Marienkult viele Pilger anzog – und einige Dörfer in niederländisch-sprachigem Gebiet, und in Luxemburg wurden sowohl romanische als auch germanische Dialekte gesprochen. Diese Mehrsprachigkeit ist nicht verwunderlich, da die meisten Fürstentümer ihre Basisstruktur noch einem anderen Einheit schaffenden Faktor entlehnten, nämlich den Flußläufen. Im Süden flossen sie von Süden nach Norden, während die Sprachgrenze zwischen dem Romanischen und dem Germanischen von Osten nach Westen verlief. Wenn man bedenkt, daß Flüsse die wichtigsten Verkehrsadern waren, vor allem für den Güterverkehr, und die Bewohner der Gebiete stromauf- und stromabwärts für viele Produkte aufeinander angewiesen waren, muß die Kommunikation über die Sprachgrenzen hinweg ziemlich reibungslos verlaufen sein. Der Austausch von Gütern über große Entfernungen, wie zwischen den Ardennen und dem Flußmündungsbereich, ist schon für prähistorische Gesellschaften belegt, und wird ebenfalls deutlich an den Baurechnungen des späten Mittelalters11. Außergewöhnlich war das Überschreiten von Kulturgrenzen also nicht wirklich. Auf alle Fälle weisen unsere Quellen über Handelskontakte auf eine selbstverständliche Zusammenarbeit hin, sowohl innerhalb der politischen Grenzen als auch darüber hinaus. Der Kalkstein aus der Gegend von Tournai wurde massiv entlang der Schelde nach Flandern exportiert, ebenso das Getreide aus dem Hennegau, Artois, Cambrésis und der Pikardie12. Diese Erkenntnis entkräftet den ___________ 10

Johan Decavele, De dageraad van de Reformatie in Vlaanderen (1520–1565) (Verhandelingen van de Koninklijke Vlaamse Academie voor Wetenschappen, Letteren en Schone Kunsten), Brüssel 1975. 11 Jean-Pierre Sosson, Les travaux publics de la ville des Bruges, XIVe-XVe siècles. Les matériaux. Les hommes (Pro Civitate), Brüssel 1977. 12 Ludovic Nys, La pierre de Tournai. Son exploitation et son usage aux XIIIe, XIVe et XVe siècles, Tournai/Louvain-la-Neuve 1993, 137–163; Alain Derville, Lǥagriculture du Nord au Moyen Age (Artois, Cambrésis, Flandre Wallonne), Villeneuve dǥAscq 1999, 51–58.

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Ausgangspunkt Geyls, daß die Sprachgemeinschaften die Basis für die Gesellschaften gebildet haben müßten. Im Gegenteil, sie lebten in vielerlei Hinsicht in gemischten Verbänden zusammen. Außerdem gibt es keinen Beweis, daß die Gemeinschaften in den Niederlanden die Kontakte mit ihren anderssprachigen Nachbarn als problematisch empfanden. Im Gegenteil, die intensiven Handelsbeziehungen entlang der Küsten und Flüsse mit den Oberrheinischen Gebieten und dem Hanseraum zeigen eine große Offenheit über die politischen und kirchlichen Grenzen hinaus. Die Sprachdiversität war im Mittelalter zweifellos größer als danach, so daß die Aufnahmefähigkeit für andere Sprachäußerungen wahrscheinlich proportional größer war. Die Auffassung, daß die Flußläufe die wichtigste Basisstruktur für die territoriale Einteilung der Niederlande bildeten, läßt sich auch deutlich mit der grilligen Form des Fürstbistums Lüttich sowie des Herzogtums Geldern illustrieren und dem Korridor von Städten entlang der IJssel, die das Niederstift von Utrecht vom Oberstift (Overijssel) schied. Sie führt uns weiter über die Flußbekken und Wasserscheiden zum Kriterium einer globalen Begrenzung der Gebiete, die durch die hydrographische Situation untereinander leicht Kontakte unterhalten konnten. Der geographische Raum der Niederlande war also vage und wechselnd begrenzt, entlehnte seine Kohäsion der Intensität der gegenseitigen Kontakte. Die günstigen Verkehrs- und Transportmöglichkeiten verbesserten und strafften diese Kontakte. Diese Beobachtung führt uns wie selbstverständlich zur Namengebung für die Region als Ganzes: Die Niederlande waren die Gebiete am Unterlauf der Flüsse. Von den Kerngebieten des deutschen Reiches am Oberrhein aus gesehen, war das ein auf der Hand liegender Gesichtspunkt, der in Akten der kaiserlichen Kanzlei aus dem frühen 15. Jahrhundert zum Ausdruck kam. Die Begriffe „das Niederland“ und „niederländische Städte“ bezogen sich dabei auf das Gebiet des Niederrheins. Im Jahr 1422 wird die Einzahlform mit folgender Aufzählung der Fürstentümer erläutert: Jülich, Geldern, Brabant, Lüttich, Holland, Hennegau, Namur und Flandern. „Niederlande“ und „Nyerland“ galten, im Unterschied zu „Niederrhein“, als Äquivalente für „partes inferiores Alemanie“, die niedriger gelegenen Teile Deutschlands13. Der Unterschied zwischen hoch- und niedriggelegenen Gebieten wurde überall gemacht, auf kommunalem und regionalem Niveau. Overijssel hieß das „Oberland“, und zum Beispiel auch in Österreich, in Schottland und im Elsaß unterschied man hohe und niedrige Teile des Landes. Im 15. Jahrhundert hieß der östliche Teil Preußens auch „Niederland“, im Gegensatz zum „Oberland“, womit die Komman-

___________ 13 Deutsche Reichstagsakten, Göttingen 1956f., Bd. VIII, 159, 165 (1422); Bd. X, 882–883, 894–895; Bd. XI, 406–409, 532–536 (1434).

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dantur Elbing des deutschen Ordens gemeint war14. In anderen Sprachen kam der Begriff „Niederlande“ auch vor. Das Bemerkenswerte an der Namensgebung der Niederlande ist die Mehrzahlform. Die karolingische Trennungslinie war die Schelde, wodurch der größte Teil Flanderns mit dem 1215 abgesonderten Artesien unter die Souveränität des französischen Königs und die übrigen Fürstentümer unter die des deutschen Königs fielen. Diese Grenze erhielt bis 1529 Rechte, Ansprüche und Interventionen von beiden Großmächten aufrecht. Mit dem König von England (und dessen seit Jahrhunderten andauernden Ambitionen auf französisches Territorium) als direktem Nachbarn und Handelspartner machte die geopolitische Lage die Niederlande verkehrstechnisch zu einem zentralen Ort, der an politische Fragmentierung und kulturelle Diversität gekoppelt war. Jede dieser Aspekte führte zu einem kräftigen Potential für Konflikte, aber auch für Wachstum. Pluriformität und Diversität scheinen die Innovation eher gefördert als gehemmt zu haben. Das zu erforschende Gebiet hat also nur während kurzer Zeit, von 1543 bis 1579/1585, eine relative politische Einheit gebildet, aber die Außenwelt sah sehr wohl eine Art von wirtschaftlich-geographischer Einheit in den dichtbesiedelten, strategisch und wirtschaftlich wichtigen, aber wegen ihrer offenen Grenzen besonders verletzlichen Mündungsgebieten der großen Flüsse. Bis Anfang des 17. Jahrhunderts nannten Italiener und Spanier das ganze Gebiet noch nach dem dominanten Territorium Fiandra oder Flandes15. Die Scheidung, die auf dem Westfälischen Frieden 1648 zwischen einem nördlichen und einem südlichen Teil vereinbart wurde, den beide Seiten noch jahrhundertelang Nederlandt, Nederlanden oder nach humanistischem Modell Belgicum, Belgica nannten, stimmte in keiner Weise mit früher bestehenden Grenzlinien überein16. Im Gegenteil, die Demarkationslinie, die quer durch die Fürstentümer oder Provinzen lief und im Lauf der Zeit eine Grenze wurde, läutete den Niedergang von Städten und Dörfern in den Grenzgebieten ein, die in eine periphere Situation gedrängt wurden17. Das Fehlen einer politischen Einheit bis 1543 darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß einige Fürstenhäuser schon seit dem 13. Jahrhundert mit wechselndem Erfolg die Vereinigung mehrerer Fürstentümer unter ihrer Obhut anstreb___________ 14

K. Neitmann, Die Landesordnungen des Deutschen Ordens in Preußen im Spannungsfeld zwischen Landesherrschaft und Ständen, in: Die Anfänge der ständischen Vertretungen in Preußen und seinen Nachbarländern, hrsg. v. Hartmut Boockmann, München 1992, 70. 15 Peter J. van Kessel, Van Fiandra naar Olanda. Veranderende visie in het vroegmoderne Italië op de Nederlandse identiteit (Mededelingen der Kon. Nederlandse Akademie van Wetenschappen, Afdeling Letterkunde, 56) Amsterdam 1993. 16 Hugo de Schepper, Belgium Nostrum 1500–1650 (Orde van den Prince), Antwerpen 1987, 1–10. 17 Paul M.M. Klep,

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ten. Dabei ging es im allgemeinen um zwei oder drei Regionen. Vom 12. bis zum 14. Jahrhundert vereinigten Fürsten Nachbargebiete unter ihrer Macht, wie Flandern und Hennegau von 1191 bis 1246, Brabant und Limburg ab 1288. Später betraf es auch Territorien die Hunderte von Kilometern auseinanderlagen, wie Hennegau mit Holland und Seeland ab 1299, Bayern mit Holland im Jahr 1346 und Burgund mit Flandern im Jahr 1384. Um 1430 gab es einen regelrechten Durchbruch, als Herzog Philipp der Gute von Burgund nach Flandern und Artesien auch Namur, Hennegau, Brabant, Limburg, Holland und Seeland erwerben konnte. Er setzte dafür alle nur denkbaren Machtmittel ein: Geld für die Ablösung von Rechten, das Gegeneinanderausspielen rivalisierender Erben, politische Unterhandlungen mit Untertanen oder rein militärisches Eingreifen. Die kombinierte Taktik, das Aussterben von Dynastien zu gebrauchen sowie finanzielles und strategisches Übergewicht einzusetzen, boten dem Burgunder Schritt für Schritt die Möglichkeit, eine beherrschende Position zu erringen18. Es ging letztendlich um einen geschlossenen Block der am dichtesten besiedelten und reichsten Fürstentümer in den Niederlanden, der um 1450 (mit der Pikardie und Luxemburg) ungefähr 62.000 km2 umfaßte. Eine zweite Welle von Eroberungen vollzog sich in den Jahren 1520 bis 1543, wobei vor allem Friesland, Groningen, Utrecht und Geldern einverleibt wurden. Das militärische und finanzielle Übergewicht der inzwischen den Habsburgern gehörenden Dynastie spielte in den meisten Fällen eine ausschlaggebende Rolle neben bestimmten dynastischen Rechten und Unterhandlungen mit den Ständevertretungen. Durch diesen zweiten Zusammenschluß kamen noch einmal ca. 20.000 km2 zu den Habsburgischen Niederlanden. Fügt man denen noch das weiträumige Stift Lüttich hinzu und läßt man die – 1475 wieder von Frankreich einverleibte – Pikardie außer acht, dann umfassen die Niederlande, wenn man sie als geographische und sozial-ökonomische Realität definiert, ca. 76.000 km2. Zum Vergleich: England erstreckte sich über 130.000 km2, die Terraferma von Venedig über 30.000 km2. Jedoch gibt es neben diesem Prozeß der allmählichen politischen Einigung noch andere Gründe, die Niederlande als Einheit zu betrachten. Erstens konnte man um 1550 selbstverständlich noch nicht vorhersehen, daß die Polarisierung zwischen der von Spanien aus geführten Zentralverwaltung und den kommunalen und regionalen Behörden zu einem allgemeinen Aufstand gegen Philipp II. führen würde und noch weniger, daß dieser auf eine Scheidung zwischen Nord und Süd hinauslaufen würde. Die Reformation und der Aufstand hatten in ihrer Anfangsphase wesentlich mehr Anhänger in den dichtbesiedelten Gebieten im Süden, wo 1566 der Bildersturm ausbrach und wo – während der Jahre 1574– ___________ 18 Wim Blockmans/Walter Prevenier, The Promised Lands. The Low Countries under Burgundian Rule, 1369–1530, Philadelphia 1999, 72–102.

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85 – in vielen großen Städten calvinistische Republiken entstanden19. Es ist sicher sinnvoll, einen Wachstumsprozeß zu einer möglicherweise dauerhaften staatlichen Einheit zu verfolgen, ohne die unvorhersehbaren Wendungen im Lauf der Ereignisse allzu viele Schatten vorauswerfen zu lassen. Diese prospektive Art der Geschichtsschreibung geht von geographischen Umständen aus, die Möglichkeiten boten und Schwierigkeiten aufwarfen. Die Wasserwirtschaft verursachte im ganzen Küstengebiet oft sehr akute Probleme, für die entsprechende Lösungen gesucht werden mußten. Die Periode vom 11. bis Mitte des 16. Jahrhunderts kann man als die Zeit bezeichnen, in der das Gebiet und die darin lebende Gesellschaft fundamentale Veränderungen durchmachten. In großem Rahmen wurde die Naturlandschaft in eine Kulturlandschaft umgeformt. Das war auch die Zeit, in der sich das städtische Netzwerk bildete, das in weiten Teilen der Region jahrhundertelang stabil blieb. Die Bevölkerungsdichte in Flandern, Holland und Seeland betrug Ende des 15. Jahrhunderts zwischen 60 und 70 Einwohner pro km2 20, was einem Wert entspricht, der in Europa in diesem Maßstab (zusammen mehr als 15.000 km2) nur noch in der Poebene erreicht wurde. In Brabant lag die Dichte mit 41 Einwohnern pro km2 auch noch weit über dem europäischen Mittelwert, war jedoch niedriger als in den umliegenden Territorien, da es sich im Norden und Süden um weitreichende, überwiegend ländliche Teile handelte. In den vier Kernterritorien lebten im Ganzen 1.443.000 Menschen auf gut 25.000 km2, was eine durchschnittliche Bevölkerungsdichte von 57 Menschen per km2 bedeutete. Hierbei fällt auf, daß verschiedene Territorien ihre eigenen Entwicklungsrhythmen durchgemacht haben, jedoch darf man keinen dieser Rhythmen ohne seinen Zusammenhang mit denjenigen der umliegenden Territorien sehen. Der Grad der Verstädterung war in den verschiedenen Territorien sehr unterschiedlich und setzte sich nicht überall gleichmäßig durch. In den am meisten urbanisierten Territorien wuchs die städtische Bevölkerung an bis ungefähr einen Einwohner auf drei, was für eine präindustrielle Gesellschaft verhältnismäßig hoch war. Die Stadtbevölkerung konnte nur dank intensiver Handelsbeziehungen mit den umliegenden, weniger dichtbesiedelten Gebieten, aus denen Nahrungsmittel und Grundstoffe angeliefert wurden, versorgt werden. Das erforderte gute Zugänglichkeit für den Transport von Massengütern, also die Lage an gut schiffbaren Flüssen und Küsten mit Hafenanlagen21. Der Transport gro___________ 19 Guido Marnef, Antwerp in the Age of Reformation, Baltimore 1996; J. Israel, Dutch Republic (Anm. 2), 101–106. 20 Blockmans/Prevenier, Promised Lands (Anm. 18), 150–154. 21 Wim Blockmans, The economic expansion of Holland and Zeeland in the fourteenth-sixteenth centuries, in: Studia Historica Oeconomica. Liber Amicorum Herman van der Wee, hrsg. v. Erik Aerts u.a., Leuven 1993, 41–57; Bas van Bavel/Jan Luiten van Zanden, The Jump-start of the Dutch Economy c. 1350–1500, in: Journal of Economic History 65 (2005).

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ßer und schwerer Lasten war jedenfalls auf dem Wasser wesentlich billiger als über Land. So zogen die am frühesten urbanisierten Gebiete nicht nur das umliegende Land, sondern auch die benachbarten Territorien mit hinein in einen Prozeß tiefgreifender Kommerzialisierung. Die Interaktion zwischen den Regionen scheint deshalb ein wesentlicher Faktor für das Verständnis des Wachstums zu sein, und dies kann eine Erklärung für die jahrhundertelange und bis heute andauernde Dynamik in den Niederlanden darstellen. Andauernd traten Anpassungen und Verlegungen von Aktivitäten auf, von einer Region in die andere und von der Stadt aufs Land. So konnte man die Unterschiede in der Entwicklung der Territorien auf produktive Weise nutzen. Immer wieder wurde nach den günstigsten Orten gesucht, um einen Vorteil im Konkurrenzkampf zu erlangen. Was den Zeitgenossen als mörderischer Wettbewerb oder sogar als Untergang gewerblicher Aktivität galt, kann mit dem distanzierten Blick des Historikers als die Dynamik interpretiert werden, die dem System all dieser Territorien zusammen Wettbewerbsvorteile gegenüber der großen weiten Welt bescherte. Investitionen wanderten, Migrationsströme folgten. Das rasend schnelle Wachstum von Metropolen wie Antwerpen, dessen Einwohnerzahl zwischen 1500 und 1560 von 40.000 auf mehr als 100.000 anwuchs, – und ein Jahrhundert später das von Amsterdam – läßt sich nur mit der Anziehungskraft auf Arbeitskräfte aus den ländlichen Gebieten erklären, die manchmal aus Hunderten von Kilometern entfernten Orten kamen22. Die mobilen Überschüsse an Arbeitskräften aus den ländlichen Gebieten orientierten sich immer wieder nach den Zentren, in denen sie die besten Arbeitsplätze und die höchsten Löhne erwarteten. Diese Dynamik macht die Geschichte der Niederlande im europäischen Kontext vom 11. bis 16. Jahrhundert zu einer faszinierenden Entwicklung von einer Durchschnittsregion zu einer auf sehr vielen Gebieten tonangebenden Region. Zwar zeigten die Niederlande in politischer Hinsicht ein Bild der Zerbröckelung und Abhängigkeit von externen souveränen Fürsten, jedoch geschah hier vieles auf wirtschaftlichem und auch kulturellem Gebiet früher und in größerem Umfang als in anderen Regionen. Fragmentierung bot schließlich auch Vorteile. Der wichtigste davon scheint gewesen zu sein, daß Mitbestimmung von Bürgern und Bauern schon während des 12. Jahrhunderts tief in die Gesellschaften eingedrungen waren. Dies geschah ein Jahrhundert vor der berühmten Magna Carta in England und war auch tiefgreifender, da die Mitbestimmung nicht nur die Barone betraf, sondern breite Schichten der Bevölkerung. Wir können hierfür einen doppelten Ursprung sehen: die Bürgerbevölkerung der schnell wachsenden Städte in der Grafschaft Flandern und die bäuerlichen Gemeinschaften, die die Moore von ___________ 22 Herman van der Wee, The Growth of the Antwerp Market and the European Economy (Fourteenth to Sixteenth Centuries), 3 Bde., Leuven/Den Haag 1963.

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Holland und Utrecht urbar machten und deshalb komplizierte Regulierungen austüfteln mußten, um das Wasser abzuleiten und außerhalb ihrer neu angelegten Polder zu halten. Beide Entwicklungen konsolidierten sich vom 11. bis zum 13. Jahrhundert. Ich werde erst die soziale Revolution, die sich in den flämischen Städte vollzog, besprechen und danach die Bildung selbständiger bäuerlicher Gemeinschaften in Holland und Utrecht23. Die Bürger der Grafschaft Flandern erzwangen von den Feudalherren Selbstverwaltung und eigene Rechte. Während der Krise der gräflichen Autorität 1127–28 gelang es verschiedenen Städten, von rivalisierenden Kandidaten weitreichende Privilegien zu erlangen. Ihrem Souverän, dem König von Frankreich und dessen Kreatur, dem Grafen Wilhelm von der Normandie, machten sie deutlich, daß sie diesen, wenn er die von ihm bestätigten und zugestandenen Privilegien weiterhin mißachten würde, vor ein Gericht, das aus den Vertretern der drei Stände bestand, bringen würden. Falls das Gericht zu dem Urteil kommen sollte, daß der Graf in der Tat ungesetzlich gehandelt hätte, würde es ihn absetzen und die Stände würden selbst einen Nachfolger wählen. Diese einzigartige und sehr frühe Fassung des Prinzips der Volkssouveränität in einer konstitutionellen oder zumindest an Gesetze gebundenen Monarchie fand inmitten von Volksaufständen in einer Reihe flämischer Städte statt. Auch wenn die Laufbahn des Grafen nicht durch eine Art „impeachment procedure“ ihr frühes Ende fand, sondern durch einen tödlichen Pfeilschuß, vermittelt diese Episode doch einen Eindruck von der Fähigkeit der Bürger der großen Städte, nicht nur ihre Privatrechte zu verteidigen, sondern sich auch wirksam mit der Verwaltung des Staates zu befassen. Während des 13. Jahrhunderts bot die schwächer werdende gräfliche Macht den Bürgern die Möglichkeit, sich tatsächlich als Mitverantwortliche der Landesregierung zu etablieren, und zwar bezüglich der Angelegenheiten, die ihre wirtschaftlichen Interessen unmittelbar betrafen, wie Münzprägung und internationaler Handel. Als Folge der neuen und möglicherweise noch einschneidenderen Krise der gräflichen Macht zwischen 1297 und 1302, als König Philipp IV. versuchte, die Grafschaft zu annektieren, wurde die soziale Basis der Stadtverwaltungen durch weitgehende Partizipation der Zünfte vergrößert. Ihr demographisches und ökonomisches Gewicht hatte die Unabhängigkeit der Grafschaft von Frankreich und damit die ___________ 23 Wim Blockmans, La normativa nelle città fiamminghe (secoli XI-XIII), in: Legislazione e prassi istituzionale nellǥEuropa medievale. Tradizioni normative, ordinamenti, circolazione mercantile (secoli XI-XV), hrsg. v. Garbriela Rossetti, Neapel 2001, 67– 78; William H. TeBrake, Medieval Frontier. Culture and ecology in Medieval Rijnland, Texas UP 1985; Herman van der Linden, De cope. Bijdrage tot de rechtsgeschiedenis van de openlegging der Hollands-Utrechtse laagvlakte, Assen 1955; Ders., Les communautés rurales en Hollande de la fin de la période mérovingienne à la Révolution française; W.P. Blockmans/J. Mertens/A. Verhulst, Les communautés rurales dǥAncien Régime en Flandre: caractéristiques et essai dǥinterprétation comparative, in: Les Communautés rurales, Bd. V (Recueils de la Société Jean Bodin XLIV), Paris 1987, 223–248.

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Dynastie wiederhergestellt. Diese konnte danach nicht umhin, den Zünften sowohl wichtige ökonomische und soziale Rechte als auch politische Mitbestimmung zuzusprechen. Während eines großen Teils des 14. Jahrhunderts blieben diese Rechte heftig umstritten, aber als um 1360 eine Stabilisierung eintrat, stellte sich heraus, daß z. B. in Gent, das damals mit wahrscheinlich mehr als 65.000 Einwohnern nach Paris die größte Stadt Nordwesteuropas war, 20 der 26 Sitze der Stadtverwaltung den Zunftleuten vorbehalten waren. Gent wurde damit zum Extremfall für politische Partizipation durch Handwerker in ganz Europa24. Die Selbständigkeit und die weitgehenden politischen Rechte der Siedler in Holland und Utrecht, die ab dem späten 11. Jahrhundert die Moorböden kultivierten, lassen sich aus der extrem ungünstigen Bodenbeschaffenheit erklären. Nur durch sehr methodische Arbeitsweise und sehr starke Sozialdisziplin war es möglich, diese Böden zu entwässern und dauerhaft gegen Überschwemmungen zu schützen. Dafür waren systematische und regelmäßige Tätigkeiten unentbehrlich, wie z. B. das Graben von Abwasserkanälen, oft über viele Kilometer Länge, das Bauen von Schleusen und Deichen und die ständige Wartung und Bewachung dieser Infrastruktur. Um Siedler für diese Gebiete, die nur mit Schwerstarbeit urbar gemacht werden konnten, zu werben, mußten die Landesherren ihnen sehr günstige Rechte zusichern. Außerdem konnte die Abstimmung der Arbeiten, von denen das Überleben der ganzen Gemeinschaft abhing, nur dann erreicht werden, wenn man allen Beteiligten sowohl Verantwortung als auch Rechte übertrug, die proportional zur Größe ihres Landbesitzes waren. Da Fahrlässigkeit nur eines einzigen die ganze Gemeinschaft bedrohen konnte, gab es sehr strenge Strafen, sogar die Todesstrafe, für Verwahrlosung oder Beschädigung der Wasserwirtschaft. Deshalb gründeten die bäuerlichen Gemeinschaften selbst Zweckorganisationen, öffentliche Institutionen, die sich dem Wohl der Wasserwirtschaft widmeten. Am Anfang waren es rein kommunale Verbände, aber langsam zwang die zunehmende Bedrohung durch Überschwemmungen die Menschen zur Gründung größerer Verbände, deren Umfang und Aufgaben naturgemäß vom hydrographischen Zustand des Gebietes abhing. Diese Wasserbehörden (waterschappen) und Deichverbände (hoogheemraadschappen) übten Verwaltungsfunktionen aus, wie z. B. Rechtsprechung, Steuererhebung, Kontrolle der Infrastruktur, Auferlegung von Sanktionen und Ausführung und Organisation von öffentlichen Ausschreibungen. Die kommunale Ebene war für die Gesamtheit der Aufgaben bald zu beschränkt, das der Grafschaft aber zu groß, zu distanziert und zu wenig vertraut mit den technischen Problemen. Um jedoch effektive Eingriffe in die Land___________ 24 Marc Boone, Gent en de Bourgondische hertogen ca. 1384–ca. 1453. Een sociaalpolitieke studie van een staatsvormingsproces (Verhandelingen van de Koninklijke Vlaamse Academie voor Wetenschappen, Letteren en Schone Kunsten) Brüssel 1990.

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schaft auszuführen, war man auf die Spezialkenntnisse angewiesen, die gerade in der kommunalen Gemeinschaft vorhanden waren. Überdies hatten die Bewohner – Deichgeschworene genannt – außerordentliches Interesse an der sorgfältigen Kontrolle der Wasserwirtschaft. Da die meisten planmäßig angelegten Dörfer aus gleichmäßig großen Parzellen bestanden, bildeten sie auch die Basis für den Egalitarismus, der innerhalb dieser bäuerlichen Gemeinschaften und ihren Organisationen herrschte. Rechte auf Autonomie und Autokephalie (Begriffe, die Max Weber geprägt hat) fanden in den Niederlanden ihren Ursprung ebenso in den Städten wie in den Siedlerdörfern. Diese waren natürlich in den am niedrigsten gelegenen Gebieten entlang der Küsten und großen Flüsse zu finden, vor allem in Utrecht, Holland und Seeland. Die Städte traten am frühesten und stärksten in Flandern, später auch in Brabant, in den Vordergrund. Zu der Zeit, als die Herzöge von Burgund all diese Fürstentümer unter ihre Gewalt brachten, wurden sie mit sehr alten und tiefverwurzelten Traditionen von Mitbestimmung konfrontiert. Jedes Mal, wenn sie es wagten, an diesen Rechten zu rütteln, rief das bei den Bürgern heftige Widerstände und Aufstände hervor. Selbst wenn sie diese mit Übermacht gewinnen konnten, mußten sie im Grunde den mündigen Untertanen doch immer wieder Zugeständnisse machen. Die Formen pluriformer sozialer Organisation, Beratschlagung und Beschlußfassung, die in jener Zeit in Dörfern und Städten ihren Eingang fanden, bildeten sogar bis Ende des 18. Jahrhunderts die Basis für die gesellschaftliche und politische Ordnung25. Zusammenfassend kann man sagen, daß die späte Bildung einer politischen Einheit in den Niederlanden sich auch aus der Kraft und der Autonomie der kommunalen Machtstrukturen, die sich dort schon früher als anderswo entwikkelt hatten, ergibt. Die Strukturen zeigten ein hohes Maß an Vielfältigkeit, und ihre gegenseitigen Verhältnisse veränderten sich im Laufe der Jahre auch stark. Es ist deutlich, daß die Kernregionen einen tiefgreifenden Einfluß auf ihre Umgebung ausübten, aber gleichzeitig nur wegen ihrer engen Interaktion mit der Peripherie ihre dominierende Stellung begründen konnten. Intensive gegenseitige Beziehungen und Beeinflussung, die zur Substitution von gewerblichen und kommerziellen Tätigkeiten und also zur Verschiebung von Kernpositionen führen konnten, bildeten also eine Einheit in den Niederlanden, die wesentlich stabiler war als irgendein politisches System im Mittelalter dies hätte erreichen können. Nachdem die politische Union doch zustande gekommen war, konnte sie nicht umhin, die älteren Praktiken der kommunalen und regionalen Autonomie zu respektieren. Ein typischer Ausdruck davon waren die vielen verschiedenen Formen von politischer Vertretung von Städten und Territorien, deren Ergebnis die sich in den Jahren 1430 bis 1465 langsam herauskri___________ 25 Einen neuen Überblick über diese Problematik bietet Cees Dekker (Hrsg.), Geschiedenis van de Provincie Utrecht, Bd. I, Utrecht 1997.

Geschichte eines nicht-bestehenden Staates

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stallisierenden Generalstaaten waren. Die Einheit, die da gegenüber dem Fürsten Gestalt annahm, bestand aus einer bunten Verschiedenheit von regionalen und kommunalen Institutionen, die einander jedoch perfekt verstanden, wenn es darum ging, gemeinsame wirtschaftliche Interessen zu vertreten oder die eigenen Privilegien zu verteidigen26. Aus dieser Perspektive ist es logisch, in jeder Periode dem Gebiet, das in einer bestimmten Zeit Kernfunktionen erfüllte, relativ viel Beachtung zu schenken. Ohne diese treibende Kraft wäre in den benachbarten Regionen kein Funke übergesprungen, der in einem folgenden Stadium die Kernfunktionen in diese Richtung hätte versetzen können. Vom 12. bis zum 16. Jahrhundert kann man die Kernfunktionen der Reihe nach im Artesien, in Flandern und Brabant lokalisieren. Davor lag der Kern im Maasland, im 16. Jahrhundert setzte ein starkes Wachstum der seeländischen Häfen und Amsterdams ein. Dort, an der Nordsee, lagen die Metropolen Arras, Brügge und Antwerpen, jede von einem ganzen Kranz von Gewerbestädten und einem intensiv kommerzialisierten Hinterland umgeben. Keiner dieser Kerne hätte seine Rolle spielen können ohne intensiven Austausch zwischen Personen und Gütern in den Regionen der nächsten Umgebung. Diese Dynamik ging nahezu ganz von der Bevölkerung selbst aus, nicht von denen, die über sie herrschten, manchmal sogar gegen sie. Deshalb erscheint es mir völlig berechtigt, den Akzent auf diesen regionalen Zusammenhang zu legen, eher als auf das Spiel der politischen Machthaber. Jedenfalls war es der Kreativität der Bürger und Bauern zu verdanken, daß zwischen 1100 und 1550 in den Niederlanden eine Gesellschaft wachsen konnte, die in vielerlei Hinsicht führend war in Europa, auch ohne dynastische Einheit oder königlichen Titel. So betrachtet findet die Geschichte der Niederlande vor dem Westfälischen Frieden ihren Zusammenhang in der gesellschaftlichen Basis, so wie die des Reiches mit Recht von Heinz Schilling meisterhaft vor der übergreifenden politischen Struktur beschrieben worden ist27. Nicht zufälligerweise findet die Begeisterung, die seit den dreißiger Jahren auflebte, um die Geschichte der Niederlande im Rahmen der ehemaligen XVII Provinzen zu schreiben, heute weniger Unterstützung, weil die politische Struktur keinen dauernden Rahmen bietet. Wenn man aber nicht von der politischen Einheit, sondern von den gesellschaftlichen und ökonomischen Verbänden und Beziehungen ausgeht, dann findet man doch sehr intensive Zusammenhänge.

___________ 26

Wim Blockmans/Henk van Nierop, The Low Countries, in: Resistance, Representation and Community, hrsg. v. Peter Blickle, Oxford 1997, 256–290. 27 Heinz Schilling, Aufbruch und Krise (Anm. 2). Ich bereite einen Band in der Reihe „Geschiedenis van Nederland“, herausgegeben vom Bert Bakker Verlag in Amsterdam, vor, der sich mit der Periode 1100–1550 befassen wird.

Stadtrepublikanismus im Kirchenstaat? Ein Versuch Wolfgang Reinhard

I. Sich Heinz Schilling zuliebe auf die Suche nach Stadtrepublikanismus im Kirchenstaat zu machen, erscheint auf den ersten Blick als verlorene Liebesmüh. Hat doch der venezianische Botschafter in Rom Paolo Paruta, ein selbst unter seinesgleichen außergewöhnlich scharfer Beobachter, 1595 eindeutig festgestellt: „Der Papst befiehlt über den gesamten Kirchenstaat mit höchster Autorität sowie mit voller und absoluter Befehlsgewalt, in dem das Ganze von seinem Willen abhängt. Demzufolge kann man wahrlich sagen, das sei eine königliche Regierung, und in ihrer Art frei und entzogen von anderen Verpflichtungen und Bindungen durch Gesetze und einzelne Ordnungen, während dieser Bedingtheit andere Königreiche weitgehend unterworfen sind infolge der großen Autorität, die dort die Räte, Parlamente, Barone oder Völker besitzen, gemäß den Gewohnheiten und Privilegien verschiedener Provinzen. Hingegen ordnet und regelt der Papst alle Dinge mit höchster und absolutester Autorität, ohne den Rat anderer zu gebrauchen, sofern es ihm nicht selbst gefällt, und ohne ihn bindende Konstitutionen. … Diese Autorität der Päpste wurde seit einigen Jahren immer mehr ausgeweitet und entwickelte sich zur Monarchie“1. ___________ 1 „Comanda il pontefice a tutto lo Stato Ecclesiastico con suprema autorità e con mero e assoluto imperio, dipendendo il tutto dalla sua sola volontà. Sicché veramente si può dire quelle essere un governo regio, e della specie più libera e sciolta dǥaltri obblighi e legami di leggi e ordini particolari, alla quale più stretta condizione sono pur soggetti diversi Stati regi per la grande autorità che vi tengono i consigli, o parlamenti, o i baroni, o i popoli, secondo i costumi e privilegi di diverse provincie. Ma il Pontefice con suprema e assolutissima autorità ordina e dispone tutte le cose, senza né usar altrui consiglio, se non quanto a lui medesimo piace, né ricevere dǥalcuna contraria osservata costituzione alcun impedimento. … Questa autorità deǥ Pontefici già alquanti anni si è andata sempre più allargando e ritirandosi alla monarchia.“ Nach Paolo Prodi, Lo sviluppo dellǥassolutismo nelle Stato Pontificio, Bd. 1, Bologna 1968, 84 nach Albèri, serie 2, volume 4, 412f.; Übersetzung (ergänzt) von Bernhard Schimmelpfennig, Der Papst als Territorialherr im 15. Jahrhundert, in: Ferdinand Seibt/Winfried Eberhardt (Hrsg.), Europa 1500. Integrationsprozesse im Widerstreit. Staaten, Regionen, PersonenVerbände, Christenheit, Stuttgart 1986, 84–95, hier 84.

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In der Sprache jener Zeit die klare Beschreibung eines Herrschaftssystems, das in der Sprache der Geschichtswissenschaft zentralistischer Absolutismus genannt wurde. Die Forschung zur Geschichte des Kirchenstaates ist dem gefolgt, freilich nicht ohne Einschränkungen. Denn Paruta bezieht seine Aussagen offensichtlich auf Entscheidungen in der Zentrale, insbesondere auf die endgültige Ausschaltung der Mitregierungsansprüche des Kardinalskollegiums, während er an anderer Stelle von der institutionellen Uneinheitlichkeit und daraus resultierenden Schwäche des Kirchenstaates schreibt, der nur durch die Autorität des Papstes und die Religion zusammengehalten werde2. Jean Delumeau betonte diese Zentralisierungsleistung und hätte dem Kirchenstaat sogar das politische Potential einer italienischen Führungsmacht und eines Nucleus späterer Nationsbildung zuschreiben wollen, wenn es nicht an den wirtschaftlichen Grundlagen dafür gefehlt hätte3. Wenig später schilderte auch Giampiero Carocci den Absolutismus der römischen Zentrale, verknüpfte ihn aber kausal mit der Führungsrolle des Papsttums in der sogenannten Gegenreformation. In offensichtlicher Anlehnung an Paruta befand er allerdings, dieser päpstliche Absolutismus sei nur durch die unzusammenhängende Vielfalt der Städte und Feudalherrschaften seines Territoriums möglich geworden, aber von vorneherein in seiner staatsbildenden Aktivität dadurch zum Mißerfolg verdammt gewesen, daß er für seine geistliche Elite nur ein Instrument im Dienste der Kirche darstellte4. In der zusammen mit Alberto Caracciolo verfaßten Geschichte des Kirchenstaates kam Mario Caravale zu dem Schluß, bis Gregor XIII. einschließlich habe es keine kohärente Zentralisierungspolitik gegeben, sondern nur unzusammenhängende Einzelmaßnahmen. Der Zustand des Kirchenstaates im 16. Jahrhundert habe sich bis dahin nicht wesentlich von demjenigen im 15. Jahrhundert unterschieden5. Demgegenüber wirkt die von Caracciolo anschließend geschilderte absolutistische Zentralisierungspolitik Sixtus’ V. und Clemens’ VIII. sowie verschiedener Päpste des 17. Jahrhunderts ebenso innovativ wie konsequent. Allerdings habe sie die herkömmlichen Werte der Feudalgesellschaft nicht unterdrücken können, was zu einer Wiederkehr traditionaler Oligarchien in neuer Variante geführt habe6. Dahinter steht deutlich erkennbar der unausgesprochene Vorwurf, den Aufstieg des Bürgertums ___________ 2 Nach Cesarina Casanova, Le mediazioni del privilegio. Economia e poteri nelle legazioni del Settecento, Bologna 1984, 16. 3 Jean Delumeau, Vie économique et sociale de Rome dans la seconde moitié du XVIe siècle, 2 Bde., Paris 1957–1959; ders., Les progrès de la centralisation dans l’État pontifical au xvie siècle, in: Revue Historique 226(1961), 399–410. 4 Giampiero Carocci, Lo Stato della Chiesa nella seconda metà del secolo XVI, Mailand 1961, 50, 55, 78, 93, 95, 103f., 129f. 5 Mario Caravale/Alberto Caracciolo, Lo Stato pontificio da Martino V a Pio IX (Storia d’Italia 14), Turin 1978, 3, 352–354. 6 EBd. 383f., 391–396, 446–448.

Stadtrepublikanismus im Kirchenstaat? Ein Versuch

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behindert und damit die historische Aufgabe der Modernisierung verfehlt zu haben. Denn alle genannten Arbeiten folgen der gemeinsamen historiographischen Teleologie von Staatsbildung und sozio-ökonomischer Modernisierung, die vom Kirchenstaat schlußendlich verfehlt wurden. Auch Paolo Prodi, der zunächst ebenfalls den Aufstieg des kirchenstaatlichen Absolutismus verfolgte7, blieb teilweise weiter im Rahmen dieser Vorstellungen, nahm aber an einer entscheidenden Stelle eine revolutionäre Neueinschätzung vor, die das bisherige Geschichtsbild mit guter empirischer Begründung ins Gegenteil verkehrte. Wenn der geistlich-weltliche Doppelcharakter der Papstherrschaft bisher als wesentliche Ursache ihrer Schwäche galt, gerät sie bei Prodi durchaus im Einklang mit Paruta zu einer wenn auch nur vorübergehenden Quelle politischer Stärke, die dem Papsttum im 16./17. Jahrhundert sogar einen Entwicklungsvorsprung bei der Staatsbildung verschafft habe. Solange Politik und Religion eng verknüpfte Bestandteile ein und derselben politischen Kultur, geradezu zwei Seiten derselben Sache waren, bedeutete die totale geistliche und weltliche Kontrolle des Papst-Königs über seine Untertanen eine Machtvollkommenheit, nach der andere Monarchen zwar ebenfalls strebten, die sie aber im selben Umfang nie erreichen konnten8. Der Preis war die Klerikalisierung des Staates im Sinne der Unterwerfung unter das Machtmonopol einer Elite aus Geistlichen und die Säkularisierung der Kirche im Sinne ihrer Verwandlung in eine Art von Staat. Erstere erwies sich als Wettbewerbsnachteil, sobald die Staatsbildung in Europa seit dem späteren 17. Jahrhundert zu säkular dominierten und nationalen Formen fortschritt, letztere hat die hergebrachte römische Rechtskirche endgültig zu einem primär politischen Machtapparat werden lassen – bis heute9. Die Zentralperspektive der Staatsbildung freilich hat Prodi wie seine Vorgänger ausdrücklich beibehalten10. Mehr denn je handelte es sich auch für ihn um einen siegreichen Kampf gegen die Autonomie von Feudalherrschaften und Stadtgemeinden, wobei er der stillschweigenden Ausweitung der alltäglichen Kontrolle durch die päpstliche Verwaltung und der alltäglichen Normsetzung durch die päpstliche Justiz sogar mehr Bedeutung zuschrieb als gelegentlichen spektakulären militärischen Unterwerfungsaktionen wie Bologna 1506, Perugia 1540 und Ferrara 1598. Die Gewährung oder Duldung eines begrenzten Maßes lokaler Autonomie und die Festschreibung der ökonomischen und sozialen Machtstellung der lokalen Oligarchie seien zwar der Preis für diesen Erfolg ___________ 7

Prodi, Lo sviluppo (wie Anm. 1). Vgl. dazu Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 3. Aufl., München 2002, 263–275. 9 Paolo Prodi, Il sovrano pontefice. Un corpo e due anime: la monarchia papale nella prima età moderna, Bologna 1982, bes. 43, 349, 353. 10 EBd. 85. 8

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gewesen, dürften aber nicht mit Verzicht auf die Ausweitung der Souveränität des Papst-Königs verwechselt werden11. Um dieselbe Zeit, als Prodi die traditionelle Abneigung der italienischen Historiographie gegen das Papsttum, das sich so lange als Hindernis der Nationalstaatsbildung erwiesen hatte, erfolgreich in Frage stellte, geriet auch die unbestrittene Dominanz der nationalstaatlichen Zentralperspektive ins Wanken, was in Italien nicht zuletzt mit Beiträgen von Elena Fasano Guarini dokumentiert ist12. Ein Zusammenhang mit der europaweiten politischen Aufwertung der Regionen ist ebenso wenig zu verkennen13 wie ein solcher mit der historiographischen Wende zur Mikrogeschichte, auch wenn diese sich zunächst wenig für Politik interessierte. Aber Vorgänge und Strukturen auf lokaler Ebene blieben hinfort nicht mehr ausschließlich gelegentlich belächelten Heimathistorikern überlassen, sondern wurden jetzt durchaus als wesentlich für die Gesamtentwicklung wahrgenommen, bis hin zu der an und für sich paradoxen Vorstellung einer „Staatsbildung von unten“. Paradox, weil das Interesse an der Ausbildung der Großorganisation, die sich „moderner Staat“ nennt, natürlich weniger von unten als von oben kommen mußte, zumindest vor dem massiven Einsetzen der nationalen Bewegung. Wie überall in Europa so wurde jetzt auch im Kirchenstaat erstens die nach wie vor beträchtliche Inhomogenität der angeblich hoch zentralisierten absoluten Monarchie neu entdeckt und das durchaus vorhandene Programm monarchischer Zentralisierung von einem expliziten Masterplan auf ein unterschwelliges implizites Leitmotiv kontingenten und weitgehend inkohärenten staatlichen Handelns reduziert; beides fand ja sogar in den paradigmatischen Fällen Frankreich und Preußen statt. Zweitens verwandelten sich die lokalen Personen und Institutionen dabei aus gelegentlich widerspenstigen, aber insgesamt definitionsgemäß passiven Objekten des Einwirkens der expandierenden Staatsgewalt in deren zwar schwächere, aber dennoch ernst zu nehmende Partner, in selbständig handelnde Subjekte der Geschichte. Zwar bleibt auch nach jüngeren, einer solchen neuen Sicht der Dinge verpflichteten Untersuchungen italienischer und deutscher Forscherinnen und Forscher zu Städten des Kirchen___________ 11 EBd. 107f., 155f. Zur höchst aufschlussreichen Unterdrückung kirchlich begründeter lokaler Autonomie durch die politische Zentrale, in gewisser Hinsicht im Widerspruch zu den Beschlüssen des Reformkonzils von Trient, vgl. eBd. 251–293. 12 Elena Fasano Guarini, Gli Stati dellǥItalia centro-settentrionale tra Quattro e Cinquecento: continuità e trasformazioni, in: Società e storia 6(1983) 613–639; dies., Centro e periferia, accentramento e particolarismi: dicotomia o sostanza degli Stati in età moderna, in: Giorgio Chittolini/Anthony Molho/Pierangelo Schiera (Hrsg.), Origini dello Stato. Processi di formazione statale in Italia fra medievo ed età moderna, Bologna 1994, 147–175. 13 Andrea Gardi, Lǥamministrazione pontificia e le provincie settentrionali dello Stato (XIII-XVIII secolo), in: Archivi per la storia 13(2000), 35–65, hier 37.

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staats kein Zweifel an der letztinstanzlichen Dominanz der päpstlichen Monarchie und der zunehmenden politischen Sterilität der lokalen Oligarchien14. Aber sie lassen auf der anderen Seite durchaus auch ein Verhalten und eine politische Kultur der letzteren erkennen, das wir mit Heinz Schilling als „Republikanismus“ bezeichnen können15, allerdings, das soll nicht verschwiegen werden, mit langfristig abnehmender Tendenz. Aber auch darin unterscheidet sich der Kirchenstaat nicht von anderen Monarchien Europas.

II. Das ist nicht weiter erstaunlich, wenn wir bedenken, daß der Kirchenstaat mit Ausnahme des äußersten Südens ein Städteland mit ausgeprägter republikanischer Tradition gewesen ist. Im kommunalen Mittelalter Italiens gab es, ___________ 14 Ich stütze mich vor allem auf folgende Veröffentlichungen: Raffaele Molinelli, Un’oligarchia locale nell’età moderna, Urbino 1976 (über Jesi); Bandino Giacomo Zenobi, Ceti e potere nella Marca pontificia, Bologna 1976; ders., Le ben regolate città. Modelli politici nel governo delle periferie pontificie in età moderna, Roma 1994; Angela de Benedictis, Patrizi e comunità. Il governo del contado Bolognese nel ‘700, Bologna 1984; dies., Ad bonum regimen, ordinem et gubernationem: per una storia della costituzione territoriale tra Quattro e Cinquecento. Il caso di Bologna, in: Giovanni Tocci (Hrsg.), Persistenze feudali e autonomie comunitative in stati padani fra Cinque e Settecento, Bologna 1988, 195–217; dies., Contrattualismo e repubblicanesimo in una città d’antico regime: Bologna nello Stato della Chiesa, in: Materiali per una storia della cultura giuridica 22(1992) 269–299; dies., Respublica stans per se per vim contractus. Bologna, Stadt im Kirchenstaat: politische Kultur und Recht, in: Zeitschrift für Historische Forschung 20(1993) 158–187; dies., Repubblica per contratto. Bologna, una città europea nello Stato della Chiesa, Bologna 1995; dies., Una guerra d’Italia, una resistenza di popolo. Bologna 1506, Bologna 2004; Andrea Gardi, Lo Stato in provincia. L’amministrazione della Legazione di Bologna durante il regno di Sisto V (1585–1590), Bologna 1994; ders., L’amminstrazione (wie Anm. 13); Ingo Stader, Herrschaft durch Verflechtung. Perugia als Kirchenstaatsprovinz unter Paul V. (Camillo Borghese, 1605– 1621). Studien zur frühneuzeitlichen Mikropolitik im Kirchenstaat, Frankfurt 1997; Nicole Reinhardt, Macht und Ohnmacht der Verflechtung. Rom und Bologna unter Paul V. Studien zur frühneuzeitlichen Mikropolitik im Kirchenstaat, Tübingen 2000; Birgit Emich, Territoriale Integration in der Frühen Neuzeit. Ferrara und der Kirchenstaat, Köln 2005; dies., Bologneser libertà, Ferrareser decadenza: Politische Kultur und päpstliche Herrschaft im Kirchenstaat der frühen Neuzeit, in: Ronald G. Asch/Dagmar Freist (Hrsg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln 2005, 117–134. 15 Heinz Schilling, Gab es im späten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit in Deutschland einen städtischen „Republikanismus“? Zur politischen Kultur des alteuropäischen Stadtbürgertums (1985/1988), in: ders., Ausgewählte Abhandlungen zur europäischen Reformations- und Konfessionsgeschichte, hrsg. v. Luise Schorn-Schütte/Olaf Mörke, Berlin 2002, 157–204; ders., Stadt und frühmoderner Territorialstaat: Stadtrepublikanismus versus Fürstensouveränität. Die politische Kultur des deutschen Stadtbürgertums in der Konfrontation mit dem frühmodernen Staatsprinzip (1991), in: eBd. 205–230.

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vom Sonderfall Rom abgesehen, zwischen Viterbo und Ferrara nicht weniger Stadtrepubliken als zwischen Genua und Venedig und natürlich erheblich mehr als in der viel kleineren Toskana. Und mit Bologna befand sich darunter eine von europäischem Rang wie Florenz, Genua, Mailand, Pisa, Venedig16. Die meisten dieser Städte folgten nach und nach in der einen oder anderen Weise der politischen Normalentwicklung von der Konsularverfassung über das Regiment eines Podestà und die sogenannte Volksherrschaft zur Signorie und schließlich zur Unterwerfung unter eine Territorialherrschaft, aber beides mit Beibehaltung republikanischer Formen innerer Selbstverwaltung. Aus einer informellen Gemeinde der wichtigeren Stadtbewohner neben den bischöflichen oder gräflichen Stadtherren entwickelte sich eine Institution mit Rechtspersönlichkeit, aus Commune wurde ein Substantiv und Synonym für Civitas. Die Bürgerversammlung, Parlamentum oder Arengo, später durch einen großen und einen kleinen Rat ersetzt, bestellte auf Zeit eine größere Anzahl von Consules, trotz des altrömischen Vorbilds mehr als zwei, wahrscheinlich, um die Vertretung der verschiedenen Schichten und Gruppen zu sichern. Dieser Vorgang begann im späten 11. Jahrhundert und war im 12. abgeschlossen. Der ursprünglich dominierende Stadtadel blieb dabei offen für Neuzugänge von unten und außen. Es gab ja noch keine eindeutige Definition von Adel außer dem Ritterschlag, aber die Städte ließen nicht selten boni homines de populo convenienter divites, kurz und nur für spätere Begriffe widersprüchlich auch nobiles populares genannt17, zu Rittern schlagen, um sich ihren Kriegsdienst als Reiter zu sichern. Zu diesen Aufsteigern aus der Stadt kamen Zuwanderer vom Land, nicht zuletzt grundbesitzende Adelige, denn die Städte verschafften sich alsbald anstelle ihrer bisherigen Herren die Kontrolle über ihr Umland, den Contado, wörtlich die „Grafschaft“. Es konnte sich aber auch um das Territorium der Diözese ihres Bischofs handeln. Der Landadel wurde in die städtische Gesellschaft eingefügt, während der Stadtadel, und nicht nur dieser, aufs Land ausgriff. Ende des 13. Jahrhunderts hatten zwei Drittel der Bürger von Städten wie Macerata, Orvieto und Perugia Grundbesitz auf dem Land18. Die Kontrolle über den Contado sollte unabhängig von der Natur des Stadtregiments ein wesentliches Merkmal der italienischen Städte bleiben19. ___________ 16

Daniel Waley, Die italienischen Stadtstaaten, München 1969, 18f. EBd. 47. 18 Philip Jones, Economia e società nell’Italia medievale: la leggenda della borghesia, in: Storia d’Italia. Annali I. Dal feudalesimo al capitalismo, Turin 1978, 185–372, hier 222, 328–336. 19 Waley, Stadtstaaten (wie Anm. 16) 44–66, 110f., 117; Jones (wie Anm. 18); Ovidio Capitani, Città e comuni, in: Ovidio Capitani u.a., Comuni e Signorie: istituzioni, società e lotte per l’egemonia (Storia dǥItalia 4), Turin 1981, 3–57, hier 26–36; Antonio Ivan Pini, Dal comune città-stato al comune ente amministrativo, in: eBd. 449–587, hier 457–485; Giorgio Chittolini, Signorie rurali e feudi alla fine del medioevo, in: 17

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Obwohl das Konsulargremium eigentlich zur Zähmung der dominandi libido (Otto von Freising)20 mächtiger Familien und Gruppen bestimmt war, repräsentierte es häufiger deren Konflikte, als zu ihrer Befriedung beizutragen. Dafür sollte schon in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts die Bestellung eines einzigen Oberbeamten mit umfassenden Vollmachten, des podestà, Abhilfe schaffen, eine Lösung, die sich Anfang des 13. Jahrhunderts bereits weithin durchgesetzt hatte. In der Regel handelte es sich um einen auf Zeit berufenen Juristen auswärtiger Herkunft. Manche Juristen machten einen Beruf aus der sukzessiven Ausübung dieses Amtes in verschiedenen Städten. Denn gegen die dauerhafte soziale Einwurzelung des podestà in der Stadt und ihren Parteien wurden sorgfältige institutionelle Regelungen getroffen. Inzwischen beanspruchten die Städte nämlich die Gesetzgebungshoheit, das wesentliche Merkmal der Souveränität, und gingen dazu über, alles und jedes in ihren Statuten zu regeln. Mit dem Aufstieg des popolo in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts verlor der podestà allerdings an Bedeutung und wurde auf einen bloßen städtischen Oberrichter reduziert21. In dieser bescheideneren Rolle hat er in vielen Städten die weiteren Wandlungen des politischen Systems überlebt. Offensichtlich hatte auch die Einrichtung des podestà weder die horizontalen Konflikte zwischen Faktionen verschiedener Art noch die vertikalen zwischen den sozialen Schichten dauerhaft befrieden können. Vor allem wurde einer neuen Welle sozialer Aufsteiger nicht schnell genug der Zugang zur herrschenden Schicht der adeligen und nicht-adeligen Magnates gewährt. Infolgedessen strebte diese neue Elite von meliores et potentiores populi danach, mit Hilfe der Organisation des popolo die konfliktfreudigen Mächtigen im Interesse der Gemeinde zu bändigen und sich selbst dabei einen möglichst großen Anteil an der Macht zu verschaffen. In der Mehrzahl der Kommunen wurde in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts auf der Basis der Zünfte oder der städtischen Wehrorganisation nach Quartieren eine Organisation des popolo, worunter eher die Mittel- als die Unterschichten zu verstehen sind, mit einem capitano del popolo als Befehlshaber oder sogar Gegen-podestà geschaffen. Doch bald spielten die von den Quartieren und Zünften gestellten anziani oder priori del popolo die wichtigere Rolle. Im gar nicht so seltenen Extremfall übernahm ___________ eBd. 589–676, hier 610–613; Augusto Vasina, Lǥarea emiliania e romagnola, in: Giorgio Cracco u. a., Comuni e signorie nellǥItalia nordorientale e centrale: Veneto, EmiliaRomagna, Toscana (Storia dǥItalia 7,1), Turin 1987, 359–559, hier 385–419; JeanClaude Maire Vigeur, Comuni e signorie in Umbria, Marche e Lazio, in: Girolamo Arnaldi u.a., Comuni e signorie nellǥItalia nordorientale e centrale: Lazio, Umbria e Marche, Lucca (Storia dǥItalia 7,2), Turin 1987, 321–606, hier 383–418, 435–466. 20 Jones (wie Anm. 18), 309. 21 Waley (wie Anm. 16), 68–71, 76–111; Capitani, Città (wie Anm. 19), 36–38; Pini (wie Anm. 19), 474–478, 525–528; Vasina (wie Anm. 19), 429–436; Maire Vigeur (wie Anm. 19) 418–425.

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dieser „Staat im Staate“ den „Staat“ der Stadt und sicherte seine Herrschaft durch formellen Ausschluß der Magnaten. Soziale Gegensätze von dieser Schärfe waren jenseits der Alpen selten. „In Italia regnat populus“, hieß es dort22. In Wirklichkeit entwickelten sich die neuen Herren zu neuen Magnaten, während die alten häufig durchaus präsent blieben und sich oft genug durch Eintritt in die wichtigeren Zünfte zu behaupten wußten23. Die Verschmelzung zu einer neuen Aristokratie zeichnet sich ab. Der Aufstieg des popolo hatte zwar die Basis der politischen Partizipation verbreitert, aber gerade dadurch die Konfliktanfälligkeit des Systems noch weiter gesteigert. Denn der popolo war sich sowenig einig wie die Magnaten; die Zahl und Streitsucht der Faktionen nahm eher noch zu. Nicht zufällig war Concordia die wichtigste politische Parole, denn an nichts fehlte es mehr als an Eintracht. Angesichts der notorischen Instabilität des politischen Systems der Städte ist laut Daniel Waley nicht der Übergang zur Alleinherrschaft eines signore oder „Tyrannen“ erklärungsbedürftig, sondern die erstaunliche Langlebigkeit der stadtrepublikanischen Formen. Auch die Signorie beruhte auf einer Oligarchie von Anhängern des Stadtherrn und wurde in der Regel von dieser mittels der republikanischen Institutionen der Kommune ausgeübt. Manchmal entstand sie auf dem Weg über die Verlängerung eines kommunalen Amtes. Volksbeschlüsse und kaiserliche oder päpstliche Statthalterschaften (Vikariate) konnten zu ihrer Legitimation herangezogen werden. Die signori stammten häufig aus dem Adel der Stadt oder der Nachbarschaft, auch wenn sie Militärunternehmer waren, denn die condottieri kamen aus demselben Milieu. Die ersten Alleinherrschaften entstanden im Norden schon in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts und breiteten sich von dort allmählich nach Süden aus. Intakte Kommunen hatten im 15. Jahrhundert bereits Seltenheitswert24. Von diesem Stand der Dinge führte der Weg der Städte in der Regel schließlich zur Integration in einen Territorialstaat, auch wenn es nicht an Versuchen zur Wiederherstellung einer republikanischen Verfassung fehlte, wie der berühmte Fall Florenz lehrt. Entweder entwickelte sich eine Signorie selbst zum Kern eines frühneuzeitlichen Territorialstaates wie das Mailand der Visconti und Sforza, das Florenz der Medici, das Ferrara der Este und das Mantua der ___________ 22

Jones (wie Anm. 18), 199. Waley (wie Anm. 16), 183–198; Capitani, Città (wie Anm. 19), 43–52; Pini (wie Anm. 19), 485–490; Vasina (wie Anm. 19), 457–463, 472–478; Maire Vigeur (wie Anm. 19), 459–546. 24 Waley (wie Anm. 16), 222–241; Ovidio Capitani, Dal comune alla signoria, in: Capitani u.a., Comuni e signorie (wie Anm. 19), 135–175; Pini (wie Anm. 19), 496– 501; Laura Turchi, Istituzioni cittadine e governo signorile a Ferrara (fine sec. XIV – prima metà sec. XVI), in: Storia di Ferrara 6. Il rinascimento. Situazioni e personaggi, Ferrara 2000, 130–158; Vasina (wie Anm. 19), 479–526; Maire Vigeur (wie Anm. 19), 547–582. 23

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Gonzaga. Oder die Signorie wurde in einen Territorialstaat anderer Herkunft integriert. So stellte auch das Papsttum durch Unterwerfung und Beseitigung zahlreicher Signori seine Herrschaft über den Kirchenstaat her, wobei man darüber streiten kann, ob es sich dabei um eine Wiederherstellung der Papstherrschaft gehandelt hat oder nicht25.

III. Die Grundlagen des modernen Kirchenstaates wurden im 13. Jahrhundert gelegt. Innozenz III. (1198–1216) konnte den Zerfall der Kaisermacht in Italien nach dem Tod Heinrichs VI. 1197 nutzen, um die vagen päpstlichen Hoheitsansprüche in Mittelitalien in reale Herrschaft umzuwandeln. Freilich war die damals gewonnene Stellung alles andere als stabil, sondern bald wieder von kaiserlicher Seite bedroht, vor allem von dem machtvollen Friedrich II., bis nach dem Untergang der Staufer und dem deutschen Interregnum Rudolf von Habsburg 1278 dem Papst gegen Anerkennung seiner Stellung die kaiserlichen Rechte im Exarchat Ravenna überließ. Aber auch der wichtigste Verbündete der Päpste im Kampf gegen die Staufer, das Haus Anjou, das den Thron von Neapel erobert hatte, erwies sich als bedrohlich. Vor allem Karl I. regierte mächtig in den Kirchenstaat hinein. Unter diesen Umständen machte die politische Integration des päpstlichen Territoriums wenig Fortschritte, im Gegenteil, lokaler Selbständigkeitsdrang war immer wieder erfolgreich. Glücklich die Päpste, die in dieser Lage Rückhalt bei ihren Familien fanden wie Nikolaus III. Orsini (1277–1280) und Bonifaz VIII. Caetani (1294–1303)26. Nichtsdestoweniger wurde damals die Verwaltungsgliederung des Kirchenstaates in Provinzen geschaffen, allerdings mit teilweise wechselnder territorialer Umschreibung. Die Provincia Romandiolae im Nordosten umfaßte damals noch alle drei späteren Legationen Romagna, Bologna und Ferrara27. Provinzgouverneur war ein Rector, der bisweilen sogar Kardinal sein konnte und bereits zwei Richter neben sich hatte, einen für Zivil- und einen für Kriminalfälle. Außerdem verfügte er über eine Art Polizeitruppe. Unabhängig von ihm operierte seit Gregor X. (1271–1276) ein Provinz-Thesaurarius für die Finanzen, der unmittelbar der Apostolischen Kammer unterstand, zunächst meistens ein Florentiner Bankier. Eine wichtige Aufgabe des Rectors war die Verhandlung mit dem unregelmäßig tagenden Parlamentum seiner Provinz, wo er mit Präla___________ 25

Vgl. Pini (wie Anm. 19), 505–523. Vasina (wie Anm. 19), 447–451, 463–471, 494–505; Daniel Waley, Lo Stato papale dal periodo feudale a Martino V, in: Arnaldi u. a., Comuni (wie Anm. 19), 229–320, hier 243–250, 253–273. 27 Vasina (wie Anm. 19), 495. 26

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ten, Baronen und Städtevertretern über die laufende Politik, über Beschwerden und Abhilfe für sie sowie über die finanzielle Belastung verhandelte. Ausdrückliche Gesetzgebung und Steuerbewilligung scheint auf diesen Parlamenten aber die Ausnahme gewesen zu sein. Nichtsdestoweniger fand Papstherrschaft immer noch weitgehend durch Aushandeln mit den Inhabern geistlicher und weltlicher Herrschaften sowie den Kommunen statt und fiel entsprechend uneinheitlich aus. Direkte Eingriffe in manche Kommunen kamen vor, vor allem hinsichtlich der Bestellung von Richtern und der Ausübung von Justiz. Dabei wußten die Päpste die Bekämpfung wirklicher oder vorgeblicher Häresie zu ihren Gunsten zu nutzen. Aber andere Kommunen wurden privilegiert und ihnen mehr oder weniger weitgehende Autonomie zugestanden. Besonders unterhalb der Provinzebene war das System also höchst uneinheitlich und instabil. Von einer direkten päpstlichen Verwaltung kann hier generell nicht die Rede sein28. Wenn bereits die Sedisvakanz und die Neuwahl des Herrschers Desintegrationsschübe auslösen konnten, war von der Abwesenheit der Päpste in Avignon 1305–1378 und erst recht vom Großen Schisma 1378–1417 wenig Gutes für den Kirchenstaat zu erwarten. Expansive Nachbarn wie die Visconti von Mailand bildeten eine Bedrohung, während die Kommunen und die Feudalherren des päpstlichen Territoriums sich mehr denn je daran gewöhnten, für sich selber zu sorgen, und die Signorie sich auch hier ungehindert ausbreiten konnte. Dennoch fehlte es nicht an päpstlichen Eingriffen, darunter recht zukunftsweisenden und folgenreichen. Manche der Päpste in Avignon gaben einen beträchtlichen Anteil ihrer aus der Weltkirche fließenden Einkünfte für Kriegführung in Italien aus, darunter Johannes XXII. (1316–1334) sogar 63,7%29. Dessen Neffe Bertrand du Pouget errichtete als Legat in Italien 1319–1333 zwischen Reggio Emilia und Rimini eine regelrechte Signorie mit Sitz Bologna, in der er kommunale Statuten abänderte, kommunale Amtsträger bestellte und über die Einkünfte der Kommunen verfügte. Erstmals trat direkte Herrschaft anstelle der bisher üblichen indirekten Geltendmachung päpstlicher Oberhoheit. Doch eine Niederlage gegen die Este führte zum Zusammenbruch seiner Herrschaft und der nächste Papst übte sich in Zurückhaltung30. Erfolgreicher waren die Legationen des Kardinals Gil de Albornoz 1353– 1357/1358–1362/1366–1367, der mit einer geschickten Mischung aus militäri___________ 28 Daniel Waley, The Papal States in the Thirteenth Century, London 1961, 91–120; ders. (wie Anm. 26), 250–252, 273–278; Bernhard Schimmelpfennig, Utriusque potestatis monarchia. Zur Durchsetzung der päpstlichen Hoheit im Kirchenstaat mittels des Strafrechts während des 13. Jahrhunderts, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 74(1988), 304–327, bes. 316–322; Gardi, Lǥamministrazione (wie Anm. 13), 42–44. 29 Waley, Lo Stato (wie Anm. 26) 281. 30 Vasina (wie Anm. 19), 512f.; Gardi, Lǥamminsitrazione (wie Anm. 13) 45f.

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scher Gewalt und diplomatischen Zugeständnissen seine Vision päpstlicher Herrschaft durchzusetzen wußte. Sein Liber Constitutionum Sancte Matris Ecclesie von 1357 stellte als Zusammenfassung seiner eigenen mit früheren Regelungen eine Art Grundgesetz des Kirchenstaates dar, das in veränderter und erweiterter Form bis 1816 in Geltung blieb31. Hier wurde unter anderem das System der Provinzrektoren endgültig festgeschrieben. Die rund zwei Dutzend Städte und Ortschaften, die Albornoz direkter päpstlicher Herrschaft unterwerfen konnte, wurden ihrer Autonomie entkleidet und auf unterste staatliche Verwaltungseinheiten reduziert. Päpstliche Amtsträger übten jetzt Verwaltung und Rechtsprechung aus, besoldet von der Apostolischen Kammer, die über die Finanzen verfügte. Kommunale Statuten wurden nach Bedarf verändert. Die Parlamente verschwanden; nur in den Marche behaupteten sie sich in veränderter Form während der Neuzeit32. Statt Aushandeln in derselben Augenhöhe wurden Bittschriften an die Regierung üblich. Ein Netz von 72 Festungen diente der militärischen und symbolischen Sicherung. In Spoleto, Narni, Assisi finden sich noch heute eindrucksvolle Exemplare. Das ist aber nur die eine Seite des Systems. Denn im größeren Teil des wiedergewonnenen Gebiets blieb es bei indirekter Herrschaft, indem der Legat und seine Nachfolger höchst pragmatisch örtliche Machthaber, überwiegend Signori, bisweilen auch die Kommunen selber, zu päpstlichen Vicarii mit umfassenden Vollmachten bestellten – in der Regel gegen Bares33. Der Schismapapst Bonifaz VIII. (1389–1404) mußte nicht weniger als 63 neue Vikariate einrichten, Bestätigungen nicht gerechnet34. Denn im Schisma gingen Albornozǥ Errungenschaften großenteils wieder verloren, ein neuer Desintegrationsschub setzte ein. Bestehende Signorien unterwarfen sich weitere Städte, diejenigen der Este von Ferrara und der Malatesta von Rimini an der Spitze. Neue Signorien entstanden, zum Teil ebenfalls solche, die mehrere Städte umfaßten, etwa diejenigen der Montefeltro in Urbino und des Braccio da Montone im Umbrien. Diese schloß 1416 auch Perugia ein, wo sich seit 1393 verschiedene Signori und Phasen kommunaler Autonomie abgelöst hatten. Sogar Bologna, das 1376 die republikanische Volksherrschaft wiederhergestellt hatte, geriet unter die Signorie der Bentivoglio. Dazu kam neuer Druck der mächtigen Nachbarn Mailand, Venedig und Florenz. Be-

___________ 31

Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl., Bd. 1, Freiburg 1957, 189f. Zenobi, Ceti (wie Anm. 14), 93. 33 Vasina (wie Anm. 19), 518–520; Waley, Lo Stato (wie Anm. 26) 293–299; Gardi, Lǥamministrazione (wie Anm. 13), 46–48. 34 Waley, Lo Stato (wie Anm. 26), 308. 32

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sonders jenseits der Apenninen hatte die päpstliche Herrschaft im 15. Jahrhundert einen neuen Tiefpunkt erreicht35. Wenn das wiederhergestellte römische Papsttum 1417–1530 trotz langem Auf und Ab den Kirchenstaat schließlich doch konsolidieren und zunächst sogar vergrößern konnte, dann nur durch geschicktes Ausnutzen der machtpolitischen Konstellation zwischen seinen italienischen Nachbarn, seit 1494 aber vor allem zwischen Spanien, Frankreich und den deutschen Habsburgern, die um die Vormacht auf der Halbinsel kämpften. Martin V. Colonna (1417–1431) mußte 1420 und 1423 in bedrängter Lage zunächst einen Kompromiß mit Braccio da Montone schließen und ihn als Vikar in Teilen Umbriens und der Marche bestätigen, bevor er ihn unter veränderten Umständen 1424 mit Truppen seiner Familie und im Bunde mit Neapel schlagen und seine und seiner Anhänger Städte übernehmen konnte36. Eugen IV. (1431–1447) geriet nicht nur mit den Colonna, sondern auch mit dem Basler Konzil in Konflikt und mußte aus Rom nach Florenz fliehen. Doch gelang es ihm, das Konzil auszumanövrieren, dank einer vorteilhaften Einigung mit dem neuen König von Neapel die päpstliche Autorität wiederherzustellen und vor allem den größten Teil der Marche wiederzugewinnen37. Dank Einvernehmen mit Frankreich und Venedig konnte Cesare Borgia, der Sohn Alexanders VI. (1492–1503), 1500– 1503 die Signori der Romagna vernichten und sich eine eigene Herrschaft schaffen, die nach dem Tod seines Vaters allerdings rasch zerbrach. Aber das Erbe fiel zunächst nicht an den neuen Papst, denn nun setzte sich Venedig dort fest oder begünstigte wenigstens die Rückkehr verdrängter Signori. Doch nach der katastrophalen Niederlage der Venezianer gegen eine europäische Allianz seiner Gegner bei Agnadello 1509 konnte Papst Julius II. della Rovere (1503– 1513) sich die Bedrängnis der Republik zunutze machen und 1510 die gesamte Romagna zurückgewinnen. Die verbliebenen Signori von Perugia und Bologna hatte er bereits 1506 militärisch verdrängt38. Nun wandte er sich gegen die Este, nahm ihnen Modena samt Reggio Emilia ab und erwarb von Mailand Parma mit Piacenza39. Der Kirchenstaat hatte damit seine größte Ausdehnung erreicht, die Leo X. Medici (1513–1521) im Krieg zwischen Kaiser Karl V. und König Franz I. von Frankreich 1521 erneut zu sichern wußte. Das Herzogtum Ferrara wurde nur durch den Tod dieses Papstes gerettet40. Anläßlich der päpstlichen Niederlage ___________ 35 Vasina (wie Anm. 19), 527–538; Waley, Lo Stato (wie Anm. 26), 300–313; Maire Vigeur (wie Anm. 19), 565–582; Gardi, Lǥamministrazione (wie Anm. 13), 49f. 36 Caravale (wie Anm. 5), 21–26. 37 EBd. 49–63. 38 EBd. 165–176. 39 EBd. 176f., 184f. 40 EBd. 192, 204.

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gegen den Kaiser konnte es aber bereits 1527 Modena und Reggio wieder erwerben, fiel aber 1598 mangels eines legitimen Erben an den Kirchenstaat zurück, dessen Lehen es gewesen war. Modena hingegen verblieb einer Nebenlinie als kaiserliches Lehen. Parma-Piacenza gingen verloren, als sie 1545 von Paul III. Farnese (1534–1549) in ein Herzogtum für seine Familie verwandelt wurden. Immer wieder im 15./16. Jahrhundert wurden Neu- oder Wiedererwerbungen für den Kirchenstaat nicht konsequent direkter Verwaltung unterstellt, sondern neu als Lehen ausgegeben, vorzüglich an Papstnepoten. So fiel Urbino nach dem Aussterben der Montefeltre 1508–1631 an die Della Rovere; Leo X. Medici versuchte vergebens, das Herzogtum auf Dauer an die Medici zu bringen. Auch nach dem strengen Verbot von Neuinfeudationen durch Pius V. 156741 kamen bis ins 17. Jahrhundert weiter einzelne Fälle vor42.

IV. Aufs Ganze gesehen, waren dies allerdings nur Abweichungen von der Regelentwicklung. Denn insgesamt nahmen die Zahl und der Flächenanteil solcher Mediatherrschaften ab, während die dem Heiligen Stuhl immediat unterstellten Untertanen und Gebiete komplementär zunahmen. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts lebten nicht weniger als 70,8% der Bevölkerung des Kirchenstaats in Feudalherrschaften, im 18. Jahrhundert waren es gerade noch 9,5%, die vor allem im südlichen Lazio konzentriert waren43. Es handelte sich durchaus um bewußte Politik der Zentrale, der man deswegen allerdings nicht zuviel nivellierende Konsequenz und schon gar keinen Masterplan für die Staatsbildung zuschreiben darf. Das Ergebnis war viel zu bunt dafür! Bei der schwierigen Wiederherstellung der päpstlichen Herrschaft im 15. Jahrhundert hatte man sich zwar in vieler Hinsicht an Albornoz’ Vorgaben gehalten, war aber von der dort versuchten direkten Totalkontrolle papstunmittelbarer Kommunen abgekommen. Auch wenn im Einzelfall durchaus militärische Gewalt eingesetzt werden konnte, fehlten dem Papsttum wie anderen Gemeinwesen des Ancien Régime schlicht die Mittel, um eine generelle Nivellierung der Untertanen im Sinne des modernen Staates zu erzwingen. Vielmehr erfolgte die Unterwerfung der Kommunen in der Regel halbfreiwillig durch eine capitulazione, einen Vertrag zwischen Ungleichen, nicht mehr auf gleicher Augenhöhe, aber immerhin einen Vertrag44. Die Kommunen verstanden sich infolgedessen nicht als unterste Ebene der staatlichen Verwaltung, sondern als ___________ 41

EBd. 327. Zenobi, Città (wie Anm. 14), 22f., 28f. 43 EBd. 217. 44 EBd. 21, 49. 42

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deren selbständige, wenn auch untergeordnete Partner. Zwar blieben den jeweiligen Vertretern des Papstes die Machtvollkommenheiten und Symbole der Souveränität vorbehalten: Straf- und Appellationsgerichtsbarkeit, Begnadigungsrecht, administrative und militärische Kontrolle, Besteuerung. Aber sie übten diese unter kontingenten Rahmenbedingungen aus, deren wichtigste der Zwang zur Aufrechterhaltung des Einvernehmens mit den lokalen Oligarchien war, ohne das sich nicht regieren ließ. Ihre Anwesenheit bei Verhandlungen der lokalen Gremien bedeutete nicht nur Kontrolle, sondern auch Legitimation von deren Handeln und Anpassung von Vorgaben der Zentrale an die örtlichen Gegebenheiten. Denn Politik wurde inzwischen nur noch sekundär vor Ort ausgehandelt, primär aber in Rom45. Gemeinden verstanden ihre Unterwerfung unter die Auctoritas des Souveräns unter diesen Umständen keineswegs als Verlust, sondern geradezu als Garantie ihrer Libertas. Die Beseitigung der Signorie konnte zur Wiederherstellung dieser Libertas erklärt werden. Im Gegensatz zu bisher und zu den Feudalherrschaften wurden solchermaßen „befreite“ Gemeinden als libero comune oder repubblica regiert, mit Selbstverwaltung unterschiedlichen Ausmaßes, mehr oder weniger freier Potestas statutaria, Wahl der Amtsträger, Verwaltung und Rechtsprechung, nicht zuletzt im von der Gemeinde abhängigen Umland, dem contado46. Mit lokalem Republikanismus dieser Art waren Ausbau und Modernisierung des Regierungsapparats der Zentrale ohne weiteres vereinbar. Denn die Beruhigung der italienischen Politik durch die definitive habsburgische Vorherrschaft seit 1530, vollends seit 1559, engte zwar auf der einen Seite den außenpolitischen Spielraum stark ein, garantierte aber auf der anderen Seite die nötige Stabilität zum inneren Ausbau der staatlichen Strukturen. Demgemäß wußten auch die Päpste das überkommene Institutionengefüge zu modernisieren. 1526 entstand mit den Monti ein effizienter Staatskredit, 1543 mit dem Sussidio triennale das entsprechende System direkter Besteuerung. 1559 wurde die Consulta als oberste Verwaltungs- und Justizbehörde des Kirchenstaats geschaffen. 1588 folgten andere, mit Kardinälen und Prälaten besetzte Kollegialbehörden derselben Art, Congregazioni genannt, eine Reform auf der Höhe der politischen Vorstellungen der Zeit. 1592 wurde zusätzlich die Congregazione del Buon Governo eingerichtet, 1596 die Congregazione sopra i Baroni dello Stato ecclesiastico, beide mit der Aufgabe, im Interesse des Gemeinwohls, das heißt vor allem des Steueraufkommens, die Finanzgebarung der Gemeinden bzw. der Feudalherrschaften zu überwachen. Das neue System war von den traditionellen Behörden Kanzlei und Kammer unabhängig und ressortierte über

___________ 45 46

Gardi, Lǥamministrazione (wie Anm. 13), 50f., 57f. Zenobi, Città (wie Anm. 14), 20, 34.

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Sekretariate unmittelbar zum Papst bzw. seinem Vertrauensmann, dem Kardinalnepoten47. Gleichzeitig wurden Institutionen der Regional- und Lokalverwaltung geschaffen, die hinfort ebenfalls weitgehend stabil blieben. Wie in der römischen Zentrale und wie überall im Ancien Régime handelte es sich dabei nicht um ein konsequent durchorganisiertes System aus einem Guß, sondern um von Fall zu Fall nach Bedarf geschaffene Einrichtungen, wobei die älteren nicht abgeschafft, sondern von den jüngeren nur zurückgedrängt wurden oder aber einen stillschweigenden Funktionswandel erfuhren. Es blieb, von Süd nach Nord, bei den Provinzen Campagna e Marittima, Patrimonio, Umbria, Marche, Romagna, Bologna und seit 1598 Ferrara. Dazu kamen die Exklaven Avignon und Comtat Venaissin in der Provence und Benevent in Neapel. Die Sabina wurde gelegentlich als eigene Provinz behandelt. Den Provinzen standen Governatori im Prälatenrang vor, die vom Papst mit Breve ernannt wurden. Nur im Comtat Venaissin hielt sich die alte Bezeichnung Rector. In Ravenna für die Romagna, in Bologna und in Ferrara residierten allerdings Kardinäle als Legaten. Noch im 16. Jahrhundert galten Legationen häufig als eine Art Pfründe für Kardinäle, die demgemäß oft in Rom lebten und die Arbeit vor Ort ihrem Vizelegaten überließen. In Avignon blieb es dabei, aber der nichtresidierende Legat war oft der Kardinalnepot, was besonders enge Anbindung an der Papst und protokollarische Absicherung gegen Frankreich bedeutete. Bologna und Ferrara hatten einen besonderen Status und besondere protokollarische Ansprüche. Die Romagna erhielt zwar anläßlich der gemeinsamen Bedrohung durch Venedig und der gemeinsamen Wasserbauprobleme der Poebene statt eines Gouverneurs ebenfalls einen Legaten, der aber weiter der Consulta unterstand, während die Legaten in Bologna und Ferrara über das Staatssekretariat direkt dem Papst verantwortlich waren48. In den anderen Provinzen waren keine kardinalizischen Statthalter mehr erforderlich; Gouverneure waren billiger, abhängiger und daher im Zweifelsfall folgsamer. Unterhalb der Provinzebene gliederte sich der Kirchenstaat in città und terre, von denen nicht mehr viele dem governo mediato eines Feudalherren oder einer anderen Gemeinde wie z. B. der Stadt Rom unterworfen waren, während die überwältigende Mehrzahl direkt päpstlichen Amtsträgern unterstanden und deshalb allesamt als comunità immediate bezeichnet wurden. Es gab insgesamt mehr als 200 davon, gegen Ende des Kirchenstaats 257, davon 96 città und 161 terre. Dabei bestand kein deutlicher Unterschied zwischen città und terra. Nach Größe, Siedlungsform, Befestigung, Wirtschaft, soziale Schichtung, Selbstverwaltung mit Rat und Magistrat, Kontrolle über das Umland glichen ___________ 47 48

EBd. 53. Emich, Territoriale Integration (wie Anm. 14), 117f.

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sich beide Gattungen oft zum Verwechseln, auch wenn die großen Zentren natürlich allesamt Städte waren. Der entscheidende Unterschied lief einfach auf die größere dignità der Städte hinaus, die sie entweder als Bischofssitze und souveräne Kommunen seit alters besaßen oder vom Papst durch ausdrückliche Erhebung zur Stadt erhalten hatten. Mehr als die Hälfte der Städte des Kirchenstaates waren Bischofsitze (Civitates), 51 bereits vor dem Jahr 1000; acht weitere erhielten zwischen dem 13. und dem 18. Jahrhundert ihren Bischof. Umgekehrt läßt sich eine terra am einfachsten als comune libero non eretto a città definieren. Unselbständige Landgemeinden unter der Herrschaft einer città, einer terra oder auch eines barone hießen castelli49. Zumindest hinsichtlich der terre könnte man sich also durchaus auf die Suche nach Kommunalismus oder Gemeinderepublikanismus im Sinne von Peter Blickle machen50, anstatt nach Stadtrepublikanismus im Sinne von Heinz Schilling zu fragen. Die Kategorie Stadtrepublikanismus bleibt aber nicht nur wegen des Forschungsstandes angemessen, der für die Städte ungleich besser ist, sondern vor allem wegen der strukturellen Gemeinsamkeiten von città und terre einerseits, wegen des ausgeprägteren republikanischen Bewußtseins in bestimmten città andererseits, ein Befund, der sich nur auf den ersten Blick widersprüchlich ausnimmt. Symbol der dignità eines Gemeinwesens war auch das Vorhandensein eines eigenen päpstlichen Gouverneurs und dessen Stellung in der Hierarchie der governatori. Durch Breve bestellte Gouverneure im Prälatenrang gab es nicht nur auf Provinzebene, sondern regelmäßig auch in einzelnen Städten wie Ancona, Ascoli, Benevent, Camerino, Città di Castello, Fabriano, Fano, Jesi, Loreto, Montalto, Norcia, Orvieto, San Severino und Spoleto. Sie waren in der Regel direkt der Consulta und nicht dem Provinzgouverneur unterstellt, ein Status, den die betreffenden Städte durchaus zu schätzen wußten51. In anderen Fällen wechselten Prälaten in bunter Reihe mit Klerikern niedrigeren Ranges (abbati oder protonotari) oder sogar mit Juristen aus dem Laienstand (dottori), die beide ebenfalls mit Breve ernannt wurden. Dabei handelte es sich entweder um kleinere, aber ebenfalls von ihrer Provinz unabhängige Städte wie Foligno, Narni, Terni, Todi und die Klein-Provinzen Sabina und Comtat Venaissin oder um einem Provinzstatthalter unterstellte wie Cesena, Faenza, Forlì, Imola und Rimini. Eine Stufe tiefer finden wir reine governi di dottori ed abbati, von denen diejenigen in wichtigeren Städten ebenfalls durch Breve bestellt wurden. Davon waren Anagni, Assisi, Cascia, Cività Castellana und Visso Consultaunmittelbar, während Bertinoro, Brisighella, Calvi, Città della Pieve, Nocera, Ferentino, Terracina, Valentano und Vetralla zu ihren Provinzen gehörten. Schließlich gab es governi di Consulta, deren Inhaber nicht mit Breve, sondern ___________ 49

Zenobi, Ceti (wie Anm. 14), 17–29, 41–43; Zenobi, Città (wie Anm. 14), 19, 66. Vgl. Peter Blickle, Kommunalismus, 2 Bde., München 2000. 51 Zenobi, Città (wie Am. 14), 46. 50

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mit einem patente della S. Consulta ernannt wurden. Dazu gehörten Städte, die einem Legaten oder Provinzgouverneur unterstanden, wie Cingoli, Osimo, Recanati und Tolentino dem Gouverneur der Marche in Macerata, während Orte wie Nepi, Sutri, Otricoli trotz ihrer geringen Größe governi liberi oder assoluti unmittelbar unter der Consulta waren52. Daneben kamen aber noch weitere Arrangements vor, die nicht auf den ersten Blick zu erkennen sind, etwa governi, die mit bestimmten Kurienämtern, z. B. den verschiedenen Kammerklerikaten fest verbunden waren53. Oder der governatore-preside von Montalto in den Marche, dem zwar keine weiteren città, aber 17 terre unterstanden, so daß er sich bei genauem Hinschauen als zweiter Provinzgouverneur neben demjenigen in Macerata entpuppt54. Bereits dieses bunte Bild läßt von vorneherein ziemlich viel Spielraum für lokale Autonomie und für mögliches Überleben von stadtrepublikanischem Selbstverständnis. Außerdem ist zu beachten, daß zwar die Kardinallegaten auf drei Jahre bestellt wurden und gegebenenfalls ihre Amtszeit um weitere Dreijahresperioden verlängert bekamen, viele governatori aber ihr Amt oft nur für ein Jahr oder weniger am selben Ort ausübten. Kontinuierlicher Druck der Zentrale ist unter diesen Umständen wohl kaum möglich gewesen. Wenden wir uns nun gut erforschten Einzelfällen zu, geordnet nach dem Datum ihrer endgültigen Rückkehr unter die direkte Herrschaft des Papstes, um die konkreten Möglichkeiten von Stadtrepublikanismus im Rahmen des römischen Staatshandelns vor Ort auszuloten.

V. Jesi, nach Macerata die größte Stadt der Marche, hatte nach verschiedenen einheimischen Signori zu wechselnden Groß-Signorien gehört, zuletzt derjenigen des Francesco Sforza, nach deren Zerstörung es 1447 von Nikolaus V. wiedergewonnen wurde. In seinem mittelalterlichen Stadtregiment hatten die Zünfte früh eine Rolle gespielt. 1299 besaßen sie ein Drittel der Sitze im obersten Organ der Stadt, dem großen Rat. Die Signori ließen zwar die kommunalen Institutionen intakt, entleerten sie aber ihres republikanischen Gehalts, indem sie wie einst die Stauferkaiser wichtige Amtsträger wie den podestà ein-

___________ 52 Christoph Weber, Die Territorien des Kirchenstaates im 18. Jahrhundert, Frankfurt 1991; ders., Legati e governatori dello Stato pontificio (1550–1809), Rom 1994, bes. 34–37. 53 Weber, Territorien (wie Anm. 51), 86–91. 54 Zenobi, Ceti (wie Anm. 14), 10f.

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fach ernannten. Beim Heimfall an den Heiligen Stuhl waren infolgedessen die Zünfte aus den Verfassungsorganen verschwunden55. Schon 1417 hatte die Apostolische Kammer das Eigentum der 1408 gestürzten Signori kommunalen Ursprungs konfisziert. In finanzieller Bedrängnis verkaufte sie diese Güter für 2300 Gulden an die Kommune, was dieser einen ungewöhnlich großen Grundbesitz bescherte. 1486 scheiterte ein von den Sforza und Neapel unterstützter Versuch, dem Papst die Stadt wieder abzunehmen. 1504 wurde eine bewaffnete Auseinandersetzung mit dem benachbarten Ancona um von beiden päpstlichen Untertanengemeinden beanspruchte Gebiete geführt. Bei der Verteilung von Städten und Ämtern des Kirchenstaates unter die Kardinäle im Konklave nach dem Tod Leos X. 1522, offensichtlich als Ausbeutungsobjekte, fiel Jesi an Alessandro Cesarini. Der Rat akzeptierte dessen Herrschaft aber nur auf Zeit und vorbehaltlich der Rechte der Kommune. Obwohl sich die Vizegouverneure des Kardinals eine Partei von Anhängern schaffen konnten – offenbar war das nötig – wurde ihr Regiment als tyrannisch abgelehnt und fiel 1528 einem vom Adel gesteuerten und durch Anwerbung albanischer Einwanderer verstärkten Volksaufstand zum Opfer. Die Vertreibung des Tyrannen wurde zwar jahrelang mit Volksfesten gefeiert, kostete die Stadt aber ein Buße von 10.000 Dukaten. Diese Summe konnte nur durch Verkauf des kommunalen Landbesitzes an die kapitalkräftige Oberschicht aufgebracht werden, was entscheidend zu deren Konsolidierung beitrug56. Zwischen 1462 und 1585 verschob sich die Machtverteilung in der politisch maßgebenden Allianz von Zünften und Landbesitz immer mehr zugunsten des letzteren, zum Teil unter heftigen Konflikten und mit Eingriffen der Staatsgewalt. 1587 gehörte ein Drittel des bürgerlichen Landbesitzes neun Familien. Die sich formierende Oligarchie bestand teils aus Angehörigen des alten Feudaladels, teils aus Aufsteigern, wobei Recht und Medizin eine wichtige Rolle spielten. Außerdem besetzten diese Familien bessere Stellen des lokalen kirchlichen Apparats und pachteten den kirchlichen Grundbesitz. Kriterium der Zugehörigkeit zu dieser sich abschließenden Oligarchie war aber nur indirekt der soziale Status, sondern mit einem höchst bezeichnenden Zirkelschluß die Bekleidung der kommunalen Ämter. 1575 beschloß der Rat nämlich mit 95 gegen immerhin noch 30 Stimmen, daß dem Rat nur angehören könne, wer entweder selbst ein Magistratsamt bekleidet hatte oder einen Vater oder Vatersbruder besaß, die dieser Bedingung gerecht wurden. Papst Sixtus V. (1585–1590), der aus den Marken stammte, diese seine Heimat nach Kräften begünstigte und obendrein der exzessivste Fiskalist unter den Päpsten war, erhob 1586 die Stadt auf ihren Wunsch und gegen Entrichtung von 4000 scudi zu einem vom governo der Marche unabhängigen governo prelatizio und bestätigte 1587 die ___________ 55 56

Molinelli (wie Anm. 14), 18–20. EBd. 23–26.

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Selbstabschließung einer Oligarchie von gut 200 Personen mit Regimentsberechtigung. Einer Republik könne es nur nützen, wenn der Adel begünstigt werde, hieß es noch 1752 in einer päpstlichen Bestätigung. Immerhin erlaubte das Amtsprinzip eine gelegentliche Selbstergänzung der langfristig vom normalen Aussterben ihrer Familien bedrohten Oligarchie57. Eine strategische Rolle spielt bei alledem das Stellenbesetzungsverfahren durch imbossolazione, das die meisten Kommunen während des Mittelalters eingeführt hatten, offenbar um blutige Wahlkämpfe zwischen Fraktionen zu vermeiden. Denn dabei wurden die Amtsinhaber für ihre meist kurze Amtszeit durch das Los bestimmt, nachdem vorher ein sorgfältig ausgewählter Ausschuß einen bussolo, wörtlich „Tasche“, mit Zetteln gefüllt hatte, auf denen jeweils ein Team von potentiellen Amtsinhabern aufgelistet war. Wenn die Zettel erschöpft waren, wurde von einer neuen Kommission eine neue imbossolazione durchgeführt. Entscheidend waren die Auswahl der Mitglieder der Kommission und die Vorschriften für ihr Vorgehen58. In Jesi wurde dadurch die Oligarchie stabilisiert wie einst in Florenz die Mediciherrschaft. Formal ist ein solches oligarchisches Regiment durch und durch republikanisch und wurde auch so aufgefaßt, denn die Selbstverwaltung unter Aufsicht eines eigenen governatore nannte sich governo libero. Aber es war natürlich nicht demokratisch. 1765 schrieb ein Mitglied der Oligarchie, Jesis Stadtregiment „non è Democratico, cioè Popolare, ma bensì Aristocratico, e vale dire deǥ soli Nobili con esclusione della Plebe“. Immerhin genügte die Zugehörigkeit zur städtischen Oligarchie dem Malteserorden als Adelsnachweis59. Für den Realitätsgehalt dieses Stadtrepublikanismus müssen freilich die Befugnisse des Stadtregiments und des Gouverneurs überprüft werden. Der consiglio generale di città e contado war das oberste Organ, das unter anderem die Potestas statuendi, d. h. die innere Gesetzgebung innehatte. Vorbereitet wurden seine Beschlüsse vom consiglio di credenza, dem Geheimen Rat, ausgeführt vom Magistrat. Neben dem städtischen Adel gehörten dem großen Rat auch Vertreter des Contado an, ebenso stellte der Contado 15 von den 30 Geheimräten und drei von sechs Prioren des Magistrats. Aber die Vertreter des Contado waren von wichtigen Funktionen ausgeschlossen und sozial diskriminiert. Versuche der 16 Landgemeinden des Contado, die politische Gleichberechtigung zu erkämpfen, wurden mit Unterstützung der Staatsgewalt unterdrückt. Es blieb beim mero e misto impero der Stadt über den Contado, bei dessen steuerlicher und sozialer Benachteiligung sowie bei der Kontrolle seiner Gemeinden durch Amtsträger aus der städtischen Oligarchie. Anscheinend fiel die Rolle des ___________ 57

EBd. 26–41, 46, 65; Zenobi, Città (wie Anm. 14), 118f., 142–149. Molinelli (wie Anm. 14), 56–61, 133–141. 59 G. Baldassini nach eBd. 52. 58

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Gouverneurs neben deren Machtvollkommenheit kaum ins Gewicht – notabene, solange sich die Kommune im Rahmen der staatlichen Vorgaben bewegte, Ordnung bewahrte und Steuern bezahlte. Die Befugnisse des Gouverneurs waren bewußt vage umschrieben; er war als Nachfolger des podestà offenbar in erster Linie als Richter konzipiert, sogar, was das Monatsgehalt von 30 scudi angeht. Sein luogotenente konkurrierte als erste Instanz mit dem Stadtgericht, während er selbst Appellationsinstanz blieb60.

VI. Bologna war mit seinen rund 70.000 Einwohnern um 160061, seiner wirtschaftlichen Kapazität und seiner berühmten Universität unzweifelhaft die zweite Stadt des Kirchenstaates nach Rom. Dem entsprach ein hoch entwickeltes, ausgesprochen stadtrepublikanisches politisches Selbstbewußtsein, das bis heute nachhallt. Die vom „Volk“ und der papstfreundlichen Faktion, den Guelfen, beherrschte Kommune hatte im 13. Jahrhundert die Herrschaft über ihren Contado gewonnen, Gesetze gegen den Adel erlassen und die kaiserfreundliche Partei, die Ghibellinen vertrieben, als sie 1278 nach Rudolf von Habsburgs Abtretung der Romagna an den Papst dessen Oberhoheit anerkannte, freilich vorbehaltlich weiterer Unabhängigkeit. Mit dieser zweideutigen Lösung war bereits das Leitmotiv der weiteren Geschichte angestimmt62, die Spannung zwischen stadtrepublikanischer Autonomie und päpstlicher Monarchie. Bis zur Unterwerfung Bolognas durch Julius II. 1506, endgültig 1512, handelte es sich um ein bisweilen recht dramatisches Auf und Ab des Verhältnisses zunächst fast gleichrangiger Mächte, danach um die Gestaltung der Beziehungen privilegierter Untertanen zu ihrem Herrscher innerhalb des Kirchenstaates. Im 14. Jahrhundert hatte sich die Kommune zum Schutz vor der Mailänder Expansion an den Papst gehalten und zweimal, unter Du Pouget und Albornoz, direkte päpstliche Herrschaft erlebt, war sogar als Sitz der Kurie ins Auge gefaßt worden. Im Schisma gewann die Stadt ihre Autonomie zurück, die sie im folgenden halben Jahrhundert zwischen den expandierenden norditalienischen Mächten und dem Papsttum mit wechselndem Erfolg zu behaupten versuchte. 1443 übernahm eine Gruppe von Familien unter Führung der Bentivoglio mit Unterstützung der Zünfte die Macht. Diese Bentivoglio-Signorie verschaffte der Stadt für 63 Jahre Stabilität. Die Beziehungen zum päpstlichen Oberherrn wurden 1447 durch die künftig als maßgebend betrachteten capitulazioni mit ___________ 60

Molinelli (wie Anm. 14), 45–55, 69–82, 78–82, 101–103, 146–149. Caravale (wie Anm. 5), 304. 62 Gardi, Lo Stato (wie Anm. 14), 93; De Bendictis, Ad bonum regimen; dies., Contrattualismo; dies., Respublica; dies., Repubblica (alle wie Anm. 14),. 61

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Nikolaus V. geregelt. Grundsätzlich sollte die Stadt hinfort von ihrem Magistrat und einem päpstlichen Legaten gemeinsam regiert werden, „de commune consensu … Domini Legati, et … Magistratuum“, eine Formel, die je nach Machtverhältnissen zugunsten der einen oder der anderen Seite ausgelegt werden konnte. Dank Rückhalt im italienischen Mächtesystem wirkte sich das zunächst zugunsten der Bentivoglio aus. Als diese jedoch die Unterstützung wichtiger Familien und der Zünfte zu verlieren begannen und auswärtige Interventionen das italienische Mächtegleichgewicht zerstörten, konnten die Päpste Zugewinne erzielen, bis Julius II. schließlich 1506 seine als Befreiung von der Bentivoglio-Tyrannei stilisierte militärische Unterwerfung durchführte. Die Franzosen nahmen sie zunächst hin, ermöglichten allerdings unter veränderten Bedingungen 1511 eine Rückkehr der geflohenen Bentivoglio. Mit der französischen Niederlage 1512 war die Bentivoglioherrschaft endgültig beendet und die Papstherrschaft etabliert63. Deren konkreter Umfang und institutionelle Gestalt wurde zunächst jeweils zu Pontifikatsbeginn zwischen dem Souverän und der Stadt ausgehandelt. Formal ging es um die unveränderte oder zugunsten der einen oder anderen Seite veränderten Bestätigung der capitoli Nikolaus V. von 1447, die im Extremfall von päpstlicher Seite als jederzeit widerrufbares Privileg, von der Stadt hingegen als ewig bindender Vertrag auf Gegenseitigkeit ausgelegt werden konnten. In der politischen Realität handelte es sich um Arrangements des Papsttums mit der Oligarchie Bolognas zum beiderseitigen Vorteil, wobei der Verhandlungsspielraum der letzteren allerdings im Laufe des 16. Jahrhunderts im selben Maße abnahm, wie ihr Status dauerhaft festgeschrieben wurde. Seit dem 14. Jahrhundert hatte die politische Bedeutung eines begrenzten Kreises wirtschaftlich potenter Familien vor allem aus den Reihen der Populares und der Guelfen ständig zugenommen. Sie pflegten einen adeligen Lebensstil und verbanden sich mit der alten Aristokratie aus Stadt und Contado, wobei lange Zeit die Ergänzung durch neu aufsteigende Familien aus der Oberschicht der Zünfte möglich blieb64. Mit den 1394 als oberstes Kontrollorgan eingerichteten XVI Riformatori dello Stato di libertà übernahmen diese maßgebenden Familien faktisch die Herrschaft über die Stadt, auch und gerade unter den Bentivoglio, die aus ihrem Kreise hervorgegangen waren. Obwohl die Mitglieder des Gremiums zunächst gewählt, dann von den Päpsten ernannt wurden, hatten sie faktisch schon um 1460 ihre Stellung auf Lebenszeit inne und ergänzten sich durch Kooptation. Freilich gab es mehr als 16 wichtige Familien,

___________ 63 64

Gardi, Lo Stato (wie Anm. 14), 93–99; De Benedictis, Una guerra (wie Anm. 14). Gardi, Lo Stato (wie Anm. 14), 100f.

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so daß die Zahl der Mitglieder 1466 vom Papst auf 21, im Bedarfsfall bis 32 aufgestockt und zugleich die Selbstrekrutierung legalisiert wurde65. Julius II. schuf 1507 anstelle der Sechzehn vorübergehend einen Rat der Vierzig, um die Familienfaktionen der Bentivoglio-Gegner mit denjenigen der Bentivoglio-Anhänger und jüngsten Aufsteigern aus den Zünften zum gemeinsamen kommunalen Gegenüber seiner Staatsgewalt zu verbinden. 1513 wurde dieses Gremium als Senat auf Dauer etabliert; seine Mitglieder bezeichneten sich hinfort als nobili und wurden vom Malteserorden als solche anerkannt, obwohl einziges formal relevantes Adelskriterium die Zugehörigkeit zum Senat war. In diesem Sinne wurde 1584 ein gestuftes Bürgerrecht eingeführt, das der Senat sehr restriktiv verlieh. Die cittadinanza comune wurde durch zehnjährigen Aufenthalt mit Ausübung eines Gewerbes erworben. Sie berechtigte nur zu Zunft- und erst nach drei Generationen zu Magistratsämtern. Die cittadinanza ampia für nobili per virtù, dottrina e armi ermöglichte in der zweiten Generation die Bekleidung einer Magistratur. Nur die cittadinanza amplissima, die einstimmig verliehen werden mußte, berechtigte sofort zu einem Magistratsamt und zu dessen Privilegien66. Die Senatoren wurden vom Papst auf Vorschlag des Senats durch Breve ernannt, formal ein einzigartiges Vorrecht. Unter dem Bologneser Papst Gregor XIII. (1572–1585) wurde die faktische Erblichkeit üblich, was Konflikte freilich keineswegs ausschloß. Unter diesen Umständen entschied sich Sixtus V. für eine Erweiterung des Gremiums um zehn von ihm aus einer Vorschlagsliste des Senats entnommene Familien auf fünfzig Mitglieder, nachdem dessen auf Exklusivität bedachten bisherige Angehörige ihren Widerstand aufgegeben hatten. Paul V. (1605–1621) wählte aus der bei Vakanz einzureichenden Vorschlagsliste des Senats in der Regel den nächsten Erben, nahm sich aber bei Fehlen eines direkten Nachkommen auch die Freiheit, von dieser Liste abzuweichen, senatsfähige Familien zu berücksichtigen, die gerade nicht vertreten waren, oder sogar Angehörige bisher nicht senatsfähiger Familien zu ernennen67. Der Senat war mit päpstlicher Unterstützung alleiniges oberstes Organ der Stadt geworden. Der frühere große Rat war ebenso verschwunden wie jede andere formelle Rückbindung an die Bürgerschaft. Der Senat herrschte aus eigenem bzw. aus päpstlichem Recht. Er bestellte die kommunalen Amtsträger, die wichtigeren davon aus den eigenen Reihen. Er trat zweimal in der Woche zu trotz Vergütung eher schlecht besuchten Sitzungen zusammen, auf denen alles Wichtige entschieden wurde. Für die vielfältigen Geschäfte bildete er ständige oder außerordentliche Ausschüsse, die assunterie. Besonders wichtig waren die assunteria di magistrati, eine Art oberster Regierungsausschuß, der sich auch ___________ 65

Gardi, Lo Stato (wie Anm. 14), 102–105. Reinhardt (wie Anm. 14), 61f. 67 EBd. 274–287; Gardi, Lo Stato (wie Anm. 14), 116, 370–396. 66

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mit der grundlegenden Verfassungsfrage der capitoli befaßte. Wer hier einen Sitz erhielt, gehörte zu den wichtigsten Familien der Stadt. Die assunteria di governo war für die Verwaltung des Contado zuständig. Denn die Stadt behielt die Kontrolle über das gesamte Landgebiet ihrer Provinz, der Legation Bologna. Hier gab es keine von Rom ernannten und schon gar keine selbständigen governatori, sondern die entsprechenden Amtsträger wurden vom Senat zum eigenen Nutzen bestellt, ohne daß die Betroffenen ein Mitspracherecht gehabt hätten68. Auch die wie üblich auf indirekte Steuern der Stadt und des Contado gegründeten Finanzen blieben unter der Kontrolle des Senats und wurden nicht wie anderswo der Apostolischen Kammer und der Aufsicht der Congregazione del buon governo unterworfen. Allerdings mußte die Stadt nicht nur für die gesamten Kosten des päpstlichen Verwaltungsapparats vor Ort aufkommen, sondern regelmäßig Pauschalzahlungen und direkte Abgaben an die Kammer leisten, angefangen mit 30.000 scudi sussidio triennale jährlich seit 1543. Solche Summen wurden oft durch Kreditaufnahme aufgebracht, wobei die Kreditgeber und Nutznießer abermals die wohlhabenden Familien der Oberschicht waren – ein indirekter, aber höchst wirkungsvoller Weg, lokale Oligarchien mittels Eigeninteresse in das politische System „Kirchenstaat“ einzubinden, der auch anderswo beschritten wurde69. Hatten die Senatoren nicht allen Grund, ihre Stadt trotz päpstlicher Oberhoheit nach wie vor als autonome Republik zu betrachten? Im Gegensatz zu Angela de Benedictis, die stärker zur Übernahme dieses traditionellen Selbstverständnisses neigt, gelangen neuere Forschungen von Andrea Gardi und Nicole Reinhardt zu einem beinahe entgegengesetzten Ergebnis. Denn die Päpste haben vor allem im 16. Jahrhundert die Staatskontrolle immer mehr verstärkt. Auf den seiner Vaterstadt geneigten Gregor XIII., der die Zügel noch einmal schleifen ließ und dadurch indirekt traditionelle Faktionskämpfe und Banditentum begünstigte, folgte der brutale Sixtus V., der nicht nur in dieser Hinsicht für Ordnung sorgte70. Das Privileg, wie eine souveräne Macht einen ständigen Botschafter in Rom unterhalten zu dürfen, erwies sich geradezu als bittere Notwendigkeit, weil längst alle wichtigen Entscheidungen in der Hauptstadt und nicht mehr in Bologna getroffen wurden71. Und auch in Bologna war der Kardinallegat des Papstes der eigentliche Herr im Haus. Er besaß so weitreichende Vollmachten, daß er sich über geltendes Recht hinwegsetzen und neues Recht schaffen konnte und nicht einmal an die capitoli ge___________ 68

De Benedictis, Patrizi (wie Anm. 14), bes. 20–129. Reinhardt (wie Anm. 14), 58–86, 139–148, 186–192. 70 Gardi, Lo Stato (wie Anm. 14), bes. 241–316. 71 Reinhardt (wie Anm. 14), 86–102. 69

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bunden war, die seit Mitte des 17. Jahrhunderts von Rom ohnehin nicht mehr bestätigt wurden. Wichtige Senatssitzungen fanden in seiner Anwesenheit und unter seiner Kontrolle statt. Der Senat war nicht mehr in der Lage, gegen den Willen des Legaten zu handeln. Die Justiz lag weitgehend in den Händen der Mitarbeiter des Legaten. Zwar war 1535 das alte Gericht des podestà durch eine Rota, ein vom Senat auf Zeit mit auswärtigen Juristen zu besetzendes Kollegialgericht, ersetzt worden. Aber die Strafjustiz wurde ihr entzogen und einem vom Papst ernannten Richter, dem uditore del torrone, übertragen72. Außerdem verteilte der Legat auch die Zivilprozesse und zwar zwei Drittel an sein eigenes Gericht und nur ein Drittel an die Rota73. Vor allem lagen alle außergewöhnlichen politischen Fragen von einigem Gewicht in seiner Hand: Getreideversorgung, Militärwesen, Wasserbauangelegenheiten usw.74. Die päpstliche Herrschaft in Bologna war zwar noch nicht im modernen Sinne bürokratisiert, aber immerhin so weit institutionalisiert, daß sie zur Durchsetzung ihrer Maßnahmen nicht mehr auf informelle Kanäle von Patronage-Klientel-Beziehungen zu den wichtigen Familien angewiesen war, obwohl solche natürlich durchaus als nützliches Schmiermittel wirken oder auch einmal Sand ins Getriebe der Legatenherrschaft streuen konnten. Vor allem aber lag die Pflege derartiger Beziehungen im Interesse der Familien selbst, konnte und mußte sich aber nicht ausschließlich auf die jeweils herrschende Papstfamilie konzentrieren75. Ihre informelle Interessenbindung an das päpstliche Herrschaftssystem war umfassenderer Natur, denn die Senatsoligarchie insgesamt verdankte ihm die Stabilisierung ihres lukrativen wirtschaftlichen ebenso wie ihres prestigeträchtigen sozialen und politischen Status. Für Rom hingegen war Konsens mit einer überschaubaren stabilen Oligarchie unter den Bedingungen des Ancien Régime der effektivste Weg zur dauerhaften Herrschaftsausübung. Allerdings handelte es sich bei diesem Bündnis gegenseitiger Interessen längst nicht mehr um ein governo misto mit gleichgewichtigem dualem Charakter. Doch je weniger Realitätsgehalt die angebliche republikanische Autonomie der Bolognesen noch besaß, um so heftiger betonten sie ihre libertà und den angeblichen Vertragscharakter der Papstherrschaft76. Dennoch war ihr stadtrepublikanischer Diskurs mehr als nur eine mit historischer Nostalgie angereicherte ideologische Kompensation der tatsächlichen Machtverhältnisse. Denn unterhalb der Staatsebene und im Rahmen des von den Interessen der Staatsgewalt eingeräumten Spielraums verblieb der Senatsoligarchie ein beträchtliches Maß an republikanischer ___________ 72

Gardi, Lo Stato (wie Anm. 14), 110f. Reinhardt (wie Anm. 14), 114. 74 EBd. 102–139, 149–186. 75 EBd. 207–366. 76 EBd. 192–206. 73

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Selbstbestimmung, verbunden mit einem ebenso beträchtlichen Anteil an Kontrolle und Ausbeutung der Masse der Untertanen. Durch Privilegien hatte die Staatsgewalt sie in dieser Hinsicht zu ihrem Komplizen gemacht77.

VII. Vor dem Heimfall Ferraras war Perugia, die wichtigste Kommune Umbriens, mit ungefähr 20.000 Einwohnern im Jahre 1589 und seinem reichen Contado mit ca. 57.000 Menschen sowie seiner vor allem bei Juristen angesehenen Universität immer noch die dritte Stadt des Kirchenstaates78. Seit dem 13. Jahrhundert herrschte hier ein adelsfeindliches Popularenregime, faktisch eine Koalition der Mittelschichten wohlhabender Angehöriger der 44 Zünfte, die sich auf der einen Seite gegen den Großgrundbesitz, auf der anderen gegen die Unterschichten abgrenzte. Allerdings befaßte sich der grundbesitzende Altadel ebenfalls mit Handelsgeschäften, drang auf diese Weise in die Zünfte ein und verband sich durch Ehen mit deren Oberschicht, bis er die beiden wichtigsten, die mercanzia und den cambio, unbestritten dominierte79. Diese Oligarchie, die den weit ausgreifenden Signore Braccio da Montone unterstützt hatte, mußte sich nach dessen Untergang 1424 Martin V. unterwerfen. Um sich ihre Loyalität zu sichern und die Lage zu stabilisieren, stattete der Papst deren wichtigste Familien reich mit feudalem Grundbesitz aus. Vor allem die Baglioni erhielten ausgedehnte zusammenhängende Güter, die in der Folge als Stato deǥ Baglioni bezeichnet wurden80. Auf diese Weise war die Kontrolle der Oligarchie über Kommune und Contado dank päpstlicher Hilfe gefestigter als je zuvor, auch wenn es sich formal hinfort um päpstliche Immediatherrschaft mit einem dualen Herrschaftssystem aus päpstlichem Legaten und kommunalen Amtsträgern handelte. Allerdings erfuhr die kommunale Seite dabei von vorneherein dadurch eine folgenreiche Schwächung, daß mit der Hoheit auch die Steuereinnahmen geteilt wurden und ein beträchtlicher Teil der kommunalen Einkünfte auf Dauer von einem päpstlichen tesoriere für die Apostolische Kammer übernommen wurde81. Innerhalb der Oligarchie erwarben die Baglioni rasch die führende Stellung, während Perugia sich nach dem Verschwinden von Konkurrenten wie den ___________ 77

Vgl. Casanova (wie Anm. 2), 259. Caravale (wie Anm. 5), 303f.; Stader (wie Anm. 14), 27; Peter Partner, The Lands of St. Peter. The Papal State in the Middle Ages and the Early Renaissance, London 1972, 430. 79 Zenobi, Città (wie Anm. 14), 137. 80 Stader (wie Anm. 14), 28. 81 Caravale (wie Anm. 5), 27f., 36, 79. 78

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Trinci von Foligno die Vorherrschaft in Umbrien sicherte82. Die Päpste förderten diese Entwicklung und griffen nur gelegentlich ein, um Konflikte zwischen der Baglionifaktion und deren Gegnern, den Anhängern der Oddi, beizulegen. So wurde mehrfach die fällige imbossolazione nach Rom auf neutralen Boden verlegt. 1486 erklärten die Baglioni dies für eine Verletzung der Rechte der Kommune und vermochten 1488 mit ihrem Anhang und Truppen aus ihren Lehen die Oddifaktion aus der Stadt zu vertreiben. Allerdings mußten die Baglioni die Herrschaft mit ihren Anhängern teilen und konnten keine eindeutige Signorie errichten wie die Bentivoglio in Bologna83. Als Julius II. 1506 auch Perugia eroberte, stärkte er zwar die Stellung des Legaten, dem nun die imbossolazione überlassen wurde, verdrängte aber die Baglioni keineswegs vollständig, sondern versuchte nur, die gemeinsame Herrschaft der gesamten Oligarchie wiederherzustellen84. Wenn Leo X. gewaltsam in einen Konflikt zwischen zwei Baglioni eingriff, dann wegen deren „außenpolitischen“ Neigungen und nicht, um die kommunale Autonomie weiter zu reduzieren85. Beim Zusammenbruch der päpstlichen Macht 1527 kehrten die verdrängten Baglioni an die Macht zurück, was nach der Wiedereroberung Perugias nicht rückgängig gemacht, sondern legalisiert wurde. Die kommunale Autonomie wurde 1532 sogar noch durch Errichtung einer von der Kommune zu besetzenden Rota gestärkt86. Erst die heftigen Kämpfe zwischen rivalisierenden Baglionifaktionen beim Pontifikatswechsel 1534 veranlaßten Paul III. zu stärkeren Eingriffen in die kommunale Autonomie. Der große Rat wurde verkleinert, neue Statuten gaben dem päpstlichen Statthalter weiter reichende Befugnisse und die Baglioni wurden aus der Stadt verbannt. Privilegien für viele Familien, vor allem im Contado, machten diese Einschränkungen akzeptabel87. Bereits 1537 übte sich die wirtschaftlich geschwächte und fiskalisch teilentmündigte Stadt in Steuerverweigerung. 1540 führte eine auch anderswo angefochtene Erhöhung der Salzsteuer – faktisch eine neue direkte Steuer und Vorläuferin des 1543 geschaffenen sussidio triennale – zum Aufstand. Die Baglioni wurden zurückgerufen und ein Revolutionskomitee übernahm die Macht. Nach der angesichts der Entwicklung der Machtverhältnisse inzwischen unausweichlichen Niederlage gegen die Staatsgewalt wurde auf den Grundstücken der Baglioni eine Zwingburg errichtet, die traditionelle Verfassung beseitigt und die Regierung weitgehend dem Legaten übertragen. Zur Stabilisierung dieser Maßnahmen dienten neue wirtschaftliche und politische Privilegien für die gesamte Oberschicht an___________ 82

EBd. 61, 70. EBd. 113, 122, 168. 84 EBd. 170. 85 EBd. 202f. 86 EBd. 222, 224f. 87 EBd. 238–240. 83

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stelle der bisherigen engeren Machthabergruppe. Auf diese Weise gingen Zugewinne für die Staatsgewalt Hand in Hand mit Zugewinnen für die Oligarchie88. Diese Lösung bewährte sich, denn bei einem neuen Volksaufstand wegen einer Versorgungskrise 1586 stand die Oligarchie geschlossen auf der Seite des päpstlichen Statthalters. Der Perugia persönlich nahestehende Papst Julius III. (1550–1555) machte zwar die Abschaffung der Kommunalverfassung teilweise wieder rückgängig, aber es blieb doch bei der weitgehenden Entmachtung der Kommune gegenüber dem päpstlichen Vertreter. Die Rota wurde wiederhergestellt, blieb aber auf Zivilprozesse beschränkt, während die Strafgerichtsbarkeit auf den Richter des Statthalters überging. Bezeichnenderweise verlor Perugia bald auch das Recht, sich durch einen ständigen Botschafter beim Papst vertreten zu lassen. Selbst Sondergesandtschaften nach Rom bedurften der vorherigen Genehmigung89. Mercanzia und cambio waren zu Adelsgenossenschaften geworden, was in den siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts auch formell festgelegt, allerdings erst 1774 vom Papst bestätigt wurde90. Die mercanzia stellte den Vorsitzenden und ein weiteres Mitglied des zehnköpfigen Magistrats der priori, der cambio hatte ebenfalls Anspruch auf einen ständigen Sitz. Die übrigen sieben mußten so auf die restlichen 42 Zünfte verteilt werden, daß keine mehr als einen Vertreter hatte, hingegen jeder der fünf Stadtteile Perugias jeweils zwei. Die Prioren, die drei Monate im Amt blieben, waren zum ausschlaggebenden kommunalen Gremium geworden. Sie hatten Selbstversammlungsrecht und konnten ohne den päpstlichen Vertreter tagen, waren aber vor allem damit beschäftigt, den ohne ihr Zutun zustande gekommenen, unerbittlichen Steuerforderungen Roms gerecht zu werden. Der Rat der 48 camerlenghi der Zünfte (mit vier Sitzen für die mercanzia, zwei für den cambio), die oberste Finanzbehörde, hatte mit der finanziellen Teilentmündigung der Stadt an Bedeutung verloren, der 1591 vom Legaten offensichtlich nach Vorbild Bolognas geschaffene Rat der Vierzig, der wie dort ausschließlich mit Angehörigen der Oligarchie besetzt wurde, hatte keine größere Bedeutung gewinnen können. Vom großen Rat, in dem auch andere Bevölkerungsschichten vertreten waren, ist nicht mehr die Rede. Der Rat der Vierzig tauschte unter Mitwirkung der Prioren jedes Jahr zehn seiner Mitglieder für zwei Jahre gegen neue aus. Die Prioren und die meisten der übrigen wichtigeren kommunalen Ämter wurden durch imbossolazione bestimmt, wobei der päpstliche Statthalter bei der Bestellung des Gremiums, dem ___________ 88

EBd. 251f., 253f.; Ludwig von Pastor, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters, Bd. 5, Freiburg 1923, 231–237. 89 Stader (wie Anm. 14), 31–33, 62, 68. 90 Zenobi, Città (wie Anm. 14), 137f.

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die Erstellung der entsprechenden Listen für die nächsten Jahre oblag, neben den Prioren eine wichtige Rolle spielte und sogar auf die verschiedenen Listen selbst Einfluß nehmen konnte. Für die Wahl der vier Rotaauditoren auf vier Jahre bestellten die Prioren ein besonderes Wahlmännergremium. Aber auch hier konnte der Vertreter des Papstes eingreifen91. Dieser war zwar noch im 17. Jahrhundert gelegentlich ein Kardinallegat, vor allem wenn ein Kardinal mit einer solchen Stellung bedacht werden sollte. Aber im Regelfall genügte für Perugia inzwischen ein halb so kostspieliger governatore, obwohl dieser auch für die ganze Provinz Umbrien zuständig und damit den dortigen governatori, soweit diese nicht Rom-unmittelbar waren, in nicht immer ganz klarer Weise vorgesetzt war92. Ingo Stader hat gezeigt, daß die Mitglieder der Gremien für Wahl und imbossolazione, die führenden Prioren und die Inhaber der übrigen wichtigen Ämter langfristig durchweg Angehörige einer Oligarchie bestimmter Familien waren, die mit ungleicher Verteilung etwa die Hälfte der knapp hundert 1634 als adelig bezeichneten Landbesitzer, Patrizier und Akademiker umfaßte. Die Baglioni wie die Oddi spielten dabei immer noch eine große Rolle, aber nicht mehr die führende. Da die Adelsqualität hier an mercanzia und cambio gebunden war, dürfte es kein Ämtermonopol der Oligarchie gegeben haben. An ihrer politischen Dominanz kann aber kein Zweifel bestehen93. Diese bezog sich allerdings nur auf den Rest der Bevölkerung und die politische Alltagsroutine in Stadt und Contado. Denn im Finanzwesen, das nun einmal von zentraler Bedeutung war, spielte der Gouverneur ebenso die erste Geige wie bei der Behandlung außergewöhnlicher Vorkommnisse und Maßnahmen. Die Prioren waren dem Staat gegenüber seit 1540 ein für alle Mal in die Defensive gedrängt. Sie legten aber bei ihrer oft vergeblichen Verteidigung der städtischen Interessen dennoch ein von der kommunalen Tradition Perugias geprägtes stadtrepublikanisches Selbstbewußtsein an den Tag.

VIII. Die Stadt Ferrara hatte 1598 beim Heimfall des Herzogtums an den Papst ca. 30.000 Einwohner und rückte damit an die dritte Stelle im Kirchenstaat. Ihr Contado zählte 25.000 Untertanen, das übrige Herzogtum, das im Gegensatz zur Provinz Bologna nicht der Hauptstadt unterstand, weitere 75.000 in etli___________ 91

Stader (wie Anm. 14), 35–43. EBd. 81–114. 93 EBd. 43–81. 92

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chen Kleinstädten und zahlreichen Dörfern94. Der Fall Ferrara ist deswegen besonders lehrreich, weil er eine Art Kontrast zur kirchenstaatlichen „Normalentwicklung“ darstellt. Denn erstens war die Ausgangslage eine andere, zweitens wurde hier mit rekonstruierbarem politischem Kalkül weitgehend künstlich geschaffen, was anderswo in einer längeren kontingenten Entwicklung durch trial and error zustande gekommen war. Im Gegensatz zu anderen Signori im Kirchenstaat besaßen die Markgrafen von Este schon seit 1264 die Herrschaft über Ferrara, die sie ungeachtet der uralten päpstlichen Lehenshoheit zu einem regelrechten quasi-souveränen Fürstentum ausbauen konnten, das 1471/1501 zum Herzogtum erhoben wurde. Unter diesen Umständen war die Stadt entkommunalisiert worden. Sie besaß zwar einen attraktiven Fürstenhof, aber keinen Rat mit stadtrepublikanischem Anspruch mehr. Der Magistrat des Giudice dei Savi und der 12 Savi wurde vom Herzog ernannt und stand in dessen Dienst95. Papst Clemens VIII. (1592– 1605) verfügte insofern über einen gewissen Spielraum zur Neugestaltung der kommunalen Verhältnisse, auch wenn er und dann besonders sein Nachfolger Paul V. dabei die Notwendigkeit im Auge behalten mußten, an der gefährlichen Nordgrenze gegen das bedrohliche Venedig die Loyalität der neuen Untertanen durch Entgegenkommen zu sichern96. Für die Masse der Bevölkerung gab es billigeres Brot, Karneval und eine Reduzierung der Steuerlast, was begeistert begrüßt wurde97. Für die Oberschicht war es damit nicht getan. Denn sie hatte unter den Este wirtschaftliche Vorzugsbehandlung genossen und ein hochelitäres Identitätsbewußtsein entwickelt. Beidem mußte Rechnung getragen werden. Das geschah zunächst durch Fortschreibung der Befreiung der großen Landbesitzer von staatlichen Abgaben und kommunalen Lasten in Stadt und Legation, eine lukrative Privilegierung, die diese hinfort mit Zähnen und Klauen erfolgreich zu verteidigen wußten98. Dazu kam die Entscheidung für eine politische Neuordnung nach dem Modell Bologna, wenn auch mit Modifikationen, die einerseits den sozialen Ansprüchen der Oberschicht gerecht werden, andererseits sie über ihre eigenen Interessen politisch in den Kirchenstaat integrieren sollte. Stadt und Herzogtum wurden einem Kardinallegaten anvertraut, dem die im bisherigen Herzogtum neu errichteten, der Consulta untergeordneten governi zwecks Koordination unterstellt wurden. Die Stadt hingegen erfuhr eine Sonderbehandlung. Ihre Universität wurde besser ausgestattet, sie erhielt eine Rota ___________ 94

Emich, Territoriale Integration (wie Anm. 14), 105. EBd. 78, 106f. 96 EBd. 114–121, 235, 295, 355f. 97 EBd. 124f. 98 EBd. 125, 137f., 567f., 575f., 784f., 794f., 817, 823, 825f., 846–848. 95

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sowie an der römischen Kurie eine Stelle unter den Konsistorialadvokaten, einen eigenen Auditor an der römischen Rota und sogar einen eigenen Botschafter, ein Vorrecht Bolognas, das Perugia inzwischen verweigert wurde99. Die neue Verfassung schuf einen großen Rat mit dreijähriger Amtszeit und hundert Mitgliedern in drei Klassen: 27 vom Papst ernannte nobili, 55 vom scheidenden Rat zu wählende cittadini, die kein Handwerk ausüben durften, und 18 Vertreter der angesehensten Zünfte, die von diesen entsandt wurden. Der Rat war für alle Angelegenheiten der Stadt zuständig und wählte sämtliche Amtsträger einschließlich der Universitätsprofessoren, der Rotaauditoren und des Botschafters in Rom sowie vor allem den Magistrat aus sieben cittadini, zwei artisti und dem Giudice dei Savi aus den Reihen der nobili. Die nominelle Berücksichtigung vor allem der Mittelschicht lief aber bald auf eine ausgeprägte Adelsherrschaft hinaus, denn deren Angehörige erwiesen sich teilweise als Gefolgsleute der maßgebenden Adeligen und hatten sowieso nichts anderes im Sinn, als selbst in die Adelsklasse aufzusteigen. Deren Sitze wurden rasch beinahe verdoppelt und vom Papst in der Regel mit dem bisherigen Inhaber bzw. dessen Erben besetzt. Dazu kam die Dominanz des Giudice und des mit ihm kooperierenden Botschafters aus dem Adel. Die Herrschaft der Oligarchie war gesichert. Der Mittelstand reduzierte sich einerseits auf Mediziner und Juristen in deren Dienst, andererseits auf Anwärter auf den Aufstieg in den Adel100. Allerdings unterlag das Regiment der Oligarchie einer noch schärferen Kontrolle durch den Legaten als in Bologna. Ohne dessen Zustimmung konnte der Rat weder tagen noch Tagesordnungspunkte aufgreifen. Er war in der Regel bei den Sitzungen anwesend. Beschlüsse bedurften seiner Zustimmung. Demgemäß konnten und wollten die Ferraresen gegen ihn keine Entscheidungen treffen101. Das war allerdings in den meisten Fällen sowieso nicht erforderlich, weil in den vielen Fragen des lokalen Alltags Übereinstimmung zwischen beiden Seiten herrschte oder unschwer herzustellen war102. Und wenn der Magistrat einmal zur Wahrnehmung der eigenen Interessen kämpferisch auftrat, so hatte er immer die Möglichkeit, über den Botschafter oder auf informellen Wegen in Rom Einfluß auszuüben103. Dieser Weg war dann besonders erfolgversprechend, wenn die Päpste sich scheuten, ihre sensiblen Untertanen an der venezianischen Grenze zu verprellen104. In Ferrara wurde künstlich ein verbessertes Modell Bologna mit sorgfältig dosiertem Stadtrepublikanismus als integrierendem Moment ins Leben gerufen, ___________ 99

EBd. 132. EBd. 140–146. 101 EBd. 146f., 495. 102 EBd. 147f., 947. 103 EBd. 501f. 104 EBd. 574. 100

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das aber anders als dort auf Dauer nicht funktionierte und statt dessen in die viel berufene decadenza Ferraras mündete. Birgit Emich hat diesen auf den ersten Blick erstaunlichen Unterschied mit der gegensätzlichen politischen Kultur der beiden Städte erklärt, die wiederum auf dem historisch begründeten unterschiedlichen Ausmaß ihres Stadtrepublikanismus beruhte. Selbstverständlich waren die Senatoren Bolognas nicht weniger vom Familienegoismus geleitet als die nobili Ferraras. Aber sie waren gewohnt, ihre gemeinsamen Interessen als libertà, das heißt als Selbstverwaltung105, ihrer patria wahrzunehmen, sie in diesem Sinn vor ihren entmachteten Mitbürgern zu legitimieren und gegen Rom zu verteidigen, wo ihre informellen Einflußmöglichkeiten in der Regel ohnehin begrenzt waren. Die Ferraresen hingegen waren in dieser Hinsicht aus den genannten Gründen verwöhnt und als ehemalige Untertanen ihres Herzogs gewohnt, ihre Familieninteressen ohne den gemeinsamen Kontext einer stadtrepublikanischen patria wahrzunehmen106. Damit war der Versuch, von Staats wegen einen neuen Stadtrepublikanismus zu schaffen, gescheitert. Oder doch nicht vollständig? Denn 1796 erklärte sich Ferrara ebenso wie Bologna auf Anhieb zur Republik107.

IX. Doch aus welchem Grund versuchte der angeblich so zentralistische päpstliche Absolutismus im Kirchenstaat einen neuen Stadtrepublikanismus zu schaffen, wo doch der bereits bestehende allem Anschein nach seinen staatsbildenden Anstrengungen im Wege stand? Bandino Giacomo Zenobi hat zuerst die terre der Marche108, anschließend alle Städte des Kirchenstaats untersucht109, wobei sich herausstellte, daß sich überall seit dem späten Mittelalter, jedoch mit der höchsten Intensität während des 16. Jahrhunderts, patrizische Oligarchien mit Abschließungstendenz bildeten, die den üblichen adeligen Lebensstil pflegten und dank ihrer Exklusivität sogar die Anerkennung des Malteserordens fanden, ihre Adelsqualität aber gut republikanisch durch die Wahrnehmung kommunaler Ämter begründeten. Mit Ausnahme Lazios beherrschten sie fast überall das Stadtregiment, insgesamt in 72 von 96 Städten110, teils monopolistisch wie in Bologna, teils unter Margina___________ 105

Zenobi, Ceti (wie Anm. 14), 169, 209. EBd. 852f., 892, 1021–1025, 1078f., 1087, 1091–1093; dies., Bologneser libertà (wie Anm. 14). 107 Thomas Frenz, Kirchenstaat, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 19, Berlin 1990, 92–101, hier 95. 108 Zenobi, Ceti (wie Anm. 14). 109 Zenobi, Città (wie Anm. 14). 110 EBd. 66, 173–181. 106

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lisierung anderer formal weiter beteiligter Gruppen wie in den anderen geschilderten Fällen. Zwar lief dieser Prozeß nicht ohne bisweilen heftige Konflikte mit der Zentrale ab, aufs Ganze gesehen aber mit deren wohlwollender Zustimmung und Unterstützung. In drei Vierteln der Fälle wurde das exklusive Oligarchenregiment zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert durch ausdrückliche römische Verfügung bestätigt, im Rest gewohnheitsrechtlich respektiert. Allerdings ging die Initiative dazu nur ausnahmsweise von Rom, sondern in der Regel von den Gemeinden aus111. Zenobi spricht geradezu von einem Vertragscharakter (carattere pattizio112) dieser Arrangements zwischen Zentrale und Peripherie. Denn auf der Seite der Gemeinden blieben Verfassung und politischer Diskurs ungeachtet des oligarchischen Charakters des Regiments streng republikanisch113. Leider liegen keine Untersuchungen über den Gebrauch der symbolisch hochbedeutsamen altrömischen Formel SPQN durch Kommunen des Kirchenstaats vor, sowenig wie für das restliche Europa114. Daß auch eine sogenannte absolute Monarchie unter vormodernen Bedingungen ihre Peripherie im Regelfall nur mit Hilfe lokaler Eliten regieren konnte, versteht sich inzwischen von selbst. Weil Kontrolle der Peripherie erstens Ruhe und Ordnung bedeutete, begünstigten die Päpste in ihrem weitgehend städtisch geprägten Kirchenstaat zu diesem Zweck die Bildung einheitlicher und abgeschlossener Patrizieroligarchien oder leiteten sie sogar in die Wege. Auf diese Weise sollten endgültig die kommunal- wie staatspolitisch destruktiven Faktions- und Klassenkämpfe beendet werden, die seit dem Mittelalter regelmäßig stattgefunden hatten. Dieses Ziel ergibt sich aus der päpstlichen Politik in Bologna und Perugia ebenso unmißverständlich wie aus der Diskussion über die mögliche Einführung der imbossolazione statt Wahlen in Ferrara115. Außerhalb des Kirchenstaats übrigens auch bei dem Versuch, 1528 in Genua eine einheitliche Aristokratie zu schaffen „per sedare le antiche discordie et estripare insieme fazioni“116. Natürlich ließen sich Faktionskonflikte nicht völlig unterdrücken und sollten vielleicht auch gar nicht völlig unterdrückt werden, weil sie die Stellung der Zentrale stärken konnten, solange sie keinen exzessiven Charakter annahmen. Aber eine neue Untersuchung von Gérard Delille hat ___________ 111

EBd. 183–191. Zenobi, Ceti (wie Anm. 14), 20. 113 Einige eher zufällige Belege für republikanischen Diskurs in Ancona, Ascoli, Macerata, Osimo bei Zenobi, Città (wie Anm. 14), 109, 113, 116, 134 – die Frage nach Stadtrepublikanismus war ja nicht sein Thema. 114 Schilling, Gab es … städtischen „Republikanismus“ (wie Anm. 15), 190 Anm. 73. 115 Emich, Territoriale Integration (wie Anm. 14), 931f. 116 Gérard Delille, Le maire et le prieur. Pouvoir central et pouvoir local en Méditerranée occcidentale (XVe-XVIIIe siècle), Paris/Rome 2003, 91 Anm. 13. 112

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gezeigt, daß sie dort eine größere Rolle spielten, wo wie in Neapel kein einheitlicher Träger des kommunalen Regimes vorhanden war, sondern sich in deutlichem Gegensatz zum Kirchenstaat nach wie vor zwei ceti, die nobili und die popolari, die Macht teilen mußten117. Kontrolle der Peripherie bedeutete zweitens je länger desto mehr effektive Besteuerung. Das ließ sich am besten mit Hilfe einer geschlossenen Gruppe von Privilegierten durchführen, die Ortskenntnis mit politischer Macht verband und zugleich auf das Bündnis mit der Zentrale angewiesen war. Denn diese garantierte einerseits ihre Privilegien, während andererseits der Eingang der Steuern ebenfalls in ihrem Interesse lag, denn daraus wurden die Zinsen bezahlt, auf die sie als Gläubiger der recht soliden Papstfinanz Anspruch hatten. Dieses Bündnis, das man auch als Komplizenschaft von Zentrale und lokalen Oligarchien zur Ausbeutung der Steuerzahler bezeichnen könnte, spielte keineswegs nur in Bologna eine wichtige Rolle. Daß die Zentrale, um auf diese Weise zuverlässige Partner an der Peripherie zu finden, in jedem Falle stadtrepublikanische Formen, häufig in beschränktem Umfang auch stadtrepublikanische Inhalte der Politik respektierte, rudimentär sogar noch in der politisch vollständig entmündigten Hauptstadt Rom118, war eine Frage der politischen Kultur – es gab in einer seit alters kommunal organisierten Welt kaum andere Formen; organisatorische Alternativen mußten erst geschaffen werden. Ausgesprochene soziokulturelle Gemeinsamkeiten zwischen der Zentrale und der Peripherie spielten ebenfalls eine wichtige Rolle. Die humanistische Bildungskultur der Muße trug ebenso zur Integration des neuen Adels bei wie das Aufkommen der akademischen Berufe, insbesondere der Juristen119. Der kurialen Elite fiel das Bündnis mit den städtischen Oligarchen vor allem deswegen nicht schwer, weil sie sich selbst einschließlich der meisten Päpste aus diesem Milieu des mittel- und oberitalienischen Stadtpatriziats rekrutierte120. Insofern wurde der frühneuzeitliche Kirchenstaat von einer einheitlichen politischen Klasse getragen!

___________ 117

EBd. passim. Pio Pecchiai, Roma nel Cinquecento (Storia di Roma 13), Bologna 1948, 209– 232; Laurie Nussdorfer, Civic Politics in the Rome of Urban VIII, Princeton 1992; dies., Il popolo romano e i papi: la vita politica della capitale religiosa, in: Luigi Fiorani/ Adriano Prosperi (Hrsg.): Roma, la città del papa (Storia dǥItalia. Annali 16), Turin 2000, 239–260. 119 Jones (wie Anm. 18), 355–361. 120 Vgl. einstweilen Wolfgang Reinhard, Le carriere papali e cardinalizie. Contributo alla storia sociale del papato, in: Fiorani/Prosperi (wie Anm. 116), 261–290. 118

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X. Weil diese Einheit auch religiöser Natur war, handelte es sich bei den Stadtrepubliken des Kirchenstaats um katholische konfessionelle Städte im Sinne von Heinz Schilling121. Obwohl es auch in dieser Hinsicht nicht an Konflikten fehlte, gehörte die Führung im lokalen religiösen Leben ebenso zu den Attributen der jeweiligen Oligarchie wie die weitgehende Kontrolle über die örtlichen kirchlichen Einrichtungen, ihre Güter und Pfründen. Auch diese Städte verstanden sich als Heilsgemeinschaften, ihre Eliten sahen aber im Gegensatz zu denjenigen deutscher Kommunen keinen Grund, das religiöse System zu verändern, das ihre religiösen Bedürfnisse befriedigte und von dem sie in verschiedenster Hinsicht profitierten. Die wenigen Abweichler ließen sich leicht unterdrücken122. Auch im engeren politischen Bereich können wir abschließend eine bemerkenswerte Verwandtschaft mit der von Schilling umrissenen republikanischen politischen Kultur des deutschen Stadtbürgertums feststellen123. Im Gegensatz zu dort finden wir hier vor allem in Bologna sogar explizite Theorien des Stadtrepublikanismus124. Doch vor allem treffen wir hier auf einen Teil jener Merkmale eines impliziten, praktischen Republikanismus des politischen Alltags, die Schilling dort identifizieren konnte. Wir können die eifrige Statutengesetzgebung italienischer Städte durchaus als Ausdruck eines hohen Bedürfnisses nach Rechtssicherheit verstehen, auch wenn man hier vielleicht doch lieber nicht von Grund- und Freiheitsrechten oder Gleichheit der Lasten für alle sprechen sollte. Man könnte natürlich behaupten, daß die Forderung nach Gleichheit der Lasten nur in Deutschland auftrat, weil sie sich gegen die Privilegien des Klerus richtete, was im Kirchenstaat nicht nötig war. Denn einer der Vorzüge der Papstherrschaft war es ja, daß sie auch den Klerus trotz formaler Aufrechterhaltung seiner Vorrechte ungehemmt besteuern konnte. Allerdings galt das keineswegs ohne weiteres auch für kommunale Lasten, aber derartige Ansprüche von Gemeinden hatten unter einer geistlichen Regierung gegebenenfalls wenig Chancen. Hingegen entsprach sich der hier wie dort praktizierte oligarchische Republikanismus mit fiktiver Rückbindung an die Autorität und das Gemeinwohl der ___________ 121 Heinz Schilling, Die konfessionelle Stadt – eine Problemskizze, in: Peter Burschel u. a. (Hrsg.), Historische Anstöße. Festschrift für Wolfgang Reinhard zum 65. Geburtstag, Berlin 2002, 60–83. 122 Vgl. Wolfgang Reinhard, Die Anfänge der Reformation in Nürnberg, in: Volker Kapp/Frank-Rutger Hausmann (Hrsg.), Nürnberg und Italien. Begegnungen, Einflüsse und Ideen, Tübingen 1991, 9–23. 123 Schilling, Gab es … städtischen „Republikanismus“ (wie Anm. 15). 124 De Bendictis, Contrattualismo; dies., Respublica; dies., Repubblica; dies., Una guerra (alle wie Anm. 14).

Stadtrepublikanismus im Kirchenstaat? Ein Versuch

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Gemeinde sowie mit gewissen begrenzten Chancen für Neuaufsteiger. Und hier wie dort bedeutete republikanisch nicht antimonarchisch; vielmehr meinte Freiheit in beiden Fällen Freiheit nicht vom, sondern im Territorium, bezeichnete Selbstverwaltung als unbeeinträchtigten Genuß der historischen und positiven Rechte der Stadt. Dem Absolutheitsanspruch des Monarchen wurde die Vorstellung vom Vertragscharakter der Unterwerfung unter ihn entgegengestellt. Offensichtlich handelte es sich bei diesem Stadtrepublikanismus um einen wesentlichen Bestandteil der gemeinsamen politischen Kultur Alteuropas, der freilich hier wie dort langfristig in Erosion begriffen war. Allerdings infolge der zunehmenden Schwäche der kirchenstaatlichen Staatsgewalt auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichem Ergebnis. Aber das ist eine andere Geschichte!

Revolte oder Revolution? Anmerkungen und Fragen zum Revolutionsproblem in der frühen Neuzeit Günter Vogler

I. Eine Vielzahl von Revolutionen? Historiker, Soziologen, Politologen, Philosophen und Theologen, die sich mit den neuzeitlichen Revolutionen beschäftigen, analysieren die überlieferten historischen Quellen, um ein Bild zu gewinnen. Seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert änderte sich die Situation überraschend, als „Umbrüche“ in mehreren Ländern das Revolutionsthema erneut aktuell werden ließen und die Möglichkeit gegeben war, „Revolutionen“ als Augenzeuge zu beobachten. Ihre wissenschaftliche Aufarbeitung erfolgte bisher indes – wenn überhaupt – nur ansatzweise, ihre Interpretation ist politisch motiviert und folgt nicht oder nur bedingt eindeutigen Kritierien. Es liegt aber nahe, den Revolutionsbegriff und die Revolutionstheorien im Licht der neuen Erfahrungen zu überprüfen1. Die aktuellen Bewegungen verweisen auf einige auffallende Phänomene: Die Ereignisse in der DDR 1989 werden als „friedliche Revolution“, die in der CSSR als „samtene Revolution“ bezeichnet. Ohne hier zu fragen, was sie als Revolutionen ausweist, zeigen sie an, daß gravierende Umbrüche gewaltlos verlaufen können. Andere „Revolutionen“ werden mit Symbolen belegt. Es begann mit der „Nelkenrevolution“ in Portugal 1974 und setzte sich mit der „Rosenrevolution“ in Georgien 2004, der „Tulpenrevolution“ in Kirgisien 2005 und der „orangenen Revolution“ in der Ukraine im selben Jahr fort. Doch weder Gewaltlosigkeit noch Symbole geben Aufschluß über die Inhalte dieser Bewegungen. Auf sie weisen schon eher Bezeichnungen wie „islamische Revolution“ (Iran) oder „bolivarianische Revolution“ (Venezuela) hin. Die Charakterisierung dieser Bewegungen als „Revolutionen“ verdeutlicht indes, daß der Revolutionsbegriff im gegenwärtigen Sprachgebrauch seine inhaltliche Bestimmtheit weithin verloren hat. „Von der Bewegung der Him___________ 1

Vgl. Dieter Langewiesche, Revolution, in: Das Fischer Lexikon. Geschichte, hrsg. v. Richard van Dülmen. Aktualisierte, vollständig überarb. u. erg. Aufl., Frankfurt am Main 2003, 315–337, 319: „Diese neue Revolutionserfahrung zwingt dazu, die früheren Revoltionstheorien zu überdenken. Dieser Prozeß hat gerade erst eingesetzt.“

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melskörper erweitert auf alle, die theoretischen, ökonomischen oder politischen Grundlagen erfassenden Veränderungen, ist R[evolution] heute ein Allerweltswort“2. Das erinnert an die Situation im 18. Jahrhundert, als „révolution“ schon einmal ein „Modewort“ war: „Es erfaßte alle Gebiete und Bereiche des menschlichen Lebens. ‚Les révolutions sont nécessaires‘, sagte Diderot, ‚il y en a toujours eu, et il y en aura toujours‘, und Mercier stilisierte ‚révolution‘ schlagwortartig zum Kollektivsingular: ‚Tout est révolution dans ce monde‘“3. Blickt man weiter zurück, so scheinen eindeutigere Konturen gegeben zu sein: In der frühneuzeitlichen Epoche markieren die niederländische, die englische, die amerikanische und die französische Revolution gravierende Umbrüche mit Langzeitwirkung. Doch auch viele andere Ereignisse wurden mit dem Etikett einer Revolution versehen. Roger B. Merriman konstatierte beispielsweise für die Mitte des 17. Jahrhunderts „sechs gleichzeitige Revolutionen“4. Gemeint sind die „Revolte“ in Katalonien 1640/41, die „Revolution“ in Portugal 1640, der „Aufstand“ in Neapel 1647/48, die „puritanische Revolution“ in England 1640 bis 1649, die „Fronde“ in Frankreich 1651 bis 1653 und die „Revolution“ in den Niederlanden 1650/51. Angesichts dieser „beispiellosen Epidemie von Revolutionen“ gab John H. Elliott zu bedenken: So betrachtet könnten auch in den sechziger Jahren des 16. Jahrhunderts sieben Revolutionen registriert werden: die Revolten in Schottland 1559/60 und im Vaudois 1560, der Beginn der französischen Bürgerkriege 1562, die Revolten der Korsen 1564, der Niederländer seit 1566, der Moriscos in Granada 1568 und die „Northern Rebellion“ in England 15695. Großzügig verfährt auch Ferdinand Seibt, wenn er die „römische Revolution“ Cola di Rienzos von 1347, die Erhebung der Cabochiens in Paris 1413, die Bewegung der englischen Lollarden 1414, den Aufstand der böhmischen Hussiten 1419, die Bewegung der deutschen Protestanten 1519, den „Abfall“ der Niederlande von der spanischen Herrschaft 1566 und den „Prager Fenstersturz“ von 1618 unter dem Revolutionsdach versammelt6. Während Merriman die „Gleichzeitigkeit“ im Blick hatte und nach den Gründen für diese Tatsache

___________ 2 Michael Stolleis, Revolution, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, Berlin 1990, 961–965, 961. 3 Reinhart Koselleck u. a., Revolution, Rebellion, Aufruhr, Bürgerkrieg, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart 1984, 653–788, 720. 4 Roger B. Merriman, Six Contemporaneous Revolutions, Oxford 1938. 5 Vgl. John H. Elliott, Revolution and Continuity in Early Modern Europe, in: Past & Present 42 (1969), 35–56, 37. 6 Vgl. Ferdinand Seibt, Revolution in Europa. Ursprung und Wege innerer Gewalt, München 1984.

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fragte7, folgt Seibt der Chronologie. Beiden gemeinsam ist, daß sie Aktionen und Bewegungen vorführen, bei denen fraglich ist, ob sie kompatibel sind und in allen Fällen ihre Revolutionsqualität nachgewiesen werden kann. Mit dem Revolutionsbegriff wurden inzwischen aber auch Entwicklungen bedacht, die weitreichende Folgen zeitigten, aber keine komplexen gesellschaftlichen Umbrüche bewirkten. Das früheste Beispiel dürfte die „Preisrevolution“ des 16. Jahrhunderts sein. Auch ist die Rede von einer demographischen, einer wissenschaftlichen, einer kommerziellen und einer militärischen Revolution, von einer Bildungs-, einer Reise- und einer Medien- oder Kommunikationsrevolution8. Schließlich wurden Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als agrarische, als diplomatische und als philantropische Revolution bezeichnet9. Ihre Benennungen verweisen jeweils auf einen bestimmten Bereich der Gesellschaft. Der Buchdruck – nur dieses Beispiel sei hier genannt – eröffnete zweifellos eine neue Epoche in der Medienkultur. Die Kommunikation wurde in bisher ungekannter Weise intensiviert und ein zivilisatorischer Effekt bewirkt, der „nur mit dem Beginn hochkultureller Schriftlichkeit überhaupt oder der Medienrevolution des 20. Jahrhunderts vergleichbar ist“10. Bewirkten aber auch die anderen „Revolutionen“ gleichermaßen tiefgreifende Veränderungen der Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Kultur im Sinn eines irreversiblen Bruchs mit der Vergangenheit? Zutreffend ist in diesem Zusammenhang die Feststellung: „Revolution im übertragenen Sinn meint jede grundsätzlich neue Entwicklung in den Bereichen der Technik, der Wissenschaft, der Kultur und Gesellschaft“11. Zeichnet ein tiefgreifender Umbruch sich ab, dann betraf er einen Bereich des gesellschaftlich-politischen Systems, eingeschlossen Folgen für andere Bereiche12. ___________ 7 Die „Gleichzeitigkeit“ interessierte ihn auch hinsichtlich der Revolutionen von 1848, und er sieht hier eine Parallele. Vgl. R. B. Merriman, Revolutions (Anm. 4), 209– 217. 8 Ohne den Ursprung der Terminologie hier zu belegen, verweise ich auf ihre Rezeption bei Heinz Schilling, Die neue Zeit. Vom Christenheitseuropa zum Europa der Staaten 1250 bis 1750, Berlin 1999; 281, 296, 314, 316, 320, 323, 359, 397. 9 So Peter Blickle, Bauer, in: Fischer Lexikon (Anm. 1), 150–161, 152, 157; Johannes Burkhardt, Frühe Neuzeit, in: ebenda, 438–465, 465; Jürgen Hannig, Schule, Bildung, in: ebenda, 338–359, 354. 10 J. Burkhardt, Frühe Neuzeit (Anm. 9), 439. Vgl. auch Elizabeth L. Eisenstein, Die Druckerpresse. Kulturrevolutionen im frühen modernen Europa, Wien 1997. 11 Karl-Heinz Nusser, Revolution, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 8, Freiburg 1999, 1144–1147, 1144f. Hervorhebung von mir – G. V. 12 Manfred Kossok, Über Typ und Typologie bürgerlicher Revolutionen, in: Revolution und Gesellschaft, hrsg. u. eingel. v. Helmut Reinalter, Innsbruck 1989, 163–172, 163, unterscheidet „soziale Revolutionen im Sinne totaler gesellschaftlicher Umbrüche“

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Doch tendenziell wird der Revolutionsbegriff immer häufiger nur „als griffige Metapher für Veränderungen aller Art eingesetzt“13 und seines kompexen Gehalts entleert. Schon Karl Griewank warnte indes „vor einer zu weiten Ausdehnung des Begriffs auf lange, ja jahrhundertewährende Neugestaltungen“14. Für den Historiker Walter Markov hingegen ist die Revolution – wie auch bei manchen anderen Autoren sinngemäß zu lesen ist – „ein komplexes, allumfassendes gesellschaftliches Phänomen. Es gibt keine isolierte nur-ökonomische, nurpolitische, nur-geistige Revolution. Jede echte Revolution ist dies alles zugleich, und nur dann, wenn sie das ist, ist sie in Wahrheit Revolution“15, und der Philosoph Ernst Bloch urteilte zugespitzt: „Auf tausend Kriege kommen nicht zehn Revolutionen; so schwer ist der aufrechte Gang“16. Die Literatur zur frühen Neuzeit17 – so der Eindruck – offeriert eine Vielzahl von „Revolutionen“, aber ein Interesse an der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Revolutionsthematik und damit im Zusammenhang stehender Probleme ist gegenwärtig kaum wahrzunehmen. Doch Fragen stehen im Raum: Ist es beispielsweise opportun, stärker zwischen Revolten und Revolutionen, zwischen sektoralen und komplexen Revolutionen zu differenzieren und Kriterien für Unterscheidungen zu fixieren? Mehr noch: Ist es geboten, einen eigenständigen frühneuzeitlichen Revolutionstyp zu definieren, der von „modernen“ Revolutionen abzugrenzen ist?

II. Ein oder mehrere Revolutionsbegriffe? Revolutionstheorien18 und Definitionen des Revolutionsbegriffs sind überwiegend das Resultat von Forschungen zur Revolutionsgeschichte vom ausgehenden 18. bis zum 20. Jahrhundert. Wissenschaftler verschiedener Disziplinen erschlossen Voraussetzungen, Rahmenbedingungen, Programmtik, Träger, Verlaufsformen und Resultate und leiteten theoretische Konzepte, Modelle und Definitionen ab. Dabei findet sich immer wieder der Hinweis, die „glorious re___________ und „partielle Revolutionen, die jeweils Teilbereiche des gesellschaftlichen Lebens berühren“. 13 M. Stolleis, Revolution (Anm. 2), 964. 14 Karl Griewank, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff. Entstehung und Geschichte (1955), Frankfurt am Main 1973, 21. 15 Walter Markov, Revolution und Entwicklung (1949), in: Ders., Weltgeschichte im Revolutionsquadrat, hrsg. v. Manfred Kossok, Berlin 1979, 1–10, 3. 16 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1959), Frankfurt am Main 1993, 551. 17 Aus der Fülle der Publikationen können im folgenden exemplarisch nur Beispiele angeführt werden. 18 Vgl. Georg P. Meyer, Revolutionstheorien heute. Ein kritischer Überblick in historischer Absicht, in: 200 Jahre amerikanische Revolution und moderne Revolutionsforschung, hrsg. von Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1976, 122–176.

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volution“ in England 1688 sei das erste Exempel eines von der Astronomie unabhängigen Gebrauchs des Terminus Revolution. Übersehen wird indes, daß Edmund Burke im November 1790 von einer „sogenannten“ Revolution sprach, weil 1688 eine solche nicht „gemacht“, sondern verhütet wurde: Es habe keine Veränderung in den Fundamenten der Verfassung, den Rechten und Privilegien, der Eigentumsordnung, der Kirche und des Staats gegeben19. Generell wird betont, der neuzeitliche („moderne“) Revolutionsbegriff leite sich von der Französischen Revolution von 1789 her. Die Berechtigung dieser Feststellung soll nicht bestritten werden. Wie können dann aber „Revolutionen“ in der Epoche der frühen Neuzeit angemessen charakterisiert werden, wenn es noch keinen ausgeformten Revolutionsbegriff gab? Handelt es sich bei Erfahrungen, die vor der Französischen Revolution gewonnen wurden, lediglich um Elemente eines Revolutionsverständnisses, die erst mit und nach der Französischen Revolution zu einem Begriff verdichtet wurden? Oder gibt es schon vorher eine Terminologie, die auf gravierende gesellschaftlich-politische Umbrüche verweist? Karl Griewanks Untersuchung zur Geschichte des Revolutionsbegriffs bietet eine Fülle von Material, das die allmähliche Ausformung der Terminologie dokumentiert20. Sie wurde später durch einige weitere Publikationen ergänzt und präzisiert. Karl-Heinz Nusser macht zum Beispiel darauf aufmerksam: „Wichtige Elemente, die zur Beschreibung von fast allen Staatsumwälzungen passen, finden sich bereits in den politischen Schriften des Aristoteles. Die von modernen polititikwissenschaftlichen Analytikern … vertretene Theorie von der Unzufriedenheit als der Hauptursache aller Revolutionen findet sich der Sache nach bereits bei Aristoteles“21. Mehrere neuere Publikationen unterstreichen zudem, daß die Wurzeln des neuzeitlichen Revolutionsbegriffs bis in das 14. Jahrhundert zurückführen, wenngleich die damalige Terminologie noch unterschiedliche Sachverhalte ansprach22. Dieser „Vorgeschichte“ des „modernen“ Revolutionsbegriffs trägt Reinhart Koselleck Rechnung, wenn er konstatiert, seit der Französischen Revolution seien „bestimmte Erfahrungen und bestimmte Erwartungen von einem Grundbegriff zusammengefaßt worden, die einzeln auch schon vorher unter ‚Revolution‘ begriffen, aber in ihrer Vielfalt und Komplexität erst seit 1789 gebündelt ___________ 19

Vgl. K. Griewank, Revolutionsbegriff (Anm. 14), 199. Vgl. ebenda. 21 K.-H. Nusser, Revolution (Anm. 11), 1145. 22 Vgl. Karl-Heinz Bender, Revolutionen. Die Entstehung des politischen Revolutionsbegriffes in Frankreich zwischen Mittelalter und Aufklärung, München 1977, 15ff.; ders., Der politische Revolutionsbegriff in Frankreich zwischen Mittelalter und Glorreicher Revolution, in: Revolution und Gesellschaft (Anm. 12), 35–52. 20

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wurden“23. Deutlicher noch reagiert Winfried Schulze auf die Feststellung von Hannah Arendt, vor den beiden großen Revolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts habe es einen „eigentlichen Revolutionsbegriff“ nicht gegeben: „Dieser Satz ist richtig und falsch zugleich. Falsch ist er zunächst einmal, weil es schon lange vor der Französischen Revolution einen Begriff von Revolution gibt, der eine fundamentale politisch-soziale Umwälzung bedeutet, richtig ist er, weil tatsächlich erst mit dem Erlebnis der Französischen Revolution der Begriff jene für uns charakteristische Sinngebung erhält, die den völligen Neubeginn bezeichnet“24. Ist es folglich angemessen, zwischen Vorgeschichte und Geschichte des Revolutionsbegriffs zu unterscheiden? Die für die Beantwortung der Frage zur Verfügung stehenden Quellen sind bekannt25. Eine neue Situation entstand, als der astronomische Begriff „revolutio“ nicht mehr zyklisch, sondern progressiv interpretiert wurde. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts wurde noch das Zyklische betont, so von Louis le Roy, „De la vicissitude et varieté des choses en lǥunivers“ (1576). Im Anschluß an Niccolò Machiavelli konstatierte er einen Zyklus des Wandels von der Monarchie zur Aristokratie und zurück zur Monarchie. Auch Thomas Hobbes sah in seiner Schrift „Behemoth or the Long Parliament“ (1668) in den Ereignissen in England zwischen 1649 und 1660 noch einen Wechsel von der Monarchie zur Republik und zurück zur Monarchie, die nach seinem Verständnis die beste Verfassung bot. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts signalisierten jedoch „revolutio“ oder „révolution“ für manche Autoren einen irreversiblen Umbruch26. Aufstände und Bürgerkriege wurden als politische Revolutionen interpretiert. Girolamo Canini gab seiner Übersetzung von Pierre Mathieus Geschichte der französischen Bürgerkriege von 1597 den Titel „Della Historia delle guerre intestine e delle Rivolutioni di Francia“ (Venedig 1638), Luca Assarino beschrieb die katalonische Erhebung von 1640/41 als „Riuolutioni di Catalogna“ (Bologna 1645), und für Alessandro Giraffi war der Aufstand in Neapel von 1647 „Le Rivolutioni di Napoli“ (Ferrara 1648). „Die machtpolitischen Erschütterungen Europas im konfessionellen Zeitalter machten also einen neuen Begriff für po___________ 23 R. Koselleck, Revolution (Anm. 3), 653. Vgl. dazu die aufgelisteten Merkmale: Ders., Der neuzeitliche Revolutionsbegriff als geschichtliche Kategorie, in: Revolution und Gesellschaft (Anm. 12), 23–33, 27–31. 24 Winfried Schulze, Einführung in die Neuere Geschichte, Stuttgart 1987, 52. 25 Vgl. vor allem K. Griewank, Revolutionsbegriff (Anm. 14), 23–186; R. Koselleck., Revolution (Anm. 3), 670–725; Maximilian L. Baeumer, Die Reformation als Revolution und Aufruhr, Frankfurt am Main u. a. 1991, 35–56 sowie die Lexikonbeiträge zum Stichwort Revolution. 26 Vgl. Peter Burke, Renaissance, Reformation, Revolution, in: Niedergang. Studien zu einem geschichtlichen Thema, hrsg. v. Reinhart Koselleck u. Paul Widmer, Stuttgart 1980, 137–147, 141–145; W. Schulze, Einführung (Anm. 24), 52–61.

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litische Umwälzungen notwendig, der in seiner Sinnhaftigkeit über die älteren Begriffe der Revolte, der Sedition, der mutatio, der conversio hinausreichte, die bislang dazu benutzt worden waren“27. In einer interessanten Studie verfolgt Maximilian L. Baeumer, „wie sich aus den astronomisch-wissenschaftlichen und den religiös-endzeitlichen Anschauungen der Zeit ein Revolutionsbegriff entwickelte, der nicht mehr die Rückkehr zu einem vergangenen idealen Herrschaftszustand bedeutet, sondern in die Zukunft gerichtet, die Welt verändern will“28. Er beruft sich auf Quellen aus der Zeit vom 14. bis zum 17. Jahrhundert, auf Zeugnisse aus Italien und England sowie auf Schriften Martin Luthers, Jean Bodins und Johannes Keplers und zeichnet den Wandel des Terminus „revolutio“ nach. Seine Schlußfolgerung lautet: „Der aus der antik-mittelalterlichen Vorstellung von der Ordnung und Harmonie des Weltalls und aus den von Copernicus nachgewiesenen, regelmäßigen Bewegungen der Gestirne hergeleitete Revolutionsbergriff wird im 16. und 17. Jahrhundert unter dem Einfluß der Reformation umformuliert in eine fortschrittliche Revolutionsauffassung, die aus der Beobachtung bisher unbekannter Sterne und erratisch sich bewegender Kometen, wie sie Kepler untersuchte und astrologisch interpretierte, und aus apokalyptischer Weltansicht und religiösem Reformdenken entwickelt worden war … Als ‚Aufruhr‘ des Wortes Gottes und als aufrührerischer ‚Handel‘ zur Herbeiführung einer allgemein ‚erhofften Reformation der Welt‘ erhielt revolutionäres Geschehen in der Feder Luthers und Keplers zum erstenmal in der Geschichte der Neuzeit ein in die Zukunft gerichtetes Ziel gewaltsamer Weltveränderung; ein Ziel, wie es seit der Französischen Revolution dem modernen Revolutionsbegriff zu eigen ist“29. Zusammengefaßt urteilt Baeumer, es habe sich herausgestellt, „daß die Entstehung und Entwicklung des modernen Revolutionsbegriffs nicht nur zeitlich mit der Reformation übereinstimmt, sondern daß die zeitgenössische Auffassung von der die Welt verändernden Reformation zugleich auch den Inhalt und die Bedeutung des entstehenden modernen Revolutionsbegriffs wesentlich beeinflußte, der dann im 17. und 18. Jahrhundert zurückblickend auf die Reformation selbst angewendet wird“30. Auch wenn statt „revolutio“ (revolution) andere Termini verwendet wurden, konnte sich hinter diesen ein Revolutionsprogramm verbergen. Gerard Winstanley und die utopischen Kommunisten in England sprachen Mitte des 17. ___________ 27

W. Schulze, Einführung (Anm. 24), 53. M. L. Baeumer, Reformation (Anm. 25), 39. 29 Ebenda, 55f. 30 Ebenda, 9. „So werden Reformation und Revolution im ausgehenden 16. Jahrhundert und im 17. Jahrhundert miteinander identisch“ (56). 28

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Jahrhunderts von „overturning“, „turn the world upside down“ oder „reformation“ und meinten einen komplexen Umbruch gesellschaftlich-staatlicher Verhältnisse. „Der Revolutionsbegriff wird als Reformationstheorie geboten“31. Die Erwartungshaltung, die bei Kepler aufleuchtete, nahm vor der Französischen Revolution konkretere Gestalt an. Zum einen wurde der Revolutionsbegriff in der Publizistik des 18. Jahrhunderts „zum neuen Thema sozialphilosophischen Räsonements.“ Seine Alltäglichkeit machte ihn kalkulierbar, so daß „Überlegungen über die Wahrscheinlichkeit von Revolutionen angestellt wurden. Ja, man kann sagen, daß gerade das nun intensiv einsetzende Nachdenken über Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit von Revolutionen mit zum Signum dieser vorrevolutionären Krisenzeit in Europa wird“32. Zum anderen gewann der Revolutionsbegriff für manche Autoren positive Züge. Voltaire zum Beispiel fokussierte ihn auf die „révolution des esprits“33, er sprach aber auch von einer „belle révolution“, die auf unblutige Weise vom Despotismus befreie, und Christoph Martin Wieland schrieb 1788, der gegenwärtige Zustand Europas scheine sich einer „wohltätigen Revolution“ zu nähern, die nicht durch Empörungen und Bürgerkriege bewirkt, sondern das Werk der Moral und der Aufklärung sein werde34. Der Wandel des Verständnisses von revolutio (révolution, rivoluzione, revolution) und die Auffüllung der Terminologie mit neuen Elementen datiert also lange vor der Französischen Revolution, und es war mehr als eine Vorgeschichte.

III. Ein Testfall: Reformation als Revolution? Als Richard van Dülmen eine Untersuchung unter dem Titel „Reformation als Revolution“ veröffentlichte35, da sah er revolutionäres Handeln nicht in der Reformation generell, sondern allein bei Thomas Müntzer und den Täufern in ___________ 31

Hermann Klenner, Revolutionsprogramm als Reformationstheorie. Der Revolutionsbegriff utopischer Kommunisten in England Mitte des 17. Jahrhunderts, Berlin 1983, 12. 32 Vgl. W. Schulze, Einführung (Anm. 24), 54f. 33 Vgl. K. Griewank, Revolutionsbegriff (Anm. 14), 159–164. 34 Vgl. W. Schulze, Einführung (Anm. 24), 55. Die Erfahrungen mit der Französischen Revolution bewirkten dann allerdings bei manchem Autor einen Wandel von der Befürwortung zur Ablehung. Als Beispiel sei hier auf Friedrich Gentz verwiesen. Vgl. Ilonka Egert/Günter Vogler, Stimmen zur französischen Revolution in Preußen 1789 bis 1795. Argumente und Motive für das Pro und Contra, in: Die französische Revolution und Europa 1789–1799, hrsg. v. Heiner Timmermann, Saarbrücken 1989, 243–361, 352–359. 35 Vgl. Richard van Dülmen, Reformation als Revolution. Soziale Bewegung und religiöser Radikalismus in der deutschen Reformation, München 1977.

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Münster gegeben. Doch die reformatorischen Bewegungen36 sind weiterhin ein Testfall für das Revolutionsthema, wenngleich in den letzten Jahrzehnten andere Themen in den Vordergrund traten37. Ein Beispiel bietet die Diskussion zwischen Bernd Moeller, Dorothea Wendebourg und Berndt Hamm38, deren Gegenstand Hamms Beitrag anzeigt: „Einheit und Vielfalt der Reformation – oder: was die Reformation zur Reformation machte“39. Die Etikettierung der Reformation mit dem „Reizwort“ Revolution hat eine lange Tradition, Sie findet sich schon in dem Werk „Histoire des révolutions arrivées dans lǥeurope en matière de religion“ von Antoine Varillas (6 Bde, Paris 685–1689). „Er ist der erste Historiker, der die großen vorreformatorischen Bewegungen mit der Reformation des 16. Jahrhunderts unter dem Gesichtspunkt der Revolution zusammenzufassen und zu verstehen versucht, wobei er unter einer Revolution freilich grob äußerlich eine gewaltsame Veränderung, einen Umsturz und dergleichen begreift“40 Die Identität von Reformation und Revolution, die Baeumer im zeitgenössischen Verständnis ermittelte, wurde Allgemeingut des Denkens jedoch erst mit der Aufklärung41. Als 1802 das „Institut national de France“ die Preisfrage stellte: „Quelle a été lǥinfluence de la réformation de Luther sur la situation politique des différents Etats de lǥEurope et sur le progrès des lumières?“42, ging es letztlich um die Frage nach dem Verhältnis von Reformation und Revolution, die Arnold Heeren und Karl von Rotteck positiv beantworteten. Konstitutiv war deren Parallelisierung und Interpretation als Streben nach geistiger bzw. bürgerlicher Freiheit43. Die Reformation war die „Urrevolution“, der (wie vor allem Georg Gottfried Gervinus 1843 und Wilhelm Zimmermann 1856 herausarbeiteten) ___________ 36 Vgl. Hans-Jürgen Goertz, Eine „bewegte Epoche“. Zur Heterogenität reformatorischer Bewegungen, in: Wegscheiden der Reformation. Alternatives Denken vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, hrsg. v. Günter Vogler, Weimar 1994, 23–56. 37 Vgl. Stefan Ehrenpreis/Ute Lotz-Heumann, Reformation und konfessionelles Zeitalter, Darmstadt 2002. Das Revolutionsthema wird in diesem Band am Beispiel der Debatte um die „frühbürgerliche Revolution“ angesprochen, aber darüber hinaus nicht behandelt. 38 Vgl. Berndt Hamm/Bernd Moeller/Dorothea Wendebourg, Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995. 39 Ebenda, 57. 40 Max Steinmetz, Das Müntzerbild von Martin Luther bis Friedrich Engels, Berlin 1971, 239. Vgl. auch K.-H. Bender, Revolutionen (Anm. 22), 94–100. 41 Vgl. K. Griewank, Revolutionsbegriff (Anm. 14), 159–186; M. L. Baeumer, Reformation (Anm. 25), 13–24. 42 Vgl. Michael Neumüller, Liberalismus und Revolution. Der Problem der Revolution in der deutschen liberalen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, Düsseldorf 1973, 45. 43 Vgl. ebenda, 45–105.

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weitere Revolutionen folgten – in den Niederlanden, in England, in Nordamerika und in Frankreich44. Georg Wilhelm Friedrich Hegel fand die bündige Formel, die lutherische Reformation sei die „Haupt-Revolution“ gewesen45. Es sei ein falsches Prinzip, „daß die Fesseln des Rechts und der Freiheit ohne die Befreiung des Gewissens abgestreift werden, daß eine Revolution ohne Reformation sein könne“46. Es sei eine Torheit neuerer Zeit anzunehmen, ein System verdorbener Sittlichkeit „ohne Veränderung der Religion umzuändern, eine Revolution ohne eine Reformation gemacht zu haben“47. Hegel hatte primär die geistige Befreiung im Blick, sah aber die Wirkungen der Reformation nicht darin begrenzt: „Die notwendige Folge einer religiösen Reformation ist die Umwandlung auch der bürgerlichen Gesetze und Ordnungen. Und so war das, was unser Luther unternommen hat, freilich eine große Umwälzung“48. Manche aufklärerischen Argumentationen mögen plakativ wirken. Gefördert wurde aber in der Zeit des Vormärz das Bewußtsein, einer neuen Revolution entgegen zu gehen, um das im 16. Jahrhundert Begonnene zu vollenden. Als die Revolutionsfrage nicht mehr aktuell war, gab Johannes Janssen – vom katholischen Standpunkt – dem zweiten Band seiner „Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters“ den Titel: „Zustände des deutschen Volkes seit dem Beginn der politisch-kirchlichen Revolution bis zum Ausgang der socialen Revolution von 1525“49. Und Hans von Schubert referierte 1927 über „Revolution und Reformation im XVI. Jahrhundert“. Er wies darauf hin, man müsse sich bewußt sein, „damit die Begriffssprache jener Zeit nicht zu treffen“. Doch er wählte die Terminologie, um „das Verhältnis der großen und grundlegenden religiösen Bewegung zu der großen sozialen jener Tage“ zu er___________ 44

Vgl. ebenda, 48, 58, 66. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke, Bd. 20, Frankfurt am Main 1986, 49 (1833). Adolf Freiherr von Knigge verwandte den Terminus schon, als er 1793 einen Beitrag zum Thema „Ursachen, warum wir vorerst in Teutschland wohl keine gefährliche politische Haupt-Revolution zu erwarten haben“. Vgl. Koselleck u.a., Revolution (Anm. 3), 709 Anm. 395. Vgl. dazu Peter Kaeding, Adolph von Knigge. Begegnungen mit einem freien Herrn, Berlin 1991, 296f. 46 G. W.f. Hegel, Werke (Anm. 45), Bd. 12, 535 (1833). 47 Ebenda, Bd. 10, 360 (1830). 48 Zit. nach Heinrich Bornkamm, Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte, Heidelberg 1955, 154 (Rede bei der Feier der Universität Berlin zum 300-jährigen Gedenken an die Übergabe des Augsburgischen Bekenntnisses, 1830). Karl Marx nahm in seiner Einleitung „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ diese Gedanken auf, denn die Kritik der Religion war für ihn die Voraussetzung der menschlichen Emanzipation. Vgl. Günter Vogler, Martin Luther und die Reformation im Frühwerk von Karl Marx, in: Luther in der Neuzeit, hrsg. v. Bernd Moeller, Gütersloh 1983, 84–103, 85– 89. 49 Freiburg im Breisgau 1879. 45

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gründen50. Die notwendige Erneuerung aller Lebensordnungen im freien Dienst am Nächsten, so sein Fazit, sei auf lutherischem Boden unentwickelt geblieben. Deshalb sei es eine der wichtigsten Aufgaben, „in Theorie und Praxis eine Sozialethik aus den letzten Gründen der Reformation Luthers zu entfalten und die Lehren alter und neuer Revolutionen dafür nutzbar zu machen“51. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es keinen unmittelbaren Anlaß (wie nach der Französischen Revolution), die Relevanz der Reformation als Revolution zu bedenken. Unbeachtet blieb das Thema indes nicht. Der Theologe Walther von Loewenich nahm, durch katholische Äußerungen herausgefordert, die Frage auf: „War die Bewegung Luthers Reformation oder Revolution?“52. Eine Revolution, die die historische Kontinuität unterbreche und „pietätlos, doktrinär und fanatisch für das Neue schlechthin“ sei53, erkennt er in den Intentionen Luthers nicht: „Außer jedem Zweifel steht, daß Luther nicht Revolutionär, sondern Reformator sein wollte … Nicht Neuerung, sondern Erneuerung ist die Parole“54. Doch dem reformatorischen Schriftprinzip billigt er eine revolutionäre Kraft zu55. Abschließend urteilt er: „Als Revolution sollte man die Reformation wohl nicht bezeichnen; aber ein revolutionierendes Moment läßt sich in ihrem Ansatz nicht verkennen. Selbstzufriedenes Beharren in einem erreichten Zustand widerspricht dem Wesen der Reformation“56. Die Interpretationen der Reformation wurden im Lauf der Zeit vielfältiger, aber nicht unbedingt erhellender57. Die Rede ist zum Beispiel von einer „konfessionellen Revolution“58, einer „antiklerikalen Revolution“59, einer „konservativen Revolution“60, einer „gottgewirkten Revolution“61. ___________ 50

Hans von Schubert, Revolution und Reformation im XVI. Jahrhundert. Ein Vortrag, Tübingen 1927, 1. 51 Ebenda, 37. 52 Walther von Loewenich, Reformation oder Revolution, in: Festgabe Joseph Lortz, Bd. 1: Reformation – Schicksal und Auftrag, Baden-Baden 1958, 5–13, 6. 53 Ebenda. 54 Ebenda, 7. 55 Ebenda, 10. 56 Ebenda, 13. 57 Vgl. den Überblick bei Rainer Wohlfeil, Einführung in die Geschichte der deutschen Reformation, München 1982, 44–60, 169–174. 58 Vgl. Winfried Becker, Reformation und Revolution, Münster 1974, 40, 106. 59 Robert M. Kingdon, Was the Protestant Reformation a Revolution? The Case of Geneva, in: Transition and Revolution. Problems and Issues of European Renaissance and Reformation History, hrsg. v. Robert M. Kingdon, Minneapolis 1974, 53–107, 60. 60 Heinz Scheible, Reform, Reformation, Revolution. Grundsätze zur Beurteilung der Flugschriften, in: Archiv für Reformationsgeschichte 65 (1974), 108–133, 133. 61 Kurt-Victor Selge, Das Autoritätengefüge der westlichen Christenheit im Lutherkonflikt 1517 bis 1521, in: Historische Zeitschrift 223 (1976), 591–617, 596.

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Inzwischen verstärkte sich die Tendenz, die revolutionären Impulse der Reformation im geistigen Bereich zu verorten. Nach Heiko A. Oberman wurde die Theologie mit der Reformation „zur Sache einer neuen Öffentlichkeit“, sie trat aus den Universitäten und Klöstern heraus und in die Gassen und Rathäuser hinein. „Die öffentliche Einführung ‚alter Ordnungen‘ im Bereich von Theologie und Kirche löst im Jahrhundert der Reformation Umwälzungen aus, die eben nicht … gegen Entwicklungen im sozialen und politischen Bereich abgegrenzt werden können“62. Man kann es auch so lesen: Es ist eine Aufforderung, die soziale und politische Verortung der reformatorischen Theologie und umgekehrt deren soziale und politische Implikationen herauszuarbeiten und in ihren Wirkungen zu verfolgen. Während Oberman die „Reformation als theologische Revolution“ interpretiert, sieht Steven Ozment in ihr eine „intellektuelle Revolution“, eine „Revolte der Intellektuellen“63. Seine Prämisse lautet: „Von Revolution soll nur dann gesprochen werden, wenn der Beweis für einen breiten, fundamentalen und dauerhaften Wandel in Haltungen, Institutionen und Verhalten erbracht ist“64. Nach seiner Auffassung zeigen die Flugschriften und Flugblätter der zwanziger und dreißiger Jahre des 16. Jahrhunderts an, daß Befürworter und Kritiker der Reformation deren revolutionären Charakter in den Veränderungen sahen, die durch die Ablehnung der Tradition im Namen der „Wahrheit“ und die Akzeptierung des Schriftprinzips für die Organisation der Gesellschaft resultierten. „Als literarisches Ereignis betrachtet, war die Revolution der Pamphletisten die Revolte der aufgeklärten gewöhnlichen Leute; die Flugschriftenautoren forderten die Tradition durch den Mund von Schuhmachern, Bäckern, Köchen, Löffelmachern, Kunstschmieden, Zimmerleuten und Mähern heraus; sie traten alle als die besseren Christen hervor, um den Klerus zur Rechenschaft zu ziehen und zu korrigieren“65. Das revolutionäre Vermächtnis der Reformation bestehe, wenn man so wolle, „im Auftreten der Laien, die nun, wie die Pamphletisten der 1520er Jahre, in der Lage sind, Zweifel am Hergebrachten zu äußern oder Gesetze und Institutionen abzulehnen, mit denen das Gewissen im Namen Gottes unterdrückt werden soll“66. Im Vergleich mit Auffassungen vom Beginn des 19. Jahrhunderts, als die Reformation als die „Urrevolution“ oder „Hauptrevolution“ begriffen wurde, ___________ 62 H. A. Oberman, Die Reformation als theologische Revolution, in: Zwingli und Europa, hrsg. v. Peter Blickle, Andreas Lindt u. Alfred Schindler, Zürich 1985, 11–26, 15. 63 Steven Ozment, Die Reformation als intellektuelle Revolution, in: Zwingli und Europa (Anm. 62 ), 27–45, 27. 64 Ebenda. 65 Ebenda, 30. 66 Ebenda, 45.

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wird heute vor allem die theologische bzw. intellektuelle Neuorientierung betont. Ist das das letzte Wort?

IV. Reformation als Revolution in anderer Sicht Über die zeitgenössische Terminologie urteilt Oberman: „Was wir heute mit Revolution ausdrücken, wurde im Zeitalter der Reformation … mit ganz anderen lateinischen und deutschen Ausdrücken bezeichnet: sie reichen von res novae über mutatio bis zu rebellio, vom Aufruhr bis zu ‚schwytzern‘“67. In der Tradition von Luther, Melanchthon, Zwingli, Bucer und Calvin werde rebellio eindeutig und einstimmig als gottwidriger Umsturz abgelehnt, verurteilt und bekämpft68. Ähnlich lautet das Ergebnis einer Untersuchung von Bernhard Töpfer zur Wertung der weltlich-staatlichen Ordnung durch Wiclif, Hus, Luther und Zwingli69. „Wo in dieser Traditionslinie Widerstand gefordert wurde, ließ er sich nur legitimieren als Widerstand gegen die Revolution, als Kampf für die gute alte Ordnung und gutes altes Recht: Widerstand war deshalb vonnöten gegen Kirchenmacht und Papstpracht, Seelenmessen und Heiligenverehrung. Das waren ihrem ideologischen Gehalt nach die res novae, die in Kirche und Gesellschaft den Umsturz guter alter göttlicher Ordnung bewirkt hatten“70. Die am Beginn der Neuzeit übliche lateinische und deutsche Terminologie kennt nach dieser Version keinen Revolutionsbegriff, intendiert aber einen solchen. Eugen Rosenstock-Huessy urteilte: Der freimütige Gebrauch des Wortes Revolution „drückt einen bestimmten Reifegrad in der Geschichte des Geistes aus, den Reifegrad, in dem die Europäer wagen, das was sie tun und was ihnen widerfährt, bewußt zu benennen. Vorher passieren Revolutionen, ja werden Revolutionen bewußt unternommen, ohne Revolutionen zu heißen“71. Differenzierter liest man bei Hans-Jürgen Goertz: „In den frühen Jahren der Reformation hatte sich noch nicht ausgebildet, was dem neuzeitlichen Begriff der Revolution voll entsprochen hätte. In den visionären und agitatorischen Konsequenzen, die aus den Erfahrungen der Reformationszeit gezogen wurden, haben sich aber Züge revolutionären Handelns gezeigt, die neu waren und als

___________ 67

H. A. Oberman, Reformation (Anm. 62), 14f. Ebenda, 15. 69 Vgl. Bernhard Töpfer, Die Wertung der weltlich-staatlichen Ordnung durch die Reformatoren des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Berlin 2005, bes. 42. 70 H. A. Oberman, Reformation (Anm 62), 15. 71 Eugen Rosenstock-Huessy, Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen (1931), Stuttgart/Köln 1951, 5. 68

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Wetterleuchten der herannahenden bürgerlichen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts gedeutet werden können“72. Doch zurück zu Oberman, der rät, methodisch wie folgt vorzugehen: „Die Frage der Reformation als Revolution führt nur dann zur entideologisierten Erfassung der Umbrüche im Zeitalter der Reformation, wenn es gelingt, nicht Revolutionstheorie an der Geschichte zu üben, sondern die rasanten Entwicklungen der Zeit selbst zu erheben, als Zeitgenosse zu bewerten und dann als moderner Historiker in ihren sozialen, politischen und religiösen Wirkkräften zusammenzuschauen“73. Ein Präzedenzfall sind die städtischen Reformationen. Seit Bernd Moeller seine Studie „Reichsstadt und Reformation“ veröffentlichte74, wurden zahlreiche Untersuchungen zu den reformatorischen Bewegungen in Städten unterschiedlichen Typs vorgelegt. Dieser Forschungsrichtung ordnet sich auch die Untersuchung von Maximilian L. Baeumer zu. Doch er folgert aus empirischen Studien, man könne die Reformation, wie sie in Genf75 und Braunschweig76 und auf ähnliche Weise in anderen Städten eingeführt wurde, „den eindeutigen Charakter einer Revolution zumessen, da sie in einem gewaltsamen Umbruch einen grundsätzlichen Wechsel in den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen und in der das Gesellschaftsleben bestimmenden religiösen Weltanschauung herbeiführte“77. Er orientiert sich an drei „Grundfaktoren“, die nach Karl Griewank typisch für eine Revolution sind: „erstens der stoßweise und gewaltsame Umbruch von Staats- und Rechtsverhältnissen, zweitens der soziale Inhalt von gewaltsamen Gruppen- oder Massenbewegungen, drittens die ideelle Form eines ideologischen Programms mit dem positiven Ziel einer Erneuerung oder eines Menschheitsfortschrittes“78. Dem fügte Baeumer als vierte Grundbedingung den Wechsel in der Kontrolle des wirtschaftlichen Besitzes hinzu79. Robert M. Kingdon legte seiner Untersuchung für Genf die ähnlich lautende Definition von Revolution von Sigmund Neumann zugrunde. Sein Ergebnis lautet zusammengefaßt in der Wiedergabe Baeumers: „Erstens (politisch) die Abschaffung der päpstlichen Autorität und des kirchlichen Rechtssystems, ___________ 72

Hans-Jürgen Goertz, Deutschland 1500–1648. Eine zertrennte Welt, Paderborn 2004, 158. 73 H. A. Oberman, Reformation (Anm. 62), 24. 74 Gütersloh 1962; bearbeitete Neuausgabe Berlin 1987. 75 Hier stützt Baeumer sich auf die Untersuchung von R. M. Kingdon, Protestant Reformation (Anm. 59), 53–107. 76 Dieses Exempel untersucht M. L. Baeumer, Reformation (Anm. 25), 99–145. 77 Ebenda, 30. 78 Ebenda, 28. Vgl. dazu K. Griewank, Revolutionsbegriff (Anm. 14), 21f., 218–222. 79 Vgl. M. L. Baeumer, Reformation (Anm. 25), 28.

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zweitens (sozial) die Auflösung aller Klostergemeinschaften, drittens (ökonomisch) die Konfiszierung allen kirchlichen Eigentums, viertens (ideologisch) den bedeutenden Wechsel der religiösen und gesellschaftlichen Weltanschauung. Für Kingdon sind diese vier revolutionären Veränderungen immer mit der Einführung der Reformation verbunden gewesen und beweisen letztere als eine ‚anti-clerical revolution‘“80. Baeumers Untersuchung zur Reformation in Braunschweig führt prinzipiell zum gleichen Ergebnis: Es sei kein Aufruhr gewesen, „sondern vor allem eine kirchliche Revolution, welche die Autorität und das Rechtssystem, die soziale Ordnung, die Besitzverhältnisse und die religiöse Anschauung der Braunschweigischen Kirche von Grund auf und gewaltsam änderte … Jedoch wurde die Reformation in Braunschweig erst damit zu einer sozialen Revolution, daß zunächst Teile der niederen Volksschichten und dann Angehörige des Rates und der mittleren Bürgerschaft sich selbst mit der von den evangelischen Predigern entfachten Reformation identifizierten und diese mit Gewalt durchführten“81. Als ein Kolloquium sich mit der „frühen Reformation in Deutschland als Umbruch“ beschäftigte, habe ich am Beispiel der Reichsstadt Nürnberg herausgearbeitet, wie gravierend die Neuerungen waren, die sich als irreversibel erwiesen, ohne den Revolutionsbegriff zu verwenden82. Tendenziell unterscheidet sich das Resultat jedoch nicht von den Sichten Kingdons und Baeumers83. Baeumer faßt das Resultat städtischer Reformationen zusammen: „Die vier gewaltsamen, grundsätzlichen Veränderungen sind … die Beseitigung der kirchlichen Hierarchie und des kirchlichen Rechts innerhalb der weltlichen Gesellschaft, die Aufhebung der Ordensgemeinschaften und Übernahme der Sozialversorgung durch die weltliche Macht, die staatlich durchgeführte Enteignung kirchlicher Besitztümer und die Einführung einer neuen, für alle Bürger und gesellschaftlichen Institutionen geltenden religiösen Weltanschauung. D. h., die Reformation, wie sie in den Städten durchgeführt wurde, ist in erster Linie eine kirchliche, und in zweiter Linie eine soziale Revolution. Der grundsätzliche und gewaltsame Wechsel betrifft im engeren Sinn nur einen Teil der damaligen Gesellschaft, den geistlichen Stand, im weiteren Sinn den gesamten Stadtstaat. In ihrer Durchführung und in ihren Folgeerscheinungen erfaßt diese ___________ 80

Ebenda, 28f.; vgl. R. M. Kingdon, Protestant Reformation (Anm. 59), 60–73. M. L. Baeumer, Reformation (Anm. 25), 143f. 82 Vgl. Günter Vogler, Erwartung – Enttäuschung – Befriedigung. Reformatorischer Umbruch in der Reichsstadt Nürnberg, in: Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, hrsg. v. Bernd Moeller, Gütersloh 1998, 381–406. 83 Vgl. ebenda, 399–404. 81

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Revolution die ganze Gesellschaft. Insofern ist sie auch eine soziale Revolution“84. Natürlich ist es legitim, sich an die zeitgenössische Terminologie zu halten und die Prozesse als Reformation zu beschreiben. Zu bedenken ist aber, ob der Reformationsbegriff85, der auf Reformen verweist, hinreicht, um das Gewicht der Umbrüche und die Reichweite ihrer Wirkungen zu erfassen. An dieser Stelle sei ein Exkurs erlaubt. Erst in den letzten Jahzehnten wurde das Täuferreich zu Münster aus seinem „forschungsgeschichtlichen Ghetto“ befreit86 und ein sachgemäßerer Umgang mit dem Phänomen eingeleitet. Bernd Moeller sieht in ihm das Exempel „eines radikalen und kollektiven Ausbruchs aus der gegebenen Weltordnung“, und dieser habe „durch seinen Ablauf und sein Scheitern eine den lokalen und temporären Rahmen sprengende geschichtliche Tragweite“87. Nach Hans-Jürgen Goertz verstand das Täuferreich sich „als ‚Gegenwelt‘ zum alten Reich“, als eine Alternative, „die von außen her als gesamtgesellschaftliche Provokation empfunden werden“ mußte88. Richard van Dülmen hebt als Charakteristikum hervor: „In der radikalen Reformation Thomas Müntzers und dem revolutionären Chiliasmus des Königreichs der Täufer in Münster erreichte der religiöse und soziale Welterneuerungswille der deutschen Gesellschaft des Spätmittelalters einen Höhepunkt. Sie radikalisierten das Programm der Bauern und der reformatorischen Bewegung Luthers und Zwinglis, indem sie das religiöse Bewußtsein zum Prinzip einer Weltreformation setzten“89. Was kennzeichnet die Radikalität des Täuferreichs? Die Täufer gewannen im Februar 1534 im westfälischen Münster die Herrschaft und gestalteten sie in der folgenden Zeit nach ihren biblisch motivierten Vorstellungen aus. In einem Schreiben vom 22. November 1534, mit dem die Abgesandten dreier Reichskreise zu einer Zusammenkunft nach Koblenz geladen wurden, wird den Täufern vorgeworfen: Sie hätten die heilige Religion, die wohlhergebrachte christliche Ordnung und alle löblichen Zeremonien und Gottesdienste „nit allein mit gewaltiger vnerhörter grausamikeit contaminiert, sonder auch gantz abgethain, die kirchen vnd Altair zerrissen, weltlich pollicei vnd regiment vmbgestoissen, alle bücher, brieue vnd siegel verbrant, Geistlige vnd weltlige güter den rechten besitzern entwant, vnd vnder sich gemein gemacht“. Ferner beabsichtigten sie, ___________ 84

M. L. Baeumer, Reformation (Anm. 25), 30f. Vgl. Eike Wolgast, Reform, Reformation, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 1981, 313–360. 86 Hans-Jürgen Goertz, Zu dieser Nummer, in: Mennonitische Geschichtsblätter 40 (1983), 6. 87 Bernd Moeller, Deutschland im Zeitalter der Reformation, Göttingen 1977, 102. 88 Hans-Jürgen Goertz, Die Täufer. Geschichte und Deutung, München 1980. 89 R. van Dülmen, Reformation (Anm. 35), 367. 85

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„die gantze Christenhait mit jrer verdampten vnd vnmenschligen sect vnd Tyrannei zu beflecken, leib vnd sele zu verderben, vnd alle Eigenthümbs gerechtigkeit hinweg zu nemen vnd gmein zu machen, vnd zuletzt, wie dieser grausamen sect art ist, alle geistlige vnd weltlige Oberigkeit, aller Eher vnd eirbarkeit zugleich zu vertilligen, vnd im gronde vßzurotten“90. So stellten die Gegner der Täufer dar, was geschehen war und noch folgen sollte. Die geistliche und weltliche Ordnung wurde total abgelehnt. An ihre Stelle sollte das „neue Jeursalem“ treten und die neue Ordnung auf die ganze Christenheit übertragen werden91. Es liegt nahe, die Ereignisse als totale/komplexe Revolution zu bezeichnen. So interpretiert auch Richard van Dülmen das Geschehen: „Die chiliastische Revolution war die einzig mögliche Revolution in einer feudalen Gesellschaft mit religiös legitimierter Herrschaft. Sie brach mit der Reformationsvorstellung des Mittelalters als Wiederherstellung alter Zustände, indem sie – allerdings ebenfalls unter Rückgriff auf eine Tradition – nicht mehr auf eine immanente Reform setzte, sondern alles im Lichte eines eschatologischen Bewußtseins von der Beseitigung der weltlichen Ordnung überhaupt erhoffte“92. Ihre Schwäche sieht er im Fehlen realistischer Alternativen, „die die gesellschaftliche Krise nicht durch Ausbruch aus der Geschichte, sondern durch Neukonstruktion gesellschaftlichen Lebens wirklich überwinden konnten“93. Der Umbruch in Münster begann als Stadtreformation mit radikalen Zügen. Aber die dauerhafte und überregionale Institutionalisierung des „neuen Jerusalem“ gelang nicht. So blieb das Täuferreich ein regionaler Sonderfall, der keine Nachfolge fand. Die Revolution ist indes auf Wiederholbarkeit angelegt. Anders verhält es sich im Hinblick auf den zeitlich parallel zu den städtischen Reformationen ablaufenden „Bauernkrieg“. Er war ein eigenständiges Phänomen, das zugleich mit der Reformation verflochten war. Auch in diesem Fall differieren die Urteile, wie die Aufstände der Jahre 1524/25 zu charakterisieren sind94. Für die Zeitgenossen signalisierten sie Aufruhr, Empörung und Tumult, war es „Bauernlärm“ oder ein „Bauernkrieg“95. Die Quellen erwähnen jedoch als involvierte soziale Kräfte neben Bauern den Anteil städtischer Schichten, auch von Geistlichen und in einigen Bergbauregionen von Berg___________ 90

Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Loc. 10327, Nr. 3, fol. 40. Vgl. Günter Vogler, Das Täuferreich zu Münster im Spannungsfeld von Täuferbewegung und Reichspolitik, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 36 (1988) 23– 35. 92 R. van Dülmen, Reformation (Anm. 35), 369. 93 Ebenda. 94 Vgl. Friedrich Winterhager, Bauernkriegsforschung, Darmstadt 1981. 95 Vgl. Peter Blickle, Der Bauernkrieg. Die Revolution des Gemeinen Mannes, München 1998, 41f. 91

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knappen. Als Revolution wurde der Bauernkrieg seit der Französischen Revolution interpretiert. Für Friedrich Engels war es ein „Revolutionsversuch“ oder die „Revolution von 1525“96. Dieser Sicht folgten – wenn auch unterschiedlich akzentuiert – manche Historiker bis in das 20. Jahrhundert. Inzwischen wird die von Peter Blickle zuerst 1975 vorgetragene These von der „Revolution von 1525“97 bzw. der „Revolution des gemeinen Mannes“98 weithin akzeptiert. Doch Forschungen zur Reformation und zum Bauernkrieg liefen eher nebeneinander her, als daß die Beziehungen zwischen beiden erfragt wurden. Zwar wurde die Legitimation der Aufstände mittels des Evangeliums sowie die Rezeption reformatorischer Ideen in der bäuerlichen und städtischen Aufstandsbewegung der Jahre 1524/25 konstatiert, aber letztlich eher ein Nebeneinander beider Bewegungen nahegelegt. Das verwundert, da manche Autoren sowohl die Reformation als auch den Bauernkrieg als Revolution charakterisierten.

V. Eine „frühbürgerliche Revolution“? Eine konsensuale Antwort auf die Frage, wie die „Doppelrevolution“ – Reformation und Bauernkrieg – charakterisiert werden kann, ist nicht in Sicht. In der marxistischen Forschung führte ihre Zusammenschau seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu dem Konzept, beide Ereigniskomplexe als frühe Form einer bürgerlichen Revolution zu interpretieren99, und dieses wurde in den folgenden Jahrzehnten in innermarxistischen Diskussionen und angesichts kritischer Meinungsäußerungen von außen inhaltlich ausgeformt100. Die Charakterisierung von Reformation und Bauernkrieg als Revolution ist keine Erfindung der marxistischen Geschichtswissenschaft. Seit dem 19. Jahrhundert wurden beide Phänomene wiederholt mit dem Revolutionsbegriff bedacht, wie oben kurz skizziert wurde. Die Genese des marxistischen Konzepts führt jedoch vor allem zu Friedrich Engels zurück, der zwischen 1843 und ___________ 96

Friedrich Engels, Der deutsche Bauernkrieg, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 7, Berlin 1961, 409, 412f. 97 Peter Blickle, Die Revolution von 1525 (1975), 4., durchges. Aufl., München 2004. 98 P. Blickle, Bauernkrieg (Anm. 95). 99 Vgl. die bilanzierenden Beiträge: Günter Vogler, Reformation als ,frühbürgerliche Revolution‘. Eine Konzeption im Meinungsstreit, in: Zwingli und Europa (Anm. 62), 47–69; Rainer Wohlfeil, Reformation als ,frühbürgerliche Revolution‘? Die deutsche Reformation in der Historiographie der DDR, in: Geschichtswissenschaft in der DDR, Bd. II: Vor- und Frühgeschichte bis Neueste Geschichte, hrsg. v. Alexander Fischer u. Günther Heydemann, Berlin 1990, 177–213. 100 Vgl., Günter Vogler, Das Konzept „deutsche frühbürgerliche Revolution“. Genese – Aspekte – kritische Bilanz, in: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 48 (2001), H. 5, 87–117.

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1893 sich wiederholt zur Sache äußerte und die spätere Begriffsbildung beeinflußte101. Das Konzept basiert auf der These, daß es sich bei Reformation und Bauernkrieg nicht um parallele, isoliert voneinander ablaufende Aktionen handelte, sondern zwischen ihnen enge Wechselbeziehungen bestanden102. Selbstverständlich wiesen beide ihr eigenes Profil auf. Auch erfaßte der Bauernkrieg nicht alle Regionen, in denen die Reformation Fuß faßte, und umgekehrt waren bäuerliche und städtische Aufstände auch für Regionen charakteristisch, in denen keine oder nur schwache reformatorische Einflüsse wahrzunehmen sind. Beziehungen und gegenseitige Beeinflussungen sind zwar nicht strittig, aber umstritten ist, was sie als Revolution auszeichnet. Folgende Aspekte dürften neben anderen zu bedenken sein: Erstens wurde die Interpretation des Evangeliums im reformatorischen Geist von unterschiedlichen Schichten rezipiert. Auch die Aufständischen nahmen es während der bäuerlichen und städtischen Erhebungen der Jahre 1524/25 an, kulminierend in der Legitimierung der Forderungen und Aktionen mit dem „göttlichen Recht“103. Zweitens förderte die Reformation die Mobilisierung der Aufständischen, indem das von Martin Luther propagierte Gemeindeprinzip ältere genossenschaftliche Traditionen belebte und das Streben nach kommunaler Autonomie begünstigte. Die Gemeinde der Gläubigen sollte Recht und Macht haben, das Evangelium ohne Vermittlung durch Priester anzunehmen, auch Prediger selbst zu wählen oder ihres Amts zu entheben. Das eröffnete die Perspektive, das eigenständige Handeln der Dorf- und Stadtgemeinden zu stärken104. Drittens beriefen die Aufständischen sich auf die von Martin Luther propagierte „christliche Freiheit“. Er meinte damit die Befreiung von päpstlichem Glaubenszwang, weil die Gewissen nur Gott verpflichtet seien. Aber „christliche Freiheit“ mußte sich nicht in diesem Verständnis erschöpfen, und so gewann das Schlagwort auch eine soziale und politische Dimension. Die Aufständischen gewannen mit dieser Idee eine ihren Kampf stimulierende populäre Losung, die ihren Anspruch auf ökonomische Entlastung, Aufwertung ihrer sozialen Stellung und politische Partizipation zu legitimieren vermochte, die

___________ 101

Vgl. ebenda, 88–89. Vgl. zum folgenden ebenda, 98–103. 103 Vgl., Peter Blickle, Das göttliche Recht der Bauern und die göttliche Gerechtigkeit der Reformatoren, in: Archiv für Kulturgeschichte 68 (1986), 351–369. 104 Vgl. Peter Blickle, Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil, München 1985; ders., Freiheit. Ein Problem der Deutschen und Martin Luthers, in: 700 Jahre Wittenberg, hrsg. v. Stefan Oehmig, Weimar 1995, 79–94. 102

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Überwindung von Ungleicheit signalisierte und den Weg zu (bürgerlicher) Gleichheit wies105. Viertens löste die Berufung auf das „göttliche Recht“ die Erhebungen aus ihrer von lokalen und regionalen Interessen diktierten Begrenztheit. Die verschiedenen Aufstandszentren mit ihren spezifischen Anliegen erhielten ein allgemeines Fundament, so daß die Gemeinsamkeiten der Aufstandsbewegung deutlich hervortraten. Der Bauernkrieg hätte ohnedem wohl nicht die Dimensionen angenommen, die ihn auszeichneten. Fünftens wurden in der Zeit der bäuerlichen und städtischen Erhebungen von Bauern und Städtebürgern bzw. Dorf- und Stadtgemeinden viele konkrete Anliegen der Reformation aufgenommen (freie und unverfälschte Predigt des Evangeliums, Pfarrerwahl, Aufhebung von Klöstern, Säkularisation geistlichen Besitzes). Aktionen richteten sich folglich oftmals gegen altgläubige Geistliche, Mönche und Nonnen oder geistliche Landes- und Stadtherrn, so daß die antiklerikale Komponente ausgeprägt in Erscheinung trat. Die reformatorische Bewegung erlangte somit angesichts der Rezeption ihrer Anliegen während des Bauernkriegs eine breitere soziale Basis, nachdem sie in ihrer frühen Phase überwiegend in größeren Städten (und in Adelskreisen) Resonanz gefunden hatte. Das Prädikat Revolution wird nicht der Reformation oder dem Bauernkrieg zugeschrieben, sondern der Revolutionsbegriff auf beide bezogen, weil von ihnen gleichermaßen systemsprengende Wirkungen ausgingen. Die tradierte kirchliche und weltliche Ordnung wurde in Frage gestellt und der Versuch unternommen, die gesellschaftlichen Beziehungen und die sie absichernde Kirche neu zu gestalten (Respektierung der Normen des Evangeliums, Einschränkung des Geltungsbereichs geistlichen Rechts, Beseitigung des privilegierten Status von Geistlichkeit und Adel, Aufhebung der Klöster, Säkularisierung kirchlichen Besitzes, Verbürgerlichung des Kirchenwesens, Ausweitung der Berechtigungen von Dorf- und Stadtgemeinden, soziale Entlastung und politische Partizipation des „gemeinen Mannes“, Gewährleistung persönlicher Freiheit, Synchronisierung von „Ehre Gottes“ und „gemeinem Nutzen“). In Frage gestellt wurden generell oder partiell die Gesellschafts-, Eigentums- und Rechtsordnung. Die Charakterisierung dieser Revolution als bürgerlich bezweckte, den Revolutionsbegriff sozial zu konkretisieren. Dabei spielte eine Rolle, daß in der reformatorischen Bewegung zwar unterschiedliche soziale Kräfte aktiv wur___________ 105

Vgl. Günter Vogler, „Damit kein Unterschied der Menschen sei“. Gesellschaftliche Ungleichheit und die Idee der Gleichheit im deutschen Bauernkrieg, in: „Vor Gott sind alle gleich“. Soziale Gleichheit, soziale Ungleichheit und die Religionen, hrsg. v. Günter Kehrer, Düsseldorf 1983, 212–231.

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den, zunächst aber vor allem städtische Schichten die Rezipienten reformatorischer Ideen waren und zuerst in einer Zahl größerer Städte daraus praktische Konsequenzen gezogen wurden und ein (nicht immer, aber oftmals) irreversibler Umbruch eingeleitet wurde. Im Verlauf des Bauernkriegs wurden dann ländliche Gemeinden und weitere städtische Kommunen auf diesen Weg geführt. Ein Urteil über den sozialen und politischen Gehalt der Neuerungen kann nicht davon abhängig gemacht werden, daß 1524/25 nicht bürgerliche Kreise, sondern bäuerlich-ländliche Schichten zeitweilig besonders aktiv wurden106. Das präzisierende früh verweist auf die angesichts der gegebenen Bedingungen limitierten Problemlösungen. Der Transformationsprozeß wurde eingeleitet (mehr nicht!), und es bedurfte weiterer revolutionärer Anstöße in verschiedenen europäischen Staaten, um eine bürgerliche Gesellschaft zu konstituieren107. Ein Fundament war jedoch mit den Forderungen und Aktionen der Reformations- und Bauernkriegszeit gelegt. Generell war es eine Antwort auf die Frage, wohin der frühneuzeitliche Transformationsprozeß tendierte: Der revolutionäre Anstoß öffnete den Weg zu einer neuzeitlichen bürgerlichen Gesellschaft. Zu den Mängeln des Konzepts und zu kritischen Einwänden habe ich mich an anderer Stelle geäußert108. Debatten verlaufen sich indes oftmals, ehe sie ihr Ziel erreichen. Wer das Konzept jedoch unbefangen zur Kenntnis nahm, der erkannte, daß hier ein Versuch vorlag, das Revolutionsproblem in seiner Bedeutung für die Epoche der frühen Neuzeit terminologisch zu erfassen. Das war – so Peter Blickle – eine Herausforderung, „einen neuen interpretatorischen Gesamtentwurf zu liefern und nicht mit dem Vorwurf mangelnder empirischer Absicherung des Konzepts der Frühbürgerlichen Revolution den eigenen Positivismus schon für Erkenntnis zu halten“109. Die Debatten sind verklungen, aber ein diskussionsfähiger Gegenentwurf wurde von den Kritikern bisher ___________ 106

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Feststellung von D. Langewiesche, Revolution (Anm. 1), 319: „Die Revolutionen in agrarischen Ländern des 20. Jahrhunderts z. B. lehrten, die Bedeutung von Agrarbewegungen für die Revolutionen früherer Jahrhunderte schärfer zu erkennen. Der Vergleich provozierte auch, darüber nachzudenken, warum die ‘großenǥ Revolutionen alle in überwiegend agrarischen Gesellschaften stattgefunden haben.“ Vgl. dazu Gerhard Heitz/Günter Vogler, Agrarfrage, bäuerlicher Klassenkampf und bürgerliche Revolution in der Übergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus, in: Bauern und bürgerliche Revolution, hrsg. v. Manfred Kossok u. Werner Loch, Berlin 1985, 43–62. 107 Vgl. Gerhard Brendler, Zur Problematik des frühbürgerlichen Revolutionszyklus, in: Studien zur vergleichenden Revolutionsgeschichte 1500–1917, hrsg. v. Manfred Kossok, Berlin 1974, 29–52; Miroslav Hroch, Burzoazní Revoluce v Evrope, Prag 1981. 108 Vgl. G. Vogler, Konzept (Anm. 100). 109 Peter Blickle, Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300–1800, München 1988, 73.

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nicht angeboten. Abschließend sollen deshalb einige Stimmen zitiert werden, die aus der Distanz die Diskussion bilanzieren. Ein kurzes Resumé formulierte Luise Schorn-Schütte: „Das Deutungsmuster von der ‚Reformation als frühbürgerliche Revolution‘110 hat die europäische und die nordamerikanische Reformationsforschung der letzten 25 Jahre beständig in Bewegung gehalten. Die Fülle der durch die marxistische Herausforderung entstandenen Einzelforschungen hat den Kenntnisstand zur sozialen, wirtschaftlichen und theologischen Fundierung der Reformation erheblich gesteigert … Ein großer Ertrag ist zweifelsohne vorhanden, wobei nicht vergessen werden sollte, daß das Konzept der frühbürgerlichen Revolution Teil des universalistischen Geschichtsverständnisses des Historischen Materialismus ist, der sich als Weltanschauung versteht und deshalb nur eine begrenzte Diskussionsfähigkeit aufzubringen bereit ist“111. Doch gerade die Diskussion war das Mittel, um das Konzept auszuformen und wenigstens partiell stärker empirisch zu untermauern. In diesem Prozeß formte sich – so Gottfried Seebaß – das marxistische Bild der Reformation „zu einer die ideologischen Fesseln sehr behutsam und allmählich lösenden, in gleichem Maß aber wissenschaftlich ernsthaft zu diskutierenden Gesamtinterpretation der Reformation im weiteren Zusammenhang der europäischen Revolutionsgeschichte. Dem entsprach die Reaktion der westlichen Forschung, die sich von diskussionsloser Ablehnung über argumentierende Diskussion zum Ernstnehmen der damit bestehenden Herausforderung entwickelte“112. Realistisch beschreibt Helmut Bräuer die Situation, die mit der „Wende“ eintrat: „Mit dem Jahr 1989 verschwand der Begriff der frühbürgerlichen Revolution aus der Diskussion – zügig und ohne Lärm; heute gewinnt man den Eindruck, als habe es ihn nie gegeben. War diese mit dem Konzept der deutschen frühbürgerlichen Revolution verbundene Form der Suche nach einer Erklärung für die Phänomene des Beginns der Neuzeit ein wissenschaftlicher Irrweg? Sind die hinter ihm stehenden theoretischen Erwägungen samt und sonders mit wissenschaftlichen Mitteln ad absurdum geführt worden? Oder handelt es sich um die ‚Befreiung‘ der Theologie- und Kirchengeschichte dieses Zeitraumes von gesellschaftlichen ‚Einbindungen‘? Vielleicht haben auch gesellschafts- und/oder machtpolitische Entscheidungen den wissenschaftli___________ 110 Der Titel eines von Rainer Wohlfeil herausgegebenen Sammelbandes lautete: Reformation oder frühbürgerliche Revolution, München 1972. Damit blieb der Bauernkrieg ausgeklammert, obwohl er Bestansteil des Konzepts ist. 111 Luise Schorn-Schütte, Die Reformation. Vorgeschichte – Verlauf – Wirkung, München 1996, 100. 112 Gottfried Seebaß, Reformation, In: Theologische Realenzyklopädie Bd. 28, Berlin/New York 1997, 397.

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chen Diskurs abgeschnitten. Ich vermag hier meine Zweifel nicht zu verbergen!“113.

VI. Revolte oder Revolution? Bekannt ist die – allerdings nicht authentisch verbürgte – Episode: Als Graf Liancourt dem französischen König in der Nacht des 14. Juli 1789 die Nachricht vom Sturm auf die Bastille überbrachte, reagierte Ludwig XVI. mit den Worten „Cǥest une révolte“. Sein Gesprächspartner soll erwidert haben: „Non Sire, cǥest une révolution“. Er wollte offenbar auf einen gravierenden Unterschied zwischen Revolte und Revolution aufmerksam machen. In diesem Sinn unterscheidet Yves-Marie Bercé „Révoltes et Révolutions“114 und befragt G. E. Aylmer die englische Revolution: „Rebellion or Revolution“?115. Auch Jack A. Goldstone differenziert zwischen Revolution und Rebellion in der „Early Modern World“116. Die Quellensprache war jedoch reicher, als das Begriffspaar anzuzeigen vermag. Reinhart Koselleck unterscheidet drei Gruppen: „Erstens wird eine gewalttätige politische Unruhe durch die herrschenden Mächte von oben nach unten definiert“ (tumultus, turba, seditio, conjuratio, rebellio, Tumult, Aufruhr, Empörung, Verschwörung, Aufstand, Rebellion). „Eine zweite Gruppe bezeichnet die Unruhen aus gleichsam neutraler Perspektive“ (discordia, Zwietracht, bellum civile, bürgerlicher oder Bürgerkrieg, motus, Bewegung, vicissitudo, Wechsel). „Eine dritte Gruppe schließlich bezeichnet die Unruhen auf dem Umweg über einen Legitimitätstitel, der das Handeln von unten nach oben rechtfertigt. Es richtet sich gegen ‚Tyrannis‘, ‚Despotie‘ und, erst seit der Französischen Revolution, gegen ‚Diktatur‘“117. ___________ 113 Helmut Bräuer, Aufruhr in der Stadt. Chemnitzer Miniaturen aus der Reformations- und Bauernkriegszeit, Beucha 1997, 215. 114 Vgl. Yves-Marie Bercé, Révoltes et Révolutions dans lǥEurope moderne (XVIeXVIIIe siècles), Paris 1980. 115 Vgl. G. E. Aylmer, Rebellion or Revolution? England 1640–1660, Oxford 1986. 116 Vgl. Jack A. Goldstone, Revolution and Rebellion in the Early Modern World, Berkeley 1991. 117 R. Koselleck u.a., Revolution (Anm. 3), 654. Zum lateinischen und deutschen Sprachgebrauch vgl. Jörg Fisch im selben Beitrag, 674–685. Vgl. auch Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 1, Leipzig 1854, 714f. (Aufruhr), 744f. (Aufstand), Bd. 8, Leipzig 1993, 327 (Rebellion), Neubearb. Aufl. Bd. 8, Stuttgart 1999, 1288f. (Empörung); Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 22. Aufl., völlig neu bearb. v. Elmar Seebold, Berlin/New York 1989, 598 (Revolution); Wolfgang Pfeifer (Leiter), Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Berlin 1989, 95 (Aufruhr), 356 (Empörung), 1385 (Rebellion), 1422 (Revolution).

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Jörg Fisch, der weitere Bezeichnungen hinzufügt, faßt seine Beobachtungen zusammen: „Sowohl im Deutschen als auch im Lateinischen bestand also Ende des Mittelalters eine reiche Aufstandsterminologie. Doch kann dabei nicht von einer unmittelbaren Vorstufe des modernen Revolutionsbegriffs die Rede sein. Die mittelalterlichen Ausdrücke beziehen sich so gut wie ausschließlich auf Machtkämpfe und schnelle Umstürze innerhalb eines vorgegebenen politischsozialen Rahmens, nicht auf umfassende Umwälzungen des Rahmens selber“118. Diese Situation änderte sich seit dem 16. Jahrhundert allmählich. Die verwendete Terminologie variierte zwar weiterhin, aber einige zeitgenössische Schriften rezipierten den Revolutionsbegriff. Zu fragen ist aber, ob eine Orientierung allein am zeitgenössischen Sprachgebrauch ausreicht, um Konflikte und die zu ihrer Lösung gebrauchten Mittel in der frühen Neuzeit adäquat zu interpretieren. Historische Kategorien sind bekanntlich oftmals das Resultat späterer definitorischer Bemühungen. Das Problem zeigt sich beispielsweise, wenn man bedenkt, wie strittig die Interpretation einzelner Bewegungen ist. Das gilt für die Hussitenbewegung in Böhmen, die einmal als Revolution, ein anderes Mal als erste Reformation in der europäischen Geschichte charakterisiert wird119. Die Aufstände der Comuneros in Spanien werden als Revolution bezeichnet, aber dem Revolutionsbegriff ein unterschiedlicher Inhalt beigelegt120. Ein Beispiel nicht endender Debatten bietet zudem die englische Revolution121. ___________ 118

J. Fisch in Koselleck u.a., Revolution (Anm. 3), 685. Vgl. zuletzt Frantisek Smahel, Die hussitische Revolution, 3 Bde, Hannover 2002; Alexander Patschovsky, Das Revolutionäre an der hussitischen Revolution, in: Mediaevalia Augiensia, hrsg. v. Jürgen Petersohn, Stuttgart 2001, 407–428; Bernhard Töpfer, Die Hussitenbewegung – die erste Revolution, die erste Reformation in der Geschichte Europas?, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 52 (2004), 205–217. 120 Vgl. zum Beispiel José Antonio Maravall, Las Comunidades de Castilla. Una primera revoluciòn moderna, Madrid 1963; Joseph Pérez, La Révolution des ,comunidades‘ de Castille (1520–1521), Bordeaux 1970; Juan I. Gutierrez Nieto, Las Comunidades como movimiento antisenorial, Barcelona 1973; Stephen Haliczer, The Comuneros of Castile. The Forging of a Revolution, 1475–1521, Madison/London 1981; Manfred Kossok, Comuneros und Germanias. Spanien an der Schwelle der frühbürgrlichen Revolution?, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 27 (1979), 46–65; Horst Pietschmann, Zwei frühneuzeitliche Volkserhebungen im Vergleich: die ,Comunidades‘ von Kastilien und der deutsche Bauernkrieg, in: Reformation und Revolution. Festschrift für Rainer Wohlfeil, hrsg. v. Rainer Postel/Franklin Kopitzsch, Stuttgart 1989, 101–119. 121 Vgl. Kaspar von Greyerz, England im Jahrhundert der Revolutionen 1603–1714, Stuttgart 1994, 14–33; Ronald G. Asch, Triumph des Revisionismus oder Rückkehr zum Paradigma der bürgerlichen Revolution?, in: Zeitschrift für Historische Forschung 22 (1995), 523–540. 119

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Erhebliche Differenzen zeichnen sich auch hinsichtlich der „niederländischen Revolution“ ab. Im Vorwort zu Henri Duc de Rohans Schrift „De lǥinterest des Princes“ von 1639 bezeichnete dessen anonymer Autor den „Abfall“ der nördlichen Niederlande von der spanischen Krone als „la révolution qui sǥest faite aux Pays-bas“122 und nahm damit erstmals den Revolutionsbegriff für einen historischen Vorgang in Anspruch123. Auch Friedrich Schiller zögerte 1788 nicht, von einer Revolution zu sprechen124. Später bedienten Historiker sich unterschiedlicher Termini125: Abfall von Spanien, Revolte, Befreiungskrieg, konservative, frühbürgerliche oder bürgerliche Revolution. Henri Pirenne nannte den Aufstand eine bürgerliche Revolution, Pieter Geyl eine konservative Ständerevolte, andere Autoren einen Elitenkonflikt, einen Kampf gegen den spanischen Absolutismus oder einfach den „Achtzigjährigen Krieg“. Auch gegenwärtig gehen die Meinungen auseinander. Geoffrey Parker, Jonathan Israel und andere Historiker sprechen von einer Revolte126, Ivo Schöffer und Michael North von einem Aufstand127, für J. W. Smit war es eine Revolution128. Heinz Schilling nennt die Ereignisse „den ersten großen und erfolgreichen Unabhängigkeits- und Sezessionskrieg der Neuzeit“129. Nach Simon Groenveld erlebten ständische Institutionen eine deutliche Aufwertung. „Hierin waren sie allen anderen europäischen Staaten voraus. Wenn man diesen Aspekt des niederländischen Aufstands in den Vordergrund rückt, muß man ihn nun nicht mehr als konservative, sondern als progressive Revolution bezeichnen“130. Von Interesse dürfte sein, wie der „Abfall“ von Spanien begründet wurde. Souverän in den niederländischen Provinzen war der spanische König Philipp ___________ 122

Henri Duc de Rohan, De lǥinterest des Princes et estats de la Chrestienté, Paris 1639, 61. Vgl. dazu K.-H. Bender, Revolutionen (Anm. 22), 34. 123 Vgl. W. Schulze, Einführung (Anm. 24 ), 53. 124 Vgl. Friedrich Schiller, Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 17, Weimar 1970, 7, 8, 23. Er sah in dieser Revolution ein „Denkmal bürgerlicher Stärke“ (11). 125 Vgl. Gerhard Brendler, Die Revolution der Niederlande 1566–1579, in: Revolutionen der Neuzeit 1500–1917, hrsg. v. Manfred Kossok, Berlin 1982, 35–61, 52–57. 126 Geoffrey Parker, Spain and the Netherlands 1559–1659. Ten Studies, Glasgow 1990, 15ff.; Jonathan Israel, The Dutch Republic. Its Rice, Greatness, and Fall 1477– 1806, Oxford 1995, 169ff. 127 Ivo Schöffer u.a. (Hrsg.), De Lage Landen van 1500 tot 1780, Amsterdam/Brüssel 1978, 103ff.; Michael North, Geschichte der Niederlande, München 1997, 22ff. 128 J. W. Smit, The Netherlands Revolution, in: Preconditions of Revolution in Early Modern Europe, hrsg. v. Robert Forster u. Jack P.Greene, 2. Aufl., Baltimore/London 1975, 19–54. 129 H. Schilling, Die neue Zeit (Anm. 8), 154. 130 Simon Groenveld, Der Friede von Münster als Abschluß einer progressiven Revolution in den Niederlanden, in: 1648. Krieg und Frieden in Europa, hrsg. v. Klaus Bußmann u. Heinz Schilling, Bd. 1, Münster 1998, 123–132, 131.

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II., und die gegen sein Regiment rebellierenden Provinzen bekundeten wiederholt, ihn als Landesherrn zu respektieren. Doch mit dem „Plakkaat van Verlatinge“ vom 26. Juli 1581 sagten die Generalstaaten sich von der spanischen Krone los131. Es sei jedermann bekannt, so heißt es, „daß ein Fürst eines Landes von Gott als Haupt über seine Untertanen gestellt ist, um diese vor aller Ungerechtigkeit, Schaden und Gewalt zu bewahren und zu behüten, wie ein Hirte seine Schafe behütet“. Wenn er nicht demgemäß regiere, sondern seine Untertanen unterdrücke, übermäßig besteuere, ihrer alten Freiheiten, Privilegien und Gewohnheitsrechte beraube und sie wie Sklaven behandle, „muß er als Tyrann und nicht als Fürst betrachtet werden“132. Philipp II. wird angeklagt, er habe die Klagen der Untertanen mißachtet, diese mit Waffengewalt überfallen, der Gewissensfreiheit beraubt und die Inquisition eingeführt, das Land mit neuen Steuern belastet, Repräsentanten der Provinzen hinrichten lassen und Wilhelm von Oranien mit dem Bann belegt. Deshalb hätten sie mehr als genug rechtliche Gründe, „um den König von Spanien zu verlassen und einen anderen mächtigen und barmherzigen Fürsten zu bitten, diese Lande zu beschirmen und verteidigen zu helfen“, dies um so mehr, da er das Land über zwanzig Jahre im Stich gelassen, seine Untertanen als Feinde behandelt, ja versucht habe, sie mit Waffengewalt zu unterwerfen133. Am Ende folgt die Erklärung, „daß wir, unter Berücksichtigung des Vorgetragenen und durch die äußerste Not gezwungen, nach allgemeiner Übereinkunft, Beratung und Beschluß den König von Spanien hiermit ipso jure seiner Herrschaft, Gerichtsbarkeit und erblichen Ansprüche auf diese Lande verfallen erklären. Wir sind nicht gewillt, ihn fortan in irgendeiner Sache mit Bezug auf seine Souveränität, Jurisdiktion und Domänen in diesen Landen als Fürsten anzuerkennen, noch seinen Namen als Souverän zu gebrauchen oder zuzulassen, daß dies durch jemanden getan wird.“134. Die Erklärung richtet sich gegen den spanischen König. Nicht das monarchiche Prinzip wird angefochten, sondern die Legitimität eines Herrschers, der seine Untertanen nicht beschützte, sondern bekriegte. Nicht die Ordnung des Landes wird in Frage gestellt, sondern die Politik eines fremden Herrschers. Die „verlatinge“ hat das Wohl der niederländischen Provinzen und ihrer Bevölkerung im Blick. Doch sie markiert auch einen revolutionären Schritt, mit dem die Konstituierung eines selbständigen niederländischen Staates eingelei___________ 131

Vgl. M. E. H. N. Mout, Plakkaat van Verlatinge 1581. Facsimile-uitgave van de originele druk. Inleidung, transcriptie en vertaling in hedendags Nederlands, s-Gravenhage 1979, 94–129. Deutsche Übersetzung von Lodewijk Blok/Klaus Vetter, Die Unabhängigkeitserklärung der Niederlande von 1581, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 34 (1986), 711–720. 132 Ebenda, 711f. 133 Ebenda, 718. 134 Ebenda, 719.

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tet wurde, und das hatte Folgen für die ganze Gesellschaft. Der an Philipps Stelle tretende Francois von Anjou verstarb bereits 1584, und der von den Generalstaaten als Landvogt angenommene Robert Dudley, Graf von Leicester, verließ das Land schon 1587 wieder. Die Herrschaft wurde keinem neuen Herrn mehr übertragen. „Nicht freiwillig sollten die Niederlande zur Republik werden, sondern weil sie nach Ablehnung ihres alten Herrn keinen neuen fanden, der unter den von ihnen gestellten Bedingungen regieren wollte“135. Die Republik war mehr zufällig als planmäßig entstanden136. Eine interessante Erklärung fand Helmut G. Koenigsberger: „Der Republikanismus trat nur in Erscheinung, wenn andere Methoden, die fürstliche Macht zu begrenzen und die Privilegien, Freiheiten und Rechte der Untertanen zu schützen, fehlschlugen oder wenn der Lauf der Ereignisse sie als unwirksam erscheinen ließ“137. War die Erlangung der Souveränität für die nördlichen Provinzen der Niederlande und die Etablierung der Republik (die nach einigen Jahrzehnten von der konstitutionellen Monarchie abgelöst wurde) das Ergebnis eines Krieges gegen fremde Herrschaft oder eine Revolution, weil ein politisches System zerbrach? Waren die Bürgerlichkeit des nordniederländischen Staates, die souverän handelnde Republik und das „gouden eeuw“ das Resultat einer kontinuierlichen Fortentwicklung oder eines revolutionären Umbruchs? Charles Tilly urteilt zurückhaltend: „Man könnte durchaus die Ansicht vertreten, diese Ereignisse in den Niederlanden stellten das europäische Modell der bürgerlichen Revolution dar“138. An anderer Stelle bezeichnet er die Niederlande eindeutig als „Ursprungsland der bürgerlichen Revolution“139. Haben wir es mit einer Revolte oder einer Revolution zu tun?

VII. Noch einmal: der Revolutionsbegriff In den letzten Jahrzehnten zeichnet sich die Tendenz ab, den Revolutionsbegriff zugunsten der Theorie sozialen Wandels zurückzunehmen. „Der Stellen___________ 135 Jan Juliaan Woltjer, Der niederländische Bürgerkrieg und die Gründung der Republik der Vereinigten Niederlande (1555–1648), in: Handbuch der europäischen Geschichte, hrsg. v. Theodor Schieder, Bd. 3, 4. Aufl., Stuttgart 1994, 665. 136 Vgl. generell Nicolette Mout, Ideales Muster oder erfundene EigenArt. Republikanische Theorien während des niederländischen Aufstands, in: Republiken und Republikanismus im Europa der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Helmut G. Koenigsberger unter Mitarb. v. Elisabeth Müller-Luckner, München 1988, 169–194; Martin van Gelderen, The Political Thought of the Dutch Revolt 1555–1590, Cambridge 1992. 137 Helmut G. Koenigsberger, Schlußbetrachtung. Republiken und Republikanismus im Europa der frühen Neuzeit aus historischer Sicht, in: Republiken (Anm. 136), 285– 302, 300. 138 Charles Tilly, Die europäischen Revolutionen, München 1993, 108. 139 Ebenda, 89.

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wert des Revolutionsbegriffes wurde in der älteren Soziologie ungleich wichtiger eingeschätzt, als es in den letzten Jahrzehnten der Fall war und ist.“ Heute werde „trotz großen Aktualitätsbezuges in Europa und der Dritten Welt der Begriff, und damit auch die Theorie der Revolution, zugunsten einer allgemeinen Theorie des sozialen Wandels und des sozialen Konfliktes oder sozialer Krisen entschärft“140. Hält man am Revolutionsbegriff fest, dann fällt auf, daß das Revolutionsproblem manchmal auf einen Machtwechsel reduziert wird141, während andere Autoren die Komplexität der Umbrüche betonen und Revolutionen von anderen Formen des Widerstands abgrenzen. Karl-Heinz Nusser definiert, eine Revolution im modernen Sinn von politischer Revolution sei „der Sache nach eine Umwälzung von Staats- und Rechtsverhältnissen, die durch eine gut organisierte Gruppe mittels Massenaktionen von latenter oder offener Gewalt im Namen von programmatischen Ideen herbeigeführt wird. Während ein Umsturz lediglich im Auswechseln von Machteliten bestehen kann, stellt die Revolution einen unerwarteten und weitreichenden Bruch mit einem vorher herrschenden Gesellschafts- und Staatsverständnis dar“142. Nach Manfred Marquardt wird – angesichts eines inflationären Gebrauchs des Begriffs – unter Revolution „ein sich schnell und meist mit (Gegen-) Gewalt vollziehender, zielgerichteter, radikaler Umbruch staatlicher, gesellschaftlicher oder ökonomischer Strukturen verstanden und damit sowohl von anderen Begriffen, die ebenfalls Veränderungen bestehender Verhältnisse oder Ordnungen bezeichnen (wie etwa Evolution, Revolte, Staatsstreich und Bürgerkrieg), als auch von Analogiebildungen wie ‚Revolution der Herzen‘, ‚Revolution des Bewußtseins‘ oder ‚technische Revolution‘ unterschieden“143. Michael Stolleis differenziert zwischen einem empirischen und einem normativen Revolutionsbegriff und fährt fort: „Im einzelnen ist umstritten, ob die Veränderung der Staatsform, die Anwendung von Gewalt und die Durchbrechung der bisherigen Rechtsordnung, die Veränderung der sozialen Rangverhältnisse und der Produktionsweise zu den notwendigen Kriterien einer Revolution zu zählen seien. Je nach Entscheidung hierüber wird die Revolution von der einem Naturvorgang ähnlichen Evolution und den eher geistesgeschichtlich verstandenen Renaissancen, von der zweckrational eingesetzten Reform, der ___________ 140

Viktor Beyfuß, Die soziologische Interpretation der europäischen Revolutionen im Werk Eugen Rosenstock-Huessys, Würzburg 1990, 49. Vgl. auch Gerhard Botz, Ansätze zu sozialwissenschaftlichen Revolutionstheorien, in: Revolution und Gesellschaft (Anm. 12), 175–189. 141 Vgl. Ch. Tilly, Revolutionen (Anm. 138), 29f., ähnlich auch 86. 142 K.-H. Nusser, Revolution (Anm. 11), 1144. 143 Manfred Marquardt, Revolution. II. Theologisch-ethisch. In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 29, Berlin/New York 1998, 126–130, 126.

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sog. Palastrevolte, dem Staatsstreich oder Putsch sowie von Regierungswechsel, Rebellion, von Aufständen und Bürgerkriegen abgegrenzt“144. Alle Definitionen verweisen auf ein Spektrum von Kriterien. Die Stichworte sind: Kurzzeitigkeit des revolutionären Prozesses, programmatische Ideen, Zielgerichtetheit der Aktionen, Akteure und deren Organisiertheit, Massenaktionen und deren Radikalität, Rolle von Gewalt und Gegengewalt, Machtwechsel und strukureller Wandel des politischen Systems und/oder der ganzen Gesellschaft. Eine Revolution bewirkt demzufolge einen radikalen und komplexen Umbruch der Herrschafts-, Gesellschafts-, Eigentums- und Rechtsordnung sowie der Kultur und Mentalität. Nicht alle Komponenten kamen gleichzeitig zum Tragen, sollten aber im Ansatz zu erkennen sein. Natürlich blieben Niederlagen nicht aus und traten Verzögerungen ein. Doch das Wollen kann nicht an den Niederlagen oder (vorerst) ausbleibenden Wirkungen gemessen werden. Definitionen werden im allgemeinen nicht mit dem Blick auf eine bestimmte Epoche formuliert. Doch über die Reichweite des Revolutionsbegriffs gehen die Meinungen auseinander: „Ob der moderne Revolutionsbegriff, der unser Revolutionsverständnis seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bestimmt, sich auch eignet, frühere Zeiträume analytisch zu erschließen, ist strittig geblieben. Die marxistisch-leninistische Historiographie hat diese Frage bejaht… Die ‚westliche‘ nicht-marxistische Forschung hat zwar ebenfalls entwicklungsgeschichtliche Perspektiven von universalem Zuschnitt entwickelt, doch sie haben sich nie allgemein durchgesetzt, und Revolutionstheorien bildeten nicht ihren Kern – im Gegensatz zur marxistisch-leninistischen Historiographie“145. Hält man an der Tatsache fest, daß mindestens seit dem 16. Jahrhundert Revolutionen die europäische Entwicklung erheblich beeinflußten, aber „jede Revolution von einem unterschiedlichen sozialen Gehalt getragen war“146, dann stellt sich die Frage: Kann ein epochenspezifischer Revolutionstyp für die frühe Neuzeit definiert werden?

___________ 144

M. Stolleis, Revolution (Anm. 2), 962. D. Langewiesche, Revolution (Anm. 1), 319f. 146 V. Beyfuß, Interpretation (Anm. 140), 57. 145

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VIII. Frühneuzeitliche Revolutionen – ein eigenständiger Typ? Der Terminus „Early modern Revolutions“147 hat kein wissenschaftlich eingeführtes deutsches Pendant148. Offenbar gab es keinen Anlaß oder kein Interesse, einen eigenständigen frühneuzeitlichen Revolutionstyp zu definieren. Immerhin konstatiert Winfried Becker: „An den ‚early modern Revolutions‘ hatte Deutschland Anteil, nicht nur in Gestalt des Bauernkrieges, sondern auch der Reformation“149. Manfred Kossok suchte dem Rechnung zu tragen, indem er in seinem Spektrum von drei Grundtypen einen ersten als „vorbürgerliche Revolutionen“ bezeichnet150 und die bürgerlichen Revolutionen bis 1789/94 als „Revolutionen im Feudalismus gegen den Feudalismus“ definiert151. Doch die Spezifik der frühen Neuzeit wird auf diese Weise unangemessen nivelliert. Der neuzeitliche Bedeutungswandel des Revolutionsbegriffs – so Winfried Becker – erlaube „eine ausufernde Differenzierung nach Zeit- und Verlaufsformen, kollektiven und personalen Trägern, nach Ebenen, Intentionen, Abstufungen, Vorläufern und Vollendungsgraden von R[evolution], die eine typologische Sichtung und Gliederung der verschiedenen R[evolution]en überaus schwierig macht“152. Dennoch kann eine Klärung hilfreich sein, was für Revolutionen im frühneuzeitlichen Europa charakteristisch ist und sie von neuzeitlichen (modernen) Revolutionen abhebt. Halten wir zunächst fest: Revolutionen weisen konstante und variable Komponenten auf. Konstanten waren eine krisenhafte Situation, die Polarisierung der Gesellschaft, die Aktionen legitimierende Normen und die Anwendung von Gewalt und Gegengewalt. Als Variable zeichnen sich ab: die Ursachen und auslösenden Anläße, die Rolle einzelner Schichten und Stände, die Schwerpunkte der Programmatik, die geographisch-politische Dimension, die außenpolitischen Konstellationen, die Dauer der Konflikte und die Art der Konfliktlösung. Ohne Vollständigkeit anzustreben, dürften die folgenden Komponenten für die frühe Neuzeit charakteristisch sein: Erstens: Die frühe Neuzeit, als Übergangsepoche153 oder Transformationsphase154 verstanden, war eine Konfliktgesellschaft, deren Probleme auf unter___________ 147 Vgl. Winfried Becker, Revolution, in: Staatslexikon. Recht – Wirtschaft – Gesellschaft. 7., völlig neu bearb. Aufl., Bd. 4, Freiburg/ Basel/ Wien 1988, 892–9oo, 893. Becker hebt davon die „Amerikanische ‘demokratische Revolutionǥ“ und die folgenden Revolutionen ab. 148 Der Terminus „frühbürgerliche Revolution“ ist damit nicht voll deckungsgleich. 149 W. Becker, Revolution (Anm. 147), 895. 150 M. Kossok, Typ und Typologie (Anm. 12 ), 163 151 Ebenda, 167. 152 W. Becker, Revolution (Anm. 147), 893. 153 Dieser Begriff bezeichnet im marxistischen Geschichtsbild die lange Phase des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Vgl.

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schiedliche Weise ausgefochten wurden. Ständische Revolten, städtische und ländliche Aufstände und reformatorische Bewegungen beeinflußten kurz- oder langzeitig das gesellschaftlich-politische Leben zahlreicher europäischer Staaten. Manchmal standen stände- oder schichtenspezifische Interessen im Zentrum, manchmal die ganze Gesellschaft oder ein ganzes Land betreffende Belange. „Revolutionäre Situationen“155, die Krisen anzeigten, führten zu gewaltsamen Konfrontationen, lösten aber – nur selten – eine Revolution aus. Zweitens: Das Bemühen, eine Reform von Kirche (und Gesellschaft) anzustoßen, wurde seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts zu einem Charakteristikum mehrerer europäischer Regionen. „Religiöse Motive, teils in Form eines revolutionär rückwärtsgewandten radikalen biblischen Fundamentalismus, mischten sich hier mit politischer und sozialer Unzufriedenheit und mit Bürgerkriegstendenzen (Bauernkrieg, französische Liga, Puritanische Revolution, englische Bürgerkriege, Dreißigjähriger Krieg)“156. Wo Revolutionen ausgelöst wurden, gingen diesen (fast) immer Reformationen voraus und wirkten in das Revolutionsgeschehen hinein: im Reich (Protestantismus), in den Niederlanden (Calvinismus), in England (Puritanismus). Drittens: Reformationen waren Reformbewegungen, die auf die Erneuerung von Theologie und Kirche zielten. „Die Reformation hat … darin ihre Eigenart und ihren verbindenden Zusammenhang, daß sie eine Umbruchsbewegung gegenüber dem Gesamtsystem von Religion, Kirche und religiös bestimmter Gesellschaft des Mittelalters in der Rückbesinnung auf die Norm und das Legitimatsprinzip der Hl. Schrift ist“157. Aber aus dem Evangelium wurden auch soziale und politische Folgerungen abgeleitet158. Alternative Gesellschaftsvorstellungen waren religiös geprägt, egalitäre Ansprüche wurden aus dem Evange___________ Günter Vogler, Einheit und Vielfalt im Prozeß des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus. Probleme und Perspektiven der Forschung, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 34 (1986), 22–39. 154 W. Schulze, Einführung (Anm. 24), 21: „Die frühe Neuzeit ist die quellenmäßig gut dokumentierte Vorlaufphase der Moderne von prototypischer Bedeutung, eine historische Übergangsphase“; J. Burkhardt, Frühe Neuzeit (Anm. 9), 439: „Die Frühe Neuzeit rückt so in die Position einer ,Zwischenzeit‘: Die alteuropäische Lebensordnung war in ihrer Andersartigkeit noch voll lebendig, gleichzeitig aber begannen sich die unmittelbar in die Gegenwart führenden modernen Entwicklungen abzuzeichnen“. In der ersten Auflage war noch von der „zentralen Umschaltphase“ die Rede (1990, 365). 155 Vgl. Ch. Tilly, Revolutionen (Anm. 138), 31, 117, 129f., 143f., 173f., 222f., 294, 346. Angemessener dürfte es allerdings sein, von politischen, sozialen und anderen Krisen zu sprechen. Auch ist es fraglich, ob alle von Tilly angeführten Ereignisse eine „revolutionäre Situation“ charakterisieren. 156 Vgl. W. Becker, Revolution (Anm. 147), 893. 157 B. Hamm, Einheit (Anm. 38), 66. 158 Vgl. Adolf Laube, Die Reformation als soziale Bewegung, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 33 (1985), 424–441.

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lium hergeleitet, und auch das Widerstandsrecht fand dort seine Legitimation159. Viele Menschen sahen die realen Verhältnisse nicht im Einklang mit der Botschaft des Evangeliums. Abhilfe sollte eine radikale Erneuerung der ganzen Gesellschaft schaffen. Viertens: Revolutionen in der frühen Neuzeit integrierten Endzeiterwartungen (Reich, England). Das Bewußtsein, daß Gottes Gericht bevorstehe, führte entweder zu einer Haltung des Abwartens oder wirkte mobilisierend, weil die Zeit gekommen schien, in der die biblischen Verheißungen sich erfüllten und die „Auserwählten“ aufgerufen waren, als Werkzeuge Gottes in Aktion zu treten160. „Die Revolutionäre sprechen alttestamentlich“161. Fünftens: Revolutionsqualität gewannen in einer polarisierten Gesellschaft Aktionen, die systemsprengend wirkten, weil die soziale, politische, rechtliche und religiös-kirchliche Ordnung oder wenigstens eine ihrer Säulen infrage gestellt wurde und irreversible Umbrüche bewirkt oder wenigstens angestoßen wurden. Sechstens: Die frühe Neuzeit kennt totale/komplexe und sektorale/partielle Revolutionen162, aber auch Revolten und andere Formen der Widerständigkeit. Diese Unterscheidung ermöglicht, die Vielzahl von „Revolutionen“ zu differenzieren, indem „große Revolutionen“ mit systemsprengenden Wirkungen von systemimmanenten Aktionen und Prozessen in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft abgehoben werden können. Ist für die frühe Neuzeit die Revolte oder die Revolution charakteristisch? Das ist eine plakative Frage. Sie stellt sich indes angesichts der Beliebigkeit, die dem Revolutionsbegriff eingeprägt wurde. Reinhart Koselleck urteilte wohlwollend: „Unser Revolutionsbegriff darf … füglich als ein elastischer All___________ 159

Vgl. Eike Wolgast, Die Religionsfrage als Problem des Widerstandsrechts im 16. Jahrhundert, Heidelberg 1980; Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit. Erträge und Perspektiven der Forschung im deutsch-britischen Vergleich, hrsg. v. Robert von Friedeburg, Berlin 2001. 160 Vgl. Gottfried Seebaß, Reich Gottes und Apokalyptik bei Thomas Müntzer, in: Lutherjahrbuch 58 (1991), 75–99; Volker Leppin, Antichrist und jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Lutherum 1548–1618, Gütersloh 1999; Heribert Smolinsky, Deutungen der Zeit im Streit der Konfessionen. Kontroverstheologie, Apokalyptik und Astrologie im 16. Jahrhundert, Heidelberg 2000; Christopher Hill, The World Turned Upside Down. Radical ideas during the English Revolution, London 1972. 161 E. Rosenstock-Huessy, Revolutionen (Anm. 71), 11. 162 Ch. Tilly, Revolutionen (Anm. 138), 31, unterscheidet „große Revolutionen“, „kleine Revolutionen“, „Bürgerkriege und andere mit Gewalt herbeigeführte Machtwechsel“. „Nach einer solchen Definition darf man erfolglose Rebellionen, unblutige Staatsstreiche und von oben her eingeleitete gesellschaftliche Umorientierungen nicht als regelrechte Revolutionen bezeichnen, obwohl solche Entwickungen durchaus verwandte Züge tragen.“

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gemeinbegriff definiert werden, der überall in der Welt auf ein gewisses Vorverständnis trifft, dessen präziser Sinn aber von Land zu Land, von politischem Lager zu politischem Lager ungeheuren Schwankungen unterworfen ist.“163. Der Blick auf die Forschungen zur frühen Neuzeit verweist indes auf einen Widerspruch: Eine Vielzahl von Ereignissen und Prozessen wird als Revolution bezeichnet, aber die argumentative Begründung ihres revolutionären Charakters vernachlässigt. Um so dringlicher stellt sich die Frage: Welchen Einfluß übte Widerständigkeit auf die Transformationsprozesse aus? Welche Kräfte bewirkten mit welchen Mitteln die Transformation der Gesellschaft? Welchen Anteil hatten Revolten und Revolutionen?

___________ 163

R. Koselleck u. a. , Revolutionsbegriff (Anm. 3), 23.

Tu, Felix Lotharingia, Nube: Dynastic Marriages and Political Survival, 1477–1737 William Monter Despite their obvious importance, dynastic marriages apparently rank among the forgotten aspects of early modern European political history – even more so when the dynasty whose marital (as opposed to martial) fortunes are under investigation is today a ‘lost state’. If Lorraine still celebrates any of its local rulers, it is a twice-dethroned eighteenth-century king of Poland named Stanislas Leczynski, whose statue dominates the harmonious eighteenth-century main square of Lorraine’s traditional capital at Nancy. Nevertheless, after its ruler defeated and killed the famous Burgundian duke Charles the Bold at the battle of Nancy in 1477, the Duchy of Lorraine (united with the smaller Duchy of Bar, adjoining it to the west, after 1506) became one of western Europeǥs more important states. Until the French parachuted Leczynski in as a purely titular ruler, the dukes of Lorraine-Bar had remained both autonomous and politically significant for over 250 years. And it is the specific thesis of this essay that the marriage policies of its ruling dynasty not only provide the best clue to explain early modern Lorraine’s political survival, but also offer the best evidence for political hypergamy in western Europe. My title suggests that this old tag, which is generally applied to Austria, actually fits much better when applied to Lorraine – a duchy whose ruling house successfully climbed Europe’s political ladder without ever winning a war for two and a half centuries. A mid-sized western European buffer state, Lorraine-Bar probably contained around 400,000 subjects (approximately three-fourths of them in Lorraine proper) ca. 1600. Its rulers owed homage to the kings of France for most of its western lands and to the Holy Roman Emperor for most of its eastern lands. Half of the Duchy of Bar fell under the appellate jurisdiction of the Parlement of Paris; until its rulers negotiated their exemption in 1547, the rest of their possessions fell within the jurisdiction of the imperial appellate court, the Reichskammergericht. All of Bar and most of Lorraine (including the ducal court) were French-speaking, but a large cluster of lands in the east were Germanophone; one of Lorraine’s three administrative subdivisions was called the Bailliage d’Allemagne, and several parts of it are today in Germany’s Saarland. Between the defeat of Charles the Bold and its official disappearance, the Duchy of Lorraine experienced a succession of fully-autonomous rulers. Basically, this series spans nine generations of dukes, including the founder, René II. His successors were Antoine I (†1544), François I (†1545), Charles III

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(†1608), Henri II (†1624), Charles IV (†1675), Charles V (†1690), Leopold I (†1729), and François III, who resigned his duchy in 1737 in exchange for Tuscany. No breaks between fathers and sons occurred before Henri II: Charles IV was his nephew, and Charles V was the nephew of Charles IV. At first glance, Lorraine apparently presents a relatively unproblematic series of dynastic successions. Genealogical charts provide information about the legitimate descendants of Lorraineǥs ruling house across eight generations.1 It is a sad footnote to early modern history that so many children from Lorraine’s ruling house died before adulthood; barely half of them lived long enough to survive their fathers.2 However, like the genealogies on which it is based, this account generally excludes all illegitimate offspring, only one of whom played any significant political role in Lorraine. Excluding Lorraine’s last duke, François III (1729–37), because his marriage in 1736 entailed resigning his patrimony, seven of his eight predecessors produced a total of eighteen males and nine females who survived into adulthood (the surplus of sons was of course far from accidental). Surveying this group enables us to discern a few durable patterns of dynastic marriages designed to procure the survival of this border state while maintaining or improving their prestige. From a long-term perspective, the most interesting aspect of this process is that the ultimate social ascension of the house of Lorraine coincided with its political marginalization: the higher their rank, the lower their autonomy. In examining dynastic lineage policy, one can generally exclude the founder, and Lorraine-Bar is no exception. René II (1451–1508), the first ruler to inherit both Bar and Lorraine and who ‘married’ these lands perpetually in his testament, had an unhappy and fruitless first marriage; the couple separated one year before the fateful battle of Nancy, and the Duke finally obtained an annulment in 1485. He immediately remarried a young princess from the autonomous house of Gelderland, who outlived him by almost forty years after bearing him twelve children in twenty years. Only five of them, all boys, survived him (a total surpassed by only one of his eight successors, who left three sons and four daughters). ___________ 1 The coffee-table book by Georges Poull, La Maison ducale de Lorraine, préface H. Collin, Nancy 1991, presents essential information; however, genealogical charts are most easily available in Guy Cabourdin (ed.), Histoire de la Lorraine: Les temps modernes, 2 vols. (Encyclopédie Illustrée de la Lorraine: Nancy, 1990–91), I, 12, 58, 83, 154; II, 69, 89. 2 Including four boys and three girls for René II; two boys and a girl for Antoine I; two girls for Charles III; two girls for Henri II; two boys and a girl for Charles V; and no fewer than three boys and seven girls for Leopold I. Overall, there were 27 early deaths among 53 recorded births for eight dukes.

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René II thus had an unusually large collection of sons to be placed. However, his ingenious solution for placing his second son, Claude (1496–1550), began what was probably the most brilliant destiny of any cadet branch in sixteenth-century Europe.3 René’s will left Claude sizable properties in France, principally in Champagne, sufficient for a suitable apanage, and arranged for Claude’s naturalization as a French subject. At age seventeen, Claude located a French heiress from the house of Bourbon, marrying her two years before his older brother married her sister. The marriage was fruitful. Their oldest child was a girl, whose second marriage at age 23 made her Queen of Scotland before becoming the mother of Mary Queen of Scots. By the time Claude was raised to the honor of Duke and Peer of France in 1528, he and Antoinette had added four sons; a fifth came in 1536. Two of these sons became “cardinals of Lorraine”: one was a major reformer of the French church, while his younger brother was famously described as having “nothing of a cardinal about him except the hat”. Two other younger sons founded the French ducal houses of Aumale and Elbeuf. Their oldest son, the second Duke of Guise, married an Italian princess and was assassinated during the first French War of Religion. His oldest son (also assassinated at the French court a quarter-century later) married a German princess. The second son of the second Duke of Guise also became a French peer and Duke of Mayenne in 1573, while his third son became yet another unsatisfactory “Cardinal of Lorraine”. Thus began the history of the House of Guise, which played a major role in sixteenth-century French and Scottish history. In fact, the cadet house outshone the older Lorraine line. It seems typical that the second Duke of Mayenne married a Gonzaga princess in 1599, six years before his second cousin from the senior branch, Duke Henri II of Lorraine, married her sister – or that this same duke subsequently proposed to marry his heiress to the bastard son of the third “cardinal of Lorraine” from the Guise branch. Seldom if ever in European history has a cadet branch of a ruling house had a more glamorous fate than a senior branch; the precocious success of its ‘French’ Guises offers an early example of Lorraineǥs hypergamy. Ordinarily, the duke’s second son would enter the church; but because of René II’s remarkable “French connection,” this actually happened with his third son, Jean (1498–1550). He ended up a Cardinal and at some point, he occupied all three of the prince-bishoprics (Metz, Toul and Verdun) whose dioceses covered most of Lorraine-Bar and whose territories formed enclaves within it. René’s two youngest sons, having little prospect of marrying heiresses and few possibilities for rich ecclesiastical benefices (the wealthiest monastic property in this region, Remiremont, was female), both sought military ___________ 3 Guise genealogy in Cabourdin, Temps modernes [note 1], I, 64; a helpful overview by Michel Pernot, Les Guise:une mise au point, in: Annales de lǥEst (1990), 83–114.

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glory as officers serving the French king François I on his numerous Italian campaigns; both were killed in battle in the 1520s. It is worth emphasizing that both patterns – second sons entering the church and becoming Cardinals, and third sons (where they survived) seeking military careers abroad – were absolutely archetypical among Europe’s ruling houses, and both patterns endured across seven generations of the house of Lorraine. In the subsequent history of this ducal house until its final generation as autonomous rulers in the eighteenth century, second sons invariably entered the church (or at least received rich ecclesiastical benefices while still children). Before 1650, only one of them failed to become a Cardinal; however, his genealogy4 admirably illustrates the extent of the house of Lorraine’s involvement with Germania Sacra. Not long after his older brother’s premature death in 1545 made him co-regent with his sister-in-law, Nicolas, the younger brother of Duke François I (who had been designated at age five to succeed his Cardinal-uncle at Metz), resigned his benefices in order to marry a Netherlands heiress (their lone surviving child became Queen of France). After her death, he remarried a French aristocrat; their second son became yet another “Cardinal of Lorraine”. Subsequently, Nicolas made yet another French marriage, this time to a cousin from the House of Guise. Their second son became Prince-Bishop of Verdun. Notorious for marrying in 1605 (as he subsequently explained to a Papal nuncio in France, it happened while he was bewitched and wearing a green suit5), he was not forced to resign; instead, he was followed at Verdun by two of his nephews. The second one repeated the history of his grandfather rather than his uncle when he resigned in 1661 in order to marry. Of course, the keystone of dynastic lineage policy in early modern Europe was the marriage of the heir. Here the history of Lorraine offers seven examples from the sixteenth to the early eighteenth centuries. The general tendency seems crystal-clear: making a virtue of necessity, the dukes of Lorraine ordinarily attempted to raise their status while reinforcing their ties to both of their powerful overlords, the Habsburg emperors and the Valois or Bourbon kings of France. If the heir of René II, like his younger brother, married into the upper ranks of the French peerage, subsequent heirs aimed even higher. Over the next three generations, they married a Danish princess and niece of emperor Charles V, a daughter of the king of France, and the sister of another French king. After a long interruption during Lorraine’s seventeenth-century dynastic and political turmoil, this tradition resumed at Vienna in 1678 when Lorraine’s dispossessed heir married the daughter of a Habsburg emperor. After the Peace of Ryswick ___________ 4

Cabourdin, Les temps modernes, I, 83. Msgr. Fourier Benrard, Les relations de la famille ducale de Lorraine et du SaintSiège dans les trois derniers siècles de l’indépendance, in: Mémoirs de la Société d’Archéologie de Lorraine, 4e sér., 20 (1933), 116–137. 5

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(1697), his heir was subsequently married at Paris to a niece of Louis XIV as a precondition for his restoration. Considering this precedent, it seems entirely appropriate that this prince engaged two of his heirs in succession to an emperor’s daughter. Therefore, after 1540 Lorraine’s heirs contracted three first marriages with French royalty and three others with their Habsburg rivals. It seems even more significant that after 1540, no obvious male heir to the duchy of Lorraine ever made a first marriage with anyone not closely related to either French royalty or Habsburg emperors. This tactic was generally successful; unlike René II, subsequent heirs to the Duchy of Lorraine-Bar rarely required second marriages. Only one of these six royal or imperial marriages proved childless; in this instance, the heir remarried at a lower social level and continued the ducal lineage. Being younger than their spouses and rarely suffering death in childbed, most duchesses of Lorraine-Bar became dowager widows. Nevertheless, it seems notable that after one of them died relatively young, her husband (Charles III) remained a widower for over thirty years; under comparable circumstances, his grandson (Nicolas-François) similarly remained a widower for over twenty years. The deceptive simplicity of official genealogies frequently masks succession crises, from which Lorraine-Bar was certainly not immune. As one might expect from the general experience of European dynasties, across nine generations this duchy experienced both one prolonged regency because of a twoyear-old heir and one example of female succession. Predictably, both issues created extremely serious political problems for the ruling dynasty. The midsixteenth century regency, originally dominated by the heir’s strongly proHabsburg mother, provoked a French invasion which included the physical capture of Lorraine’s heir.6 Although their mother helped arrange that both of his younger sisters married major German princes (the elder married a Duke of Bavaria in 1568 and the younger a Duke of Brunswick in 1575), the heir was raised and eventually married at the French court. One could argue that the political consequences of Lorraine’s regency kept these duchies firmly within the French sphere of influence for the remainder of the century. If Emperor Charles V attended the 1548 Brussels marriage of the heir’s uncle and co-regent, Nicolas of Vaudémont would remarry the daughter of a French duke a few years after the French invasion of 1552 – and he lived long enough to see his eldest daughter marry a French king. This 260-year overview very imperfectly conceals a major hiatus spanning two generations in the seventeenth century. Provoked by the unprecedented problem of an heiress, the one endogamous dynastic marriage within the House ___________ 6 See the very helpful narrative in Cabourdin, Temps modernes [note 1], I, 58–89. For an old but still useful biography of the female regent, see Julia Cartwright, Christine of Denmark, Duchess of Milan and Lorraine 1522–1590, New York 1913.

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of Lorraine proved disastrous both for the individuals involved and for the political destiny of the house. Ironically, it was followed by a second and even more endogamous dynastic marriage, undertaken under desperate and rocambolesque circumstances. Despite its implausible and dubiously legal beginnings, this second in-house union provided a genealogical tunnel through which the Dukes of Lorraine-Bar would eventually emerge and recover much of their former standing in western European politics – although this time as protegés of the Austrian Habsburgs rather than the French crown. If Charles III had more surviving children than any other Duke of Lorraine, he generally did an excellent job of marrying them off or finding them other suitable establishments. The process had begun amidst noteworthy pomp and fanfare at the 1589 Florentine wedding of his oldest daughter to a Medici prince, who had to resign as a Cardinal after unexpectedly becoming GrandDuke of Florence two years earlier.7 In truth, Charles III could take no credit for this marriage; it had been arranged by Catherine deǥ Medici, then on her deathbed and so delighted to see her oldest granddaughter leave the French court to make a Tuscan marriage that she contributed much of the dowry.8 Over the next decade, the aging Charles III married off another daughter to one of Germany’s most powerful dukes, Maximilian of Bavaria, and placed his favorite daughter, Catherine, as coadjutor and designated successor to the largest and wealthiest female religious institution in the region. Meanwhile, his second son had become a Cardinal and acquired two important bishoprics, Metz and Strasbourg (which he ultimately resigned in 1597), while his third son had married a local heiress, the daughter of his principal court official. When his remaining daughter left for Cologne early in 1599 in order to marry another of Germany’s most powerful dukes, Johann-Wilhelm of Cleves-Jülich, only Charles IIIǥs oldest son and heir – now well past age thirty – remained unmarried. Because it was the only occasion when confessional issues affected the marriage policies of the house of Lorraine, the wedding of Charles III’s oldest son to the staunchly Calvinist sister of the French king Henri IV deserves attention. ___________ 7 These festivities have been studied in detail by James Saslow, The Medici Wedding of 1589: Florentine Festival as Theatrum Mundi, New Haven 1996. Its music (which has been recorded) has received a separate modern critical edition: D.P. Walker (ed.), Fete du mariage de Ferdinand de Medicis et de Christine de Lorraine (Florence 1589), Paris 1963. 8 In May 1612, Christine successfully negotiated the still-unpaid fifty thousand scudi of her dowry from her brother, Duke Henri II, who pledged to pay it in five years (Florence, Archivio di Stato, Medici del Principato, filze 4272), confirmed by his 1616 budget (Nancy, Archives Departementales Meurthe et Moselle [=ADMM] B 1371, fols. 175v-176) Henri was also still paying off the cost of his fatherǥs elaborate funeral in 1609 (fols. 339–339v).

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As has been emphasized recently, this marriage should be set within the French context of the promulgation of the Edict of Nantes.9 By arranging it, Henri IV had finally ‘pacified’ one of his deeply-indebted arch-Ligueur enemies, offering Charles III a huge dowry of half a million écus for marrying Lorraine’s heir to his middle-aged and obstinately Calvinist sister, for whom no suitable groom had ever been found. A handful of literary celebrations accompanied the event; most were printed at newly bi-confessional Paris, but a twelve-page poem by a local priest (most notable for managing to avoid any reference to the bride’s notorious heresy) was published at Nancy.10 Another pamphlet (composed in French and preserved at Paris, but supposedly printed in Germany) compared Henri IVǥs negotiation of this marriage to Caesarǥs conquest of the Rhine.11 This was the lone confessional mésalliance staining the record of a staunchly Catholic dynasty which had precociously stamped itself as ‘defenders of the faith’ in 1525 with Antoine I’s brief but decisive Alsatian campaign to crush a force of rebellious and heretical German-speaking peasants, who included a few of his own subjects. As we have already noted, younger sons of the house of Lorraine (including Charles III’s) were predestined to become Cardinals and/or Prince-Bishops of the Holy Roman Empire. At this almost entirely Catholic court, Catherine of Bourbon (now ‘Duchess of Bar’ after Charles III promoted his heir to a more suitably prestigious title) spent five years in confessional isolation.12 A few terse letters to the venerable Theodore Beza in Geneva reiterate her resistance to conversion; the records of Catherine’s personal treasurer (a Huguenot) include wages (paid at Paris) for her personal Ministre(s) de la parole de Dieu.13 Although her husband was generally considered affable and easygoing (as a ruler, he acquired the sobriquet le bon) and subsequent events proved that he was not sterile, there were no confirmed pregnancies before Catherine died in 1604. A Catholic moralist might have noted that this was the first marriage of a Lorraine heir since René II to remain childless. In the rear-view mirror of historical demography, this is exactly what one would expect from a forty-year-old sixteenth-century bride, regardless of ___________ 9 Kate Currey, Degrees of Toleration. The Conjuncture of the Edict of Nantes and Dynastic Relations between Lorraine and France, 1598–1600, in: Keith Cameron/Mark Greengrass/Penny Roberts (eds.), The Adventure of Religious Toleration in Early Modern France, Bern 2000, 231–244. 10 Alain Cullière, Les écrivains et le pouvoir en Lorraine au XVIe siècle, Paris 1999, 312–14, 756. 11 Bibliothèque Nationale, Paris [=BN] Coll. Hennin, G1514991137, cited by Currey, Degrees of Toleration [note 9], 232 n. 5. 12 Raymond Ritter, Catherine de Bourbon, la soeur dǥHenri IV (1559–1604), 2 vols., Paris 1985; see also R. Ritter (ed.), Lettres et poésies de Catherine de Bourbon, Paris 1927. 13 ADMM, B 1267. Its total expenses amounted to ca. 75,000 French écus, over half of which was supplied by her brother, King Henri IV.

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her religion. In any event, Catherine’s sterility marked the inadvertent beginning of Lorraine-Barǥs seventeenth-century dynastic crises. Her widowed husband soon remarried an Italian princess with excellent connections at the French court (she was a niece of Henri IV’s queen). Henri’s second wife received far more local pomp, including an anonymous Latin account of her official entry in June 1606.14 The need for a successor to Charles III, now past sixty years of age, was pressing. Over the next six years, Henrietta Gonzaga (Duchess of Lorraine after her father-in-law’s death in 1609) experienced four term pregnancies; but only two children survived, and more fatefully, all four babies were girls. Meanwhile, the marriage of Henri’s cadet brother François had produced a son in 1602, whose birth occasioned a literary celebration in Lorraine from one of François’s officials.15 Although this boy died in 1611, he already had two younger brothers, soon joined by two sisters. Over a century and a half, the Duchy of Lorraine had experienced one prolonged regency (1545–1558), but never a succession crisis. Parallel to the much better-known Bruderzwist that afflicted the Austrian Habsburgs in the first decades of the seventeenth century, a similar conflict divided the House of Lorraine at Nancy. Two subsequent accounts, composed at a time when the ducal House had finally regained some dynastic luster but had not yet recovered its ancestral lands, offer helpful perspectives.16 While the brothers in Lorraine detested each other as much as their Habsburg counterparts, their theoretical problem was different: whether or not Lorraine, so closely connected to the French court most of the time since René II, was subject to the Salic Law. In a way, their dynastic positions were upside-down. Duke Henri II, himself a semiserious candidate to become king of France during the chaos of the 1580s and early 1590s, insisted that female succession applied everywhere in Latin Europe except the kingdom of France; meanwhile, his younger brother François de Vaudémont, whose father-in-law had been raised at the court of Charles V and whose most helpful political allies were princes of the Holy Roman Empire, maintained that Lorraine fell within the scope of the Salic law. Despite his youngest brother’s desire for military glory by fighting for the German Catholic League (his adolescent son witnessed the Battle of the White Mountain with the Bavarian army), Henri II – who in his younger days had fought on behalf of the French Holy League – managed to keep his duchy outside the conflict engulfing much of the Holy Roman Empire after 1618. Al___________ 14

F.G. Pariset, Les Fêtes de la Renaissance, 2 vols., Paris 1956, I, 153–189. Cullière, Les écrivains et le pouvoir [note 10], 311–12, 865. 16 The Marquis de Beauvauǥs Mémoires pour servir à l’histoire de Charles IV appeared in 1689, supposedly at Köln. Compare Guillemin’s “Histoire de Charles IV” (original at Bibliothèque Municipale de Nancy, Ms. 799, an 18th-century copy at Archives Nationales, Paris, Ms. Fr. 11.813). 15

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though he proclaimed his elder daughter as his official successor, Henri II faced an intractable problem: to whom could he marry her? Everyone agreed that a foreign prince would turn Lorraine into a satellite and destroy its fragile wartime neutrality. Henri II preferred his court favorite, a Guise cousin with the huge blemish of having a Cardinal as his father; François, supported by much of the court, was so outraged that he fled to Munich. According to the standard version, their impasse was finally resolved by a special emissary from the Papacy; a Spanish Discalced Carmelite named Domingo de Calatayud warned the duke against what his instructions called falso ragione di Stato and ultimately persuaded Henri to marry his older daughter to François’s older son.17 The Duke reluctantly agreed, on condition that the Cardinal’s son simultaneously marry François’s older daughter. When these rival heirs celebrated their endogamous union in 1621, the combined ages of bride and groom totaled only thirty. Officially, Henri II’s older daughter would inherit the duchies, but they would be co-rulers; the transparent hope was that their children would inherit an autonomous and peaceful Lorraine. Shortly after Henri II’s death in 1624, his arrangements for Lorraine’s dynastic dilemma degenerated into tragicomedy; and within a decade, his and the Vatican’s solution for his inheritance had inadvertently spawned an unmitigated series of disasters. A straightforward narrative account provides a plot more outrageous than anything done by Dumas’ Three Musketeers. The adventure of joint sovereignty in 1624–25 (which bears a striking resemblance to the workable dynastic situation of the British crown after 1688) left an interesting trail of evidence in Lorraine’s archives, ranging from coins to edicts and pardons,18 before Henri IIǥs younger brother successfully overturned the terms of his son’s marriage contract and his brother’s testament. Summoning a special Estates-General at Nancy in November 1625, François produced a document recently found at the Hotel de Guise in Paris (which Lorraine historians generally consider authentic): the last will and testament of René II, dated 1506, which stipulated that the united duchies of Lorraine and Bar could be inherited only by males.

___________ 17 Both Domingo’s original orders from the Vatican and Henri II’s autograph report to the papacy were printed by Lucienne van Meerbecke, Le Saint-Siège et la Lorraine sous Paul IV et Gregoire XV, in: Bulletin de l’Institut belge de Rome 14 (1934), 18–22. 18 For example, see the coin reproduced in Caboudin, Temps modernes, I, 177, representing both husband (on left) and wife. Compare ADMM, B 99 (Lettres-patentes scellés en 1625). In summer 1625, Duchess Nicole was still signing a pardon without her husband; however, at fols. 78v-82, between two official documents signed on the same day (November 26, 1625), the formula changed abruptly when Nicoleǥs name disappeared permanently.

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To the futile fury of the dowager duchess,19 this document was accepted as Lorraine-Bar’s foundational charter of succession, overriding her husband’s testament. A political comedy ensued. As the next surviving male kin of Charles III, it was François rather than his son who legally inherited the duchy, while Henri II’s daughters were completely excluded from political authority. But François II, known in Lorraine history as the Duc-père, had no serious intention of ruling; after a few months, he abdicated in favor of his son, on condition that the public treasury assume responsibility for his considerable personal debts.20 This peculiar episode (which deserves a detailed study) provided a fitting overture to Lorraine’s ensuing political tragicomedies, tightly interwoven with the marital adventures of the Duc-pèreǥs four surviving children. Not the least bizarre consequence was an unexpected interpretation by the French, who refused to acknowledge the validity of Salic law in Lorraine-Bar. Upholding Nicole as its legitimate sovereign, rather than her uncle or husband, Cardinal Richelieu snubbed Duke Charles IV’s attempts to perform the homage required to enjoy clear title to the Duchy of Bar. Married on the same day in 1621, François’s elder son and elder daughter experienced equally unsatisfactory unions. While Henrietta’s fractious marriage to Louis de Guise-Ancerville had no political consequences (no obviously illegitimate child ever became a serious candidate to govern a major European state), the rapid failure of Charles’s marriage to his first cousin Nicole did. Nevertheless, the marriage with the most serious, indeed almost fatal, political consequences for the house of Lorraine-Bar was the clandestine nuptials of Charles IV’s younger sister Marguerite at Nancy in January 1632.21 The secret wedding of a cadet sixteen-year-old princess, already designated as heiress by her aunt Catherine, abbess of Remiremont (who apparently arranged Marguerite’s elopement together with the connivance of the Duke and his younger brother), had no dynastic implications for Lorraine. But it had enormous dynastic implications in France because of the groom: Gaston d’Orléans, younger brother of the childless Louis XIII and thus heir to the French throne. Upon receiving confirmation of this secret marriage, Richelieu and Louis XIII considered that Gaston had made a foolish and indeed disastrous mésalliance, and they did everything in their power to lay hands on both partners and to have it annulled. Escalating their harassment of the ducal house far beyond ___________ 19 Henriette’s version of events (which to the best of my knowledge has been completely overlooked in all published histories of Lorraine) was passed to her kinsman Charles Gonzaga, duke of Nevers, in October 1627, and can be found at the BN, Paris, Collection de Lorraine #52, esp. fols. 51–55v. 20 His major debts as of November 1625 are in Paris, BN, Collection de Lorraine #44, fols. 71–80; see also #39, fols. 74–87. 21 Best narrative of this episode by Christian Pfister, Catherine de Lorraine (1578– 1648), Nancy 1898, 58–60.

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obstructing Charles IV’s legal title to Bar, they quickly amassed an army and invaded Lorraine. Although both Gaston and his bride (who fled in male disguise) escaped their clutches, the French army captured Lorraine’s wellfortified capital with surprising ease and began what proved to be an extremely long military and political occupation. The immediate consequences for both the duchies and its ruling house almost proved fatal. The region was immediately plunged into the full horrors of the Thirty Years War, so memorably depicted by Lorraine’s best-known native artist, Jacques Callot. Lorraine’s population losses would not be recuperated until far into the eighteenth century. Meanwhile, its dynastic house experienced a parallel eclipse; apart from a nine-year interval (1661–70), the French would govern their hereditary lands until 1697. Lorraine’s next political tragicomedy followed shortly after the French blitzkrieg. A dismayed Charles IV (who lived another forty years and proved an indefatigable warrior) fled. In January 1634, he officially abdicated in favor of his younger brother Nicolas-François, who in accordance with family custom had become Prince-Bishop of Toul at age sixteen and a Cardinal since 1627. Isolated at Nancy with his older sister and two sisters-in-law, under close surveillance by occupying forces and underestimated by everyone, NicolasFrançois proceeded to arrange the most remarkable dynastic marriage in the history of Lorraine-Bar and one of the most unusual anywhere in western Europe. Unexpectedly, it also had significant long-term consequences. In order to prevent Lorraine’s potential heiress, his 22-year-old sister-in-law Claude, from marrying a pawn of Richelieu, Nicolas-François (who had taken the lowest possible clerical rank compatible with his offices, which did not entail ordination and irrevocable celibacy) maneuvered in great secrecy to marry her himself. In his final act as Prince-Bishop of Toul, he gave himself a dispensation to marry his first cousin and sister-in-law and to do so without the three traditional preliminary bans. He then proceeded to resign his office as PrinceBishop together with his Cardinal’s hat, whereupon a local priest proceeded to marry them in the chapel of the ducal palace, with five witnesses present, including the bride’s sister. Last but not least, the marriage was consummated immediately – a necessary condition for making it valid in canon law. While a furious Richelieu ordered both sisters sent to Paris and exiled Nicolas-François, Pope Urban VIII immediately confirmed the new groom’s auto-dispensation,22 and a second secret ceremony was held at the ducal palace, blessed by its parish priest.

___________ 22 Urban VIII’s official dispensation, dated 8/3/1634, is preserved at Vienna’s HausHof- u. Staatsarchiv, series XIV (Urkundenreihen).

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A week later, before the gout-ridden French commander realized what had happened, the ex-Cardinal of Lorraine and his bride escaped from Nancy in disguise. Nicolas-François soon abdicated in favor of his older brother, who remained titular Duke of Lorraine-Bar until his death in 1675. Meanwhile, French scholars quickly looted the ducal archives, transporting the most vital documents to Paris, while French authorities established a judicial system to stabilize their government of these usurped territories. As Richelieu ordered Charles IV’s unprotesting wife sent to Paris, where she remained until her death in 1657, the Duke himself wandered through war-torn Europe – a mercenary commander directing an army drawn mostly from his subjects, which was too small to pose a serious threat of recapturing his ancestral lands from the French.23 From the mid-1630s onwards, the history of the duchies of Lorraine and Bar generally followed a very different course from the history of its ruling house. The dynastic future of the ducal house of Lorraine-Bar now seemed almost unimaginably bleak. First, these clandestine marriages entailed long-term political and financial consequences; Nicolas-François’s wedding deprived him of the authority and revenues he had enjoyed as Prince-Bishop of Toul – and the house of Lorraine would never again produce a Cardinal or possess the important prince-bishoprics of Metz or Toul, whose dioceses covered most of the Duchy of Lorraine. Meanwhile, his younger sister’s secret marriage to Gaston d’Orléans eventually cost the ducal house its hold over Remiremont, the region’s richest female ecclesiastical property. Moreover, the same pope who had enabled an ex-Cardinal and Prince-Bishop to marry his first cousin now steadfastly refused to dissolve the 1621 marriage between their older siblings, despite numerous and prolonged efforts.24 Unfortunately for him, Charles IV’s attempts to annul his marriage rested on little more than assertions that the marriage bed had been bewitched by one of Henri II’s favorite courtiers, who had confessed his crime under torture and been burned to death – grounds that were summarily dismissed by the Vatican. When Urban VIII learned that Charles IV had held a marriage ceremony in 1637 with a teenage noble widow in FrancheComté, he launched a secret inquiry; it concluded with a circular letter sent to nine nuncios in 1639 condemning Charles IV for his “grave and scandalous excess” which has “profoundly moved the paternal entrails of His Beatitude.”25 Although Duke Charles IV promptly fathered two children with this de facto ___________ 23 For an excellent survey, see Philippe Martin, Une guerre de trente ans en Lorraine 1631–1661, Metz 2002. 24 Three volumes of documents about his futile efforts have been preserved at Vienna’s Haus- Hof- u. Staatsarchiv, Bestandsgruppen X (Haus Habsburg-Lothringen) #33– 34. 25 Fourier Benrard, La famille ducale de Lorraine et le Saint-Siège [note 8], 21 (1933), 230–265 (quote p. 253).

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but not de jure wife by 1639, they were unable to succeed him. By 1640, the collective destiny of the ducal house of Lorraine probably reached its nadir. Although Duke Charles IV had three children by 1649, none was legitimate. As late as 1653, his lawyers were still engaged in fruitless maneuvers at Rome to have his original marriage nullified.26 In 1663, his two surviving children were finally legitimized when he officially married their mother, then on her deathbed; both of them subsequently married into the French nobility. Meanwhile, after some scandalous pseudo-marital adventures in France, their aged father celebrated a childless mésalliances with a nymphet from the lesser local nobility in 1666. One understands why this peripatetic duke eventually made at least four known testaments between 1652 and 1674 at four different locations.27 A courtier who had known him well reflected in 1689 that Charles IV had “reduced his lands to such desolation that a century of peace would not suffice to return them to their previous luster.”28 Meanwhile, his “secularized” younger brother and his wife joined the ranks of refugees from the Thirty Years War, seeking shelter from their female kin across Catholic Europe. They lived first with their mutual aunt Christine, the dowager grand-duchess of Florence and co-regent. After her death in 1636, they moved briefly to Bavaria (where the duchess, another of their mutual aunts, had recently died) before settling in Vienna with help from a Gonzaga dowager empress related to Claude.29 The couple had five children in Vienna before Claude died in 1648. All three girls died young, but both boys survived. After the Austrian Habsburgs made peace with France in 1648, both emigré brothers switched sides to became French satellites in the 1650s. When Charles IV had to spend a few years in a Spanish prison for his treason,30 NicolasFrançois briefly reprised his public role while his sons grew up at the French court of Mazarin and young Louis XIV. The elder, named for the Habsburg emperor Ferdinand III, began a military career but died (on the operating table) at age twenty in 1659. The second son, destined for a clerical career (he held three major abbeys in Lorraine before being tonsured at age seven), unexpec___________ 26

The French continued to thwart his efforts; see the 457 folios of Lorraine #6 in the “Documents historiques” series at the archives of the French Ministère des Affaires étrangères. 27 See Poull, Maison ducale [note 1], 237. 28 Quoted from Beauvauǥs Mémoires [note 20] by Cabourdin, Temps modernes [note 1], II, 64. 29 See F. de Robert, Correspondance inédite de Nicolas-François, duc de Lorraine et de Bar (1534–1644), in: Memoires de la Société Archólogique de Lorraine (1885), 81– 152. 30 Forgetting that Duchess Nicole was a compliant French stooge and that Charles IV was then in French service, Lorriane historians naively praise her ‘loyalty’ in asking the Pope to intercede to have her imprisoned husband released in 1653.

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tedly became the heir to Lorraine-Bar. Busying himself with various marital projects at the French court, young Charles resigned his benefices to his widower father, who thus began and ended life as a quasi-cleric.31 If his projected marriage to the fabulously wealthy Grande Mademoiselle had materialized, “Charles of Lorraine” would have become a minor figure at Louis XIV’s court, and the duchies of Lorraine and Bar would probably have been annexed to France nearly a century sooner than they were. Instead, his engagement provoked violent objections from both his uncle and his Guide relatives. Charles fled Paris in 1661 and returned to Vienna, where he quickly became a protégé of the influential dowager empress Elizabeth Gonzaga, proved himself a highly successful military commander against the Turks, and got his French marriage contract annulled in 1664. Elizabeth proposed him as the “Austrian” candidate for the Polish throne in 1669; he subsequently married her older daughter, the widow of the man who won that election. From such implausible beginnings were the dynastic fortunes of the house of Lorraine restored, but this time as Austrian rather than French satellites. Charles V (as he is known to Lorraine’s historians) never resided in any of the lands he formally inherited after his uncle’s death in 1675. Nevertheless, by the time he died as governor of Tyrol in 1690, he had become a major figure at the Habsburg court, famous primarily for his vital role in repelling the Turkish attack on Vienna in 1683. Five years earlier, the dowager empress had married him to a half-sister of Emperor Leopold I; not surprisingly, their oldest son became the first male in Lorraine’s history to be named Leopold. And when Louis XIV was finally forced to restore Lorraine-Bar to its hereditary dukes at the Treaty of Ryswick in 1697, it was this eighteen-year-old prince who inherited it, on condition that he marry Louis XIV’s niece. When the French once again occupied his capital from 1702–1714, Leopold moved his court to Lunéville and spent much of his energy and wealth on various schemes to promote the ecclesiastical careers of his younger brother. Before dying in 1715, CharlesJoseph (who, like Leopold, benefited from Habsburg gratitude for his illustrious father) had successively acquired three different German PrinceBishoprics, culminating in 1711 with the Archbishopric-Electorate of Trier – the highest ecclesiastical dignity ever attained by any member of this house.32 ___________ 31

See Poull, Maison de Lorraine [note 1], 242–46. In the 1660s, Nicolas-François still enjoyed some revenues from the temporality of the Bishopric of Verdun and the rich abbey of St. Epvre at Toul, while the Habsburgs attempted to make him Provost of the Archbishopric of Magdeburg: see BN, Paris, Collection de Lorraine #37. 32 For an excellent account, see Hubert Wolf, Die Reichskirchenpolitik des Hauses Lothringen (1680–1715), Stuttgart 1994. Charles-Joseph’s younger brother, who also died in 1715, acquired several prince-abbeys, principally the double house of StabloMalmédy in modern Belgium.

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After both younger brothers died in 1715, Leopold’s principal dynastic concerns involved placing his own children; and it must be admitted that, except for his youngest daughter, he succeeded brilliantly. Of his numerous progeny, however, two boys and six girls had already died by 1711. After considerable maneuvering and at considerable expense, Leopold managed to betroth his oldest son (born in 1707) to the oldest daughter of the Habsburg emperor Karl VI (born in 1717). When Leopold-Clement died unexpectedly soon afterwards (1723), Leopold successfully substituted his slightly younger brother, FrançoisEtienne (born in 1708). Since Karl VI had no sons, this Habsburg fiancée became an heiress at the center of elaborate diplomatic arrangements for the Austrian succession known as the ‘Pragmatic Sanction’. By the time the marriage of Leopold’s heir and Karl VI’s heiress was finally celebrated in 1736, French diplomats had crafted an unusually complicated set of prenuptial arrangements for the groom (the bride’s political problems would arise in central Europe only after her father’s death in 1740). Louis XV’s government withheld approval of the proposed match unless François III resigned his ancestral inheritance of Lorraine-Bar (which he had ruled since his father’s death in 1729) in favor of a ‘caretaker prince’ tightly controlled by France. Ironically, their choice – Louis XV’s destitute Polish father-in-law – would become Lorraine’s ‘national’ hero in the nineteenth and twentieth centuries. However, François III could not be left landless, nor did the Habsburgs have to give him one of their hereditary provinces to govern, as they had done for his grandfather. Instead, Lorraine-Bar was to be exchanged for the Grand Duchy of Tuscany, whose ruling dynasty conveniently became extinct in 1737. In other words, the Austrians raised no objections to the French annexing what remained of Lorraine-Bar (from which Mazarin and Louis XIV had already sliced off a great deal), if the French did not object to the Austrians acquiring Tuscany. A richly-documented study33 offers a careful interpretation of the considerations which persuaded Lorraineǥs last autonomous prince to accept this arrangement over the heated objections of his French mother. Its last autonomous duke offers the supreme example of hypergamy in the history of the House of Lorraine-Bar. Even after he had traded up to become Grand Duke of Tuscany, the huge disparity between his inheritance and that of his wife caused the ensuing dynasty (which still exists) to be generally known as ‘Habsburg-Lothringen’ rather than following ordinary rules of masculine pre-eminence as ‘Lorraine-Habsbourg’. Although refused any formal role in ___________ 33

Hubert Collin, Cas de conscience dynastique, ambition personnelle et raison dǥEtat: Pourquoi le duc Franois III dut se laisser arracher la Lorraine et lǥéchanger contre la Toscane, in: Alessandra Contini/Mari Grazia Parri (eds.), Il Granducato di Toscana e I Lorrena nel secolo XVIII, Firenze 1999, 35–69.

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his wife’s inherited crowns of Hungary and Bohemia, François III – after five years of warfare and his rival’s forced abdication – did get elected Holy Roman Emperor. Although living in Vienna since age fifteen, he represented the first successful ‘French’ candidate in memory, and Kaiser Franz enjoyed a reign of twenty years. Although his hereditary duchies had long since ceased to exist, Duke Leopold would have been nearly as proud to learn the destinies of two of his surviving younger children. One year after her brother married his Austrian heiress, his sister became the first princess of Lorraine to marry a ruling king: Charles-Emmanuel III of Savoy, now king of Sardinia. In 1744, François III’s younger brother married another Habsburg princess; she died within a few months, but he served for thirty-six years as a popular Governor-General of the Austrian Netherlands. By the time Charles-Alexander died in 1780, his nephews and nieces included a Holy Roman Emperor, the king of SardiniaPiedmont, and the Queen of France. A concluding observation: the complete slogan in which we have replaced “Austria” by “Lorraine” begins with the phrase, “Let others make war.” But one could even include the military preamble without sacrificing its applicability to Lorraine. In the course of their 260-year history, the dukes of Lorraine and Bar fought many battles; most of them were waged either by Charles IV during the Thirty Years War, or else by the sons of Charles III during the French wars of the Holy League or the “Strasbourg Bishops’ War.” None of these battles was ever remembered as a major victory. Lorraine’s final duke, François III, certainly did no better in the eighteenth century. Over 275 years, Lorraine’s nine dukes could boast exactly two truly significant military victories: René II’s defeat of Charles the Bold in 1477, and Charles V’s defeat of the Turks at Vienna in 1683. It is worth underlining that although both victories were commanded in person by dukes of Lorraine, in neither case were the armies which they commanded composed to any significant degree of their own subjects: it was Swiss infantrymen who routed the Burgundians and Austrian troops who routed the Turks. In the phrase “let others make war,” it is therefore the final word – alii – that must be emphasized when surveying Lorraine’s military history.

„Patrioten“ in der frühen Neuzeit: Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten im Verlauf von Konfessionalisierung und europäischen Mächtekonflikten Robert von Friedeburg In den Jahren nach 1575 wurde der Neologismus „Patriot“ zuerst in der französischen Sprache geprägt1. Weil das nicht zuletzt im Kontext der religiösen Bürgerkriege und des Aufstandes in den Niederlanden geschah, kritisierte bereits 1579 die „Apologie contre les calomnies & malediceces escrites & proferees pare le Prince d’ Orange“ den „vray Patriote“ und insistierte, „qui potestati resistit, Dei ordinationi resistit“. An dem schnell um sich greifenden Gebrauch des Neologismus in vielen europäischen Sprachen änderte das wenig. Wo Krone und Stände im Aufstand aufeinandertrafen, beriefen sich nicht zuletzt die Aufständischen auf ihr Vaterland, die Bezeichnung „Patriot“ bürgerte sich bis zum ersten Drittel des 17. Jahrhunderts in vielen europäischen Sprachen ein. Ein Lexikon der englischen und französischen Sprache von 1611 führte bereits einen eigenen Artikel zum Begriff „Patriot“ auf 2. Der erste deutschsprachige Beleg scheint aus den Verhandlungen der Stände Hessen-Kassels mit dem Landgrafen Moritz aus dem Jahre 1615 zu stammen. Die Stände begleiteten ihren Widerstand gegen den Wunsch Moritz’, ihm Geld zur Organisation der Verteidigung Hessens gegen den Kaiser zu gewähren, mit ihrer Versicherung, als „getreue Patrioten“ für die Verteidigung des Landes jederzeit einzustehen. Noch 1623, als Moritz die Stände erneut – und wieder erfolglos – um Mittel zur Bekriegung Ferdinands II. bat, weigerten sich die Stände mit dem Hinweis, ihnen läge „Deß Vatterlandt Wohlfahrt“ am Herzen – nur sahen sie dieser Wohlfahrt eben anders besser gedient als durch Moritz’ Kriegspolitik3. Es kann nicht erstaunen, daß die durch Reformation und Konfessionalisierung innerhalb und zwischen den europäischen Gemeinwesen ausbrechenden gewaltsamen Konflikte seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Prägung und Ge___________ 1 Ich danke Professor Arthur Williamson für seinen Hinweis hierzu. Siehe den Beitrag von Arthur Williamson in Roger Mason (Hrsg.), George Buchanan, Aldershot 2007. 2 Artikel „Patriote“, in: R. Cotgrave, A dictionaire of the French and English Tongues, London 1611 (Nachdruck 1970). 3 Zu den Verhandlungen 1615 StAM Bestand 304 (Stiftsarchiv Kaufungen, Nr. 424, Resolutio auff beschehene Proposition Illustrissimi.) Ich danke Dr. Wilhelm A. Eckhardt für diesen Hinweis. Zu 1623 vgl. StAM Bestand 73 Nr. 32.

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brauch des Begriffs stimulierten. Heinz Schilling ist dem Zusammenhang zwischen Reformation und Konfessionalisierung und der Formierung des europäischen Staatensystems nachgegangen. Die Bedeutung beispielsweise Luthers als „Heros Germanicus“ gegen das römische Joch und der Konfession als „Integrationskern“4 fürstlicher und ständischer Herrschaft zu würdigen, hieß freilich auch, die Kirchen und Glaubensgemeinschaften und ihr häufig problematisches Verhältnis zu Ständen und Dynastien zu problematisieren. Für die dynastischen und ständischen Länderzusammenfassungen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit konnten Begriffe wie Vaterland und Nation in der Regel keine unzweideutigen Einheiten beschreiben, sie mochten freilich Pflichten und Rechte zugunsten bestimmter Einheiten oder Teileinheiten beschwören, insbesondere, als die dynastische Einheit verschiedener Gemeinwesen durch Reformation und Konfessionalisierung teilweise befestigt, teilweise jedoch auch in den Grundfesten erschüttert wurde. Wo es Fürsten oder Ständen gelang, die Konfessionalisierung für sich und die Konsolidierung ihrer Herrschaftsansprüche zu nutzen, da mochten im Verlauf der frühen Neuzeit bedeutsame Wurzeln nationaler Identität schlagen, aber schon die Geschichte des Alten Reiches zeigt, wie schwierig das Verhältnis von Konfession und Gemeinwesen, gleich erst staatlicher Einheit, in Europa häufig blieb5. Das katholisch werdende Irland und sein Verhältnis zu den protestantischen Ländern der Stuarts ist dafür nur ein Beispiel, das zunehmend prekäre Verhältnis der orthodoxen Bevölkerung der polnisch-litauischen Adelsrepublik zur katholischen Bevölkerung seit dem Scheitern der Union von Brest in den 1590er Jahren wäre ein anderes6. Als der englische Geistliche Edward Symmons um Ostern 1644 gefangene Soldaten der Armee des Parlamentes befragte, warum sie an der Rebellion ___________ 4 S. beispielsweise Heinz Schilling, Confessionalisation and the Rise of Religious and Cultural Frontiers in Early Modern Europe, in: Eszter Andor/Istvan Györgi Toth (Hrsg.), Frontiers of Faith. Religoius Exchange and the Constitution of Religious Identities, 1400–1750 Budapest 2001, 21–35; ders., Die Reformation und die Einheit Europas – die konfessionellen identitäten als Wegbereiter von Partiularstaatlichkeit, in: Heiner Faulenbach (Hrsg.), Standfester Glaube. Festschrift für J.F.G. Goeters, 37–46, Zitat 39; ders., Konfessionalisierung und Formierung eines internationalen Systems während der frühen Neuzeit, in: Hans Guggisberg/Gottfried Krodel (Hrsg.), Die Reformation in Deutschland und Europa: Interpretationen und Debatten, Gütersloh 1993, 591–613. 5 Heinz Schilling, Wider den Mythos vom Sonderweg – die Bedingungen des deutschen Weges in die Neuzeit, in Paul-Joachim Heinig et al. (Hrsg.), Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw, Berlin 2000; ders., Reichs-Staat oder frühneuzeitliche Nation der Deutschen oder teilmodernisiertes Reichssystem: Überlegungen zu Charakter und Aktualität des Alten Reiches, in: Historische Zeitschrift 272 (2001), 377–549. 6 Mikhail Dmitriev, Die Kirchenunion von Brest (1596) und die Konfessionalisierung der polnischen Ostpolitik in der Regierungszeit Sigismunds III, in: Christoph Augustynowicz et al (Hrsg.), Russland, Polen und Österreich in der frühen Neuzeit, Wien 2003, 159–177.

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gegen ihren König teilnehmen, „they answered that they took up Armes against Antichrist and Popery; for they said, ,tis prophesied in the Revelation, that the Whore of Babylon shall be destroyed with fire and sword, and what doe you know, we are all men that must help to pull her downe“. Die Gefangenen entgegneten auf die Einwände von Symmons, alleine Könige selbst könnten dieses Werk vollbringen, und es beträfe Rom, nicht England, „all true Godly divines in England were of their opinion“, und sie bezogen sich vor allem auf Stephen Marshall und dessen Predigt zu Richter 5, 23, „Curse ye Meroz“ („Fluchet der Stadt Meros“)7. Der puritanische Geistliche William Marshall hatte in seinen berühmten Predigten vor dem Parlament vor Ausbruch des Bürgerkrieges 1641/42 die Parlamentarier zum Kampf für den Herrgott aufgefordert und diese Predigt an vielen Orten im parlamentarischen Einflußbereich wiederholt8. Auch die Magdeburger Pamphletistik der Krise des Interims setzte nicht zuletzt auch auf apokalyptische Schrecken und die Pflichten der Christen zum Streit gegen den Antichristen. Darauf hatte schon Luther in seiner Zirkulardisposition von 1539 abgehoben9. So vereinzelt auch Belege wie die aus England um Ostern 1644 bleiben, an der erfolgreichen Beeinflussung breiter Bevölkerungsgruppen durch Predigten, Hymnen, Flugschriften und Katechismen im Zuge von Reformation und Konfessionalisierung kann kein Zweifel bestehen, an der Wirkung der zunächst einmal humanistischen Rhetorik von Vaterland und Nation auf breitere gesellschaftliche Gruppen sehr wohl. Das gilt umsomehr, als adliges Bemühen um politisches Eigengewicht und familiäre Ehre auch der „religiösen Selbstinszenierung“10 zuspielte – aber war das auch im Hinblick auf die „Selbstinszenierung“ als „Patriot“ der Fall? In der Forschung besteht daher nach wie vor ein berechtigtes und produktives Spannungsverhältnis zwischen der Würdigung konfessioneller Identitäten und dynastischer und ständischer Rechts-, Ehr- und Herrschaftsansprüche einerseits und der Bewertung von Rechtsansprüchen oder Gruppensolidaritäten, welche mit dem Hinweis auf die Nation oder den Neologismus „Patriot“ ein___________ 7 Glenn Burgess, Religious War and Constitutionol Defence, in: Robert von Friedeburg (Hrsg.), Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit. Erträge und Perspektiven der Forschung im deutsch-britischen Vergleich, Berlin 2001, 185–206, 204–205. 8 Robert von Friedeburg, Self-Defence and Religious Strife in Early Modern Europe. England and Germany, 1530–1680, Aldershot 2002, 208. 9 Robert von Friedeburg, Magdeburger Argumentationen zum Recht auf Widerstand gegen die Durchsetzung des Interims (1550–1551) und ihre Stellung in der Geschichte des Widerstandsrechts im Reich, 1523–1626, in: Luise Schorn-Schütte (Hrsg.), Das Interim 1548/1550. Herrschaftskrise und Glaubenskonflikt, Gütersloh 2005, 389–437; Thomas Kaufmann, Das Ende der Reformation: Magdeburgs „Herrgotts Kanzlei“ (1548–1551/2), Tübingen 2003. 10 Begriff bei Ronald Asch, Religiöse Selbstinszenierung im Zeitalter der Glaubenskriege. Adel und Konfession in Westeuropa, in: Historisches Jahrbuch der GörresGesellschaft, 125 (2005), 67–100.

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hergingen. Die im Gefolge der Konfessionalisierung durchgesetzten Konfessionen der Amtskirchen, die schon aus politischer Klugheit unter den Untertanen durchzusetzen waren, mochten der ständischen wie der monarchischen Ordnung erhebliche Legitimitätspotentiale zuführen. Staatsbildungsprozeß und Konfessionalisierung konnten sich gegenseitig stützen, etwa in Spanien, Portugal, Bayern, Österreich, Schweden, Dänemark, England oder Schottland. Konfessionelle Identitäten wurden jedoch so bedeutend, daß ihnen in England, Schweden, oder Frankreich die dynastische Nachfolge untergeordnet wurde – ein protestantischer Heinrich von Navarra hätte den französischen Thron nicht besteigen können, eine katholische Maria Stuart, ein katholischer Sigismund Vasa und ein katholischer Jakob II. konnten sich in Schottland, Schweden und England nicht behaupten. „Nation“ und „Vaterland“ wuchsen, wenn überhaupt, allein im „Zusammenspiel von konfessioneller und politisch-kultureller Identitätsbildung“11 Ständen und Fürsten als Legitimitätsressourcen zu. Aber sie begleiteten ebenso Bürgerkriege und Aufstände, in denen Provinzen und aufständische Personengruppen als Vaterländer und Patrioten sich gegen den angestammten Fürsten wandten, wie die niederländischen Provinzen und später Katalanien gegen Spanien, Schottland gegen Karl I. und die hessischen Stände gegen ihren Landgrafen. Kurz, die Rhetorik von Vaterland und Patrioten kennzeichnete weniger eine bestimmte politische Loyalität, Theorie oder gar europäische Kulturnationen, sondern vielmehr eine unter anderen Argumentationsressourcen, um Rechtsansprüche zu markieren und zu verteidigen, und sie blieb, abhängig vom jeweiligen Kontext, anfällig für die Wechselfälle der Eigendynamik der Konfessionalisierung des christlichen Glaubens und der dynastischen Zufälle. Hält man sich vor Augen, wie dynamisch sich die europäischen Wechselfälle seit der Invasion Italiens im Konflikt zwischen der französischen Krone und den Habsburgern 1494/95, den Kriegen um das Baltikum zwischen Schweden, Dänemark, Polen und Rußland und Reformation und Konfessionalisierung gestalteten, lassen sich gleichwohl drei besondere Strukturprobleme frühneuzeitlicher Herrschaftsausübung benennen, die dem Gebrauch der Rhetorik von Vaterland und Patrioten einen besonders fruchtbaren Nährboden liefern mußten. Sie alle müssen im Zusammenhang mit der „Kultur der Überredung“ (Andrew Pettegree12) verstanden werden, die nicht zuletzt im Zusammenhang mit der massenweisen Verbreitung von Flugschriften nicht allein Reformation und Konfessionalisierung und deren Konflikte begleiteten, sondern praktisch alle größeren gesellschaftlichen Konflikte der Zeit. ___________ 11 Heinz Schilling, Nationale Identität und Konfession in der europäischen Neuzeit, in: Bernhard Giesen (Hrsg.), Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins, Frankfurt 1991, 192–252, 251. 12 Andrew Pettegree, Reformation and the Culture of Persuasion, Cambridge 2005.

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1. Die ohnehin zwischen den Dynastien und den einzelnen Ländern der dynastischen Agglomerationen13 schwelenden Konflikte um die Zentralisierung der Verwaltung und die Finanzierung der fürstlichen Ausgaben, besonders für Aufgaben jenseits der Landesgrenzen14, wurden durch Reformation und Konfessionalisierung enorm aufgeladen. Der Aufstand in den Niederlanden ist dafür nur das prominenteste Beispiel. Bei der Verteidigung der eigenen Rechte einer Stadt oder Provinz lag der Hinweis auf die Pflicht zur Verteidigung des Vaterlandes nahe. Dieser Topos gehörte schließlich zum Gemeingut der christlichen Rezeption der Antike. 2. Indem, aufbauend auf Entwicklungen des Spätmittelalters, im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts Verwaltungen ausgebaut wurden und schließlich auch stehende Heere entstanden, vergrößerte sich auch der Umfang der den Regierungen zur Verfügungen stehenden und zu besetzenden Posten in Heer und Verwaltung. Posten und Ämter wurden geschaffen, deren Besetzung strittig werden mußte. Schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts kritisierte der in den französischen Ständen repräsentierte ältere Adel Frankreichs, die Krone befördere durch den Verkauf von faktisch erblichen Richterämtern und den an ihnen im Verlauf der Generationenabfolge erwerbbaren Ehren ungeeignete Personen zu adligen Rechten und zu Stand und Würden. Indem die Kritik an „Kreaturen“ und „Favoriten“ allerorten laut wurde15, wurde auch eine Diskussion um die rechte Befähigung zur Besetzung wichtiger Ämter laut. Sowenig diese Diskussion an sich völlig neu war, ihre Bedeutung nahm doch im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts angesichts der wachsenden Zahl mit Ressourcen behafteter Ämter und des zunehmenden Drucks zentraler Verwaltungen auf die Ressourcen der Provinzen zu. Der Ruf, wichtige Ämter sollten allein mit Personen des eigenen Landes und des rechten Standes besetzt werden, erscholl allerorten. Nicht allein Reformation und Konfessionalisierung direkt, sondern auch die in ihrem Windschatten voranschreitende Umverteilung der gesellschaftlichen Ressourcen zugunsten der Zentrale mündete in Streit darüber, wer die neuen Ämter erhalten sollte, und der Hinweis auf die „Patrioten“ ist häufig auch in diesem Zusammenhang zu sehen. 3. An diesem Punkt muß ein wichtiges Element spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Herrschaftsausübung mitbedacht werden. Gesellschaft und Staat waren nicht auseinandergetreten, geeignete geburtsständische und kon___________ 13 John Morrill, Uneasy lies the head that wears a crown. Dynastic crises in Tudor and Stewart Britain 1504–1746, Reading 2005, 11. 14 Die Beispiele sind Legion, aber vergleiche beispielsweise die Konfliktgeschichte der burgundischen Länder mit den Herzogen der Valois bis zum Tode Karls des Kühnen und dann mit Maximilian von Habsburg. 15 J. H. Elliott/L. W .B. Brockliss (Hrsg.) The World of the Favourite, New Haven 1999.

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fessionelle Merkmale mußten in der Regel von einem Amtsaspiranten erwartet werden, sollte er seine Arbeit gut tun. In den französischen Streitkräften blieb der Hochadel in den Führungsposten die Regel, die Armeen Friedrichs des Großen wurden überwiegend von adligen Offizieren befehligt, Ausnahmen bestätigen diese Regel. Bevölkerungen mit einer ausgedehnten Geschichte der Söldnertätigkeit in ganz Europa, etwa die Schotten, brachten sicherlich auch aus den Rängen der nichtadligen Bevölkerung Troupiers hervor, die es beispielsweise in schwedischen Diensten weit brachten, aber insgesamt mußten der Einnahme öffentlicher Ämter angemessene persönliche Eigenschaften zur Seite stehen – familiäre Ehre, angemessene Beziehungen, die richtige Konfession. Diese Eigenschaften klebten im Urteil der Zeitgenossen zwar vor allem an Konfessionsstand und Familienzugehörigkeit, sie wurden jedoch häufig allgemeiner beschrieben. Praktisch alle dem Gemeinwohl zugeordneten Tätigkeiten, von der Hebamme bis zum Dorfpolizist, vom Kanzler bis hin zum Vater und zur Mutter, wurden in der frühneuzeitlichen Gesellschaft schließlich überwiegend als Ämter mit ihnen zukommenden Pflichten verstanden16. Was nicht als Moment der partizipatorischen oder gar antimonarchischen Teilhabe breiter Bevölkerungsgruppen an der Verwaltung des Gemeinwesens in praktisch allen europäischen Ländern mißverstanden werden darf, war tatsächlich nichts anderes als die direkte Konsequenz der Tatsache, daß die frühneuzeitliche Herrschaftsausübung, gleich ob monarchisch, aristokratisch oder in der politie, sich nicht auf einen bürokratischen Anstaltsstaat stützen konnte, sondern auf unter den Laien rekrutierten Amtsträgern ruhte, die häufig auch noch ihre eigenen Ressourcen für den Dienst zur Verfügung stellen mußten. Dem entsprachen idealisierte Anforderungen an deren Fähigkeiten – die in der zeitgenössischen Literatur auch kritisch hinterfragt wurden. In jedem Falle muß die Beschreibung von Personen als „Patrioten“ auch vor diesem Hintergrund gesehen werden, war doch der Patriot ein Bürger und Untertan, der aus Liebe zum Vaterlande, nicht aus Eigennutz, Pflichten erfüllte, und nicht willkürlich nach ihm nicht zustehenden Rechten griff. Die Bezeichnung „Patriot“ erfüllte also in erster Linie das Bedürfnis, Personengruppen mit einem geeigneten Ensemble an Pflichten und Grundhaltungen auszustatten, das es ihnen ermöglichen sollte, nicht etwa ein Gemeinwesen durch Rebellionen in das Unglück zu stürzen, sondern verantwortlich seine Rechte zu verteidigen. Dieser letzte Aspekt soll in den folgenden Überlegungen im Vordergrund stehen und schälte sich aus einer Reihe wissenschaftlicher Tagungen zum Problem von Widerstandsrecht, politischer Teilhabe und Tugenden in der frühen Neuzeit heraus17. Im folgenden soll unter diesen Gesichtspunkten zunächst ___________ 16

Am Beispiel Englands Conal Condren, Argument and Authority in Early Modern England. The Presupposition of Oatchs and Offices, Cambridge 2006. 17 Robert von Friedeburg (Hrsg.), Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit. Erträge und Perspektiven der Forschung im deutsch-britischen Vergleich (Beihefte der Zeit-

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einmal auf die Begriffsgeschichte und die Nutzung von „Vaterland“ und „Patrioten“ im Zusammenhang mit den dynastischen Agglomerationen Europas eingegangen werden (I), bevor die Frage der Ermächtigung der Bürger in den Blick genommen wird, die mit der Bezeichnung „Patriot“ einhergehen konnte (II).

I. Ironische und kritische Äußerungen über die vermeintlichen Patrioten sollten vor allem das 18. Jahrhundert durchziehen. Dazu zählte Johnsons Bemerkung über den Patriotismus als „last refuge of the scroundel“18; dazu zählte Goethe, der sich über den „vaterländischen pradiodissmuss“ der Frankfurter Bürger bei der Verteidigung der Stadt gegen die Armeen der französischen Revolution lustig machte19. Wieland formulierte gar, „Dulce et decorum est, pro patria disipere“20. Zu diesem Zeitpunkt war freilich auch der Begriff des „Patriotismus“ bereits geprägt, die Verschleierung von Parteiinteressen und Faktionen durch vermeintliche patriotische Bezüge selbst längst Gegenstand der Reflektion. So sehr die am Beginn zitierte Kritik der 1570er Jahre bereits auf dieses Problem abhob, war die Einbettung der „Patrioten“ in Parteiungen doch keineswegs schon eine Selbstverständlichkeit des späteren 16. und 17. Jahrhunderts. Der Ursprung des Neologismus „Patriot“ in den europäischen Volkssprachen ist bis heute keineswegs endgültig geklärt, aber der Neologismus scheint im Zusammenhang der französischen religiösen Bürgerkriege und des niederländischen Aufstandes aufgekommen zu sein. Aus dem Französischen wurde der Begriff in den 1590er Jahren in das Englische übernommen. William Lambarde schrieb beispielsweise, der „honest patriot Richard Harry planted a ___________ schrift für historische Forschung), Berlin 2001; ders. (Hrsg.), Murder and Monarchy. Regicide in Medieval and Early Modern Europe, 1300–1800, Houndsmill 2004; ders. (Hrsg.), ‚Patriaǥ und ‚Patriotenǥ vor dem Patriotismus. Pflichten, Rechte, Glauben und die Rekonfigurierung europäischer Gemeinwesen im 17. Jahrhundert (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung Bd. 41), Wiesbaden 2005; ders. (Hrsg.), Passions and the Legitimacy of Rule from Antiquity to the Early Enlightenment, in: Cultural and Social History. The Journal of the Social History Association 2 (2005). 18 s. James Boswell, Life of Johnson, Eintrag zu Freitag, 7. April 1775, 615. 19 Vgl. Wolfgang Rothe, Der politische Goethe, Göttingen 1998, 216. 20 Christoph Martin Wieland, Patriotischer Beitrag zu Deutschlands höchstem Flor veranlasst durch einen unter diesem Titel im Jahre 1780 im Druck erschienenen vorschlag eines Ungenannten, in: Werke, Band 33, Berlin 1879, 153, zitiert nach Reinhart Koselleck, Patriotismus. Gründe und Grenzen eines neuzeitlichen Begriffs, in: Robert von Friedeburg (Hrsg.), Patria und Patrioten vor dem Patriotismus. Pflichten, Rechte, Glauben und die Rekonfigurierung europäischer Gemeinwesen im 17. Jahrhundert, Wiesbaden 2005, 535–552.

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cherry tree at Tenham“21. Der Begriff wurde bald zur umstrittenen Beschreibung in den Konflikten um Hof, Krone und Parlament in England. In Ben Johnsons Stück „Sejanus his Fall“, das 1603 aufgeführt und 1604 publiziert wurde, beklagt Arruntius die Korrumpierung des Gemeinwesens durch den Hof des – Tyrannen – Tiberius gegenüber dem alten Lepidus, und fragt ihn, „What are thy arts (good patriot, teach them me)“. Der Patriot wird bereits hier zum tugendhaften Gegenüber der durch Hofleben und Tyrannis korrumpierten Gesellschaft22. Die Reden, Schriften und lateinischen Gedichte des französischen Kanzlers Michel de LǥHopital der Jahre 1560 bis 1573 geben Auskunft über die Reflektion dieses Politikers über die Maßnahmen, um das französische Königreich aus den Religionskriegen herauszuführen. De LǥHopital reflektierte über das Verhältnis von Vernunft und Tugend. Der allgemeine Sittenverfall ist ihm Begründung für die Exzesse des religiösen Bürgerkrieges. Er appelliert an die Großen des Landes, ihren Zwist hintanzustellen und sich zugunsten des Wohles des Vaterlandes (cura patriae) zusammenzuraufen. Sowohl bei LǥHopital als auch in England richtete sich die Begrifflichkeit von Vaterland und Patriot gerade nicht auf die Kennzeichnung von Faktionen oder Rebellen, sondern auf Pflichten und Tugenden, die das Gemeinwesen zusammenhalten sollten. Es versteht sich, daß die Begrifflichkeit angesichts der vor allem religiös begründeten gesellschaftlichen Konflikte bald in die Bahnen dieser Auseinandersetzungen geraten mußte, auch wenn sie gerade nicht so gemeint war. Das galt für das England der 1620er und 1630er Jahre ebenso wie für die Zeit der Bürgerkriege in England und Schottland. Bald kennzeichneten sich jedoch auch breitere Gruppen als Patrioten. Im Verlauf ihrer Beratungen vom 9. und 10. August 1638 entsprachen die schwedischen Reichsräte der Bitte des schottischen Generals in schwedischen Diensten, Alexander Leslie, ihn nicht allein zu entlassen, damit er nun Schottland gegen den englischen und schottischen König Karl I. dienen könne, weil diese Bitte allein seiner Liebe zum Vaterland geschuldet sei („solus amor patriae“). Der auf Seiten des Königs kämpfende schottische General James King schrieb 1641 laut einer Übersetzung seines Schreibens an Oxenstierna „Briteannia ist mein patria, darin ich geborn sey“23. Eben weil die Begriffe vom Vaterland und vom Patrioten von allen Seiten benutzt wurden, um lautere ___________ 21

s. Ronald Knowles, The ‘All-attoning Nameǥ: the word Patriot in Seventeenth Century England, in: The Modern Language Review 96 (2001), 624–643. 22 Ebenda, 627. 23 Alexia Grosjean, General Alexander Leslie, the Scottish Covenanters and the Riksrad Debates, 1638–1640, in: Alan MacInnes/F. Pedersen (Hrsg.), Ships, Guns and Bibles in the North Sea and the Baltic States, East Linton 2000, 115–138, 116; Steve Murdoch, James VI and the Formation of a Scottish-British Military Identity, in: Steve Murdoch/A. Mackillop (Hrsg.), Fighting for Identity: Scottish Military Experience c. 1550–1900, Leiden 2002, 3–31, 4.

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und tugendhafte Positionen jenseits des religiösen Parteienstreits und der gesellschaftlichen Gruppenkonflikte zu kennzeichnen, wurden sie in eben diesen Konflikten nachhaltig genutzt. Sie gingen freilich nicht allein auf Reformation und Konfessionalisierung zurück, sondern auf die ungeheure Dynamisierung von Krieg und Machtwettbewerb unter den Dynastien und Republiken Europas. Der französische König Karl VII. fiel 1494 mit über 20000 Mann in Italien ein. Ludwig XIV. sollte im Verlauf des Spanischen Erbfolgekrieges über 200000 Mann unter Waffen halten. Die Bevölkerung Frankreichs hatte sich in diesem Zeitraum jedoch kaum verdoppelt. In England starben von rund fünf Millionen Einwohnern im Verlauf der englischen Bürgerkriege der 1640er Jahre rund 190000 – mit 3.7% der englischen Bevölkerung mehr als im Ersten Weltkrieg. Zwischen 120- und 140.000 Männer standen im Durchschnitt auf beiden Seiten unter Waffen. Schätzungen gehen davon aus, jeder dritte oder vierte Engländer sei zu irgendeinem Zeitpunkt der Kriege am Kampf beteiligt gewesen. Schätzungen für Schottland sprechen von 60000 Toten, 6% der Bevölkerung, für Irland von über 600000, rund 40% der Bevölkerung24. Einzelne Gebiete im Heiligen Römischen Reich, z. B. Hessen, verloren bis zu zwei Drittel ihrer Einwohner. In jedem Falle mußten die Obrigkeiten Europas zwischen Dublin und Moskau, Stockholm und Neapel, den gesellschaftlichen Reichtum in die Finanzierung der Kriege umlenken, um mit den konkurrierenden Nachbarn Schritt zu halten. Wir wissen, daß sich als Folge dieser Dynamik und bis zum Ende dieser stürmischen Entwicklung, also bis zum Abschluß des Spanischen Erbfolgekrieges 1714 und des Nordischen Krieges 1721, die Ansätze des modernen Anstaltsstaates mit bürokratischer Finanz- und Heeresverwaltung und stehendem Heer in den meisten Ländern entwickelt hatten. Die Zeitgenossen reflektierten angesichts dieser gewaltigen Umschichtungen nicht nur die Gefahr von Spaltungen und Faktionen in der Gesellschaft, sie realisierten auch, daß Aufstandsbewegungen nicht zuletzt in den größeren monarchischen Verbänden, in den „zusammengesetzten Staaten“25 und „dynastischen Agglomerationen“26 die Verteidigung einzelner Gemeinwesen und deren vermeintlich älterer Rechte für sich in Anspruch nahmen. Der Chefberater Philipps IV. von Spanien, Olivares, war sich beispielsweise bewußt, daß in Portugal und Katalonien, Neapel und den abgefallenen Niederlanden die Rebellen auf ihrem Vaterland und dessen besonderen Rechten insistierten. Divergierende Rechtsansprüche, Konfessionszugehörigkeiten der verschiedenen „Nationen“ oder „Vaterländer“ konnten zur ___________ 24

M. Bennett, The Civil Wars in Britain and Ireland, 1638–1651, Oxford, 1997, 43–66. Zum Begriff H. G. Koenigsberger, Zusammengesetzte Staaten, Repräsentativversammlungen und der amerikanische Unabhängigkeitskrieg, in: Zeitschrift für historische Forschung 18 (1991), 399–423 26 Morrill, Dynastic Crises. 25

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Sprengung der Monarchie führen. Olivares bemängelte bereits 1624, die Untertanen des Königs von Spanien verständen die in den verschiedenen Königreichen der Krone lebenden „Nationen kaum anders denn als Fremde, und zwar in jedem Königreich“27. Folgerichtig verfluchte Olivares die Rhetorik von Nation und Patrioten, als im Verlauf des Jahres 1640 in Portugal und Katalonien Revolten ausbrachen: „Verflucht seien die Nationen, und verflucht Männer die Nationales sind“28. Vielleicht waren es auch solche Formulierungen, auf die der Spanien-Historiker John Elliott bei seinen Forschungen zu dieser multinationalen Monarchie stieß, die ihn bewogen, die Beschreibungen einzelner ihrer Einheiten als vermeintlicher historischer Gemeinwesen besonders ernst zu nehmen. Vor über dreißig Jahren faßte er seine Beobachtungen über den im Verlauf des 16. Jahrhunderts zunehmenden Rekurs auf Vaterland und Nation zusammen. Er stellte fest, daß sich in Rechtstexten und Verhandlungsprotokollen, aber auch Flugschriften und anderen Quellen immer häufiger „eine idealisierte Vorstellung der verschiedenen Gemeinschaften fand, die Gefolgschaft erwarten konnten. Solche Vorstellungen umfaßten, in immer weiteren Kreisen, Familie und Zünfte, aber auch Heimatstadt und Provinz, und schließlich sogar das Königreich. Diese idealisierte Vorstellung umfaßte verschiedene Elemente … Zu ihnen gehörten auch die Vorstellung dieser Gemeinschaft als Rechtseinheit und historische Einheit, die im Laufe der Zeit bestimmte Verpflichtungen, Rechte und Privilegien erworben habe“29. Ganz unstrittig nahmen besonders im Verlauf des 15. Jahrhunderts die Bezüge auf Nation und Vaterland in der politischen Rhetorik und Pamphletistik zu und blieben im gesamten Zeitraum der frühen Neuzeit ein Teil des Repertoires der politischen Sprache. Die Entdeckung von Tacitus’ Germania und die nach 1460 aus dem Boden sprießenden Editionen, 1471 die erste Ausgabe der Germania, bereiteten dem u.a. den Boden30. Zwar wurde die Geschichtswissenschaft gerade der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch eine berechtigte Skepsis gegenüber der Annahme nationalstaatlicher Einheiten im Europa der frühen Neuzeit geprägt, wie sie etwa noch die Cambridge History of Europe der Wende zum 20. Jahrhundert auszeichnete. An die Stelle dieser Annahme ___________ 27

Ibidem, 158. Briefformulierung von Olivares zitiert nach J. H .Elliott, The Count Duke of Olivares: the statesman in an age of decline, New Haven/London, 1986, 199. 29 J. H. Elliot: Revolution and continuity in early modern Europe, in: Past & Present 42 (1969), 48–9, quoted after Richard Benert, Lutheran resistance theory and the Imperial constitution, in: Il Pensiero Politico (1973), 17–36, 35. 30 s. Ulrich Muhlack, Der Tacitismus – ein späthumanistisches Phänomen?, in: Notker Hammerstein/Gerrit Walther (Hrsg.), Späthumanismus. Studien über das Ende einer kulturhistorischen Epoche, Göttingen 2000, 160–182; Herfried Münkler/Hans Grünberger, Nationale Identität im Diskurs der deutschen Humanisten, in: Helmut Berding (Hrsg.), Nationales Bewusstsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit, Frankfurt 1994, 211–248. 28

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trat, nicht zuletzt in Literaturwissenschaft und Politologie, die Untersuchung derjenigen Schriften, in denen Nation und Vaterland als literarische Topoi oder Konzepte politischer Vergemeinschaftung diskutiert wurden. Im Gegensatz zur älteren Forschung wurde nun ausdrücklich von der Herstellung nationaler Deutungsmuster als Voraussetzung nationaler Identität ausgegangen, nicht von der gegebenen Existenz von Nationen, und die Terminologie von Nation und Vaterland wurde gerade auch auf ihre großen Unterschiede zum Gebrauch des 19. Jahrhunderts hin untersucht. So sehr in einzelnen europäischen Königreichen, wie etwa Frankreich, Königreich, Krone und Vaterland im Hochmittelalter verschmolzen und das durch die Monarchie beherrschte Gebiet als „patria natalis“ und „terra sancta“ sakralen Status erhielt und damit dem Opfertod – für das Vaterland – würdig wurde31, so wenig galt diese besondere Entwicklung für alle anderen europäischen Monarchien. „Daß es Nationen gibt, ist historisch das Europäische an Europa“ (Hermann Heimpel). Aber der Gebrauch des Wortes „nationes“ zur „Binnendifferenzierung“ von „Universitäten, Konzilien, aber auch den Fondachi der Kaufleute oder den Quartieren der Ritterorden“ besaß keine „begriffliche Eindeutigkeit“. Es war „gerade die aus der Polysemie von natio resultierende Mehrdeutigkeit, welche die Anwendung des nationesModells als binnendifferenzierende Struktur von übergreifenden Institutionen erlaubte … Wer – zum Beispiel – der deutschen Nation an einer Universität oder während eines Konzils angehörte, war somit zunächst keine Frage der Selbstzuordnung oder gar der Identifikation mit der deutschen Nation, sondern eine Entscheidung der jeweiligen Institution“32. Etwas anders stellte sich die Lage im Verlauf des 18. Jahrhunderts dar. Das Resultat des Siebenjährigen Krieges wurde in Frankreich sehr wohl als kollektive nationale Schande, in England als kollektiver nationaler Triumph gefeiert. Französische Theaterspiele erinnerten an die schmachvollen Niederlage der französischen Nation gegen die englische Nation im Verlauf des Hundertjährigen Krieges. Zu Recht hat jüngst Tim Blanning darauf hingewiesen, wie unterschiedlich gut es den Monarchien in Paris, London und Berlin gelang, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts weiter an Bedeutung gewinnende Rhetorik von

___________ 31

Ernst Kantorowicz, Pro Patria Mori in medieval political thought, in: ders., Selected Studies, New York 1965, 308–324, 314. Die dem Mittelalter gewidmete Literatur ist sehr umfangreich und differenziert, zu nennen wären als jüngere Zusammenfassungen der Diskussion beispielsweise Joachim Ehlers, Was sind und wie bilden sich nationes im mittelalterlichen Europa (10.-15. Jahrhundert), in: Almut Bues/Rex Rexheuser (Hrsg), Mittelalterliche Nationes – neuzeitliche Nationen. Probleme der Nationenbildung in Europa, Wiesbaden 1995, 7–26; Bernd Schneidmüller, Reich – Volk – Nation: Die Entstehung des deutschen Reiches und der deutschen Nation im Mittelalter, in: ebd., 73–101; Patrick Geary: Europäische Völker im späten Mittelalter, Frankfurt 2002. 32 Münkler/Grünberger, Nationale Identität im Diskurs, 216.

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Nation und Vaterland zur eigenen Propaganda zu nutzen33. Aber kein französischer Bauer, schottischer Pächter, englischer Tagelöhner oder brandenburgischer Schulze sollten daraus ohne weiteres Rechte, materielle oder verfassungsrechtliche, ableiten können. Wahlrecht und Eigentum blieben Rechtsgüter, welche die besondere englische Nation und ihre Freiheiten kennzeichnen mochten, die Zugehörigkeit zur Nation war jedoch kein Hebel der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums oder der Zuteilung von Privilegien. Freilich bleibt „ohne weiteres“ hier eine wichtige Einschränkung, und um sie soll es im folgenden gehen. Denn mit der Propagierung vermeintlicher besonderer alter Rechte des eigenen Vaterlandes wurde auch die Teilhabe an diesen Rechten schrittweise zu einem verfassungsrechtlichen und politischen Argument. Sicherlich, Kategorien wie Billigkeit blieben zentral zur Beurteilung strittiger rechtlicher Sachverhalte34. Aber nicht nur die Bauern des Schweizer Bauernkrieges versicherten sich der vermeintlichen Freiheiten der Eidgenossen35, die deutschen wie die englischen „Freiheiten“ wurden zu häufig referierten Bestandteilen der protestantischen Flugschriftenpropaganda in England wie im Reich im Gefolge des 16. Jahrhunderts, und das schloß den Anspruch auf Rechtsschutz auch der Sphäre der Untertanen ein, besonders im Kontrast zur vermeintlichen spanischen rechtsbrecherischen Gewaltherrschaft36. Eben weil die Konfessionalisierung aber selbst innerhalb der protestantischen und katholischen Lager erhebliche Konflikte wachrief, wurden in den meisten Gemeinwesen bereits seit dem Beginn der Reformation auf die bestimmten besonderen Rechte des Gemeinwesens und seiner Bewohner hingewiesen. Dies geschah freilich im Kontext einer Situation, in der auch Pommern als Nation angesehen wurde, in der das Vaterland im Himmel, unter den Weisen, in der Heimatstadt, aber auch in der patria communis des gemeinsamen Reiches gesucht werden konnte. Es bestand auch keineswegs für alle Gemeinwesen, die als patria apostrophiert werden mochten, eine eigene mittelalterliche Vergangenheit als res publica, als eigene Herrschaftseinheit mit Hochgerichtsbarkeit und Finanzhoheit37. Manche der um 1520 bestehenden „dynastischen Agglomerationen“ (John Morrill) und ständischen zusammengesetzten Herrschaftsverbände stammten tatsächlich aus langer mittelalterlicher Vergan___________ 33 T. C. W. Blanning, The Culture of Power and the Power of Culture. Old Regime Europe 1660–1789, Oxford 2002. 34 William W. Hagen, Ordinary Prussians. Brandenburg Junkers and Villagers 1500– 1840, 524–592, 560. 35 Andreas Suter, Der Schweizerische Bauernkrieg von 1653, Tübingen 1997, 429– 436. 36 Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495–1806, München 1999. 37 Vgl. Wolfgang Mager, Artikel Res Publica, in: Art. Republik, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Sp. 858–878.

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genheit her, manche waren im Verlauf des Spätmittelalters Teil einer dynastischen Union gewesen, wie etwa Dänemark und Schweden, manche waren gerade erst durch dynastische Verbindungen zusammengefügt worden, wie etwa die spanischen Königreiche. In diesen teils zufälligen Anordnungen mußten die Monarchien und ständischen Republiken Europas die Konfessionskonflikte bewältigen, und in diesem Kontext wurde der Neologismus „Patriot“ geschöpft und die vermeintlichen alten Rechte einzelner Gemeinwesen zu Rechtsmitteln in Konflikten, die häufig in erster Linie in Glaubenskonflikten wurzelten. Soweit erste Überblicke zeigen, spielte die Bezeichnung „Patriot“ vor allem im Verhältnis zwischen Krone und breiteren Teilen des Adels, aber auch der Bürger eine Rolle, wenn es um die Schulterung der Lasten, religiöse Konflikte und die außenpolitischen Herausforderungen der Zeit ging. Niederländische Flugblätter wandten sich zwischen dem Aufstand gegen Spanien und den inneren Unruhen im Konflikt zwischen der Familie Oranien und den „Regenten“ immer wieder an die Niederländer, um sie aus Sorge für das Vaterland zum Eingreifen zu bewegen – freilich blieben die einzelnen Provinzen als Vaterland eher bedeutender als die Union insgesamt. In den massenweise verbreiteten Flugschriften gerade auch im Verlauf der inneren Unruhen 1618–20, 1650 und 1672 um die Macht im Lande stand der nahezu ständige Appell an die „Patrioten“ wenigstens neben der Verteidigung der reformierten Religion38. In England wurde der Begriff schnell zum Schlagwort in den religiösen und politischen, verfassungsrechtlichen und außenpolitischen Konflikten zwischen Karl I. und diversen Kritikern seiner Regierung und seiner Ratgeber, ohne vollends allein durch eine bestimmte Richtung in Beschlag genommen zu werden39. In Dänemark führte vor allem der Druck der Niederlagen gegen Schweden zu Kritik am Adel und seinen Privilegien. Das Versagen des Hochadels und die Einführung des Absolutismus als herbe Einschränkung seiner Mitspracherechte wurde zwischen 1627 und 1660 auch von einer Rhetorik adliger Pflichten für das Vaterland als „Patrioten“ begleitet. Gunde Rosenkranz schlug in diesem Zusammenhang 1658/59 umfassende Reformen und eine „Regeringsform“ vor,

___________ 38 Simon Groenveld, ‚Natie‘ en ‚patira‘ bij zestiende – eeuwse Nederlanders, in: Nick van Sas (Hrsg.), Vaderland. Een geschiedenis van de vijftiende eeuw tot 1940, Amsterdam 1999, 55–82; hierzu sucht nun das Forschungsprojekt „Flugschriften und Bittschriften des Aufstandes von 1672 in den Niederlanden“, ein Promotionsprojekt im Rahmen des durch die Niederländische Forschungsorganisation (NWO) finanzierten Forschungsprogramms „Conquest, Competition and Ideology. Invention of Governance in the Dutch Golden Age“ (NWO onderzoeksprogramma 450–04–325), genaueren Einblick auch in die Situation des späteren 17. Jahrhunderts und im Hinblick auf innere Konflikte zu erhalten. 39 Glenn Burgess, Patriotism in English Political Thought, in: Friedeburg, Patrioten vor dem Patriotismus, 232–235.

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die den adligen Patrioten Kontrolle über Budget und Armee sichern sollte40. Auch die Pommersche „Regimentsverfassung“ von 1634 sah für die „Patrioten“ unter dem Adel den Zugang zu den wichtigen Ämtern vor41. In Schweden blieb die patria Gothorum weitgehend deckungsgleich mit dem regnum Sueicae. Der Appell an die Pflichten diesem Vaterland gegenüber wurde wie in England von verschiedenen Seiten gebraucht. Der katholische König Sigismund konnte auch mit dieser Rhetorik seinen Thronanspruch nicht verteidigten, Gustav Adolph appellierte zwar gegenüber dem Adel an seine Pflichten gegenüber dem Vaterland, schuf aber vor allem auch Beute und Posten durch erfolgreiche Kriege42. In Deutschland und Schottland geborene Soldaten und Verwaltungsleute, die durch die Schweden zur Verteidigung und Verwaltung der im Verlauf des 17. Jahrhunderts umfangreichen eroberten Besitzungen rekrutiert wurden, und die hofften, in Schweden selbst Fuß zu fassen, suchten in den Briefwechseln mit ihren schwedischen Patronen ihre Zuverlässigkeit auch durch ihre Anhänglichkeit an das schwedische Vaterland unter Beweis zu stellen. Das galt auch für die schwedischen Klienten. Der schwedische Diplomat Peter Abelis Smalze versicherte seinem Patron, dem schwedischen Kanzler Axel Oxenstierna 1639, er werde seinen Pflichten dem „fäderrnessland“ gegenüber und seiner „privat obligation“ dem Patron gegenüber gleichermaßen nachkommen43. Der Begriff von der „privat obligation“ wurde keineswegs negativ gebraucht, aber das Vaterland nahm als öffentliche Ordnung der res publica gegenüber den Familienverbindungen und klientalen Verflechtungen der Gesellschaft doch zunehmend einen eigenen, konkreteren Charakter an. In den spanischen Königreichen erinnerte Olivares Philipp IV. 1624, daß er als Herr mehrerer Königreiche auch mehrere Königspersonen in seiner Person vereinige. Diese Personen des Königs repräsentierten die patria communis in seiner Person44. Freilich, kam es aufgrund der wachsenden Anforderungen dieses Königs zur Bewältigung seiner Kriege zum Konflikt, dann mochten die Einwohner Kataloniens im Verlauf ihrer Revolte von 1640 auf den besonderen Rech-

___________ 40 Sebastian Olden-Jorgenson, Humanistic and Political Patriotism in 16th and 17th Century Denmark, 243–257, 254–255. 41 Vgl. Christian Rowe, Die Pommersche Regimentsverfassung von 1634, Magisterarbeit Universität Hamburg 2001, 72. 42 Inken Schmidt-Voges, „Vincat amor patriae“. Zum Verhältnis von Historiographie und patria Verständnis im Schweden des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Friedeburg, Patria und Patrioten vor dem Patriotismus, 259–286, 276–283. 43 Heiko Droste, Patrioten ausländischer Herkunft. Zum Patriotismus in Schweden im 17. Jahrhundert, in: Friedeburg, Patria und Patrioten, 309–334, 321. 44 Xavier Gil, One King, One Faith, Many Nations, in: Friedeburg, Patria und Patrioten, 105–137.

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ten ihres Vaterlandes bestehen, auch wenn sie noch im Jahr zuvor treue Untertanen Philipps gewesen waren45. So sehr innerhalb der Länder der Stuarts, des spanischen Königreichs und des Alten Reiches „Vaterländer“ durch Patrioten gegen Madrid, London oder Wien verteidigt werden mochten: der Zugriff auf den Neologismus „Patriot“ orientierte sich an den unterschiedlichsten Verhältnissen, die von dynastischer Agglomeration zu zusammengesetzten Staaten reichen konnten. Loyalität zur natürlichen Person des Monarchen, zu den – vermeintlichen – alten Rechten des Vaterlandes, zur Heimatstadt, Provinz oder der patria communis der die Welt umspannenden Monarchie – kaum eine mögliche Haltung entging den „Patrioten“. Weitere Beispiele, zu Irland, zu Frankreich, zum Alten Reich, würden die Heterogenität der Verwendungen nur weiter unterstreichen46. Was können wir angesichts dieses Befundes dann noch unter „Patriotismus“ verstehen?

II. Die vorliegenden Vorschläge zur Definition und Beschreibung des Patriotismus bis zur französischen Revolution stehen auf zwei Beinen. Sie problematisieren entweder das Verhältnis der vor allem dynastischen Herrschaftslegitimation des Herrschers und seiner Rolle als „Vater des Vaterlandes“ zu der Beschreibung des Adels und anderer Untertanen als „Patrioten“. Im Gefolge der oben erwähnten religiösen Konflikte und der Spannungen aus den finanziellen Anforderungen der Monarchien an ihre einzelnen Länder schälte sich gegebenenfalls eine politische Rhetorik heraus, welche das Vaterland als eine Einheit mit eigenen Rechten und Interessen beschrieb, die nicht identisch mit denen der Monarchie sein mußten. Ein Spannungsverhältnis zwischen den Wünschen des „pater patriae“ und den „Pflichten“ der „Patrioten“ konnte entstehen47. Der oben genannte Fall der Rebellion Katalaniens gegen die Spanische Krone ist dafür nur ein Beispiel. Demgegenüber haben unabhängig voneinander Reinhart Koselleck und Mauricio Viroli die Ermächtigung der Patrioten in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen gestellt, Koselleck freilich mit Blick auf das 19. und 20. Jahrhun___________ 45 Xavier Torres, Making and Remaking of Patriotism: The Catalan Revolt against the Spanish Monarchy (1640–1659), in: Friedeburg, Patria und Patrioten, 139–168, 160–161. 46 Siehe nur die Beiträge von Steven Ellis, Horst Dreitzel und Mark Greengrass, aber auch von Philip Soergel zu Bayern und Österreich in Friedeburg, Patria und Patrioten. 47 Vgl. Mary Dietz, Patriotism, in: Terence Ball/James Farr/Russell L. Hanson (Hrsg.), Political Innovation and Conceptual Change, Cambridge 1989, Kapitel 8.

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dert, Viroli dagegen vor dem Hintergrund „republikanischer“ Mentalitäten und Verfassungen in der Frühneuzeit. Der Patriotismus diente laute Viroli entweder nur dem Herrscher oder allein der Bürgergemeinde48, während Koselleck Patrioten und vor allem Patriotismus auf die „moderne … voluntaristische Emphase“, auf den „Zwang, Partei nehmen zu müssen, um eine gerechte oder volkgemäße Verfassung zu stiften“, zuspitzt49. In beiden Vorschlägen entladen sich in der politischen Rhetorik des „Patriotismus“ Momente des Politischen, die aus tiefer zugrunde liegenden Thesen der Autoren heraus verstanden werden müssen, für Viroli der Zweikampf von „Absolutismus“ und „Republikanismus“, für Koselleck die politische Selbstermächtigung der Bürger im Zeitalter der Aufklärung und die damit zugleich in den Horizont der Entwicklung tretenden Bürgerkriege der modernen Revolutionen des späten 18., 19. und 20. Jahrhunderts. Kosellecks auf die Aufklärung und die Moderne zielende Problematisierung erinnert uns zugleich daran, was die Konfrontation von Republik und Monarchie tatsächlich vor allem war, keineswegs eine Konstituante der frühen Neuzeit, sondern Aspekt einer bestimmten Polemik innerhalb der Aufklärung, der die Kritik an ständischen Privilegien besonders am Herzen lag. Die Vielzahl der verfassungsrechtlichen Formen und Konflikte des Alten Europa lassen sich jedoch kaum in ein Duell aus „Absolutismus und Republikanismus“ pressen, schon die Geschichte Englands und des Alten Reiches ist so kaum zu verstehen50. Zwar sind für das Frankreich Ludwig XIV. nach der Rücknahme des Ediktes von Nantes 1685 vereinzelte Klagen protestantischer Exulanten bekannt, es gäbe nur noch den König in Frankreich, und keinen Staat51. Aber die französische verfassungs- und sozialgeschichtliche Situation läßt sich kaum auf andere Gemeinwesen übertragen, weder auf die spanischen Königreiche, auf England oder auf das Alte Reich. Bekanntlich hat schon die These vom Alten Reich als Staat und Nation der Deutschen auch Kritik hervorgerufen. Nicht al___________ 48

Mauricio Viroli, For Love of Country, Oxford 1995. Reinhart Koselleck, Patriotismus. Gründe und Grenzen eines neuzeitlichen Begriffs, in: Friedeburg, Patrioten vor dem Patriotismus, 533–552, 543. 50 Vgl. Robert von Friedeburg, Introduction, in: ders., Murder and Monarchy. Regicide in European History, Houndsmill 2004. 51 Vgl. Marcel Marion, Artikel „Etat“, in: Dictionnare des institutions de la France aux XVII et XVIII siecles, Paris 1923, Neudruck 1968, 215 – der Kritiker, der reformierte Prediger Pierre Jurieu, hatte sich noch vor der Revokation enthusiastisch über die absolute Monarchie geäußert. Er pries Ludwig noch 1682 als „Grössten aller Könige“ – es gäbe keinen Protestanten in Frankreich, der den König nicht anbete („Il nǥy a point de Protestant dans le Royaume qui ne venere, je puis dire qui nǥadore Votre Majestey, comme le plus brillante Image que Dieu ait posé de luy même sure la Terre“.). Vgl. Hartmut Kretzer, Calvinismus und französische Monarchie im 17. Jahrhundert: die politische Lehre der Akademien Sedan und Saumur, mit besonderer Berücksichtigung von Pierre du Moulin, Moyse Amyraut und Pierre Jurieu , Berlin 1975, 401–2, 408. 49

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lein bleibt der staatliche Charakter des Reiches angesichts der „doppelten Staatsbildung“ im Reich und den Territorien problematisch. Die werdenden Territorialstaaten in Pommern und Hessen, Böhmen und Calenberg, Frankfurt und Nuremberg machten als eigene Herrschaftsverbände zunehmend selbst Anspruch darauf, Vaterländer zu werden. Wurden sie bis um 1500 kaum zur Kenntnis genommen, wenn es um die Beschreibung der Pluralität deutscher Länder ging52, so wurden sie seit der Mitte des 16. Jahrhunderts zunächst durch die Juristen, dann auch durch ihre Fürsten, als „patria“ angesprochen. Das klassische Vorbild von Rom als patria communis und den Provinzen als patria im engeren Sinne erlaubte es jedoch ohnehin, Heimatstadt, das Reich und das Territorium ohne jeden Widerspruch zugleich als patria zu kennzeichnen. Daß ständischer Widerstand, sei es auf der Ebene des Reiches gegen den Kaiser, sei auf der Ebene der Territorien, antimonarchisch sein mußte, oder die selbstverständliche Akzeptanz der Monarchie als wichtigster Regierungsform Stände und Untertanen zu Anhängern der absoluten Monarchie gemacht hätten, ist offensichtlich absurd. Zielt Koselleck in erster Linie auf das spätere 18. Jahrhundert und die Moderne, so ist, von einigen Ausnahmen abgesehen, Virolis zugrundeliegendes Duell aus Absolutismus und Republikanismus kaum hilfreich zum Verständnis der frühen Neuzeit. Damit ist aber nur eine Grenze dieser beiden Entwürfe für unseren Zusammenhang genannt. Koselleck zielt auf den Bewegungsbegriff „Patriotismus“, der erst an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert entstand53. Selbst im Verlauf des 18. Jahrhundert blieb es die Frage, ob Selbstermächtigung der Untertanen dem Gemeinwesen wirklich Nutzen bringen könnte. Ein sehr frühes Beispiel eines Plädoyers dieser Selbstermächtigung ist die Schrift des Rinteler Professors Thomas Abbt „Vom Verdienst“ von 1765. Abbt hob darauf ab, es sollte allen Mitgliedern der Gesellschaft die gleiche Chance gegeben werden, für das Vaterland Verdienst zu erlangen. Abbt wies daraf hin, in der Monarchie komme allein einer kleinen Gruppe, dem Adel, auch nur die Chance zu, Verdienste zu erwerben. Daher sei denn auch, Montesquieu paraphrasierend, „der Freystaat“, die „republikanische Verfassung“ allein in der Lage, „jedes Ungewitter, das sich über ihr zusammenzieht, als das glücklichste Mittel“ anzusehen, „wo___________ 52

Ernst Schubert, Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter. München 1996, 1–6. 53 Rudolf Vierhaus, „Patriotismus“. Begriff und Mentalität einer moralischpolitischen Haltung, in: ders., Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung, soziales Gefüge, geistige Bewegung. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1987; G. Birtsch (Hrsg.), Patriotismus (Aufklärung 4, 1989); Michael Stolleis, Public Law and Patriotism in the Holy Roman Empire, in: Infinite Boundaries, hrsg. v. Max Reinhart, Kirksville 1998, 11–34; C. Prignitz, Vaterlandsliebe und Freiheit: Deutscher Patriotismus 1750– 1850, Wiesbaden 1981; G. Kaiser, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland, Wiesbaden 1961.

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durch … jedes Genie … zu einer heilsamen Fruchtbarkeit zubereitet wird“54. Im Kriegsgewitter Europas hätten die als Republiken organisierten Vaterländer also die besten Chancen. Aber Abbt ging noch wesentlich weiter als Montesquieu. Er hob direkt im Anschluß auf den Wert der Freiheit des Menschen als Bürger und als Mensch ab. Der Mensch müsse darauf sehen, „dass seine Freiheit als Mensch durch die Freiheit des Bürgers geschützt werde … Ein Land, wo nicht jeder Mensch in seiner Menschenfreiheit durch die Bürgerfreiheit gesichert ist, kann nicht frei heissen“55. Justus Möser entgegnete dem jüngeren Freund in der Vorphase der Niederschrift in einem Brief, der zwischen Ende Mai und dem 6.6.1764 geschrieben wurde: „Sie wollen das Verdienst abwegen? Gut; Ihre ersten beyden Capittel haben in voraus meinen Beyfall, aber das dritte nicht. Hier deucht mir, fühle ich eine Lücke. So viel ich aus Ihrem kurzen Plan urtheilen kann, haben Sie das Verdienst blos intensive gemessen und Ihr Verdienst nicht wie Helvetius seine Tugend behandelt. Hume sagt, das Silber habe blos ein pretium conventionale; und ich möchte fast sagen, daß alles Verdienst ein conventionale quid sey; oder um die Idee des Helvetius zu befolgen: Tugend ist, was dem Staate nützt; und das Verdienst ist die Menge des Nutzens, welche einer der bürgerlichen Gesellschafft verschafft! Haben Sie also auch, nachdem Sie die Quantität des Verdienstes sine respectu bestimmt, solche auch in respectu ad rem publicam betrachtet? Ohne Zweifel, sonst erwarte ich solches im dritten Capitel“56. Mösers Skepsis muß vor dem Hintergrund seiner generellen Kritik an den ständefeindlichen Äußerungen mancher aufgeklärter Flugschriften verstanden werden. Möser begann beispielsweise einen Aufsatz zur Reform des Adels mit dem Hinweis auf die in Frankreich diskutierte Frage, ob es dem französischen Adel erlaubt sein könne, Handel zu treiben. In einem Artikel mit dem Titel „La Noblesse militaire ou le Patriote Francois“ ist argumentiert worden, wahrer Adel sei mit „courage“ und „la vertue“ gleichzusetzen, zwei Charaktereigenschaften, die nicht an bestimmten Menschen klebten. Der Autor dieses Artikels argumentierte, sein Vater sei kein Adliger, sondern ein Händler, aber er, der Sohn eines Händlers, habe wenigstens so viel Mut und Tugend wie ein Adliger. Möser kommentiert diesen Einwand in charakteristischer und für unser Problem wichtigen Weise. Er schreibt: „die Begriffe vom Adel [werden hier] nicht genug bestimmt[en], und immer die moralische Ehre mit der politischen vermischt[en]… Ein solches elendes Gewäsch entsteht aus jener Verwechselung; und man könnte ebensogut fragen: Ob ein Bauer nicht eben so gut ein Christ sein könne, als ein Edelmann. Lauter Folgen der neumodischen Menschenphilosophie, die immer mit den Menschen zu thun ___________ 54

Thomas Abbt, Vom Verdienst, 2. Aufl, 1766, 338–40. Ebenda, 345. 56 Justus Möser, Briefwechsel, neu bearbeitet von William F. Sheldon, Hannover 1992 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen XXI), 320. Ich danke Karl Welker herzlich für diesen Hinweis. 55

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hat, ohne den Staatsaktionär (oder Bürger) zu kennen“57. Bürgerliche Rechte und Pflichten im Staatszustand werden von menschlichen natürlichen Eigenschaften unterschieden, die Forderung, aus dem „Mensch-sein“ schlechthin Ansprüche an gesellschaftliches Prestige oder gar öffentliche Rechte abzuleiten, zurückgewiesen. Einerseits sollte die Beschreibung vor allem des niederen Adels im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts als „Patrioten“ es erlauben, Rechte an der Teilhabe öffentlicher Herrschaft, die innerhalb der meisten europäischen Königreiche immer weniger allein durch den Hinweis auf lehnsrechtliche Privilegien zu verteidigen waren, auch im entstehenden Territorialstaat der frühen Neuzeit zu verteidigen. Indem sich der Adel und andere ständische Führungsgruppen als Untertan immer deutlicher unterwerfen mußten, empfahlen sie sich als „Patriot“ dem besonderen Dienst im fürstlichen Heer und der fürstlichen Verwaltung oder als verantwortliche Verteidiger des Gemeinwesens, auch gegen den Fürsten. Soziale Hierarchie und öffentliche Ordnung blieben ineinander verschränkt. Die frühneuzeitlichen Europäer trauten auch im 17. Jahrhundert, von den Puritanern in Neuengland bis hin zu den Bürgern Hollands und Seelands, Mitgliedern des Adels immer wieder besondere Führungsqualitäten zu, die anderen Mitbürgern abgesprochen wurden58. Andererseits tauchen seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Schriften wie der von Abbt Vaterland und Patrioten als Begriffe auf, um dem System besonderer Ehre und daran geknüpfter persönlicher Fähigkeiten den Garaus zu machen, Vaterland und Patrioten konnten nun auch geradezu eine antiadlige Stoßrichtung erhalten. Für solche Äußerungen mögen Begriffe wie die vom „Republikanismus“ sinnvoll sein. Der frühneuzeitliche Patriotismus mochte sehr wohl Anrechte für privilegierte Bürger und Adel begründen helfen, die allein aufgrund älterer Privilegien nicht mehr zu haben waren, aber er blieb doch überwiegend der Annahme verhaftet, die noch Möser teilte – daß die Gleichheit der Menschen als Christen nichts zu tun habe mit dem System der Unterschiede der Bürger im öffentlichen Gemeinwesen, wo wohlerworbene Privilegien und Unterschiede der familiären Ehre und Sozialisation Unterschiede der legitimen Teilhabe an öffentlicher Herrschaft begründeten. Der „Patriotismus“ der frühen Neuzeit kannte noch

___________ 57 Justus Möser, Warum bildet sich der Deutsche Adel nicht nach dem Englischen? (Erstdruck 1780) wiederabgedruckt in: Berlinische Monatsschrift 1785, 193–208, hier 193–194. 58 Die Wahl des dreiundzwanzigjährigen Sir Henry Vane des Jüngeren (1613–1662), Sohn des secretary of state König Karls I., nach nur rund halbjährigem Aufenthalt in der Siedlung (Oktober 1635) zum Gouverneur von Massachusetts durch die puritanischen Kolonisten im Mai 1636 ist dafür ein Beispiel, die Volkserhebung zu Gunsten der Machtübernahme des erst zweiundzwanzigjährigen Wilhelms III. von Oranien in den Niederlanden im Jahre 1672 ist ein weiteres Beispiel.

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nicht Abbts leidenschaftliches Plädoyer gegen die Unterschiede unter den Menschen, er ruhte geradezu in ihnen. Daß Verdienst, Pflichten und Rechte abhängig von der ständischen Qualität, der Ehre, und damit der Sozialisation und Kontrolle der Leidenschaften einer Person abhängig sei, und daher Tätigkeiten im öffentlichen Interesse nur bestimmten Personengruppen zukommen konnten, blieb eine Binsenwahrheit des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Selbst wenn wir davon ausgehen, daß die humanistisch befruchtete Rhetorik im Umkreis beispielsweise der Burgunderkriege wenigstens unter Gelehrten und Adel Einfluß entfaltete59 – und welcher Einfluß das war, ist keineswegs unbestritten60 – so bleibt doch zunächst offen, ob die aus den literarischen Topoi des Humanismus gewonnene Lobpreisung „Teutschlands“ und des „vatterlandes“ tatsächlich ein „WirBewußtseins …“ hervorbrachte61. Die Analyse der dabei entwickelten Topik kommt nicht allein ohne den Begriff des „Nationalismus“ aus62, dieser Begriff suggeriert auch leicht Ermächtigungen der Menschen als Bürger (einer Nation), die dem späten Mittelalter und der frühen Neuzeit in dieser Form fremd blieben. Einschläger blieb die Art und Weise, in der bereits das Spätmittelalter die wichtigste europäische Quelle zur Politik, Aristoteles Werke, als Anschauung zur gestuften Berechtigung der Menschen in die eigenen Herrschaftsrealitäten integriert hatte. Petrus von Alvernia (verstorben 1304) führte beispielsweise den im 6. Kapitel des dritten Buches abbrechenden Kommentar von Thomas von Aquin zu Ende63. Wichtig für die weitere Entwicklung wurde sein Kommentar deswegen, weil er die verstreuten Hinweise des Aristoteles auf Bürger mit eingeschränkten Rechten – im Gegensatz zu den Bürgern schlechthin (cives simpliciter, polites haplos) – vom Rande in das Zentrum der Diskussion rückte und so die Realitäten mittelalterlicher gestufter Berechtigung auf den Begriff brachte. Petrus setzte sich dabei explizit mit dem Problem auseinander, was eigentlich Herrschaft und Teilhabe an der Herrschaft bedeute, und wies auf die Vielzahl der möglichen Kontexte hin. Auch beispielsweise Schöffen, die als Mitglieder einer Jury Recht sprachen, oder andere in bestimmte Ämter wählen konnten, konnten so in Betracht gezogen werden, wenn es um die Ausübung von Herr___________ 59 Vgl. Claudius Sieber-Lehmann, „Teutsche Nation“ und Eidgenossenschaft. Der Zusammenhang zwischen Türken- und Burgunderkriegen, in: HZ 253 (1991), 561–602; ders., Spätmittelalterlicher Nationalismus. Die Burgunderkriege am Oberrhein und in der Eidgenossenschaft (Veröffentlichungen des Max-Planck Instituts für Geschichte), Göttingen 1995. 60 Vgl. auch die Besprechung durch Norbert Kersken, in: ZHF 26 (1999), 271–273. 61 Sieber-Lehmann, Nationalismus, 395f. 62 Kersken, Besprechung Lehmann, 272. 63 C. Flüeler, Rezeption und Interpretation der Aristotelischen Politica im späten Mittelalter, Amsterdam 1992, 87–131.

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schaft ging, wie der Fürst selbst64. Selbst Knechte wurden durch Petrus als Bürger mit eingeschränkten Rechten beschrieben, Bürger nämlich, die allein gehorchten – „alii cives obedientes ut servi“65. Der Bürgerbegriff – und davon abhängig das Verständnis von Politik – wurde zum Rahmen einer Kasuistik gestufter Rechte im Rahmen selbstverständlicher Gehorsamsbeziehungen umformuliert. Die Zielvorgaben Aristotelesǥ für das Zusammenlebens in der polis waren ohnehin in der christlichen Rezeption durch die obrigkeitliche Durchsetzung des Gemeinen Besten, der utilitas, die sich am Willen Gottes zu bemessen hatte, nicht an den weltlichen Vervollkommnungsmöglichkeiten bestimmter Menschen, und durch die Bestimmung der breiten Bevölkerung als „multido bestialis“, die von der Teilhabe an der Regierung ausgeschlossen bleiben mußte, ersetzt worden. Selbst in den Städten traute man es allein den „sapientes“, „maiores“, oder „prudentes“, einer kleinen ausgewählten Minderheit, zu, Ämter zur Herrschaft über sich und andere zu übernehmen. Gibt es überhaupt eine Gemeinsamkeit der Benutzung des Neologismus von den Patrioten seit dem späten 16. Jahrhundert, dann liegt sie im Problemzusammenhang der beschränkten Ermächtigung für einzelne Teile der Bevölkerung, beschränkt durch die fundamentalen Annahmen der Zeitgenossen über die Gleichheit der menschlichen Seelen vor Gottes Urteil, aber der Ungleichheit der Rechte und Pflichten als Bürger und Untertanen in der weltlichen Herrschaftsordnung. Patrioten mochten Ansprüche auf Ämter und Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten machen, die allein aufgrund traditioneller Privilegien nicht mehr zu haben waren, aber sie machten sie im Rahmen von Annahmen über die Ungleichheit der Menschen. Reformation und Konfessionalisierung, Kriege und Bürgerkriege wurden in den meisten europäischen Ländern auch durch den Druck von Flugschriften und die Mobilisierung weiter Teile gerade auch des niederen Adels und der führenden Bürger in den Städten begleitet. Sie mochten Klienten der Krone oder der bedeutenderen adligen Familien bleiben. Aber es waren in erster Linie Mitglieder dieser Gruppen, auf welche die Rhetorik von den „Patrioten“ zielte. Ein Beispiel aus dem hessischen Krähwinkel mag das verdeutlichen. Das Vaterland und die Pflichten ge___________ 64 The commentary of Peter of Auvergne on Aristotleǥs Politics, hrsg. v. G.M. Grech, Rom 1967, 73–129, hier 80, zitiert nach U. Meier, Burgerlich vereynung. Herrschende, Beherrschte und mittlere Bürger in Politiktheorie, chronikalischer Überlieferung und städtischen Quellen des Spätmittelalters, in: R. Koselleck/K. Schreiner (Hrsg.), Bürgerschaft, Stuttgart 1994, 43–89, insb. 51: „Sed est intelligendum quod attingere ad principatum contingit dicere multipliciter. Uno modo ita quod principetur; et sic non omnes cives attingunt. Alio modo est attingere ad principatum quia attingit ad iudicium, vel quia eligit principantem, vel habet vocem in eligendo illum qui eligit. Et ist est civis simpliciter. Terminus igitur et ratio definitiva quae congruit omnibus qui dicuntur cives, si qua est, maxime haec est.“ 65 Zit. nach ebd., 52, vgl. auch Flüeler, Rezeption, 98–100.

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genüber dem Vaterland führten Stände im Reich allerorten im Munde66, aber der Konflikt in der Landgrafschaft Hessen-Kassel hatte zwischen dem Landgrafen Moritz und den Ständen um die Konsequenzen seiner kaiserfeindlichen Politik so tiefe Gräben aufgerissen, daß die Stände nach 1620 unabhängig vom Landgrafen mit den katholischen Generälen verhandelten, um das Land vor dem Schlimmsten zu bewahren, und Moritz 1627 abdankten mußte – ein verfassungsrechtlich einmaliger Vorgang. Zwar bemühten sich die Stände in der Folge um die Bewahrung der Nachfolge im Lande für den Enkel von Moritz, Wilhelm VI., nachdem Moritzǥ Sohn, Wilhelm V., vom Frieden von Prag 1635 ausgenommen worden, 1636 in die Reichsacht getan und 1637 im ostfriesischen Exil verstorben war. Die mit der Kasseler Linie verfeindeten lutherischen Darmstädter Vettern bemühten sich darum, den Kasseler Teil zugesprochen zu bekommen, standen freilich mit ihren Ständen ebenfalls im Konflikt um Krieg und Kriegsfinanzierung. Kaum anders als in den Konflikten zwischen dem Brandenburger Kurfürsten prallten die Freiheiten und Privilegien der Stände mit dem Anspruch der Fürsten aufeinander, insbesondere im Notstand die notwendigen Maßnahmen ergreifen zu können. Dem zur Seite stand freilich nun, daß im Zuge der Rezeption von Bodin im Reich und der Entwicklung des Territorialstaatsrechts die Stände einerseits zu Untertanen herabgedrückt werden sollten, die Konsequenzen der fürstlichen Politik für Land und Leute aber andererseits nachhaltiger waren als je zuvor. Was hessische Stände im 15. oder 16. Jahrhundert kaum je versucht oder auch nur für nötig befunden hatten, sich um die Fehden und Kriegshändel ihrer Fürsten zu kümmern – Philipp der Großmütige hatte seine Stände nie um Erlaubnis gefragt, wenn es um die Politik im Reich oder kriegerische Händel mit dem Kaiser ging – wurde seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts zum Gegenstand kontroverser Verhandlungen auf den hessen-kasselischen Ständetagen. Sahen die Fürsten die Stände, nicht nur in Hessen, zunehmend als Untertanen, fürchteten Stände angesichts der europäischen kriegerischen Konflikte die schlimmsten Folgen, sollten Land und Leute in Kriege verwickelt werden. Während einerseits im Gefolge von Reformation und Konfessionalisierung Krieg und Bürgerkrieg zur allgemeinen Gefahr wurden und Stände geradezu mit der internationalen Politik und ihren Folgen konfrontiert wurden, wurden ihre Mit- und Einspracherechte zunehmend problematisiert. In Hessen-Kassel entlud sich dieser Konflikt erneut, nachdem Amalie, die Witwe des im Exil verstorbenen Wilhelms V., das Land mit ihren Truppen nach 1646 zurückeroberte, Kornlieferungen von den Untertanen verlangte und ___________ 66

Ronald Asch, Der Sturz des Favoriten: Der Fall Matthäus Enzlin und die politische Kultur des deutschen Territorialstaats an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, in: Württembergisches Jahrbuch für Landesgeschichte 57 (1998), 37–63, hier 41, 55; Annette von Stieglitz, Landesherr und Stände zwischen Konfrontation und Kooperation: Die Innenpolitik Herzog Johann Friedrichs im Fürstentum Calenberg 1665–1679, Hannover 1994, 106.

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eigenmächtige Zusammenkünfte der Stände verbot. Sie argumentierte mit ihrer Landeshoheit und dem Notstand67. Die Stände dagegen beharrten auf ihren Freiheiten. In der zeitgenössischen Jurisprudenz aber zunehmend zu Untertanen herabgedrückt, erwies sich der Hinweis auf das hessische Vaterland und die Pflichten der Patrioten in ihm als Weg, auch ihnen als – besonderen – Untertanen Pflichten und Rechte zuzusprechen, die Mitsprache in der großen Politik verbürgten68. So unterschiedlich die konkreten verfassungsrechtlichen Hintergründe und konfessionellen Parteiungen, ob in England oder Katalonien, Dänemark oder Schottland, die Konfessionalisierung des christlichen Glaubens und ihre Verquickung mit den dynastischen Konflikten Europas hatte durch das explodierende Kriegswesen so drastische Folgen für die einzelnen Länder und Stände der dynastischen Agglomerationen und zusammengesetzten Staaten, daß selbst da, wo konfessionelle Konflikte nicht direkt an erster Stelle auf der Agenda standen, Auseinandersetzungen um die Bezahlung der Kriege und die Schulterung der Lasten entstehen mußten. In einer Situation, in der muttersprachliche Flugschriften Untertanen und Stände über Wohl und Wehe der Kriegsläufte und des Landes unterrichteten, konnte es auch für den einfachen englischen Soldaten der Armee des Parlamentes naheliegen, die Predigten von William Marshall zu zitieren. Aber auch für den einfachen hessischen Knecht Peter Müller war bis 1632 klar geworden, „dass der Kaißer thet wie ein Dieb undt Schelm, wen er die itzige proceduren des Kasler Fürsten hingehen ließe“69.

III. Auch in Hessen war es der Fürst gewesen, der das Vaterland, sich als Landesvater und die Pflichten der Untertanen zur „Defendierung des Vaterlandes“ auf den Ständetagen und in seiner Korrespondenz zuerst im Munde geführt hat___________ 67 Robert von Friedeburg, Widerstandsrecht und Landespatriotismus: Territorialstaatsbildung und Patriotenpflichten in den Auseinandersetzungen der niederhessischen Stände mit Landgräfin Amelie Elisabeth und Landgraf Wilhelm VI. von Hessen-Kassel 1647–1653, in: Angela de Benedictis (Hrsg.), Wissen, Gewissen und Wissenschaft im Widerstandsrecht (16.-18. Jahrhundert), Frankfurt 2003, 267–326; zum Kontext siehe auch Armand Maruhn, Necessitäres Regiment und fundamentalgesetzlicher Ausgleich. Der hessische Ständekonflikt 1646–1655, Darmstadt 2004; zu Brandenburg siehe Christoph Fürbringer, Necessitas und Libertas – Staatsbildung und Landstände im 17. Jahrhundert in Brandenburg, Frankfurt 1985. 68 Vgl. Robert von Friedeburg, The Making of Patriots: Love of Fatherland and Negotiating Monarchy in Seventeenth Century Germany, in: Journal of Modern History 77 ( 2005), 881–916. 69 Diese „gantz vergeßliche[r] hochverräterische[r] undt unverantwortliche[r] reden …“ finden sich in StAM, Bestand 4h, Politische Akten nach Philipp dem Großmütigen, Nr. 1033, fol 3.

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te. Personen in seinen Diensten sollten „capables des servir la patrie“ sein, wie er 1607 schrieb70. Der Discourse of the Manner of the Discovery of the Powder Plot, dem Druck einer Rede Jakob VI. und I. an das englische Parlament vom November 1605 beigegeben und 1616 als Teil seiner Werke veröffentlicht, insistierte „that when either their religion, their King, or their countrey was in any extreme hazard, no good countreyman ought to withhold either his tongue or his hand, according to his calling and facultie, from ayding to repell the injurie … in the eathenish republique, no private man could thinke of his life more happily and gloriously bestowed, then in the defence of any one of the three, That is, either pro Aris, pro Focis, or pro Patre patriae“71. Altar, Herd und der Vater des Vaterlandes – nicht allein das Vaterland – werden hier zu Gütern erklärt, die jeder Untertan im Notfall zu verteidigen habe, freilich „according to his calling and facultie“. Weder Moritz noch Jakob sprachen von der Mobilisierung von Ständen und Untertanen gegen ihre Befehle. Mehr noch, als Moritz 1626 alle Untertanen zu den Waffen rief, um Hessen gegen den Kaiser zu verteidigen, kommentierte das ein Ritter, nun sei die Gegend vollends ohne „Obrigkeit“72. Der Aufruf zur Verteidigung des Vaterlandes an die Patrioten blieb immanent zweischneidig – er rief potentiell alle guten Bürger zu den Waffen, aber der genaue Umfang dieser Gruppe und das spezifische politische Ziel ihres Tuns mußten im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung nur zu oft strittig bleiben. Daher darf die Tatsache der Inanspruchnahme dieser Rhetorik auch gegen den Willen der Person des Fürsten in England oder Schottland, Katalonien oder Hessen, nicht dazu verleiten, einen Dualismus aus königlichem oder republikanischem Patriotismus zu vermuten. In der frühneuzeitlichen Gesellschaft wurden die öffentlichen Aufgaben, also die Verteidigung der Religion, die Durchsetzung des Rechtes, die Verteidigung des Gemeinwesens, eben ganz überwiegend nicht durch professionelle und besoldete Berufsbeamte und bürokratische Anstalten erledigt, sondern ganz überwiegend von Laien, die, je nach Aufgabe und entsprechend „calling and facultie“ rekrutiert werden mußten. Ständische soziale Hierarchie und öffentliche Ordnung blieben verklammert. Auch die Fürsten hatten freilich diesen Zielen zu dienen, und im Europa der Konfessionen und der um sich greifenden Kriege war nicht immer klar, wer eigentlich welchem Zweck besser diente. Der Religion unstrittig nachgeordnet, aber gleichwohl mit einem eigenen wichtigen Platz blieb die Verteidigung von Herd und Vaterland die Aufgabe aller guten Christen und ___________ 70 Vgl. H. Th. Gräf, Konfession und internationales System. Die Aussenpolitik Hessen-Kassels im konfessionellen Zeitalter, Darmstadt 1993, 245 zu seiner Briefformulierung von 1607; Christoph Rommel, Neuere Geschichte von Hessen, Bd. 3, Cassel 1839, 18–25 und 51ff besonders zum Landtag von 1609. 71 James VI & I, The works of the Most High and Mightie Prince, James, By the Grace of God, King of Great Britain, London 1616, 223, zit. nach Glenn Burgess, Patriotism in English Political Thought, 226. 72 Vgl. Friedeburg, Widerstandsrecht und Landespatriotismus, 292.

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Untertanen, und bereits das Magdeburger Bekenntnis wußte, „der aber widerstehet, der sehe darauff, dass er es thue in und durch seinen rechten Beruf“ und verurteilte ein Verständnis von „Notwehr“, das jedem Untertanen, und damit „Hans Unvernunfft“, die Erlaubnis gebe, zum Schwert zu greifen73. Hier ging es keineswegs nur um die Frage, wer die dazu geeigneten Magistrate seien, denn in der frühen Neuzeit waren auch die Pflichten des Vaters, der Mutter, des Dorfschultheißen, des Schöffen, des Bürgermeisters, des Rates in Stadt und Land, eingeordnet in die notwendige Legitimität der öffentlichen Ordnung zur Verteidigung anerkannter gemeinsamer Güter. Mit antimonarchischen Theorien oder Utopien einer herrschaftsfreien Gesellschaft hatte das nichts zu tun, weder im Spätmittelalter noch in der frühen Neuzeit74. In den Krisen von Konfessionalisierung und Krieg wurde diese notwendige Teilhabe der Gesellschaft an ihrer Beherrschung auf die Probe gestellt. In den vielen unterschiedlichen Gemeinwesen der „dynastischen Agglomerationen“ mußten die Belastungen der Konfessionalisierung und der Kriege kommuniziert werden – das hatte nichts mit moderner politischer Partizipation, aber alles mit der Natur spätmittelalterlicher und frühmoderner Herrschaft zu tun. Die Rhetorik von Vaterland und Patrioten reagierte zunächst einmal auf die neue Qualität der in diesem Zusammenhang auf die einzelnen Gemeinwesen zukommenden Anforderungen, die durch einen konfessionsfremden Herrscher oder die Kriege der regierenden Dynastie, oder beides, auf ein Land und seine Stände zukommen mochten. Die Rhetorik vom Vaterland und seinen besonderen Rechten erinnerte an die spätmittelalterliche Banalität, daß jedes einzelne Gemeinwesen seine eigenen, besonderen Rechtsgrundsätze und Vorgehensweisen des Herkommens besaß. In einzelnen Fällen, und hier ist der hessische Krähwinkel auch deswegen besonders bezeichnend, weil die Juristen von Landgräfin Amalie an prominenter Stelle auf die Rechte der Territorialherrschaft drangen, läßt sich darüber hinaus zeigen, wie Vaterland und Patrioten zu Antworten der Stände gegen die Notstandsargumente der fürstlichen Prärogative wurden. Das war keineswegs ein Zufall. So wenig adlige Stände gebildet sein mußten, so viel hatten ihnen die Lateinschulen der Zeit doch mitgegeben, um zu wissen, wo die zeitgenössische ständefreundliche Literatur ihre Hinweise auf die Verteidigung des Vaterlandes hernahm. Die Formel von den das Vaterland liebenden Bürgern, die bei dem reformierten Juristen Althusius wie bei dem lutherischen Reinhard König auftaucht, stammt aus einem Brief Ciceros an seinen Freund Atticus, nachdem Caesar Rom erobert hatte. Nun müßten alle das Vaterland liebenden Bürger die Meere gleich Piraten unsicher machen. In den klassischen Quellen selbst hatte Cicero, von der Hinrichtung der Catilinarier bis ___________ 73 74

Vgl. hierzu Friedeburg, Widerstandsrecht, 62–64. s. Conal Condren, Argument and Authority, passim.

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hin zur Verteidigung der Ermordung seines Gegners Clodius durch Milo, den Bruch gegebener Gesetze und Prozeduren durch die Verteidigung des Gemeinwesens und des Vaterlandes gerechtfertigt75. Im Europa der konfessionellen Konflikte und Kriege barg der Bezug auf die Patrioten jedoch noch eine andere Dimension. Personen niederen Adels, die als Klienten des höheren Adels kaum eigenständig politische Optionen besessen hatten, wurden nun aufgerufen, für das Vaterland zu handeln. Denn die Warnung, ein jeder solle seinem „Beruf“, seinem „calling and faculty“ entsprechend tätig werden, wurde doch so elastisch interpretiert, daß wenigstens Stände und niederer Adel sich angesprochen fühlen mochten. Europa erhielt damit eine Rhetorik, die völlig im Rahmen der hergebrachten hierarchischen Sozialordnung angeordnet blieb, und gleichwohl geeignet war, die Gruppe derer, die sich aufgerufen fühlen mochten, erheblich zu vergrößern. Und das hieß im Verlauf des 17. Jahrhunderts auch – die eingesessenen Familien des Adels drangen darauf, daß Belehnungen und Ämter mit ihren Mitgliedern, und nicht allein nach der Gunst des Fürsten, zu verteilen waren. Die Delineation der pommerschen Landesverfassung aus den 1650er Jahren drang denn auch darauf, „das niemandt als bene meritis und Patrioten concessiones oder Anwartungen auff Lehngühter verliehen werden sollen“76. Die hessischen Ritter sprachen von „Adelspersohnen, Vasallen unndt Patrioten“77, nicht allein von Mitgliedern der Stände, obwohl genau das gemeint war. Aber im Zeitalter des entstehenden Staates mit eigenen Ressourcen und Ämtern wurden schrittweise neue Qualifikationskriterien bedeutend, um Teilhabe an der öffentlichen Macht zu fordern. Thomas Abbt und Justus Möser sollten noch im 18. Jahrhundert unterschiedlicher Meinung sein, wer welches Verdienst für sich beanspruchen mochte. In jedem Fall kommt es darauf an, jenseits unangemessener Dichotomien und in die Vergangenheit projizierter Partizipationsvorstellungen die Vorstellungen der frühen Neuzeit selbst über den Zusammenhang von Pflichten und Rechten, Amt und Person in den Blick zu nehmen, wenn von Vaterland und Patrioten die Rede ist. Die bedeutsamen frühneuzeitlichen Veränderungen der Legitimation zur Teilhabe an der öffentlichen Herrschaft und ihren Ämtern können dann vor dem Hintergrund von Reformation und Konfessionalisierung und der Formierung eines europäischen Staatensystems besser verstanden werden.

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Marcus Tullius Cicero, Epistolae ad Atticum 9, 19, 3: „Nos quoniam superum mare obsidetur, infero navigabimus, et, si Puteolis erit difficile, Crotonem petemus aut Thurius et boni cives amantes patriae mare infestum habebimus“; Cicero, Pro Milone, hrsg. v. A. B. Poynton, Oxford 1892. Zum Verhältnis von Recht und öffentlichen Angelegenheiten („res publica“) in der römischen Republik siehe Claudia Moatti, Respublica et droit dans la rome republicaine, in: Mélanges de l'école francaise de Rome 113 (2001), 811–837. 76 Stadtarchiv Stralsund, Rep. 13, Nr. 52. 77 Staatsarchiv Marburg Bestand 73 1816, Deposition 1652, fol 2.

Professionalisierung oder Konfessionalisierung? Zur Entwicklung des „diplomatischen Korps“1 um 1600 Holger Th. Gräf

I. Die Beziehungen zwischen den europäischen Ländern und Fürstentümern wurden seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in charakteristischer Weise durch die Überlagerung zweier Fundamentalprozesse bestimmt: die frühmoderne Staatsbildung2 und die Konfessionalisierung3. Beide Vorgänge gehören seit nunmehr rund drei Jahrzehnten zu den zentralen Themen der deutschen wie mittlerweile auch der europäischen Frühneuzeitforschung4. Es soll hier nicht ___________ 1 Soweit ich sehe, benutzte in der deutschen Frühneuzeitforschung Friedrich Hermann Schubert, Die Niederlande zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges im Urteil des diplomatischen Korps im Haag, in: Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 74 (1955), 252–264 erstmals diesen Terminus zur Beschreibung der Gesamtheit der auswärtigen Vertreter in einem bestimmten Land. 2 Vgl. umfassend zum Problem der Staatsbildung: Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999; dazu Holger Th. Gräf/Alexander Jendorff/Andrea Pühringer, Staatsgewalt im Alten Reich der Neuen Zeit? Bemerkungen zu drei Neuerscheinungen und ihrer Bedeutung für die Landesgeschichte, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 51 (2001), 257–267. 3 Grundlegend sind nach wie vor die drei Tagungsbände des Vereins für Reformationsgeschichte: Heinz Schilling (Hrsg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland. Das Problem der „Zweiten Reformation“ (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 195), Gütersloh 1986; Hans-Christoph Rublack (Hrsg.), Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 197), Gütersloh 1992, und Wolfgang Reinhard/Heinz Schilling (Hrsg.), Die katholische Konfessionalisierung (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 198), Gütersloh 1995. 4 Luise Schorn-Schütte, Konfessionalisierung als wissenschaftliches Paradigma?, in: Konfessionalisierung in Ostmitteleuropa. Wirkungen des religiösen Wandels im 16. und 17. Jahrhundert in Staat, Gesellschaft und Kultur, hrsg. v. Joachim Bahlcke/Arno Strohmeyer (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Europa, 7), Stuttgart 1999, 63–77; Stefan Ehrenpreis/Ute Lotz-Heumann, Reformation und konfessionelles Zeitalter (Kontroversen um die Geschichte), Darmstadt 2002; Ute Lotz-Heumann, The Concept of Confessionalisation: a Historiographical Paradigm in Dispute, in: Memoria y Civilización 4 (2001), 95–102; sowie Interkonfessionalität, Transkonfessionalität, bin-

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Holger Th. Gräf

darum gehen, die spezifischen und in vielerlei Hinsicht innovativen, einer Initialzündung gleichkommenden Beiträge des mit dem vorliegenden Band Geehrten zu resümieren5. Nur zwei Feststellungen seien vorab getroffen, um die folgenden Überlegungen in das rechte Verhältnis zur „‚Konfessionalisierung‘ … als eine mit beachtlicher Regelmäßigkeit durchlaufende Frühphase moderner europäischer Staatsbildung“6 zu stellen und um den zweiten ‚Erfinder‘ des Konfessionalisierungsparadigmas zu zitieren: Zum einen stellt für Heinz Schilling die Konfessionalisierung „einen jener Fundamentalvorgänge [dar], die die europäische Neuzeit hervorbrachten“7. Angesichts der Kritik der letzten Jahre8 ist die Betonung auf das erste Wort dieses Zitates zu legen: also „einer“ keineswegs „der“ Fundamentalprozeß ist hier gemeint und wird durchaus neben der Urbanisierung, Professionalisierung, Bürokratisierung und anderen für die Herausbildung des spezifischen Profils frühneuzeitlicher Staatlichkeit und Gesellschaft in Europa konstitutiven Vorgängen gesehen. Allerdings wurde nach Schillings Auffassung jeder Bereich – gleichgültig ob sozialer, kultureller oder politischer Existenz – einem Formierungs-, Reglementierungs- und Disziplinierungsprozeß unter konfessionellem Vorzeichen unterworfen, der nicht allein zu einer inneren und äußeren Abgrenzung der frühmodernen Staaten führte, sondern etwa auch eine „gespaltene Kultur“9 hervorbrachte, eine Kultur, die sich im wesentlichen über die Konfes___________ nenkonfessionelle Pluralität: neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese, hrsg. v. Kaspar von Greyerz/Manfred Jakubowski-Tiessen/Thomas Kaufmann/Hartmut Lehmann (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 201), Heidelberg 2003. 5 Vgl. die durchaus kritische Würdigung durch Georg Schmidt, Idealtypus oder Leitmuster? Die Konfessionalisierung zwischen Stadtrepublikanismus, Reich und Mächtesystem, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 257 (2005), 36–49; sowie Heinz Schilling, Die Konfessionalisierung von Kirche, Staat und Gesellschaft – Profil, Leistung, Defizite und Perspektiven eines geschichtswissenschaftlichen Paradigmas, in: Katholische Konfessionalisierung (Anm. 3), 1–49 zum Spektrum der Forschung die Literaturberichte von Heinz Schilling, „Konfessionsbildung“ und „Konfessionalisierung“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 42 (1991), 447–463 und 779–794; Konfessionelles Zeitalter, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48 (1997), 350– 370, 618–627, 682–694 und 748–766 und in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 52 (2001), 346–371. 6 Wolfgang Reinhard, Zwang zur Konfessionalisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters, in: Zeitschrift für Historische Forschung 10 (1983), 257–277, hier 257. 7 Heinz Schilling, Aufbruch und Krise: Deutschland 1517–1648. Das Reich und die Deutschen, Berlin 1988, 275. 8 Vgl. Heinrich Richard Schmidt, Perspektiven der Konfessionalisierungsforschung (Arbeitstitel) sowie Holger Th. Gräf, Gegenreformation oder katholische Konfessionalisierung – Epoche(nbegriff) oder Fundamentalprozeß der frühen Neuzeit, in: Staatsmacht und Seelenheil. Gegenreformation und Geheimprotestantismus in der Habsburgermonarchie, hrsg. v. Rudolf Leeb/Susanne Pils/Martin Scheutz, (im Druck), erscheint Wien 2006. 9 Schilling, Aufbruch (Anm. 7), 293.

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sion definierte und formierte10. Nicht die ausschließliche Wirkmächtigkeit des Konfessionalisierungsprozesses, sondern die mehr oder weniger deutliche Färbung aller anderen Lebens- und Politikbereiche sind demnach als Signum des Zeitalters der Konfessionalisierung zu verstehen. Zum anderen ging Schilling vergleichsweise früh über die Zusammenhänge zwischen frühmoderner Staatsbildung sowie Sozialdisziplinierung und dem Konfessionalisierungsprozeß hinaus, indem er nach dessen Einfluß auf das Profil und die Funktionsweisen des gleichzeitig entstehenden europäischen Mächtesystems fahndete, zunächst für die Zeit der Konfessionalisierung11 selbst, später aber auch für die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg12. Dabei zielte seine Fragerichtung selbstverständlich nicht bzw. nicht nur nach der unmittelbaren kriegstreibenden Wirkung des Faktors „Religion“ bzw. „Konfession“ in den internationalen (Staaten-)Beziehungen. Vielmehr wird die Konfession in ihrer Einbindung und ihrem Wechselspiel mit unterschiedlichen Faktoren in einem ganzen Bündel betrachtet. Die Außenpolitik wird mithin in einer strukturund gesellschaftsgeschichtlichen Analyse als eine Funktion konfessionalisierender bzw. konfessionalisierter frühmoderner Gesellschaften und der entstehenden Staaten begriffen13. Untersucht werden dabei weniger die Ereignisgeschichte und die „Haupt- und Staatsaktionen“ als vielmehr die Prozesse, die bewegenden Kräfte und die Träger der auswärtigen Beziehungen. Neben der Monopolisierung von Außenpolitik und der Zurückdrängung nicht-staatlicher Akteure durch die Souveräne seit der Mitte des 16. Jahrhunderts sieht er konfessionell gepolte Personennetzwerke und nicht-staatliche Institutionen als be___________ 10 Exemplarisch sei verwiesen auf den Themenschwerpunkt „Kunst und Konfession“, in: Archiv für Reformationsgeschichte 93 (2002), 317–338 sowie den am Institut für Kunstgeschichte der Universität Leipzig angesiedelten Arbeitskreis „Kunst im Zeitalter der Konfessionalisierung“ (Kontakt: [email protected]). Zu dem Problemfeld Kultur und Konfession vgl. Klaus Garber, Zentraleuropäischer Calvinismus und deutsche „Barock“-Literatur. Zu den konfessionellen Ursprüngen der deutschen Nationalliteratur, in: Reformierte Konfessionalisierung (Anm. 3), 317–348. 11 Heinz Schilling, Formung und Gestalt des Internationalen Systems in der werdenden Neuzeit – Phasen und bewegende Kräfte, in: Kontinuität und Wandel in der Staatenordnung der Neuzeit. Beiträge zur Geschichte des internationalen Systems, hrsg. von Peter Krüger, Marburg 1991, 19–45; Heinz Schilling, Konfessionalisierung und Formierung eines internationalen Systems während der frühen Neuzeit, in: Die Reformation in Deutschland und Europa: Interpretationen und Debatten, hrsg. v. Hans R. Guggisberg/ Gottfreid G. Krodel, (Archiv für Reformationsgeschichte, Sonderband), Gütersloh 1993, 597–613. 12 Heinz Schilling, La confessionalisation et le système international, in: LǥEurope des traités de Westphalie. Esprit de la diplomatie et diplomatie de lǥesprit, hrsg. v. Lucien Bély, Paris 2000, 411–428. 13 Heinz Schilling, Die konfessionellen Glaubenskriege und die Formierung des frühmodernen Europa, in: Glaubenskriege in Vergangenheit und Gegenwart, hrsg. v. Peter Herrmann (Veröffentlichungen der Joachim-Jungius-Gesellschaft e.V. der Wissenschaften Hamburg, 83) Göttingen 1996, 123–137.

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deutende Akteure und Agenten der Staatendiplomatie als charakteristisch für die Früh- oder Entstehungsphase des neuzeitlichen Mächteeuropa an14. Gerade aufgrund der Tatsache, daß vor 1650 in den meisten Staaten der diplomatische Apparat erst unvollständig ausgebildet war und vor allem ein qualifiziertes Personal fehlte, konnten nicht- bzw. vorstaatliche Akteure hier eine ganz zentrale Rolle spielen15. Erst im Laufe des frühneuzeitlichen Monopolisierungsprozesses der Außenbeziehungen wurden diese Personen(gruppen) von der diplomatischen Bühne verdrängt bzw. durch die Souveräne in die staatlichen Politik- und Entscheidungsgremien integriert. Nach einer Skizze des Forschungsstandes zur Entwicklung der Diplomatie um 1600, vor allem zu dem diplomatischen Personal und dessen Alltag, wird in einem zweiten Schritt versucht, den Zusammenhang von Konfessionalisierung und Professionalisierung, zugespitzt am Beispiel des Agenten und Korrespondenten Philibert du Bois in Den Haag, aufzuzeigen.

II. Die Zeitgenossen des 16. und 17. Jahrhunderts waren sich – nicht anders als die heutigen Historiker – weitgehend darin einig, daß die europäischen Mächte nach den Kriegen im Italien des 15. und 16. Jahrhunderts, den Kämpfen zwischen dem Haus Habsburg und den französischen Königen und nicht zuletzt den aufflammenden Religionskriegen seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in einen zunehmend engen, systemischen Zusammenhang traten16. Der Versuch, die brüchig gewordenen traditionellen Verbindlichkeiten zu sichern, die Suche ___________ 14

Zum Beispiel Heinz Schilling, Der internationale Calvinismus zur Zeit des Johannes Althusius – Politik und politische Kultur, in: Jurisprudenz, politische Theorie und politische Theologie. Beiträge des Herborner Symposions zum 400. Jahrestag der Politica des Johannes Althusius 1603–2003, hrsg. v. Frederick S. Carney/Heinz Schilling/ Dieter Wyduckel (Beiträge zur politischen Wissenschaft, 131), Berlin 2004, 47–69. 15 Vgl. dazu künftig: Heinz Schilling, Konfessionalisierung und Staatsinteressen. Internationale Beziehungen 1559–1659, erscheint als Band 2 des von Heinz Duchhardt und Franz Knipping herausgegebenen Handbuchs der internationalen Beziehungen, Paderborn u.a. 2007, hier besonders die einschlägigen Passagen in Teil A: „Rahmenbedingungen und Strukturen – Außenpolitik und internationale Beziehungen vor der Monopolisierung durch den Staat“. 16 Vgl. zum Überblick Matthew S. Anderson, The Rise of Modern Diplomacy, 1450– 1919, London 1993 und Heinz Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie: internationale Beziehungen 1700–1785 (Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen, 4), Paderborn u.a. 1997, 19–40; Michael Hochedlinger, Die Frühneuzeitforschung und die „Geschichte der internationalen Beziehungen“. Oder: Was ist aus dem „Primat der Außenpolitik“ geworden?, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 106 (1998), 167–179; vgl. jetzt Anuschka Tischer, Art. „Botschafter“ und „Diplomatie“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2005, 367–370 und 1028–1041.

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nach neuen Bündnispartnern und vor allem das Informationsbedürfnis, generierten einen enormen Bedarf an diplomatischen Gesandtschaften. Daher entwickelten sich parallel zu den mächtepolitischen Vorgängen ein zunehmend institutionalisiertes Gesandtschaftswesen und ein professionalisiertes diplomatisches Korps. Der Aufgabenbereich dieser Gesandten – die Begriffe Agent, Botschafter, Korrespondent, Resident u.ä. bzw. deren Entsprechungen in Latein oder den jeweiligen Landessprachen, werden für sie üblich – stellte sich deutlich anders dar als für die herkömmlichen „Gelegenheitsgesandtschaften“, die nun als „außerordentliche“ Gesandtschaften bezeichnet wurden17. Jetzt stand die Informationsbeschaffung, die Aufbereitung der Nachrichten und die laufende Berichterstattung an den entsendenden Souverän im Vordergrund18. Das heißt, der Diplomat war jetzt nicht mehr ein die Politik seines Souveräns ausführender Gesandter, sondern der Beschaffer von zuverlässigen Informationen auf deren Grundlagen politische Entscheidungen getroffen wurden19. Entsprechend dieser Funktion begegnete man ihm nur allzu oft mit Mißtrauen, versuchte ihn von eventuellen oppositionellen Kräften fernzuhalten und überwachte ihn wo immer möglich. Tatsächlich räumte der französische Diplomat Callières Anfang des 18. Jahrhunderts ein, dass „on appelle un ambassadeur un honorable espion“20. Allerdings sorgten die oft lange Abwesenheit des Gesandten vom entsendenden Hof, seine Kontakte im Gastland und die fehlenden oder unterentwickelten Möglichkeiten, ihn in seiner Tätigkeit zu kontrollieren auch bei seinem eigenen Souverän nicht selten für gewisse Vorbehalte gegenüber diesem „ehrenwerten Spion“. Nicht zuletzt die oft kostbaren Ehrengeschenke,

___________ 17 Zur Entwicklung der Begrifflichkeit und der Rangstufen immer noch Otto Krauske, Die Entwickelung der ständigen Diplomatie: vom fünfzehnten Jahrhundert bis zu den Beschlüssen von 1815 und 1818 (Staats- und socialwissenschaftliche Forschungen, 22), Leipzig 1885, 149–204. 18 Vgl. etwa Friedrich Edelmayer, Gesandtschaftsberichte in der Frühen Neuzeit, in: Quellenkunde der Habsburgermonarchie (16.-18. Jahrhundert). Ein exemplarisches Handbuch, hrsg. v. Josef Pauser u.a. (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 44), Wien 2004, 849–859. 19 Vgl. die einschlägigen Beiträge in: Formen internationaler Beziehungen in der Frühen Neuzeit. Frankreich und das Alte Reich im europäischen Staatensystem. Festschrift für Klaus Malettke, hrsg. v. Sven Externbrink/Jörg Ulbert (Historische Forschungen, 71), Berlin 2001; sowie Sven Externbrink, Kommunikation – Information – Außenpolitik. Frankreich und Brandenburg-Preußen zur Zeit des Siebenjährigen Krieges (1756–1763), in: Wissen ist Macht. Herrschaft und Kommunikation in Brandenburg-Preußen 1650–1850, hrsg. v. Ralf Pröve/Norbert Winnige, Berlin 2001, 157–176. 20 François Callières, De la maniére de négocier avec les souverains, de l'utilité des négociations, du choix des ambassadeurs et des envoyez, et des qualités nécessaires pour réussir dans ces employs, Paris 1716, 46 (kritische Neuauflage Genf 2002). Vgl. auch Lucien Bély, Espions et ambassadeurs au temps de Louis XIV, Paris 1990.

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die man den Gesandten übergab, führten zu mancherlei Zweifel an ihrer Loyalität und gelegentlich zum Verbot, überhaupt Geschenke anzunehmen21. Diese Situation führte zu zwei wichtigen Verfahrenstechniken im diplomatischen Verkehr: Zum einen setzte sich bald das Prinzip der Reziprozität durch, d. h., wenn ein Staat einen ständigen Vertreter empfing, war es üblich, eine entsprechende Person jeweils im gleichen Rang in dessen Herkunftsland zu entsenden22. Weitaus bedeutsamer für den Ablauf einer Gesandtschaft und die Tätigkeit des Diplomaten23 war indes seine diplomatische Immunität24. Diese Exterritorialität des Gesandten umfaßte neben seiner Familie auch eventuell vorhandene Übersetzer und Gesandtschaftssekretäre sowie von ihm beschäftigte Boten und Kuriere25. Das heißt, die Staaten akzeptierten die diplomatischen Vertretungen gewissermaßen als „little islands of alien sovereignty“26. Neben diesen allgemein bekannten und umfassend bearbeiteten Themen der frühneuzeitlichen Diplomatie hat sich die historische Forschung in den vergangenen Jahren auch darum bemüht, den Trägern des diplomatischen Alltagsgeschäftes Kontur zu geben. Die Zeit vor bzw. während des Dreißigjährigen Krieges blieb – anders als für das europäische Ausland27 – für die Territorien des Alten Reichs deutlich unterbelichtet, wenngleich eine ganze Reihe Studien

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Krauske, Entwicklung (Anm. 17), 25–28; Manfred Merker, Belohnungen und Gunstbeweise in der spanischen Politik des 17. Jahrhunderts, in: Spiegel der Geschichte. Festgabe für Max Braubach zum 10. April 1964, hrsg. v. Konrad Repgen, Münster 1964, 429–455; Heinz Duchhardt, Das diplomatische Abschiedsgeschenk, in: Archiv für Kulturgeschichte 57 (1975), 345–362. 22 Dieses Prinzip der Reziprozität wurde von den großen europäischen Staaten, zuletzt von Polen und dem Zarenreich im ersten Viertel des 18. und von dem Osmanischen Reich Ende des 18. Jahrhunderts befolgt. Vgl. Duchhardt, Balance (Anm. 16), 23. 23 Diplomatie, bzw. Diplomat als Berufsbezeichnung taucht erst um 1800 in der englischen (Edmund Burke 1796) und deutschen Sprache (Goethe 1811) als Lehnwort aus dem Französischen auf (vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 6, Neubearbeitung. Leipzig 1983, 1110–1112). Beide Begriffe werden im Folgenden synonym für Gesandtschaftswesen bzw. Gesandte gebraucht. 24 Linda S. Frey/Marsha L. Frey, The History of Diplomatic Immunity, Columbus 1999. 25 Edward R. Adair, The Exterritoriality of Ambassadors in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, London 1929. 26 Garrett Mattingly, Renaissance Diplomacy, London 1955, 282. 27 Vgl. etwa bereits Sietske Barendrecht, François van Aerssen, diplomaat aan het Franse Hof. 1598–1613, Leiden 1965; Alexander H. de Groot, The Ottoman Empire and the Dutch Republic: a History of the Earliest Diplomatic Relations 1610–1630 (Nederlands Historisch-Archaeologisch Instituut te Istanbul, 43), Leiden 1978 (zu Cornelis Haga) und Christian Wieland, Diplomaten als Spiegel ihrer Herren? Römische und florentinische Diplomatie zu Beginn des 17. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), 359–379.

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zu Einzelpersönlichkeiten vorliegen28. Allerdings bleiben diese Untersuchungen oft auf eine einzelne Person bezogen, in der Regel auf den eigentlichen Gesandten, während dessen Umfeld und Personal unberücksichtigt bleiben. Wichtige Ausnahmen stellen die Untersuchungen zu Jacques Bongars29, dem französischen Gesandten im Reich, und Pieter Cornelisz. Brederode30, dem niederländischen Gesandten bei den calvinistischen Reichsständen, dar. So gilt für die Geschichte der Diplomatie, was für die politische Geschichte allgemein gesagt werden kann, daß nämlich die „Großen Männer“ im Zentrum des Interesses stehen und viele Akteure im damaligen diplomatischen Geschäft nach wie vor „nur in verschwommenen Umrissen“31 zu erkennen sind. Erst in den letzten Jahren wurde auf der Grundlage von prosopographischen, verflechtungsanalytischen32 oder kommunikationsgeschichtlichen33 Fragen versucht, die Entstehung und die zeitspezifischen Funktionsweisen der damaligen

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Um nur ein Beispiel zu nennen: Friedrich Hermann Schubert, Ludwig Camerarius. 1573–1651, Kallmünz 1955. 29 Ruth Kohlndorfer, Jacques Bongars (1554–1612): Lebenswelt und Informationsnetzwerke eines frühneuzeitlichen Gesandten, in: Francia 28 (2001), 1–15. 30 Uwe Sibeth, Gesandter einer aufständischen Macht. Die ersten Jahre der Mission von Dr. Pieter Cornelisz. Brederode im Reich (1602–1609), in: Zeitschrift für Historische Forschung 30 (2003), 19–52. 31 Aart A. van Schelven, Der Generalstab des politischen Calvinismus in Zentraleuropa zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges, in: Archiv für Reformationsgeschichte 36 (1939), 117- 141, 121. 32 Anuschka Tischer, Diplomaten als Patrone und Klienten: der Einfluß personaler Verflechtungen in der französischen Diplomatie auf dem Westfälischen Friedenskongreß, in: Le diplomate au travail, hrsg. v. Rainer Babel (Pariser Historische Studien, 65), München 2004, S. 173–197; Stefan Ehrenpreis, Die Rolle des Kaiserhofes in der Reichsverfassungskrise und im europäischen Mächtesystem vor dem Dreißigjährigen Krieg, in: Friedliche Intentionen – Kriegerische Effekte. War der Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges unvermeidlich?, hrsg. v. Winfried Schulze, St. Katharinen 2002, 71– 106, 90ff. 33 Christina Lutter, Politische Kommunikation an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Die diplomatischen Beziehungen zwischen der Republik Venedig und Maximilian I., 1495–1508 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 34), Wien 1998; Michael Jucker, Gesandte, Schreiber Akten. Politische Kommunikation auf eidgenössischen Tagsatzungen im Spätmittelalter, Zürich 2004. Vgl. aber auch bereits die älteren pressegeschichtlichen Arbeiten zu den „Zeitungen“ und dem Korrespondentenwesen des 16. und 17. Jahrhunderts: Georg Hahn, Der Nachrichtendienst von Pfalz-Neuburg von den Anfängen bis zum Verfall der geschriebenen Zeitung (1544–1637), Diss. München 1933; Hermine Kühn-Steinhausen, Pfalz-Neuburg und die Kurie. Beiträge zur Geschichte der politischen Agenten des 17. Jahrhunderts, Diss. München 1936; Johannes Kleinpaul, Der Nachrichtendienst der Herzöge von Braunschweig im 16. und 17. Jahrhundert, in: Zeitungswissenschaft 5 (1930), 82–94 und Ders., Das Nachrichtenwesen der deutschen Fürsten im 16. und 17. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte der geschriebenen Zeitungen, Leipzig 1930.

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Diplomatie besser zu verstehen und zu erklären34. Neben der Ausbildung bzw. Bildung der diplomatischen Funktionsträger35 gerieten damit auch verstärkt die infrastrukturellen Rahmenbedingungen36 und kulturellen Aspekte37 des Gesandtschaftswesens in den Blick der Historiker. Vor allem beschäftigt man sich aber zunehmend mit den „Männern im zweiten Glied“38, also den ‚einfachen‘ Dolmetschern39, Korrespondenten und Agenten40 bzw. mit spezifischen Gruppen, die man als diplomatische Funktionseliten definieren kann. Allerdings ist auch bei diesen neueren Forschungen ein deutliches Übergewicht für die Zeit nach den Westfälischen Friedensschlüssen festzustellen41, vielleicht nicht zu___________ 34

Holger Th. Gräf, Funktionsweisen und Träger internationaler Politik, in: Strukturwandel internationaler Beziehungen, hrsg. v. Jens Siegelberg/Klaus Schlichte, Wiesbaden 2000, S. 105–123. Vgl. auch Hillard von Thiessen/Christian Windler (Hrsg.), Nähe in der Ferne: personale Verflechtung in den Aussenbeziehungen der frühen Neuzeit (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 36), Berlin 2005, hier besonders die Beiträge von Heiko Droste und Christine Roll und vor allem Hochedlinger, Frühneuzeitforschung (Anm. 16). 35 Für den Kaiserhof wichtig: Martin Lunitz, Diplomatie und Diplomaten. Studien zu den ständigen Gesandten Kaiser Karls V. in Frankreich, Konstanz 1988; Fallstudie: Holger Th. Gräf, The Collegium Mauritianum in Hesse-Kassel and the Making of Calvinist Diplomacy, in: Sixteenth Century Journal 28 (1997), 1167–1180. 36 Rainer Chr. Schwinges/Klaus Wriedt (Hrsg.), Gesandtschafts- und Botenwesen im spätmittelalterlichen Europa (Vorträge und Forschungen, 60), Ostfildern 2003. 37 Sven Externbrink, Internationale Beziehungen und Kulturtransfer in der Frühen Neuzeit, in: Das eine Europa und die Vielfalt der Kulturen. Kulturtransfer in Europa 1500–1850, hrsg. v. Thomas Fuchs/Sven Trakulhun (Aufklärung und Europa 12), Berlin 2003, 227–248. Konzeptionell wichtig, freilich mit Schwerpunkt in der neusten und Zeitgeschichte: Ursula Lehmkuhl, Diplomatiegeschichte als internationale Kulturgeschichte: Theoretische Ansätze und empirische Forschung zwischen Historischer Kulturwissenschaft und Soziologischem Institutionalismus, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), 394–423; Eckart Conze, Zwischen Staatenwelt und Gesellschaftswelt. Die gesellschaftliche Dimension in der Internationalen Geschichte, in: Internationale Geschichte, hrsg. v. Wilfried Loth/Jürgen Osterhammel, München 2000, 117–140. 38 Axel Gotthard, Benjamin Bouwinghausen. Wie bekommen wir die „Männer im zweiten Glied“ in den Griff?, in: Persönlichkeit und Geschichte, hrsg v. Helmut Altrichter, Erlangen-Jena 1997, 69–103; Axel Gotthard, „Bey der Union ain directorium“. Benjamin Bouwinghausen und die protestantische Aktionspartei, in: Dimensionen der europäischen Außenpolitik zur Zeit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, hrsg. v. Friedrich Beiderbeck/Gregor Horstkemper/Winfried Schulze, Berlin 2003, 161–186. 39 Alexander H. de Groot, Die Dragomane 1700–1869. Zum Verlust ihrer interkulturellen Funktion, in: Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie in der Neuzeit, hrsg. v. Marlene Kurz/Martin Scheutz/Karl Vocelka/Thomas Winkelbauer (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Beiheft 48), Wien 2005, 473–490. 40 Anuschka Tischer, West-Ost-Kommunikation im 17. Jahrhundert in ihrem Kontext: Joachim von Wicquefort als Korrespondent und Agent Herzog Jakobs von Kurland, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 5 (2004), 143–160. 41 Vgl. etwa das von Heinz Schilling an der Humboldt-Universität zu Berlin betreute Dissertationsprojekt von Daniel Legutke, Diplomatische Eliten in Den Haag: Die For-

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letzt wegen des einfacheren Zugangs, den das „Repertorium der diplomatischen Vertreter“42 bietet, ein prosopographisches Nachschlagewerk, das bisher lediglich mit Schuttes „Repertorium“43 für die Niederlande und Bells „Handlist“44 für Großbritannien auch für die Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg Entsprechungen gefunden hat. Als ein wesentliches Alltagsgeschäft der Diplomaten wird das Sammeln und Aufbereiten von Nachrichten gesehen45. Mehr noch, neben der Berichterstattung an den Auftraggeber bot die Publikation der Kenntnisse über „Land und Leute“ für die Gesandten eine wichtige Möglichkeit, sich in den humanistischen Gelehrtenzirkeln und der ‚République des lettres‘ zu positionieren bzw. zu profilieren. So galten etwa die Berichte der kaiserlichen Gesandten Ogier Ghislain de Busbecq über seine Reise in das Osmanische Reich im Jahre 155446 und Siegmund von Herbersteins über seine Fahrten in das Zarenreich zwischen 1516/17 und 1525/2647 über Jahrzehnte, wenn nicht über Jahrhunderte als Standardwerke der jeweiligen Landeskunde und wurden immer wieder neu aufgelegt und in unterschiedliche Sprachen übersetzt. Es ist geradezu ein zeitspezifisches Charakteristikum, daß sich viele Gesandten und Diplomaten im Überschneidungsfeld zwischen höfisch-politischen und Gelehrtenkreisen bewegten. Dieses Überschneidungsfeld manifestierte sich etwa in der 1617 von Ludwig von Anhalt gegründeten Fruchtbringenden Gesellschaft, die besonders

___________ mierung eines diplomatischen Corps am Beispiel kursächsischer, brandenburger und kaiserlicher Gesandter 1648–1747. 42 Ludwig Bittner/Lothar Groß (Hrsg.), Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden, Bd. I, Köln/Graz 1936. 43 Otto Schutte, Repertorium der Nederlandse vertegenwoordigers, residerende in het buitenland. 1584–1810, 's-Gravenhage 1976. 44 Gary M. Bell, A Handlist of British Diplomatic Representatives 1509–1688, London 1990. 45 Vgl. Holger Th. Gräf, Die Entstehung des neuzeitlichen Gesandtschaftswesens aus dem Geiste der Curiositas – das Diarium des Johann Sebastian Müller als diplomatiegeschichtliche Quelle, in: Einmal Weimar – Wien und retour, Johann Sebastian Müller und sein Wienbericht aus dem Jahr 1660, hrsg. v. Katrin Keller/Martin Scheutz/Harald Tersch (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 42), Wien 2005, 170–191; zum geistesgeschichtlichen Hintergrund der frühneuzeitlichen gesellschaftlich sanktionierten Kultur der Neugierde vgl. zusammenfassend Lorraine Daston, Die Lust an der Neugierde in der frühneuzeitlichen Wissenschaft, in: Curiositas. Welterfahrung und ästhetische Neugierde in Mittelalter und früher Neuzeit, hrsg. v. Klaus Krüger (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, 15), Göttingen 2002, 147–175, besonders 158f. 46 Ogier Ghislain de Busbecq, Itinera Constantinopolitanvm Et Amasianvm Ab Augerio Gislenio Busbequio ad Solimannum Turcarum Imperatorem C.M. Oratore confecta, Antwerpen 1581 und Legationis Turcicae Epistolae Quatuor, Paris 1595. 47 Siegmund von Herberstein, Rerum Moscoviticarum Commentarii, Wien 1549.

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in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens durchaus auch als Sammelbecken reformiert-protestantischer Politiker im Reich gelten kann48. Grundsätzlich können diese frühen Diplomaten, Agenten und Korrespondenten somit als wichtige Akteure im Geflecht der fürstlichen Arcanum-Politik gelten, gleichzeitig aber auch als nicht minder wichtige Teilnehmer der damaligen „Öffentlichkeit“49 – der politischen50 wie der kommunikativen 51.

III. Nicht zufällig beschäftigte Ludwig von Anhalt gemeinsam mit Landgraf Moritz von Hessen den exilierten Hugenotten Philibert du Bois Anfang des 17. Jahrhunderts als Korrespondenten bzw. Residenten in Den Haag. Amsterdam und Den Haag, mit gewissem Abstand auch die anderen holländischen und seeländischen Städte, waren damals Dreh- und Angelpunkte sowohl von nord- und westeuropäischer Politik und Wirtschaft als auch von Wissenschaft und Kunst. Die junge, aufständische Republik galt als eine europäische Führungsmacht und vor allem als Hoffnungsträger des europäischen Reformiertentums und diente als Sammelbecken für calvinistische Glaubensflüchtlinge aus ganz Europa52. Die Amsterdamer Börse fungierte als wichtigster europäischer Finanzplatz und bis in das 18. Jahrhundert blieb „the Hague …, the diplomatic centre of Europe, the town where the greatest accumulation of diplomatists and half-

___________ 48 Klaus Conermann, Die Fruchtbringende Gesellschaft und ihr Köthener Gesellschaftsbuch: eine Einleitung. Leipzig 1985 und Ders. (Hrsg.), Die Mitglieder der Fruchtbringenden Gesellschaft 1617–1650. Leipzig 1985. Vgl. auch Ders. (Hrsg.), Briefe der Fruchtbringenden Gesellschaft und Beilagen: Die Zeit Fürst Ludwigs von AnhaltKöthen 1617–1650 (Die deutsche Akademie des 17. Jahrhunderts. Fruchtbringende Gesellschaft, Reihe 1, Abt. A: Köthen, bisher 4 Bde.), Tübingen 1992–2006. 49 Öffentlichkeit ist hier also nicht im engeren Habermasǥschen Sinne als „bürgerliche“ Öffentlichkeit gemeint. 50 Zum Begriff der politischen Öffentlichkeit, wenngleich auf das 18. Jahrhundert bezogen vgl. Ursula A. J. Becher, Politische Gesellschaft: Studien zur Genese bürgerlichen Öffentlichkeit in Deutschland (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 59), Göttingen 1978. 51 Esther-Beate Körber, Öffentlichkeiten der frühen Neuzeit. Teilnehmer, Formen, Institutionen und Entscheidungen öffentlicher Kommunikation im Herzogtum Preußen von 1525 bis 1618 (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, 7), Berlin/New York 1998. 52 Zum Überblick Holger Th. Gräf, Gestaltende Kräfte und gegenläufige Entwicklungen im Staatensystem des 17. und 18. Jahrhunderts: Die Republik der Vereinigten Niederlande als Macht des Übergangs, in: Peter Krüger (Hrsg.), Das europäische Staatensystem im Wandel (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, 35), München 1995, 11–25.

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diplomatists were always to be found“53. Neben einer knappen biographischen Skizze und Verortung du Boisǥ in den damaligen calvinistischen Netzwerken und in Den Haag werden seine diplomatischen Berichte stichprobenhaft ausgelotet54. Dabei soll vor allem seinem Tätigkeitsspektrum, den Wegen seiner Informationsbeschaffung, seinen Feindbildern bzw. seiner Wahrnehmung des zeitgenössischen Mächtesystems besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die Familie du Boisǥ stammte aus Frankreich55. Als Protestanten verließen sie bereits während der ersten Verfolgungen unter Franz I. Mitte der 1540er Jahre das Land und ließen sich in Flandern nieder. In Brüssel – so die bisherigen Annahmen – soll Philibert 1550 geboren worden sein56. Indes nennt du Bois selbst in einem Brief an Landgraf Moritz vom 4. Juli 1618 Prag als seinen Geburtsort57. Tatsächlich bezogen Ebeling und ihm folgend Rahlenbeck ihre biographischen Informationen aus einer Prozeßakte, die 1606 entstanden war58. Damals wurde ein Bote von du Bois, der dessen Briefe von Den Haag nach Amsterdam bringen sollte, von einem umherstreifenden spanischen Söldner überfallen und beraubt. Der Spanier seinerseits fiel kurz darauf niederländischem Militär in die Hände und wurde zusammen mit den Briefen direkt in das ___________ 53 George Norman Clark, The Dutch Alliance and the War against French Trade: 1688–1697 (Publications of the University of Manchester, Historical series, 42), Manchester 1923, ND New York 1971, 96. 54 Seine Berichte an Ludwig von Anhalt umfassen den Zeitraum von 1604 bis 1620. Dabei handelt es sich um rund 3000 Seiten folio, die in sieben Bänden im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt (LHASA, DE Abt. Köthen A 9a, Nr. 239) überliefert sind. Die Bände sind nachträglich paginiert allerdings oft chronologisch ungeordnet. Die Schriftstücke – eigene Berichte, Kopien bzw. Übersetzungen von diplomatischen Korrespondenzen und Abschriften von „Zeyttungen“ – sind von Sekretären verfaßt, teilweise aber auch von der Hand du Boisǥ bzw. von ihm redigiert. Die beiden Bände Friedrich Wilhelm Ebeling (Hrsg.), Philibert du Bois‘ diplomatische Berichte an den Fürsten Ludwig zu Anhalt von 1605 bis 1620 (Urkundliche Beiträge zur Geschichte und Politik des 17. Jahrhunderts, Abt. 1), Leipzig 1856–57 umfassen lediglich den Zeitraum von 1605– 1608 und sind nicht vollständig. Die Berichte du Boisǥ an Landgraf Moritz von HessenKassel sind nicht geschlossen überliefert, finden sich zum Großteil im Hessischen Staatsarchiv Marburg (StAMr) unter Best. 4f Niederlande Nrn. 447 und 474. 55 Das folgende, wenn nicht anders belegt, nach Ebeling, Berichte (Anm. 54), VIIXXII; Charles Alexandre Rahlenbeck, Dubois (Philibert), in: Biographie Nationale, Bd. 7, Brüssel 1878, 204–206 und Franz J. Prohaska, Die Familien de Bois in Böhmen, in: Monatsblatt des Heraldischen Gesellschaft „Adler“, 8 (1917–20), 261–265, 280–283, 288–295 und 310–312. 56 So Rahlenbeck, Dubois (Anm. 55), 204. 57 StAMr 4f Niederlande Nr. 474. Aus einer kurzen genealogischen Nachricht geht ebenfalls Prag als Geburtsort hervor; vgl. De Navorscher: Nederlands archief voor genealogie en heraldiek, heemkunde en geschiedenis 8 (1858), 317a. 58 Vgl. H.H.P. Rijperman (Hrsg.), Resolutiën der Staten-Generaal van 1576 tot 1609, 13: 1604–1606 (Rijks Geschiedkundige Publicatiën, 101), sǥGravenhage 1957, 539– 540.

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Hauptquartier des Moritz’ von Oranien überstellt. Da die Korrespondenzen detaillierte Informationen zur Stärke und Aufstellung der staatischen Truppen enthielten, befürchtete man eine „undichte Stelle“. Du Bois wurde daraufhin festgenommen und mußte den Verdacht ausräumen, daß er eine „correspondentie heeft metten vijant“59. Die Durchsuchung seiner Wohnung und seiner Unterlagen zeigte dann allerdings rasch, daß er lediglich „met neutralen ‚van de religie‘“ korrespondiert habe und dies, so betonte du Bois selbst, „omme d’ voirs. heeren te dienen“60. In diesem Zusammenhang legte er der Untersuchungskommission, der Oldenbarneveldt vorstand, sowie seinen beiden Auftraggebern, Ludwig von Anhalt und Landgraf Moritz, seinen Lebenslauf dar und stellte sich dabei als glühender Calvinist und gleichermaßen Gegner wie Opfer der Spanier heraus61. Diesem Ansinnen entsprachen wohl die darin gemachten Angaben zu seiner Herkunft aus einer alten französischen Adelsfamilie, die als Hugenotten aus Frankreich nach Brüssel fliehen mußten. Hier hätten seine Eltern schließlich im gleichen Jahr wie Egmont und Hoorn, also 1568, unter dem Schreckensregiment Albas quasi den Märtyrertod erlitten, nicht als Spione, sondern als Häretiker, wie du Bois hervorhebt62. Er selbst sei dem Blutrat nur deshalb entgangen, weil er sich damals zu Studienzwecken in Lausanne und Genf aufgehalten habe. Dieser gewissermaßen sehr persönlichen Version der ‚leyenda negra‘ widersprechen jedoch einige Angaben, die sein gleichnamiger Vater („Philibert De Bois Senior“) in einem 1567 in lateinischer Sprache abgefaßten Ansuchen an den Kaiser um eine Wappenbesserung machte63. Als seinen ehemaligen Wohnort gibt er Brügge statt Brüssel an. Und vor allem betont er, daß sein Vater, also der Großvater des späteren Agenten, schon zu Zeiten Kaiser Karls V. sein Domizil aus Flandern nach Prag verlegt habe und aufgrund seiner „servitiis aulae“ für diesen und Erzherzog Ferdinand ein Wappen erhalten habe. Dazu paßt die oben erwähnte Nennung Prags als Geburtsort von Philibert Junior. Er selbst, begründet du Bois Senior in seinem Bittbrief weiter, habe im kaiserli___________ 59

Rijperman, Resolutiën (Anm. 58), 540. Rijperman, Resolutiën (Anm. 58), 539 und 540, Anm. 2. 61 So wird auch seine kurz zuvor, am 21. Febr. 1605 gegenüber Ludwig von Anhalt geäußerte Entrüstung über „die alten grifflin der Spanischen, damit sie den frembden Potentaten immerdar in die kharten zu gucken sich so unverschämt vnderstehen dörffen“ verständlich, indem sie nämlich immer wieder seinen Übersetzer- und Dechiffrierkollegen heimliche Pensionen aussetzten und damit zum Geheimnisverrat brachten, während er auf der anderen Seite die Korrespondenzen seiner Auftraggeber nach Gutdünken weiterreichte aber eben nur an die neutralen ‚van de religie‘. Ebeling, Berichte (Anm. 54), Bd. 1, 17. 62 Ebeling, Berichte (Anm. 54), XII. 63 Österreichisches Staatsarchiv, AVA (Allgemeines Verwaltungsarchiv) Adelsakten de [!] Bois, Philibert, 1567 Juni 15; Prohaska, Familien (Anm. 55), 289–290 gibt allerdings den 15. Januar 1567 an. 60

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chen Auftrag viele Reisen unternommen und unter anderem mit dem Gesandten des Persischen Schahs verhandelt64, wofür er sich als gütige Rekompensation die Besserung seines Wappens erhofft. Eine beiliegende, farbig lavierte Federzeichnung zeigt dieses erstrebte Wappen, das exakt jenem Siegel entspricht, das die Korrespondenz seines Sohnes ziert. Damit dürfte die Beziehung der beiden als gesichert gelten – angesichts des weit verbreiteten Namens durchaus keine Selbstverständlichkeit65. Offensichtlich hat du Bois also die Beziehungen seiner Familie zu den Habsburgern damals bewußt unterschlagen. Ob seine Eltern tatsächlich dem Regiment Albas zum Opfer gefallen sind, muß unentschieden bleiben, auf jeden Fall hat der junge du Bois den jungen mährischen Adligen und späteren Landeshauptmann Karl von Zierotin 1568 in der Schweiz kaum kennenlernen können, wie Ebeling unbelegt behauptete66, denn der war damals vier Jahre alt und absolvierte seine Kavaliers- und Bildungsreise durch Westeuropa erst Anfang der 1580er Jahre. Möglicherweise befand sich du Bois aber durchaus in dieser Reisegesellschaft Zierotins, zählte vielleicht zu dessen „Clientel“, die sich aus mährischen und böhmischen Adligen, aber auch Angehörigen ausländischer Familien zusammensetzte und die ihm „in der künftigen kriegerischpolitischen Laufbahn eine besondere Stütze und Einfluß“ gab67. Ihr Kontakt steht auf jeden Fall fest und zeitweise lebte du Bois sogar von finanziellen Zuwendungen Zierotins68. Offensichtlich verfügte du Bois über sehr umfassende Sprachkenntnisse und fand schließlich in den 1590er Jahren in Den Haag ein Auskommen als Übersetzer diplomatischer Korrespondenzen, später auch als Protokollant und Schreiber der Generalstaaten69. Oldenbarneveldt lobte ihn in einem Empfehlungsschreiben an Christian von Anhalt als besten Kenner der französischen, englischen, italienischen, spanischen und deutschen Sprache in Den Haag. Soweit bekannt, wurde er allerdings von keinem seiner Auftraggeber jemals ver___________ 64 Zu den damaligen Beziehungen zwischen Habsburg und Persien vgl. Barbara von Palombini, Bündniswerben abendländischer Mächte um Persien 1453–1600 (Freiburger Islamstudien, 1), Wiesbaden 1968, 65–92. 65 So ist in Böhmen und Prag ein Philibert (Emanuel) du Bois öfters nachzuweisen, der sich gelegentlich auch „Flandro-Bohemus“ nannte; Ernst Heinrich Kneschke, Neues deutsches Adels-Lexicon, Bd. 1, Leipzig 1929, 540–541, der allerdings ein völlig anderes Wappen führte. Zu denken ist auch an die zahlreichen flämischen „van Houtes“ u.ä., die im Exil ihren Namen französisierten. Vgl. auch zu den anderen Namensträgern in Böhmen Prohaska, Familien (Anm. 55). 66 Ebeling, Berichte (Anm. 54), XII. 67 Peter Ritter von Chlumecky, Carl von Zierotin und seine Zeit, Brünn 1862, 134– 144, Zitat 143, Anm. 30. 68 Prohaska, Familien (Anm. 55), 290. 69 J.G. Smit (Hrsg.), Resolutiën der Staten-Generaal van 1610 tot 1670, 3: 1617/1618 (Rijks Geschiedkundige Publicatiën, 152), sǥGravenhage 1975, 29, Nr. 168.

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eidigt und arbeitete für die Generalstaaten ebenso wie für viele der ausländischen Diplomaten vor Ort70. Ein besonders enges Verhältnis unterhielt er etwa mit dem langjährigen französischen Residenten Paul Chouart de Buzanval. 1597 war du Bois immerhin soweit etabliert, daß man ihn den beiden jungen Fürsten Ludwig und Johann Ernst von Anhalt vorstellte, die auf ihrer Kavalierstour im Juni Den Haag und Amsterdam besuchten71. Als Agent des „vorst van Anhalt“ wird er erstmals 1601 erwähnt, als er den Staten van Holland eine zwölfsprachige in Nürnberg gedruckte Bibelausgabe anbot, die diese wiederum an die Bibliothek der Universität Leiden weitergaben72. Anläßlich einer zweiten Reise in die Niederlande 1604 bestellte ihn Ludwig von Anhalt zu seinem festen Korrespondenten mit dem Auftrag, regelmäßig über die politischen Zustände in den Niederlanden zu berichten, wofür er ein Jahresgehalt von 240 Reichstalern erhalten sollte. Seit diesem Jahr setzen seine Relationen nach Köthen ein. Meist erfolgten sie wöchentlich, gelegentlich auch in kürzeren oder längeren Abständen. Diese Berichte umfassen in der Regel zwei bis drei Seiten, werden aber oft durch umfangreiche Kopien bzw. Übersetzungen anderer Briefe und „Zeittungen“ ergänzt. Spätestens zwei Jahre zuvor stand du Bois bereits mit Landgraf Moritz in Kontakt73 – wie und auf welchem Wege diese Beziehung zustande gekommen war, ist leider nicht zu eruieren. Es steht zu vermuten, daß dies schon im Zusammenhang mit dem zunehmenden Engagement Lgf. Moritz’ am Niederrhein und seiner engeren Zusammenarbeit mit den Generalstaaten Ende der 1590er Jahre, wahrscheinlich 1598, geschehen ist74. ___________ 70 Am 25. Januar 1602 erhält er von den Generalstaaten 22 fl und 2 Stüber für Übersetzungen deutscher Schriftstücke ins Niederländische und 50 fl Vorschuß auf weitere Dienste. Am 1. Februar dann 102 fl und 12 Stüber abzügl. des Vorschusses und am 25. Oktober nochmals 50 fl Vorschuß „voor toekomstige diensten“; Rijperman, Resolutiën (Anm. 58), Bd. 12, 333, Anm. 11. Auch in weiteren Jahren bewegte sich seine Bezahlung in dieser Größenordnung. Eine letzte Forderung über 478 fl an die Generalstaaten für Übersetzungsarbeiten in den Jahren 1618–22 stellte du Bois am 23. März 1623; J. Roelefink (Hrsg.), Resolutiën der Staten-Generaal van 1610 tot 1670, Bd. 6: 1622/1623 (Rijks Geschiedkundige Publicatiën, 208), sǥGravenhage 1989, 83, Nr. 547. 71 Gottlieb Krause, Ludwig, Fürst zu Anhalt-Cöthen, und sein Land vor und während des dreißigjährigen Krieges, Bd. 1, Cöthen 1877, 23–24. 72 J.T. Bodel Nijenhuis, Verslag van de verrigtingen der Commissie voor Geschieden Oudheidkunde, over 1858–1859, in: Jaarboek van de Maatschappij der Nederlandse Letterkunde te Leiden (1859), 53–66, 59. Es dürfte sich dabei um die von Elias Hutter übersetzte Biblia Sacra, Ebraice, Chaldaice, Graece, Latine, Germanice, Saxonice etc. und bei Alexander Philipp Dietrich 1599 in Nürnberg gedruckte Ausgabe gehandelt haben. 73 StAMr 4f Niederlande Nr. 457, Kanzler Hund an Lgf. Ludwig IV., Kassel 30. Aug. 1602. 74 Vgl. Holger Th. Gräf, Konfession und internationales System. Die Außenpolitik Hessen-Kassels im konfessionellen Zeitalter (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte, 94), Darmstadt/Marburg 1993, 272–274. In einem Schreiben vom 4. Juli

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Gelegentlich gibt du Bois Auskunft über die Quellen seiner Informationen. Ob dies gleichsam topisch geschieht, um deren Glaubwürdigkeit bzw. seine eigene Findigkeit zu unterstreichen oder ob damit tatsächliche Kommunikationskanäle benannt sind, kann nicht sicher entschieden werden. Oft leitete er seine Berichte mit den Formeln ein: „ist man alhie bei hoff in erfahrung khomen, daß …“75 oder „hatt man die gewisse nachrichtung vnd vollige continuation der advisen bekhommen“, daß …“76. Dabei dürfte es sich also entweder um Informationen gehandelt haben, die in der höfischen oder, in bezug auf Holland, vielleicht besser gesagt: in der politischen Öffentlichkeit diskutiert und weitergegeben wurden, oder aber um gedruckte und handgeschriebene Zeitungen und Flugblätter, die in der Stadt auftauchten und die er seinen eigenen Berichten oft im Original oder als Abschrift beilegte. Die brisantesten Informationen wuchsen ihm freilich durch seine vielfältigen Beziehungen zu den Diplomaten im Haag selbst zu. Immer wieder ergänzte er seine Berichte mit Abschriften und/oder Übersetzungen von Propositionen, Korrespondenzen und anderen Schriftstücken, die in seiner Eigenschaft als Übersetzer der Generalstaaten und fremder Diplomaten über seinen Schreibtisch gegangen waren. Freilich drängt sich der Eindruck auf, daß ihm der Zugang zu bestimmten internen Informationen verwehrt blieb oder daß er diese letztlich aus Rücksichtnahme bzw. Vorsicht gegenüber den Generalstaaten doch nicht weitergegeben hat. So schickte er im Februar 1605 zwar die Kopie der Proposition einer pfalz-neuburgischen Gesandtschaft in die Niederlande nach Köthen, räumte aber gleichzeitig ein, daß er „die antwort der Hern Staten hab … nit erlangen khönnen“.77 Einige Monate später, im Juni 1605, trat der umgekehrte Fall ein: Er lieferte zwar die Antwort der Generalstaaten an einen kaiserlichen Gesandten, aber „die Proposition des Gesandten hab ich nit erlangen khönnen“78. Auch nach der Rückkehr des niederländischen Gesandten in Paris, François van Aerssen, mußte er zugeben, daß „von seiner Verrichtung hatt man das geringste nit vernehmen khönnen, wiewoll nicht gezweiffelt wirdt, er habe ettwas wichtiges fürgebracht“79. Aufgrund der oben erwähnten Untersuchungen zu seinem mutmaßlichen Geheimnisverrat wurde du Bois auf sein Drängen schließlich im Jahre 1607 von Ludwig von Anhalt und Landgraf Moritz zu ihrem offiziellen Residenten in Den Haag ernannt. Dadurch genoß er die Rechtssicherheit bzw. Immunität der sonstigen diplomatischen Vertreter. Als naturalisierter Niederländer mußte ___________ 1618 an Landgraf Moritz weist du Bois darauf hin, daß er bereits seit 20 Jahren in den Diensten des Landgrafen stünde; StAMr 4f Niederlande Nr. 474. 75 Ebeling, Berichte (Anm. 54), Bd. 1, 3. 76 Ebeling, Berichte (Anm. 54), Bd. 1, 129. 77 Ebeling, Berichte (Anm. 54), Bd. 1, 14. 78 Ebeling, Berichte (Anm. 54), Bd. 1, 41. 79 Ebeling, Berichte (Anm. 54), Bd. 1, 112.

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er aber zunächst noch die üblichen Steuern und Abgaben für sein gepachtetes Haus entrichten. Erst auf Drängen des anhaltinischen Kanzlers Hippolythus à Collibus, der als Sondergesandter an den niederländisch-spanischen Waffenstillstandsverhandlungen im darauffolgenden Jahr teilnahm, erlangte er die vollständige Exemtion80. Über sein Privatleben ist fast nichts bekannt, lediglich, daß er in erster Ehe eine gewisse Elisabeth Schoonhoven in Leiden geheiratet hatte, der am 21. April 1611 in zweiter Ehe in Amsterdam Susanna Hermans, die Witwe von Jacques Wyndrecht, folgte81. Ein Sohn aus erster Ehe besuchte seit 1617 die „Newe Academia zu Gröningen“, was er nicht ohne Stolz dem hessischen Landgrafen mitteilte82. Die feste Anstellung durch Anhalt und Hessen hielt du Bois nicht davon ab, auch weiterhin für andere Fürsten und Mächte Nachrichten zu liefern und dies noch nicht einmal im Geheimen. Im September 1609 bittet er sogar seine beiden Arbeitgeber „vom königlichen Hofe aus Frankreich ein jährliches salarium zu wegen zu bringen“ 83. Schließlich lägen seine Arbeiten dort zuhauf vor und es sei billig, daß er die Früchte davon genieße. Offensichtlich hatte er also keine exklusive Loyalität gegenüber Anhalt und Hessen entwickelt. Es kann zwar nicht verallgemeinert werden, wirft allerdings auf die Selbstpositionierung des Agenten ein bezeichnendes Licht, wenn er seine Stellung in Den Haag nutzte, um über Jahre hinweg in verschiedenen niederländischen Provinzen und in englischen Städten Sammlungen „zur notturft der Christlichen Gemaine vnd Kirchenbauwes in der Statt Prag meinem lieben Vatterlande zum besten“84 durchzuführen. Gemeint war die calvinistische Fremdengemeinde in Prag, für die er Kollekten organisierte, aber auch als Vermittler von größeren Geldspenden u.a. der Generalstaaten und des Prinzen Moritz fungierte. Offensichtlich waren die Kontakte in seine „Vaterstadt“ im Laufe der Jahrzehnte also nie abgebrochen und „hij was steeds bereid de Praagse gemeente een dienst te bewiesen“85. Nach dem Prager Fenstersturz wurde diese eher informelle Verbindung auch politisch relevant, als die Direktoren des böhmischen Aufstands du Bois als ihren offiziellen Agenten seit dem 1. Juli 1619 bei den Generalstaaten akkreditierten. In den nächsten Monaten bemühte er sich um die Werbung von Soldaten und Waffenlieferungen für die Aufständischen und

___________ 80

Ebeling, Berichte (Anm. 54), XVI. Nijenhuis, Verslag (Anm. 72), 59 und De Navorscher (Anm. 57), 317a. 82 StAMr 4f Niederlande Nr. 447, du Bois an Lgf. Moritz, 13. Februar 1617. 83 Zitiert nach Ebeling, Berichte (Anm. 54), XVII. 84 StAMr 4f Niederlande Nr. 447, du Bois an Lgf. Moritz, 20. Juni 1617. 85 Nicolette Mout, Bohemen en de Nederlanden in de Zestiende Eeuw (Leidse Historische Reeks, 19), Leiden 1975, 137. 81

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vermittelte vor allem die Subsidien der Generalstaaten nach Prag86. Nach der Niederlage am Weißen Berg bereitete er mit eintreffenden böhmischen Flüchtlingen das pfälzische Exil in Den Haag vor87. Die Aufgaben als böhmischer Resident scheinen ihn zeitlich derart in Anspruch genommen zu haben, daß er seine regelmäßigen Berichte an Ludwig von Anhalt ab 1620 einstellte und auch an Landgraf Moritz nur noch vereinzelt schrieb, zuletzt am 15. Mai 162688. Die Aufgaben du Boisǥ als Agent und Korrespondent in Den Haag finden sich nirgends regelrecht definiert oder festgelegt89. Die Berichterstattung über die politischen Vorgänge und Vermittlung eingehender Nachrichten wurde bereits erwähnt und ist zweifellos als seine Haupttätigkeit anzusehen. Indes weist das weite Spektrum der vermittelten Inhalte über die rein politische Sphäre hinaus. Heute kurios wirkende Meldungen von Mißgeburten und gestrandeten Walen schienen du Bois ebenso berichtenswert, wie Meldungen über einlaufende Schiffe und deren Ladungen90 oder klimatische Besonderheiten, nicht selten gleich mit eschatologischer Deutung91. Du Bois darf neben seiner Korrespondententätigkeit für unterschiedliche Fürsten auch als deren regelrechter Geschäftsträger gelten. Zu den üblichen Aufgaben gehörte beispielsweise der Kauf von Gemälden und anderen Kunstgegenständen92. Darüber hinaus vertrat er auch die Interessen seiner Auftraggeber gegenüber den niederländischen Regierungsorganen. Als sich etwa 1618 die Deputierten der Provinz Groningen gegen die Bezahlung des jährlichen Patengeldes (pillegift) in Höhe von 1.000 fl für die zehnjährige Landgrafentochter Juliana aussprachen, setzte sich du Bois bei den Generalstaaten ausdrücklich in seiner Eigenschaft als hessischer Agent über Jahre hinweg in dieser Sache ein93. Mit den Verhandlungen über die Entschädigung seiner Paderborner Schutzverwandten für Schäden durch die Be___________ 86 Josef Polisenský, Nizozemská politika a Bílá Hora, Prag 1958 und Roelefink, Resolutien (Anm. 70), Bd. 4 und 5, passim. 87 Polisenský, Nizozemská (Anm. 86), 300 und Mout, Bohemen (Anm. 85), 138. 88 StAMr 4f Niederlande Nr. 447. Dieses Schreiben ist gleichzeitig sein letztes Lebenszeichen. Da er mittlerweile Mitte Siebzig war, darf vermutet werden, daß er kurz darauf verstorben ist. 89 Vgl. allgemein zum damaligen „diplomatischen Tätigkeitsprofil“: Gräf, Entstehung (Anm. 45), 185–190. 90 Besonderes Interesse fand dabei der von den Zeitgenossen heftig diskutierte und berüchtigte „handel op den vijand“; vgl. Ebeling, Berichte (Anm. 54), 6, 25 und öfters. 91 Gräf, Konfession (Anm. 74), 207–208. Auf Einzelbelege wird hier verzichtet. 92 Vgl. Ebeling, Berichte (Anm. 54), Bd. 1, 29 und LHASA, DE Abt. Köthen A 9a, Nr. 239, Bd. 1, fol. 172–173. 93 Smit, Resolutiën (Anm. 69), 377, Nr. 2534 (21. Apr. 1618) und 578, Nr. 3961 (1. Dez. 1618); Roelefink, Resolutiën (Anm. 70), Bd. 4, 8, Nr. 35 (4. Jan. 1619). Zur Patenschaft der Generalstaaten für die Landgrafentochter vgl. Gräf, Konfession (Anm. 74), 279–280.

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setzung durch niederländische Truppen im Jahre 1606 beauftragte der hessische Landgraf allerdings Sondergesandte94. Die Beziehungen zu seinen Dienstherren blieben nicht unbelastet. Neben den nur schwer nachweisbaren bzw. nicht spürbaren Loyalitätskonflikten, scheint es immer wieder zu Auseinandersetzungen wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten gekommen zu sein. Einen Höhepunkt stellt die Rechnungsprüfung dar, zu der Landgraf Moritz im Sommer 1618 Veranlassung sah. Er schickte seinen Kammersekretär und „Öconomus“ der Kasseler Hofkapelle, den aus einer flandrischen Exulantenfamilie stammenden Christoph Cornet, nach Den Haag. Offensichtlich hatte du Bois einige der eingesammelten Gelder für die Flüchtlingsgemeinde in Prag nicht richtig erstattet. Die Rechnungsprüfung verlief für du Bois glimpflich. Er räumte in seinem Entschuldigungsschreiben an Moritz zwar ein, daß dieser wohl Ursache hätte, ihn als „ungetrewen Haußhalter“95 zu verstoßen, worauf der Landgraf jedoch verzichtete. Die Intensität der Korrespondenz bzw. deren Frequenz ließ in den nächsten Jahren trotzdem deutlich nach. Dies mag allerdings auch mit der oben erwähnten Tätigkeit du Bois’ für die böhmischen Direktoren ab 1619 zusammenhängen. Es bleibt die Frage nach den Welt- und Feindbildern du Bois’, die eventuell in seinen Berichten greifbar werden. Wie angesichts seiner Biographie und seiner Tätigkeit in Den Haag nicht anders zu erwarten, vertrat er eine dezidiert reformiert-calvinistische Sichtweise des damaligen politischen Geschehens. Deutlich spürbar sind indes auch frühe national(istisch)e Frontstellungen, insofern er auf europäischer Ebene zwischen Rom und Spanien einerseits sowie deren Gegnern andererseits unterschied und sich nicht auf eine rein konfessionelle, also katholisch-protestantische Dichotomie, beschränkte96. So sah er zwar die „Römische Bestia“ stets im Hintergrund wirken, die eigentlichen realen Feinde waren für ihn aber die Spanier, die eben nicht nur gegen den Protestantismus kämpften, sondern auch gegen die „Teutsche Nation“ und die er quasi in das irdische Fegefeuer, nämlich nach Feuerland vertrieben wissen wollte: „Der Mars Belgicus wirdt sich erst rechtschaffen wieder diese Marranen erzürnen, ___________ 94 Vgl. dazu ausführlich Holger Th. Gräf, Interterritoriale Politik und Konfessionalisierung. Die Hessen-Kasseler Reaktionen auf die Rekatholisierung in den benachbarten geistlichen Territorien, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 107 (2002), 105–129, hier 123–126 und Gräf, Konfession (Anm. 74), 275–279. 95 StAMr 4f Niederlande 474, 4. Juli 1618. 96 Zu den spezifischen Zusammenhängen zwischen Konfessionalisierung und der Ausbildung nationaler Identitäten vgl. Heinz Schilling, Nationale Identität und Konfession in der europäischen Neuzeit, in: Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, hrsg. v. Bernhard Giesen, Frankfurt 1991, 192–252, sowie die Fallstudie zu England Heike Scherneck, Außenpolitik, Konfession und nationale Identitätsbildung in der Pamphletistik des elisabethanischen England, in: Nationales Bewußtsein und kollektive Identität, hrsg. v. Helmut Berding, Frankfurt 1994, 282–300.

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und muß das landt von dißer Pest erst geseubert werden, soll es Zur rhue vnd einigkheit khommen, o, nur alla terra del fuego mit ihnen, da sind noch große conquesten für diß wilde gesindlein. Die Teutsche Nation ist viell zu redlich, sich lenger von ihnen veriren Zu laßen …“97. Daß er hier die Spanier als „Marranen“ – eigentlich das Schimpfwort für die zwangsweise im 15. und 16. Jahrhundert getauften, aber insgeheim weiter ihrem Glauben anhängenden Juden – bezeichnete, darf auch als Indiz für seinen Antijudaismus gelten. In erster Linie wollte er damit jedoch unterstreichen, wie wenig die Spanier letztlich auf die eigene Religion geben. Dies sah er in dem Befehl des Spanischen Königs bestätigt, daß „alle die Niederlender so bisher in Spanien gewohnt, ob sie gleich woll so Catholisch weren als der Duc dǥAlba selbst war, dennoch in khurzer Frist sich all mit einander um landt hinaus packen müßen“98. Diese Haltung hatte zwei Konsequenzen für seine politische Optik, die insgesamt für die Rolle des Protestantismus in seiner reformiert-calvinistischen Spielart in der Ausbildung historisch-politischer Identitäten und konkreten machtpolitischen Handelns charakteristisch erscheint99. Zum ersten wird die Überzeugung des Auserwähltseins und daraus resultierend ein gewisses Sendungsbewußtsein spürbar. Den Erfolg niederländischer Unternehmungen erklärte er immer wieder „auß sonderlicher fürsehung Gottes“ oder „als Zeichen einer mergklichen Beschirmung Gottes“100. Besonders in seinen Darstellungen zu den Ereignissen in Übersee, zum Konflikt mit den Spaniern und Portugiesen sowie mit den Einheimischen formulierte er ein deutliches Sendungsbewußtsein. Die Belagerung von Goa stellte für ihn den Versuch dar, „alle die Portugiesen und Spanier außzurotten, die Statt ihren Natürlichen Inwohnern wieder frey einzureumen, und dieselben alle sampt in die wehr und waffen zur defension ihrer freyheit abzurichten“101. Freilich seien nur die „guten Indianer“ der Freiheit würdig und fähig, oft seien sie aber von den Iberern gegen ihre „Befreier“ aufgehetzt worden und sind dann deren gerechter Strafe ausgeliefert: „Ihre (der Niederländer) sachen stehen Gott lob in Indien sehr woll, nichtsdestoweniger finden sie teglich nach großer Gefahr von wegen der großen perfidia vntrewe vnd mörderischen arth ettlich Indianer, die von den Portugiesern vnd Spaniern auß lautterem haß und neid wieder die unsrigen verhetzt werden, so das sie auch contra fidem publicam im[m]o contra jus gentium einen trefflichen Admiral Pieter Wilhelmß genannt mit ungefehr 40 der seinigen greulich umgebracht, darauf auch die revenge also genommen wor___________ 97

Ebeling, Berichte (Anm. 54), Bd. 1, 5. Ebeling, Berichte (Anm. 54), Bd. 1, 9. 99 Vgl. zu diesem Problemfeld allgemein künftig Heinz Schilling (Hrsg.), Konfessionsfundamentalismus um 1600 (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien), erscheint München 2006. 100 Ebeling, Berichte (Anm. 54), Bd. 1, 16 und 67. 101 Ebeling, Berichte (Anm. 54), Bd. 1, 18. 98

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den, das sie ihnen ihre eigene Insull verlustig und die Inwohner zu slaven gemacht haben, die jetzt ihre freyheit verlohren vnd mußen harte arbeit thun“102. Zum zweiten wurde durch die Konstruktion der alles bedrohenden „Spanischen eingebildeten Monarchie“ und von deren Anhängerschaft als „arme elendige tropffen und Goyenknechte, beide des Bapsts und des spanischen Königs eigenwillige slaven, die nit einmahl den frieden und die rechte Freyheit des Vatterlandts betrachten“103, die traditionelle christliche Solidarität gegenüber dem „Erbfeind der Christenheit“ aufgebrochen104. Entsprechend positiv schilderte er die Beziehungen der Niederländer zu den Osmanen. Mehr noch, die Türken wurden zu attraktiven Handelspartnern und die Spanier zu den blutdürstigen Aggressoren umgepolt: So berichtete er 1612 über die Verlesung eines Briefes des Sultans und des Großwesirs an die Generalstaaten, in dem sie zu engeren Handelskontakten eingeladen wurden. Prompt konnte er in Amsterdam „wegen einer solchen trefflichen freyen Navigation in Türckey groß frolocken“105 feststellen und verlieh seiner Hoffnung Ausdruck, daß mit der im Dezember abgefertigten Gesandtschaft nach Konstantinopel, der „ettliche vorneme wolerfahrne traficanten … [angehörten,] … alle freyheit der commercien je lang je mehr erhalten und ein starcker khauffhandel durch die ganz Türkej alla barba der Blutdürstigen Spanier stabilÿrt … werden“ würde106.

IV. Nach Garrett Mattinglys magistraler Arbeit wurde davon ausgegangen, daß das Institut der ständigen Gesandtschaft nach einem ersten Aufblühen seit dem Ende des 15. Jahrhunderts in Italien durch die Konfessionalisierung des internationalen Systems und die Konflikte zwischen Spanien, Niederlande, Frankreich und England seit den 1570er Jahren in eine tiefe Krise geriet und sich die diplomatischen Kontakte nach 1589 auf die „ideologischen“ Verbündeten, also ___________ 102

LHASA, DE Abt. Köthen A 9a, Nr. 239, Bd. 3, fol. 150, du Bois an Ludwig von Anhalt, 7. Juli 1610. 103 LHASA, DE Abt. Köthen A 9a, Nr. 239, Bd. 3, fol. 74–75, du Bois an Ludwig von Anhalt, 7. Sept. 1610. 104 Vgl. allg. dazu Holger Th. Gräf, „Erbfeind der Christenheit“ oder potentieller Bündnispartner? Das Osmanenreich im europäischen Mächtesystem des 16. und 17. Jahrhunderts – gegenwartspolitisch betrachtet, in: Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie in der Neuzeit, hrsg. v. Marlene Kurz/Martin Scheutz/Karl Vocelka/ Thomas Winkelbauer (Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, Beiheft 48), Wien 2005, 37–51. 105 LHASA, DE Abt. Köthen A 9a, Nr. 239, Bd. 4, fol. 112, du Bois an Ludwig von Anhalt, 29. Sept. 1612. 106 LHASA, DE Abt. Köthen A 9a, Nr. 239, Bd. 4, fol. 127–128, du Bois an Ludwig von Anhalt, 7. Dez. 1612.

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die Konfessionsverwandten, beschränkten107. Angesichts der eingangs skizzierten Forschungslage und des exemplarischen Befundes des Agenten und Korrespondenten Philibert du Bois, der zwischen Mitte der 1590er und Mitte der 1620er Jahre, also gut drei Jahrzehnte lang, in Den Haag, dem damaligen Zentrum der europäischen Diplomatie, gleichsam den Höhepunkt der Konfessionalisierung der internationalen Beziehungen erlebte und in bescheidenem Maße vielleicht mit vorantrieb, muß diese Einschätzung Mattinglys allerdings differenziert, wenn nicht relativiert werden. Es ist zweifellos richtig, daß die Konfessionalisierung in mancherlei Hinsicht dem schiedlich-friedlichen Miteinander der entstehenden frühmodernen Staaten nicht gerade förderlich war108. Daß sie aber die Entwicklung der Diplomatie behindert oder verzögert habe, darf bezweifelt werden. Im Gegenteil hat die krisenhafte Zuspitzung in den internationalen Beziehungen durch die konfessionelle Polarisierung und deren Verknüpfung mit den innerterritorialen Stände- und Konfessionskonflikten zu einer Beschleunigung der Monopolisierung und der Professionalisierung der Diplomatie durch die frühmodernen Staaten geführt. Die Suche nach neuen Allianzpartnern und der Nachrichtenhunger, der sich letztlich aus der Destabilisierung des Mächtesystems und der Verunsicherung durch die konfessionelle Spaltung speiste, ließ die diplomatischen Kontakte in der Summe wahrscheinlich sogar noch ansteigen, wenngleich sich dies nicht quantifizieren läßt. Um diese Kontakte zwischen fremden, wenn nicht sogar mutmaßlich oder tatsächlich feindlich gesonnenen Mächten zu sichern, war man auf die Ausbildung zunehmend verfestigter Strukturen und Verfahrensabläufe sowie die garantierte Rechtssicherheit der Diplomaten angewiesen. Schließlich brauchte man qualifiziertes Personal, das mit Land und Leuten vertraut war und über entsprechende Sprachkenntnisse verfügte. Es waren gerade die Glaubensflüchtlinge, die hier ein wichtiges Reservoir darstellten. Durch ihr Flüchtlingslos waren sie gleichsam einem Zwang zur Internationalität unterworfen, verfügten über weitgesteckte Kontakte in ihre Herkunftsländer und gegebenenfalls ehemalige Exilorte. Sie waren und – für die frühneuzeitlichen Souveräne zweifellos ein wichtiges Kriterium – eher in ein sachlich-rationales Dienstverhältnis zum Fürsten zu bringen, als die Landeskinder, die sich in der Regel stets in Loyalitätsabhängigkeiten zu den Ständen befanden. So wie Heinz Schilling den vermeintlichen Widerspruch zwischen Modernisierung und Konfessionalisierung aufgelöst hat109, so ist es für die Entwicklung des „diplomatischen Korps“ um 1600 ___________ 107

Mattingly, Diplomacy (Anm. 26), 201–206. Ehrenpreis, Rolle (Anm. 32), 104. 109 Zuletzt Heinz Schilling, Die Konfessionalisierung des lateinischen Christentums und das Werden des frühmodernen Europa – Modernisierung durch Differenzierung, Integration und Abgrenzung, in: Was hat uns das Christentum gebracht? Versuch einer Bilanz nach zwei Jahrtausenden, hrsg. v. Richard Schröder/Johannes Zachhuber, Münster/ Hamburg/London 2003, 97–115. 108

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Holger Th. Gräf

als symptomatisch zu verstehen, daß es gerade Exulanten, also Opfer bzw. Produkte der Konfessionalisierung waren, die an der Schaffung einer funktionierenden modernen europäischen Diplomatie beteiligt waren110.

___________ 110 Dazu künftig Schilling, Konfessionalisierung und Staatsinteressen (Anm. 15), Kap. A. VII.

Der „Friede“ als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln: Zur Repraesentatio pacis generalis (1607) des Pieter Cornelisz. Brederode Uwe Sibeth Als sich am 13. März 1647 der aus dem ungarischen Transsylvanien stammende Nicolao Sz. Illye-Falvi an der Universität Utrecht als Respondent in einer Disputation unter Leitung des Theologen Gijsbert Voët mit der nach 100 Jahren neuzeitlicher Religionskriege nicht gerade belanglosen Frage auseinandersetzte, ob das Papsttum vereinbar sei mit reformierten Gemeinwesen, nahm er auch Bezug auf eine bereits vier Jahrzehnte zuvor erschienene Publikation mit dem Titel „Repraesentatio Pacis Generalis“, vermerkte zum Verfasser „per Anonymum“, ergänzte aber sogleich: „(quem audivi esse Nobiliss[imum] & Prudentiss[imum] Politicum Brederodium Belgii foederati ad Principes Germaniae quondam Legatum)“1. Diese Notiz wurde auch im „Theatrum Anonymorum et Pseudonymorum“ des Vincentius Placius von 17082 übernommen und dient über das Medium Placius bis heute als Beleg für die – freilich eher seltene3 – Erschließung des Autors. Die zwischen 1607 und 1644 mehrfach aufgelegte, in lateinischer Sprache publizierte, rund 150 Druckseiten starke und mit ihren zahlreichen Randnoten wissenschaftlich wirkende Abhandlung befaßt sich ihrem Titel zufolge mit einem von den Päpsten und dem Römischem Stuhl verfolgten Generalfrieden aller Mächte des christlichen Erdkreises. Sie stellt gewissermaßen eine Auseinandersetzung mit der päpstlichen Friedenspolitik4 ___________ 1 Quaestio an sedes Romana compatibilis sit cum politiis reformatis, in: Gisbertii Voetii, Selectarum disputationum theologicarum Teil 2, Utrecht 1655, 827–868, hier: 833. – Für Hinweise und Korrekturen danke ich Holger Th. Gräf (Marburg), Dagmar Kraus (Stuttgart) und Ute Lotz-Heumann (Berlin) sehr herzlich. 2 Vincentii Placii … Theatrum Anonymorum Et Pseudonymorum … , Hamburg 1708, 297 Nr. 1165. 3 So jedenfalls das Ergebnis einer Recherche im Karlsruher Virtuellen Katalog (http://www.ubka.uni-karlsruhe.de/kvk.html) Anfang Juni 2006 über zahlreiche deutschsprachige und internationale Bibliotheks- bzw. Verbundkataloge. Vgl. dagegen „Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts“ (http://www.vd17.de/): Hier die Erschließung und der Hinweis auf Placius (wie Anm. 2). – Nicht in VD17 erfaßt ist das Exemplar der UB Marburg von 1607, das Grundlage der folgenden Ausführungen ist und das bereits im handschriftlichen Gesamtkatalog (-1929) Brederode zugeschrieben wurde. 4 Vgl. hierzu Klaus Jaitner, Die Päpste im Mächteringen des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Klaus Bußmann/Heinz Schilling (Hrsg.), 1648 – Krieg und Frieden in Europa,

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dar und reflektiert die west- und mitteleuropäischen Mächtebeziehungen5, vor allem die Religions- und Bürgerkriege des 16. Jahrhunderts aus protestantischer Perspektive. Die Zuweisung dieses Textes zu dem als Verfasser, Editor und Kommentator durchaus produktiven späthumanistischen Rechtsgelehrten und Diplomaten Pieter Cornelisz. Brederode (1558/59–1637)6 stützt sich freilich, so der Hinweis des Transsylvaniers von 1647, nur auf Hörensagen („audivi“). Auch ein anderer, immerhin aber bedeutend früherer Beleg für die Autorschaft Brederodes hat nur den Rang einer Vermutung: „puto“, er glaube, diese Schrift stamme von „Brederodium nostrum“ (!), schrieb am 16. Juli 1607 der kurpfälzische Oberrat Georg Michael Lingelsheim7. Weitere, im folgenden darzulegende Umstände legen aber in der Tat sehr nahe, daß der Verfasser dieser ambitionierten Abhandlung tatsächlich Brederode war. Ihr Anlaß und das politische Umfeld ihrer Entstehung sollen im folgenden erhellt (I) sowie Inhalt und Argumentationsmuster zumindest skizziert werden (II), bevor ein erster Versuch einer Interpretation und Einordnung dieses bisher kaum beachteten Traktats unternommen werden soll (III).

___________ [Text-] Band 1: Politik, Religion, Recht und Gesellschaft, München 1998, 61–67; sowie grundsätzlich Heinz Schilling, Krieg und Frieden in der werdenden Neuzeit – Europa zwischen Staatenbellizität, Glaubenskrieg und Friedensbereitschaft, in: Ebd., 13–22. 5 S. Heinz Schilling, Formung und Gestalt des internationalen Systems in der werdenden Neuzeit – Phasen und bewegende Kräfte, in: Peter Krüger (Hrsg.), Kontinuität und Wandel in der Staatenordnung der Neuzeit, Marburg 1991, 19–46; ders., Konfessionalisierung und Formierung eines internationalen Systems während der frühen Neuzeit, in: Hans R. Guggisberg/Gottfried G. Krodel (Hrsg.), Die Reformation in Deutschland und Europa, Gütersloh 1993, 591–613, hier v.a. 596–602; ferner auch die Beiträge zum Tagungsband Friedrich Beiderbeck/Gregor Horstkemper/Winfried Schulze (Hrsg.), Dimensionen der europäischen Außenpolitik zur Zeit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, Berlin 2003. 6 Nach wie vor grundlegend: Robert Feenstra, Pieter Cornelisz. van Brederode (1558[?]-1637) als Rechtsgeleeerd Schrijver. Een bio-bibliographische Bijdrage, in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 27 (1959), 412–468. Da Brederode offenbar nichts mit dem bedeutenden Adelsgeschlecht van Brederode zu tun hat, empfieht sich aus Gründen der Klarheit, auf das in der älteren Literatur begegnende „van“ bei ihm zu verzichten. 7 An Gottfried Jungermann, Korrektor in einer Hanauer Druckerei: „Gratum mihi feceris, si miseris mihi libellum apud vos excusum, cujus auctorem puto Brederodium nostrum, cui titulus est: Repraesentatio pacis generalis …“ Abgedruckt in: Pieter Burman (Hrsg.), Marquardi Gudii et doctorum virorum ad eum epistolae [etc.], Ulrecht 1697, 283; ferner bei George W. Vreede, Pieter Corn. Brederode, in: Bijdragen voor Vaderlandse Geschiedenis en Oudheidkunde 3 (1842), 266–272, 271. – Feenstra, ebd., 440 Anm. 105, konnte in den Niederlanden seinerzeit kein Exemplar dieser Schrift nachweisen; heute findet sich eines in der Königlichen Bibliothek zu Den Haag, vgl. unten Anm. 39.

Der „Friede“ als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln

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I. Die von dem Utrechter Respondent attestierte große Gelehrsamkeit („prudentissimum“) Brederodes steht angesichts seiner zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen8 außer Frage; seine Leistungen vornehmlich auf dem Gebiet des Römischen Rechts sind denn auch bereits durch den Rechtshistoriker Robert Feenstra eingehend gewürdigt worden. Die von ihm herausgegebenen und mit Hinzufügungen versehenen Ausgaben von Werken bedeutender Rechtsgelehrter wie etwa Matthaeus Wesenbeck, Tiberio Deciani oder Diego de Covarrubias y Leyva wurden teilweise noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein nachgedruckt9 und werden von der Forschung teilweise noch heute verwendet10. Brederode war 1558 oder 1559 in Den Haag geboren worden und hatte am 20. Februar 1586 nach Studien in Leiden und Genf in Orléans den Grad eines Lizentiaten der Rechte erworben. In späteren Quellen wird er meist als „doctor in de rechten“ tituliert und auch er selbst führte den Doktortitel11. Es gibt Anzeichen, daß er in den Jahren 1591 bis 1593 an der Universität Basel gelehrt hat12. Zwischen 1595 und 1602 war er als Maître des requêtes für die Schwester Heinrichs IV., Cathérine de Bourbon, und als Advokat am Pariser Parlament tätig gewesen, wo er zeitweilig auch die Interessen Straßburgs im Streit ___________ 8 Vgl. die Bibliographie seiner eigenen und der von Brederode herausgegebenen juristischen Werke Dritter bei Feenstra, ebd., 449–468; oder auch das „Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts“ (http://www. vd17.de/), das allein 17 Publikationen Brederodes nachweist. 9 Detaillierte Nachweise bei R. Feenstra, Brederode (Anm. 6), 449ff.; vgl. auch Michael Stolleis (Hrsg.), Juristen. Ein biographisches Lexikon, München (1995), 165, 651. 10 Vgl. Norbert Brieskorn SJ, Diego de Covarrubias y Leyva. Zum Friedens- und Kriegsdenken eines Kanonisten des 16. Jahrhunderts, in: Ders./Markus Riedenauer (Hrsg.), Suche nach Frieden: Politische Ethik in der Frühen Neuzeit II, (Stuttgart 2002), 323–352, 327 Anm. 24. 11 R. Feenstra, Brederode (Anm. 6), 426f.; Suzanne Stelling-Michaud, Art. „van Brederode Pieter Cornelisz., de La Haye“, in: Sven Stelling-Michaud (Hrsg.), Le Livre du Recteur de l'Academie de Genève (1559–1878), Bd. 2: Notices biographique des etudiants A-C, Genf 1966, S. 324. – Feenstra, ebd., 420, verwies auf die „Thesauriersrekening“ von 1587, in welcher sich über die Auszahlung eines Betrags an Brederode folgende Eintragung findet: „Mr. Pieter van Brederode, doctoir in beyden den rechten“. Sowohl die Resolution der Generalstaaten vom 7. September, Brederode mit dieser Mission zu betrauen, wie auch die Instruktion für ihn vom 17. Oktober 1602 titulieren ihn als „der Rechten Doctor“ bzw. als „doctor in de rechten“: Resolutiën der Staten Generaal Bd. 12, bearb. v. H.H.P. Rijperman, 's-Gravenhage 1950, 132, 134ff. – Brederodes Depeschen an die Generalstaaten – Algemeen Rijksarchief Den Haag, Bestand Staten Generaal (fortan abgekürzt: ARA SG) Lias Duitsland 6016–6024 – sind unterschiedlich, teilweise wohl auch von Schreibern, meistens nur mit „P. Brederode“ unterzeichnet, wobei etwa 23. März 1603 „I[uris] v[triusque] D[octor]“ und am 14.Februar 1604 die Formel „Doctor in de rechten“ auftauchen: ARA SG Lias Duitsland 6016. 12 Feenstra, ebd., 428f., mit Anm. 67–68.

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um die dortige Kartause vertrat13. Als sich 1602 die Generalstaaten entschlossen, nach solchen in Paris und London eine dritte ständige Gesandtschaft einzurichten, fiel ihre Wahl auf ihn, und so wurde Brederode im Herbst dieses Jahres zu den Kurfürsten, Fürsten sowie den „Evangelische[n]“ Grafen, Herren und Reichsstädten entsandt14. In dieser Funktion hielt er sich seit Oktober 1602 im Reich auf zunächst mit wechselndem Quartier, spätestens ab 1604 mit Wohnsitz in der Exulantenstadt Neu-Hanau und von 1610 an in Heidelberg. Dem Kriegsgeschehen ausweichend lebte er ab Dezember 1621 in Straßburg15 und wohl ab 1625 wieder überwiegend in Basel16. Der Leichenpredigt des dortigen Münsterpfarrers und Antistes der Basler Kirche sowie Theologieprofessors Theodor Zwingers (1597–1654) zufolge wurde Brederode Mitte der 1630er Jahre erneut in die Pfalz entsandt. Nachdem er im Herbst 1636 nach Basel zurückgekehrt war, verstarb er dort am 21. März 1637 „in dem 78. Jahr seines Alters“17. Nach seiner Instruktion hatte Brederode bei den evangelischen Reichsständen nicht nur um erhebliche finanzielle Beihilfen für die Niederlande zu werben, wobei er 1605 auch einen gewissen Erfolg verzeichnen konnte, sondern auch ihren Aufstand gegen Spanien und ihr Eingreifen in Emden bzw. Ostfriesland zu rechtfertigen sowie auf ein breites Bündnis der evangelischen Reichsstände mit anderen protestantischen Mächten hinzuarbeiten18. Die Bedeutung von Brederodes rastlosen Bemühungen um eine engere „Korrespondenz“ unter ___________ 13

Zur Biographie ausführlich Feenstra, ebd.; knappe Hinweise auch bei O. Schutte, Repertorium der Nederlandse Vertegenwoordigers, Residerende in het Buitenland 1584–1810, 's-Gravenhage 1976; 173–175; sowie im Aufsatz des Verfs., Gesandter einer aufständischen Macht. Die ersten Jahre der Mission von Dr. Pieter Cornelisz. Brederode im Reich (1602–09), in: ZHF 30 (2003), 19–52, hier 25ff. – Zum Streit um die Kartause nun ausführlich Friedrich Beiderbeck, Zwischen Religionskrieg, Reichskrise und europäischem Hegemoniekampf. Heinrich IV. von Frankreich und die protestantischen Reichsstände, (Berlin 2005), 268–300. 14 S. die Instruktion (wie Anm. 11). – Zu den Beziehungen der aufständischen Provinzen zum Reich und seinen Ständen grundsätzlich: Johannes Arndt, Das Heilige Römische Reich und die Niederlande 1566 bis 1648. Politisch-konfessionelle Verflechtung und Publizistik im Achtzigjährigen Krieg, Köln/Weimar/Wien 1998. 15 Brederodes letzte Depesche aus Heidelberg datiert vom 28. September 1621; vom 4. Oktober bis 24. November 1621 schickte er seine Berichte aus Mühlburg (heute Karlsruhe) bzw. Durlach, ab 5. Dezember 1621 aus Straßburg: Resolutiën der Staten Generaal N.R. Bd. 5, bearb. von J. Roelevink, 's-Gravenhage 1983, 288, 300, 360, 365. Damit sei die ungenaue Angabe in dem Anm. 12 zit. Aufsatz des Verf., 20, präzisiert und die etwas unglückliche, eBd. 46 vor Anm. 124, richtiggestellt. 16 R. Feenstra, Brederode (Anm. 6), 441 mit Anm. 109–113. 17 Die Leichenpredigt Zwingers, abgedruckt bei Feenstra, ebd., 447–449, hier: 449; zu Zwinger s. Erich Wenneker, Zwinger, Theodor, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon Bd. XXI, Nordhausen 2003, Sp. 1599f. 18 So die Instruktion vom 17. Oktober 1602 (wie oben Anm. 11), vgl. Sibeth, Gesandter (Anm. 13), 34f.

Der „Friede“ als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln

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den evangelischen Reichsständen und schließlich für die Gründung der Union 1608 wäre noch genauer auszuloten, seine Charakterisierung als „spiritual father“19 der sog. Korrespondierenden dürfte aber wohl zu weit gehen. Mit Graf Johann VI. von Nassau-Dillenburg, dem jüngeren Bruder Wilhelms von Oranien, an den sich Brederodes auftragsgemäß zunächst wandte, hatte er aber sowohl den Architekten der nassauischen Unionspolitik wie auch einen intimen Kenner der politischen Kräfteverhältnisse im Reich zum Partner20, mit dem er seine Schritte, wie aus seinen Berichten an die Generalstaaten ersichtlich, offenbar von Beginn seiner Mission an bis zu dessen Tod (1606) eng absprach21. Den in der Instruktion genannten Auftrag, den Aufstand der Niederlande gegen Spanien und ihr Eingreifen in Emden bzw. Ostfriesland zu rechtfertigen, suchte er in Wort und Schrift zu erfüllen, indem er je nach gebotenem Anlaß Deduktionen und Rechtfertigungsschriften verfaßte, die – von seinen beiden Sekretären immer wieder handschriftlich vervielfältigt – bei seinen Besuchen an diversen Fürstenhöfen übergeben und oft in informellen Gesprächen mit dortigen Räten diskutiert wurden22. Manche dieser Abhandlungen brachte Brederode auch anonym oder unter Pseudonym zum Druck23. Die Wirkung solcher Publikationen ist freilich kaum näher zu bestimmen24. Dabei handelte es sich einerseits um Rechtfertigungsschriften angesichts der um 1600 auf Reichstagen wiederholt gegen die Niederlande erhobenen Vorwürfe wegen ihrer militärischen Präsenz an Niederrhein und Mosel sowie ihres ___________ 19

Jan den Tex, Oldenbarnevelt, Bd. 1 Cambridge 1973, 348. Zu diesem grundlegend Gerhard Menk, „Qui trop embrasse, peu estreind“. Politik und Persönlichkeit Graf Johanns VI. von Nassau-Dillenburg 1580–1606, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 7 (1981), 119–157, passim. S. auch Georg Schmidt, Der Wetterauer Grafenverein, Marburg 1989, 288ff., 347f., 355f. 21 Sibeth, Gesandter (Anm. 13), 28ff. 22 Ebd., 31ff., 39. – Vgl. auch Heinz Schilling, Johannes Althusius und die Konfessionalisierung der Außenpolitik – oder: Warum gibt es in der Politica keine Theorie der internationalen Beziehungen?, in: Frederick S. Carney, Heinz Schilling und Dieter Wyduckel (Hrsg.), Jurisprudenz, Politische Theorie und Politische Theologie, Berlin 2004, 47–69, 49ff., 59f. 23 Hierauf hat Gerhard Menk wiederholt hingewiesen, s. etwa ders., „Qui trop embrasse „ (Anm. 20), v.a. 131 mit Anm. 38 und 145f.; ders., Zwischen Westeuropa und dem Heiligen Römischen Reich: Das Leben und die politische Theorie des Johannes Althusius, in: Hajo van Lengen (Hrsg.), Die „Emder Revolution“ von 1595, Aurich 1995, 49–94, hier: 83 Anm. 152; und ders., Ein Regent zwischen dem Streben nach politischer Größe und wissenschaftlicher Beherrschung des Politischen, in: Ders. (Hrsg.), Landgraf Moritz der Gelehrte, Marburg 2000, 7–78, hier 20f.; zuletzt auch ders., Johannes Althusius und das Profil des frühneuzeitlichen Juristen, in: Carney, Schilling, Wyduckel, Jurisprudenz (vorige Anm.), 319–346, 340f. 24 Vgl. allgemein Olaf Mörke, Pamphlet und Propaganda. Politische Kommunikation und technische Innovation in Westeuropa in der Frühen Neuzeit, in: Michael North (Hrsg.), Kommunikationsrevolutionen, Köln/Weimar /Wien 1995, 15–32. 20

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Eingreifens in die Auseinandersetzungen zwischen Emden und den Grafen von Ostfriesland25. So hat Brederode etwa bereits im Frühjahr 1603, um der durch (aus seiner Sicht) falsche und parteiische Berichte provozierten Erregung des Kaisers und anderer Reichsstände zu begegnen, eine Deduktion verfaßt, wie er anläßlich der Übersendung derselben dem kurpfälzischen Reichstagsgesandten Fabian von Dohna am 11. April 1603 schrieb. Diese neunseitige Rechtfertigungsschrift sollte die Gründe darlegen, durch welche die Generalstände der verbündeten Provinzen der Niederlande gezwungen wurden, Emden Hilfe zu leisten. Sie sollte von Dohna mit ausreichenden Argumenten versorgen, eine für die Niederlande nachteilige Entschließung abzuwenden26. Im Herbst 1603 will Brederode auf Rat Graf Johanns VI. eine Schrift in lateinischer Sprache über die römischen und spanischen Absichten gegenüber dem Reich und speziell im Norden zum Druck gebracht haben27. Sehr wahrscheinlich stammen auch zwei weitere anonym erschienene Verteidigungsschriften zu diesem Themenbereich von Brederode – die „Foederatorum inferioris Germaniae defensio secunda contra calumniam de invasis et usurpatis in imperium“ (o.O. 1608, 84 S.) sowie die „Foederatorum inferioris Germaniae defensio tertia contra calumniam pacis perturbatae et penitus rejecta“ (o.O. 1608, 104 S.)28. Dafür spricht nicht nur, daß diese Themen für ihn absolut einschlägig waren; vielmehr geht aus seiner Korrespondenz mit den Generalstaaten hervor, daß er im Mai 1606 mit Blick auf den bevorstehenden Reichstag ei___________ 25 J. Arndt, Reich (Anm. 14), 80ff.; Jonathan Israel, Der niederländisch-spanische Krieg und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation (1568–1648), in: Bußmann/ Schilling, 1648 (Anm. 4), 111–122; Stefan Ehrenpreis (Hrsg.), Der Dreißigjährige Krieg im Herzogtum Berg und in seinen Nachbarregionen, Neustadt a.d.Aisch 2002; Mathias Schmoeckel, Zwischen Idealstaat und Realpolitik: Machiavellismus in Ostfriesland um 1600, in: Carney, Schilling, Wyduckel, Jurisprudenz (Anm. 22), 463–525, hier: 463– 473. 26 „Causarum conject[i]o, quibus Illustres ac potentes Domini ordines Generales foederatarum Prouinciarum Belgiae moti et coacti, urbi Emdanae ac senatus eiusdem preces instantissimas auxilium permiserunt …“; Kopien des Schreibens an von Dohna (Frankfurt, 11.04.1603) und der Deduktion in: ARA SG Lias Duitsland 6016 I. Zu den Verhandlungen auf dem Reichstag 1603, s. J. Arndt, Reich (Anm. 14), 81f. 27 Kopien des Schreibens Hanau, 22. September 1603, eBd. – Diese Druckschrift, von welcher Brederode einige Exemplare seinem Bericht beilegen wollte, konnte vom Verf. bisher nicht nachgewiesen werden. 28 Interessanterweise finden sich in einem Band, der ursprünglich aus der Bibliothek des württembergischen Oberrats stammt, diese beiden „Defensiones“ mit der „Repraesentatio pacis generalis“ zusammengebunden (Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Signatur: Kirch.-G. 8° 5963). Natürlich könnte das auch eine Art Buchbindersynthese sein – die ziemlich einheitliche Bindung zahlreicher Bände der Oberratsbibliothek (Pergamentbände, Goldprägung der vorderen Buchdeckels: „Ƈ OBER Ƈ RATH Ƈ“) dürfte in diesem Fall erst Ende des 17. Jahrhundert erfolgt sein (freundlicher Hinweis von Herrn Dr. Eberhard Zwinck, Württ. Landesbibliothek) – wahrscheinlicher erscheint aber angesichts des folgenden, daß diese drei Schriften bewußt zusammengebunden wurden, da sie demselben Autor zugeschrieben wurden.

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ne Schrift zur Verteidigung der Niederlande bereits fertiggestellt und eine weitere zusammen mit vertrauten Freunden konzipiert hatte. Deren Rat zufolge sollten diese Schriften gedruckt und an die evangelischen Reichsstände verteilt werden29. Daneben war vor allem in den ersten Jahren seiner Mission ein weiterer Themenkreis Gegenstand mehrerer „Discourse“ Brederodes, nämlich die Frage eines möglichen Friedensschlusses der aufständischen Provinzen mit Spanien30. Dabei fällt auf, und dies kann durchaus als Indiz für die Frage der Verfasserschaft gewertet werden, daß dasselbe Bibelzitat, das der „Repraesentatio“ als Devise voransteht, auch seinen „Discours sur certaines ouvertures de paix faictes pour appaiser les troubles du pais bas …“ schmückt, der sich handschriftlich in den Akten Graf Johanns VI. von Nassau-Dillenburg findet31. In der Frage selbst hat Brederode stets die Position eingenommen, daß ein Friede mit Spanien eo ipso unmöglich sei. Dies entsprach der niederländischen Grundüberzeugung, wie sie wenige Jahre zuvor, 1598, von den Generalstaaten zum Ausdruck gebracht wurde: „Spanien kämpft um die Weltherrschaft im Zeichen der römischen Religion“32. Und auf diese Perzeption der „hoverdige[n] heerschappie ende ingebeelde[n] monarchie ofte generale tyrannie der Spanjarden“ war Brederode auch bereits in seiner Instruktion explizit festgelegt worden33. ___________ 29

ARA SG Lias Duitsland 6016 I, Hanau, 22. Mai 1606; die Generalstaaten haben dieses Schreiben am 1. Juni 1606 beraten und positiv aufgenommen: Resolutiën der Staten Generaal, Bd. 13 , bearb. v. H.H.P. Rijperman, 's-Gravenhage 1957, S. 627. – In dem Bericht sind zwei weitere von Brederode verfaßte Rechtfertigungsschriften erwähnt, zum einen gegen Vorwürfe wegen Kontakten zur Pforte, zum andern zum Stand der Friedenverhandlungen mit Spanien. 30 Vgl. den „Diskurs über den Frieden zwischen dem Erzherzog und den Vereinigten Provinzen“ (Okt. 1603), in: G. Groen van Prinsterer (Hrsg.), Archives ou correspondance inédite de la Maison d'Orange-Nassau, 2. Serie, Bd. 2 (1600–1625), Utrecht 1858, 232ff., Nr. 309 a; sowie die „Antwort auf den Friedensbrief des Grafen Wolfgang v.Hohenlohe“: EBd. 240ff., Nr. 309 b; ferner die wohl von Brederode um 1607 verfaßten, aber erst 1869 im Druck erschienenen Considérations d'estat sur le traicté de la paix avec les sérénissimes Archiducz d'Austriche, hrsg. v. Charles Rahlenbeck, Brüssel 1869. 31 Eingebunden in einen Band „Schreiben von P. Brederode, 1603“, in: Koninklijk Huisarchief Den Haag Bestand A3: Archiv Johanns VI. von Nassau-Dillenburg Nr. 893. Dabei handelte es sich um einen Text im Umfang von engbeschriebenen 61 Seiten, franz.; das Bibelzitat: Jer 8, 11: „paix, paix, et il ny avoit oint de paix“. Dazu Weiteres im Folgenden. 32 Zit. n. Arie Th. van Deursen, Moritz, in: Coenraad Tamse (Hrsg.), Nassau und Oranien. Statthalter und Könige der Niederlande, Göttingen, Zürich (1985), 85–110, 100. Zum Niederschlag im niederländischen Selbstverständnis s. G. Groenhuis, Calvinism and National Consciousness: the Dutch Republic as the New Israel, in: A.C. Duke und C.A. Tamse (Hrsg.), Britain and the Netherlands VII: Church and State since the Reformation, Den Haag 1981, 118–133, hier: 119, 122, 126 u.ö. 33 So die Instruktion für Brederode vom 17. Oktober 1602 (Anm. 11); im Auszug auch bei H. Schilling, Althusius (Anm. 22), 49f. – Zur Bedeutung der „Schwarzen Le-

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Die Frage eines Friedensschlusses war für Brederode aber auch aus einem anderen Grund problematisch: Nach den durch päpstliche Vermittlung34 zustandegekommenen Verträgen von Vervins (2. Mai 1598) und Lyon (17. Januar 1601) mit Heinrich IV. und angesichts des sich abzeichnenden Friedenschlusses mit England (1604) konnte Spanien den Krieg nicht nur in den Niederlanden intensivieren. Spaniens militärisch starke Position am Niederrhein übte vielmehr auch Druck auf die Protestanten im Reich aus35. Brederode begründete darum auch bei seinem Werben um Subsidien deren Höhe unter anderem mit dem Argument, die Generalstaaten verteidigten nicht nur sich selbst, sondern stellvertretend alle Evangelischen36. Für diese Argumentation wäre der Abschluß eines Friedensvertrages in den Niederlanden freilich kontraproduktiv gewesen. Darum mußte wohl die Alternativlosigkeit des Kampfes um Selbstbehauptung gegen Spanien immer wieder betont werden. Von einem „discours“ gegen den Frieden ist explizit die Rede im Bericht Brederodes vom 22. September 1603: Graf Johann VI. erachte die von Brederode verfaßten Schriften als wohl gegründet und empfehle, daß speziell sein „discours tegens den vreeden“ ins Lateinische übersetzt werden und „impersonaliter“ im Druck erscheinen sollte37. In einem weiteren Schreiben berichtet er, daß er die Veröffentlichung seiner lateinischen Schriften in Frankfurt erörtert habe38. Allem Anschein nach verzögerte sich aber die Drucklegung. Die „Repraesentatio pacis generalis inter orbis Christiani reges, principes et status, pontificum & sedis Romanae sollicitudine procuratae“ – eine Abhandlung also über einen Generalfrieden zwischen den Königen, Fürsten und Ständen des christlichen Erdkreises, der durch die Bemühungen von Päpsten und dem Römischen Stuhl zustandekommen soll – wurde zuerst 1607, dann 1608 auf zunächst 147 Druckseiten in Oktav und erneut 1609 in einer ebenfalls in Oktav, aber auf 194 Seiten vermehrten und ergänzten Auflage herausgegeben. Vermutlich als publizistisches Stör- oder Begleitfeuer zu den in Münster und ___________ gende“ in der niederländischen Pamphletistik s. J. Arndt, Reich (Anm. 14), 254ff. und 292 zu ihrer Funktion als protestantischer „Integrationsideologie“. 34 K. Jaitner, Päpste (wie Anm. 4), passim. 35 Zum überaus spannenden macht- und bündnispolitischen Geschehen dieser Jahre Heinz Schilling, Aufbruch und Krise [Berlin 1988], 397ff., sowie Volker Press, Kriege und Krisen, München 1991, 163 ff, 176ff. – ferner zur Lage am Niederrhein: Jörg Engelbrecht, Der Dreißigjährige Krieg und der Niederrhein, in: Ehrenpreis, Der Dreißigjährige Krieg (Anm. 24), 10–25, sowie Helmut Gabel, Sicherheit und Konfession. Aspekte niederländischer Politik gegenüber Jülich-Berg vor und während des Dreißigjährigen Krieges, in: Ebd., 132–179. 36 Vgl. etwa die Deduktion zur Verteidigung der Niederlande, die Brederode 1604 Herzog Heinrich Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel übergeben hat, Kopie in: ARA SG Lias Duitsland 6016 I (Beilage zum Schreiben [Hanau], 11. Dezember 1604). 37 ARA SG Lias Duitsland 6016 I. 38 Hanau, 24. Dezember 1603, eBd.

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Osnabrück beginnenden Friedensverhandlungen ist ein weiterer Druck 1644 unter dem kaum veränderten Titel „Idea pacis generalis“ und unter explizitem Bezug auf die Ausgabe von 1607 erschienen39. Bezeichnenderweise tragen offenbar mehrere Drucke von 1609 das gewiß nicht ohne Hintersinn ausgesuchte, auf die „Franco Gallia“ des François Hotman anspielenden Pseudonym „Germanus Francus“40. Dieses stellt die „Repraesentatio“ gleichsam in den Kontext zentraler calvinistischer Kampfschriften auf der Wende des 17. Jahrhunderts. Die Verbreitung der Schrift deutet darauf hin, daß sie, wie dies für die 1606 erst als Schema vorliegende Rechtfertigungsschrift empfohlen worden war, entweder an diverse Höfe versandt wurde, oder daß sie primär an ein deutsches Publikum adressiert war: Denn in hiesigen wissenschaftlichen Bibliotheken sind über den Karlsruher Virtuellen Katalog (KVK) mehr als 15 und auch in Großbritannien immerhin sechs Exemplare nachzuweisen, während sich in den Niederlanden nur eines41, in den vergleichbaren digitalen Verbundsystemen der Schweiz, Österreichs und Frankreichs aber kein Exemplar findet. Der früheste Druck von 1607 scheint nur in Mannheim und Marburg42 vorhanden zu sein. Die Kurpfalz und das eben zu dieser Zeit zum Calvinismus übergehende Hessen-Kassel waren zwar für Brederode nach dem Tod Graf Johanns VI. von Nassau-Dillenburg die beiden wichtigsten Anlaufstellen, das Mannheimer Exemplar stammt aber wohl nicht aus ursprünglich kurpfälzischem Besitz, sondern aus einer erst im 18. Jahrhundert aufgebauten jesuitischen Gelehrtenbibliothek43. Am häufigsten finden sich heute Drucke mit Erscheinungsjahr ___________ 39

„Iuxta exemplar excusum 1607“, Duodez 233 S., vorhanden in den wissenschaftlichen Bibliotheken zu Berlin, Wolfenbüttel, Jena, Leipzig, Dresden und Heidelberg; Nachweise (mit Hinweis auf Autorschaft Brederodes) nach VD17 (wie oben Anm. 3) 1:009433L. – Diese Ausgabe wurde bereits herangezogen von Franz Bosbach, Monarchia Universalis. Ein politischer Leitbegriff der frühen Neuzeit, Göttingen 1988, 72, 136, 168. 40 Vgl. unten Anm. 45. – Emil Weller, Lexikon Pseudonymorum, Regensburg ²1888, 207; vgl. Jürgen Dennert (Hrsg.), Beza, Brutus, Hotman. Calvinistische Monarchomachen, Köln/Opladen 1968. 41 Vgl. oben Anm. 7 – Dabei handelt es sich um ein Exemplar der sonst auf 1609 datierten zweiten Auflage („Nunc secundum … revisa, et … adaucta“), als dessen Erscheinungsjahr hier aber „1608“ angeben ist. Als Druckort wird Rostock vermutet, vgl. den Publiekscatalogus der Koninklijke Bibliotheek Den Haag (http://opc4.kb.nl/). 42 Zur Textgrundlage vgl. oben Anm. 3; dieses Marburger Exemplar von 1607 ist eingebunden in einen Band mit der Signatur: XIX d C 1894. – Als außerordentlich hilfreich erwies sich eine Teilübersetzung dieser Schrift, die Sven Mahmens (Aurich) im Rahmen eines an der Humboldt-Universität zu Berlin 1993–95 vom Jubilar geleiteten und vom Verf. durchgeführten Projekt angefertigt hat. Ihm sei auch an dieser Stelle nochmals herzlich gedankt. 43 Die Bibliothek F.J.T. Desbillons SJ, eine universale Gelehrtenbibliothek mit einem Schwerpunkt zur Geschichte des Jesuitenordens; ich danke Frau Molitor, UB Mannheim, für die freundliche Auskunft.

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160844, seltener die ergänzte Ausgabe von 160945. Daß außerhalb des Reiches diese Schrift nur in England und Schottland nennenswerte Verbreitung gefunden zu haben scheint, könnte möglicherweise auch der wiederholten Berücksichtigung britischer Geschichte in dieser Schrift geschuldet sein, könnte aber auch auf einen späteren Austausch im Zusammenhang mit den kulturellen Beziehungen zwischen Kurpfalz und England zurückzuführen sein, die wenige Jahre nach dem Erscheinen der Repraesentatio intensiviert wurden46.

II. Bereits das Titelblatt der „Repraesentatio pacis generalis“ lenkt den Blick auf das zentrale Problem, mit welchem sich auch der eingangs angeführte Respondent in Utrecht beschäftigte: Wie könnte denn ein Friede beschaffen sein, solange die Vereinbarkeit von Heiligem Stuhl und protestantischen Gemeinwesen – oder grundsätzlicher formuliert: der Konfessionen überhaupt – zweifelhaft ist? Nicht nur der formelle Protest gegen die religionsrechtlichen Bestimmungen der Westfälischen Friedenverträge des päpstlichen Diplomaten Fabio Chigi im Mai und Oktober 164847 verdeutlicht die Schwierigkeiten, die absoluten Ansprüche der Religion mit einem kompromißhaften, die religiöse Wahrheitsfrage ausklammernden und insofern eher säkularen Friedensschluß in Einklang zu bringen. Auch die Devise, die im Druck von 1607 das untere Drittel des Titelblatts der „Repraesentatio“ ziert und in späteren Auflagen offenbar auf die Titelblattrückseite rückte48, spricht das grundlegende Problem des Verhältnisses von Politik (bzw. des Friedens als Ergebnis einer entsprechenden Politik) und Religion explizit, wenn auch in einer nicht eben hoffnungsvoll stimmenden Form, an, nämlich in Gestalt eines Zitats von Jer 6, 14 f. (zugleich Jer 8, 11 f.): Die falschen Propheten „trösten mein Volk in seinem Unglück, daß sie es gering achten sollen, und sagen: Friede, Friede und ist doch nicht Frie___________ 44 So in München, Eichstätt, Augsburg, Stuttgart, Trier, Frankfurt, Fulda, Weimar, Erfurt/Gotha, Jena, Leipzig, Wolfenbüttel und Berlin sowie in Cambridge und in der National Library of Scotland. 45 In Jena, Wolfenbüttel und Berlin, ferner in London, Cambridge und wiederum in der National Library of Scotland. – Zu den Druckorten: Die meisten via KVK recherchierbaren Titelnachweise geben „sine loco“ an. Von dieser Ausgabe scheint es einen Nachdruck mit dem fingiertem Druckort „Sumtibus Bonaunturae Elzeuiri: Amsterodami, 1609“ gegeben zu haben, von dem die British Library annimmt, daß er in Genf (?) hergestellt sein könnte. 46 Vgl. hierzu demnächst Magnus Rüde, England und Kurpfalz im werdenden Mächteeuropa (1608–1632). Konfession – Dynastie – kulturelle Ausdrucksformen (erscheint Stuttgart 2007). 47 Heinz Schilling, Höfe und Allianzen, [Berlin 1989], 54f.; K. Jaitner, Päpste (Anm. 4). 48 So im Exemplar der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart (Anm. 27).

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den. Darum, werden sie mit Schanden bestehen, daß sie solche Greuel treiben; … Darum müssen sie fallen auf einen Haufen; und wenn ich sie heimsuchen werde, sollen sie stürzen, spricht der Herr“. Dieses in der Repraesentatio fast leitmotivisch wiederholte Zitat steht beim Propheten im Zusammenhang mit der Verkündung der Verwüstung Jerusalems als Strafe für den Abfall vom Glauben und für die Übung „falschen“ Gottesdienstes. Auf die Thematik der „Repraesentatio“ bezogen läßt dies einen wie auch immer gearteten konfessionellen Ausgleich als unmöglich erscheinen. Deutlich wird außerdem, daß die Behauptung eines Friedens durch falsche Propheten – „PAX, PAX: QUUM NON ESSET PAX“, auf dem Titelblatt des Marburger Exemplars besonders hervorgehoben – gerade zu den Listen der Gegner des Allmächtigen zählt und daß dessen Strafgericht notwendig über jene hereinbricht, die solchen Friedensversprechungen Glauben schenken49. Die Abhandlung selbst gliedert sich in zwölf Kapitel, wobei das erste, über Ziel und Nutzen dieser Darstellung, das Programm auf theoretischer Ebene entfaltet, während die nachfolgenden Kapitel der ausführlichen historischen Veranschaulichung dienen. Wenigstens die ersten Kapitel sollen darum im folgenden etwas ausführlicher referiert werden50. In Kapitel I (S. 3–10) wird als Maßstab politischen Handelns postuliert, daß dieses Gott zur Ehre gereichen und dem Staat nützlich sein soll51, wobei das ewige und das zeitliche Wohl, nicht nur die gegenwärtige, sondern auch die unsterbliche Glückseligkeit52 zu beachten seien. Politik wie auch Politikberatung haben darum stets zwei Horizonten – dem immanenten wie dem religiös-transzendenten – Rechnung zu tragen. Auch für die Abwägung der Annahme oder Zurückweisung eines Generalfriedens sei nicht nur zu reflektieren, was in ihm enthalten ist, sondern auch, ob er vor diesen beiden Horizonten vorteilhaft und nützlich oder schändlich und unglückbringend sein werde53. Eher rhetorischer Art dürfte die als Polybios-Zitat angeführte Frage sein, ob man nicht sehr dumm handle, wenn man von seinen Gegnern eine „bonam pacem atq[ue] concordiam“ ausschlägt. Ein „guter“ Friede wird dadurch charakterisiert, daß er der Pflicht, der Gerechtigkeit und dem Anspruch auf Dauer („in ___________ 49 Nicht abgebildet auf den in den Internetangeboten der Bibliotheken einsehbaren Titelblatt-Images, so etwa VD17 12:108854A, Bild:002 (d.i. Ausgabe der Bayer. Staatsbibliothek München von 1608); VD 17 23:298508P, Bild:002 (d.i. Exemplar der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel von 1609) und VD17 1:009433L, Bild:002 (d.i. Ausgabe der Staatsbibliothek Berlin von 1644). 50 Ein Referat der ganzen Abhandlung würde den Rahmen des vorliegenden Beitrags sprengen. 51 Repraesentatio pacis generalis, 3: „Deo gloriosum, Reip[ublicae] vtile & salutare“. 52 Ebd., 3f.: „in salutis aeternae & temporariae periculum veniat“, „non praesentis tantum, sed & immortalis beatitudinis“. 53 Ebd., 4: “& quibus illa salutaris, vtilis vel damnosa & mortifera futura sit“.

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perpetuum“) genügt. In Wirklichkeit aber – so der Autor pessimistisch – sei der Friede nicht nur Hinterlisten unterworfen, sondern sei geradezu dazu bestimmt, den anderen von Grund auf zu vernichten und auszulöschen54. Verstärkt wird diese friedenskritische Haltung noch durch ein Zitat von Jes [59, 7 f.], das freilich eher der Charakterisierung des Gegners dient, der immerzu Böses plane, nicht vor Blutvergießen zurückscheue, weder den Weg des Friedens noch das Recht kenne und achte. Die Aufgabe sei darum, die Absichten jener zu erkennen, die solches mit List und Tücke oder offen55 ins Werk zu setzen trachten, wofür wiederum Zitate von Polybios, Maecenas und Tacitus effektvoll ins Feld geführt werden. Dabei – und hier kommt die Geschichte als Mittel der Erkenntnis ins Spiel – sei, wie die göttliche Weisheit („ex fructibus eorum cognoscetis eos“) lehrt, vor allem auf die Taten abzustellen. Denn wer das nur zum Schein Vorgegebene nicht vom Wahren zu unterscheiden vermag, werde hintergangen und zerstört. Ziele und Zwecke jener, die diesen Frieden „apud omnes orbis Christani Reges, Principes & Status“ zu bewerkstelligen trachten, wie auch deren eingesetzte Mittel gelte es darum möglichst sorgfältig zu erforschen und zu erkennen56. Und wenn dann deutlich werde, daß dieser Friede überhaupt niemandem nützlich sein kann, könne es nicht zweifelhaft sein, daß er freudigen Mutes und entschlossener Hand niederzureißen sei57. Diese Entschiedenheit speist sich aus der Überzeugung, daß in diesem Leben „cum lege Dei & naturae“, wenn man außer der weltlichen auch die ewige Glückseligkeit genießen will58, die Gottes- und die Nächstenliebe ausschlaggebend seien. Andernfalls, wenn man den Menschen zum Gefallen Gott mißachte, errege man nicht nur dessen Zorn und Strafe, sondern büße auch die zeitliche wie die ewige Glückseligkeit ein. Dieser Gesichtspunkt ist dem Autor so wichtig, daß er ihn gleich nochmals aufgreift: Da kein Mensch, kein Sterblicher („nemo mortalium“) so mächtig sei, daß er das ewige wie das zeitliche Leben und Glück gewähren kann, sei dieser Ewige in all seiner Macht, Fülle, Güte und Erbarmen allein nach seinem Willen zu verehren, womit der Autor implizit die Devise des Titelblatts wieder aufnimmt. Lieber müsse man den Tod in Kauf nehmen, als auch nur ein Fingerbreit hiervon abzuweichen – Ausdruck jener

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Ebd. 4f.: „vero pacem non tantum insidiis obnoxiam, sed in id certissimo destinata[m] esse videamus, vt altera pars stirpitus excindatur, deleaturq[ue]“. 55 Ebd., 6: „vel in co[n]siliis, seu astu, vel in vi aperta seu publica“. 56 Ebd., 7f. 57 Ebd., 8f. 58 Ebd., 8: „si cum temporanea, etiam aeterna felicitate frui velimus“.

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kompromißlosen Glaubensgewißheit und Frömmigkeit, die dem militanten Calvinismus eigen war59. Kapitel I schließt mit einem Prospekt auf den weiteren Gang der Abhandlung60: Um Natur und Zweck dieses Generalfriedens wirksam vor Augen zu stellen – ob es ein Werk Gottes sei und den Menschen nützt –, werde er zunächst „scopum, leges, mores & artes“ des alten Römischen Reiches im Frieden darstellen, sodann die entsprechenden Praktiken der Päpste und des Römischen Stuhls darlegen, so daß die Ähnlichkeit der Machenschaften und Betrügereien zutage trete. Aus deren Vergleich mit dem wahren Frieden – „ex earum & verae pacis comparatione“61 – möge man erkennen, was zuträglicher und nützlicher sei. Kapitel II (S. 10–13) wendet sich dann den Absichten und Techniken des Imperium Romanum gegenüber allen anderen Reichen des Universums zu, wobei das Hauptaugenmerk auf die Unterscheidung von friedlichen und kriegerischen Mitteln gelegt werden soll. Ausführlich wird die geradezu klassische Darstellung der Ideologie der Pax Romana durch Tacitus62 wiedergegeben, der diese aus der Perspektive von Völkern schildert, die sich von Unterwerfung durch die Römer bedroht sehen. Da dies bei Tacitus am Beispiel der Briten geschieht, kann der Autor eine Verbindung zur Gegenwart herstellen: Wie derzeit auch habe seinerzeit Rom Britannien unter seine Herrschaft zu bringen versucht. Breiten Raum nimmt dabei die Rede des Briten Calgacus ein, der die „superbia“ und die Gier Roms, die weder Orient noch Okzident befriedigen könnten, sowie das Joch der Sklaverei und die Ausbeutung schildert63. Dies sei, so der Autor, die alte Bestimmung Roms und des römischen Volkes in der ganzen Welt, und bezeugt werde dies von Tacitus – unter den römischen Schriftstellern „verissimo & excellentiss[imo]“64. Die, wie es in der Randnote heißt, Tricks und Mittel, mit denen die alte römische Tyrannis gegen die übrige Welt vorging, bestehen demnach65 darin, daß indigene Eliten zunächst gefördert, an die römische Zivilisation herangeführt und an das römische Wohlleben gewöhnt, daß Tempel, Foren und Häuser erbaut werden, Galerien, Bäder und Gastmähler Verbreitung finden, die Menschen verweichlicht und die Fürsten___________ 59 Ebd., 9. – Konzis charakterisiert von Robert M. Kingdon, Der internationale Calvinismus und der Dreißigjährige Krieg, in: Bußmann/Schilling, 1648 (Anm. 4), 229– 235. 60 Repraesentatio pacis generalis, 9f. 61 EBd. 10, Hervorhebung in der Vorlage. 62 Tacitus, Agricola 31–33; vgl. Publius Cornelius Tacitus, Agricola. Lateinisch und deutsch. Übersetzt, erläutert und hrsg. von Robert Feger, Stuttgart 1973, S. 44–49. 63 Repraesentatio pacis generalis, 10. – Vorlage irrtümlich: „Gagalcus“. 64 Ebd., 11. 65 Agricola 21.

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söhne romanisiert werden – das alles unter dem Etikett der „humanitas“, obwohl es in Wirklichkeit Teil einer Versklavung („pars … servitutis“) sei. Die Schlußfolgerung lautet entsprechend: Weniger mit Waffengewalt als mit Friedenstricks habe Rom fremde Reiche erworben66. Die in Vergils Aeneis durch Anchises verkündete Ideologie, den Römern „komme es zu, die Völker der Erde gebieterisch zu lenken, eine Friedensordnung zu errichten und über sie mit Milde und Strenge zu wachen“67, weitere Zitate von Tacitus über Augustus, über Tiberius und dessen Erfolge in Germanien sowie nochmals aus der Vita Iulii Agricolae des Tacitus68 untermauern die These, die schließlich als Fazit nochmals zusammengefaßt wird, daß die Römer mit den Frieden, die sie anderen anboten, ein beständiges Ziel verfolgt hätten und daß Rom durch Frieden stets mehr erreicht habe als durch Krieg: „Pace enim plus semper profecit Româ, quam bello“69. Kapitel III (S. 13–24) wendet sich sodann den „arcana Pontificum & Sedis Romanae iura“ und deren Absichten „ad vsurpandam ac renouandam Catholicam in vniuersum orbem tyrannidem“70 zu. Spätestens ab hier wird das Buch zu einer Streitschrift, die von klaren Feindbildern ausgehend in harten Worten und Wertungen eine geschlossene Geschichtskonstruktion im Sinne einer Verfolgungsgeschichte des Protestantismus in Europa im 16. Jahrhundert liefert und die päpstliche Friedenspolitik in unmittelbare Kontinuität mit der Pax Romana stellt. Charakteristisch seien etwa folgende, hier nur summarisch referierte Aspekte genannt, so der Anspruch, daß der ganze Erdkreis ihrem Besitzrecht unterworfen sei; daß Nutzen und Maiestas der Römischen Kirche „supremam esse legem“71; daß kein Fürst oder König vom Papst „creatus“ oder auch nur „co[n]firmatus“ werde, er habe ihm nicht zuvor „absolutam oboedientiam“ geschworen; daß die „Iura belli & pacis“ nicht zur Disposition der einzelnen Könige, sondern allein zu der des Papstes als des höchsten Richters72 stünden; daß Könige wie Untertanen dem Papst in weltlichen wie in geistlichen Dingen Gehorsam schuldig seien; daß, wer anders handle, als Rebell friedlich oder gewaltsam – hübsch: „arte vel Marte“– zur Folgsamkeit zu bringen sei; daß „ipso iure nulla“ oder zu annullieren sei, was von „ministris seu vasallis“ gehandelt, versprochen oder beschworen worden ist oder werde, wenn es nicht dem Nut___________ 66

Repraesentatio pacis generalis, 12: „non tam armorum vi, quam pacis artibus ad aucupanda aliena regna“. 67 Aen. 6, 851–853; Übersetzung nach Heinz Bellen, Grundzüge der römischen Geschichte, Teil 1, Darmstadt ²1995, 4. 68 Repraesentatio pacis generalis, 12f. 69 Ebd., 13. 70 Ebd. 71 Ebd., 14. 72 Ebd.: „summi … arbitri & judicis“.

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zen und dem Ruhm der Römischen Kirche diene73. Die „Maiestas“ der Könige, Fürsten und Magistrate werde durch diese Bindungen und Abhängigkeiten nicht nur geschwächt, sondern vollends zerstört, die des Papstes hingegen gestärkt. Während jene selbst bei Verbrechen kein Recht hätten, Geistliche zu belangen, käme dem Papst und den Jesuiten gar das „ius vitae“ gegenüber „ungehorsamen“ Königen zu74! Aber nicht nur die Stellung der weltlichen Gewalten unter der Oberherrschaft des Papstes und dessen Anspruch auf Annullierung von Verträgen, die mit den Vorstellungen der Kirche nicht vereinbar seien, sondern auch die Position des Herrschers gegenüber den Untertanen sei prekär: Durch Predigt und Ohrenbeichte entzögen ihnen die Jesuiten die Liebe der Untertanen! Diese gründeten „Gymnasia, Collegia, & Monasteria“ als „Colonias Sedis Romanae authoritate“, sie entfremdeten den Eltern die Kinder und brächten die Schüler zu absolutem Gehorsam gegenüber der Kirche. Die Jesuiten seien die Janitscharen des Papstes, „Pontificis Ianitsarii“, der Mißbrauch von Gift oder der Meuchelmord sei ihnen gestattet75. Gegen häretische Herrscher sei durch Aufstände und Rebellionen, mit Hilfe von Bewaffneten und hilfsweise Advokaten (!), Janitscharen und jesuitischen Meuchelmördern76 vorzugehen. Mächtige und mutige Fürsten sollen „à belli studio“ abgehalten, zur Süße der Muße und anderen Lastern verführt, ihre Finanzen für Glanz, Paläste, Parks und Kirchen verschwendet werden, damit sie sich nicht gegen die wachsende Tyrannis Roms77 zu erheben vermögen. Könige seien ihrer Fürsten und Vornehmsten zu berauben, indem diese mit Aufträgen vom Hof entfernt und mit allerhand Beschwernissen etc. belastet werden. Ohne deren Unterstützung könnten nämlich jene um so leichter in die Knechtschaft geführt werden. Auch seien weder Generalnoch Spezialständeversammlungen, durch die die „absoluta potestas frenetur“ gebändigt werde, zu gestatten, es sei denn, sie dienten der Bekräftigung der Einheit der Heiligen Liga. Wenn nämlich die Großen des Reiches und die Stände geschwächt und überwunden seien, werde man das Volk, nun führungslos, um so leichter im Gehorsam der Kirche halten können78. Danach werde die Zerstörung der festesten Bollwerke und Burgen nicht schwierig sein, so daß den Ständen nichts mehr „ad libertatis defensionem“79 verbleibe. Sobald auch diese letzten Hindernisse beseitigt seien – nach Abschaffung der Religions___________ 73

EBd., 15. EBd., 15f. 75 Ebd., 16. 76 Ebd., 18: „Ianitsariis & sicariis Iesuitis“. 77 EBd., 19: „ad crescentem Sedis tyrannidem“. 78 Ebd., 18–20. 79 Ebd., 20. 74

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wahrheit und bürgerlicher Freiheit80 – könne die universale Herrschaft und der Aberglaube der Römischen Kirche „per Regna aliena firmiter stabiliri“. Dann werde auf ewig bei Lebensgefahr untersagt, über die Religion zu diskutieren oder von Freiheit zu sprechen: „in aeternum de religione disputandi aut loquendi libertate, sub vitae periculo“81. Diese die Verfassung von Staat (Maiestas des Fürsten), Politik (Stände) und Gesellschaft (bürgerliche Freiheit) einbeziehende Analyse wird anschließend durch eine ausführliche und mit starken Strichen gezeichnete Schilderung der Schreckensherrschaft der römischen Sklaverei82 veranschaulicht. Die abschließende Bewertung dieser „leges & mores“ der Päpste, wie sie nicht nur aus den „Arcana … Imperii“, sondern auch aus den „publica … facta“ gegen diverse Reiche in der Vergangenheit zu erkennen seien, lautet, wie Basilisken und Nattern hätten sie seit langem „contra Maiestate[m], dignitate[m], & libertate[m] Imperatoru[m], Regu[m] & Principu[m]“83 unendliche Machenschaften unternommen. Ihr Hochmut („superbia“) sei noch größer als der türkische84. Bemerkenswerterweise wird abschließend in Gestalt einer rhetorischen Frage das Verhältnis von Krongewalt und Ständen aufgegriffen: Ob etwa hierzu von Königen und Fürsten „Imperium & absolutam … potestatem“ zu mehren sei85? Sei das nicht das Gleiche, Bacchanten in absoluten und vollkommensten Wahnsinn zu treiben? Mit anderen Worten: Vergrößert die Steigerung der Krongewalt – wie sie etwa während der Religionskriege in Frankreich von den „Politique“ mit dem Ziel favorisiert wurde, der Krone eine Autorität jenseits der Religionsparteien zu verschaffen, und wie sie auch im Bodinschen Souveränitätsdenken zum Ausdruck kommt86 – nicht die Gefahr statt sie zu bannen? Einige Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit sollen in Kapitel IV (S. 24–32) die Tyrannis des Papstes illustrieren, wobei auf Briefe aus dem Kontext der Kaiserwahl von 1517 Bezug genommen und dabei ein Widerspruch gegen die Goldenen Bulle konstruiert wird; auch Äußerungen des „optimus & religiosissimus Imperator“87 Maximilian II. zur Lage in Frankreich während der Religionskriege dienen der Illustration, wer dort in Wirklichkeit das Sagen gehabt ___________ 80

Ebd., 21: „religionis veritate, ciuiliq[ue] libertate“. Ebd. 82 Ebd., 21–23. – Da sonst (wie zuvor auf S. 20) Zitate kursiv abgesetzt und in der Randnote belegt werden, müßte diese Schilderung wegen der Kursive wohl ebenfalls ein (aber nicht ausgewiesenes) Zitat sein. 83 Ebd., 23. 84 Ebd., 24. 85 EBd. 86 Udo Bermbach, Widerstandsrecht, Souveränität, Kirche und Staat: Frankreich und Spanien im 16. Jahrhundert, in: Iring Fetscher/Herfried Münkler (Hrsg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 3 München, Zürich 1985, 129ff., 134ff. 87 Repraesentatio pacis generalis, 26. 81

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habe. Mit den von Päpsten vermittelten Friedensschlüssen und Bündnissen der Könige von Spanien und Frankreich untereinander und derselben mit anderen vor allem während der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts befaßt sich das ebenfalls eher kurze Kapitel V (S. 33–37). Willkommene Belege für seine Thesen, daß das zentrale Motiv und das konstante Ziel der Politik Roms die Auslöschung der Häretiker sei, entnimmt der Autor gerade diesen Friedensschlüssen, etwa dem von Madrid von 1525 zwischen Karl V. und Franz I., der zur gegenseitigen Hilfe gegen die Türken und gegen die „pestifera secta Lutherana“88 verpflichtet habe, oder auch dem Frieden von Cambrai (1529), der dank der Bemühungen des Kardinals Salviati ähnliche Bestimmungen enthalte. Sogar das Treffen von Marseille 1533, bei welchem Clemens VII. beschlossen habe, seine Nichte Katharina von Medici Heinrich II. zur Frau zu geben, habe dem Ziel der Auslöschung der Evangelischen gedient, was durch die vielen Morde in Frankreich später bestätigt worden sei89. Das umfangreiche Kapitel VI (S. 37–68) führt das Thema mit Hinweisen auf die Frieden von Nizza (1538) und vor allem Crépy (1544) weiter, wobei die Bestimmungen der geheimen Zusatzartikel zu letzterem, die Franz I. zu bewaffneter Hilfe nicht nur gegen die Türken, sondern auch gegen die Protestanten im Reich verpflichteten, vorgestellt werden90. Weiter handelt es ausführlich vom Schmalkaldischen Krieg und seiner Vorgeschichte auf Grundlage umfangreicher, mitunter seitenlanger Zitate91 aus der grundlegenden Reformationsgeschichte des Johannes Sleidanus92. Die europäische Perspektive dominiert dann die folgenden, mit jeweils 7 Seiten eher knappen Abschnitte: Kapitel VII (S. 68–75) berichtet von weiteren Verfolgungen der Evangelischen in Deutschland, England, Spanien, Frankreich, Britannien und den Niederlanden, vom Krieg zwischen dem Kaiser und Heinrich II. von Frankreich und von der Gewinnung des „Friedens“; Kapitel VIII (S. 75–82) berichtet von der Einführung ___________ 88

Ebd., 35–37. Ebd., 37. 90 Ebd., 37f.; dabei wird zum einen Bezug genommen auf die im 3. Teil des Thesaurus Politicus, Tournon (Ardèche) 1605, auf italienisch erschienenen Akten des Friedens von Nizza; zum andern auf die Darstellung der Verträge von Crépy bei Bodin, in Buch 5 Kap. 6 seiner Six Livres: „Über die Festigkeit von Bündnissen und Verträgen zwischen Fürsten“: Jean Bodin, Sechs Bücher über den Staat. Buch IV-VI, hrsg. von P.C. Mayer-Tasch, München (1986), 259–305, hier: 276. Vgl. ferner Adolf Hasenclever, Die Geheimartikel zum Frieden von Crépy, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 45 (1927), 418–426, 424f. 91 Etwa Repraesentatio pacis generalis, 43ff. oder auch 51–59. 92 Johannes Sleidanus, De statu religionis et rei publicae Carolo V caesare commentariorum libri XXVI (Straßburg 1555). Belege werden unterschiedlich gegeben, entweder wie auf S. 35 im Text „Iohannes Sleidanus VI. Commentariorum suorum de Pace Madricii … testatur …“ oder einfach bei fortlaufenden Zitaten „Vide Sleid. fol. 331“ (S. 37) oder in der Randnote abgekürzt, etwa in der Form „Sleid.libr.16.Commentariorum fol. 451.“ (so etwa S. 39). 89

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der „römisch-spanischen Inquisition“ in Spanien, Frankreich und den Niederlanden und Kapitel IX (S. 82–89) vom Konzil von Trient und seinen Folgen, über die französischen „Fleischbänke“ und das (angebliche) Bündnis von Bayonne, dem Treffen der Regentin Katharina von Medici mit dem Herzog von Alba und spanischen Emissären 156593. Neben dem sechsten, der Reformationszeit in Deutschland gewidmeten, Kapitel ist mit 34 Druckseiten schon vom Umfang her Kapitel X (S. 89–123) – die „narratio verissima & lucidissima“ über den Beginn des niederländischen Krieges, die Fortsetzung der Religionskriege in Frankreich und insbesondere über die Bartholomäusnacht, die abscheulichste Pariser Fleischbank („de laniena Parisiensi abominatissima“) – gleichsam das zweite Hauptkapitel der Abhandlung. Die diversen Friedensschlüsse, die die Religionskriege in Frankreich immer wieder mehr oder weniger kurz unterbrachen, etwa von Longjumeau (1568) und Saint-Germain (1570)94, werden als Paradebeispiele für eine Pax Romana vorgestellt, die nur auf die arglistige Täuschung der Gegner abzielt, weshalb der Autor bündig feststellt: „vt pax illa non pax“95. Dementsprechend breiten Raum nimmt die Vorgeschichte der Bartholomäusnacht, der Plan der flandrischen Expedition und das Attentat auf Admiral Coligny, und schließlich das Gemetzel selbst ein96, und um so prägnanter wird die Botschaft auf den Nenner gebracht: „oh allerliebster Krieg verglichen mit einem derartigen Frieden“97. Erneut wird die Devise des Titelblatts aufgenommen und abgewandelt – „pax pax, et non erat pax“ (Jer 6 und 8) – und auch die bereits in Kapitel II98 angeführte Stelle Jes 59, 6–8 erneut zitiert. Die Schlußfolgerung wird kaum überraschen, „duo axiomata S[edis] Romanae“ lehre dieses Beispiel: Erstens habe Rom immer mehr durch Frieden erreicht als durch Krieg und zweitens seien die „römischen Frieden“ für die Evangelischen meistens bei weitem am gefährlichsten und bluttriefendsten gewesen. Selbst Geschenke der Feinde seien eigennützig und wandelten sich schließlich in blutigstes Gift99. Deutlich knapper werden in Kapitel XI (S. 123–137) die Fortsetzung der Religionskriege, die Aktivitäten der Bündnispartner der heiligen Liga und die Hilfen Herzog Johann Casimirs von Pfalz-Zweibrücken, die Erneuerung der ___________ 93 Zur Wahrnehmung und Wirkung dieses angeblichen Bündnisses s. Holger Th. Gräf, Konfession und internationales System. Die Außenpolitik Hessen-Kassels im konfessionellen Zeitalter, Darmstadt, Marburg 1993, 93 f, 98f. 94 Repraesentatio pacis generalis, 90ff. 95 Ebd., 91. 96 Ebd., 92–118. 97 Ebd., 118: „ô bellum bellissimu[m], prae tali pace?, ô crudele & semper apud sapientes prophanissimum Pacis Romanae nomen?“ 98 Ebd., 4f. 99 Ebd., 118f.

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Liga und die Annahme des Konzils von Trient sowie die „Bestrafung“ der Guisen und anderer Verschwörer dargestellt, während das abschließende Kapitel XII (S. 137–147) von Ausgleichsbemühungen zwischen König Heinrich III. von Frankreich und Philipp II. von Spanien handelt, woraus laut Kapitelüberschrift die Absicht der ganzen Verschwörung gegen die Evangelischen und die Engländer klar hervortrete. Hauptquelle ist nun eine (angebliche?) Instruktion Heinrichs III. für seinen zu Philipp entsandten Rat „Fresneus Forgetius“, der einer Entfremdung der beiden Könige nach der Ermordung der Guisen entgegenwirken sollte – ein Text, der seitenlang zitiert und intensiv glossiert wird. Wiederholt wird dabei herausgestellt, daß die Auslöschung und Vernichtung der Häresie das zentrale Motiv beider Herrscher gewesen sei100, daß Heinrich von Philipp dieselbe Unterstützung erbeten habe, die dieser der Liga gewährt habe101, und daß er als Gegenleistung nach Wiedererlangung der vollen Kontrolle in Frankreich seinerseits Philipp bei der Verwirklichung seines gegen England gerichteten Vorhabens unterstützen wollte, mit anderen Worten: daß es diesen Herrschern nicht nur um Auslöschung der Häresie in ihren eigenen Herrschaftsbereichen, sondern auch um die Säuberung Englands und aller anderen Reiche gegangen sei. Bezeichnenderweise wird die Verständigung Heinrichs III. und Heinrichs von Navarra von 1589 nicht erwähnt, die Ermordung Heinrichs III. im selben Jahr durch einen Mönch dagegen als sehr gerechtes Gottesurteil gewertet102. Die Prophezeiung bei Paulus (1 Thess 5, 3), wonach das Strafgericht gerade dann hereinbrechen werde, wenn alles ruhig und friedlich scheint, nimmt erneut explizit das Jeremia-Zitat der Devise des Titelblatts auf und verstärkt die Ermahnung zu Wachsamkeit mit 1 Kor 16, 13. Wer die Bedeutung der Gründe und die Wahrheit der Taten „sine ira & studio“103 abzuwägen verstehe, werde sich aus den präsentierten Verträgen zwischen „päpstlichen“ Königen und Fürsten ein Urteil bilden können. Dies leitet zum Schluß und zur Aufforderung nach Ps 34, 14 über: Meide das Böse, tue Gutes, suche und bewahre den Friede; liebe nur die Wahrheit und den Frieden.

III. Auf den ersten Blick erscheint die „Repraesentatio pacis generalis“ so historisch-wissenschaftlich seriös, daß man sie nicht ohne weiteres als grobschlächtige Streitschrift, als bloßes Pamphlet abtun mag. Zumindest ist das Bemühen ___________ 100

Ebd., 137f., 140 Note b, 141 Note b und c. Ebd., 141–143. 102 Ebd., 145. 103 Ebd., 146f. 101

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um einen wissenschaftlichen Anstrich unverkennbar: Die ausgiebigen Zitate werden vom eigentlichen Text kursiv abgesetzt und ab und zu vorgenommene Einschübe durch eckige Klammern104 kenntlich gemacht. Die Randnoten, die in den Eingangskapiteln meist nur Belegcharakter haben oder den Inhalt eines Absatzes knapp zusammenfassen, weiten sich in den Hauptkapiteln VI und X zu umfangreichen Glossierungen, für die die Randspalte zuweilen nicht mehr ausreicht und die darum nicht selten am Ende der Seite in den eigentlichen Satzspiegel hineinlaufen, so etwa, wenn S. 45 die bei Sleidanus entnommene Schilderung der Vorgeschichte des Schmalkaldischen Krieges mit Cicero so ausführlich kommentiert wird, daß die Randnote mehr als das untere Seitendrittel ausfüllt. Neben antiken Autoren wie Polybios, Cicero105 und Tacitus106 werden zahlreiche Schriftstellen107, aber auch zeitgenössische Autoren wie Luther108, Bodin109, der Historiker Auguste de Thou110, eine „Historia Ecclesiastica Galliae“111, die „Commentarii rerum Belgicarum“ des Bernardino Mendoza112 zitiert, besonders ausgiebig aber vor allem im Kapitel VI über die Reformationszeit in Deutschland auf die bereits erwähnte Reformationsgeschichte von Johannes Sleidan und im Kapitel X über die Geschichte der Religionskriege in Frankreich auf die Inventare von Johannes Serranus (Jean de Serres)113 zurückgegriffen.

___________ 104

Etwa ebd., 50. Ebd., 45: „Cic.4.de Rep.“ 106 Etwa erneut ebd., 48. 107 Ebd., 66: „Macchab.1.cap.1.“; 118: Jer 6 und 8 sowie Jes 59,7, Röm 3,15 und 17; u.ö. 108 Ebd., 38: „Qua de re etiam Lutherus in libello, quem de Magistratu edidit, plura verba facit.“ 109 Ebd., 39. 110 Ebd., 73: „Augustus Thouanus Praeses Parisiensis Historicus excelle[n]tissimus“. 111 Etwa ebd., 82 (u.ö.). 112 Ebd., 93, 106; gemeint sind wohl die Commentaires memorables de Don Bernardin de Mendoce … des guerres de Flandres & Pays Bas depuis l'an 1567 jusques à l'an mil cinq cens soixante & dixsept … avec une sommaire description des Pays Bas; dedié a la noblesse catholique de France, Paris 1591; etliche weitere Auflagen. 113 Repraesentatio pacis generalis, 82ff., 123ff. – Johannes Serranus (Jean de Serres, 1540–1598), Pfarrer zu Orange, Prof. der Theologie in Nîmes, publizierte u.a. ein Inventaire général de l'histoire de France, Paris 1600, das mehrfach ergänzt ( T.2 S. Gervais 1603, T. 3 Genf 1606) und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Eine engl. Ausgabe: A general Inventorie of the History of France: From the Beginning of that Monarchie, vnto the Treatie of Vervins, in the year 1598 erschien in London 1607; eine lat. Ausg.: Inventarium Historiae Francicae …., Frankfurt 1625. – Serres' Mémoires de la III. guerre civile et des derniers trouble de France sous Charles IX. war in einer Übersetzung von Sir Geoffrey Fenton bereits 1570 in London erschienen (ND New York 1970). 105

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Trotz des wissenschaftlichen Anstrichs auf der Ebene des Handwerklichen bleibt freilich festzuhalten, daß die „Repraesentatio pacis generalis“ – das zeigte bereits der kursorische Überblick über ihren Argumentationsgang – nicht nur eine ambitionierte, wenn auch parteiische Geschichtserzählung vom Beginn der Reformation bis an die Wende des 16. Jahrhunderts liefert, sondern vor allem in den Kapiteln zu den Religionskriegen in Frankreich, dem Aufstand der Niederlande und der spanischen Inquisition mehr und mehr zu einer Verfolgungsgeschichte des Protestantismus mutiert. Unverkennbar sind dabei auch didaktische Intentionen: So werden positive wie negative Exempla in den Randnoten besonders hervorgehoben, etwa die „Treue und Wohltätigkeit“ des englischen Königs Heinrich VIII. gegenüber den evangelischen Kurfürsten und Fürsten114, die „Wachsamkeit, Klugheit und Stärke des Herzogs von Württemberg bei der Verteidigung der wahren Religion und Freiheit“115, die „höchste Klugheit und Scharfsichtigkeit des Landgrafen Philipp [von Hessen], eines sehr gläubigen Fürsten“116 oder auch negativ, wenn einem Herzog von Sachsen bescheinigt wird, die „wahre Religion“ gegen den „römischen Aberglauben“ eingetauscht zu haben und so von einem „freien Fürsten“ zu einem „Sklaven der römischen Knechtschaft“ geworden zu sein117. Auch die Ermordung Heinrichs III. von Frankreich durch den Dominikaner Jacques Clément 1589 veranlaßt den Autor zur Ermahnung, „fromme Könige und Fürsten“ sollten sich vor einer Religion hüten, in welcher Königsmörder zu Göttern erhoben würden118. Als Kehrseite der Parteilichkeit ist freilich die argumentative Geschlossenheit hervorzuheben: Die ganze Abhandlung ist als historische Explikation der beiden Thesen zu verstehen, wonach erstens die päpstliche Friedenspolitik nur als Fortsetzung der antiken Pax Romana zu verstehen sei, daß diese Art „Friede“ somit nichts anderes als Befriedung durch Unterwerfung respektive Versklavung bedeute, und zweitens daß Rom „pacis artibus“ stets mehr erreicht habe als mit offenem Krieg. Belege hierfür werden bevorzugt den durch päpstliche Vermittlung zustandegekommenen Friedensschlüssen entnommen. Die geheimen Bestimmungen des Frieden von Crépy (1544) werden aber auch auf die früheren Friedensschlüsse Karls V. mit Frankreich zurückprojiziert119. Die Verabredungen zu der seinerzeit schwelenden Konzilsfrage interpretiert der Autor in dem Sinne, daß dieses lediglich der Auslöschung der Häresie und der ___________ 114 Repraesentatio pacis generalis, 41 Note (ohne Zählung): „Fides & Benefice[n]tia He[n]rici VIII. Angliae Regis erga Electores & Principes Eua[n]gelicos notanda sunt.“ 115 Ebd., 43 Note (ohne Zählung): „Wirte[n]bergici Ducis ad veram religionem & libertatem defendam Vigilantia, Prudentia & Fortidudo“. 116 Ebd., 64 Note a: „Philippi Landgrauii religiosissimi Principis su[m]ma prude[n]tia & perspicacitas“; vgl. auch 41f. 117 Ebd., 49 Note *: „ ex Principe libera [sic] Rom[anae] seruitutis mancipium“. 118 Ebd., 146 Note a. 119 Ebd., 35–38. Hier auch das folgende.

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Häretiker dienen sollte, was den feindlichen Charakter dieser Friedensverträge erweise. Als Feindbild dient aber in erster Linie und in Verkehrung der tatsächlichen Machtverhältnisse Rom, das Papsttum, nicht etwa Kaiser Karl V. oder Philipp II. von Spanien, obwohl der im Titel der „Repraesentatio“ zentrale Begriff eines Generalfriedens auf das Programm der „pax universalis“ verweist – jener Legitimation der Universalmonarchie Karls V., wie sie der Großkanzler Mercurino Gattinara 1519 entwickelt hatte: Das oberste politische Ziel, das es danach für Karl V. zu erreichen galt, war, die „pax universalis“ zu errichten und die ganze Christenheit zu einen120. Anders als der von den Anhängern positiv, in der gegnerischen Propaganda aber rasch negativ konnotierte politische Leitbegriff „Monarchia Universalis“121 avancierte der Universalfriede aber anscheinend nicht zum politischen Schlagwort. Interessanterweise erscheint in der „Repraesentatio pacis generalis“122 dieses sonst so gern gegen Spanien gebrauchte Schlagwort nur vereinzelt123, und auch die einschlägige eschatologisch konnotierte Zuschreibung „Antichrist“124 wird deutlich seltener gebraucht als die zumindest heilsgeschichtlich neutraleren, der traditionellen Staatsformenlehre entlehnten und darum breiter anschlußfähigen Negativattribute „Tyrannei“, „Tyrann“ bzw. „tyrannisch“125. Das sonst in der Pamphletistik verbreitete übersteigerte „eschatologische Deutungsmuster eines Endzeitkampfes zwischen den Kindern des Lichtes und denen der Finsternis“126 ist in dieser Schrift insofern nicht dominierend. Vielmehr wird dieser hier nur anklingenden eschatologisch-heilsgeschichtlichen Interpretationsebene mit dem Bezug auf die an___________ 120

Albrecht P. Luttenberger, Friedensgedanke und Glaubensspaltung: Aspekte kaiserlicher und ständischer Reichspolitik 1521–1555, in: Brieskorn/Riedenauer, Suche nach Frieden (Anm. 10), 201–250, hier: 201–203. S. auch F. Bosbach, Monarchia Universalis (Anm. 39), 35–45. 121 F. Bosbach, ebd., 46ff., 56ff. 122 Positiv konnotiert tauchte das Titelstichwort „Generalfriede“ auch 1576 im Titel eines niederländischen Pamphlets auf, das die verschiedenen Argumentationen zur Rechtfertigung des Aufstandes gegen Spanien systematisiert und bündelt und das im Umfeld Wilhelms von Oranien entstanden sein soll: Horst Lademacher, Die Niederlande. Politische Kultur zwischen Individualität und Anpassung, Berlin (1993), 120f., verweist auf das Pamphlet „Vertoog ende openinghe om een goede, salighe ende generale vrede te maken in deze Nederlanden“ (1576). Als Verfasser wird Philippe du PlessisMornay vermutet, dem zusammen mit Hubert Languet auch die „Vindiciae contra tyrannos“ zugeschrieben wird. Hierzu J. Dennert, Beza, Brutus, Hotman (Anm. 40), 61ff.; U. Bermbach, Widerstandsrecht (Anm. 86), 118ff. 123 Etwa Repraesentatio pacis generalis, 16, 21. – Vgl. ansonsten F. Bosbach, Monarchia (Anm. 39), 79ff.; J. Arndt, Reich (Anm. 14), 254ff.; zur Weiterwirkung s. Peer Schmidt, Spaniens Universalmonarchie und „teutsche Libertet“. Das spanische Imperium in der Propaganda des Dreißigjährigen Krieges, Stuttgart 2001, passim. 124 Repraesentatio pacis generalis, 34, 46, 48, 57, 71, 126 (vor allem an die Adresse Roms). 125 Ebd., 11, 13, 18, 23f., 43, 46, 59, 61, 67, 75f., 126, 134 u. ö. 126 So H. Schilling, Althusius (Anm. 22), 62.

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tike Ideologie der Pax Romana und damit auf ein vorchristliches Motiv ein eher politischer, nicht geschichtstheologisch definierter Interpretationsrahmen127 zur Seite gestellt. Mit der überaus negativen Zeichnung dieser Pax Romana griff der Autor indirekt dann doch Spanien an, da diese Idee den „spanische[n] Reichs- und Friedensgedanke[n]“ dieser Jahrzehnte stark prägte128. Die skizzierte kritische Sicht des „Friedens“ stand auch im Einklang mit offiziellen Positionen der aufständischen Niederlande: 1597, zehn Jahre vor Erscheinen der „Repraesentatio“, hatten die Generalstaaten mit der gleichen Begründung, daß nämlich „bisherige Friedensgespräche von der spanischen Seite stets genutzt worden seien, um durch Machenschaften die Spaltung der Provinzen zu erreichen“129, eine Vermittlung durch den Kaiser abgelehnt. Es überrascht wohl auch kaum, daß sich diese Sichtweise auch in Brederodes Gesandtenkorrespondenz findet, und zwar just als sich im Erscheinungsjahr der „Repraesentatio“ Friedensverhandlungen mit Spanien konkretisierten. In seinem Bericht vom Mai 1607 über die Reaktionen hierauf attestierte er vornehmlich vielen lutherischen Reichsständen, daß ihnen „die Roomsche ende Spaensche prattijcken deur middel van vreeden noch niet genouchsaem bekent“ seien. Den anderen aber, namentlich den Korrespondierenden, die die besagten Praktiken – aufgrund seiner Bemühungen, wie man wohl ergänzen darf – bereits besser verstünden, komme dieser „handel wonderlijck vreemdt voor“, angesichts dessen, daß sie sich bewußt seien, daß die Römische „Ligue“ zweifellos unabänderlich danach trachte, die „Religie ende Christelijcke Vrijheijt niet alleen met die wapenen maer voorneementlijck met die listige treecken van vreeden“130 zugrundezurichten und auszutilgen. Dieser Sicht blieb Brederode allem Anschein nach auch in den folgenden Jahrzehnten verbunden. In die Zukunft weisende Wege zu einer Friedensordnung, in der die Sprengkraft des religiöskonfessionellen Gegensatzes entschärft werden konnte, zeigen sich freilich in dieser Gedankenwelt nicht. Bei allem Lob des wahren Friedens am Ende der „Repraesentatio“ – zu wenig war aus west- bzw. nordwesteuropäischer Perspektive in diesen Jahrzehnten von solchem Frieden zu sehen: Nicht der Friede ist der Normalzustand, der nur durch Kriege unterbrochen wird, sondern vor diesem Erfahrungshintergrund erscheint der Krieg als Dauerzustand, der allenfalls infolge Erschöpfung kurzzeitig unterbrochen wird. Der reale Friede bietet in dieser Perspektive lediglich Gelegenheit, neue Kraft für den nächsten Waf___________ 127

Dies unterstreicht die Beobachtung von Matthias Pohlig, Konfessionelle Deutungsmuster internationaler Konflikte um 1600 – Kreuzzug, Antichrist, Tausendjähriges Reich, in: Archiv für Reformationsgeschichte 93 (2002), 278–316, 314f., wonach eine „Tradition fortbestand, die außenpolitische Feindbilder … ohne explizit heilsgeschichtliche Konnotationen konstruierte; s. auch ebd., 314 Anm. 139. 128 Eberhard Straub, Pax et Imperium, Paderborn/München/Wien/Zürich 1980, 79ff. 129 J. Arndt, Reich (Anm. 14), 82. 130 Heidelberg, 10. Mai 1607, in: ARA SG Duitsland 6016 I.

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fengang zu schöpfen und die des Gegners zu schwächen und zu unterminieren. Ein solcher nur auf Vernichtung des Gegners angelegter „Friede“131 erscheint darum nur als eine womöglich noch schrecklichere Fortsetzung des Krieges.

___________ 131

Vgl. oben bei Anm. 54.

Sprachen des Friedens und was sie verraten. Neue Fragen und Einsichten zu Karlowitz, Baden und „Neustadt“ Johannes Burkhardt In welcher Sprache sind die Frieden von Stockholm und Nystad abgeschlossen, die zwischen 1719 und 1721 den Nordischen Krieg beendeten? Viele werden auf die üblichen Verdächtigen setzen, auf die klassische europäische Verkehrssprache Latein oder die kommende Diplomatensprache Französisch. Oder wurden die Verträge in einer Sprache der beteiligten großen Mächte Schweden, Rußland und England ausgefertigt? Kaum jemand rät hier richtig, selbst für Historiker ist es meist eine Überraschung: auf Deutsch1. Aber warum? Was hat das politisch, kommunikationsgeschichtlich oder symbolisch zu bedeuten? Die Wahl der jeweiligen europäischen Sprache, in der Friedensschlüsse ausgehandelt und gehalten sind, ist oft gar nicht so eindeutig und kaum systematisch erforscht. Jörg Fisch sieht als Grundmöglichkeit Verträge in der Sprache eines oder aber beider Kontrahenten oder in einer Drittsprache2. Dabei geht die gängige Meinung, daß im 17. und 18. Jahrhundert Französisch zur neuen höfischen und politischen Verkehrssprache Europas geworden sei, die seit Ludwig XIV. eine politische und kulturelle Dominanz spiegelte, keineswegs so glatt und umstandslos auf. Die Sprachenwahl der Friedensverträge ist gerade auf dem Höhepunkt einer politischen Sonderstellung Frankreichs in Europa um 1700 abwechslungsreicher und bietet viele bislang kaum genutzte Deutungsperspektiven. Das kann hier nicht im einzelnen erforscht werden, aber einiges, was dem Verfasser bei der Erstellung eines Handbuches aufgefallen ist3, soll ___________ 1 Der Verfasser hat dieses Experiment mehrfach gemacht und widmet diese Überlegungen dem hier zu ehrenden Experten für die Internationalen Beziehungen, der in einem Gespräch das Richtige getroffen hat. Der Vertrag ist in The Consolidated Treaty Series. Bd. 31, hrsg. v. Clive Parry, New York 1981 (fortan CTS) französisch wiedergegeben, während der Vertrags-Ploetz die Sprache richtig Deutsch angibt: Konferenzen und Verträge. Vertrags-Ploetz, Teil II, Bd. 3: Neuere Zeit 1492–1914, 2. erw. u. veränd. Aufl., bearb. v. Helmuth K. G. Rönnefarth, Würzburg 1958, 148. Siehe jetzt Duchhardt/Peters/1721VIII30-Nystad/http://www.ieg-friedensvertrage.de/[05.10.2006]. 2 Jörg Fisch, Krieg und Frieden im Friedensvertrag. Eine universalgeschichtliche Studie über Grundlagen und Formelemente des Friedensschlusses (Sprache und Geschichte, 3), Stuttgart 1979, 30f. 3 Johannes Burkhardt, Gebhardt, Handbuch der Deutschen Geschichte, Bd. 11, Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648–1763, 10. völlig neu bearbeitete Auflage, Bd. 9–12 hrsg. v. Wolfgang Reinhard, Stuttgart 2006. Ergänzende

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hier einmal außerhalb des erzählenden Kontextes zur deutschen Geschichte ausgeschildert werden, um Forschungen dazu anzuregen. Dazu wird auf den Türkenfrieden von Karlowitz (1699), den Reichsfrieden von Baden (1714) und schließlich die Nordischen Friedensschlüsse (1719/20/21) eingegangen.

Karlowitz 1699 – wie europäisch waren Türkenfrieden? Eine der Stützen von Latein als Vertragssprache war – das Osmanische Reich. Wenn man davon ausgeht, daß es nicht aus dem „lateinisch-europäischen Zivilisationstypus“ stammt, zu dessen Besonderheit Heinz Schilling das „internationale System frühneuzeitlicher Staaten“ rechnet4, kann das erstaunen. Natürlich sprach der Sultan nicht Latein, sondern „gewährte“ den Frieden in seiner eigenen Sprache, ursprünglich oft etwas anders stilisiert als die lateinische Version seiner Kontrahenten. Berühmt wurde noch der Fall des Friedens von Zsitva-Torok (1606), mit dem die Kaiserlichen eine symbolische Tributzahlung „ein für allemal“ (semel et semper) für erledigt hielten, die osmanische Vertragsversion aber zunächst nicht5. Aber die Vertragssprache für alle christlichen Kontrahenten der Osmanen war bis ins 18. Jahrhundert in der Regel Latein. Im Frieden von Karlowitz wurde im lateinischen Exemplar ausdrücklich bestimmt, daß beide übereinstimmende Friedensinstrumente, das türkische und das lateinische, gleichermaßen gelten sollen6. Nach der schwierigen Vorgeschichte kann man schon in der expliziten Gleichordnung zweier Vertragstexte, in der nicht einer als die Übersetzung eines Originals verstanden wurde, eine gegenseitige Anerkennung der Vertragsparteien als gleichrangige Souveräne sehen. Diese Anerkennung der Gleichrangigkeit des Sultans mit dem Kaiser und schließlich mit allen europäischen Souveränen gilt als eines der Hauptprobleme der völkerrechtsfähigen Europäisierung des Osmanischen Reiches. Der Sultan präsentierte sich religiös überhöht als Universalherrscher, der anderen nur aus Gnade einen beschränkten Frieden gewährte. Nun muß man sehen, daß eine solche Exklusivität auch der Christenheit nach außen lange nicht fremd gewe___________ Beobachtungen verdanke ich fortgeschrittenen Studierenden zweier Seminare, insbesondere Walter Laudes und Maria Schwenk (Karlowitz), Ines Schuster (Baden) und Armin Pfeil (Nystad). 4 Heinz Schilling, Das Reich als Verteidigungs- und Friedensorganisation, in: Heiliges Römisches Reich deutscher Nation 962 bis 1806. Altes Reich und neue Staaten 1495 bis 1806 (Essays), hrsg. v. Heinz Schilling/Werner Heuen/Jutta Götzmann, Dresden 2006, 119–133, zit. 119. 5 Vgl. Karl Nehring, Adam Freiherrn zu Herbersteins Gesandtschaftsreise nach Konstantinopel. Ein Beitrag zum Frieden von Zsitvatorok (Südosteuropäische Arbeiten, 78), München 1983, 16–23. 6 CTS 22 (Anm. 1), 233.

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sen war, und innerhalb ihrer sich auch in der Neuzeit christliche Herrscher überzuordnen suchten. Das gilt, zumindest dem Rang nach, für den Kaiser, aber auch für wechselnde Monarchen mit konkurrierenden Universalansprüchen7. Noch nach dem Westfälischen Frieden, der großen Gleichordnungsveranstaltung, die ein europäisches Staatensystem begründete, fehlte es nicht an imperialen Altlasten und universalistischen Rückfällen. Die Kriege Ludwigs XIV. können geradezu als ein erneuter Versuch der Durchsetzung einer Monarchia universalis in einem abgeschwächt hegemonialen Sinne und ihrer Abwehr durch die pluralistische Staatenwelt Europas gesehen werden. So außergewöhnlich waren die Restansprüche einer osmanischen Sonderstellung im 17. Jahrhundert also nicht. In allen innerchristlichen Friedenschlüssen jedoch, die oft genug kriegstreibende universalistische Anwandlungen zu korrigieren hatten, wurde nun seit dem Westfälischen Frieden immer wieder ein Szenarium der Gleichrangigkeit wiederhergestellt und eingeübt – in der peinlich genau die Souveräne nebenordnenden Verhandlungsführung, in besonderen zeremoniellen Inszenierungen an dafür geeigneten Örtlichkeiten und in der exakt parallelen Vertragsstilisierung. Nichts anderes aber geschah nun in Karlowitz in dem Vertrag „inter Serenissimum & Potentissimum Dominum Leopoldum“ auf der einen Seite und „Serenissimum atque Potentissimum Dominum Sultaneum Mustafa“ auf der anderen Seite, jeweils mit den weiteren Titeln8. Was die Verhandlungsführung angeht, so hatten die Osmanen erstmals sogar Vermittler akzeptiert, was schon wegen der vieldeutigen Herkunft der Mediation aus der übergeordneten Schiedsrichterrolle (Arbitrium) oder doch der Sonderstellung einer christlichen Drittmacht bislang undenkbar gewesen war9. So aber durften der englische Vermittler William Paget und der niederländische Vermittler Jacques Colyer beiden Parteien gleich „gute Dienste“ leisten wie in anderen Fällen der Zeit üblich. Darüber hinaus wurde nicht mehr nur bilateral verhandelt, sondern die Osmanen gestanden die gesonderte Mitwirkung der Verbündeten des Kaisers, ___________ 7

Johannes Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg (Neue Historische Bibliothek, edition suhrkamp), Frankfurt/M. 1992. Sowie grundsätzlich: Johannes Burkhardt, Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas, in: Zeitschrift für Historische Forschung 24 (1997), S. 509–574 und zuletzt: Johannes Burkhardt, The Thirty Yearsǥ War, in: A Companion to the Reformation World, ed. by Ronnie Po-Chia Hsia, Malden, MA (USA)/Oxford (UK) 2004, pp. 272–290. 8 CTS 22 (Anm. 1), 221. 9 Vgl. mit vielen, sonst wenig beachteten Hinweisen zum Friedensschluß immer noch Onno Klopp, Das Jahr 1683 und der folgende große Türkenkrieg bis zum Frieden von Carlowitz 1699, Graz 1882, 519. Generell: Studien zur Friedensvermittlung in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Heinz Duchhardt, Wiesbaden 1979, Christoph Kampmann, Friedensstiftung von außen? Zur Problematik von Friedensvermittlung und Schiedsgerichtsbarkeit in frühneuzeitlichen Staatenkonflikten, in: Gewalt in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Claudia Ulbrich (Historische Forschungen 81), Berlin 2005, 245–259.

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Polen und Venedig zu. Aus einem zweiseitigen islamisch-christlichen Gegenüber entstand so ein multilateraler Friedenskongreß, wie er auch sonst als Abbild des europäischen Staatensystems üblich wurde, auf dem das Osmanische Reich nur noch – oder nun bereits – als eine Macht unter anderen in Europa erschien. Die Friedensverhandlungen erfolgten bereits in der erst kurz zuvor aufgekommenen neuen Form10: An die Stelle des Austauschs schwerfälliger Schriftsätze war die mündliche Verhandlung mit anschließender Protokollierung getreten. Das wurde dadurch so schnell möglich, daß der ehemalige Pfortendolmetsch Alexander Mavrokordato, ein zum Islam übergetretener Venezianer, auch gleich die eigentliche osmanische Verhandlungsführung übernahm, und sich in seiner Muttersprache mit dem Gesandten des damals zweisprachigen Kaiserhofs, Graf Schlick, unterreden konnte. Anders als zwei Jahre zuvor auf dem französisch sprechenden Kongreß von Ryswik war Italienisch in Karlowitz Kongreßsprache. Beim osmanisch-venezianischen Friedensschluß waren die Italiener sogar unter sich und beließen es nach der lateinischen Präambel in den einzelnen Artikeln gleich beim Italienischen11. Schon der sprachliche Befund vermittelt nicht gerade den Eindruck, als ob hier antagonistisch um die Vorherrschaft streitende fremde Kulturen aufeinander gestoßen wären. Auch Aufbau und Stilisierung der Friedensverträge ähnelte – natürlich unter Fortlassung christlicher Versatzstücke – anderen europäischen Fällen und insbesondere ihrem Gleichordnungsritual in der Narratio. Auch das Verhandlungslokal in Karlowitz, dem namengebenden Dorf Sremski Karlovci im Grenzgebiet südlich der Donau, führte eine deutliche Sprache von europäischem Symbolwert. Zunächst behalf man sich mit einem Zelt, dann errichtete man eigens für diesen Zweck ein Gebäude aus Holz – nach dem Modell des letzten innerchristlichen Friedensschlusses, des in Ryswik genutzten Palais Oraniens. Die Verhandlungsgehäuse hatten vor allem durch Anordnung von Türen das gleichzeitige und damit gleichrangige Eintreten der Delegation zu ermöglichen. Zusammen mit der Sitzordnung ging es um ein Zeremoniell der Gleichheit der europäischen Souveräne, zu dem hier noch besondere Gleichordnungsinszenierungen wie das gleichzeitige Absitzen vom Pferd beim Austausch der Ratifikationsurkunden kamen. Diese politische Symbolsprache herrschaftlicher Egalität wurde in Karlowitz eher noch etwas dichter eingesetzt, war aber auch anderwärts immer noch nötig und entsprach voll dem Entwicklungsstand von Staatensystem und Völkerrecht. ___________ 10 Vgl. die komparatistischen Betrachtungen bei Ernst D. Petritsch, Rijswijk und Karlowitz. Wechselwirkungen europäischer Friedenspolitik, in: Der Friede von Rijswijk 1697, hrsg. v. Heinz Duchhardt (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 47), Mainz 1998, 291–311. 11 Der Vertrags-Ploetz (Anm. 5), 118 gibt nur Italienisch an, vgl. aber CTS 22 (Anm. 1), 265–276.

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In einem Punkt ging der Karlowitzer Friedensschluß dem europäischen Standard sogar eher voraus: in der Grenzziehung. Eine klare Grenze war in den alteuropäischen Herrschaftsverbänden mit seinen sich notorisch überschneidenden unterschiedlichen Rechten kaum möglich und wurde erst in dem stärker räumlichen Herrschaftsverständnis der frühmodernen Staaten zu einem Bedürfnis. Bekannt ist die Verwirrung, die hier der Westfälische Frieden in der Teilabtretung des Elsaß angerichtet und die Ludwig XIV. in allen Zweifelsfällen und noch einigen darüber hinaus zugunsten seiner Souveränität aufgelöst hat – in vielen Kriegen und Jahrzehnten. In Karlowitz gelang das auf einen Schlag. In dem besonders unfesten breiten Grenzraum in Ungarn, in dem auch in Friedenszeiten keine völlige Waffenruhe herrschte und im zu beendenden Großen Türkenkrieg der Festungsbesitz so durcheinander lief –, die Deutschen standen vor Belgrad und die Osmanen hielten noch Festungen in Ungarn –, daß sich nach dem militärischen Status quo keine brauchbare Grenzlinie ohne einen begradigenden Austausch ergab, war noch Ende der 1680er Jahre ein erfolgversprechender osmanischer Friedensvorstoß an dieser Frage gescheitert12. Denn der Pfortendolmetsch erklärte in Wien, daß eine grenztaugliche Flurbereinigung nicht in Frage käme, sondern nur der status quo, weil es im Islam verboten sei, ein einmal in Besitz genommenes Gebiet freiwillig wieder an Christen herauszugeben. Davon aber rückte nun der selbe Mavrokordato 1699 ab und so konnte fast ganz Ungarn mit Nachbargebieten in habsburgischen Besitz übergehen. Im Friedensvertrag war denn auch in Artikel IV und V explizit davon die Rede, daß eine Grenzkommission eine „durch Gräben oder durch Steine oder Pfosten oder in anderer Weise gekennzeichnete feste Linie“ zwischen den Reichen ziehen solle13. So geschah es auch, und die Grenze wurde möglichst an Flüssen wie Donau und Theiß oder an Hügeln entlang gezogen und mit Grenzsteinen, aber auch militärisch zu verteidigenden künstlichen Gräben und Erdwällen markiert14. Dies entsprach dem räumlichen staatlichen Sicherheitsdenken der Zeit, das sich in ganz ähnlicher Weise in Ryswik gemeldet hatte, aber erst im Plan der „Reichsbarriere“ und Grenzwällen wie den Stollhofer und Ettlinger Linien im Spanischen Erbfolgekrieg seinen Höhepunkt erreichte15. Auch ___________ 12 Lothar Höbelt, Sackgasse aus dem Zweifrontenkrieg. Die Friedensverhandlungen mit den Osmanen 1689, in: MIÖG 97 (1989), 329–380. 13 „lineam firmatam atque distinctam sive fossis, sive lapidibus, sive palis, sive alia ratione“, CTS 22 (Anm. 6), Art. IV, 224. 14 Antal András Deák, Zur Geschichte der Grenzabmarkung nach dem Friedensvertrag von Karlowitz, in: Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie, hrsg. v. Marlene Kurz/Thomas Winkelbauer/Martin Scheutz/Karl Vocelka, Wien/München 2005, 83–96. 15 Vgl. Max Plassmann, Krieg und Defension am Oberrhein. Die Vorderen Reichskreise und Markgraf Ludwig Wilhelm von Baden (Historische Forschungen, 66), Berlin 2000, 250–269.

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der vergebliche Versuch der Rückgewinnung Straßburgs folgte vor allem politisch-militärischen Sicherheitsüberlegungen, und die feste Linie, die zur deutsch-französischen Grenze wurde, datiert aus eben dieser Zeit. Die erste Errichtung einer osmanisch-habsburgischen Staatsgrenze gelang sogar früher. Eine Vertragsformulierung freilich scheint nicht dem europäischen Standard zu entsprechen: der Friede ist nicht unbefristet, sondern auf 25 Jahre abgeschlossen16. In dieser hergebrachten Zeitbegrenzung der Türkenfrieden wird oft ein entscheidender Unterschied zu den unbeschränkten Friedensschlüssen der Christen gesehen: Die eine Kultur gewähre der anderen – und lange galt das durchaus wechselseitig – keinen „ewigen Frieden“. Nun gab es aber auch innerchristlich befristete Waffenstillstände (tregua, armistitium) im 17. Jahrhundert, mitten im 80jährigen Krieg der Niederlande, der zwölfjährige spanisch-holländische in der ersten Hälfte und in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts der 20jährige des „Regensburger Stillstands“ von 1684, mit dem Frankreich den Kalten Krieg der Reunionen gegen das Reich einstellte. Insofern läßt sich der befristete Frieden als Waffenstillstand auch ins europäische System einordnen. Der lateinische Vertragstext von Karlowitz schwankt denn auch ersichtlich zwischen den Bezeichnungen Armistitium und Pax17. Tatsächlich aber hat gerade dieser Friede, als der er zu Recht in die Geschichte eingegangen ist, mit 17 Jahren weit länger gehalten als der gerade einmal drei Jahre eingehaltene „ewige“ Friede von Ryswik. Da liegt denn doch die Frage nahe, ob die oft sogar eingehaltene zeitliche Limitierung nicht sogar eine verläßlichere Friedenschance war, als die allzu kurzen „Ewigkeiten“ christlicher Friedensschlüsse. Die Ewigkeitsklausel soll wohl eher den Frieden als den eigentlichen verpflichtenden Normalzustand innerhalb der Christenheit auszeichnen, der wieder hergestellt werde. In den Türkenfrieden aber mußten natürlich alle als christlich erkennbaren religiösen Formeln entfallen. Das gilt vielleicht nicht nur für die unpassende Anrufung der Heiligen Dreifaltigkeit zu Beginn, sondern auch für die Ewigkeitsklausel, die nicht allein aus Termingründen, sondern als eine den je eigenen Glaubensbrüdern vorbehaltene Verpflichtung nicht in einen politischen Frieden zwischen Kontrahenten verschiedener Religionen gehörte. Interessanterweise wurde jedoch in einem abschließenden Entwicklungsschritt 1774 mit einer Anrufung des „Allmächtigen Gottes“ eine für beide tragbare religiöse Invocatio gefunden und statt einer zeitlichen Beschränkung in Artikel I sogar die Ewigkeitsklausel aufgenommen18.

___________ 16

CTS 22 (Anm. 6), Art. XX. „Armistitium“: Art. XI, XVI und XX, „Pax“: Präambel, Art. XVIII und XX. 18 Friede von Küþük-Kainardžij zwischen Osmanischem Reich und Rußland, CTS 45 (Anm. 1), 368–385. 17

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Gehört die Türkei historisch gesehen zu Europa? Die Vielzahl der Kriege des Osmanischen Reiches, die als historisch-politisches Gegenargument angeführt werden konnte, ist keins, denn nach dieser Logik müssen wir Frankreich mit seiner noch weit größeren frühmodernen Kriegsbilanz nachträglich aus der Europäischen Gemeinschaft ausschließen. Franzosen wie Türken galten schon in der Frühen Neuzeit dem Reich der Deutschen als „Erbfeinde“19, aber beide schon damals nicht nur als solche. Verständlicherweise wenden sich wohlmeinende Historiker denn auch oft lieber der orientalisch-christlichen Kulturbegegnung in Europa zu, die allerdings auch ihre Grenzen hat20. Am europäischsten erweist sich das Osmanische Reich im Völkerrecht. In der auf beiden Seiten exzessiven Kriegsführung fehlte es zwar noch an einem wechselseitig akzeptierten Verhaltenskodex – gerade im Großen Türkenkrieg rechnen neuere Experten der christlichen Seite schiere „Mordlust“ und „Kriegsverbrechen“ nach21. Aber mit dem ihn beendenden Frieden von Karlowitz zeigte sich, daß es die Friedensverhandlungen und Friedensverträge mit ihren kommunikativen Chancen und symbolischen Inszenierungen waren, die zuerst eine sukzessive Angleichung völkerrechtlicher Vorstellungen und Normen über den Umgang europäischer Staaten miteinander vorwärts brachten. Erstaunlich ist trotz förderlicher personeller Umstände und Querverbindungen die Dynamik, mit der sich das Osmanische Reich auf die verbale wie symbolische Sprache der Gleichordnung einließ, die in den europäischen Staaten in dieser Zeit angesagt war und sich durch Aufnahme des zeitgemäßen Friedensinstrumentariums integrierte und als europäischer Mitspieler profilierte. Bedenkt man, daß es sich hier um ein Instrumentarium und Szenarium handelte, mit dem noch experimentiert wurde, daß es für manche andere noch gewöhnungsbedürftig war, und daß die Türkenverträge in der Frage staatlicher Grenzziehung zu den ersten gehörten, dann kann man fragen: Handelt es sich ___________ 19 Feindbilder. Die Darstellung des Gegners in der politischen Publizistik des Mittelalters und der Neuzeit, hrsg. v. Franz Bosbach (Bayreuther Historische Kollquien 6), Köln-Weimar-Wien 1992. Martin Wrede, Das Reich und seine Feinde. Politische Feindbilder in der reichspatriotischen Publizistik zwischen Westfälischem Frieden und Siebenjährigem Krieg, Mainz 2004. 20 Vgl. Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie, hrsg. v. Marlene Kurz/Martin Scheutz/Karl Vocelka u. Thomas Winkelbauer (MIÖG, Ergänzungsband 48, Wien/München 2005 sowie Das Osmanische Reich und Europa 1683 bis 1789. Konflikt, Entspannung und Austausch, hrsg. v. Gernot Heiss/Grete Klingenstein (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit, 10), München 1983. Vgl. dort auch den Beitrag von Maximilian Grothaus. 21 Die Begriffe bei Bernhard R. Kroener, Wien 1683, in: ZHF 12 (1985), 181–216. Bernhard R. Kroener, Prinz Eugen und die Türken, in: Österreich und die Osmanen – Prinz Eugen und seine Zeit, hrsg. v. Erich Zöllner u. Karl Gutkas, Wien 1988 und Karl Vocelka, Glanz und Untergang der höfischen Welt. Österreichische Geschichte 1699– 1815, hrsg. v. Herwig Wolfram, Wien 2001.

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hier überhaupt um einen bloßen Anpassungs- und Rezeptionsvorgang22 oder hat nicht vielmehr das Osmanische Reich das noch in Diskussion befindliche Völkerrecht und Staatensystem Europas selbst mit aufgebaut? Eine in ihrer Tragweite bislang kaum bedachte Einschränkung ist bei dieser weitergehenden These freilich vorzunehmen. Die Kommunikationssituation vor Ort vereinte die Kontrahenten, aber die mediale Situation war völlig asymmetrisch. Eine türkische Version des Friedensvertrages, die im lateinischen Vertrag erwähnt wird, wurde und wird in Europa kaum wahrgenommen – denn der die Originalsprachen verzeichnende Vertrags-Ploetz weiß von ihr gar nichts und gibt nur Latein an23. Das ist symptomatisch und nicht allein westlicher Ignoranz und Sprachinkompetenz geschuldet. Während nämlich seit dem Westfälischen Frieden, der in Tausenden von Exemplaren im Originallatein wie in Übersetzungen verbreitet wurde24, Friedensverträge einschließlich der Türkenfrieden in der lateinischen wie in der romanischen, germanischen und auch in slawischen Sprachen im Druck verbreitet wurden und dann auch in die großen völkerrechtlichen Textsammlungen eingingen, wurden sie von der osmanischen Seite nicht gedruckt – wie alles andere auch nicht25. Der hier besonders ins Auge fallende Verzicht des frühneuzeitlichen Osmanischen Reiches auf eine Rezeption des neuzeitlichen Druckmediums mit seinen massenhaften Verbreitungs- und Überlieferungschancen mußte bei der Herstellung politischer Öffentlichkeit und Öffentlichkeitsarbeit in Krieg und Frieden zum kaum zu überschätzenden strukturellen Nachteil werden. Niemals hätten das föderale Reich und der christliche Teil Europas Türkenkriege führen können ohne die integrierende und motivierende Kraft der gedruckten Propaganda in Wort und Bild26, und niemals wären andererseits ohne den druckgestützten publizistischen und wissenschaftlichen Diskurs auch völkerrechtliche staatliche Normen ___________ 22 So abwägend Arno Strohmeyer, Das Osmanische Reich – ein Teil des europäischen Staatensystems der Frühen Neuzeit?, in: Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie, hrsg. v. Marlene Kurz/Thomas Winkelbauer/Martin Scheutz/Karl Vocelka, Wien/München 2005, 149–165. 23 Die Ermittlungen zu Karlowitz im Rahmen des Projekts „Europäische Friedensverträge der Vormoderne – online“ sind noch nicht abgeschlossen. 24 Konrad Repgen, Der Westfälische Friede und die zeitgenössische Öffentlichkeit, in: Konrad Repgen, Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Studien und Quellen, Paderborn u.a. 1998, 723 – 765. 25 Lutz Berger, Die Problematik der späten Einführung des Buchdrucks in der islamischen Welt, in: Das gedruckte Buch im Vorderen Orient, hrsg. v. Ulrich Marzolph, Dortmund 2002, 15–28. Vgl. auch Suraiya Faroqhi, Kultur und Alltag im Osmanischen Reich, München 1995, 207–227. 26 Vgl. Winfried Schulze, Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert. Studien zu den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen einer äußeren Bedrohung, München 1978. Sonja Schultheiß-Heinz, Politik in der europäischen Publizistik. Eine historische Inhaltsanalyse von Zeitungen des 17. Jahrhunderts (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, 16), Stuttgart 2004, 139f.

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so schnell und weit verbreitet worden. Vielleicht ist dieser Unterschied einer möglicherweise nicht fehlenden, aber anderen Kommunikationsstrategie außerhalb der durch den Druck privilegierten Literalität für Effektivität, Wahrnehmung und Tradition der osmanischen Kultur und Politik in Europa nachhaltiger prägend geworden als die beiden Spielarten einer monotheistischen Religion. Jedenfalls wird so verständlich, warum der osmanische Beitrag zum Frieden in Europa nicht recht „zu Buche schlug“.

Baden 1714 – 80 Gesandte für eine Übersetzung? Eine zweite starke Stütze für den Gebrauch des Lateainischen in Friedensverträgen war das Reich Deutscher Nation. Zwar verwendeten die Reichsinstitutionen und Reichsstände im innerreichischen Verkehr wie in der Gesetzgebung schon die ganze Neuzeit über nahezu ausschließlich Deutsch als reichsoffizielle Sprache, aber im Umgang mit romanischen Lehennehmern, offiziellen Schreiben an auswärtige Mächte und Verträge mit ihnen griff man auf die ältere Reichssprache zurück. Der Augsburger Religionsfrieden war ein interner Reichsabschied und darum im Original deutsch, die europaweiten Westfälischen Friedensschlüsse aber lateinisch. Eine später vielbelächelte Besonderheit stellt hier der den Spanischen Erbfolgekrieg endgültig beendende Friede im schweizerischen Baden dar, der als Frieden des Reiches mit Frankreich in Latein zu sein hatte und es auch war. Es heißt oft sarkastisch, daß dieser Friede praktisch nur die Übersetzung des zuvor in Rastatt zwischen dem Feldherren und Diplomaten Prinz Eugen und Villars ausgehandelten Frieden vom Französischen ins Lateinische gewesen sei. Das ist buchstäblich richtig, mit kaum wahrnehmbaren technischen Anpassungen, und diese Übersetzung war auch der Zweck der Übung27. Weniger bekannt aber ist, daß dafür 54 Delegationen mit insgesamt 80 bevollmächtigten Diplomaten sowie Gefolge angereist sind. Die Vertreter der beiden Signatarmächte von Rastatt, neben Prinz Eugen unter anderen der versierte Baron Seilern und ergänzend oder vertretungsweise zu Marschall Villars der Schweizer Botschafter du Luc, nahmen Anhörungen vor, beziehungsweise schriftliche Eingaben und Suppliken entgegen, vertrösteten aber durchgehend auf andere oder spätere Gelegenheiten. Zur Forderung nach Revision der Ryswiker Klausel, dem evangelischen Stein des Anstoßes seit der Rückgabe der Pfalz durch Ludwig XIV. mit der Auflage, die verfassungswidrigen Verände___________ 27 Wortlaut und Vergleich bei Rolf Stücheli, Der Friede von Baden (Schweiz) 1714. Ein europäischer Diplomatenkongress und Friedensschluss des "Ancien Régime" (Historische Schriften der Universität Freiburg, Schweiz, 15), Freiburg, Schweiz 1997, 151–155. Vgl. zur Wiener Absicht Max Braubach, Prinz Eugen von Savoyen. Eine Biographie, Bd. 3, Wien 1964, 227.

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rungen zugunsten der Katholiken zu übernehmen, meinten die Kaiserlichen, da müsse man sich an Frankreich wenden, was natürlich nichts brachte. Das Ansinnen des geächteten französischen Parteigängers Max Emanuel, die in Rastatt vereinbarte Wiedereinsetzung ins bayerische Kurfürstentum auch noch unter ihn begünstigender Kontrolle Frankreichs durchzuführen, wurde hingegen mit dem Argument zurückgewiesen, dies sei interne Angelegenheit des Reiches. Die beiden Hauptkontrahenten wollten ersichtlich und nach Ausweis ihrer Instruktion an die von beiden Höfen schon gebilligte Vereinbarung von Rastatt nicht mehr rühren lassen. Jede kleine Modifikation hätte weitere oder gar Gegenforderungen auslösen können. Änderungsanträge und offene Fragen wurden zu Protokoll genommen, geändert wurde außer der Sprache nichts. Warum hat dann der Kongreß mit diesem ungeheuren Aufwand für eine Übersetzungsleistung überhaupt stattgefunden? Die erste Antwort lautet, daß er reichsnotwendig war28. Da der Westfälische Friede Krieg und Frieden an die Zustimmung der Reichsstände gebunden hatte und der Spanische Erbfolgekrieg nach dem französisch-bayerischen Einfall ins Reich auch als in aller Form erklärter Reichskrieg geführt wurde, hatte nach dem Frieden von Rastatt zwischen dem französischen König und dem Kaiser als Souverän seiner Erblande mit Präliminarabsprachen für das Reich der eigentliche Reichsfrieden zu folgen. Kaiser Leopold ließ dem Reichstag die Wahl, eine formelle Reichsdeputation nach Baden zu schicken oder gleich dem Reichsoberhaupt die Reichsvertretung zu übertragen, was der Reichstag mit einigen Kautelen tat und was niemanden hindern konnte, sich auch selbst am Verhandlungsort einzufinden. Trotz des für viele Reichsstände enttäuschenden Ergebnisses – die österreichischen Habsburger hatten durch die Kriegsverlängerung ihre italienischen Erwerbungen aus dem spanischen Erbe in Rastatt/Baden vermehren können, an deutschem Reichsgebiet wurde jedoch wenig zurückgewonnen, allerdings auch nichts mehr verloren – waren die Reichsstände schließlich froh, daß der Krieg zu Ende war, und der Reichstag nahm den Badener Frieden an. Hätte es aber nicht genügt, den Vertrag von Rastatt ins Lateinische zu übersetzen und den Regensburger Reichstag direkt darüber beraten und beschließen zu lassen? So rechtsverbindlich die Beteiligung des Reichs an Krieg und Frieden war, so wenig waren die Formen genau festgelegt und wiesen eine große Variationsbreite auf. Das galt nicht nur für die Kriegserklärungen und verschiedenen Verteidigungsformen29, sondern auch für die Beteiligung an ___________ 28

So durchgehend R. Stücheli, Friede von Baden (Anm. 27). Vgl. Christoph Kampmann, Reichstag und Reichskriegserklärung im Zeitalter Ludwigs XIV., in: Historisches Jahrbuch 113 (1993), 41–59. Christoph Kampmann, Arbiter und Friedensstiftung. Die Auseinandersetzung um den politischen Schiedsrichter im Europa der Frühen Neuzeit (Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte, Neue Folge, 21), Paderborn u.a. 2001 sowie Helmut Neuhaus, Reichskreise und Reichskriege in der Frühen Neuzeit, in: Reichskreis und Territorium: Die Herrschaft 29

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Friedenssuche und Friedensschluß, die einmal eine vergleichende Untersuchung wert wären. Die Annahme einer Verfassungsnotwendigkeit für einen zusätzlichen Kongreß ist so zwingend nicht und schon gar nicht seine exorbitante Beschickung. Die Sprache des Zeremoniells eröffnet eine weitere Möglichkeit, den Sinn dieses Unternehmens zu erschließen, gibt allerdings zunächst einige Rätsel auf. Aus einer erhaltenen Skizze des Verhandlungssaals in Baden geht hervor, daß der Raum über zwei symmetrisch angeordneten Türen an der Längsseite verfügte, die es der kaiserlichen wie der französischen Delegation erlaubt hätten, gleichzeitig einzutreten und an den Stirnseiten eines langgezogenen Tisches Platz zu nehmen – ideale Voraussetzung für die Inszenierung von Gleichrangigkeit. Statt dessen aber wurden von beiden Kontrahenten nur eine Tür benutzt, durch die zuerst die französische Delegation eintrat und Platz nahm30. Da diese Raumgestaltung auf eine kaiserliche Instruktion zurückging, konnte sie aber nur zu ihrem Vorteil gemeint gewesen sein. Des Rätsels Lösung ist wohl, daß die Kaiserlichen mit Hilfe der geschlossenen Tür nach ihrer Instruktion den ehrenvolleren Platz „am tiefsten im Zimmer“31 einnehmen konnten – man könnte an einen Audienzsaal denken, da auf dem noch weitergehenden Wunschzettel gar ein Thronhimmel stand –, die zuerst einziehenden Franzosen aber auf den minderen Plätzen warten mußten. Diese Anordnung unterstützte sicher den beanspruchten und zumeist formell auch zugestandenen Vorrang des Kaisers unter den europäischen Souveränen. Die Bedeutungsumkehrung der „Präzedenz“ beim Einzug könnte aber auch besagen wollen, daß der Kaiser den Frieden nicht nötig habe und die andere Seite warten lasse. Daß es bei diesem Frieden keinen entlastenden Vermittler gab, dessen Initiative kunstvoll offen ließ, wer wen um Frieden bitten mußte, stützt diese Vermutung. Leider ist aus den Zeremonialbüchern der Zeit, die über Rang- und Sitzordnung im Reich und an den Höfen sowie Zeremonialkonflikten Auskunft geben, über die symbolische Kommunikation bei Friedensverhandlungen kaum etwas bekannt32. Auf ___________ über der Herrschaft? Supraterritoriale Tendenzen in Politik, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Vergleich süddeutscher Reichskreise, hrsg. von Wolfgang Wüst (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens, 7), Stuttgart 2000, 71–88. Helmut Neuhaus, Das Problem der militärischen Exekutive in der Spätphase des Alten Reiches, in: Staatsverfassung und Heeresverfassung in der europäischen Geschichte der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Johannes Kunisch, Berlin 1986, 297 – 346. 30 Ein Schema des Verhandlungsraums im Rathaus, das noch weiterer Interpretation bedarf, findet sich bei R. Stücheli, Friede von Baden (Anm. 27), 130. 31 Wiener Instruktion vom 26. April 1714 zitiert nach R. Stücheli, Friede von Baden (Anm. 27), 22. 32 Barbara Stollberg-Rilinger, Die Wissenschaft der feinen Unterschiede. Das Präzedenzrecht und die europäischen Monarchien vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Majestas 10 (2002), 125–150. Keinerlei Angaben zu Friedensverträgen enthält etwa das bekannte Werk von Zacharias Zwanzig, Theatrum Praecedentiae oder eines theils illustrer Rang-Streit/andern theils illustre Rang Ordnung/wie nemlich die considerablen Po-

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jeden Fall, ob als der Ranghöhere oder der Friedensgewährer, ostendiert das Zeremoniell in diesem Punkt im Rahmen einer ansonsten durchaus gleichordnenden Inszenierung –, so beim Eintritt ins Haus und bei den Anreden – eine leichte Überlegenheit der kaiserlichen Seite. Das ließe nun noch eine andere Deutung für den Sinn dieses Kongresses zu: als Revanche für Utrecht. In Utrecht, wo am alle egalisierenden runden Tisch verhandelt wurde ,33 war der Kaiser nicht nur eingeordnet, sondern geradezu marginalisiert worden. Nicht nur, daß der eigene Verbündete England sich mit Frankreich bereits verständigt hatte und die Aufteilung des Spanischen Erbes – die Hauptländer an Bourbon, die Nebenländer an die österreichischen Habsburger – bereits beschlossene Sache gewesen war, wurde der sich gleichwohl auf diesen Diktatfrieden einlassende Kaiserhof in den Verhandlungen geradezu an den Rand gedrängt. Als gar das ehrenrührige Ansinnen gestellt wurde, den Friedensbrecher Max Emanuel nicht nur als Kurfürsten wieder einzusetzen, sondern für die vermeintliche Unbill der Reichsacht zu entschädigen, brach das Reichsoberhaupt pflichtgemäß die Verhandlungen ab. Fast könnte man so den Eindruck haben, daß in Baden zu dem Rumpfkongreß von Utrecht die kaiserlich dominierte Kongreßhälfte nachgeliefert werden sollte. Eigentümlich ist dabei freilich, daß ursprünglich gerade Frankreich auf diesen zusätzlichen Kongreß nach Rastatt gedrungen hat, ohne damit inhaltliche Revisionserwartungen zu verbinden34. Ob Ludwig XIV. damit dem Reichsrecht auf die Sprünge helfen wollte? Wahrscheinlicher ist, daß mittlerweile ein Kongreß als die völkerrechtlich verbindliche und symbolisch gesicherte Form des Abschlusses eines großen Krieges in Europa galt, auf die keine Seite mehr verzichten wollte. Dieser Kongreß, der noch größer als Utrecht war und zur Hälfte von deutschsprachigen, aber auch je zu einem Viertel von italienisch- und französischsprachigen Delegierten besucht wurde, war nicht nur ein Reichsständekongreß, sondern eine europäische Veranstaltung. Die neutrale Schweiz profilierte sich hier erstmals als übernationales Gastgeberland35. Wenn dabei inhaltlich nicht viel herausgekommen ist, so gilt das auch für die folgenden Kongresse von Braunschweig (1714ff.), Cambrai (1724/25) und Soissons (1727/28). Wie diese war es mehr ein Kongreß der Konsultationen als der Beschlüsse. Es ist bekannt, daß Eugen und Villars am Rande des offiziellen Programms schon ___________ tenzen und Grandes in der welt nach qualitaet ihres standes/namens/dignitaet und caracters samt und sonders in der praecedenz, in dem rang und tractamente stritig seynd und competiren, Frankfurt/Main 1709. 33 Lothar Schilling, Zur rechtlichen Situation frühneuzeitlicher Kongreßstädte, in: Städte und Friedenskongresse, hrsg. v. Heinz Duchhardt, Köln 1999, 83–107, hier 103. 34 Henri Mercier, La Suisse et le Congrès de Bade. Dǥaprès les Sources diplomatiques françaises, in: Anzeiger für Schweizerische Geschichte 15 (1917), 1–31. 35 So R. Stücheli, Friede von Baden (Anm. 27), 208.

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einmal die deutsch-französische Annäherung geprobt haben, die Max Braubach als bündnispolitische „Vorstadien der diplomatischen Revolution“ von 1756 ausgeschildert hat36. Solche Gespräche hat es dort aber auch zwischen anderen gegeben, und die berücksichtigten Anliegen wurden doch als künftige Beratungspunkte protokolliert. Wenn der Kongreß für die Friedensfindung eigentlich keine Bedeutung mehr hatte, dann wies er gerade damit bereits in die Zukunft. Es ist zu Recht erkannt worden, daß die Kongresse der 1720er Jahre ihren Charakter geändert haben: Es ging nicht mehr um Friedensschlüsse nach Kriegen, sondern um Konsultationen zur Kriegsverhütung im Frieden. Es spricht viel dafür und müßte einmal unter dieser europäischen Perspektive überprüft werden, ob dieser unter englischem Vorzeichen entwickelte neue Kongreßtyp, der eine wahre „Kongressomanie“ (Heinz Duchhardt) auslöste37, nicht schon unter kaiserlichem Vorzeichen auf dem vermeintlich sinnlosen Übersetzungskongreß in Baden auf den Weg gebracht wurde.

„Neustadt“ – Sprach Europa deutsch? Warum aber wurde nun der Nordische Krieg, der die Internationalen Beziehungen an Ost- und Nordsee neu regelte, als dessen Hauptergebnis die Ablösung der schwedischen Dominanz durch die russische gilt, der aber auch Dänemark und Sachsen-Polen betraf und in dem sich England-Hannover und Brandenburg-Preußen neu positionierten, in einer Serie von Friedensschlüssen durchgehend in deutscher Sprache abgeschlossen? Es war kein Reichskrieg, und maximal gehörten eine oder im Falle der ‚Bindestrich-Kontrahenten‘ eigentlich eine halbe Seite zum Reich, ja selbst in den rein außerdeutschen Verträgen zwischen Schweden und Dänemark in Friedrichsburg und nachweislich schließlich auch in dem Vertrag zwischen Schweden und Rußland, der im fin-

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Max Braubach, Versailles und Wien von Ludwig XIV. bis Kaunitz. Die Vorstadien der Diplomatischen Revolution im 18. Jahrhundert, Bonn 1952. 37 Grundlegend Heinz Duchhardt, Gleichgewicht der Kräfte, Convenance, Europäisches Konzert. Friedenskongresse und Friedensschlüsse vom Zeitalter Ludwigs XIV. bis zum Wiener Kongreß (Erträge der Forschung, 56), Darmstadt 1976, 84 – 89. Vgl. Karl-Heinz Lingens, Kongresse im Spektrum der friedenswahrenden Instrumente des Völkerrechts: Cambrai und Soissons als Beispiele frühneuzeitlicher Praxis, in: Zwischenstaatliche Friedenswahrung in Mittelalter und Früher Neuzeit, hrsg. v. Heinz Duchhardt (Münstersche historische Forschungen, 1), Köln/Wien 1991, 205 – 226, und skeptischer Heinz Duchhardt, Zwischenstaatliche Friedens- und Ordnungskonzepte im Ancien Regime: Idee und Wirklichkeit, in: Frieden und Krieg in der Frühen Neuzeit. Die europäische Staatenordnung und die außereuropäische Welt, hrsg. v. Ronald G. Asch u.a., München 2001, 37 – 45.

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nischen Nystad geschlossen wurde, wurde Deutsch als die originale Vertragssprache genutzt38. Als kulturellen Hintergrund könnte man hier in Rechnung stellen, daß Deutsch vielerorts eine Zweit- und Verkehrssprache des Nordens war. Seit der Ostsiedlung und der bis 1669 aktiven deutschen Hanse war die deutsche Sprache auch bei anderen Ostseeanrainern präsent. Im Dreißigjährigen Krieg und seinem Gefolge intensivierten sich die skandinavisch-deutschen Verbindungen, einerseits durch die schwedisch verwalteten Gebiete im Reich, andererseits durch neue Migrationsschübe nach Skandinavien39. Nicht nur unter den Kaufleuten und Handwerkern gab es eine große Anzahl Deutscher, sondern auch im Druckgewerbe und Militär. Im gemischt besiedelten Kopenhagen waren vor den ersten politischen Zeitungen in dänischer Sprache schon acht in deutscher erschienen, und die militärische Kommandosprache blieb fast das ganze 18. Jahrhundert deutsch40. In der Moskauer Ausländervorstadt, der in der Jugendgeschichte Peters des Großen prägende Einflüsse zugeschrieben werden, galten die eigentlich europäisch gemischten Bewohner der Einfachheit halber alle als Deutsche. Ganz so einfach war es freilich kaum, denn natürlich bedürfte hier auch der Gebrauch des Hoch- und Niederdeutschen und die Sprachfertigkeit der politischen Elite genauerer Betrachtung. Das sprachkulturelle Umfeld war sicher förderlich, reicht aber zur Erklärung nicht aus. Eine weitere Erklärungsebene der Sprachenwahl könnte in den Rechtsverhältnissen der betroffenen Region gesehen werden. Ein Großteil der Länder, die an der Ost- und Nordseeküste den Besitzer wechselten, gehörten zum Reich Deutscher Nation und blieben auch dabei. Der Nordische Krieg war zwar kein Reichskrieg, aber der Kaiser schaltete sich als Reichsoberhaupt schon seit dem Braunschweiger Kongreß 1714 überparteilich vermittelnd und kontrollierend ein. In den territorialen Verhandlungsergebnissen waren die Konfliktparteien nicht frei, sondern auf die Zustimmung des Kaisers als Lehensherr und eine Übertragung des Lehens an den neuen Besitzer angewiesen. Dieser Rechtsakt erfolgte keineswegs automatisch, wie die Belehnung des englischen Königs und Kurfürsten von Hannover Georg I. mit dem ehemals schwedischen Herzogtum Bremen zeigen sollte, für die der Kaiserhof sich noch etwas bitten ließ. ___________ 38 Vgl. die Angaben im Vertrags-Ploetz, 146–148, die sich in den bisher erschlossenen Friedensverträgen der Projektgruppe „Europäische Friedensverträge der Vormoderne – online“ (www.ieg-mainz.de/friedensvertraege) des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz bestätigen [05.10.2006]. 39 Eine instruktive Fallstudie: Christina Dalhede, Augsburg und Schweden in der Frühen Neuzeit. Europäische Beziehungen und soziale Verflechtungen. Studien zu Konfession, Handel und Bergbau, St. Katharinen 1998. 40 Vibeke Winge, Deutsch und Deutsche in Kopenhagen im 17. Jahrhundert, in: Europa in Scandinavia: Kulturelle und soziale Dialoge in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Robert Bohn, Wien 1994, 71–77.

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Für die Revision der deutschen Landkarte, die zum Teil auch Reichsstände betraf und reichsrechtlich bestätigt werden mußte, lag es nahe, gleich eine Reichssprache zu benutzen. Der wahrscheinlichste und sicher notwendige Grund für die Sprachenwahl aber ist wohl der schlichte Umstand, daß nahezu alle beteiligten gekrönten Häupter, die hier die Internationalen Beziehungen regelten, aus deutschen Dynastien stammten und auch ihre Berater und Bevollmächtigten zum großen Teil Deutsche waren. Das gilt natürlich für den preußischen König und Kurfürsten von Brandenburg Friedrich Wilhelm I., aber auch den indirekt mitbetroffenen und in den Frieden eingeschlossenen polnischen König und Kurfürst von Sachsen August den Starken und vor allem den englischen König und hannoverschen Kurfürsten Georg I., der zwar mit der englischen Macht im Rücken, aber offiziell nur für Hannover Krieg führte und Frieden schloß, wenn auch mit dem englischen Königstitel41. Ein leitender Minister für Georgs deutsche Politik aber war Graf Bernstorff, der vom mecklenburgischen Ständepolitiker über Hannover zum „englischen“ Staatsmann aufgestiegen war42. Auch die dänische Dynastie aus dem Hause Oldenburg mit einem halb deutschen Hof und die als Ostseevormacht von allen zurückgedrängte und zum Teil beerbte schwedische Seite lieh sich ihre Könige von reichsfürstlichen Dynastien aus: nach dem Tod des nordischen Kriegshelden Karls XII. aus dem Hause Pfalz-Zweibrücken und der zunächst Frieden schließenden Schwester Ulrike Eleonore ihr Gemahl Friedrich I. von Hessen-Kassel. Nur Rußland war mit Katharina der Großen aus dem Hause Anhalt-Zerbst einiges später dran, aber dafür war Zar Peter der Große notorisch germanophil und sein liebstes Reiseland Deutschland. Sein mächtigster Minister und Friedensmacher Ostermann, der ursprünglich als Dolmetscher aufgestiegen war, aber offenbar kein Schwedisch sprach43, stammte aus einem westfälischen Pfarrhaus. Es könnte sich lohnen, einmal der Herkunft und Sprachkenntnis weiterer Unterhändler, ihrem regionalen Arbeitsfeld und ihrer oft reichsbezogenen Karriere nachzugehen, und es gibt doch zu denken, daß selbst der Verhandlungsort Nystad in Finnland in der Unterhändlerausfertigung eingedeutscht als „Neustad“ firmiert44. ___________ 41

Friede zu Stockholm vom 9./20. November 1719, vgl. Faksimile und Transkription bei Duchhardt/Peters/1719XI9_20-Stockholm/http://www.ieg-friedensvertraege.de/ [05.10.2006], vgl. CTS 31 (Anm. 1), 81–91. 42 Vgl. Hans-Joachim Ballschmieter, Andreas Gottlieb von Bernstorff und der mecklenburgische Ständekampf, Köln 1962. 43 Nach Walther Mediger, Moskaus Weg nach Europa. Der Aufstieg Rußlands zum europäischen Machtstaat im Zeitalter Friedrichs des Großen, Braunschweig 1952, 14f. beherrschte Ostermann Deutsch, Latein, Französisch, Russisch, Italienisch und Holländisch. 44 „Neustad“ mehrfach bei der Datierung, Friedensvertrag von Nystad/1721VIII30Russland/Schweden, in: Heinz Duchhardt/Martin Peters, www.ieg-mainz.de/ friedensvertraege [05.10.2006]. Freundliche Mitteilung von Martin Peters zum laufen-

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Was besagt das? Wenn man mit Heinz Schilling zwischen dem insgesamt defensiven Friedens- und Rechtssystem des Reiches in der Mitte Europas und den für ihn damals zeitgemäßen aggressiv-expansiven Machtstaaten Europas einen Gegensatz sieht – Schilling stellt die Historiker vor die scharfsinnige Alternative, ob das beruhigte Zentrum dem Mächtegleichgewicht zugute kam 45 oder gerade als Einladung zu besonders aggressiven Staatsbildungen wirkte –, so ist hier doch noch eine andere Möglichkeit zu bedenken. Der Eindruck, daß die Deutschen dank der Personalunionen und auswärtigen Verflechtungen hier einmal die Internationalen Beziehungen praktisch unter sich geregelt haben, spricht dafür, ihnen gerade in der europäischen Friedenspolitik auch eine aktive Rolle zuzutrauen. Der Aufstieg von Reichsfürsten zu europäischen Monarchen ist unlängst geradezu als „exportorientierte Leistungsbilanz der deutschen Dynastien“ bezeichnet worden46. Es wäre eine Untersuchung wert, ob nicht einige aus dem Reich ausgeliehene Dynasten und Minister auch etwas von seinem Geist nach Europa mitgenommen haben und so nicht nur die machtstaatliche Peripherie auf die Mitte einwirkte, sondern auch die friedens- und rechtsbewußte Mitte auf die Peripherie ausstrahlte. Enthält die Sprache des Friedens, die hier sogar die deutsche war, nicht in der Tat eine ganze Reihe ruhe- und harmoniebezogener Zielbegriffe, wie sie dem Reichsstil eigen waren?

Ergebnisse und neue Fragen Was haben diese Überlegungen zu drei Friedensverträgen gezeigt? Die teils überraschende Sprachenwahl kann ein Indiz und Ausgangspunkt für sonst kaum gesehene Entwicklungen in der Geschichte der Internationalen Beziehungen sein. Die Akzeptanz des Latein als eine der Vertragssprachen und darüber hinaus die gleichordnende Sprache des Zeremoniells und des ganzen Friedensinstrumentariums seit Karlowitz belegt eine frühe Mitarbeit des Osmanischen Reiches an der Errichtung eines europäischen Staatensystems, verweist aber auch auf die Beschränkungen, die in der geringen medialen Öffentlichkeit dieser Kultur selbst bei Friedensverträgen liegen. Die Veranstaltung eines Mammutkongresses in Baden, dessen einzig sichtbare Leistung die Übersetzung eines Vertragstextes ins Lateinische war, kann darauf aufmerksam machen, daß es nicht immer um die schriftlichen Inhalte gehen muß, sondern auch ___________ den Projekt „Europäische Friedensverträge der Vormoderne – online“, Mitteilung vom 13.07.2005. 45 Heinz Schilling, Reich als Verteidigungs- und Friedensorganisation (Anm. 4), 132. 46 Horst Carl, „Und das Teutsche Reich selbsten sitzet gantz stille darzu …“, in: Die preußische Rangerhöhung und Königskrönung 1701 in deutscher und europäischer Sicht, hrsg. v. Heide Barmeyer, Frankfurt/Main u.a. 2002, 61.

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zeremonielle Botschaften und vertrauensbildende Konsultationen als solche der Bereitschaft zum Frieden dienlich sein können. Die Regelungen von Internationalen Beziehungen unter dem Vorzeichen „Man spricht deutsch“ wirft die einmal zu untersuchende Frage auf, ob das politische System des Reiches wirklich hinter dem Mächteeuropa zurückgeblieben ist oder es nicht auch etwas an Rechts- und Friedensfähigkeit in die europäischen Staatsbeziehungen einzubringen hatte. Aber in allen diesen und vielen anderen Fällen bedarf es weiterer Forschungen47. Daß es sich bei der Sprachenwahl gleichwohl nur um Indizien handeln kann, die Überlegungen anstoßen sollen, aber in ihrer Aussagekraft auch nicht überschätzt werden dürfen, kann freilich ein Ausblick auf die weitere Karriere des Französischen in Friedensverträgen zeigen. Verträge zwischen Reichsoberhaupt und Reichsständen sowie unter Reichsständen wurden in der Regel in Deutsch geschlossen, wie noch der österreichisch-bayerische Frieden von Füssen 1745 zeigt. Alle friderizianischen Friedensschlüsse, auch mit dem Kaiserhof, sind jedoch in der nun international vorherrschenden französischen Sprache gehalten, und es liegt nahe, darin ein sichtbares Symbol für den preußischen Anspruch auf Friedensverträgen zwischen souveränen Herrschern Europas zu sehen. Oder war das doch nur der beschränkten reichssprachlichen Kompetenz dieses Herrschers geschuldet, der kein Latein gelernt hatte und schlecht Deutsch verstand? Fast wäre die Beendigung des Siebenjährigen Krieges daran gescheitert, als der sächsische Vermittler 1763 dem preußischen König zur Einleitung von Verhandlungen ein ostensibel friedensbereites Schreiben des österreichischen Staatskanzlers Kaunitz vorlas. Es war im Reichsstil verfaßt und der König wandte sich indigniert ab und verwies auf die Grenzen seines deutschen Hörverständnisses. Aber die Sachsen hatten das vorhergesehen und hielten eine französische Übersetzung bereit48. So konnte der Friede von Hubertusburg ausgehandelt und geschlossen werden, auf französisch zwischen drei deutschen Kontrahenten.

___________ 47 Vgl. zu den Kontexten der deutschen Geschichte J. Burkhardt, Gebhardt Bd. 11: Vollendung und Neuorientierung (Anm. 3), §§ 6 und 11. Zum folgenden § 13. 48 Karl O. Beaulieu-Marconnay, Der Hubertusburger Friede, Leipzig 1871, 6–27, bes. 17f.

Niklas Vogt und Gustav II. Adolf Heinz Duchhardt Der Empfänger dieser Festschrift steht sicher nicht in dem Verdacht, irgendeiner historischen Gestalt der Vormoderne kritiklos-apologetisch mit einem Hang, einer Neigung vielleicht gar zur Hagiographie gegenüberzustehen. Auch gegenüber Gustav II. Adolf, dem Schwedenkönig, der dem langen Krieg des frühen 17. Jahrhunderts eine neue Dimension und Qualität verlieh und zumindest indirekt die dauerhafte Unterwerfung des Reiches unter die habsburgische Dominanz verhinderte, blieb Heinz Schilling immer nüchtern: obwohl er in seinem „Aufbruch und Krise“ zu Gustav Adolfs Tod bei Lützen ausführlich gleich zwei Gewährsleute (Schiller und Golo Mann) zu Wort kommen ließ1 und als Mitverantwortlicher der Europaratsausstellung in Münster und Osnabrück2 zum Gedenken des Westfälischen Friedens dem Wasakönig beachtliche drei Unterabteilungen zugestand (X 5–7). Diese Nüchternheit des modernen Historikers (gleich welchen Bekenntnisses) kontrastiert freilich erheblich mit den emotionalen Einschätzungen und Bewertungen früherer Geschichtsschreiber-Generationen, die – je nachdem – mit dem Wasa-König Kulturkampf und Abarten der Gegenreformation bestritten, germanische oder protestantische Überlegenheit „belegen“ wollten oder sonst irgendeinen politischen Zweck mit ihren Apologien verbanden. Um so reizvoller ist es, im folgenden einen Historiker zu Wort kommen zu lassen, der am Beginn der im engeren Sinn kritischen Geschichtsschreibung steht, ein spätaufklärererischer Systematisierungsfanatiker, den von dem angesprochenen Chor der Gustav-Adolf-Apologeten freilich eins unterscheidet: die Konfession. Niklas (Nikolaus) Vogt, um den es im diesem Beitrag geht, Sohn eines Mainzer Stadtrats und somit katholischen Glaubens, war seit 1784 ordentlicher Professor für Geschichte an der alma mater semper catholica seiner Heimatstadt. Er hatte in Mainz studiert, dann aber auch in Göttingen, Gießen und Marburg geweilt und war dort mit den führenden (protestantischen) Historikern seiner Tage, den Schlözer, Gatterer und Pütter, zusammengekommen, hatte nach seiner Berufung auf den Mainzer Lehrstuhl dort eine (offenbar auch di___________ 1

Heinz Schilling, Aufbruch und Krise. Deutschland 1517–1648, Berlin 1988, 432f. Dokumentation: Klaus Bußmann/Heinz Schilling (Hrsg.), 1648 – Krieg und Frieden in Europa, 3 Bde., München 1998. 2

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daktisch) beeindruckende Lehrtätigkeit entfaltet, von der u. a. der junge Clemens Wenzel von Metternich profitierte, und war dann durch die Französische Revolution und ihr Übergreifen auf Mainz aus einer glänzenden Karriere geworfen worden. Kurzzeitig im Schweizer Exil, schloß er sich in den späteren 1790er Jahren mehr und mehr Dalberg an, der ihm in Aschaffenburg Brot und Reputation verschaffte, den er auch zur Pariser Königskrönung Napoleons begleitete und der ihn dann nach Frankfurt mitnahm, wo er nach dem Wiener Kongreß im geistigen Leben der Stadt eine beachtliche Rolle spielte, das Museum aufbaute, das Stadtarchiv leitete und dann auch zum Senator gewählt wurde. Nicht ganz 80jährig verstarb Niklas Vogt im Mai 1836 in Frankfurt. Der Wissenschaftler, dem schon verschiedene Dissertationen3 und in jüngerer Vergangenheit zudem eine ganze Reihe weiterführender Untersuchungen in Aufsatzform gewidmet wurden4 und den ein breites Interessenspektrum von der lokalen und regionalen Geschichte bis hin zur europäischen und Globalgeschichte auszeichnete5, hat ein über alle Maßen beeindruckendes vielbändiges Œuvre hinterlassen, dessen Gesamtumfang auf ca. 10.000 Seiten geschätzt wird. Es ist einerseits stark geschichtsphilosophisch orientiert, andererseits – wie dann bei vielen „politischen“ Professoren des 19. Jahrhunderts – zukunftsorientiert: auf der Suche nach einer stabilen politischen Ordnung, die den Menschen alle Entwicklungsmöglichkeiten gäbe. Sein allgemeines Welt- und Geschichtsbild ist zunächst in aller Kürze zu umreißen. Vogt erkennt in der Geschichte einen direkten göttlichen Impuls, der in die Natur eine Wechselwirkung von Kräften implementiert habe, durch die alles bewegt werde. Diese Wechselwirkung müsse auf ein Gleichgewicht ausgerichtet sein, das Vernichtung verhindere und somit identisch sei mit dem Prinzip ___________ 3 Magdalene Herrmann, Niklas Vogt: ein Historiker der Mainzer Universität aus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, München 1916; Hermann Josef Peters, Niklas Vogt und das rheinische Geistesleben 1792–1836. Ein Beitrag zur Geschichte des politischen und historischen Denkens am Mittelrhein, Mainz 1962; Ursula Berg, Niklas Vogt (1756– 1836). Weltsicht und politische Ordnungsvorstellungen zwischen Aufklärung und Romantik, Stuttgart 1992. 4 Hermann Weber, Niklas Vogt, ein aufgeklärter Historiker der alten Mainzer Universität, in: Aufklärung in Mainz, hrsg. v. Hermann Weber, Wiesbaden 1984, 31–46; ders., Geschichtsschreibung zwischen Revolution und Restauration. Niklas Vogt in seiner zweiten Schaffensperiode 1792–1836, in: Mainz – „Centralort des Reiches“. Politik, Literatur und Philosophie im Umbruch der Revolutionszeit, hrsg. v. Christoph Jamme und Otto Pöggeler, Stuttgart 1986, 138–164; Hermann Josef Peters, Niklas Vogt, der letzte Geschichtsprofessor an der kurfürstlichen Universität Mainz, in: Tradition und GegenwArt. Studien und Quellen zur Geschichte der Universität Mainz mit besonderer Berücksichtigung der Philosophischen Fakultät, hrsg. v. Hermann Weber [u. a.], Teil 1, Wiesbaden 1977, 241–249. 5 Vgl. jetzt auch Heinz Duchhardt, Niklas Vogt (1756–1836), in: Europa-Historiker, hrsg. v. Heinz Duchhardt/Maágorzata Morawiec/Wolfgang Schmale/Winfried Schulze, Bd. 2, Göttingen 2006.

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Gerechtigkeit. Unter beiden Prinzipien, die eine Einheit bildeten, müsse die gesamte Geschichte betrachtet werden, und zwar auf allen ihren Ebenen: derjenigen des Menschen, der menschlichen Natur, deren „Gerechtigkeit“ aus dem Gleichgewicht seiner tierischen, humanen und göttlichen Kräfte resultiere, und derjenigen der Gesellschaft, die sich im Staat organisiere, dessen innere Verhältnisse (ständischer Aufbau, Verteilung der Gewalten usw.) durch gleichgewichtige Verteilung ein Optimum an Gerechtigkeit erreichen müssten. Im zweiten, die gesamte Zivilisation berücksichtigenden Band seines magistralen Werks „System des Gleichgewichts und der Gerechtigkeit“6 wird die Geschichte dann gewissermaßen zum Kronzeugen der Richtigkeit und Stimmigkeit dieses philosophischen Systems gemacht: Gleichgewicht und Gerechtigkeit sind – und müssen sein! – die bewegenden, dynamischen Kräfte alles Geschichtlichen, die Entwicklung des Menschengeschlechts ist über die verschiedenen Stufen (Kindheit = Naturstand, Jugend = Heldenstand, Mannesalter = Vernunftstand) als organischer Prozeß zu verstehen, an dessen Ende die Glückseligkeit, die Vollendung von Gleichgewicht und Gerechtigkeit, stehen werden. Diese philosophische Geschichtskonstruktion stößt sich allerdings immer wieder mit der historischen Wirklichkeit. Gleichgewichtsverfall, Krisen treten unablässig auf – der Zusammenbruch des Römischen Reiches beispielsweise wird als Ergebnis eines Gleichgewichtsverfalls interpretiert. 1785, in seinem ersten „System des Gleichgewichts“7 und dem parallel dazu publizierten „System der allgemeinen Weltgeschichte“8, in dem er die erste Fundamentalkrise der Menschheit („Verfall … durch Wolllüste und Gesetz-Vergessenheit“) in die Zeit um 2800 v. Chr. datierte, sah er auch auf seine eigene Gegenwart eine solche Krise – also das Auseinanderfallen von Gleichgewicht und Gerechtigkeit – zukommen, hoffte aber, sie könne durch die Aufklärung, die „neuere Kultur“ und deren Geschichtslehrer gemeistert werden. Diese Hoffnung führte die Französische Revolution ad absurdum, so daß in den folgenden Werken Vogts noch stärker die krisenhaften Infragestellungen des Prinzips von Gleichgewicht und Gerechtigkeit thematisiert wurden. Das zunächst so stimmig erscheinende Schema einer beständigen Höherentwicklung der Menschheit auf der Grundlage des Zusammenspiels von Gleichgewicht und Gerechtigkeit war nun (vollends) zu modifizieren im Licht der sich ständig ereignenden systemgefährdenden, ja systemzerstörenden Prozesse, die sogar zum Untergang von Gesellschaften führen könnten, wofür die Geschichte zwei Exempla kenne: die erste Völkerwanderung nach der Sintflut und die zweite Völkerwanderung im Zuge und nach dem Verfall des Römischen Reiches. Vogt fühlt sich in dieser ___________ 6

2 Teile, Frankfurt/Main 1802. System des Gleichgewichts als nützliches und praktisches Resultat der Geschichte oder Philosophie der Erfahrungen, Mainz 1785. 8 System der allgemeinen Weltgeschichte, Mainz 1785. 7

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Hinsicht als geradezu besessener Mahner: Durch die Schilderung der Verfallserscheinungen in der Antike – Luxus, Sittenverderbtheit, Ausgelassenheit, Despotismus, Eroberungssucht usw. – soll dem Leser Anschauungsmaterial an die Hand gegeben werden, wie er die parallelen Erscheinungen in seiner Gegenwart einzuschätzen und einzuordnen habe. Dabei beschränkten sich die Krisensymptome nie auf nur ein Gebiet – die Politik, die Sittlichkeit, das geistige Leben –, sondern griffen immer auf die anderen Ebenen über, erzeugten ein Konglomerat von Verdorbenheit, das dann alternativlos zur Katastrophe führen müsse. Die Krise seiner eigenen Gegenwart führte Vogt bis in das 16. Jahrhundert zurück: den Reichtum, der nach den Entdeckungen einige Länder überschwemmte, damit zusammenhängend eine größere Kriegsbereitschaft, Verschiebungen der interstaatlichen Kräfteverhältnisse in unnatürlicher Weise, staatlicher Egoismus, wovon er auch die beiden deutschen Großmächte nicht ausnahm. Aber es komme anderes hinzu: die Herauslösung der Menschen aus den herkömmlichen Bindungen, Verfall der Vaterlandsliebe, Rückgang der Kraft des Religiösen, die Priorität des Genießenwollens, was zu Ausschweifungen, Verschwendung und Sittenlosigkeit führe. In seinem „Historischen Testament“ aus dem Jahr 18149 hat er dieses Faktorenbündel noch einmal kurz zusammengefaßt: Bedeutungsverlust des „moralisch-religiösen Bandes, das sonst alle christlichen Staaten umschlang“; die Manie des Gelderwerbs, die die Bindungen an das Vaterland zerstört habe; Monetarisierung der internationalen Politik und Aufstandsbewegungen gegen Fürsten10. Freilich gibt es, nachdem alle Reformen in der Zeit der Aufklärung diesen Verfallsprozeß nicht hätten stoppen können, für die Zukunft doch noch eine Perspektive. Er scheut sich als „konsequenter Historiker“ nicht, dies auch offen beim Namen zu nennen: Gott wird in die Geschichte eingreifen, wird eine neue Ordnung implementieren, eine neue Religion stiften – er muß, wie insbesondere Aufsätze in seinen „StaatsRelationen“ widerspiegeln11, zu den engagiertesten Verfechtern einer Wiedervereinigung der Konfessionen gezählt werden. Vogt erkannte sehr deutlich, daß sein „System des Gleichgewichts und der Gerechtigkeit“ damit letztlich in eine „Apokalypse“, eine „Theodizee der Weltgeschichte“ einmündete. Die Schlußsätze seines „Systems des Gleichgewichts und der Gerechtigkeit“ sprechen für sich: „Als konsequenter Historiker oder Politiker glaube ich nun meine Aufgabe gelöst zu haben. Theoretisch oder für die Gelehrten und Philosophen habe ich gezeigt, daß die Weltgeschichte, wenn sie nicht die lächerlichste und abscheulichste Farce werden soll, einen Gott oder eine ewige Vernunft voraussetzen müsse, und sonach zur Gerechtigkeit und ewigen Vernunft auch wieder führe. Praktisch oder für die Staats- und Geschäftsleute habe ich ge___________ 9

Historisches Testament, 3 Teile, Mainz 1814/15. Ebd., I, 200ff. 11 14/1809: Aphorismen über Christus-Religion und deren Wieder-Vereinigung; Gedanken über den vorstehenden Aufsatz die Kirchenvereinigung betreffend. 10

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zeigt, daß sowohl der einzelne Mensch, als der Staat, ja die ganze Welt nur durch Befolgung der ewigen Gesetze der Vernunft und der Gerechtigkeit gut regiert und glücklich verwaltet werden könne. So weit, und nicht weiter geht der Inhalt und die Sache unseres Wissens; so dachte ich mir eine Theodicee aus der Weltgeschichte. Nach diesem Werke wird … ein anderes und erhabeneres erscheinen, worin die Sache des Gewissens geführt werden soll. Ich werde mich nicht als den Verfasser, sondern nur als den Herausgeber davon angeben können. Als Geschichtsforscher habe ich meinen Beruf erfüllt“12. Wie paßt sich in ein solches Œuvre, das in starkem Maß systematisierend und geschichtsphilosophisch angelegt war, die Tatsache ein, daß Vogt 1790, also schon nach Ausbruch der Französischen Revolution, ein zweiteiliges Werk über den großen Schwedenkönig Gustav Adolf vorlegte: die einzige im weiteren Sinn biographische Arbeit aus seiner Feder, notabene die Feder eines Katholiken, eines Beamten des geistlichen Kurstaates am Mittelrhein? Noch größer wird die Überraschung, wenn man feststellt, daß es sich um ein Drama – teils in Versform in zwölf „Gesängen“, mit auftretenden und abtretenden Personen, mit einer Art Regieanweisungen – handelt, also etwas Belletristisches. Auch in dieser Hinsicht steht der „Gustav Adolph“ singulär in Vogts Gesamtœuvre. Natürlich gab es Beziehungen zwischen seiner Heimatstadt und dem Wasakönig, der hier geweilt (und die kurfürstliche Regierung ins Exil getrieben) und Hof gehalten hatte, aber das allein kann nicht der Grund dafür sein, daß Vogt sich ein einziges Mal in seinem Leben an etwas Biographisches und an das Genre des Schauspiels wagte – über den Heros des europäischen Protestantismus! Auch seine generelle Hochschätzung alles Germanischen, das in seinen Augen die Basis alles Europäischen bildete (und bilden werde), genügt als Erklärungsmuster für dieses Werk nicht. Das zweiteilige Gustav-Adolf-Drama13 versteht sich seinem Titel zufolge „als Nachtrag zur europäischen Republik“. Damit ist ein fünfbändiges Werk gemeint, das unter dem Titel „Ueber die Europäische Republik“ zwischen 1787 und 1792 erschien. Im 1. Band, der dem politischen System dieser „europäischen Republik“ – einem Verbund der europäischen Staaten, der in der Vergangenheit bestanden habe und dessen Wiedererstehung wünschenswert wäre – gewidmet war, hatte Vogt bei einer Art Schnelldurchgang durch die europäische Geschichte seit der Antike sich relativ lange bei dem Schwedenkönig aufgehalten. Er kontrastierte ihn hier vor allem mit Ferdinand II., dem stockkatholischen Ferdinand, der nur noch in seinem Kabinett gesessen und den Rosenkranz gebetet habe. Von ihm sei also für Deutschland aus seiner Krise keine Rettung mehr zu erhoffen gewesen, für die nur noch einer in Frage gekommen ___________ 12

System (wie Anm. 7), II, 423f. Gustav Adolph, König in Schweden, als Nachtrag zur europäischen Republik, 2 Teile, Frankfurt a. M./Mainz 1790. 13

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sei: Gustav Adolf. Schon gleich am Beginn der kurzen Charakterisierung des schwedischen Königs wird Vogt geradezu panegyrisch: „Seine Gerechtigkeitsliebe, sein erprobter Heldenmuth, seine Religion, sein Interesse: Alles rief ihn auf, der Schutzengel Teutschlands und Europas zu seyn“. Dabei sei er, „dessen Herz ein Tempel der Gerechtigkeit und dessen Kopf eine Bibliothek der Gerechtigkeit war“, bei seinem Entschluß, in Deutschland einzugreifen, mit großem Bedacht und ganz entsprechend den Gesetzen und Gewohnheiten seines Reiches vorgegangen: Erst habe er die Reichsstände einberufen, um ihnen seine Gründe für diese Unternehmungen vorzutragen und „durch deren Genehmigung auch erst die gerechte Erlaubniß zu haben, gerecht zu seyn“. Er habe seine – so dürfen wir das in unsere Sprache übertragen – sehr emotionale Rede mit Tränen in den Augen beschlossen, woraufhin alle mit ihm geweint hätten: eine (wörtlich zitierte) Rede, in der er sich als Werkzeug und Befehlsempfänger Gottes darstellte und seine Untertanen, wenn sie treu und tugendhaft sind, Gottes Schutz anvertraute. Diese Rede habe den Ausschlag für den Kriegseintritt gegeben. Vom Kaiser zunächst nur bespöttelt, sei Gustav Adolf dann wie ein „strafender Gott“ durch Deutschland gezogen und habe durch seinen Heldenmut Despotismus und Fanatismus zum Einsturz gebracht, habe aber selbst auf dem Höhepunkt seiner Macht dieselbe Größe wie Heinrich IV. von Frankreich gezeigt. Vor dem Hintergrund militärischer Exzesse deutscher Fürsten und ihrer Soldateska in Gustav Adolfs Namen habe er im Lager bei Nürnberg eine Rede gehalten, die wieder, diesmal über drei Seiten hinweg, wörtlich zitiert wird. Diese Rede habe die Fürsten aufrütteln wollen, die sich an ihrem eigenen Vaterland vergingen, die Offiziere, die ihre eigenen Glaubensgenossen bestählen und in ihm, dem König, Ekel hervorriefen. Er, Gustav Adolf, habe bereits Tonnen Geld für die Befreiung Deutschlands ausgegeben, habe alles, was er erobert habe, an die Deutschen weitergegeben, habe keinem eine Bitte abgeschlagen – und was sei der Effekt? Er schloß mit dem eindringlichen Appell: „Geht in euer Herz und Gewissen, und bedenkt, wie ihr dermaleinst eures Thuns halber Rechenschaft geben wolltet vor Gott. Mir ist so wehe bei Euch, daß mich verdrüßt, mit einer solchen verkehrten Nation umzugehen“. Gustav Adolf sei ein Mann gewesen, der alle demütigen und Europa umstürzen hätte können; aber: er habe Deutschland und Europa beschützt. Bei „Liezen“ (Lützen) sei er als Märtyrer für die Freiheit Deutschlands und Europas gestorben. Es wird angesichts der zeitlichen Nähe zwischen diesem Prosatext und dem Schauspiel, das in dem modernen Referenzwerk schlechthin unberücksichtigt blieb14, kaum erstaunen, daß bestimmte Gedanken und Begrifflichkeiten auch ___________ 14

Sverker Oredsson, Geschichtsschreibung und Kult. Gustav Adolf, Schweden und der Dreißigjährige Krieg, Berlin 1994.

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in dem Drama wiederkehren. Vogt hat es – auffälligerweise – „den teutschen Frauen gewidmet“. Eine Art Widmung löst diese Merkwürdigkeit auf: Es sei die Bestimmung des weiblichen Geschlechts, der Frauen, „die wilden und verwüstenden Leidenschaften des unsrigen durch die Macht Ihrer Reize und die sanften Empfindungen Ihres Herzens zu mäßigen“. Die Frauen mögen – ganz gegenwartsbezogen (1790!) – dazu beitragen, daß der Geist der Zwietracht, der gegenwärtig Europa zerteile, das eigene Vaterland nicht in jene Barbarei zurückwerfe, die in der Epoche herrschte, von der dieses Buch handle. Damit ist dann gewissermaßen das Leitthema des Werkes angeschlagen: die Gärungen und Konvulsionen der eigenen Zeit, die mit dem Umbruch der Reformationszeit vergleichbar seien, von denen aber zu hoffen wäre, daß sie nicht die gleichen „traurigen Folgen“ wie der seinerzeitige geistliche Umbruch hätten – zwei „Krisen“ also, die Vogt miteinander vergleicht. Denn es wäre fatal, wenn einem besseren Westfälischen Frieden wie damals im frühen 17. Jahrhundert erst ein Dreißigjähriger Krieg vorangehen würde. Diese Überlegung habe ihn dazu geführt, seinen Mitlebenden einen Eindruck von den Greuelszenen des 30jährigen Krieges zu vermitteln und ihnen jenen Helden vorzustellen, „welcher diesem verwüstenden Krieg durch seine Tapferkeit und Klugheit ein Ende zu machen suchte“ (VII). Gustav Adolf verdiene es, von den Deutschen besungen zu werden. „Gesang“ ist freilich cum grano salis zu verstehen; das Schauspiel besteht aus einem merkwürdigen Mixtum von teils gereimten, teils ungereimten Versen und dazwischen eingestreuten Prosatexten. Vogts Drama ist deutschland- und europabezogen zur gleichen Zeit: Was hat es gekostet, daß Deutschland seine Freiheit bewahrte und endlich (im Westfälischen Frieden) befriedet wurde? Warum gelang es dem Wasa-König nicht, jene Ideen, die Vogt dem Kanzler Oxenstierna in den Mund legte und zuschrieb, umzusetzen und Europa auf Dauer zu befrieden? Vogt, Historiker von der Profession her und deswegen auch mit wichtigen Quellenwerken wohlvertraut, die gelegentlich in den Fußnoten zitiert werden, nahm sich als Dramatiker selbstverständlich die Freiheit, bestimmte dramaturgische Effekte zu setzen und den handelnden Personen Worte in den Mund zu legen, die so sicher nie gefallen sind, überhaupt Menschen zusammenzuführen, die sich in dieser Konstellation wohl nie getroffen haben. Man kann verschiedene Stränge unterscheiden, die ihn bei seiner kompositorischen Arbeit bewegten: Der ewige Dualismus von politischer Verantwortung und Liebe, die Versuchungen, die aus politischer Dominanz erwachsen konnten, die Gefahr, der Nemesis anheimzufallen, die Spannungen zwischen politischem Vorwärtsdrängen und der Bedenkenträgerei und der Bedächtigkeit einer anders strukturierten politischen Elite, das Moment des politischen Verrats. Er bettete den politischen Teil seines Dramas ein in eine Liebesgeschichte, die als Motiv dann am Ende wieder aufgenommen wurde: die (von seinem Vetter, dem Herzog von Lauenburg, hintertriebenen) Bemühungen des schwedi-

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schen Königs um die Gräfin Brahe, die unter dem Druck ihres Vaters und der Königinmutter schließlich ihre Liebe zu dem jungen König opfert, der, so der Kreis, der sich schließt, in Lützen dann von eben jenem Herzog von Lauenburg verraten und zum „Abschuß“ freigegeben wird, den er seinerzeit in Stockholm der Brahe wegen einmal geohrfeigt hatte. Das voluminöse Werk kann hier selbstverständlich nur in seinen Grundzügen wiedergegeben werden. Oxenstierna war es, Vogt zufolge, der den Monarchen auf den Weg brachte, das geknechtete Deutschland wieder zu befreien: „Ist es denn nicht ein großer göttlicher Gedanke, ein Werk eines großen Königs würdig, dies teutsche Land und ganz Europa von diesem Drucke zu befreien, ihm seinen Frieden wieder zu geben, und so das Menschengeschlecht auch in die Harmonie dieses allgemeinen Friedens zu stimmen – und das können Sie!“15. Auch die Königinmutter versucht, nicht zuletzt aus dynastischen Gründen und solche des Prestiges, ihren Sohn auf die Außenpolitik zu verweisen. Nach der erzwungenen Trennung des Liebespaares beschließt Lauenburg, zum Kaiser überzulaufen und ihm die Geheimnisse des schwedischen Hofes zu verraten; er wird am Kaiserhof selbstverständlich mit Freude aufgenommen, wo man sich über das schwedische „Schneeköniglein“ mokiert. Die letzte Entscheidung, in den Krieg einzutreten, fällt dann unter dem Eindruck der Zurückweisung der schwedischen Gesandten auf dem Lübecker Friedenskongreß. Seine deutsche Mission stellt Gustav Adolf dezidiert unter Gottes Willen und Segen, und er wurde nach seinem fulminanten Siegeszug rasch zum „Schutzengel Teutschlands und Europas“16. Im 5. Gesang läßt Vogt Gustav Adolf einigen deutschen Fürsten begegnen und ihn beklagen, wie schwer es falle, sie in ihrem eigenen Interesse zu vereinigen; die Ernüchterung, daß die deutschen Fürsten immer Bedenken hätten und aus dem Zwang vermeintlicher Loyalität mit dem Kaiser stets neue Ausflüchte suchen, sich voll hinter den Schwedenkönig zu stellen. In diese Situation platzt die Nachricht vom Fall Magdeburgs. Der 6. Gesang handelt von der Belagerung Leipzigs durch Tilly und seine Hetzparolen, dann von dem Sieg Gustav Adolfs bei Breitenfeld, unter dessen Eindruck Vogt den Wasa-König auf die Knie fallen und Gott für den Sieg danken läßt: „Teutschlands Freiheit ist nun gerettet“17. Der Schauplatz verlagert sich dann nach Mainz, wo Gustav Adolf auf dem Höhepunkt seiner Macht Hof hält und wohin auch der Winterkönig mit seiner Familie gekommen ist, um, so zumindest der Wille der ehrgeizigen Kurfürstin, vom Schwedenkönig die kurpfälzischen Länder zurück zu erbitten. Hier wie auch an anderen Stellen ist eine gewisse Süßlichkeit nicht zu überse-

___________ 15

I, 66. I, 158. 17 I, 207. 16

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hen; die Kurfürstin führt ihre Kinder zu Gustav Adolf mit der Aufforderung: „Hier ist euer Vater! Hier erflehet euer Erbtheil!“18. Gesang 8, der den zweiten Teil einleitet, thematisiert die Überlegungen und Bemühungen Oxenstiernas, Europa einen dauerhaften Frieden zu geben; hier kommt dem Dialog mit Bogislaw Philipp von Chemnitz, der Europa in zwölf erbliche Monarchien und vier große Republiken aufteilen wollte, besondere Bedeutung zu. Der inzwischen herrschsüchtig gewordene Gustav Adolf, dem das Augenmaß verloren zu gehen droht, wird durch eine Unterredung mit Oxenstierna im Mainzer Schloß wieder auf den rechten Weg gebracht – übrigens für den Mainzer Vogt eine willkommene Gelegenheit, viel Lokalkolorit in sein Drama einzubauen: die Schönheit des Rheins und der ganzen Mittelrheinregion, die Qualität des Weines! In der Diskussion mit Oxenstierna entwickelt der König Pläne einer völligen Umgestaltung Deutschlands und das Projekt seiner eigenen Wahl zum Römischen König sowie der Bildung eines großen europäischen Systems, dessen Oberhaupt er sein wolle. Oxenstierna versucht, auch unter Verweis auf historische Beispiele ungebremster Nemesis, ihm diese Pläne auszureden. Im 9. Gesang, einem der merkwürdigsten im ganzen Drama, läßt Vogt den Wasa-König im Binger Loch Schiffbruch erleiden und im Traum Geistern und Kobolden, dem Geist der Hildegard von Bingen, dem Shakespeares und zahlreicher historischer Gestalten von Alexander bis Luther sowie der Personifikation der Geschichte begegnen, ein Traum, dessen zentrale Botschaft ist, daß alle Throne und Reiche vergehen. Dieser Binger Traum bewirkt, daß Gustav Adolf in Abkehr von seinen nemetischen Visionen den Entschluß faßt, das Gleichgewicht in Deutschland und Europa wiederherzustellen. Dazu soll ein Friedenskongreß einberufen werden, in dessen Vorfeld Königin Leonore ihren Gemahl in Deutschland besucht und ihn eindringlich zur Rückkehr auffordert: „Geben Sie diesem Land Ruhe, und mir meinen Gatten wieder“19. Auf der Friedenskonferenz geht es hoch und kontrovers her, weil jeder der beteiligten Diplomaten für seinen Staat etwas und nur fordert; Frankreich beispielsweise das Elsaß, was Gustav Adolf zu dem Ausruf veranlaßt, er sei als Deutschlands Retter und nicht als Verräter gekommen20. Im 11. Gesang wird Wallenstein wieder in des Kaisers Dienst genommen und werden in dessen engster Umgebung Pläne eines jesuitischen Attentats auf Gustav Adolf geschmiedet. Der letzte Gesang sieht vor der Entscheidungsschlacht Gustav Adolf zunächst im engen Zwiegespräch mit Gott. In ihrem Verlauf nimmt ihn der wieder in Gustav Adolfs Entourage aufgenommene Lauenburger vorgeblich aus der unmittelbaren Gefahr, um ihn tatsächlich aber einem Verkappten zuzuführen, der ihn aus nächster Nähe erschießt: die Ohrfeige ist gerächt. ___________ 18

I, 236. II, 94. 20 II, 109. 19

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Heinz Duchhardt

Alles, was dann geschah, könne man bei Pufendorf nachlesen. Das Stück wirklich und angemessen zu beenden, dazu wäre wohl nur ein großer britischer Dichter in der Lage. Die kurze Inhaltsparaphrase hat wohl zur Genüge gezeigt, was der Katholik Vogt an dem protestantischen Heros bewundert: seine Gottesnähe und Gottverbundenheit, seine zunächst einmal selbstlose Entschlossenheit, Deutschland von der (katholisch-tyrannischen) Bevormundung und Knebelung zu befreien und damit eine kontinentale Krise zu überwinden, sein erfolgreich bestandener innerer Kampf, nicht der Nemesis zu verfallen, sondern konstruktiv auf ein neues Gleichgewicht hinzuarbeiten. Das sind ausnahmslos Motive seines allgemeinen Geschichtsbildes, so daß es nicht vermessen ist festzuhalten, daß der „Gustav Adolph“ seine allgemeinen Überzeugungen in geradezu idealtypischer Art in ein Exempel umsetzt. Daß dabei die katholische Seite nur schwarz in schwarz zu zeichnen war, erklärt sich von der Dramaturgie her – aber das war natürlich auch eine confessio eines katholischen Autors, die in der damaligen Zeit auffallen mußte und die, wenn es sich um „normale“ Zeiten gehandelt hätte, sein Schauspiel ganz sicher in die Nähe der Indizierung gebracht hätte. Freilich: Aufgeführt worden ist das Drama wohl nie auf einer Bühne. Die Frage, ob und ggf. wie Vogts „Gustav Adolph“ das Bild des WasaKönigs der Folgezeit prägte, ist selbstredend nur schwer zu beantworten. In historischen Arbeiten, die in ihrem weiteren zeitlichen Umfeld entstanden – etwa Friedrich Rühsǥ „Geschichte Schwedens“ oder Ernst Moritz Arndts „Schwedische Geschichte“ – überwiegt das Moment der Heldenverehrung bereits entschieden21: bei zwei Autoren, die als schwedische Untertanen geboren worden waren, nicht sonderlich verwunderlich. Interessanter wäre es, dem GustavAdolf-Bild Friedrich Schillers in seiner zeitnah (1792) entstandenen „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“ und seinen möglichen Abhängigkeiten von Vogts Interpretation nachzugehen. Das aber muß einer anderen Studie vorbehalten bleiben, wiewohl schon hier anzumerken ist, daß Vogt von Schillers Kernaussage, es sei letztlich gut für Deutschland gewesen, daß Gustav Adolf bei Lützen den Tod gefunden habe, meilenweit entfernt ist. Der Historiker als Schriftsteller, als Dramatiker? Für die „Sattelzeit“ nichts ganz und gar Ungewöhnliches, wiewohl man bei dem Parallelbeispiel Schiller, der sich mit Wallenstein allerdings eine stärker dämonisch und abgründig interpretierbare Gestalt auswählte, wohl eher von dem Dramatiker als Historiker sprechen sollte. Aber es wäre etwa auch noch an Friedrich von Raumer zu ___________ 21 Vgl. Oredsson (wie Anm. 14), 45f. Über Rühs vgl. im übrigen Heinz Duchhardt, Fachhistorie und „politische“ Historie: der Mediävist, Landeshistoriker, Kulturhistoriker und Publizist Friedrich Rühs, in: Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw, hrsg. v. Paul-Joachim Heinig [u. a.], Berlin 2000, 715–730.

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erinnern, den „Hohenstaufen-Raumer“, der 1828 eine (Dorothea Tieck stark beeindruckende) Novelle „Marie“ verfaßte, die freilich nicht auf historischen Fakten fußte. Für manche Historiker mag dies ein Versuch gewesen sein, ein ungleich größeres Publikum als mit ihren wissenschaftlichen Werken zu erreichen, auch eine Verführung, sich einmal in einem ganz anderen Genre zu betätigen (und vielleicht gar zu bewähren). Für Vogt stand sicher im Vordergrund, sein sehr abstraktes und in hohem Maß auf Systematisierung ausgerichtetes Geschichtsdenken einmal an einem Exempel zu konkretisieren. Daß er, der Katholik, sich dabei auf den Heros des europäischen Protestantismus verlegte, macht die Sache nur noch reizvoller.

Analogien bilden: Schillers Konzept der Universalgeschichte und seine „Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande“ Georg Schmidt Das späte 20. Jahrhundert hat die Aufklärungshistorie rehabilitiert, weil sie viele der methodisch-kritischen Standards entwickelte, die gemeinhin als Errungenschaften des Historismus gelten. Das Fach „Geschichte“ blieb jedoch als Kunst der Poetik oder Rhetorik, als (Hilfs-)Wissenschaft den Juristen, Theologen oder Medizinern untergeordnet1. Im 18. Jahrhundert begann allerdings der Emanzipationsprozeß zur eigenständigen Disziplin mit selbständigem Bildungsanspruch, die keine anekdotischen Geschichten mehr erzählte, sondern kritisch und systematisch, empirisch geprüft und aus allgemeinen Gesichtspunkten abgeleitet die Genese der Gegenwart erläuterte. Die deutende Aneignung des vergangenen Geschehens rückte den Menschen ins Zentrum einer nun prinzipiell offenen Geschichte, deren Sinn nicht mehr göttlich vorgegeben war, sondern vom Betrachter mit seiner Erzählung der temporalen und kausalen Zusammenhänge selbst gesetzt werden mußte. Als erkennendes Subjekt, Autor und Sinnstifter wurde der Historiker zum Bestandteil seiner Geschichtserzählung. Diese neuen Prämissen historischer Erkenntnismöglichkeiten übernahmen jedoch längst nicht alle Vertreter der pragmatischen Universalgeschichte. Einige wollten weiterhin und in hergebrachter Weise zum Handeln gemäß traditionellen Normen anleiten und glaubten, daß die Vergangenheit selbst ihren Sinn offenbare, wenn man es ohne Hypothesen und Visionen richtig anordne2 und die narrative Deutung in den Hintergrund dränge3. Dagegen forderten andere ___________ 1 Vgl. Hans Erich Bödeker u.a., Einleitung: Aufklärung und Geschichtswissenschaft, in: Aufklärung und Geschichte, hrsg. v. dens. (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte, 81), 2. Aufl., Göttingen 1986, 9–11, 11. – Für hilfreiche Kommentare und klärende Gespräche danke ich Astrid Ackermann (Jena), Daniel Fulda (Köln/Jena) und Alexander Schmidt (Jena). 2 Thomas Prüfer, Die Bildung der Geschichte: Friedrich Schiller und die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft (Beiträge zur Geschichtskultur, 24), Köln 2002, 103f.; Jürgen Eder, Schiller als Historiker, in: Schiller-Handbuch, hrsg. v. Helmut Koopmann, Stuttgart 1998, 653–697, 687. 3 Daniel Fulda, Goethezeitliche Ästhetik und die Ermöglichung einer textuellen Repräsentation der ‚Geschichte‘. Zur Genese einer symbolischen Form, in: Literatur und

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Historiker, das rationalistische Systemideal aufgreifend, die bruchstückhafte Überlieferung müsse in einen „vernünftigen“ Zusammenhang gebracht werden. Ihre systematisierenden Kompilationen entsprachen zwar dem Wissenschaftsbegriff der Aufklärung, der methodisch gewonnene und kritisch auf Wahrscheinlichkeit geprüfte Erkenntnisse verlangte, führten aber häufig zu Darstellungen, die nicht das Interesse des Publikums fanden. Johann Christoph Gatterer wollte deswegen „den Leser durch die Illusion der Gegenwärtigkeit des Erzählten“ von dessen Evidenz bzw. „augenscheinliche[r] Wahrheit“ überzeugen4. Johann Gottfried Herder oder Friedrich Schiller setzten dagegen auf eine Literarisierung des historischen Stoffes, um wissenschaftlich wie ästhetisch zu überzeugen. Im November 1787 schrieb Schiller dem Verleger Crusius, seine „Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande“ solle das Publikum nicht nur ansprechen, sondern „im Äuserlichen wie im innern, ein mehr solides und wißenschaftliches Ansehen erhalte“5. In der Vorrede zu diesem Buch erläutert Schiller, seine Absicht sei erreicht, wenn wenigstens ein Teil der Leser erkenne, „daß eine Geschichte historisch treu geschrieben sein kann, ohne darum eine Geduldprobe für den Leser zu sein, und wenn er einem andern das Geständnis abgewinnt, daß die Geschichte von einer verwandten Kunst etwas borgen kann, ohne deswegen zum Roman zu werden“6. Seinem Freund Gottfried Körner hatte er geschrieben, man müsse demjenigen dankbar sein, der Geschichte „aus einer trockenen Wissenschaft in eine reitzende“ überführe, ohne deswegen den „Werth auf Gründlichkeit“ aufzugeben7. Das Vorbild des schottischen Historikers William Robertson (1721–1793) ließ ihn 1788 hoffen, einmal ebenso verehrt und noch dazu bewundert zu werden, weil er Geschichte „mit dichterischem Geiste“ erzähle8. ___________ Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, hg. v. Daniel Fulda/Silvia Serena Tschopp, Berlin u.a. 2002, 302. Vgl. auch Ernst Schaumkell, Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Romantik im Zusammenhang mit der allgemeinen geistigen Entwicklung, Leipzig 1905. 4 Daniel Fulda, Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860 (European cultures, 7), Berlin u.a. 1996, 157f. 5 An Crusius, 1787, Nov. 5. Schillers Briefe 17.4.1785–31.12.1787, hrsg. v. Karl Jürgen Skrodzki (Schillers Werke Nationalausgabe, Bd. 24), Weimar 1989, 175. 6 Friedrich Schiller, Sämtliche Werke: Historische Schriften, hrsg. v. Gerhard Frikke/Herbert G. Göpfert, München7 1988 (Hanser Ausgabe, 4), 31. – Um den Anmerkungsapparat zu entlasten, wird im folgenden bei Verweisen auf diese Ausgabe nur die Seitenzahl im Text genannt. 7 An Körner, 1788, Jan. 7. Friedrich Schiller, Briefe I, hrsg. v. Georg Kurscheidt (Klassikerausgabe, Bd. 11), Frankfurt a. M. 2002, 265. Künftig zitiert: Schiller, KA 11. 8 Ebd., 265.

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Obwohl schon die Aufklärungshistorie unter dem auch poetologischen Gebot stand, sinnstiftende Einheiten konstruieren zu müssen9, erscheint die Geschichtsauffassung Schillers, seine Verknüpfung von Bildungs-, Wahrheitsund Wirkungsanspruch in mancher Hinsicht avantgardistisch – damals wie heute. Nach seinem Ruf an die Universität Jena wollte Schiller einen „Begriff von dem erwecken, was ich als Professor der Geschichte leisten kann“10. Er betrieb das Geschäft des Historikers ernsthaft11 – wenn auch nur für wenige Jahre und mit Blick auf seine finanzielle Misere, die ihn zu marktgängigen Stoffen zwang. Seine historischen Darstellungen verkauften sich weit besser als seine frühen Dramen. Daß der Historiker Schiller im 19. Jahrhundert nahezu vergessen wurde, hing weniger an seinem „Interesse an Aufstandsgeschichte“12, sondern daran, daß seine Arbeiten demjenigen grundsätzlich zu widersprechen schienen, was seine Kollegen an Quellenarbeit für angemessen, an Kennzeichnung der Übernahmen aus anderen Werken für schicklich und an literarischer Ausgestaltung für zulässig hielten13. Die Kritik war vielstimmig, oft beißend und vernichtend. Barthold Georg Niebuhr erklärte 1809: „Die Zeit wird freilich Recht üben, und das Ding unter die Bank stecken“14. Friedrich Meinecke, der in einem seiner Hauptwerke den Historismus als Epoche der individualisierenden und genetischen Geschichtsauffassung scharf von der Aufklärungshistorie mit ihren universalistischen Tendenzen abgrenzte, behandelte Schiller nur peripher15. Karl-Heinz Hahn urteilte noch 1987, Schiller habe „keinen originalen

___________ 9 Reinhart Koselleck, Geschichte V-VII, in: Geschichtliche Grundbegriffe, 647–717, hier 658–665. Vgl. Ute Daniel, „Ein einziges großes Gemälde“. Die Erfindung des historischen Genres um 1800, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47 (1996), 3–20, 7. 10 An Körner, 1789, Okt. 13. Schillers Briefe 1.1.1788–28.2.1790, hrsg. v. Eberhard Haufe (Schillers Werke Nationalausgabe, 25), Weimar 1979, 302–304, Zitat 302. Zum Kontext vgl. Volker Wahl, Schillers Erbe in Jena, Jena 1984; Hans Tümmler, Signore Schiller. Der zunftfremde Geschichtsprofessor und die Jenaer Philosophische Fakultät 1789, in: Archiv für Kulturgeschichte 58 (1976), 444–458. 11 Vgl. Peter-André Alt, Schiller. Leben – Werk – Zeit, Bd. 1, München 2000, bes. 587–675; Georg Schmidt, Friedrich Schiller und seine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, in: Schiller im Gespräch der Wissenschaften, hrsg. v. Klaus Manger/Gottfried Willems (Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800. Ästhetische Forschungen, 11), Heidelberg 2005, 79–105. 12 Ernst Schulin, Schillers Interesse an der Aufstandsgeschichte, in: Schiller als Historiker, hrsg. v. Otto Dann u.a., Weimar 1995, 137–148. 13 Vgl. etwa Holger Reinitzhuber, Schillers „Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs“ als schriftstellerische Leistung: ein Beitrag zur Ästhetik der historischen Belletristik, Kiel 1970, 90ff. 14 Zit. n. Richard Fester, Einleitung in Schillers historische Schriften, in: Schillers Sämtliche Werke, Bd. 13, Tl. 1, Stuttgart/Berlin o. J., V-XL, hier VII. 15 Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus, München 1959, 287f.

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erkenntnisfördernden Beitrag“ geleistet16, und er sei – so in einer anderen Studie – mit dem Stoff zu wenig vertraut gewesen, „um eine historisch fundierte Darstellung liefern zu können“17. Heute, nach vielen Paradigmenwechseln, nach „linguistic“, „cultural“ und anderen „turns“, ist sich die wissenschaftliche Geschichtsschreibung nicht mehr so sicher. Die intellektuelle Selbstvergewisserung sucht inzwischen die Brücke ins 18. Jahrhundert, um dort anzuknüpfen, wo die Wissenschaften begannen, ihr eigenes Tun zu reflektieren. Die Tradition der Aufklärungshistorie erscheint nun als Vorgeschichte des Historismus18, der erst die Geschichtsschreibung individualisiert und verwissenschaftlicht habe19. Thomas Prüfer und Daniel Fulda bringen unterschiedliche Aspekte der Aufklärungshistorie und speziell der Schillerschen Variante mit dem Entstehen der modernen Geschichtswissenschaft in Verbindung20. Prüfer betont Schillers Kontinuität zur modernen Historiographie; Fulda weist ihm eine zentrale Vermittlungsrolle zum Historismus zu21. Jörn Rüsen hat das enorme Potential der Aufklärungshistorie betont, das nicht im Historismus aufgegangen sei, weil es sich hermeneutischen Zugriffen entzogen habe22. Er sieht einen Trend, die Geschichtsschreibung erneut zu den Künsten zu zählen23. Hier ist anzuknüpfen, um nach den Prämissen des Schillerschen Ansatzes, die Universalgeschichte habe analogisches Denken zu befördern (I), nach dessen Umsetzung (II) sowie danach zu fragen, welche Bedeutung dies heute haben könnte (III).

I. Universalgeschichte und analogisches Denken Schiller ist auch als Historiker Aufklärer: Der Mensch steht im Mittelpunkt, und er hat – wie es in der Antrittsvorlesung heißt – die Pflicht, sich „zum Menschen auszubilden“ (750). Um als mündiger Bürger handeln zu können, soll er sich an der Weltgeschichte bilden, die als sinnvolle Einheit nur von ihrer ___________ 16 Karl-Heinz Hahn, Schillers Beitrag zur Theorie der Geschichtswissenschaft, in: Friedrich Schiller. Angebot und Diskurs, hrsg. v. Helmut Brandt, Berlin/Weimar 1987, 78–91, hier 79 bzw. 90. 17 Ders., Schiller als Historiker, in: Bödeker, Aufklärung (Anm. 1), 388–415, 412. 18 Ulrich Muhlack, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Humanismus, München 1991. 19 Horst Dreitzel, Die Entwicklung der Historie zur Wissenschaft, in: Zeitschrift für Historische Forschung 8 (1981), 59–73. 20 Prüfer, Bildung (Anm. 2); Fulda, Wissenschaft (Anm. 4). 21 Fulda, Wissenschaft (Anm. 4), 410. 22 Jörn Rüsen, Von der Aufklärung zum Historismus – eine strukturgenetische These, in: Ders., Konfigurationen des Historismus, Frankfurt a. M. 1993, 29–94, 76–80. 23 Ders., Im Vorspiel der Aufklärung. Bürgerliche Identität zwischen Geschichtsbewußtsein und Utopie bei Friedrich Schiller, in: ebd., 139–156, 155.

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höchstentwickelten Form, von den gegenwärtigen Zuständen her, „aufwärts dem Ursprung der Dinge entgegen“ zu deuten sei. Werde sie dann der Gegenwart entgegen erzählt, entstehe eine temporale Verbindung von „Ursache und Wirkung“ (761f.). Während der Mensch sich wandle und seine Meinungen vergingen, bleibe die Historie als „unsterbliche Bürgerin aller Zeiten und Nationen“ auf dem Schauplatz zurück. Wie Zeus sehe sie mit heiterem Blick auf Kriege und Despoten herab, denn sie „entdeckt schon von ferne, wo diese regellos schweifende Freiheit am Bande der Notwendigkeit geleitet wird“. Nur sie könne – und hier ist die Anlehnung an Kant überdeutlich24 – offenbaren, daß der Mensch zwar niedrige Zwecke verfolge, damit jedoch unbewußt vortreffliche fördere (765f.). Schillers optimistisches Weltbild geht von einer beinahe linear gedachten Höherentwicklung zur Gegenwart aus25. Der Fortschritt sei offensichtlich und zeige sich auch politisch in der Zurückdrängung des Despotismus, der zunehmenden Anerkennung von Menschenrechten und – erstmals in der Geschichte – der Harmonie von Freiheit und Kultur26. Es sind die Extreme – Stillstand oder Chaos, Despotie oder Freiheit –, die der Historiker aus dem unendlichen Geschehen synthetisiert, systematisiert und mit Hilfe seiner Imagination in eine zukunftsträchtige Mittelposition bringen muß, um „Freiheit mit Ordnung, Ruhe mit Tätigkeit, Mannigfaltigkeit mit Übereinstimmung wohltätig zu verbinden“ (845). Das Geschehen ist für Schiller ein „ununterbrochen fortfließender Strom“, die „Weltgeschichte“ beleuchte jedoch nur hier und da eine „Welle“. Was in Verbindung mit heute wichtig sei, könne zur Zeit seines Geschehens, also im Kontext von vorher und nachher, „isoliert“ erscheinen. Schiller wählt das Beispiel der christlichen Religion, deren Entstehen sich weder aus den Zeitumständen noch aus den Bedürfnissen des jüdischen Volkes erklären lasse, aber die Welt bis heute präge (763). Die Universalhistorie müsse daher die Verbindung zwischen den vergangenen Begebenheiten und der Gegenwart finden, „welche auf die heutige Gestalt der Welt und den Zustand der jetzt lebenden Generation einen wesentlichen, unwidersprechlichen und leicht zu verfolgenden Einfluß gehabt haben“ (762). Dazu benötige man einen „philosophische[n] Kopf“ (752), der die Wissenschaften (und die Kunst) nicht weiter voneinander ___________ 24

Vgl. Rudolf Malter, Schiller und Kant, in: Dann, Schiller (Anm. 12), 281–291; vgl. Georg Schmidt, Durch „ungesellige Geselligkeit“ und unbedingten Gehorsam zur größtmöglichen Freiheit im ewigen Frieden, in: Ungesellige Geselligkeit. Festschrift für Klaus Manger, hrsg. v. Andrea Heinz u.a. (Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800. Ästhetische Forschungen, 12), Heidelberg 2005, 73–91. 25 Vgl. Helmut Koopmann, Das Rad der Geschichte. Schiller und die Überwindung der aufgeklärten Geschichtsphilosophie, in: Dann, Schiller (Anm. 12), 59–76. 26 Manfred Riedel, Europa in Schillers Konzept der Universalgeschichte, in: ebd., 29–58, 57f.

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trenne, sondern ihre Einheit wiederherstelle, weil er wisse, „daß im Gebiete des Verstandes, wie der Sinnenwelt, alles ineinander greife, und sein reger Trieb nach Übereinstimmung kann sich mit Bruchstücken nicht begnügen“ (752). Da jedoch das „Schicksal über so viele Begebenheiten den letzten Aufschluß“ noch zurückhalte und diese sich mit tausend Fakten belegen und widerlegen ließen, solange noch „wichtige Bindungsglieder“ fehlten, müsse der Universalhistoriker die Frage nach dem temporalen wie kausalen Zusammenhang oft „für unentschieden“ erklären. Bei seiner Konstruktion siege daher diejenige Meinung, „die höhere Befriedigung und dem Herzen die größte Glückseligkeit anzubieten hat“ (764). Gemäß der zeitgenössischen Wissenschaftstheorie rückt Schiller Wahrscheinlichkeit an die Stelle von Gewißheit und betont den subjektiven Charakter jeder Erkenntnis. Den anthropologischen „Trieb zur Übereinstimmung“, der unterschiedliche Begebenheiten als ein Ganzes erscheinen lasse, sieht er allerdings nur dann in Kraft, wenn die Strukturähnlichkeit vom „menschlichen Gemüth“ beglaubigt werde27. Der Historiker nehme „die Harmonie aus sich selbst heraus und verpflanzt sie außer sich in die Ordnung der Dinge, d. i. er bringt einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte“ (764). Mit Hilfe „künstliche[r] Bindungsglieder“ konstruiere der philosophische Kopf damit das vorgefundene Aggregat von Bruchstücken zu einem „System, zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen“ (763). Da er die Wahrheit mehr als sein System liebe, zwinge ihn sein „Trieb nach Verbesserung“ zu stetiger Vervollkommnung (753), während ihn sein „Trieb zur Übereinstimmung“ reize, alles „seiner eigenen vernünftigen Natur zu assimilieren“ und nicht nur temporal „Ursache und Wirkung ineinander greifen“ zu sehen, sondern dies auch teleologisch als „Mittel und Absicht“ zu verbinden. Die Gleichförmigkeit der Naturgesetze und des „menschlichen Gemüts“ berechtigten ihn zu der „Methode, nach der Analogie zu schließen“, von der Gegenwart auf die Vergangenheit (764)28. Allerdings müsse dies vorsichtig geschehen. Der „Trieb zur Übereinstimmung“ ist die Basis von Schillers Konzept einer auf die gegenwärtigen Weltverhältnisse hin ausgerichteten Geschichte. Sie soll die Leser nicht zur Identifikation mit den Akteuren anregen, sondern sie in die Lage versetzen, Struktur- und Diskursähnlichkeiten mit ihren Lebensumstän___________ 27 Vgl. Bernd Bräutigam, Vergangenheitserfahrung und Zukunftserwartung. Zum Geschichtsverständnis bei Kant, Schiller und Friedrich Schlegel, in: Evolution des Geistes. Jena um 1800, hrsg. v. Friedrich Strack (Deutscher Idealismus, 17), Stuttgart 1994, 197–212, 204. 28 Vgl. Ernst Osterkamp, Die Seele des historischen Subjekts. Historische Portraitkunst in Friedrich Schillers Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung, in: Dann, Schiller (Anm. 12), 157–178, 159.

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den zu erkennen. Der Bildungswert der Geschichte liegt nach Schiller in der Anleitung zum analogischen Denken. In der 1786 entstandenen Erzählung, die später den Titel „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ erhielt, erläutert Schiller sein Vorgehen, um dieses Ziel zu erreichen. Die Geschichtsdarstellungen hätten bisher auf das bürgerliche Leben wenig gewirkt, weil zwischen der emotionalen Erregung des Akteurs „und der ruhigen Stimmung des Lesers“ eine zu große Kluft liege, so daß es letzterem unmöglich sei, „einen Zusammenhang nur zu ahnden“. Damit aber gehe die „Belehrung“ verloren, „und die Geschichte, anstatt eine Schule der Bildung zu sein, muß sich mit einem armseligen Verdienste um unsre Neugier begnügen.“ Um die emotionale Differenz zu überbrücken, dürfe der Leser historischer Darstellungen jedoch nicht mit rhetorischen Mitteln „bestochen“ werden, denn dies beleidige seine „republikanische Freiheit“. Er besitze das Recht, selbst „zu Gericht zu sitzen“. Deswegen bleibe nur ein Weg: „Der Held muß kalt werden wie der Leser, oder, was hier ebensoviel sagt, wir müssen mit ihm bekannt werden, ehǥ er handelt; wir müssen ihn seine Handlung nicht nur vollbringen sondern auch wollen sehen. An seinen Gedanken liegt uns unendlich mehr als an seinen Taten, und noch weit mehr an den Quellen seiner Gedanken als an den Folgen jener Taten“29. Besser läßt sich die anthropozentrische Geschichtsauffassung Schillers kaum ausdrücken. Es geht um den Menschen, seine Gedanken und deren Genese, um mit deren Hilfe die Selbstbildung und Vervollkommnung zur Harmonie von Vernunft und Leidenschaften zu bilden. Schiller nennt zwei Prämissen, um entsprechende Einsichten aus der Universalgeschichte gewinnen zu können: der anthropologisch und durch Erziehung festgelegte menschliche Charakter – die „unveränderliche Struktur der menschlichen Seele“ und die „veränderlichen Bedingungen, welche sie von außen bestimmten“30 – sowie die Ähnlichkeit menschlichen Verhaltens unter vergleichbaren Umständen. Beides hat Rückwirkungen auf seine universalgeschichtliche Erzählung. Heroische Exempel des guten und tugendhaften Lebens fehlen, weil sie lediglich die Neugier befriedigten und keine Betroffenheit der Art erzeugten, die den Leser zu analogischem Denken stimuliere, so daß er das Erzählte mit seiner Gegenwart verbinde. Die angestrebte Menschenbildung erreicht die Universalgeschichte am ehesten, wenn die kulturelle Distanz zwischen Leser und Akteur vergleichsweise gering ist. Schiller wählt seine historischen Stoffe aus dem europäischen Kulturkreis. Die eigene Gegenwart kenne die „edlere Freiheit des Menschen … Das Gesetz wacht über sein Eigentum – und ihm bleibt das unschätzbare Recht, ___________ 29 Friedrich Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre, in: Erzählungen, hrsg. v. Hans Heinrich Borchardt (Schillers Werke Nationalausgabe, 16), Weimar 1954, 7–29, 8. 30 Ebd., 9.

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sich selbst seine Pflicht auszulesen“ (756). Davon abgesetzt werden die fremden Völker, die im Vergleich zur europäischen Zivilisation wie Kinder unterschiedlichen Alters erschienen. Ihr Bild sei „beschämend und traurig“: „Sklaverei, Dummheit und Aberglauben“ oder „gesetzlose Freiheit“. Daß auch die eigene Kultur vor 1800 Jahren auf dieser Stufe gestanden habe (754f.), macht die kulturelle Überheblichkeit Schillers nicht besser. Der selbstreferentielle Vergleich, sein Einst und Jetzt, zeigt die Entwicklung des Menschen und die Genese der Gegenwart. Die Geschichte bildet nicht durch abstraktes Weltwissen und die Kenntnis des Fremden und Anderen, sondern durch die Erzählung, die nicht nur von der Gegenwart her konstruiert ist, sondern mit der die Vergangenheit auch wieder in bezug zu aktuellen Lebensumständen gebracht werden kann. Wo der Leser das Fremdartige auf Bekanntes reduziert, ist der Bildungseffekt am größten: Deswegen erfährt der Leser im Gegensatz zu fiktionalen Erzählungen oder zu Berichten aus fremden Erdteilen möglichst wenige, seine Aufmerksamkeit absorbierende Neuigkeiten und keine überraschende Wendungen. Die Erzeugung emotionaler Betroffenheit, die Einladung zum Mitfühlen und Mitleiden, die andere Universalhistoriker durchaus empfahlen, widerspricht für Schiller dem Sinn einer der Wahrheit verpflichteten historischen Erzählung. Deswegen wird der Leser nicht nur mit den Charakteren, sondern auch mit den Schauplätzen und Umständen vorab vertraut gemacht. Die Geschichtserzählung darf gerade nicht überraschen. Schiller versucht, seine eigenen Erfahrungen dem Leser nahezubringen. Was ihn selbst an der Lektüre über die niederländische Revolution begeistert habe, sei die „schnelle Wirkung seiner eigenen Vorstellungskraft gewesen …, die dem empfangenen Stoffe gerade die Gestalt gegeben, worin er mich so vorzüglich reizte. Diese Wirkung wünschte ich bleibend zu machen … weiter zu verbreiten, und auch andere Anteil daran nehmen zu lassen. Dies gab den Anlaß zu dieser Geschichte, und dies ist auch mein ganzer Beruf, sie zu schreiben“ (29). Schiller erklärt auch Caroline von Beulwitz im Dezember 1788 – in den Tagen seiner Berufung nach Jena – dieses hohe Ziel: Die Geschichte besitze den Vorzug der Wahrheit gegenüber dem Roman. Es frage sich jedoch, „ob die innere Wahrheit, die ich die philosophische und Kunstwahrheit nennen will, und welche in ihrer ganzen Fülle im Roman oder in einer andern poetischen Darstellung herrschen muß, nicht eben soviel Werth hat als die historische“. Die innere Wahrheit werde gefühlt, ohne daß die Begebenheit wirklich vorgefallen sein müsse. „Man lernt auf diesem Weg den Menschen und nicht den Menschen kennen, die Gattung und nicht das sich so leicht verlierende Individuum.“ Dem Historiker fehle zwar die Freiheit des Künstlers, doch „die Geschichte ist überhaupt nur ein Magazin für meine Phantasie, und die Gegenstände müssen sich gefallen laßen, was sie unter meinen Händen werden“31. ___________ 31

Schiller, KA 11, 349f.

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Geschichtsschreibung muß die Wahrheit der Quellen mit der inspirativen poetischen Wahrheit verbinden, um in ihrer temporalen Struktur als Ursache und Wirkung und kausal-teleologisch als Mittel und Absicht erzählt werden zu können. Historische und poetische Wahrheit, die den Sinn des Geschichtsprozesses verkörpert, sind nicht identisch, sondern ergänzen sich. Da in dieser Verbindung der Zusammenhang zwischen vergangenem Geschehen und der Lebenspraxis nicht länger ignoriert wird, bildet die Universalgeschichte mit ihrem Zwang zum analogischen Denken die moralische Urteilsfähigkeit der Menschen. In seiner niederländischen Geschichte thematisiert er die Wahrheitsfrage in der Vorrede: „Bei so ungleichen, relativen, oft ganz widersprechenden Darstellungen derselben Sache hält es überhaupt schon schwer, sich der Wahrheit zu bemächtigen, die in allen teilweise versteckt, in keiner aber ganz und in ihrer reinen Gestalt vorhanden ist.“ Gibt es also doch eine historische Wahrheit unabhängig von der Aneignung und Darstellung des Geschehens? Schiller unterschätzt diese Problematik keineswegs. Weil er seine Kenntnisse aus standpunktverhafteten Autoren schöpfe, müsse er sich zunächst von der suggestiven Kraft lösen, „welcher jeder geistvolle Schriftsteller mehr oder weniger gegen seine Leser ausübt“ (30f.). Damit beginnt für ihn die Neukonstruktion des Stoffes. Nach Wilhelm von Humboldt war Schiller der Auffassung, „daß der Geschichtsschreiber, wenn er alles Faktische durch genaues und gründliches Studium der Quellen in sich aufgenommen habe, nun dennoch den so gesammelten Stoff erst wieder aus sich heraus zur Geschichte konstruieren müsse“32. Der Kritik Körners, daß der Geschichtsschreiber Zusammenhänge da konstruieren müsse, wo Daten fehlten, begegnet Schiller offensiv mit dem Eingeständnis, gerade dies reize „einen philosophischen Geist … sie zu beherrschen“33. Dadurch wird der Historiker selbst zum Akteur und trifft auf einen Rezipienten, dem es im Idealfall ebenso ergehen sollte. Er ist der „reifeste Sohn der Zeit,/ frei durch Vernunft, stark durch Gesetze“34, der selbst denken kann und ernst genommen werden muß, denn die Gesetze seien inzwischen „tugendhaft“, allerdings „noch nicht die Menschen“ (757). Um diese entsprechend verbessern zu können, fordert Schiller von der Geschichtserzählung nicht nur „Wissenschaft“ und „Wahrheit“, sondern auch eine kunstvolle Darstellung. Das Mittel, um Vernunft und Gefühl in eine Balance zu bringen und so dem Ziel, der Selbstbestimmung des mündigen Menschen näher zu kommen, ist für ihn – nicht erst seit seinen Briefen über die ästhetische Er___________ 32 Wilhelm von Humboldt, Vorerinnerung, in: Der Briefwechsel zwischen Friedrich Schiller und Wilhelm von Humboldt, Berlin 1962, Bd. 1, 27. 33 Schiller, KA 11, 264. 34 Friedrich Schiller, Die Künstler, in: Gedichte, hrsg. v. Norbert Oellers (Schillers Werke Nationalausgabe, 2/1), Weimar 1983, 383–386, 383.

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ziehung – die schöne Kunst, die poetisch-ästhetische Kultur. Deswegen setzt er auf die poetologisch-künstlerische Ausgestaltung seiner historischen Erzählungen: „Nur durch das Morgenthor des Schönen/ drangst du in der Erkenntniß Land. … Was erst, nachdem die Jahrtausende verflossen,/ die alternde Vernunft erfand,/ lag im Symbol des Schönen und des Großen/ voraus geoffenbart dem kindischen Verstand“35. Die Künstler hätten die Errungenschaften der Gegenwart vorausgeahnt, die im Schönen und in der davon ausgehenden Harmonie längst angelegt gewesen seien. Das akademische Publikum seiner Antrittsvorlesung erinnert Schiller daran, daß sich der Geist der nordischen Barbaren an griechischen und römischen Mustern aufgerichtet habe. Die Gelehrsamkeit müsse „einen Bund mit den Musen und Grazien schließen, wann sie einen Weg zu den Herzen finden und den Namen einer Menschenbildnerin sich verdienen sollte“ (760). Schiller kombiniert den philosophisch-aufklärerischen Geschichtsplan mit ästhetisch-künstlerischen Prinzipien: Im Zeichen der Wahrheit werden Kunst und Geschichtswissenschaft zusammengeführt, um den Menschen in seiner Gattung moralisch zum Menschen zu bilden36. Ganz im Sinne der anthropologischen Wende der deutschen Spätaufklärung sollen so die Widersprüche zwischen den empirisch wahrzunehmenden Erscheinungen sowie den menschlichen Intentionen und Verhaltensweisen überbrückt werden37. Der Charakter („Seele“) des Menschen wird zum Fixpunkt im Strom eines vergangenen Geschehens und hilft, die Kontingenz zu reduzieren. Die Menschen werden in Entscheidungssituationen gebracht, in denen ihr Verhalten im Zusammenspiel von Charakter und äußeren Umständen beobachtbar und ihre Gedanken kausal erklärbar werden. Das Verfahren reduziert die Variablen und bedient die Erwartungen der Leser, die sowohl die Versuchsanordnung – die Situation und die Charaktere – als auch das Ergebnis vorher kennen.

II. Die Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande Schillers erste große historische Darstellung – die „Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung“ – nutzt Vorrede und Einleitung, um dem Leser die Brücke zur Gegenwart und zur Bildung entsprechender Analogien nahezubringen. Die „Revolution“ und das Entstehen der niederländischen Freiheit erscheinen als eine Begebenheit, „wo die bedrängte Menschheit um ihre edelsten Rechte ringt … und die Hülfsmittel ent___________ 35

Schiller, Künstler (Anm. 34), 384. Vgl. Fulda, Wissenschaft (Anm. 4), 235ff. 37 Peter Hanns Reill, Anthropology, Nature and History in the Late Enlightenment. The Case of Friedrich Schiller, in: Dann, Schiller (Anm. 12), 243–265. 36

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schlossener Verzweifelung über die furchtbaren Künste der Tyrannei im ungleichen Wettkampf siegen“. Schiller will „dieses schöne Denkmal bürgerlicher Stärke vor der Welt“ aufstellen, um „in der Brust meines Lesers ein fröhliches Gefühl seiner selbst zu erwecken“ (33). Wäre dieser Text ein Jahr später erschienen, hätte er angesichts der Französischen Revolution als politischer Aufruf mißverstanden werden können, zumal Schiller daran erinnert, daß die Kraft, mit der das niederländische Volk gehandelt habe, nicht verschwunden sei, „der glückliche Erfolg, der sein Wagstück krönte, ist auch uns nicht versagt, wenn die Zeitläufte wiederkehren und ähnliche Anlässe uns zu ähnlichen Taten rufen“ (1020). Schiller strich diese Passage angesichts des Terrors in Frankreich in der zweiten Auflage 1801, um den Freiheitskampf der Niederländer nicht mit falschen Assoziationen zu belasten. Dieser bleibt so ein Menschheitskampf, denn die allgemeine Menschenfreiheit ist noch nicht erreicht. Erzählt wird die Geschichte eines Volkes, das die Umstände zum Handeln gezwungen habe. Schiller bemüht den Nationalcharakter, denn die Niederlande ließen sich nicht wie die Spanier unter das monarchische Joch beugen. Schillers Darstellung konkurrierte 1788 mit zahlreichen Schriften, die von den aktuellen Unruhen in den Niederlanden handelten38. Beachtenswert ist ein Büchlein Karl Hammerdörfers39, das zwar schnell in Vergessenheit geriet, jedoch explizit macht, was Schiller an Einschätzungen voraussetzt. Die Niederlande seien – so Hammerdörfer – Hauptgesprächsthema. „Kein uninteressanter Anblick, nicht allein für den denkenden Forscher der Geschichte“ ist es „zu sehen, wie der republikanische Geist, die sogenannte Volksfreiheit, auf welchen man in Republiken so stolz ist, daß man auf unter Fürsten lebende Menschen als auf Lastthiere herabsieht, zuletzt überall zu den scheuslichen Auftritten übergeht, eine Quelle der ausgelassensten Zügellosigkeit des größten bürgerlichen Elends wird. Brüste sich der Republikaner denn auch noch so sehr mit seiner schimärischen Freiheit; schelte er uns immer Fürstensklaven: wenn unsere Fürsten nur gut und weise sind, wenn sie nur sind wie unsre Josephe, Friedriche und Karl August; so überwiegt unser Wohlstand, unsre Freiheit sogar, die seinige mehr als tausendfach.“ Es sei immer noch besser von einem übelgeleiteten Fürsten als von Aristokraten oder „von der wilden Horde eines unbändigen Jan Hagels despotisirt zu werden“. In einer Anmerkung wird Hammerdör___________ 38

Leonard Meister, Grundlinien der Holländischen Geschichte …, Zürich 1787; Ursprung und Flor des Freystaates der vereinigten Niederland. Nebst Abhandlungen über Großbritanniens Staatsverfassungen und über die Revolutionen der vermischten Regierungsformen. Aus dem Niederländischen, Bd. 1, Frankfurt und Leipzig 1787; Johann Michael Afsprung, Ueber die vereinigten Niederlande in Briefen an Fraulein von ***, Ulm 1787. 39 Karl Hammerdörfer, Holländische Denkwürdigkeiten oder ausführliche Geschichte der gegenwärtigen Unruhen in den Vereinigten Niederlanden, Leipzig 1788.

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fer grundsätzlich: Republikanische Verfassungen seien „den Fortschritten der Menschheit hinderlich“, weil alles beim Alten bleibe, „finstre stets wache Eifersucht“ verhindere, das „Volk aufgeklärter zu machen“40. Ob Schiller diese Meinung teilte, ist unwichtig. Der Autor Hammerdörfer ist nur deswegen bemerkenswert, weil er wie Schiller eine außerplanmäßige Professur an der Jenaer Universität innehatte. Er war im Herbst 1787 auf Verwendung der ernestinischen Höfe ernannt worden, um mit seinem Kollegen Johann Ernst Fabri die „Allgemeine Jenaer Politische Zeitung“ zu betreuen, die aber schon bald ihr Erscheinen einstellen mußte. Da Hammerdörfer keinen akademischen Grad besaß und man ihm zudem einen lockeren Lebenswandel vorwarf, fand er keine Aufnahme ins Professorenkollegium41. Wie der preußische „Universitätsbereiser“ Friedrich Gedike überliefert, lehrte er auch nicht42. Schiller dürfte sein Schicksal jedoch eine Warnung gewesen sein, trotz der hohen Kosten den Magister- und Doktortitel zu erwerben. Er lebte seit Sommer 1787 fast durchweg in Weimar oder Jena, wo sein Historikerdasein entscheidende Impulse erfuhr – weniger durch die Jenaer Professoren, von denen er vor allem den Kantspezialisten Karl Leonhard Reinhold erwähnt –, als im Umgang mit Wieland und Herder. Sie haben Schiller geholfen, sich selbst zu finden, denn nach Gesprächen mit ihnen erkannte er zwar seine Armut (an Wissen), wollte nun aber seinen Geist – wie er Huber schrieb – höher anschlagen, als er es bisher getan habe. Deswegen beschloß er, produktiv zu werden und sein Glück selbst in die Hand zu nehmen43. Ihn reizte das künstlerische und wissenschaftliche Milieu der Doppelstadt Weimar-Jena. Die vier Erhalterstaaten machten die Jenaer Universität seines Erachtens zudem zu einer „ziemlich freien und sichern Republick, in welcher nicht leicht Unterdrückung Statt findet“44. Zu dem Zeitpunkt, als Schiller sich in Jena einrichtete, wurde seine niederländische Geschichte rezipiert. In deren Mittelpunkt stehen nicht „kolossalische Menschen“, die den Umsturz herbeiführen: Das Zeitalter der Verfeinerung und Zivilisation benötige sie und ihre Taten nicht mehr. Statt dessen sei es gerade der „Mangel an heroischer Größe, was diese Begebenheit eigentümlich und unterrichtend macht“, der Drang der Umstände habe dem Volk „vorübergehende Größe“ aufgenötigt. (349) Denn „die neue Wahrheit, deren erfreuender Morgen jetzt über Europa hervorbricht“, habe bereits einen „befruchtenden Strahl“ auf ___________ 40

Ebd., 1f. Vgl. Peter Langhof, Karl Hammerdörfer, Ein Beitrag zur Geschichte der Historiographie des ausgehenden 18. Jahrhunderts, maschinenschriftliche Diplomarbeit Jena 1958 (Universitätsarchiv Jena). 42 „Der Universitäts-Bereiser Friedrich Gedike und sein Bericht an Friedrich Wilhelm II., mitgeteilt von Richard Fester (Archiv für Kulturgeschichte, Ergänzungsheft 1), Berlin 1905, 85. 43 Schiller, KA 11, 238. 44 Schiller, KA 11, 148. 41

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die Niederlande geworfen, wo „freie Bürger das Licht“ empfangen hätten, dem sich „gedrückte traurige Sklaven verschließen“. (35) Die aufklärerische Metaphorik dient auch hier dazu, beim Leser Analogien zur Gegenwart hervorzurufen. Die Einleitung erinnert ihn auch daran, daß „bürgerlich“ nicht als traditionelle Standesbezeichnung mißverstanden werden darf: Gemeinsam hätten Bürgerliche und Adlige den tyrannischen König und seine lokalen Satrapen besiegt. Heinz Schilling hat diese erahnte Einsicht Schillers in einer längeren Studie grundsätzlich bestätigt: Der Aufstand der Niederlande war ein Elitekonflikt45. Schillers Aufmerksamkeit gilt von Anfang an nicht dem Kampfesmut und der Entschlossenheit Einzelner oder dem niederländischen Volk, sondern der Erklärung eines Geschehens, das zur niederländischen Freiheit führte. Er verurteilt die Tyrannei des Herrschers wie des bilderstürmenden Pöbels. Dessen Gewaltausbruch belegt seines Erachtens einmal mehr, daß das selbst handelnde Volk für die Freiheit noch nicht reif ist. Es provozierte den Kriegszug und das harte Regiment Albas, der im Auftrag Philipps II. die Niederlande unterwerfen soll. Körner verkennt die didaktisch-analogische Absicht, als er Schiller vorhält, die Sache der Niederlande werde geschwächt, wenn er „das Thörigte und Niedrige in ihrem Betragen“ nicht entschuldige46. Dieser will die Selbstverantwortung des Menschen für sein Tun im Zustand der Freiheit betonen, zumal der Sieg Albas temporär ist: Die Freiheit triumphiert, wenn auch noch nicht auf Dauer. Es ist das „friedfertige Fischer- und Hirtenvolk“, das sich dem Despotismus widersetzt, weil der „Bewahrer seiner Gesetze … sein Tyrann“ geworden ist. Schiller erzählt die kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Hintergründe eines Freiheitskampfes, den er in den Briefen häufig als „Rebellion“, in der Vorrede als „Revolution“, im Titel aber als „Abfall“ deutet. Warum er diesen Titel wählt, bleibt unklar. In der Darstellung dominiert der Begriff „Freiheit“, und die Niederlande finden seines Erachtens in Prinz Wilhelm von Oranien einen Führer, der diese zu seinem Anliegen machte. Das Ergebnis ist eine „neue Republik“, die „aus Bürgerblut ihre siegende Fahne“ hebt und zur Heimat derjenigen wird, die der Gewissenszwang in ganz Europa vertrieben habe (35–39). Selbst die Fürsten Europas hätten nicht den Despoten Philipp II. unterstützt, sondern seien aus machtstrategischen Gründen an die Seite der Freiheit getreten. ___________ 45 Heinz Schilling, Der Aufstand der Niederlande. Bürgerliche Revolution oder Elitekonflikt? (zuerst erschienen 1976), in: Ders., Ausgewählte Abhandlungen zur europäischen Reformations- und Konfessionsgeschichte, hrsg. v. Luise Schorn-Schütte/Olaf Mörke (Historische Forschungen, 75), Berlin 2002, 279–333. 46 Christian Gottfried Körner an Schiller, 1788, Nov. 9/10. Briefe an Schiller 1781– 28.2.1790, hrsg. v. Siegfried Seidel (Schillers Werke Nationalausgabe, 33/1), Weimar 1989, 244–247, 245.

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Damit ist es die politische Konstellation, die den „Abfall“ begünstigt und den Ausgang dieses ungleichen Kampfes erklärt. Das Ereignis wird auch dadurch nicht geschmälert, daß die Republik selbst zum Machtstaat wird, der „den Thron seiner vormaligen Tyrannen verschenkt … Der Mensch verarbeitet, glättet und bildet den rohen Stein, den die Zeiten herbeitragen; ihm gehört der Augenblick und der Punkt, aber die Weltgeschichte rollt der Zufall“ (44f.). Das Geschehen dürfe nicht verurteilt werden, wenn die „Leidenschaften“, „Kräfte“ und „Handlungen“ „edel“, „schön“ und „groß“ gewesen seien. Es sei auch gleichgültig, ob man das Ereignis als zufällig oder einem höheren Verstande geschuldet bewerte. Die Geschichte der Welt entspreche den Gesetzen der Natur oder der Seele des Menschen. „Dieselben Bedingungen bringen dieselben Erscheinungen zurück. Auf eben diesem Boden, wo jetzt die Niederländer ihrem spanischen Tyrannen die Spitze bieten, haben vor fünfzehnhundert Jahren ihre Stammväter, die Batavier und Belgen, mit ihrem römischen gerungen“ (45). Mit dieser Parallelisierung legt Schiller nun allerdings die Vorstellung nahe, daß sich „dieselben Erscheinungen“, also Geschichte wiederhole47: Die Niederländer widersetzen sich Tyrannen. Die Erscheinungen mögen wie die Bedingungen damals und im 16. Jahrhundert ähnlich gewesen sein, identisch waren sie nicht. Mit seiner eigenen Analogie, die statt des Transfers auf andersartige gegenwärtige Verhältnisse eine Art überzeitliche Identität betont, verstärkt Schiller letztlich einen Mythos, und – was wichtiger ist – er legt eine falsche Fährte, denn er konterkariert seine universalhistorische Absicht, Bildung erfolge durch analogisches Denken, nicht durch eine zyklisch wiederkehrende Geschichte. Schillers Erzählung beginnt mit einer Landesbeschreibung und informiert über die burgundische Phase, als sich Wohlstand und Freiheit verbinden und auch die Kunst zu blühen beginnt. Die Herrschaft Karls V. zeigt die welthistorische Kampfkonstellation: „Ein Souverän wird die bürgerliche Freiheit immer als einen veräußerten Distrikt seines Gebiets betrachten, den er wiedergewinnen muß. Einem Bürger ist die souveräne Herrschaft ein reißender Strom, der seine Gerechtsame überschwemmt. Die Niederländer schützten sich durch Dämme gegen ihren Ozean und gegen ihre Fürsten durch Konstitutionen. Die ganze Weltgeschichte ist ein ewig wiederholter Kampf der Herrschsucht und Freiheit um diesen strittigen Fleck Landes“ (63). Karl V. habe die Handelsfreiheit der Bürger nicht beschränkt, aber die Gewissensfreiheit verhindert, den Übergang der monarchischen Gewalt zum Despotismus vorbereitet und den Geist der Freiheit provoziert, der nicht bei der Glaubensfreiheit stehengeblieben sei, sondern auch „die Rechte der Könige“ untersuchte (64). ___________ 47

Vgl. Koopmann, Rad (Anm. 25), 74.

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Die Folgen hätten sich unter Philipp II. gezeigt, in dessen Gesicht die Niederländer schon beim Regierungsantritt den „verderblichen Anschlag gegen ihre Freiheit“ hätten lesen können (72). Das Herrschaftsmodell der monarchischen Despotie und Tyrannei wird mit dem Charakter Philipps II. personifiziert48. Schiller interessiert sich nicht für das Individuum, sondern für den Träger der Herrschsucht, um an ihm das Menschlich-Allgemeine kenntlich zu machen49. Das gleiche gilt für die unsichere Margarethe von Parma oder den Herzog Alba, der den absolutistischen Staat durchsetzt. Zu den Akteuren, die das Böse verkörpern, zählt auch die Inquisition, weil sie die Vernunft dem blinden Glauben unterordnet und ihre Gerichtsbarkeit selbst auf die geheimsten Gedanken ausdehnen will (1022). Die führenden Akteure werden von Schiller gerade nicht heroisch stilisiert50, sondern als Charaktere dem Leser ihren Rollen gemäß vorab verständlich gemacht und entsprechend seinen Darstellungs- und Wirkungsabsichten typologisiert. Ihm geht es dabei weniger um die simple Klassifizierung in „gut“ und „böse“, sondern er möchte die inneren Motive der Handelnden offenlegen, um erst gar keine emotionale Lücke zwischen ihnen und dem Leser entstehen zu lassen. Philipp II. gegen Wilhelm von Oranien: Die personalisierende, auf Konfliktsituationen zuspitzende Darstellung wird den beiden Individuen nicht gerecht, typisiert aber die Konfiguration – Herrschsucht und Tyrannei einer-, Freiheitsstreben und Vaterlandsliebe andererseits. Philipp II. besitzt einen finsteren Charakter, herrscht alleine, kämpft um die Hegemonie über Europa und wird zum Despoten; Wilhelm der Schweiger ist aufrichtig und (staats)klug, hat in Egmont und Horn, der Adelsverschwörung und dem Volk Mitstreiter, die aber keineswegs immer seiner Meinung sind. Mit dieser Einheit in der Vielfalt kennzeichnet Schiller ein freiheitliches politisches Gemeinwesen. Er macht Oranien zum zweiten Brutus und Träger des Freiheitsgedankens, doch der Aufstand – ob Adelsverschwörung oder Bildersturm – erfolgt zunächst ohne ihn oder gegen seinen Willen. Der Prinz ist bei Schiller nicht der strahlende Held, sondern ein rational abwägender Staatsbürger, der patriotisch handelt, ohne seine eigenen Interessen zu vernachlässigen, mit den Exzessen aber nichts zu tun hat. Er bleibt rein und menschlich. Wenn jedoch die niederländischen Großen zu Komplizen des Tyrannen werden, können dafür keine ehrenwerte Gründe, sondern nur Ehrgeiz und Eigennutz ausschlaggebend sein. Während Philipp II., der Herzog Alba, die Inquisition und die spanischen Besatzer Angst und Schrecken verbreiten, stehen ___________ 48 Dieses abwertende Charakterbild übernimmt Schiller von Louis Sébastian Mercier (1740–1814). Schiller hat dessen Kurzporträt 1785 in einer überarbeiteten und gekürzten Form herausgegeben. Vgl. HA 4, 7–25. 49 Osterkamp, Seele (Anm. 28), 161. 50 Ebd., 164.

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Wilhelm von Oranien und der Graf von Egmont auf der anderen Seite. Letzterer erscheint jedoch als mehr oder weniger lebenslustiger Phantast, weil er im entscheidenden Moment sein Vaterland nicht im Stich lassen will. Granvella wird hingegen als dämonisch vorgestellt und daher zunächst als Muster eines Staatsmanns für Monarchien, die sich dem Despotismus nähern, nicht aber für Republiken mit königlicher Spitze. Hier verweist Schiller auf die lange Auseinandersetzung um das Wesen einer freien res publica, die wie Venedig, das Reich oder England einen „Führer“ und Repräsentanten besitzen darf, solange sie nicht monarchisch, also despotisch regiert werden kann. Diese als konstitutionelle Monarchie mit Repräsentation und politischer Kontrolle zu denkende Republik ist die nach englischem Vorbild im späten 18. Jahrhundert angestrebte Staatsform. Wieder verbindet Schiller Vergangenheit mit Gegenwart und Zukunft. Granvellas erzwungener Rückzug, die Adelsverschwörung und die Religionsedikte sorgen in den Niederlanden dann allerdings noch einmal für einen Freiraum, den die Nation jedoch mit dem Bildersturm und dem inneren Krieg mißbraucht, weil sie der Freiheit entwöhnt ist. Dies klingt angesichts der Entwicklung der Französischen Revolution wie eine Prophetie, artikuliert 1787/88 aber vor allem Schillers Sorge um die aktuelle Entwicklung in den Niederlanden. Der Mensch muß auf die Freiheit vorbereitet werden, damit er nicht in den barbarischen Naturzustand zurückfällt. Deswegen wird Lykurg gelobt, weil er erkannte, daß man nicht nur Gesetze für die Bürger, sondern auch Bürger für die Gesetze schaffen (bilden) müsse (809). Einem zwar dämonischen, aber handelnden Charakter wie Granvella gebührt nach Schiller das Verdienst, das Chaos in Gestalt des religiösen Fanatismus verhindert zu haben, der vor und nach ihm viele Opfer forderte (133). Von der ursprünglich auf sechs Bände angelegten Geschichte des Abfalls der Niederlande erschien nur der erste Band. Er wurde in der veränderten Neuausgabe von 1801 von Schiller um zwei Beilagen ergänzt: „Prozeß und Hinrichtung der Grafen von Egmont und von Hoorne“ sowie „Belagerung von Antwerpen“. Die erste war 1789 in einer längeren Fassung in der Thalia erschienen, die zweite wurde 1795 für die Horen geschrieben und reflektiert die Erfahrung des Terrors in Frankreich. Nun gibt Schiller der bürgerlichen Selbstregierung in Antwerpen mit ihren komplizierten Entscheidungsprozessen und dem Parteienkampf, der das „allgemeine Beste“ vernachlässigt habe, die Schuld an der Kapitulation. Noch negativer urteilt er über die Korporationen (Zünfte), über die das „Volk einen gefährlichen Einfluß in die öffentlichen Beratschlagungen“ bekommen und die „Ausführung jeder heilsamen Maßnahme“ verhindert habe (333).

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III. Schillers universalhistorischer Ansatz – eine Perspektive für heute? Schiller war kein Demokrat, und schon vor der Revolution in Frankreich setzte er – wie fast alle deutschen Bildungsbürger – auf Reformen statt gewaltsame Befreiungsversuche51. Seine Geschichtsschreibung zielte nicht vornehmlich auf Informationsvermittlung, sondern auf die Selbstbildung zum aufgeklärten und versittlichten Menschen, bei dem sich Gefühle und Vernunft im Zustand der Harmonie befinden sollten. Aus seiner Sicht war es belanglos, in welchen Details sein Werk die Überlieferung ergänzen mußte, um die innere Wahrheit und dieses Ziel zu erreichen. Richard Fester hat vor mehr als hundert Jahren die kritisierten Reden vorgestellt und Schillers Vorgehen hinreichend erläutert52. Wenn die gebrochene Charakterisierung Philipps II. im „Don Carlos“ und vor allem die zaudernde Haltung des in Verstrickungen gefangenen, dramatisierten Wallensteins der vorgeblichen historischen Wahrheit angeblich näherkommen als deren Schilderung in Schillers Geschichtsschreibung53, heißt dies nur, daß die Autoren solcher Sätze diese Darstellung bevorzugen. Wie es um die Seele dieser Individuen bestellt war, ist nicht zu ermitteln. Schiller zielt mit seinen Stilisierungen auf die „Wahrheit“ des Ganzen, der Verbindung des Erzählten mit der Gegenwart. Universalgeschichte ist nicht Selbstzweck, sondern hat durch historische und philosophische Wahrheit sowie eine angemessene künstlerische Ausgestaltung den Menschen zu bilden. Die Charaktere der Akteure dürfen daher entsprechend der verfolgten Absicht akzentuiert werden: Sollen in der dramatischen Fiktion Mitleid und Mitgefühl erzeugt werden, verbietet sich dies in der Geschichtsschreibung. Da aber das Handeln der Akteure den Quellen nicht widersprechen darf, steht es nicht zur Disposition des Historikers. Ihm bleibt daher nur der Weg, ihre Charaktere vorab so zu zeichnen, daß das erwünschte analogische Denken nicht blockiert wird. Wenn also die Akteure nicht in Übereinstimmung mit ihren charakterlichen Dispositionen handeln, ist dies kein Konstruktionsfehler Schillers54, sondern Absicht: Da sich Charaktere und Konstellationen als solche nicht wiederholen, müssen die Diskurs- und Strukturähnlichkeiten erkannt werden, damit der bildende Transfer auf die Lebensumstände des Lesers gelingen kann. Das konkrete Handeln in all seiner Wider___________ 51

Vgl. Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495–1806, München 1999, bes. 300–319; Wolfgang Burgdorf, Reichskonstitution und Nation (Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte, 13), Mainz 1998. 52 Richard Fester, Vorstudien zur Säkularausgabe der historischen Schriften Schillers (Werke XIII-XV), in: Euphorion 12 (1905), 78–142. 53 Golo Mann, Schiller als Geschichtsschreiber, in: Ders., Geschichte und Geschichten, Frankfurt a. M. 1961, 63–84, 77. 54 Vgl. dagegen Osterkamp, Seele (Anm. 28), 174ff.

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sprüchlichkeit ist zwar für das vergangene Geschehen und die Folgen maßgeblich, nicht aber für den Wert, den die Geschichtserzählung in menschenbildender Absicht besitzt. In der Aufklärungshistorie hat auch der Mensch der Vergangenheit seine Zukunft selbst in die Hand genommen, obwohl es ihm noch an sittlicher Reife für das Zukunftsprojekt der Menschheit fehlt: Humanität und Freiheit. Diese Form der menschenbildenden Wahrheitssuche endete für Schiller jedoch, als die Französische Revolution, die Menschenfreiheit und Kultur versprochen hatte, neuerlich in Terror und Barbarei mündete. Das Konstrukt Universalgeschichte, der Kampf zwischen Herrschsucht und Freiheitsstreben mit dem Ziel Freiheit und Humanität, verlor seinen Sinn, wenn auch der scheinbar mündig gewordene Mensch mit seiner Freiheit noch immer nichts anderes anzufangen wußte als Eigennutz und Parteienhader. In diesem Moment beendete Schiller sein Historikerdasein, um sich ganz auf die ästhetische Erziehung des Menschen konzentrieren zu können: Der Mensch muß in einen moralischsittlichen Zustand versetzt werden, denn erst so ist ihm ein Leben in Freiheit möglich. Für den Teil der heutigen Geschichtsschreibung, der methodisch auf Dekonstruktion und „Fremdmachen“ setzt, um das Andere in seinem Eigenwert und seiner Nicht-Ähnlichkeit zu betonen und es gerade nicht in VertrautBekanntes zu überführen, verweist Schillers analogisches Konzept in die falsche Richtung. Die historiographische Deutung kann sich jedoch auf das Feststellen des Andersartigen und Nicht-Vergleichbaren nicht beschränken, um die Möglichkeit von Wandel und Veränderung zu belegen. Wer sich ethnographisch als „Missionar im Ruderboot“55 der eigenen Vergangenheit nähert, verschenkt ‚beobachtend wahrnehmend‘ und ‚dicht beschreibend‘ all jene Erkenntnismöglichkeiten, die eine problemorientierte, auf genetisch-temporale und kausale Zusammenhänge orientierte Historiographie seit der Aufklärung auszeichnen. Zwar haben das Individualisierungsgebot des Historismus und das Verstehens-Prinzip Analogieschlüsse als methodisches Verfahren zur Generierung von historiographischer Wahrscheinlichkeit zurückgedrängt, doch auf der Annahme, daß aktuelle Fragestellungen erhellend an das vergangene Geschehen herangetragen werden können, beruhen auch heute viele historische Darstellungen. Dies wird in erster Linie bei Sammelbänden oder Großforschungsverbünden deutlich, deren Leitgedanke oft darauf beruht, daß es zumindest einige Konstanten geben muß, die vergleichend erkannt werden können. ___________ 55

Hans Medick, „Missionare im Ruderboot“? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, hrsg. v. Alf Lüdtke, Frankfurt a. M. u.a. 1989, 48–84.

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Die methodisch gesicherte diachrone und synchrone Vergleichbarkeit sowie die Verallgemeinerungsfähigkeit begründen letztendlich die Wissenschaftlichkeit der Geschichtsschreibung. Es ist aber stets die subjektive Narration, die dem vergangenen Geschehen nicht nur einen bestimmten Sinn gibt, sondern diesen auch nachvollziehbar und disponibel werden läßt. Die perspektivische Pluralität ermöglicht unterschiedliche Geschichten und eine Vielzahl struktureller wie diskursiver Analogien. Wenn das Jetzt sinnvoll an das Einst herangetragen werden kann, um methodisch kontrolliert und im hermeneutischen Zirkel Genese und Wandel zu erhellen, so können Diskurs- und Strukturanalogien einen historischen Horizont bieten, um für gegenwärtiges und künftiges Handeln zu bilden – mehr wollte auch Schiller nicht.

August Friedrich Wilhelm Crome – Politischer Gelehrter und Publizist in Gießen Helmut Berding „Das europäische Zeitalter der Naturrechtslehrer und Physiokraten wird durch die französische Revolution und deren Erben Napoleon abgeschlossen. In den Kämpfen, die in das 19. Jahrhundert überleiten, wird auch ein Kleinstaat wie Hessen-Darmstadt umgewandelt. Ein Abbild gibt uns A. F. W. Crome. Ein Anhänger des aufgeklärten Absolutismus, wird er zum bedeutendsten Rheinbundtheoretiker und erbitterten Feind der nationalen Bewegung“1. Mit diesen Worten rückt der Gießener Nationalökonom Friedrich Lenz einen Wissenschaftler in den Blick, der in den Jahrzehnten des Umbruchs um 1800 als Professor für Staatswissenschaft und Kameralistik an der Ludoviciana sowohl an den wissenschaftlichen als auch an den politischen Wandlungsprozessen seiner Zeit mitgewirkt hat. Er war einer der ersten, der den Übergang von der physiokratisch ausgerichteten Staats- und Wirtschaftslehre zur liberalen Nationalökonomie vollzog, und er beteiligte sich als streitbarer Publizist an den politischideologischen Auseinandersetzungen seiner Zeit. Damit verkörperte Crome wie kaum ein anderer seiner Kollegen an der hessischen Landesuniversität den Typ des politischen Gelehrten. Zumeist waren es Staatsrechtler, Nationalökonomen, Philosophen und Historiker, die sich im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik bewegten. Sie alle standen vor dem Problem, einerseits als Staatsdiener ihrem Monarchen gegenüber zur Loyalität verpflichtet zu sein, andererseits als Anhänger des aufgeklärten Denkens für Freiheit und Menschenrechte einzutreten. Sie ließen sich, wie Rudolf Vierhaus herausgearbeitet hat, von der Überzeugung leiten, ihr „Amt“ „im Interesse des allgemeinen Wohls wahrzunehmen… – unter Umständen gegen die Praxis von Regierungen und Behörden, aber nicht gegen den ‚Staat‘, in dem sie die Institution nicht nur der Rechts-, Sicherheits- und Eigentumswahrung, sondern auch der ‚gesetzmäßigen‘ Fortentwicklung sahen“2. Wie ließ sich das eine mit dem anderen vereinbaren? Wo ___________ 1 Friedrich Lenz, Die Wirtschaftswissenschaft in Gießen. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Ökonomie, in: Ludwigs-Universität. Justus-Liebig-Hochschule 1607– 1957. Festschrift zur 350 Jahrfeier, Gießen 1957, 375–396. Zitat 384. 2 Rudolf Vierhaus, Der politische Gelehrte im 19. Jahrhundert, in: Von der Aufgabe der Freiheit. Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Hans Mommsen zum 5. November 1995, hrsg. v. Christian Jansen/Lutz Niethammer/Bernhard Weisbrod, Berlin 1995, 17–28, hier 18. Vgl. Klaus

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sollte ein politischer Gelehrter die Grenze ziehen, wenn er gehalten war, zwar dem Staat Treue zu bewahren, sich aber mit der Staatspraxis kritisch auseinander zu setzen? Diese Frage schwingt in den folgenden Betrachtungen mit, die dem publizistischen und politischen Wirken Cromes in Gießen gewidmet sind, sich einleitend jedoch kurz seiner Herkunft und dem Lebensweg zuzuwenden haben. August Friedrich Wilhelm Crome, 1753 in Sengwarden bei Varel geboren, entstammte dem Bildungsbürgertum. Sein Vater war zunächst Rektor in Stadthagen, dann Pastor, Superintendant und Konsistorialrat zu Sengwarden, die Mutter, eine geborene Büsching, kam aus einem Pfarrerhaus. Nach der schulischen Ausbildung durch einen Privatlehrer studierte Crome in Halle Theologie, verbrachte anschließend eine Anzahl von Jahren als Hauslehrer in der Mark Brandenburg und in Berlin, wo ihn sein Onkel Anton Friedrich Büsching, einflußreicher Konsistorialrat und einer der führenden Geographen seiner Zeit, in den Berliner Aufklärerkreis um den Philosophen Moses Mendelssohn sowie den Verleger und Schriftsteller Friedrich Nicolai einführte. In der „Mittwochsgesellschaft“ und dem „Montagsclub“ trafen sich Staatsmänner, Beamte und Gelehrte, um die politischen und gesellschaftlichen Grundprobleme des preußischen Staates zu erörtern. Dazu zählte unter anderem die in vielerlei Hinsicht prekäre Lage der jüdischen Minderheit in Brandenburg-Preußen. Mit ihr befaßte sich der Gelehrte und Staatsbeamte Christian Wilhelm Dohm am intensivsten. Seine epochemachende Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“3 löste eine lebhafte Diskussion aus und leitete die entscheidende Wende im Verhältnis zwischen Christen und Juden ein. Crome stellte sich in einer ausführlichen Rezension hinter Dohm und unterstützte entschieden das etatistische Emanzipationsmodell seines etwa gleichaltrigen Freundes, dessen utilitaristischen und rationalistischen Anschauungen er insgesamt teilte 4. Wie Dohm verstand sich Crome als pragmatischer, das heißt auf praktisches Handeln gerichteter Denker. Er bekannte sich zum aufgeklärten Absolutismus und glaubte, daß die wesentlichen Elemente eines republikanischen Staatswesens, also vor allem Sicherheit der Person und des Eigentums, gesetzliche Garantie bürgerlicher Freiheiten, gerechte Justiz, auch in einem monarchischen ___________ Ries, Zwischen Wissenschaft, Staat und Gesellschaft. Heinrich Luden als politischer Professor in Jena, in: Bürgertum in Thüringen. Lebenswelt und Lebenswege im frühen 19. Jahrhundert, hrsg. v. Hans-Werner-Hahn/Werner Greiling/Klaus Ries, Rudolstadt/ Jena 2001, 28–51. 3 Christian Wilhelm Dohm, Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden, Berlin 1781 (Nachdruck Hildesheim 1973). 4 August Friedrich Wilhelm Crome, [Doppelrezension von:] Christian Wilhelm Dohm, „Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden“ und „De la réform politique des Juifs“ par C. G. Dohm [übersetzt von Johann Bernoulli], in: Berichte der Dessauer Gelehrtenbuchhandlung (1782), 460–475.

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Staat realisierbar seien. Das galt zumindest für solche Staaten, in denen die Gewalt des Monarchen zwar keiner gesetzlichen und institutionellen Einschränkung unterlag, aber ein wohlwollend-aufgeklärter Herrscher regierte wie Friedrich II. in Preußen5. „Dieser Vorstellung vom friderizianischen aufgeklärten Absolutismus, wie sie Hertzberg, die Männer des Allgemeinen Landrechts, die Mitglieder der Mittwochsgesellschaft, viele Beamte und Schriftsteller, auch Dohm und Kant vertraten, wird man nur gerecht, wann man die ihr zugrundeliegende Überzeugung ganz ernst nimmt, daß eine aufgeklärte, auf willkürliche Gewalt verzichtende monarchische Regierung mit den Mitteln vernünftiger Gesetzgebung und streng gesetzlich arbeitender Verwaltung eine fortschreitende Verbesserung der gesellschaftlichen Zustände bewirken, den Staat zu einer freien bürgerlichen Gesellschaft, zu einer res publica machen könne“6. Dasselbe gilt für Crome, der zweifellos dem Perfektivilitäts-Dogma anhing, als er 1779 nach Dessau ging, um am Philanthropin Basedows Geographie und Geschichte zu unterrichten. In der anhaltinischen Residenzstadt und am Hof von Friedrich Leopold Franz herrschte dasselbe geistige Klima wie im friderizianischen Berlin. Die Dessauer Jahre sollten für Crome in dreifacher Hinsicht bedeutsam werden. Erstens weitete er seinen Bekannten- und Freundeskreis um zahlreiche Persönlichkeiten aus der aufgeklärten Gelehrtenwelt aus. Neben Christian Friedrich von Blankenburg, Georg Forster und Gerhard Anton von Halem zählten Publizisten, die der Volksaufklärung zugewandt waren, wie Christian Gotthilf Salzmann im thüringischen Schnepfenthal und Rudolf Zacharias Becker im ebenfalls benachbarten Gotha, zu dem Korrespondentennetz, das Crome zielstrebig knüpfte und ständig weiter ausbaute. Außerdem schloß er sich der Deutschen Union an, einer von Karl Friedrich Bahrdt im nahen Halle gegründeten radikal-demokratischen Korrespondenzgesellschaft. Zweitens begann Crome, aus seinen Unterrichtserfahrungen allgemeine Erkenntnisse über die Bedeutung der Erziehung für die Aufklärung abzuleiten, Erziehung als Aufklärung und umgekehrt Aufklärung als Erziehung zu begreifen, sich also ein zentrales Element des aufgeklärten Bildungsgedankens anzueignen7. Drit___________ 5 Vgl. dazu Cromes Notiz in seinen Memoiren: „In dem preußischen Staate, wo in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Friede und Ruhe, Toleranz und Wohlstand unter Friedrich II. kluger und freisinniger Regierung herrschte, ging das Licht auf, welches allmählich von dort und von Sachsen aus über ganz Deutschland sich verbreitete“. August Friedrich Wilhelm Crome, Selbstbiographie. Ein Beitrag zu den gelehrten und politischen Memoiren des vorigen und gegenwärtigen Jahrhunderts, Stuttgart 1833, 58f. 6 Rudolf Vierhaus, Christian Wilhelm Dohm – Ein politischer Schriftsteller der deutschen Aufklärung: in: Ders., Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung und soziales Gefüge. Geistige Bewegungen, Göttingen 1987, 142–156, hier: 152. 7 August Friedrich Wilhelm Crome, Von dem Verhältnisse des Erziehers zu seinen Zöglingen und deren Eltern, in: Philantropisches Journal, 3. Jahr, 1. Quartal, Dessau 1779, 91–124. Vgl. dazu zusammenfassend Rudolf Vierhaus, Aufklärung als Lernprozess, in: Ders., Deutschland (wie Anm. 6), 84–95. Crome blieb zeitlebens in Kontakt zu

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tens wandte er sich auf Anraten Büschings intensiv der geographischen Statistik zu. Innerhalb weniger Jahre erschienen rund ein Dutzend Schriften, die sich mit der Größe und Volkszahl, mit dem Klima und der Fruchtbarkeit verschiedener Weltregionen, so des Nord-Amerikanischen Freistaats, des russischen Reiches, der Niederlande und Belgiens befaßten. Zu den Adressaten dieser Veröffentlichungen zählten außer den Regierungen und Staatsbeamten auch die Kaufleute, die Crome als einer der ersten Angehörigen der Gelehrtenrepublik für den Buchmarkt entdeckte und, da der literarischen Öffentlichkeit zugänglich, in den Kreis des von der staatlichen Intelligenz dominierten aufgeklärten Bürgertums einbezog8. Die mit Abstand größte Aufmerksamkeit unter den historisch-geographischstatistischen Werken erzielte „Europens Produkte“ von 17829. Mit diesem Bestseller stieg Crome neben dem Göttinger Historiker August Ludwig Schlözer zu einem der wichtigsten Vertreter der historisch-geographisch-statistischen Wissenschaft auf. Es gelang ihm, durch ständig verbesserte statistische Darstellungsformen seine Stellung als führender Vertreter der neuen Fachrichtung auszubauen. Crome begnügte sich nicht mit der durch Zahlentabellen ergänzten Beschreibung der Landesprodukte, sondern nutzte die graphische Darstellung durch Stab- und Flächendiagramme und entwickelte Verfahren, die den Zusammenhang zwischen Flächenumfang und Bevölkerungszahlen einerseits sowie den Machtverhältnissen europäischer Staaten andererseits sichtbar machten. Mit dieser neuartigen Methode schlug der aufstrebende Gelehrte ein neues Kapitel in der Geschichte der Bevölkerungsstatistik auf. Der unerwartete kom___________ den namhaften Pädagogen seiner Zeit und knüpfte später, 60jährig, noch freundschaftliche Beziehungen zu Johann Heinrich Pestalozzi, den er in der Schweiz besuchte. Vgl. Crome, Selbstbiographie (wie Anm. 5) mit dem Abdruck des Briefwechsels in den Beilagen XIII. und XIV., 465ff. 8 Vgl. August Friedrich Wilhelm Crome, Handbuch für Kaufleute, Leipzig 1784; Ders., Handbuch für Kaufleute nebst einzelnen Abhandlungen aus dem Handlungsgebiet und drei Reisekarten, Leipzig 1785. Crome gab außerdem einen Almanach für Kaufleute heraus, der in jährlicher Erscheinungsfolge Daten und Informationen für die auf die Messen reisenden Kaufleute enthielt. Vgl. dazu Rolf Haaser, Spätaufklärung und Gegenaufklärung. Bedingungen und Auswirkungen der religiösen, politischen und ästhetischen Streitkultur in Gießen zwischen 1770 und 1830 (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 114), Darmstadt/Marburg 1997, 173. 9 August Friedrich Wilhelm Crome, Europens Produkte. Zum Gebrauch der neuen Produkten-Karte von Europa, Dessau 1782. Schon zwei Jahre später erschien die zweite Auflage unter dem Titel: Europens Produkte. Zweyter Versuch. Zum Gebrauch der neuverbesserten Produkten-Karte von Europa. Erster Theil, welcher Portugal und Spanien, nebst ihren sämtlichen Ost- und West-Indischen Colonien, enthält, Hamburg 1784. Das Buch wendet sich außer an Schulen besonders an Universitäten, denen es noch an Lehrbüchern über den ökonomischen und kameralistischen Teil der Geographie mangele. Es bietet in großen Tabellen einen Überblick über die Produkte aus den Bereichen der Mineralien, der Pflanzen- und Tierwelt sowie über die geographische Beschaffenheit, das Klima, die Flüsse und die Staatsfinanzen.

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merzielle Erfolg seiner schriftstellerischen Arbeiten ermöglichte es ihm, sich weitgehend aus der Lehrtätigkeit am Philantropin zurückzuziehen und eine Existenz zu begründen als freier Schriftsteller, „der sich nebenher als Informator des Erbprinzen von Anhalt-Dessau, als Schauspieler am Liebhabertheater des Hofes und als Fremdenführer durch die Attraktionen der Wörlitzer Parkanlagen betätigte“10. Der Wechsel nach Gießen im Jahre 1787 ging auf eine Anregung des umstrittenen Theologen und radikalen Aufklärers Karl Friedrich Bahrdt zurück. Seiner Empfehlung folgend setzte sich der einflußreiche Kanzler der hessischen Landesuniversität, Johann Christoph Koch, erfolgreich dafür ein, den hoffnungsvollen jungen Gelehrten als Nachfolger Schlettweins auf den Lehrstuhl für Kameralistik zu berufen. Die Darmstädter Regierung und die Gießener Universitätsspitze erhofften sich von Crome nicht nur weitere wissenschaftliche Innovationen auf dem Gebiet der historisch-geographischen Landeskunde und Statistik, sondern vor allem auch eine Belebung der völlig daniederliegenden Lehre und eine praxisbezogene Ausbildung der künftigen Staatsdiener. Die hochgesteckten Erwartungen in den rhetorisch begabten Lehrer sollten sich erfüllen. Crome widmete sich in seinen Lehrveranstaltungen mit großem Erfolg der Landeskunde und Statistik und übernahm „als der einzige Dozent in dem Gebiet des Staats- und Cameralfaches bald auch die übrigen dahin gehörigen Wissenschaften“, angefangen von Politik und Staats-Polizei bis hin zu Nationalökonomie und Finanzwissenschaft11. Noch größeren Anklang als seine Vorlesungen fanden die historisch-statistischen Zeitungs-Kollegs, „die Studenten, Honoratiores aus der Stadt, vom Lande, von der Regierung, u[nd] selbst Damen“ besuchten12. Der starke Zulauf aus außeruniversitären Kreisen kam nicht von ungefähr. In Gießen spielten das Verlagswesen und der Buchhandel eine nicht nur wirtschaftlich, sondern auch intellektuell bedeutende Rolle13. Treibende Kraft war Johann Christian Konrad Krieger, ein äußerst dynamischer Unternehmer. Mit der geschäftlichen Expansion des Verlags- und Buchhandelswesens entstand ein literarischer Markt, der Stadt, Universität und Region umfaßte. Gleichzeitig ___________ 10

Haaser, Spätaufklärung (wie Anm. 8), 172. Crome, Selbstbiographie (wie Anm. 5), 159. Crome war, so Friedrich Lenz, „Ordinarius der Geschichte, Kameralwissenschaften und Statistik in der Philosophischen Fakultät, … las … auch Pädagogik, ökonomische Zoologie, Forstwissenschaft und Geographie“. Lenz, Wirtschaftswissenschaft (wie Anm. 1), 382. 12 Brief Cromes an Gerhard Anton von Halem, zitiert nach Haaser, Spätaufklärung (wie Anm. 8), 14. 13 Vgl. Christine Haug, Das Verlagsunternehmen Johann Christian Konrad Krieger 1725–1825. Die Bedeutung des Buchhändlers, Verlegers und Leihbibliothekars Johann Christian Konrad Krieger für die Entstehung einer Lesekultur in Hessen um 1800, Frankfurt am Main 1998. 11

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bildete sich ein diskussionsfähiges Publikum heraus mit „Professoren und Studenten, Offizieren, Pfarrern, Ärzten, Advokaten, Verwaltungsbeamten, Gelehrten und Schriftstellern, Mitgliedern des gewerblichen und Handelsbürgertums, Ausländern und fremden Diplomaten und Buchhändlern“14. Leihbibliotheken und Lesegesellschaften, die teilweise weit über hundert Mitglieder zählten, bildeten den organisatorischen Rahmen ihrer regelmäßigen Zusammenkünfte. Besondere Aktivitäten entfaltete die Deutsche Union, die Carl Friedrich Bahrdt, von 1771 bis 1775 Theologieprofessor in Gießen, mit dem Ziel ins Leben gerufen hatte, im gesamten deutschsprachigen Raum systematisch aufklärerische Schriften zu verbreiten. Krieger, seit 1788 Mitglied dieser radikalaufklärerischen geheimen Korrespondenzgesellschaft, zählte zu den tatkräftigsten Stützen des aufgeklärten Theologen. Zu seinen Parteigängern gehörte in Gießen neben den Professoren Johann Wilhelm Friedrich Hezel, Carl Christian Erhard Schmid, Georg Friedrich Werner und dem Privatdozenten Ludwig Justus Greineisen auch Crome. Mit ihm in enger Verbindung standen der Dillenburger Justizrat Carl von Knoblauch und mehrere Assessoren am Wetzlarer Reichskammergericht15. Sie alle teilten die Auffassung der aufgeklärten Intelligenz, daß ohne Meinungsfreiheit die Vernunftidee kein Gehör finden, der Fortschritt nicht voran kommen, die Staats- und Gesellschaftsordnung nicht verbessert werden könnte. Aus dieser Überzeugung heraus widmete sich Crome mit Energie der publizistischen Arbeit, gründete gemeinsam mit seinem Kollegen Helwig Bernhard Jaup das „Journal für Staatskunde und Politik“16 und leistete damit einen Beitrag zur öffentlichen Diskussion politischer Fragen. Einen hohen Stellenwert besaß das Problem der Pressefreiheit und Zensur, das nach den Pariser Ereignissen von 1789 rasch an Aktualität gewann. Crome erhob es in der von ihm herausgegebenen und kommentierten „Wahlkapitulation Leopolds II.“17 zur zentralen politischen Streitfrage. Im Mittelpunkt seiner Kritik stand der § 8 der Wahlkapitulation, der darauf abzielte, das seit dem Ausbruch der Revolution in vielen Territorien verhängte Verbot aller auf den Umsturz der gegenwärtigen Verfassung gerichteten oder die Störung der öffentlichen Ruhe fördernden ___________ 14 Christine Haug, „Ein neuer Versuch unseres aufgeklärten Jahrhunderts …“. Friedrich Justus Kriegers Gründung einer Frauenlesegesellschaft im Jahre 1789, in: Hessische Heimat, Nr. 21/15.10.1994, 81–83, Zitat 82. 15 Haug, Verlagsunternehmen (wie Anm. 13); Monika Neugebauer-Wölk, Reichsjustiz und Aufklärung. Das Reichskammergericht im Netzwerk der Illuminaten, Wetzlar 1993. 16 Journal für Politik und Staatskunde, hrsg. v. August Friedrich Wilhelm Crome/ Helwig Bernhard Jaup, Frankfurt 1792–1793, fortgesetzt unter dem Titel Neues Journal für Staatskunde und Politik, Gießen 1793 und 1796. 17 Die Wahlcapitulation des römischen Kaisers, Leopold des Zweiten; mit historischen und publicistischen Anmerkungen und Erklärungen, hrsg. v. August Friedrich Wilhelm Crome, Hildburghausen 1791.

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Schriften in der Reichsgesetzgebung festzuschreiben. Crome sah eine solche Maßnahme zur Einengung der politischen Meinungsbildung als Rückschlag an, den es zu vermeiden galt. Ähnlich dachte der Braunschweiger Verlagsbuchhändler Joachim Heinrich Campe, den Crome seit seiner Tätigkeit am Dessauer Philantropin kannte. Sie waren sich als Anhänger einer gemäßigten Aufklärung darin einig, daß die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung im Prinzip erhalten bleiben und der vom aufgeklärten Absolutismus eingeleitete Reformprozeß fortgesetzt werden sollte. Im Vertrauen auf die offenkundige Überlegenheit dieses Weges zu mehr Freiheit und Gerechtigkeit spielte Crome die politischen Gefahren aus Frankreich herunter. Er glaubte, daß ein gerechter und souveräner Landesherr in der Lage sei, den sozialen Frieden zu sichern18. Einer diametral entgegengesetzten Meinung hing Ludwig Adolf Christian von Grolmann an, einer der führenden Köpfe der gegenaufklärerischen „Eudämonisten“. Diese antirevolutionären Verschwörungstheoretiker19, die den Ausbruch der Französischen Revolution auf das konspirative Treiben von Geheimbünden zurückführten, sahen überall Gefahren lauern. Sie glaubten, daß revolutionäre Kräfte auch in Gießen ihr Unwesen trieben. Als Chef der oberhessischen Provinzregierung war Grolmann in der Lage, umfassende Überwachungs- und Verfolgungsmaßnahmen anzuordnen. Nach der Devise, oppositionelle Regungen schon im Keim zu ersticken, wurden zunächst Wirtshäuser und Zunftversammlungen, bürgerliche Vereine und akademische Zirkel nachrichtendienstlich beschattet. Sodann ging Grolmann energisch gegen die Vertreter der Aufklärungstheologie und die Verfechter des gesellschaftlichen Fortschritts vor. Auf sein Drängen verschärfte die Darmstädter Regierung die Zensurbestimmungen und schuf damit ein Instrument, das Grolmann unverzüglich anwandte, um mißliebige Schriften in die Kategorie der staatsgefährdenden Literatur einzustufen, ihre Verbreitung zu verbieten, Verleger und Buchhändler sowie Autoren zu bestrafen. Im Sommer 1792 kam es zu ersten Anklagen und Prozessen. Damit fing, wie Crome leidvoll notierte, „die französische Revolution an, ihre verderblichen Wirkungen in Deutschland zu verbreiten, und zwar durch einen heimlichen und gehässigen Meinungskrieg in den höheren Ständen, woraus dann Mißtrauen, Uneinigkeit und Gesellschafts-Zwiste hervorgingen, welche heimliches Angeben, sogenannte Jacobiner-Riecherei und Verfolgungen aller Art veranlaßten“20. Die Hauptstoßrichtung der Bücherunterdrückung richtete sich gegen die Mitglieder und Sympathisanten der Deutschen Union. In ihr sah Grolmann eine ___________ 18

Haug, Verlagsunternehmen (wie Anm. 13), 112. Grolmann war Mitherausgeber der Zeitschrift Eudämonia, oder deutsches Volksglück. Ein Journal für Freunde von Wahrheit und Recht, 6 Bde., Leipzig/Frankfurt/ Nürnberg 1795–1798, ND Nendeln 1972. 20 Crome, Selbstbiographie (wie Anm. 5), 234. 19

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jener verschwörerischen Gemeinschaften, die im Geheimen operierten, auf Umsturz sannen und die Macht erobern wollten. Die Veröffentlichung der religionsfeindlichen Schrift „De tribus impostoribus“ bot dem Gießener Regierungsdirektor einen willkommenen Anlaß, den Verleger Johann Christian Konrad Krieger und den Philosophieprofessor Karl Christian Erhard Schmid bei der Gießener Zensurkommission anzuklagen und zur Verantwortung zu ziehen. Krieger erhielt eine hohe Geldstrafe, Schmid verlor seine Professur und ging nach Jena, wo ein liberaleres Klima herrschte. Nicht ganz so erfolgreich wie die Bestrafungsaktion gegen Krieger und Schmid ging für Grolmann das Zensurverfahren gegen den Professor der Fortifikation und Kriegswissenschaft Georg Friedrich Werner aus. Werner, ein Anhänger der philosophischen Aufklärung, hatte im Frühjahr 1792 ein Buch mit dem Titel „Versuch einer allgemeinen Aetiologie“ herausgebracht. Das Vorhaben, diese gegen die idealistische Philosophie Kants gerichtete materialistische Ursachenlehre zur staatsgefährdenden Schrift zu erklären, führte nur scheinbar zum Erfolg. Zwar verbot die Universität prompt das inkriminierte Buch, aber Mitglieder der Zensurkommission meldeten Bedenken an. Einspruch kam auch aus der Regierung in Darmstadt. Jeder einzelne Gießener Professor wurde aufgefordert, ein unabhängiges verschlossenes Partikulargutachten einzureichen. Crome bestritt in seiner Stellungnahme, daß die „Aetiologie“ in Gießen allgemeines Aufsehen erregt habe und § 8 der Wahlkapitulation auf sie angewendet werden könne. Der Landgraf widerrief aufgrund dieses Einspruches und anderer ähnlich gelagerter Voten das Verbot. Aber damit war die Angelegenheit nicht beendet, sondern weitete sich vielmehr zu einem öffentlichen Skandal aus. Die von Johann Wilhelm von Archenholz herausgegebene freisinnige Zeitschrift Minerva druckte längere Passagen aus den Gutachten ab und berichtete in aller Öffentlichkeit vom aufklärungsfeindlichen Treiben an der Gießener Universität. Hier setzte, um den Informanten der Minerva aufzudecken, eine Gesinnungsschnüffelei großen Stils ein und schuf ein Klima gegenseitigen Mißtrauens wie politischer Verdächtigungen21. Vor diesem Hintergrund kam es zur Verhaftung von Johann Ludwig Justus Greineisen, Gießener Privatdozent und enger Vertrauter Cromes. Als Mitglied der Deutschen Union von vornherein ein Verdächtiger, sollte Greineisen angeblich in einem Gießener Bierhaus und in der Leihbibliothek des Buchhändlers Heyer wiederholt seine Sympathie für die Französische Revolution zum Ausdruck gebracht haben. Daher nahm ihn der Gießener Regierungsdirektor persönlich am 24. März 1794 in einer Nacht- und Nebelaktion fest, klagte ihn an, jakobinische Parolen verbreitet, Unruhe gestiftet und die öffentliche Ordnung gefährdet zu haben. Außerdem wurde Greineisen beschuldigt, mit einem Bund radikaler Demokraten in Wetzlar in Verbindung zu stehen und einem ___________ 21

Haug, Verlagsunternehmen (wie Anm. 13), 116.

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verbotenen Studentenorden in Gießen anzugehören. Monatelange Verhöre brachten nicht die erhofften Beweise. Grolmann, der im Prozeß Ankläger und Richter zugleich war, hielt den Beschuldigten dennoch über ein Jahr lang in Haft, sprach ihn schuldig, verfügte die Relegation von der Universität und die Ausweisung aus der Stadt Gießen. Der Fall machte deutlich, „wie weit damals diese Jacobinerwuth ging, und wie oft dieselbe zum Vorwande diente, um die unedlen Leidenschaften des Privathasses und der Rachsucht zu befriedigen, oder mit dem Untergange unschuldiger Menschen das eigene Emporsteigen zu befördern“22. Crome selber wäre fast den Nachstellungen Grolmanns und seiner Gesinnungsgenossen zum Opfer gefallen. Er war schon seit seinen Vorlesungen über „Die jüngste Geschichte unserer Zeit“ (Winter- und Sommersemester 1789) und über die „Geschichte der französischen Revolution“ (Sommersemester 1791) im Visier des Gießener Regierungsdirektors. Seine Mitgliedschaft und Aktivitäten in der Deutschen Union sowie die Rolle, die er in der Publizistik als einer der Hauptanwälte der Pressefreiheit spielte, veranlaßten Grolmann, ihn auf die Liste der Denunzierten in Gießen zu setzen und seine Verhaftung zu betreiben23. „In solchen bewegten Zeiten“ schrieb Crome rückblickend, „ist es für den Gelehrten am heilsamsten, sich in seinen Büchern zu vergraben, und in dem Studium der Wissenschaften sein Heil zu suchen“24. An wissenschaftlichen Aufgaben und Projekten bestand kein Mangel. Crome setzte verstärkt seine landeskundlichen und statistischen Forschungen fort, ___________ 22

Crome, Selbstbiographie (wie Anm. 5), 234. Greineisen verfaßte nach diesem Richterspruch, den nicht nur er als Willkürakt empfand, eine umfangreiche Rechtfertigungsschrift und veröffentlichte sie unter dem Titel „Eine Geschichte politischer Verketzerungssucht in Deutschland im letzten Jahrzehnt des 18ten Jahrhunderts“ (Altona 1796). Demokratische Publikationsorgane, allen voran Georg Friedrich Rebmanns „Obscuranten-Almanach“, griffen die Affäre Greineisen auf. In ihm fanden die deutschen Jakobiner ihren Märtyrer und in Grolmann die Symbolfigur reaktionärer Gesinnung und obrigkeitlicher Machtwillkür. Vgl. Haug, Verlagsunternehmen (wie Anm. 13); Haaser, Spätaufklärung (wie Anm. 8). 23 Crome schilderte diesen Vorgang wie folgt: „Unterdessen besuchte ich die Ostermesse zu Frankfurt, und traf eines Tages auf dem Römer den Prinzen Georg von Hessen aus Darmstadt, der mich ganz verwundert ansah, und halb bedenklich, halb scherzend frug: ob man mich nicht arretiert habe? Erstaunt frug ich, warum? – Der edelmüthige Prinz antwortete: ich stünde ja mit auf der Liste der Denuncierten in Gießen. Sein Herr Schwager, der regierende Landgraf, sey ganz gegen mich eingenommen worden, und messe dieser fein eingefädelten Angeberei völligen Glauben bei. Der Prinz rieth mir nun dringend, ohne Verzug mich nach Darmstadt zu begeben … und both mir zu dem Ende einen Platz in seinem Wagen an … Am folgenden Tage meldete ich mich im Vorzimmer des Landgrafen, welcher mich zwar annahm, aber doch äußerst aufgebracht war, und von der Richtigkeit der Denunciation so sehr eingenommen zu seyn schien, daß es mir in diesem Augenblick nicht gelingen wollte, denselben von der Nichtigkeit der Verleumdung völlig zu überzeugen“. Erst am folgenden Tag gelang es einer Hofdame, die Landgräfin und über sie den Landgrafen von der Haltlosigkeit der Anschuldigungen zu überzeugen. Crome, Selbstbiographie (wie Anm. 5), 236ff. 24 Crome, Selbstbiographie (wie Anm. 5), 240.

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befaßte sich intensiv mit den Grundproblemen der Staats- und Gesellschaftslehre sowie der Nationalökonomie und vollzog den Übergang von einer physiokratisch ausgerichteten Kameralistik zur liberalen Nationalökonomie. Um 1807 wurde Crome zum „Smithianer“25. Außerdem widmete er sich einer Aufgabe, die er bei einem Empfang anläßlich der Kaiserkrönung in Frankfurt 1790 vom neuen Kaiser Leopold II. übernommen hatte. Der Gießener Kameralist sollte ein von Leopold selbst herausgegebenes Werk über die Staatsverwaltung der Toskana für das deutsche Publikum herausgeben und kommentieren und widmete sich dieser Arbeit, die anfangs nur schleppend vorangekommen war, in den folgenden Jahren mit ganzer Kraft. 1797 erschien der letzte Band dieses dreibändigen Werkes26, das der Herausgeber durch seine umfangreichen Anmerkungen dazu nutzte, auf die Mißstände in vielen deutschen Staaten aufmerksam zu machen, Reformen zur Verbesserung der Staats- und Rechtsordnung anzuregen, für die Aufhebung der Zünfte und die Abschaffung von Privilegien einzutreten sowie die Bedeutung einer zwar nicht grenzenlosen, aber „weisen und zweckmäßigen“ Pressefreiheit einzufordern. Um sich wegen seiner kritischen Äußerungen vor Mißverständnissen zu schützen, betonte Crome, „dass ich alle Reformationsstürme und alle erzwungene oder gewaltsame Verbesserungen in der Staatsverwaltung, wie in der physischen und moralischen Welt überhaupt, als äußerst verderblich hasse, und nur solche Reformen als heilsam und rechtmäßig anerkenne, wobei die vollkommenste Legalität, Sicherheit, Ruhe und Ordnung statt findet, und welche durch die Weisheit und Thätigkeit der Regenten und der rechtmäßigen Obrigkeit, nach Leopolds Beispiel bewirkt, das Wohl des Staats zu befördern, ohne irgend Jemandes rechtmäßiges Eigenthum dabei zu kränken, oder die Ruhe und Sicherheit des Staates auf irgend eine Art zu erschüttern“27. Dieses erneute Bekenntnis zu den Grundsätzen des aufgeklärten Absolutismus verhinderte nicht, daß Crome, in HessenDarmstadt nur mit Mühe dem Verdacht revolutionärer Umtriebe entronnen,

___________ 25

Lenz, Wirtschaftswissenschaft (wie Anm. 1), 375–396; vgl. Alfred Kirmis, August Friedrich Wilhelm Crome. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Nationalökonomie, Diss. Bern 1908. Wie intensiv Crome „in dem Studium der Wissenschaften sein Heil suchte“, zeigt sich auch an seinen Publikationen. So entstanden in diesen Jahren u.a. August Friedrich Wilhelm Crome, Grundriß eines Systems der Staats- und CameralWissenschaften, Gießen 1803; Ders., Über die National-Oekonomie als UniversalWissenschaft. Ein kurzer Abriß, Gießen 1808. 26 Die Staatsverwaltung von Toskana unter der Regierung seiner königlichen Hoheit Leopold II. Aus dem Italienischen übersetzt und mit einem vollständigen Kommentar hrsg. v. August Wilhelm Friedrich Crome, 3 Bde., Gotha 1795 und Leipzig 1797. 27 August Friedrich Wilhelm Crome, Die Staatsverwaltung von Toskana unter der Regierung seiner königlichen Hoheit Leopold II., Bd. 1, Gotha 1795, 11.

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auch in Wien, wo die Regierung unter Franz I. von Aufklärung und Reformen nichts mehr wissen wollte, unter Jakobinismusverdacht geriet28. Alle diese unbezweifelbar haltlosen Beschuldigungen verloren jegliche Bedeutung, als 1796 die Landgrafschaft Schauplatz von Kampfhandlungen wurde, als mit dem Einmarsch der französischen Revolutionstruppen „der große Weltensturm“ die „kleine Stadt“ erreichte, kriegerisches in lokales Geschehen eingriff und umgekehrt die Universitäts- und Festungsstadt in der abgelegenen oberhessischen Provinz auf ihre Weise agierte und reagierte29. Betroffen war auch Crome, der vom Landgrafen zum Mitglied der Landeskriegskommission berufen worden war und seine wissenschaftlichen Arbeiten erneut hintanstellen mußte. Zwar blieb Gießen von größeren Zerstörungen durch Artilleriebeschuß oder andere Kampfhandlungen im großen und ganzen verschont, nicht jedoch von Truppendurchzügen, Besatzungen und ihren vielfältigen Auswirkungen. Zum einen mußten die Bewohner nacheinander die Einquartierung von Österreichern, Preußen und Franzosen über sich ergehen lassen. Die Besatzer belegten die Stadt mit hohen Abgaben. Neben den Kontributionen stellte die Zwangsbelieferung des Militärs mit großen Mengen von Lebensmitteln und Fouragen eine enorme Belastung dar. Die Preise schossen in die Höhe, das Gewerbe litt Schaden, und mit der Teuerung verschlechterten sich die Lebensbedingungen der Bürger. Das blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Universität. Wegen der unerschwinglich hohen Lebenshaltungskosten ging die Zahl der Studenten drastisch zurück. 1796 verzeichneten die Register nur noch 36 Immatrikulationen. Doch wirklich am Ort befanden sich im Sommersemester dieses Jahres lediglich fünf Studenten, von denen drei aus Gießen selbst stammten, so daß der Lehrbetrieb vollständig zum Erliegen kam30. Zum anderen litten Stadt und Universität unter ___________ 28 Vgl. Ernst Wangermann, Von Joseph II. zu den Jakobinerprozessen, Wien 1966; Alfred Körner, Die Wiener Jakobiner, Stuttgart 1972; Helmut Reinalter, Der Jakobinismus in Mitteleuropa, Stuttgart 1981. 29 Heinz-Lothar Worm, Gießen – eine kleine Stadt im großen Weltensturm: als Frankreichs Revolutionstruppen Besatzungsmacht waren. Dichtung und Wahrheit in zeitgenössischen Zeugnissen, in: Heimat im Bild, 1984, 6.-10. Woche; vgl. zum Folgenden Helmut Berding, Das Zeitalter der Französischen Revolution, in: 800 Jahre Gießener Geschichte 1197–1997, hrsg. im Auftrag des Magistrats der Universitätsstadt Gießen v. Ludwig Brake/Heinrich Brinkmann, Gießen 1997, 95–116. 30 Rainer Ch. Schwinges, Immatrikulationsfrequenz und Einzugsbereich der Universität Gießen 1650–1800. Zur Grundlegung einer Sozialgeschichte Gießener Studenten, in: Academia Gissensis. Beiträge zur älteren Gießener Universitätsgeschichte. Zum 375jährigen Jubiläum dargebracht vom Historischen Institut der Justus-LiebigUniversität Gießen, hrsg. v. Peter Moraw/Volker Press, Marburg 1982, 247–295, hier: 270; Wilhelm Bingsohn, Die soziale und wirtschaftliche Entwicklung Gießens im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts anhand des Gießener Preisgeschehens, in: Historische Demographie als Sozialgeschichte. Gießen und Umgebung vom 17. bis 19. Jahrhundert, 2

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der Beschlagnahme von Gebäuden für die Einrichtung von Lazaretten, Magazinen und Munitionsfabriken. Im Sommer 1792 dienten, wie einem zeitgenössischen Reisebericht zu entnehmen ist, mehrere Universitätsräume der kaiserlichen Armee als Geschoßfabriken: „Wir besahen hier das kaiserliche Laboratorium auf dem Universitätsgebäude; doch muß ich bekennen, daß mir das Herz um vieles leichter ward, als ich dieses Gebäude und den darin befindlichen starken Pulvervorrat wieder verlassen hatte. In dem theologischen Auditorium wurden täglich ohngefähr 40.000 Patronen gemacht und mit Kugeln versehen und dann im juristischen Hörsaale mit Pulver gefüllt. An jeder derselben arbeiteten wohl zehn Personen, welche an verschiedenen großen Tischen die Säle einnahmen, so daß diese Tätigkeit, wenn man sich dabei den eigentlichen Zweck recht lebhaft dachte, ganz eigene Empfindungen erregte“31. Schließlich stellte der drohende Verlust der Bibliothek eine ernsthafte Gefahr für die Weiterexistenz der Universität dar. Mit den Revolutionstruppen, die von Juli 1796 bis März 1799 in Gießen ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatten, waren französische Kriegskommissare in die Universitätsstadt eingezogen. Sie ließen nach wertvollen Kunstschätzen, Münzsammlungen und Büchern suchen, die im Auftrage des Direktoriums nach Frankreich gebracht werden sollten. Erst kurz vor dem Abtransport wichtiger Bestände nach Paris ergriff August Friedrich Wilhelm Crome als Rektor die Initiative und startete eine Rettungsaktion, die zunächst zu seiner Gefangennahme durch die Franzosen führen, dann aber doch den erhofften Erfolg bringen sollte. Crome stand als Mitglied der Landeskriegskommission in engem Kontakt zu den kommandierenden französischen Generälen. Besonders gut entwickelten sich die Beziehungen zu General Baptist Bernadotte, der seit Oktober 1797 als Kommandeur einer in Gießen stationierten Division von Crome Privatvorlesungen über Statistik erhielt. Der Gießener Professor konnte ihn dazu bewegen, den Abtransport der Bibliotheksbestände zu unterbinden. Auf sein Betreiben verlieh die Universität Bernadotte, dem späteren König Karl XIV. von Schweden, am 17. Dezember 1798 die Würde eines Ehrendoktors der Philosophie32. Am Abend vor___________ Teile, hrsg. v. Arthur E. Imhof, Gießen 1975 (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 31), 709–854. 31 Ludwig Lindenmeyer, Jahrbuch meines Lebens, nach der Handschrift hrsg. v. Karl Esselborn, Darmstadt 1927, 197. 32 Zusammenfassend Arthur E .Imhof, Die Bemühungen eines französischen Generals um den Schutz deutscher Universitäten. Die Ehrenpromotion Bernadottes in Gießen im Jahre 1798, in: Mitteilungen des oberhessischen Geschichtsvereins, NF 55 (1970), 61–94. Zur umfangreichen Literatur über „Gießen in der Franzosenzeit“ vgl. besonders Emil Heuser, Fr. Thom. Chastelǥs Tagebuch über die kriegerischen Ereignisse in und um Gießen vom 6. Juli bis 18. September 1796, in: Mitteilungen des oberhessischen Geschichtsvereins NF 5 (1894), 62–84; 6 (1896), 25–68; 7 (1898), 174–197; Wolfgang Meyer, Stadt und Festung Gießen in der Franzosenzeit 1796/97, phil. Diss. Gießen 1918; Worm, Gießen (wie Anm. 29).

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her hatten die Studenten dem Revolutionsgeneral einen Fackelzug dargebracht. Schon hieraus geht hervor, daß die Franzosen als Besatzungsmacht nicht unbeliebter waren als die Österreicher und Preußen. Von antinationalen Einstellungen und Manifestationen ist nichts bekannt. Ebenso wenig löste das Revolutionsfest, das die Franzosen auf der Hardt vor den Toren der Stadt veranstalteten, in Gießen antirevolutionäre Kundgebungen aus33. Der Abzug der Revolutionsarmee aus Gießen kündigte das Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen an. Nachdem die Machthaber in Frankreich und die Regierung von Hessen-Darmstadt wiederholt Friedensbereitschaft signalisiert hatten, begannen die Verhandlungen. Landgraf Ludwig ernannte Crome, der durch seine Verdienste in der Landeskriegskommission in Darmstadt erheblich an Ansehen gewonnen hatte, zum Spezialbeauftragten bei den Verhandlungen mit den französischen Befehlshabern. Der Gießener Unterhändler nutzte seine Kontakte zu dem nun in Mainz als Oberbefehlshaber amtierenden Bernadotte. 1799 gelang es ihm, Hessen-Darmstadt aus dem Koalitionskrieg gegen Frankreich herauszulösen. Die von Crome abgeschlossene Konvention vom 3. März 1799 besiegelte das Ende des Krieges34. Mit dem Frontenwechsel Hessen-Darmstadts, das aus dem Lager der antirevolutionären Koalitionsmächte ausschied und sich dem von Preußen angeführten Bündnis der neutralen norddeutschen Staaten anschloß, reagierte Landgraf Ludwig X. auf die politischen Umwälzungen im ersten Revolutionsjahrzehnt. In Paris war mit dem Sturz Robespierres die terroristische Phase der Revolution an ihr Ende gelangt und damit für die benachbarten Länder die Gefahr eines alles umstürzenden Befreiungskampfes gebannt. Unter dem Direktorium ließ sich Frankreich in seinen außenpolitischen Beziehungen nicht länger vom revolutionären Ideal der Völkerbefreiung leiten, sondern kehrte zurück zu einer nüchtern kalkulierten staatlichen Interessenpolitik. Daran änderte sich nichts, als Napoleon Bonaparte mit dem Putsch vom 18. Brumaire in Paris die Macht übernahm, die Revolution für beendet erklärte, seine Herrschaft in Frankreich konsolidierte und in einer Reihe von Kriegen den gesamten europäischen Kontinent der französischen Hegemonie unterwarf. Von dieser Machtexpansion, die den Untergang des Alten Reiches nach sich zog, profitierte die außenpolitisch gerade noch rechtzeitig auf die richtige Seite umgeschwenkte Landgrafschaft. Sie stieg zum Großherzogtum auf, verdoppelte die Fläche des Staatsgebiets sowie die Zahl ihrer Bewohner und schloß sich 1806 als souveräner Staat ___________ 33 Wilhelm Diehl, Das Fest der Republik auf der Gießener Hardt (1797), in: Hessische Chronik 9 (1920), 27–28. 34 J. R. Dieterich, Die Politik Landgraf Ludwigs X. von Hessen-Darmstadt von 1790–1806, in: Archive für hessische Geschichte und Altertumskunde NF 7 (1910), 417–453; Arthur E. Imhof, Die Neutralitätskonvention vom März 1799 zwischen Hessen-Darmstadt und Frankreich, in: Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde NF 30 (1967–70), 297–311.

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dem Rheinbund an. Ludwig I. hob die alten Landstände und feudalen Strukturen auf, umgab sich mit liberal gesinnten Ratgebern und leitete tiefgreifende Reformen ein. Der Aufstieg Hessen-Darmstadts zu einem arrondierten Staat mittlerer Größe eröffnete Gießen gute Aussichten. Vorteile verhießen zum einen die politisch-administrativen Veränderungen in der Region. Aus dem territorial zerrissenen Oberfürstentum Hessen ging die gebietsmäßig stark vergrößerte und geschlossenere Provinz Oberhessen hervor. Damit erweiterte die Provinzhauptstadt Gießen ihren Einzugsbereich und übernahm neue Verwaltungsfunktionen35. Für die städtische Entwicklung günstig erschien sodann die in der napoleonischen Zeit beginnende Schleifung der Festungswälle, die Auffüllung der Festungsgräben und ihre Umwandlung in Gartenland. Mit der Erwartung eines baulichen Aufschwungs verband sich die Hoffnung auf eine Belebung von Gewerbe, Handel und Verkehr. Schließlich bot die territoriale Erweiterung Hessen-Darmstadts und die damit gestiegene Bevölkerungszahl der einzigen hessen-darmstädtischen Landesuniversität gute Erweiterungschancen. Die Ludoviciana, die allerdings die Auflösung des Reichskammergerichts in Wetzlar zu verkraften hatte, konnte in absehbarer Zukunft mit höheren Studentenzahlen rechnen. Ein moderner Mittelstaat mit einer leistungsfähigen Verwaltung, einem gut ausgebauten Gerichts-, Medizinal- und Schulwesen benötigte eine beträchtliche Zahl von Beamten, Richtern, Pfarrern, Ärzten und Lehrern. Trotz des großen Potentials stieg die Zahl der Studenten nur allmählich an. Kriege, Wirtschaftslage, Finanznot und der dadurch mitbedingte schleppende Gang der Reformen zögerten die Entwicklung hinaus36. Dennoch blühte die Gießener Universität in der Rheinbundzeit merklich auf. Mit den politischen Veränderungen schlug das geistige Klima um. Den Ideologen der Revolution und Gegenrevolution schenkte kaum noch jemand Gehör. Pragmatisch eingestellte moderate Reformgeister gaben den Ton an. Sie stellten sich auf den Boden der Tatsachen und ergriffen die Gelegenheit, in Anknüpfung an die Tradition des aufgeklärten Absolutismus Staat und Gesellschaft nach rationalen Gesichtspunkten umzugestalten. An diesen Bestrebungen betei___________ 35 Dagobert Karenberg, Die Entwicklung der Verwaltung in Hessen-Darmstadt unter Ludewig I. (1790–1830), Darmstadt 1964; Franz-Ludwig Knemeyer, Regierungs- und Verwaltungsreformen in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Köln 1970, 163ff.; Andreas Schulz, Herrschaft durch Verwaltung. Die Rheinbundreformen in Hessen-Darmstadt unter Napoleon (1803–1815) (Frankfurter Historische Abhandlungen 33), Stuttgart 1991; Eckhart G. Franz/Peter Fleck/Fritz Kallenberg, Großherzogtum Hessen (1800) 1806–1918, in; Handbuch der hessischen Geschichte. Vierter Band, Zweiter Teilband, 3. Lieferung, Marburg 2003, 671–934. 36 Über die Zahl der Gießener Studenten in der napoleonischen Zeit fehlt es an zuverlässigen Angaben. Die ersten wirklich brauchbaren Zahlen stammen aus dem Jahre 1823. Vgl. Peter Moraw, Kleine Geschichte der Universität Gießen, Gießen 21990, 111.

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ligten sich Professoren der Ludoviciana auf doppelte Weise. Zum einen setzten sie sich für die im Landesedikt von 1808 verkündete Einführung des Code civil ein. Die Juristen Karl Heinrich Jaup und Karl Ludwig Wilhelm Grolmann gehörten nicht nur der großherzoglichen Vorbereitungskommission an, sondern hielten zudem Vorlesungen über das französische Zivilrecht, um den juristischen Nachwuchs mit den künftigen Rechtsverhältnissen vertraut zu machen. Grolmann, Sohn des „eudämonistischen“ Regierungsdirektors und späterer großherzoglicher Staatsminister, verfaßte ferner „zum Gebrauch wissenschaftlich gebildeter deutscher Geschäftsmänner“ ein zweibändiges Handbuch über den Code Napoléon37. Schließlich wirkten Jaup und Grolmann als Vertreter des Großherzogtums an der staatenübergreifenden Gesetzeskommission mit, die nach den Plänen des nassauischen Reformpolitikers Harscher von Almendingen für den gesamten Rheinbund ein einheitliches Gesetzbuch auf der Grundlage des Code Napoléon erarbeiten sollte. Die Konferenz fand von September 1809 bis Frühjahr 1810 in Gießen statt38, wo Crome die Bemühungen seiner juristischen Kollegen nach Kräften publizistisch unterstützte und als einer der führenden Rheinbundpatrioten das Reformwerk insgesamt ins rechte Licht zu rücken versuchte. Der Zusammenbruch des Alten Reiches, die Niederlagen Österreichs und Preußens, die Entmachtung der beiden deutschen Vormächte und ihre Abdrängung an die Peripherie der deutschen Staatenwelt hatten dazu geführt, daß sich das „Dritte Deutschland“ zu einem Staatenbund vereinigte und eng an das napoleonische Kaiserreich anlehnte. Darin erblickte Crome eine Wende zum Guten: „Der Rheinbund ist eine Erlösung Deutschlands, gleich segensreich für Regenten und Völker“39. Crome zog aus diesem Urteil die Konsequenz und stellte sich in den Dienst der neuen Ordnung. Er wollte durch Appelle an die Regierenden und an die Öffentlichkeit für die Verbesserung der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Verhältnisse eintreten und dazu beitragen, daß sich in den einzelnen Staaten und im Rheinbund insgesamt ein patriotisches Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickelte. Zu diesem Zweck startete der Gießener Kameralist gemeinsam mit seinem juristischen Kollegen Karl Heinrich Jaup ein neues publizistisches Unternehmen: „Germanien, Zeitschrift für Staatsrecht, Politik und Statistik“. Seit Jahresbeginn 1808 kam alle vier Monate ein etwa 180 Seiten starkes Heft heraus, ___________ 37 Karl Ludwig Wilhelm Grolmann, Ausführliches Handbuch über den Code Napoléon, zum Gebrauch wissenschaftlich gebildeter deutscher Geschäftsmänner entworfen, 2 Bde., Gießen 1810/11. 38 Zur Gießener Konferenz vgl. Elisabeth Fehrenbach, Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht. Die Einführung des Code Napoléon in den Rheinbundstaaten (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 13), Göttingen 1974 (21983), 124. 39 Zitiert nach Wilhelm Roscher, Geschichte der Nationalökonomie in Deutschland (Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Neuere Zeit 14), München 1874, 650.

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das letzte, nach der vom Rußlandfeldzug erzwungenen Unterbrechung von 1812, im Jahre 181340. Das neben Winkopps „Rheinischen Bund“ wohl anspruchsvollste Organ der umfangreichen Rheinbundpublizistik bildete „ein universitär-rechtswissenschaftlich geprägtes aber keineswegs fachwissenschaftlich abgeschlossenes Informations- und Diskussionsforum für Grundfragen der rheinbündischen Verfassung und insbesondere die Debatte um die Rezeption des Code Napoléon“41. Crome sah in dem Beharren der Rheinbundstaaten auf Souveränität einerseits und der Forderung nach einem bundeseinheitlichen Rechtswesen sowie einer einheitlichen Wirtschaftsverfassung andererseits keinen Widerspruch. Im Gegenteil: beide ergänzten sich auf vorteilhafte Weise. Die einzelstaatliche Souveränität und, damit zusammenhängend, die starke Stellung der Reformbürokratie, bildete die Voraussetzung für weitreichende gesellschaftspolitische Reformen, insbesondere für die Ausschaltung der intermediären Gewalten, für die konsequente Umwandlung der ständischen in eine bürgerliche Gesellschaft. Demgegenüber war es Sache des Bundes, durch entsprechende Gesetze einen großen, länderübergreifenden Wirtschaftsraum mit einheitlichen Gesetzen und Zöllen zu schaffen, die Handels- und Gewerbefreiheit durchzusetzen, den außenwirtschaftlichen Verkehr zu regeln. Auf dieser Grundlage – so die Erwartung des liberalen Nationalökonomen – würde nach dem Ende der kriegsbedingten Kontinentalsperre das Wirtschaftsleben in den Rheinbundstaaten erblühen und den Bewohnern einen bisher nicht gekannten Wohlstand bescheren. Hinter dieser Zukunftsvision blieb die rheinbündische Wirklichkeit weit zurück. Einmal lähmten Kriege, Konskriptionen und Kontributionen das Wirtschaftsleben. Sodann rief die Monopolisierungs- und Zentralisierungspolitik der übermächtigen Staatsbürokratie häufig Unwillen hervor. Schließlich bedrückte die wachsende Reglementierung die Bürger in den Städten und Gemeinden. Obwohl sich der Unmut in Grenzen hielt und von einer breiten Protesthaltung keine Rede sein kann, machten sich an der Ludoviciana wie an den anderen deutschen Universitäten, vor allem in Jena und Heidelberg, erste Anzeichen eines politischen Widerstands gegen Napoleon bemerkbar. Hatten sich die Studenten bei Ausbruch der Revolution noch ganz in den Bahnen des überlieferten Korporationswesens bewegt, gehörte zwei Jahrzehnte später ein Teil der Studierenden den reformierten Landsmannschaften an, aus denen die Bur___________ 40

Germanien. Eine Zeitschrift für Staatsrecht, Politik und Statistik von Deutschland, hrsg. v. August Friedrich Wilhelm Crome/Helwig Bernhard Jaup, 4 Bde. und 3 Stcke., Gießen 1808–1811. Fortgesetzt unter dem Titel Germanien und Europa, 1 Bd., Gießen 1813. 41 Gerhard Schuck, Rheinbundpatriotismus und politische Öffentlichkeit zwischen Aufklärung und Frühliberalismus. Kontinuitätsdenken und Kontinuitätserfahrung in den Staatsrechts- und Verfassungsdebatten der Rheinbundpublizistik (Frankfurter Historische Abhandlungen 36), Stuttgart 1994, 43.

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schenschaften hervorgingen. Wie die Entwicklung von den unpolitischen Verbindungen zu den militanten Aktionsgruppen der nationalen Erhebung im einzelnen verlief, ist nicht bekannt. Man weiß jedoch, daß Friedrich Ludwig Weidig und Karl Theodor Welcker an der Spitze einer Verbindung standen, deren Anfänge sich bis in das Jahr 1809 zurückverfolgen lassen. Eine weitere Vorläuferrolle spielte Friedrich Gottlieb Welcker. Diese Leitfigur der radikalen Burschenschaften soll sich „bereits während der Rheinbundzeit für die Einheitsund Freiheitsbewegung eingesetzt und seine Schüler am Pädagog, unter ihnen die Brüder Follen, für ihre Ziele begeistert haben“42. So war im Frühjahr 1813, als die Freiheitskriege einsetzten, der Boden bereitet für die Manifestationen einer studentischen Bewegung, die der französischen Fremdherrschaft den Kampf ansagte, die deutsche Einheit auf ihre Fahnen schrieb und durch ihre Attacken gegen die Exponenten des Rheinbundpatriotismus an der hessischen Landesuniversität eine Periode heftiger Auseinandersetzungen und tumultuarischer Ausschreitungen eröffnete. Hauptzielscheibe der studentischen Angriffe war Crome. Der Zorn, den der engagierte Rheinbundpatriot von Anfang an auf sich zog, nahm im Sommer 1813 bedrohliche Züge an, als eine von Crome verfaßte Schrift mit dem Titel „Deutschlands Crise und Rettung im April und Mai 1813“ erschien43. Napoleon selbst hatte sie kurz nach der Schlacht bei Weißenfels und Lützen in Auftrag gegeben, in einer Zeit, in der die russisch-preußischen Truppen noch einmal zurückgeschlagen werden konnten. Crome stellte in grellen Farben den Krieg der Koalitionsmächte gegen Frankreich und die Rheinbundstaaten als einen Kampf dar, in dem sich zu entscheiden habe, ob „russisch-asiatische, oder deutsch-fränkische Kultur in unserm Vaterland künftig herrschen solle“44. Mehr noch als mit den kriegsführenden Mächten ging Crome mit den Freikorps ins Gericht, die einer romantisch-nationalen Ideologie anhingen. Er warf ihnen vor, sich vor den Karren preußisch-russischer Machtinteressen spannen zu lassen, die rationalen Werte der Aufklärung und des Humanismus einem irrationalen Nationalismus zu opfern; verantwortungslos einen blutigen Volkskrieg zu propagieren, blinden Hass zu predigen, bewußt Zerstörung und Chaos in Kauf zu nehmen. Wie nicht anders zu erwarten rief Cromes Kampfschrift, dieses „Machwerk eines Bonapartistischen Schildknappen“ (Jakob Friedrich Fries),

___________ 42 Rolf Haaser, Politische Verfolgung und Autodafé auf dem Wartburgfest 1817 aus Gießener Perspektive, in: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins NF 79 (1994), 145–193. Zitat 160. 43 August Friedrich Wilhelm Crome, Deutschlands Crise und Rettung im April und May 1813, Leipzig 1813. Neudruck dieser Schrift im Anhang von Haaser, Verfolgung (wie Anm. 42), hier 171–187. 44 Crome, Crise, zitiert nach dem Neudruck (wie Anm. 42), 171.

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im Lager der nationalen Befreiungsbewegung einen Aufschrei der Entrüstung hervor, der bis heute in der Geschichte nachhallt45. Crome konnte nach der sogenannten Völkerschlacht von Leipzig in Gießen, einer Hochburg der nationalrevolutionären Studentenschaft, seines Lebens nicht mehr sicher sein. Kurz bevor Anfang November 1813 preußische und russische Truppen mit Blücher an der Spitze in die Universitätsstadt einmarschierten, ergriff er die Flucht und reiste unter dem Vorwand einer Forschungsreise in die Schweiz. Seine Gegenspieler, die Anhänger der deutschen Nationalbewegung, beherrschten die Szene in einer politisch erregten Öffentlichkeit. Friedrich Gottlieb Welcker, Professor für Gräzistik und Archäologie, führte die Protestaktionen gegen den Rheinbundpublizisten an. Der leidenschaftliche Verfechter der deutschen Nationalstaatsidee wies in seinen Reden die nicht zuletzt von Crome propagierte These vom deutsch-französischen Kulturraum zurück, zeichnete ein kontrastreiches Bild vom Nationalcharakter der Deutschen und der Franzosen und begründete mit einer geschichtsphilosophisch angereicherten Deutschtumstheorie seinen Appell zur Fortsetzung des Freiheitskampfes gegen Frankreich. Der mit 29 Jahren noch jugendliche Wortführer der studentischen Freiheitsbewegung brach am 28. März 1814, vier Monate vor dem erneuten Seitenwechsel des hessischen Großherzogtums, also in einem Akt der Rebellion, als Kompanieführer des von ihm mit organisierten hessischen Bataillons freiwilliger Jäger, „gegen den Unterdrücker der Deutschheit“ ins Feld. 130 Gießener Studenten, etwa dreiviertel der gesamten Studentenschaft, und eine Anzahl von Bürgern der Stadt schlossen sich dem Kriegszug nach Frankreich an. Die ersehnte Feindberührung blieb aus. In Lyon ließen sich die von inneren Spannungen und Disziplinproblemen in Mitleidenschaft gezogenen hessischen Jäger in Händel mit Franzosen verwickeln, mußten sich von den Befehlshabern der regulären Truppen obrigkeitliche Kritik gefallen lassen und kehrten nach Gießen zurück. Längst vorher hatte sich Crome wieder eingefunden und wollte, als wäre nichts geschehen, seine Vorlesungen wieder aufnehmen46. Mit den wütenden Reaktionen der Studenten begann eine neue Phase der Auseinandersetzungen. Den Auftakt der nun zum Teil gewaltsam ausgetragenen Konflikte bildeten studentische Ausschreitungen im Oktober 1814, am ersten Jahrestag der Schlacht bei Leipzig. Wo immer in den nächsten Monaten der „Schänder teutscher Ehre, – der feile Prediger teutscher Sclaverei – der verworfene Götzendiener französischer Tyrannei – das scheußlichste moralische Ungeheuer – nur mit Ekel kann man seinen Namen schreiben – Crome“47 öffentlich in Erscheinung trat, begleiteten ihn die tumultuarischen Auftritte der Gießener Radikalen. Sie ließen keine Gelegenheit vorübergehen, der Symbolfigur ___________ 45

Vgl. Haaser, Spätaufklärung (wie Anm. 8), 276ff. Haaser, Verfolgung, (wie Anm. 42), 160ff. 47 Flugblatt. Abgedruckt bei Haaser, Verfolgung (wie Anm. 42), 192. 46

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der Franzosenherrschaft durch Katzenmusiken und auf andere Weise zu demonstrieren, daß seine Anwesenheit in der Stadt und an der Universität Gießen unerwünscht sei. An vielfältiger Unterstützung fehlte es den Freiheitskriegern nicht. So suchten preußische Offiziere bei einem Durchzug durch Gießen Crome in seiner Wohnung auf und behandelten ihn in kränkender Weise. Studenten aus Berlin, Göttingen und Heidelberg drohten auf Flugblättern, die gesamte hessische Landesuniversität zu boykottieren, solange „ein Scheusal wie Crome“48 in Gießen wohne. Rektor und Senat drohten mit der Schließung der Universität, sahen sich aber nicht in der Lage, dem fortgesetzten Treiben der Gießener Radikalen ein Ende zu setzen. Schließlich wußte die Universität keinen anderen Ausweg mehr, als der Regierung in Darmstadt mit den Stimmen sämtlicher Professoren Cromes Amtsenthebung vorzuschlagen. Ende Juli 1815 wies das Ministerium dieses unrühmliche Ansinnen zurück, der Senat der Universität lenkte ein49, Crome war rehabilitiert, und man übertrug ihm, um die Erinnerung an die beschämenden Vorgänge der Jahre 1813–15 gleichsam auszulöschen, 1822 zum zweitenmal das Rektorat. Die Regierung in Darmstadt traf ihre Entscheidung zugunsten Cromes vor dem Hintergrund einer Entwicklung, die nach langen Verhandlungen auf dem Wiener Kongreß zur Gründung des Deutschen Bundes geführt hatte. Diese lockere Föderation der deutschen Staaten enttäuschte die Hoffnungen der Freiheitskämpfer, die für einen einheitlichen oder einen föderativen Nationalstaat gegen Napoleon in den Krieg gezogen waren. Nach dieser vollständigen politischen Niederlage und dem ebenso erfolglosen Ausgang des erbitterten Kampfes gegen Crome flüchteten sich die Gießener Schwarzen und ihre Gesinnungsfreunde in Verzweiflungsaktionen wie die Bücherverbrennung auf dem Wartburgfest, der auch Cromes Streitschrift zum Opfer fiel, und den von einer Philosophie der Tat geleiteten Mordanschlag auf Kotzebue. Damit boten sie Politikern wie Metternich die willkommene Gelegenheit zur Verabschiedung der Karlsbader Beschlüsse von 1819 und der auf ihrer Grundlage eingeleiteten Verfolgungs- und Überwachungsmaßnahmen. Sie hinterließen auch in Gießen ihre Spuren und hatten zur Folge, daß nach den Jahren des Aufruhrs von 1809 bis 1819 Ruhe einkehrte, bevor im Gefolge der französischen Juli-Revolution vor allem von 1832 bis 1835 die Ludoviciana wieder von einer Welle politischer Erregung erfaßt wurde50.

___________ 48

Ebd. Dazu detailliert mit aufschlussreichen Belegen Haaser, Spätaufklärung (wie Anm. 8), 315ff. 50 Vgl. Moraw, Geschichte (wie Anm. 36), 117. 49

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Vor diesem Hintergrund konnte Crome, von politischen Konflikten unbehelligt51, seine gelehrte und publizistische Tätigkeit fortsetzen. Breiten Raum nahmen die landeskundlich-statistischen Arbeiten ein. Zwischen 1820 und 1828 erschien die von ihm in vier Bänden herausgegebene „Geographischstatistische Darstellung der Staatskräfte von den sämmtlichen, zu dem teutschen Staatenbunde gehörigen Ländern“52. In diesen umfangreichen Werken begnügte sich Crome nicht mit der nüchternen Beschreibung der allgemeinen Lage und Größe eines Staates sowie der natürlichen Beschaffenheit, wirtschaftlichen Struktur und administrativen Gliederung, sondern wies in den entsprechenden Kapiteln über die Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsverfassungen auch auf Rückständiges wie Relikte des Feudalsystems und Fortdauer der Willkürherrschaft hin, merkte Mängel im Verwaltungssystem an, trat für Handelsfreiheit und Wirtschaftseinheit ein. Alles in allem waren es dieselben Einwände und Forderungen, die Crome schon in seinen früheren Werken vorgetragen hatte. Er blieb, obwohl er, in Anlehnung an den drängenden „Zeitgeist“ die Einführung landständischer Verfassungen in Deutschland befürwortete53, dem aufgeklärt-absolutistischen Denken verhaftet. Das Vertrauen in die reformerische Qualität von aufgeklärten Regenten war charakteristisch für sein gesamtes Schaffen und begleitete ihn zeitlebens in seinen „Bestrebungen zur Verbreitung von Cultur und Aufklärung, so wie von Sittlichkeit und Ordnungsliebe“54 – für „Fürst und Vaterland“. Dies war das Vermächtnis, das August Friedrich Wilhelm Crome am 26. März 1830 seinen Studenten hinterließ: „Eine tiefe wehmuthsvolle Stille herrschte in dem gedrängt gefüllten Saale, und der ehrwürdige Greis hielt seine letzte öffentliche Vorlesung mit großer Klarheit und Festigkeit, indem er am Schluß der Politik, welche er dieß Semester vorgetragen hatte, die Schicksale der Cameralistik als Wissenschaft, während seiner 43jährigen Professor-Laufbahn, kurz entwickelte und den gegenwärtigen Standpunkt derselben genau bezeichnete. Sodann wandte er sich an das Herz seiner Zuhörer, dankte ihnen mit Rührung für ihren fortdauernden Beifall, Liebe und Vertrauen, und bat sie, seinen letzten Zuruf:

___________ 51

Gelegentlich mußte Crome als Rektor im studentischen Streit zwischen den sogenannten Schwarzen und den ihnen entgegenstehenden „Hessen“ intervenieren: „Ein paar Relegationen waren aber genügend, diese [Duelle] zu verhüten.“ Crome, Selbstbiographie (wie Anm. 5), 429. 52 Zu den bibliographischen Angaben im Detail vgl. Haaser, Spätaufklärung (wie Anm. 8). 53 August Friedrich Wilhelm Crome. Deutschlands und Europens Staats- und National-Interesse vorzüglich in Betreff des germanischen Staaten-Bundes und der in Deutschland allgemein einzuführenden Landständischen Verfassung, Gießen 1817, X. 54 Crome, Selbstbiographie (wie Anm. 5), 6.

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Nützliche Männer für Fürst und Vaterland zu werden,… immer im Gedächtniß zu bewahren“55.

___________ 55 Bericht der Frankfurter Oberpostamtszeitung vom 4. April 1830. Abgedruckt als Beilage XIX. in: Crome, Selbstbiographie (wie Anm. 5), 473f.

Die Tafel als historischer Ort Hans Ottomeyer Zeremonien und Rituale gehörten in der vormodernen Gesellschaft zu den wichtigsten Formen nichtverbaler Kommunikation, die ihren Höhepunkt in Europa während des Mittelalters und der frühen Neuzeit in den Kirchen und an den Höfen erlebten. Da wir gegenwärtig durch den vermehrten Einsatz visueller Medien erneut mit einer Vielzahl optischer Zeichen konfrontiert sind, richten die historischen und anthropologischen Wissenschaften ihre Aufmerksamkeit seit geraumer Zeit verstärkt auf die symbolischen Kommunikationsformen anderer Kulturen und Zeiten. Während das gemeinsame Essen heute ein beliebter Anlaß zu zwangloser Geselligkeit und individuellem Genuß ist, entwickelte sich das Speisen an den Höfen zu einem streng reglementierten Akt, in dem sich der Fürst regelmäßig dem Hofstaat und den Untertanen zur Schau stellte. Jedem Detail dieses Aktes kam dabei Aussagewert bezogen auf Rang und Bedeutung zu1. ___________ 1 Der vorliegende Aufsatz stützt sich auf die nachfolgend angegebene Literatur, auf Einzelbelege wurde verzichtet: Ausst.-Kat. Berlin. Die öffentliche Tafel – Tafelzeremoniell in Europa 1300–1900, hrsg. v. Hans Ottomeyer/Michaela Völkel, Wolfratshausen 2002; Ausst.-Kat. München, Die anständige Lust. Von Esskultur und Tafelsitten, hrsg. v. Ulrike Zischka/Hans Ottomeyer/Susanne Bäumler, München 1993; Ausst.-Kat. Versailles, Versailles et les tables royales en Europe, XVIIe-XIXe siècles, Paris 1993; Wolfgang Brückner, Der Blumenstrauß als Realie, in: Medium aevum quotidianum, Gesellschaft zur Erforschung der materiellen Kultur des Mittelalters, Krems 1992, 1962; Grimod de La Reynière, Alexandre Balthazar, Manuel des Amphytrions, Paris 1808; Gérard Mabille, Les surtouts de la table dans l´art français du XVIIIe siecle, in: L'Estampille 11 (1980), 62–73; ders., La table et ses usages au XVIIIe siècle, ou le service à la française, in: Ausst.-Kat. Paris, La table d'un roi – L'orfèvrerie du XVIIIe siècle à la Cour de Danemark, Paris 1987, 82–87; Ernst v. Malortie, Das Menu, Hannover 18883; P. Mordac, Le menu. Un histoire illustrée de 1757 à nos jours, Paris 1991; Hans Ottomeyer/Lorenz Seelig, Das Silber- und Vermeil-Service König Jérômes von Westfalen in der Münchner Residenz, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 34 (1983), 117– 164; Hans Ottomeyer, Eine kurze Geschichte des Tafelzeremoniells in der Münchner Residenz, in: Pracht und Zeremoniell. Die Möbel der Residenz München, hrsg. v. B. Langer, München 2002, 67–77; Karl Friedrich v. Rumohr, Geist der Kochkunst, Frankfurt a.M. 1978 (erstmals Stuttgart/Tübingen 1822); Beatrix Saule, Tables royales à Versailles 1682–1789, in: Ausst.-Kat. Versailles, Versailles et les tables royales en Europe, XVIIe-XIXe siècles, Paris 1993, 41–68; Jun'ichir Tanizaki, Lob des Schatten, Zürich 1993; Reay Tannahill, Food in History, New York 1973.

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Hohe Potentaten wie der Papst in Rom oder der Kaiser in Wien signalisierten ihre Sonderstellung dadurch, daß sie immer allein speisten. Saßen andere Herrscher mit Staatsgästen zu Tisch, spiegelten die Sitzordnung und die unterschiedlichen Materialien, aus denen die jeweils vorgesetzten Tafelgeräte bestanden, die politische Machtkonstellation. Ritualisierte Handlungen wie das Reichen von Waschbecken und Wasser sowie das Vorschneiden, die Giftprobe und das Vorlegen der Speisen waren wichtige Bestandteile des Tafelzeremoniells, für die prächtige Utensilien angefertigt wurden, die bis heute in Museen und historischen Sammlungen aufbewahrt werden. Es wäre falsch anzunehmen, der Sinn der öffentlichen Tafel habe darin bestanden, dem Herrscher bei der Nahrungsaufnahme zuzuschauen und sich daran zu freuen, wie gut ihm das Essen schmeckt. Bei der offenen Tafel geht es nicht um das Essen, nicht um Nahrungsaufnahme oder eine andere Form von Kulinarik. Im Zentrum steht, was Simmel einmal das „soziologische Gebilde der Mahlzeit“ nannte. An der Tafel finden sich die Menschen zusammen, um ihre gesellschaftliche Gruppe – die Familie, aber auch geistige oder berufliche Gemeinschaften – in nahezu ritueller Weise durch den Akt des Teilens neu zu bestätigen. Immer wieder, wenn Gesellschaften sich bestätigen, gefährdet sind, auseinander zu brechen drohen oder ein Wechsel sich vollzieht, versammelt man sich, um gemeinsam zu speisen. Das Speisen hat dabei die Funktion, den gemeinschaftlichen Akt des Teilens einzuüben und zugleich die verschiedenen Rollen innerhalb der Gesellschaft nach innen und außen darzustellen. Nur von diesem Ansatzpunkt aus läßt sich die offene Tafel, die so viel geschichtliche Wirklichkeit schuf, verstehen. Georg Simmel schrieb: „Gerade weil die gemeinsame Mahlzeit ein Ereignis von physiologischer Primitivität und unvermeidlicher Allgemeinheit in die Sphäre gesellschaftlicher Wechselwirkung und damit überpersönlicher Bedeutung hebt, hat sie in manchen früheren Epochen einen ungeheuren sozialen Wert erlangt … Man möchte glauben, daß in der Unsicherheit und Fluktuierung des mittelalterlichen Daseins dies ein sozusagen anschaulich fester Punkt war, ein Symbol, an dem sich die Sicherheit des Zusammengehörens immer von neuem orientierte“2. In Fortführung der Simmelschen Gedanken läßt sich sagen, daß die Mahlzeit, auf politische Ebene gehoben, eine der wenigen Friedenstechniken ist, über welche Menschen überhaupt verfügen. Deshalb wird auf einer Ebene außerhalb der sprachlichen Kommunikation jeder Vertrag, jede Friedensverhandlung, jeder Besuch, wozu auch Staatsbesuche zählen, durch ein gemeinsames Mahl beschlossen. Es ist eine Form des Sichvertragens. Erstaunlich ist nur, daß über jede Form der kriegerischen Auseinandersetzung und Aggression wissenschaftliche Abhandlungen verfaßt wurden, die ganze Bibliotheken füllen, die Soziologie und die Gemeinschaft der Tafel aber merk___________ 2 Georg Simmel, Soziologie der Mahlzeit, in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918, hrsg. v. Rüdiger Kramme/Angela Rammstedt (Gesamtausgabe Bd. 12), Frankfurt a.M. 2001, Zitat: 140–147.

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würdig im Verborgenen blühen und es fast als anrüchig gilt, über die Mahlzeit zu sprechen oder zu schreiben. Was die öffentliche Tafel auszeichnet, ist ihre weitgehende Angleichung an zwei grundlegende Handlungen, die das Leben früherer Zeiten konstituierten. Das eine ist die Meßfeier der mittelalterlichen Kirche, bei der der Priester, assistiert von Ministranten, die Messe vor den Augen der Gläubigen zelebriert, während er die Einsetzungsworte spricht. Der Schmuck des Tischs des Herren mit Altartuch, Leuchtern, Kelch und Patene war nicht grundsätzlich anders als die Gestaltung der öffentlichen Tafel. Indem die Gläubigen die Handlungen andächtig verfolgten, hatten sie an der Meßfeier teil und wurden in die Gemeinschaft mit einbezogen. Die offene Tafel fand unmittelbar nach der Messe statt und war auf diese Weise zeitlich und semantisch eng mit der geistlichen Handlung verbunden. Eine andere mögliche Erklärung für die offene Tafel bietet sich durch die weitgehende Angleichung ihres Zeremoniells an die Erbhuldigung oder Krönungsfeier, mit der Fürsten in ihr Herrscheramt eingesetzt wurden. Das Herrschermahl war integraler Bestandteil aller Krönungsfeierlichkeiten. Die Tafel des Herrschers war dazu auf einer Estrade gedeckt. Es war die erste Aufgabe der Inhaber der Hofämter, den an die Macht gekommenen Fürsten zu bedienen. Das Publikum nahm hier – wie bei der offenen Tafel durch eine Barriere von dem Geschehen getrennt – an der Feier teil und verfolgte schweigend das Geschehen. Insofern war die offene Tafel eine Wiederholung der Erbhuldigung und eine Art Reinszenierung der Einsetzungsfeier, welche die Legitimation des Herrschers darstellend unterstreichen sollte. Damit sind die beiden wesentlichen Bedeutungsfelder benannt, in deren Spannungsbereich sich die offene Tafel vollzieht. Zugleich ist damit aber auch angedeutet, aus welchen Gründen diese Handlungen uns heute weitgehend unverständlich geworden und daher in Vergessenheit geraten sind: Ihr Ziel war die Demonstration von Kontinuität und Legitimität der Herrschaft. Die öffentliche Tafel ist eng mit den Residenzen und Schlössern verbunden, welche der Sitz der höchsten legislativen und exekutiven Gewalt im Staate waren. Sie beherbergten die Hofämter und hielten den fürstlichen Familien Raumfolgen zum Wohnen bereit. Hauptresidenzen waren Winterschlösser, die vom Oktober bis in den Mai hinein bewohnt wurden. In ihnen fanden Staatsund Hofzeremoniell zugleich ihre strikteste Observanz. Während der langen Aufenthalte von Mai bis Oktober in den Sommerschlössern fanden dort auch offene Tafeln statt, jedoch mit einer reduzierten Entfaltung des Zeremoniells. Da alle Residenzen eine ähnlich geartete Abfolge von Räumen, die sogenannten Appartements, aufwiesen, konnte jeder Besucher in Europa sich einigermaßen leicht in den Schlössern der Herrscher zurechtfinden. Der Zugang dorthin war dem Publikum nicht versperrt. In diesen Räumen fand die öffentliche Tafel statt, die tatsächlich im Sinne des Wortes „öffentlich“ war. Im Prinzip konnte jeder an dem Ereignis teilnehmen: Männer und Frauen, soweit sie sich nicht in Umhänge hüllten oder von schweren Krankheiten gezeichnet waren. Erst zwi-

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schen Rittersaal und erstem Vorzimmer lag eine Grenze, die nicht von jedermann überschritten werden konnte. Entweder hier oder dort fand die Öffentliche Tafel statt. Auf dem Hof von Versailles sah es anders aus, dort hatte ein jeder Franzose oder auswärtige Gast, der den König öffentlich speisen sehen wollte, sich mit einem Hut und einem Degen zu versehen, sonst wurde er zur Tafel nicht zugelassen. Diese Requisiten waren auch leihweise in Versailles zu bekommen. Zudem war es eine Aufgabe der zahlreichen Publikationen und graphischen Darstellungen, die um diesen Akt des Hofzeremoniells herum entstanden. Öffentlichkeit herzustellen und nach außen zu tragen. Sie waren Veröffentlichungen im wahrsten Sinne des Wortes. Um die Wende zum 19. Jahrhundert kam in Paris eine völlig neue Art des Servierens auf, die die europäische Tafel in all ihren Bestandteilen grundlegend verändern sollte. Dieser Wandel betraf nicht nur die Zusammensetzung des Geschirrs, die Form der Besteckteile und den Aufbau der Mahlzeiten, sondern auch das Verhalten und die Konversation an der Tafel. In der neuen Art zu servieren und eine Mahlzeit gemeinsam einzunehmen spiegelte sich eine einschneidende historische Veränderung der Gesellschaft und des Lebensstils. Um die skizzierten Neuerungen zu verstehen, ist es einleitend notwendig, einen Blick auf die Art des Servierens und Tafelns zu werfen, die während des 17. und 18. Jahrhunderts an den europäischen Höfen praktiziert wurde und auch Adel und Bürgertum beeinflußte. Die zeitgenössische Bezeichnung „à la française“ weist auf ihren Ursprung hin. Beim service à la française wurde die Mahlzeit in mehreren Gängen aufgetragen. Die Anzahl der Gänge oder Trachten nahm im Lauf der rund 200 Jahre, in denen man auf französische Art speiste, kontinuierlich ab, während auf der anderen Seite die Liste der Gerichte, aus denen ein Gang bestand, immer länger wurde. Beim service à la française wurden zahlreiche Gerichte auf Platten und in Schüsseln zu Tisch gebracht und dort in doppelter Achsensymmetrie kunstvoll arrangiert. Rund um dieses geometrische Ensemble verteilten sich die einzelnen Speiseteller. Im Zentrum der Tafel stand das surtout, das nach Beendigung der ersten Gänge nicht abgeräumt, sondern erst zum Dessertgang ausgewechselt wurde. Es war aufwendig geformt und konnte im 18. Jahrhundert einen Tempel oder Pavillon nachbilden, mit Figuren geschmückt werden oder in bewegte ornamentale Strukturen aufgelöst sein. Diese kunstvollen Gebilde, die aus Silber, Bronze, Porzellan oder Fayence gefertigt wurden, dienten als Aufbewahrungsort für Pfeffer, Salz, Essig, Öl, Senf, Zucker und Zitronen. Statt des surtout konnte auch ein so genanntes dormant Mittelpunkt der Tafel bilden. Wie der Name sagt, wurde es während der gesamten Mahlzeit ebenfalls nicht entfernt. Es bestand aus einer großen Platte oder einem Untersatz und bot jeweils der wichtigsten Terrine oder Schüssel, die aufgesetzt wurde, Platz. Surtout und dormant waren die einzigen Solitäre auf der Tafel. Alle anderen Utensilien waren paarweise oder in gerader Zahl aufeinander abge-

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stimmt. Bei der Verteilung ging man stets von einer Grundzahl von zwölf aus, die man im Bedarfsfall durch Multiplikation oder Division variierte. Die gesamte Mittelfläche der Tafel wurde nach streng geometrischem Grundriß mit runden und ovalen Terrinen und Platten bedeckt, die eine reiche Auswahl an verschiedenen Gerichten für die versammelten Gäste bereithielten. Der erste Gang bestand aus den Vorspeisen (hors d'œuvres, entrées), Suppen und relevés, also solchen Gerichten, die dort auf die Tafel gesetzt wurden, wo eine leergegessene Platte abgetragen worden war. Zum zweiten Gang wurden Braten (rôtis) und Geflügel mit verschiedenen würzigen und süßen Beigerichten (entremets) serviert. Den beiden ersten folgte meist ein dritter Gang. Immer wurden die neuen Platten und Schüsseln genau an der Stelle auf die Tafel gesetzt, wo auch beim eben abgetragenen Gang Schüsseln und Platten gestanden hatten. Wenn beispielsweise der erste Gang aus sechs oder acht Vorspeisen bestand, so mußte der zweite Gang eine entsprechende Anzahl an Gerichten beinhalten, denn eine abweichende Anzahl an Platten und Schüsseln hätte die Symmetrie der Tafel entschieden gestört. Ausnahmen bildeten die sogenannten „fliegenden Teller“ oder relevés, die, wie oben erwähnt, während eines Ganges als zusätzliche Gerichte serviert wurden, wenn andere abgetragen worden waren. Beim anschließenden Dessertgang entfaltete sich der ganze Luxus verschiedenartiger Süßspeisen und allem, was die Konditoreikunst zu ersinnen und herzustellen in der Lage war. Seit dem 18. Jahrhundert bevorzugte man für das Dessert Serviceteile aus Porzellan, von dem sich klebriges Zuckerwerk und säurehaltige Früchte besser verzehren ließen, als von Silber. Für die ersten Gänge hingegen hielt man ausschließlich Tafelgeräte aus Edelmetall für angemessen. Für die Gepflogenheit, an den Höfen Europas fast ausschließlich silbernes Geschirr zu verwenden, gibt es unterschiedliche Gründe. Zunächst einmal war dieses Material besonders wertvoll und vermochte allein dadurch die herausragende Stellung des fürstlichen Hausherren augenfällig zu machen. Zudem entsprach Silber mit seiner lichtreflektierenden, glänzenden und funkelnden Oberfläche den ästhetischen Vorstellungen der Zeit in besonderem Maß. Mit dem weißen Damast und Leinen der Tischwäsche trat das weiße Metall in einen Reflexe von Licht sprühenden Dialog. Hinzu kommt, daß Silber über elementare Qualitäten verfügt, die es bei Tafel allen anderen Materialien überlegen erscheinen ließen: Es speichert und bewahrt die Wärme schneller und länger als andere Metalle und war daher besonders geeignet zur Aufbewahrung von Speisen, die von der Küche zur Tafel einen langen Weg zurückzulegen hatten. Einmal in der Küche erwärmt, konnten die Gerichte in silbernen Schüsseln für einen bemerkenswerten Zeitraum warmgehalten werden. Schließlich oxydierte Silber und verfärbte sich dunkel, wenn es mit bestimmten giftigen Substanzen in Berührung kam. Diese Fähigkeit zur chemischen Reaktion machte es in einer Zeit, in der Giftmorde eine ernste Bedrohung für alle Mächtigen darstellten,

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besonders wertvoll. Der Brauch, silberne Löffel zusammen mit Pilzgerichten zum Kochen zu bringen, ist ein spätes Derivat solcher Vorstellungen. Als Tribut an die herausragende Rolle des Silbers an der fürstlichen Tafel ist es zu verstehen, daß in der frühen Neuzeit auch Geschirrteile, die aus anderen Materialien gefertigt wurden, die Erscheinung und die Formen der Silbergeräte nachzuahmen trachteten. Man beobachtet dieses Bemühen bei Gefäßen aus Zinn, Porzellan und Fayence, deren weich modulierte, wellenförmige Profile ursprünglich den konvexen und konkaven Spiegeln der Silberprofile entnommen worden waren. Die Liebe zum Weiß ist kennzeichnend für die europäische Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Als Charakteristikum der Tafel, die sich als archaisches Kulturgut modischem Wandel nicht vollständig beugt, wirkt diese Vorliebe bis in unsere Zeit fort. Man muß sich die Situation an einer Tafel, bei der à la française serviert wurde, als ein fortwährendes Weiterreichen von und Bitten um bestimmte Gerichte vorstellen, die in ganz unterschiedlichen Entfernungen von den Hungrigen auf der Tafel positioniert waren. Oliver Goldsmith schildert in seinem 57. Brief der „Citizens of the World“ aus dem Jahr 1762 den Versuch eines Tischgesprächs, der in einer herben Enttäuschung endete, weil die anwesende Gesellschaft, die vollauf damit beschäftigt war, sich gegenseitig um die schmackhaftesten Stücke zu bitten und sich über die Qualität des Weines auszutauschen, nicht gewillt oder in der Lage war, einer Erzählung zuzuhören. Die gemeinsame Mahlzeit bestand so aus einem komplizierten Prozeß, in dem der soziale Rang, die Kommunikation und die leiblichen Bedürfnisse sich untrennbar verbanden. Jeder erhielt seinen Anteil am Mahl in Abhängigkeit davon, welche Position er an der Tafel inne hatte und wie gut es ihm gelang, seine Wünsche der richtigen Person mitzuteilen. Mit Hilfe der Tafeldiener war es auch möglich, an Platten zu gelangen, die in der Mitte des Tisches plaziert waren. Zeitgenössische Kupferstiche veranschaulichen, wie ein geübter Bediensteter die Distanz von etwa eineinhalb Metern bis zur Tischmitte zu überbrücken vermochte. Eine besondere, relativ archaische Form des service à la française war das service à l'anglaise. Dabei fiel dem Hausherren die Rolle zu, das aufgetragene Fleisch an der Tafel möglichst geschickt und kenntnisreich vorzuschneiden. Der Dame des Hauses dagegen kam die Aufgabe zu, die Suppe auszuteilen. Um ihren Pflichten besser nachkommen zu können, saßen sie an den beiden Schmalseiten der Tafel auf Stühlen, die mit Armlehnen versehen waren. Es zeichnete den guten Gastgeber aus, jeden Gast danach zu fragen, wie viel Fleisch er vorgelegt zu bekommen wünsche und welchen Garzustand des Bratenstücks er bevorzuge. Das service à la française nahm im Laufe des 18. Jahrhunderts immer ausgefeiltere und verschwenderischere Formen an. Zuweilen standen während eines Ganges über 100 Gerichte nebeneinander auf der Tafel. Die Geschirrteile,

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in denen sie aufgetragen wurden, erhielten je nach ihrem Verwendungszweck spezielle Formen. Wein- und Gläserkühler, Saucieren, Essig- und Ölständer, Sahnegießer, Zuckerdosen und -zangen, Brotkörbe, Eis- und Kühlgefäße, Rechauds, Gewürzdosen, ausgefallene Schüsseln für Zwischengerichte und natürlich Teller und Besteckteile, deren spezielle Formen auf die Speisen abgestimmt waren, die mit ihnen verzehrt werden sollten, sind Errungenschaften der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Während die Grundformen der einzelnen Tafelgeräte abhängig von ihrer Funktion immer differenzierter gestaltet wurden, bildeten sie als Service durch die rigide Vereinheitlichung von Material, Dekor und Farbe ein ästhetisches Ganzes. Beim service à la française wußte der Gast nie, welche Gerichte ihn während der folgenden Gänge erwarteten. Noch gab es keine Menükarten. Es haben sich allerdings Tafelpläne aus der Hand von Tafeldeckern und Haushofmeistern erhalten, in die nicht nur die Grundrisse der aufzutragenden Platten und Schüsseln und ihre geometrische Verteilung auf der Tafel, sondern ergänzend auch die einzelnen Gerichte eingetragen sind, die auf diesen serviert werden sollten. Aus der Regierungszeit Ludwigs XV. sind Tafelpläne überliefert, die mit Zeichnungen geschmückt und so sorgfältig geschrieben sind, daß man davon ausgehen darf, daß sie hochrangigen Personen vorgelegt worden sind. Beim service à la française wählte man die Gerichte, von denen man essen wollte, wie man sich heute bei einem kalten Buffet bedient. Jeder kombinierte auf seinem Teller ein wenig von den Speisen, die ihm wohlschmeckend erschienen und die in seiner Nähe standen oder ihm gereicht wurden. Man darf davon ausgehen, daß zahlreiche Gerichte nicht verspeist und zum Teil wohl nicht einmal probiert wurden. Die entsprechenden Schüsseln und Platten wurden abgetragen, zurück in die Küche gebracht und von dort erneut in einfacheren Geschirren auf den Weg geschickt, der nun an den Tischen endete, um die sich die höheren Hofchargen und die Dienerschaft versammelt hatten. Blieb danach etwas übrig, wurde es als Almosen an die Armen verteilt. Einen unbestreitbaren Schwachpunkt stellten die langen Wege dar, die die Speisen bei dieser Art des Servierens von der Küche bis zum Speisezimmer zurücklegen mußten. Anschließend harrten die zahllosen Gerichte, die zur Auswahl auf der Tafel arrangiert waren, während eines ganzen Ganges der hungrigen Interessenten, die sich nach und nach vorlegen ließen. Bis sie endlich auf den Tellern landeten, waren die meisten Gerichte lauwarm oder kalt. Demonstrativer Luxuskonsum an der Tafel verlangte seinen Tribut, und dieser Tribut bestand im Verzicht auf angemessen temperiertes Essen. Investitionen in Tafelgerät, das in einigen Fällen gerade aus den Randbereichen Europas auf uns überkommen ist, waren gewaltig. Der Aufwand an Material und Arbeit, der für diese Staatsservice betrieben wurde, übersteigt heute jede Vorstellung. Das meiste davon ist zugrunde gegangen. Nur in wenigen Schatzkammern, Silberkammern oder Nationalmuseen haben sich bis heute Teile davon bewahrt. Es ist zahlreich bezeugt, daß es an das Tafelsilber ging,

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wenn Kriege das Land überzogen, Kriegskontributionen zu erbringen waren oder der Sold stehender Heere auszuzahlen war. Das Silber, welches zuvor gemeinsamen Mahlzeiten gedient hatte, wurde in Stücke gehackt und in der Münze zu Geldstücken geschlagen. Geld und Silber sind in vielen europäischen Staaten daher heute noch gleichbedeutend. Tafelgeräte aus Silber, vergoldetem Silber oder Gold erfuhren in der Kulturgeschichte eine besonders traditionsbezogene und daher kontinuierliche Entwicklung. Sie bildeten stets den kostbarsten Besitz des Hauses. Über sie wurde in besonderer Weise verfügt. Silber war fast nie dem individuellen Gebrauch oder einem ichbezogenen Luxusgebaren unterworfen. Es spielte, bezogen auf menschliche Gemeinschaften, eine ganz besondere Rolle. Es unterlag nicht den Capricen der Tagesmoden, sondern blieb Investition für die Zukunft. Silbergeräte wurden von Gemeinschaften in Auftrag gegeben und in diesen von Generation zu Generation weitervererbt. Gemeinschaftlich besessenes Silbergerät stiftete Identität in gesellschaftlichen Verbindungen wie Familien, fürstlichen Häusern, Zünften, Gilden, Kirchengemeinden, Klöstern, Universitäten, bis hin zu Vereinen oder Clubs. Im Mittelalter, als die benediktinischen Lebensregeln bis weit in die private Lebensführung reichten, galt das Gesetz: omniaque omnia sint communia ut scriptum est – alles sei allen gemeinsam, so wie es geschrieben ist. Staatssilber war ebenso gebräuchlich wie Ratssilber und wurde bei den großen Essen verwendet, zu denen sich die Mitglieder zusammenfanden, um ihre Gemeinschaft zu bestätigen oder neue Verbindungen und Verträge einzugehen, die durch gemeinsames Essen zelebriert wurden. Dies geschah stets angesichts des Silbergeräts, das mit der Geschichte der Gruppe verbunden war und in die Zukunft weitergegeben wurde. Bisweilen wird bis heute Silbergerät als singuläres Einzelstück mit Erinnerungsqualität gefertigt, um an eine Begebenheit oder ein personenbezogenes Geschehen zu erinnern. Silber und damit auch Tafelsilber, so läßt sich ohne Übertreibung sagen, war stets ein Material der Geschichte, und Silber ist ein historisches Element. Es sollte an den Stifter erinnern und ist in der Regel mit seinen Initialen, dem Anschaffungsjahr oder dem Wappen geziert, um es über die Zufälle des Tagesgeschehens hinauszuheben. In seiner Geschichte wurde Silbergerät nur an ganz bestimmten Orten und in besonderen Aufstellungen gebraucht, denen die Ordnungsprinzipien zugrunde lagen, welche auch sonst bei den zeit- und stilgebundenen Arrangements der Dinge zur Anwendung kamen. In einigen seltenen Fällen haben sich festeingebaute Buffetsituationen bewahrt. Zu nennen sind die Buffets von 1590 im Antiquarium der Münchner Residenz, die Buffetnischen in Ansbach und das große Silberbuffet, das aus dem Berliner Schloß stammt und heute zwischen Schloß Köpenick, Charlottenburg und dem Kunstgewerbemuseum hin und her geschoben wird. Am wichtigsten bleibt jedoch der Gebrauch des Silbers beim Speisen. Tafel und Buffet verfolgen in ihrer Aufstellung gleichermaßen das Prinzip der ach-

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sensymmetrischen, hierarchisch zur Mitte hin geordneten Anordnung, ein System, welches mit dem absolutistischen Fürstenstaat der Neuzeit einhergeht. Bei all diesen Ordnungen gilt die Symmetrie der Abfolge und die Einheitlichkeit der Wirkung als das Ziel. Seit 1550 werden alle Stücke, die zusammen in ein Erscheinungsbild geordnet werden oder in einem Gebrauchszusammenhang stehen, durch eine Gestaltung dominiert, die Material, Stil und Ornamente zu einer Einheit verbindet. Die Hierarchie der Rangfolge und das gegensätzliche Prinzip der Gleichheit aller Tischgenossen fand seinen vollkommenen Ausdruck in der Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie der Tafel. Im zunehmenden Prozeß des Verlustes der eigenen Geschichte sind heute Verhaltensweisen und Handlungen des Mittelalters wie der frühen Neuzeit unendlich ferngerückt. Sie gelten als kaum mehr vermittelbar. Zu Anfang des 21. Jahrhunderts kann eher Wissen über den sibirischen Schamanismus oder Einsichten in Stammesbräuche des mittleren Amazonasgebietes vorausgesetzt werden, als daß man Kenntnisse über entlegenere Gebiete der eigenen Geschichte erwarten könnte. Das Bild der höfischen Gesellschaft bleibt eigentümlich verzeichnet. Während wir von der Annahme ausgehen, daß die Länder rechts des Rheins in einem ihnen eigentümlichen Naturzustand verharrten, glauben wir zugleich, daß Etikette und Hofzeremoniell sich am Hofe der französischen Könige zu voller Blüte entfaltet hätten bis sie dann zur Zeit Ludwigs des XIV. als Kulturimport eifrig von den anderen europäischen Völkern übernommen worden seien. Dieses Bild des Imports französischer Sitten und Formen im späten 17. Jahrhundert wird bis in die Geschichtsbücher hinein gepflegt. Vieles, was an Urteilen in den Köpfen herumspukt und sich auf die Zeit der absolutistischen Fürstenstaaten bezieht, geht auf die Schilderungen Eduard Vehses über die deutsche Hofgeschichte zurück. Vehses „Geschichte der deutschen Höfe seit der Reformation“ erschien in 48 Bänden zwischen 1851 und 1860 und fand ihren Niederschlag in der Geschichtsschreibung des wilhelminischen Deutschland. Dieser war es ein Hauptanliegen, die deutschen Fürstenstaaten vor der Einigung des Reiches und vor dem Wiener Kongreß aus der Sicht des Bürgertums und des Nationalstaates der Lächerlichkeit preiszugeben. Das damals gezeichnete Bild gehört zum Grundinventar bürgerlicher Aufklärung. Einsichten und Begriffe über diese Themen sind stark von Norbert Elias geprägt, dessen Darstellung über den Prozeß der Zivilisation ein weitverbreiteter Klassiker der Zivilisationsgeschichte ist. Seine Beschreibung der höfischen Gesellschaft, die 1969 erschien, agiert vor allem mit französischen Exempeln und beschäftigt sich mit der Entwicklung der Tischsitten und dem Sexualverhalten der Fürstenhöfe Europas. Elias verfolgte das Thema des Tabus, die Tendenzen zunehmender Selbstherrschung und nach außen gekehrter Höflichkeit bis hinein in europäische Verhaltensweisen der Courtoisie.

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Norbert Elias’ idealtypische Bilder bleiben in der Ausstellung und in den dazugehörigen Essays zur Zivilisationsgeschichte weitgehend unberücksichtigt. Dies kann als Indiz dafür gelten, wie fern die Erklärungsmuster inzwischen der historischen Wirklichkeit und den Bedeutungssystemen der Epochen selbst gerückt sind. Der Klassiker hat in der neueren Forschung sein Bedeutungsmonopol weitgehend verloren. Die Sprache der Dinge und Dokumente fordert andere Erklärungen. Das Thema der öffentlichen Tafel ist nicht mit Formen der „Höflichkeit“ oder des „guten Benehmens“ zu erklären. Weit jenseits aller Prinzipien der Individualität und der Persönlichkeit ist es ein System, dem es auf die nicht verbale Darstellung von Macht mit friedlichen Mitteln ankam. Bei der Ausbildung der öffentlichen Tafeln haben die italienischen Fürstenhöfe und der Hof der Habsburger in Wien eine entscheidende Rolle gespielt. Über das Mittelreich Burgund wurden die Sitten auch am Hof der französischen Könige aus dem Hause Valois und Bourbon übernommen, was in der Zeit um 1580 unter Heinrich dem III. in besonderer Weise geschah. Die gemeinsamen Vorläufer dazu liegen im Mittelalter. Eine fest kodifizierte Form hatte sich im ausgehenden 15. und 16. Jahrhundert bereits in ganz Europa herausgebildet. Im geographischen Raum zwischen Italien und Schweden, Rußland und Portugal galten in Grundzügen die gleichen Bräuche, wobei entstehende Unterschiede in besonderer Weise beobachtet und kolportiert wurden, um aus den abweichenden Nuancen neue Formen und damit verbundene Ansprüche abzuleiten. Die stumme Sprache der Dinge der öffentlichen Tafel ist eine Kommunikationsform, die das durch nationale Sprachen getrennte Europa gemeinsam entwickelte, um sich in seinem Staatenleben untereinander darzustellen und zu verständigen. So nimmt es nicht Wunder, daß beispielsweise Augsburger Silber die fürstliche Tafel in Moskau zierte oder kostbares Gerät aus Paris gleichermaßen in Dänemark und Portugal zur Verwendung kam. Die Sprache der Dinge wie auch die Formen der Stile waren stets eine gesamteuropäische Angelegenheit und standen in ihrer Ausprägung und Entwicklung im europäischen Kontext.

Die Hochschul- und Wissenschaftslandschaft zwischen Main und Weser in der frühen Neuzeit* Gerhard Menk

I. Grundlagen und Grenzüberschreitungen des Wissenschaftssystems in der frühen Neuzeit: die Hochschulen auf dem Weg zur neuen Orientierung Wenn das Heilige Römische Reich in der frühen Neuzeit über eine besondere Dichte an Universitäten verfügte, die es spätestens im frühen 17. Jahrhundert an die Spitze Europas rücken ließ1, so fällt zugleich auf, daß das konfessionelle Moment bzw. die Konfessionalisierung einen wesentlichen Beitrag zum nachgerade beachtlichen Ausbau des Hochschulwesens erbrachte. Nachdem der deutsche Territorialstaat im späten 15. und im frühen 16. Jahrhundert einen großen Eifer bei der Einrichtung neuer Universitäten zeigte, intensivierte sich die Gründungsemphase noch einmal durch die Reformation und erreichte einen neuen Höhepunkt in der Zeit nach dem Augsburger Religionsfrieden. Hatte bereits Kaiser Maximilian I. die Kurfürsten zur Einrichtung neuer universitärer Anstalten angehalten2, so brachte die Reformation gerade im protestantischen ___________ * Archivsiglen und Kürzel: GStAPK: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz; StAM: Hess. Staatsarchiv Marburg; HStAW: Hess. Hauptstaatsarchiv Wiesbaden; HHStAW: Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien; ZHG: Zeitschrift des Vereins für hess. Geschichte und Landeskunde. 1 Zur europäischen Entwicklung des Universitätswesens zuletzt: Wolfgang E. J. Weber, Geschichte der europäischen Universität, Stuttgart 2002; insbesondere für die frühe Neuzeit: Rudolf Stichweh, Der frühmoderne Staat und die europäische Universität. Zur Interaktion von Politik und Erziehungssystem im Prozeß ihrer Ausdifferenzierung (16.18. Jahrhundert), Frankfurt a. M. 1991; zum deutschen Panorama: Notker Hammerstein, Zur Geschichte und Bedeutung der Universitäten im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, in: Historische Zeitschrift 241 (1985), 287–328. 2 Siehe: Roderich Schmidt, Die Nachrichten über die Aufforderung Maximilians I. an die Kurfürsten, Universitäten einzurichten, in: ders., Fundatio et confirmatio universitatis. Von den Anfängen deutscher Universitäten, Goldbach 1998, 297–305; ein Überblick zur Universitäts- und Bildungsgeschichte des 15. bis 17. Jahrhunderts bei: Notker Hammerstein, Die historische und bildungsgeschichtliche Physiognomie des konfessionellen Zeitalters, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. I: 15. bis 17. Jahrhundert. Von der Renaissance und der Reformation bis zum Ende der Glaubenskämpfe, München 1996, 57–101.

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Rahmen einen neuen Schub auf allen Ebenen des Bildungswesens3. Dieser Impetus intensivierte sich noch einmal nach 1555, als sich keineswegs nur mehr die großen Wahlfürsten des Reiches von dem längst starken Gründungswillen angesprochen fühlten, sondern auch die sozial weit unter ihnen angesiedelten Reichsstände. Es bedarf keiner besonderen Anstrengungen, um zu erkennen, daß die Zeit zwischen dem Augsburger Religionsfrieden und den ersten Ausläufern des Dreißigjährigen Krieges einen solchen Boom an universitären Neugründungen unterschiedlichster Art und institutionellem Zuschnitt verzeichnet, daß sie andere Epochen ganz eindeutig in den Schatten stellt4. Dieser Eindruck bestätigt sich auch, wenn man kleinere geographische Einheiten auswählt und den Blick auf einen Raum lenkt, der durch zwei größere Flüsse gekennzeichnet ist: der Bereich zwischen Main und Weser. Denn an diesem Raum, der bisher nur im Falle der Weser als ein zusammenhängender Wirtschafts- und Kulturraum betrachtet wurde, ohne daß freilich das Hochschulwesen dabei eine besondere Rolle zugekommen wäre5, läßt sich paradigmatisch der außerordentliche Aufschwung verdeutlichen, den die höheren Bildungsanstalten gerade im Zeitalter des Konfessionalismus nahmen. Wenn hier zu Anfang des 16. Jahrhunderts allenfalls städtische Lateinschulen bzw. Gymnasien existierten, deren Einzugsbereich und Wirkung außerordentlich eng bemessen war6, so erfolgte in ihm bis zum Beginn des 30jährigen Krieges eine Welle an akademischen Gründungen, daß nunmehr eine außerordentliche Dichte an Anstalten registriert werden konnte, innerhalb deren die gesamte Bandbreite an konfessionellen Typen vorhanden war. Eine besonders große Auffächerung ergab sich im Protestantismus. So reichte etwa der dogmatische Spagat vom orthodoxen Luthertum über eine konfessionell zweigleisig verfahrende Anstalt bis hin zum Prototyp der kalvinistischen Hochschule, die ohne Privilegien auskommen mußte. Bezieht man neben den vielen protestantischen Neugründungen auch die neue katholische Universität in Würzburg, die 1575 durch ___________ 3 Für die Universitäten siehe schon: Gustav A. Benrath, Die deutsche evangelische Universität der Reformationszeit, in: H. Rössler/G. Franz (Hrsg.), Universität und Gelehrtenstand 1400 bis 1800, Limburg/L. 1970, 63ff; siehe auch: Gerhard Menk, Das Bildungswesen in den deutschen protestantischen Territorien der frühen Neuzeit, in: Heinz Schilling/Stefan Ehrenpreis (Hrsg.), Erziehung und Schulwesen zwischen Konfessionalisierung und Säkularisierung, Münster etc. 2003, 55–99. 4 Zu diesem Zeitabschnitt siehe: Heinz Schilling, Die Konfessionalisierung im Reich. Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland zwischen 1555 und 1620, in: HZ 246 (1988), 1–45. 5 Vgl. zuletzt: Neithard Bulst/José Kastler/Heinrich Rüthing (Hrsg.), Die Weser – Ein Fluß in Europa. Symposionsband zur Wirtschafts- und Kulturgeschichte des Weserraums in der Frühen Neuzeit, Schloß Brake 2001. 6 Als Beispiel für Lemgo siehe: Gerhard Schormann, Das Lemgoer Gymnasium zwischen Luthertum und zweiter Reformation, in: Lippische Mitteilungen aus Geschichte und Landeskunde 49 (1980), 7–32.

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Fürstbischof Julius Echter von Mespelbrunn ins Leben gerufen wurde7, und schließlich auch das Fuldaer Jesuitenkolleg sowie die Paderborner Hochschule mit ein8, so gewinnt der Raum zwischen Weser und Main eine gewisse Signifikanz für das größere Reichsganze. Er profitiert dabei in doppelter Hinsicht von jenen strukturellen Bedingungen, die das Heilige Römische Reich ganz überwiegend bestimmten. Zum einen war hier eine besondere Vielfalt an Territorien, Städten und Konfessionen zu erkennen, die in anderen Teilen des Reiches kaum größer sein konnte. Von den Ausuferungen des Mainzer Kurstaats über jenen größeren Territorialkomplex, wie ihn die hessische Landgrafschaft zumindest bis zum Tode Philipps des Großmütigen ausmachte, aber auch nach 1567 unter dem Eindruck der Teilung nicht verlor, von solchen herausgehobenen Reichsstädten wie Frankfurt als „Gold- und Silberloch“ bis hin zu der Reichsritterschaft Rhön-Werra, von Territorien mit und ohne Ständen waren hier höchst unterschiedliche verfassungsrechtliche Typen vertreten. Da die Reichsverfassung die Gründungshoheit von akademischen Anstalten zum einen den Territorien überließ, ihre Privilegierung aber den beiden universalen Mächten – mithin Papst und Kaiser – vorbehalten blieb, ergab sich für die organisatorische Ausgestaltung der Anstalten ein besonderes Spannungsverhältnis, das seine Besonderheit durch die konfessionelle Problematik gewann. Mit der Reformation trat nämlich einerseits die zuvor herausragende Rolle des Papstes zurück, während diejenige des Kaisers stärker in den Vordergrund trat, ja er gerade bei der Privilegierung der neugegründeten protestantischen Universitäten zur alleinigen Instanz avancierte. Während sich die katholischen Territorien weiterhin des Papstes bedienen konnten, um ihren Anstalten zu universitären Ehren zu verhelfen, kam ein Gesuch von protestantischer Seite an den Papst von vornherein nicht in Frage. Zwar sind immer wieder Überlegungen um ein protestantisches Kaisertum aufgekommen9, das auch für die Privilegierungspraxis nicht ohne Konsequenz geblieben wäre, doch geriet dieser Gedanke nie in die Nähe der Konkretion. Wenn selbst so herausgehobene Mitglieder des nassauischen Hauses wie der friesische Statthalter Wilhelm Ludwig bzw. Willem Lodewijk auf einen habsburgischen Kaiser drängte10, ja die Kurpfalz ___________ 7

Zu Julius Echter siehe u. a.: Friedrich Merzbacher, Julius Echter und seine Zeit, Gedenkschrift aus Anlaß des 400. Jahrestages …, Würzburg 1973; Gottfried Mälzer, Julius Echter. Leben und Werk, Würzburg 1989; zur Universität: Peter Baumgart, 400 Jahre Privilegierung der Julius-Universität zu Würzburg, in: Werner Engelhorn, Bibliographie zur Geschichte der Universität Würzburg, 1575, 1975, Würzburg 1975. 8 Zu Paderborn siehe: Klemens Honselmann, Die Philosophisch-Theologische Akademie in Paderborn, Paderborn 1954. 9 Hierzu siehe: Heinz Duchhardt, Protestantisches Kaisertum und altes Reich. Die Diskussion über die Konfession des Kaisers in Politik, Publizistik und Staatsrecht, Wiesbaden 1977. 10 Graf Wilhelm Ludwig von Nassau an seinen Bruder Johann VII. von NassauSiegen, Groningen 14. I. 1612: er ist der Auffassung, die Kaiserkrone müsse schon al-

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bei der Wahl Ferdinands II. zum Kaiser für diesen stimmte und nicht selbst kandidierte, so spricht dies für den deutschen Kalvinismus in seiner kämpferischsten Phase geradezu Bände. Die konservative Note, die der Reichsverfassung insgesamt eigen war, machte sich schließlich auch darin bemerkbar, daß – bis auf das kurze bayerische Zwischenspiel in der Mitte des 18. Jahrhunderts – ausschließlich das Haus Habsburg den Kaiser stellte. Die Habsburger verfügten damit durchgängig gegenüber den protestantischen Reichsständen, die Universitäten einzurichten gedachten, über besondere Einflußmöglichkeiten, wobei – wie zu sehen sein wird – eine politische Instrumentierung ihrer Kompetenz keineswegs ausgeschlossen war. Die Dichte an Anstalten im Westen des Reiches, wie sie sich seit dem 16. Jahrhundert entwickelte, und die soziale Breite an Trägern, die sich im gleichen Zeitraum einstellte, war dem Bildungssystem nicht in die Wiege gelegt. Denn zuerst einmal waren es im Hohen Mittelalter ausschließlich größere Territorien, die sich zur Einrichtung von Bildungsanstalten entschlossen. Die Gründung Prags 1348 erfolgte dabei im ostmitteleuropäischen Raum, und ein gleiches gilt für Wien, das ebenfalls noch im späten 14. Jahrhundert von habsburgischer Seite ins Leben gerufen wurde. Die universitäre Tradition im Westen des Reiches begann dagegen 1386 mit der Heidelberger Ruperto-Carola11. Sie hat auch noch in der frühen Neuzeit und gerade auch im konfessionellen Zeitalter eine ebenso bedeutsame wie in konfessioneller Hinsicht schillernde Rolle gespielt. Sie erlebte nämlich zwischen der Mitte des 16. Jahrhunderts und dem Westfälischen Frieden so viele konfessionelle Wechselspiele wie kaum eine andere deutsche Hochschule. Diese reichten von der Einführung des reformierten Bekenntnisses unter Kurfürst Friedrich III. mit den darauf folgenden Auseinandersetzungen um Thomas Erastus12 über die Relutheranisierung mit allen personellen Konsequenzen unter seinem Nachfolger Ludwig VI. bis hin zum erneuten Umbruch nach dessen Tod im Jahre 1583, mit dem der Weg zurück zum Kalvinismus stattfand. Eine weitere, noch schärfere Änderung des konfessio___________ lein wegen der Sicherung der Grenzen gegen die Türken beim Haus Habsburg bzw. bei Österreich verbleiben. Er kenne kein anderes Haus in Deutschland, das den kaiserlichen Stand „mit allsolcher Dignitet und Respect“ verkörpere (HStAW 170 III 1612 Jan.-Juni fol. 24–29); zu Wilhelm Ludwig siehe u. a.: Folkert Postma, Der Statthalter, der Politiker wurde – Der friesische Statthalter Wilhelm Ludwig (1560–1620) und der Konflikt um den Waffenstillstand, in: Horst Lademacher (Hrsg.), Oranien-Nassau, die Niederlande und das Reich. Beiträge zur Geschichte einer Dynastie, Münster 1995, 25–46; hier auch weitere Hinweise. 11 Zur Ruperto-Carola zuletzt: W. Doerr (Hrsg.), Semper apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386–1986, Bd. 1: Mittelalter und frühe Neuzeit 1386–1803, Berlin/Heidelberg/New York/Tokyo 1985; Eike Wolgast, Die Universität Heidelberg 1386–1986, Berlin etc. 1986. 12 Hierzu: Ruth Wesel-Roth, Thomas Erastus. Ein Beitrag zur Geschichte der reformierten Kirche und zur Lehre der Staatssouveränität, Lahr 1954.

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nellen Profils war mit dem Anfall der Kurpfalz an Bayern in den frühen 20er Jahren des 17. Jahrhunderts verbunden, indem die Ruperto-Carola nun unter katholische Ägide geriet und diese auch bis zum Westfälischen Frieden beibehielt. Die Universität Heidelberg ist aber nicht nur aus dieser Perspektive von besonderem Interesse, sondern weil sie mit ihrer Lage am Neckar jenen Raum unmittelbar streift, der hier betrachtet werden soll. Nimmt man Wilhelm Dilichs 1605 erstmals erschienene „Hessische Chronica“ zum Anhaltspunkt, dann lag Heidelberg auch an einem geographischen Endpunkt, der den Anspruchsbereich der hessischen Landgrafen absteckte13. Die Ruperto-Carola blieb so zwar einerseits ein beständiger Fixpunkt im universitätspolitischen Rahmen, der immer eine Rolle auch für den angesprochenen Bereich spielte, ihn aber gleichwohl doch schon überschritt. Überdies aber entsprach die außerordentlich früh gegründete und dann auch in der Mitte des 16. Jahrhunderts kalvinisierte Ruperto-Carola gar nicht jenen institutionellen Bedingungen, die die seitdem stark veränderte Bildungslandschaft zwischen Main und Weser prägten. Wenn die Konfessionalisierung bis dahin nur einen marginalen Eindruck hinterlassen hatte, so änderten sich die Verhältnisse nun innerhalb von sechs Jahrzehnten nahezu grundlegend. Der wahre Gründungsboom besaß dabei aus verfassungsrechtlicher Perspektive mehrere Besonderheiten. Zum einen fehlte es den meisten dieser in ihrem Lehrprogramm so gut wie universitätsgleichen Anstalten am Universitätsprivileg, mithin jenem Institut, das die Vergabe von Graden erlaubte. Ein fehlendes Privileg schlug sich aber meist auch auf die innere organisatorische Struktur der Anstalten nieder, indem die Fakultätsorganisation entbehrlich wurde. Wenn die fehlende Fakultätsverfassung eines der Abweichungsmerkmale gegenüber der traditionellen Universitätsverfassung darstellte, so war noch viel bemerkenswerter, daß sich nun auch der soziale Status der Gründer erheblich absenkte. Denn nun waren es die minderen Reichsstände, die es sich besonders angelegen sein ließen, den aus der Reformation herausgewachsenen Bildungsimpuls aufzugreifen und Hochschulgründern vorzunehmen. Daß sich die Grafen von Nassau seinerzeit sehr um ihre soziale Stellung innerhalb der Reichsverfassung sorgten, ja den gesamten Grafenstand in Gefahr sahen, hielt sie freilich nicht davon ab, nach vorherigen gescheiterten Gründungsversuchen Mitte der 80er Jahre aus konfessionellen Gründen zu einer Hochschulgründung zu greifen14. Mit ihrer gesamten Bildungspolitik, die ___________ 13 Vgl. hierzu für Moritz den Gelehrten und seine geopolitischen Vorstellungen, die freilich auf diejenigen seines Großvaters Philipp zurückgingen und in der kurpfälzischen Haupt- und Universitätsstadt größte Unruhe hervorriefen: Gerhard Menk, Die Konfessionspolitik des Landgrafen Moritz, in: ders. (Hrsg.), Landgraf Moritz der Gelehrte. Ein Kalvinist zwischen Politik und Wissenschaft, Marburg 2000, 95–137. 14 Vgl. hierzu: Gerhard Menk, Die Hohe Schule Herborn (1584–1660). Ein Beitrag zum Hochschulwesen des deutschen Kalvinismus im Zeitalter der Gegenreformation,

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auch die nachhaltige Förderung des Schulwesens einbegriff15, unternahmen die Nassauer wie ihre zum Kalvinismus übergegangenen Nachbarn erkennbar den Versuch, einem weiteren sozialen Abstieg vorzubeugen. Der Bildungsaufbruch des 16. Jahrhunderts blieb allerdings nicht nur auf das Reich beschränkt, sondern auch anderwärts wirkte sich die neue konfessionelle Konkurrenz außerordentlich belebend auf die Hochschul- und Schulpoltik aus. Zuerst einmal war es der Protestantismus, der mit seinem Vordringen in Deutschland und der Schweiz im Rahmen eines umfassenderen Bildungssystems neue Schulen und auch Hochschulen entstehen ließ. Dies galt nicht zuletzt für die Anrainerstaaten Deutschlands, wobei die Schweiz und die Niederlande ohnehin zumindest formell bis 1648 zum Heiligen Römischen Reich gehörten. Aber auch in Frankreich, das bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts noch über beachtliche protestantische konfessionelle Inseln verfügte, schossen zwischen den Ardennen und dem Süden des Landes zahlreiche protestantische Hochschulen wie Pilze aus dem Boden16. Wenn traditionelle Universitäten wie Orléans und Paris für die katholischen Studenten wichtige Anlaufpunkte bildeten, so waren es insbesondere die Akademien von Sedan und Saumur, in geringerem Maße schon Montauban, die über längere Zeit hinweg attraktive Ziele für deutsche Studenten bildeten17. Der Grund lag darin begriffen, daß der protestantische Adel, und hier wiederum der kalvinistische voran, den Weg an die französischen Akademien ebnete. Einen besonders nachhaltigen Eindruck vermittelt das Bild der Hochschullandschaft, das ein deutscher Anrainerstaat hinterläßt, der erst 1648 formell die Selbständigkeit gegenüber dem Heiligen Römischen Reich verlor, aber weit zuvor schon auf universitärer Ebene als selbständige staatliche Entität agierte: ___________ Wiesbaden 1981; zur Einordnung des Schultypus unentbehrlich: Anton Schindling, Humanistische Hochschule und Freie Reichsstadt. Gymnasium und Akademie in Straßburg, 1538–1621, Wiesbaden 1977. 15 Näher hierzu: Gerhard Menk, Das frühneuzeitliche Bildungs- und Schulwesen im Bereich des heutigen Hessen, in: Ulrich u. Kurt Andermann (Hrsg.), Regionale Aspekte des frühen Schulwesens, Tübingen 2000, 153–199. 16 Siehe vornehmlich die älteren Studien von: Pierre-D. Bourchenin, Etudes sur les Académies protestantes en France aux XVIe et XVIIe siècles, Paris 1882; für Nîmes siehe: A. Boyer, L’Académie protestante de Nîmes, Thèse Montauban 1871; Roger Grossi (Hrsg.), Le Collège royal et l’Académie protestante de Nîmes aux XVIe et XVIIe siècles. Actes du colloque de Nîmes, Nîmes 1998; jüngst zusammenfassend für die frühe Neuzeit die Beiträge von Dominique Julia und Lawrence W. B. Brockliss, in: Jacques Verger (Hrsg.), Histoire des universités en France, Paris 1986, 141ff. 17 Zu Saumur siehe: E. Merzeau, L’Académie protestante de Saumur 1604–1685. Son organisation et ses rapports avec les Eglises réformées, Alencon 1908; D. de Chavigny, L’Eglise et l’Académie protestantes de Saumur, Saumur 1914; L.-J. Méteyer, L’Académie protestante de Saumur, Carrières-sous-Poissy/Paris [1935]. Die Quellenlage für die Akademie von Sedan vor Ort ist so ausgedünnt, daß eine größere Studie bisher nicht vorliegt.

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die Republik der Niederlande. Während die Schweiz mit der Genfer Akademie Calvins nur eine herausragende Anstalt hervorbrachte, die europäischen Standards genügte18, war das Bild der neuen niederländischen Universitätslandschaft ein gänzlich anderes, vor allem aber sehr viel lebendigeres. Hier entwikkelte sich nämlich eine außerordentliche Dichte von Hochschulen unterschiedlicher institutioneller Prägung, die nicht nur unmittelbar nach ihrer Gründung, sondern langfristig ihren Platz auf der europäischen Ebene behielten. Dabei schritt die größte Provinz, nämlich Holland, im Jahre 1575 mit der Gründung Leidens voran19. Die unweit Den Haag gelegene Stadt besaß durch die gerade eben erst erfolgte Entsetzung von spanischen Truppen einen hohen konfessionellen Symbolwert, der sich freilich auf das wissenschaftliche Alltagsgeschäft nur gebrochen niederschlug20. Gänzlich anders entwickelte sich hingegen die 1585 gegründete friesische Akademie zu Franeker. Denn sie wurde zum Sinnbild der kalvinistischen Orthodoxie, wobei diese naturgemäß zuerst einmal durch die hier lehrenden Theologen verkörpert wurde21. Doch blieb Franeker nicht die einzige Hochschule im niederländischen Norden, sondern nur ein Vierteljahrhundert nach ihrer Einrichtung wurde hier 1610 mit Groningen eine zweite Akademie ins Leben gerufen. In wissenschaftlicher Hinsicht war sie ihrer Nachbarin Franeker weitaus ähnlicher als dem holländischen Leiden. Alle weiteren Hochschulgründungen erfolgten schon in einigem zeitlichen Abstand, wobei sie alle im Hinblick auf die Professorenschaft eindeutig von dem nahezu völligen Darniederliegen des Wissenschaftsbetriebs im Heiligen Römischen Reich profitierten. Während das Overijsselsche Deventer bereits rund zwei Jahrzehnte nach Groningen Ende der 20er Jahre ins Leben trat22, folgten jetzt im raschen Abstande mit Utrecht (1636), Harderwijk und Breda eine vergleichsweise hohe Anzahl an zahlreichen weiteren universitären Bildungsinstitutionen. Sie sorgten zusammen mit dem Amsterdamer Athenaeum dafür, daß auch in den Niederlanden ein ausgesprochener Reichtum an unterschiedlichen Trägern und institutionellen Formen erkennbar wird. Denn es waren zum einen keineswegs immer die Provinzialstaaten, die als Hochschul___________ 18 Hierzu jetzt: Karin Maag, Seminary or University? The Genevan Academy and reformed higher Education, 1559–1620, Aldershot etc. 1995. 19 Zu den Anfangsjahren Leidens siehe: Henrike L. Clotz, Hochschule für Holland. Die Universität Leiden im Spannungsfeld zwischen Provinz, Stadt und Kirche, 1575– 1619, Stuttgart 1998; zu den Rechten der Universität siehe: Pieter C. Molhuysen, De voorrechten der Leidsche Universiteit, in: Mededeelingen der Koninklijke Akademie van Wetenschappen, Afd. Letterkunde 58, Serie B, No. 1, 1ff. 20 Vielfältige Nachweise in: Th. H. Lunsingh Scheurleer/G. H. Posthumus Meijes (Hrsg.), Leiden University in the Seventeenth Century, Leiden 1975. 21 Zu Franeker zuletzt: G. Th. Jensma/F. R. H. Smit/F. Westra (Hrsg.), Universiteit te Franeker 1585–1811. Bijdragen tot de geschiedenis van de Friese hogeschool, Leeuwarden 1985, hier 289ff. 22 Vgl. J. C. van Slee, De Illustre School van Deventer, Den Haag 1916.

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gründer in Erscheinung traten, vielmehr hatten die Mitglieder des Hauses Nassau-Oranien, mochten sie nun im Haag als Generalstatthalter oder aber im niederländischen Norden als friesische Statthalter sitzen, mehr als einmal die Hand im Spiel. Dies gilt auch und zumal für die früheste Gründung, nämlich Leiden. Allerdings wiederholte sich dieser Vorgang am Ende des konfessionellen Zeitalters noch einmal, indem 1646 eine „Hoogeschool“ zu Breda ins Leben gerufen wurde23. Mit dieser Anstalt versuchte der Generalstatthalter Friedrich Heinrich von Oranien24 ein universitäres Sinnbild seiner Machtstellung zu schaffen. Denn allein die personelle Besetzung der Lehrstühle in Theologie wie Jurisprudenz verdeutlicht, daß der oranische Generalstatthalter weder Mühen noch finanziellen Aufwand scheute, um eine eigene wissenschaftliche Anstalt in seiner unmittelbaren Umgebung zu haben. Die nördlichen Niederlande verfügten am Ende des Dreißigjährigen Krieges, als sie auch den Charakter eines Völkerrechtssubjekts erhielten, über eine reiche Ansammlung von Universitäten, die sich jedoch in einer Hinsicht grundlegend von der im Reiche unterschied: sie waren konfessionell einseitig, nämlich ausschließlich protestantisch ausgerichtet. Doch auch jenseits von Europas Mitte lassen sich die Folgen jener Impulse studieren, die auf die Einrichtung von Hochschulen einen nachhaltigen Einfluß hatten. An seinen geographischen Rändern profitierte das nicht gerade urbane Schottland durch gleich mehrere Neugründungen. Aber auch die Einrichtung einer Akademie in Transsylvanien und ihre hochrangige personelle Besetzung legen Zeugnis ab von der Wirkung eines Impulses, der die Grundbedingungen der europäischen Infrastruktur nachhaltig veränderte und eigentlich bis heute bestimmte. Die wissenschaftlichen Institutionen, die im Heiligen Römischen Reich und seinen unmittelbaren Anrainerstaaten bis in die europäische Peripherie existierten, lieferten dabei in vielfacher Hinsicht die institutionellen und personellen Hilfen, die an anderer Stelle ein besonderes Maß an Nutzen entwickelten. Wenn Graf Johann Moritz von Nassau-Siegen als niederländischer Gouverneur ab 1636 in der brasilianischen Kolonie ein eigenes Wissenschaftssystem aufbaute, das allerdings ohne universitäre Fundierung auskommen mußte25, so entwickelten sich die Dinge in den Kolonien der britischen Krone im amerikanischen Norden zuzeiten anders. Denn hier wurde gerade 1636 ein ___________ 23 Zu ihrer Gründung und frühen Entwicklung liegen wegen der schwierigen Quellenlage nur wenige Studien vor; zum Stand der Forschung: Gerhard Menk, Johann Heinrich Dauber. Der Erneuerer der Marburger Universität nach dem Dreißigjährigen Krieg, in: J. J. Berns (Hrsg.), Marburg-Bilder. Eine Ansichtssache, Bd. 1, Marburg 1995, 241–264. 24 Zu ihm die umfangreiche Biographie: J. J. Poelhekke, Frederik Hendrik, Prins van Oranje. Een biographisch drieluik, Zutphen 1978. 25 Zu ihm zuletzt: E. van den Boogaart/H. R. Hoetink/P. J. P. Whitehead (Hrsg.), Johann Maurits van Nassau-Siegen 1604–1679. A Humanist Prince in Europe and Brazil, Den Haag 1979.

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erstes College in Cambridge gegründet, das ebenso wie seine Nachfolgegründungen in Neuengland (Yale, King’s College) seine wissenschaftliche Prägung durch die protestantischen Hohen Schulen Europas nicht verleugnen konnte26. Bemerkenswert war dabei, daß das neu gegründete College in Massachusetts nahezu die gesamten wissenschaftlichen Fundamente mit der kurz zuvor von Georg Rakoczy gegründeten siebenbürgischen Anstalt teilte. Diese waren seit der Berufung Johann Alsteds, Philipp Ludwig Piscators und Johann Heinrich Bisterfelds nach Alba Julia27 mit der ramistisch-enzyklopädischen Grundlegung breit angelegt und tiefer gegründet. Dies war dank des Briefverkehrs, den vor allem Johann Heinrich Bisterfeld mit zahlreichen Gelehrten in England und den Niederlanden, vor allem aber den Mitgliedern des Hartlib-Zirkels führte, weithin bekannt28. Durch den „Europäischen Helicon“ wurde aber auch in Deutschland zu Anfang des 18. Jahrhunderts in Erinnerung gebracht, daß das „stattliche Gymnasium“ Siebenbürgens einen „großen Zierat“ in der europäischen Wissenschaftslandschaft bilde, seitdem der „weltberühmte Johannes Henricus Alstedius“ sich überraschenderweise „zum Ruderführer dieser hohen Schule“ habe bestellen lassen29. Wenn er in Siebenbürgen bis zu seinem Tod im Jahre 1638 über Lehrbücher und frühere Publikationen einen ganz nachhaltigen Einfluß ausüben konnte, so bestimmten seine überaus zahlreichen Schriften und vor allem auch seine großen enzyklopädischen Werke als Sammlung allen zeitgenössischen Wissens die amerikanischen Colleges bis weit in das späte 18. Jahrhundert hinein. Wenn schon das kleine Herborn einen außerordentlich nachhaltigen Einfluß auf die intellektuelle Formung der europäischen und nordamerikanischen Welt während der frühen Neuzeit entfalten konnte, so scheint allein dies schon den näheren Blick auf ein Hochschulwesen zu lohnen, dessen Charakteristik zwi___________ 26

Vgl. hierzu u. a.: Harold S. Jantz, German Thought and Literature in New England 1620–1680, in: The Journal of English and German Philology 41 (1942), 1ff; Th. Hornberger, The Scientific Thought in the American Colleges 1628–1800, Austin (Tex.) 1945; Samuel E. Morison, The intellectual Life of colonial New England, New York 1956; zusammenfassend: Menk, Hohe Schule Herborn, 322ff. 27 Vgl. hierzu.: Gerhard Menk, Das Restitutionsedikt und die kalvinistische Wissenschaft. Die Berufung Johann Heinrich Alsteds, Philipp Ludwig Piscators und Johann Heinrich Bisterfelds nach Siebenbürgen, in: ders., Zwischen Kanzel und Katheder, Marburg 2006; zu Alsted, dessen zentrale wissenschaftliche Stellung erst im späten 18. Jahrhundert zu Ende ging, siehe u. a.: Menk, Die Hohe Schule Herborn, 274ff; Howard Hotson, Johann Heinrich Alsted 1588–1638. Between Renaissance, Reformation and Universal Reform, Oxford 2000. 28 Siehe jetzt: Noémi Viskolcz, Johann Heinrich Bisterfeld (1605–1655). Bibliográfia, Budapest 2003; der Band enthält auch einen Nachweis des Briefverkehrs sowie eine weiterweisende Abhandlung zum Nachlaß Johann Heinrich Alsteds. 29 Friedrich Lucae, Europäischer Helicon, auff welchem die Academien oder Hohe Schuhlen von Anfang der Welt bis jetzo aller Nationen … vorgestellt, Frankfurt am Main 1711, 290.

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schen weltweiter Verankerung und nationaler Begrenzung schwankte. Die beiden Flußsysteme des Mains und der Weser bilden dabei Grenzen, die trotz aller territorialen Zerrissenheit gerade auch für den frühneuzeitlichen Menschen Sinn machten. Denn er orientierte sich weit mehr als die Moderne an Einschnitten, die die Natur vorgab – so, wie er auch weitaus mehr als der heutige Mensch von den Gewalten der Natur abhängig war.

II. Das landgräflich-hessische Marburg als erste protestantische Gründung in einer hochschullosen Region Wenn das bisher deutlich von den traditionell-europäischen Momenten bestimmte europäische Wissenschaftssystem seit der Mitte des 17. Jahrhunderts Filiationskulturen sowohl in der Nähe des Osmanischen Reiches wie im Norden Amerikas aufbauen konnte, so unterstreicht dies die Attraktivität eines Wissenschaftssystems, das schon im Mittelalter alle nationalen Grenzen überschritt, dieses aber auch noch in der Neuzeit konnte. Dabei schien eine große Gefahr darin zu lauern, daß die nunmehrige tiefe konfessionelle Spaltung30 Gräben entstehen ließ, die auch auf dem großen Feld der Wissenschaft nur schwer zuzuschütten waren. Es verwundert insoweit nicht, daß immer wieder Bedauern darüber zum Ausdruck kam, wie sehr das Schisma die ganze Lebenswelt verändere und daß der Weg zurück zur Einheit zwingend geboten sei. Gerade ganz tief im Humanismus verankerte Männer wie der böhmische Adlige Karl von Zerotin oder aber Graf Ernst von Holstein-Schaumburg, der Gründer der Rintelner Hochschule, sind hier zu nennen31. Doch allein schon der umfangreiche Briefverkehr, der sehr wohl die konfessionellen Grenzen überschreiten konnte, daneben auch das über die Grenzen der Konfessionen hinausreichende Interesse einer wissensbegierigen Studentenschaft hatte seinen ureigenen Anteil daran, daß die Universalität nicht vollends verlorenging. Als die Gründung von Höheren Schulen durch protestantische Landesherren im frühen 16. Jahrhundert anstand, versuchten auch sie den bisherigen Komment nicht zu verlassen, indem sie für ihre Anstalten Universitätsprivilegien anstrebten. Dabei war gerade auch einem so kämpferischen Anhänger des Protestantismus, wie es Landgraf Philipp von Hessen (1504 – 1567) war32, durchaus bewußt, daß er in ein Dilemma geraten mußte. Denn die konfessionelle ___________ 30 Zu den Rahmenbedingungen siehe vor allem: Heinz Schilling, Aufbruch und Krise. Deutschland 1517–1648, Berlin 1994. 31 Zu Zerotin zuletzt: R. J. W. Evans, Rudolf II and his World. A Study in intellectual History 1576–1612, Oxford 1973, 142ff; zu Ernst von Holstein-Schaumburg unten. 32 Zuletzt zu ihm den Sammelband: Inge Auerbach (Hrsg.), Reformation und Landesherrschaft. Vorträge des Kongresses anläßlich des 500. Geburtstages des Landgrafen, Marburg 2005.

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Trennung schloß es aus, das Universitätsprivileg von päpstlicher Seite zu erhalten. Übrig blieb mithin nur der Kaiser, der sich in der Person Karls V. freilich als Hüter der kirchlichen Einheit sah. Er konnte mithin kaum ein Interesse daran haben, den neuen Glauben zu fördern – und schon gar nicht lag es in seinem Sinne, auch noch Universitäten im protestantischen Gewande durch Privilegien zu fördern. Insoweit wirkt es schon sehr überraschend, daß die Privilegierung einer protestantischen Neugründung bereits mehr als ein Jahrzehnt vor dem Augsburger Religionsfrieden möglich war – und daß dabei der ansonsten hart um die konfessionelle Einheit ringende Kaiser Karl V. in einem besonderen historischen Augenblick das Füllhorn seiner Gnade über eine wichtige Pflanzstätte des protestantischen Glaubens goß. Die Anfänge der Marburger Universität reichen auf den September 1526 zurück. Philipp der Großmütige nutzte die Ergebnisse des gerade eben zu Ende gegangenen Speyrer Reichstags33, um auf der sogenannten „Homberger Synode“, einem Treffen von Beamten und Theologen unter Aufsicht des Landgrafen, schleunigst nicht nur die Vorbereitungen für die flächendeckende Einführung des Protestantismus auf den Weg zu bringen, sondern zugleich die Fundamente für eine territoriale Universität zu legen. Diese wurde bereits im folgenden Jahr eingerichtet, wobei dem Landesherrn und seinem wichtigsten Berater, dem Kanzler Johann Feige, die alsbaldige rechtliche Gleichstellung mit den bestehenden Hohen Schulen sehr am Herzen lag34. Es dauerte auch keine weiteren zwei Jahre, bevor der Landgraf 1529 in einem „Freiheitsbrief“ die Absicht verkündete, „für das gemelt unnser studium von keyserlicher Maiestet, unnserm Allergnedigsten Herrn, Fundation und Privilegien ad gradus promovendi zu erlanngen, trosterlicher Hoffnung, das solle demselben unserm Studio nitt wenig furderlich und behulfflich sein.“35 Bemerkenswerterweise war dabei von einem „Universale studium“ keine Rede, sondern Philipp hielt sich auffallend zurück, um die Privilegierung nicht von vornherein zu gefährden. Allerdings wäre Philipp nicht jener kecke und draufgängerische Reformationsfürst ___________ 33

Zu Beratungen und Folgen des Reichstags: Armin Kohnle, Reichstag und Reformation. Kaiserliche und ständische Religionspolitik von den Anfängen der Causa Lutheri bis zum Nürnberger Religionsfrieden, Heidelberg 2001, 260ff. 34 Zur Gründungsgeschichte Marburgs sind zu nennen: Heinrich Hermelink/Siegfried A. Kaehler, Die Philipps-Universität zu Marburg 1527–1927. Fünf Kapitel aus ihrer Geschichte, Marburg 1927, 1ff. (Beitrag von Hermelink); Peter Baumgart, Die deutsche Universität des 16. Jahrhunderts. Das Beispiel Marburg, in: Hess. Jahrb. für Landesgeschichte 28 (1978), 50–79; Walter Heinemeyer, Zur Gründung des „universale studium Marpurgense“, in: ders., Philipp der Großmütige und die Reformation in Hessen. Gesammelte Aufsätze zur hessischen Reformationsgeschichte, Marburg 1997, 73–115 (Erstdruck 1977). 35 Bruno Hildebrand (Hrsg. und Bearb.), Urkundensammlung über Verfassung und Verwaltung der Universität Marburg unter Philipp dem Großmüthigen, Marburg 1848, Dokument III, 17; diese Umschrift ist ebenso wie die folgenden modernisiert.

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gewesen, wenn er – in Vorwegnahme des formalen Aktes kaiserlicher Privilegien – 1531 Verleihungen von Magistergraden in der Artistenfakultät vorab erlaubte. Daß mit Peter Baidel zeitlich parallel ein hessischer Legat auf dem Weg nach Brüssel war, um sich die schon vollzogene Marburger Gradvergabe verspätet legitimieren zu lassen, half dem Landgrafen freilich wenig. Denn dem Protestanten wurde von kaiserlicher Seite klar bedeutet, man wisse sich „nit zu erinnern, das des Orts ein Universitet angefangen und auffgericht sein soll.“36 Doch bei dem Unwissen blieb es keineswegs, schlug die kaiserliche Haltung doch in offene Schelte um. Wenn schon eine Universität in Marburg eingerichtet werden solle, so hieß es von Seiten Karls V., dann möge dies „auf andere Weise und Form, wie dann sollichs gepuret, angefangen werden“. In Brüssel wurde seinerzeit scharfes Geschütz gegen den Landgrafen aufgefahren, hielt man ihm doch offen vor, am kaiserlichen Hof sei gerade ein in Marburg gedrucktes „Schandbüchlein“ aufgetaucht, in dem nicht nur der Papst und der Kaiser, sondern sogar die Kurfürsten wie die Stände des Reiches „lesterlich geschendet worden“. Ein solches Tun sei des „Reichs Ordenunge, auch allen naturlichen und beschriebenen Rechten nit gemess“, so daß der Kaiser im Augenblick keinerlei Grund sehen könne, „sollich vermeint Studium“ zu bestätigen und das Privileg auszufertigen. Immerhin zeigte man sich am Hof Karls V. in der Weise kompromißbereit, daß dies ausdrücklich als vorläufiger Beschluß anzusehen sei. Man müsse vor einem solchen nähere Erkundigungen einziehen, „was vor Person disem studio unterworfen“ seien, auch „was sie profitiren oder lesen.“ Die Mitteilung an den Landgrafen enthielt eine doppelte Botschaft. Zuerst einmal wurde zur Bedingung gemacht, daß ein – zumal protestantischer – Landesherr, der sich um kaiserliche Privilegien für seine Neugründung bemühe, ein politisch genehmes Verhalten an den Tag legen müsse. Insbesondere aber sei von ihm zu verlangen, daß er die Verfassungsordnung des Reiches einhalte. Darüber hinaus aber machte der Kaiser sich anheischig, seine Entscheidung über das Privileg auch von einer Überprüfung des akademischen Personals, das an der neuen Anstalt lehren sollte, insbesondere seinen wissenschaftlichen Auffassungen abhängig zu machen. Zwar unternahm der Kaiser nichts, um die offene Schließung der neue Anstalt zu fordern. Gleichwohl aber machte er unmißverständlich klar, daß er „sollich vermeint studium“, d. h. die neugegründete Anstalt, nur dann anerkennen wolle, wenn sie dem kaiserlichen Hofe genehm sei. Von hessischer Seite hat man trotz dieser erheblichen Reserven nicht davon abgelassen, die Privilegierung weiter zu betreiben. In der Umgebung des ___________ 36

Bericht Peter Baidel, Antwerpen 6. Juli 1531 (StAM 3, Politisches Archiv Philipps, Nachträge Nr. 1375, fol. 18); hierzu schon näher: Roderich Schmidt, Die kaiserliche Bestätigung der Marburger Universitätsgründung von 1527 durch Karl V. 1541, in: ZHG 108 (2003), 75–94, hier 76.

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Landgrafen, allen voran bei seinem Kanzler Feige, wußte man um die Bedeutung der Rechte, die von dem kaiserlichen Akt abhingen. Nach der Unterzeichnung des Friedens von Kaaden und der zwischenzeitlichen Annäherung an den Kaiser sah dieser im Januar 1535 erstmals Gelegenheit, ein Gutachten seiner Räte einzuholen. Dies stellte ein klares Zeichen für den weitergehenden Entschluß dar, nun auch die Privilegierung nicht mehr länger zu behindern. Es bedurfte freilich noch der Festlegung jener Bedingungen, unter denen der kaiserliche Gnadenakt erfolgen konnte. Freilich konnten die erheblichen Bedenken, die seinerzeit von den Räten insbesondere im Hinblick auf die Theologische Fakultät niedergelegt wurden37, vom Kaiser nicht übersehen werden. So wurde einem hessischen Emissär, der im Herbst 1535 am Wiener Hof weilte, erst einmal nur ein aufschiebender Bescheid und damit ein klares Signal gegeben, daß eine sofortige positive Entscheidung nicht möglich war38. Es sollte schließlich noch weitere knappe sechs Jahre dauern, ehe das in der Umgebung Philipps und bei ihm selbst lang erwartete Privileg ausgestellt wurde. Der Weg hierzu war mit erheblichen politischen Zugeständnissen des Landgrafen gepflastert. Nach einem geheimen Übereinkommen zwischen Karl V. und Landgraf Philipp vom 13. Juni 1541, in dem der Hesse nach den schweren Irrungen wegen seiner Doppelehe dem Kaiser gegenüber sehr weit entgegenkommen mußte39, ja einigen seiner bis dahin verfolgten politischen und zugleich konfessionellen Zielen ausdrücklich abschwor, zeigte sich Karl V. geneigt, seinerseits die langersehnten und hart umkämpften Privilegien zu erteilen. Die am 16. Juli 1541 – mithin nur einen Monat nach dem wegweisenden Vertrag – unterfertigte Urkunde stellte die Marburger Anstalt ohne irgendwelche Einschränkungen ausdrücklich allen anderen Universitäten gleich40. Wie sehr man an der Universität selbst nach dem langen und zähen Ringen Erleichterung zeigte, läßt sich aus der Rede des Professors Nicolaus Asclepius Barbatus erkennen. Denn es verstrich nach der Ausstellung des Diploms nur ein runder Monat, ehe am 20. August 1541 die Privilegierung im universitären Rahmen und unter Beteiligung aller administrativen und intellektuellen Granden des Landes mit Stolz und Freude bekannt gemacht wurde41. Was nicht we___________ 37

HHStAW RHR, Confirmationes Privilegiorum lat. exp. 10, Marburg; ich werde mich an anderer Stelle eingehender zu Datierung und Inhalt des Gutachtens äußern. 38 StAM 3, PA Philipps, Nachträge Nr. 1394, fol. 90. 39 Druck des Vertrages bei: Max Lenz (Hrsg.), Briefwechsel Landgraf Philipps des Großmütigen von Hessen mit Bucer, 3. Teil, Leipzig 1891, 91–96. 40 Erste bekannte Edition in: Lucae, Europäischer Helicon, 407–409; weiterer Abdruck bei: Hildebrand, Urkundensammlung, 37 f; letzte Publikation mit Abbildung des Privilegs bei: Roderich Schmidt, Die kaiserliche Bestätigung, 93f. 41 Nicolaus Asclepius Barbatus, Oratio in privilegiorum ab imperatoria maiestate, Academiae Marpurgensi, impetratorum, promulgatione habita, vicesima Augusti Anni

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niger als runde 15 Jahre gedauert habe, so Asclepius, sei nun glücklich zu Ende gekommen. Natürlich ging der Dekan der Philosophischen Fakultät nicht mit einem Wort darauf ein, daß das Privileg nur unter besonderen politischen Umständen erwirkt wurde und deswegen einen schweren Makel besaß. Denn der politische Fußfall, den der Landgraf und Universitätsgründer einen Monat vor seiner Ausstellung schweren Herzens hatte tun müssen, war aus gutem Grunde nicht öffentlich bekannt geworden. Wäre dies nämlich der Fall gewesen, hätte er auch der Öffentlichkeit eine politische Kehrtwende von fundamentaler Natur deutlich gemacht. Denn für Karl V. bedeutete der Vertrag nichts anderes als eine Kapitulation. Ihm schien, daß er den großen Proponenten und Anführer der Reformation zur politischen Neutralität gezwungen hatte, ja ihn vielleicht sogar in seine politische Klientel bringen konnte. Unter diesen Umständen, und wohl nur so, wird es verständlich, daß auch die theologische Fakultät der Marburger Universität nicht vom Privileg ausgenommen war. So lange auch die Privilegierung der neuen hessischen Universität hinausgezögert worden war und so nachhaltig sich der . und sein Bruder Ferdinand im Glauben wähnten, den rechten Moment für die Privilegierung gewählt zu haben: an den genuin protestantischen Zielen der Anstalt änderte sich weder 1541 noch in der Folgezeit irgend etwas. Füllte die Marburger Alma Mater im Raum zwischen Erfurt und Köln, Wittenberg und Heidelberg ohnehin eine schmerzliche Bildungslücke aus, so wirkte sie überdies weit über diesen Raum hinaus als unübersehbarer protestantischer Lichtpunkt. Doch weit mehr noch: Mit der Gründung und zeitversetzten Privilegierung der Marburger Hohen Schule war die Büchse der Pandora nicht nur für weitere Gründungen protestantischer Akademien geöffnet worden, sondern Marburg machte deren protestantischen Gründern Hoffnung, sich in den Besitz von Privilegien zu bringen. Allerdings hat der Wiener Hof aus den falschen Erwartungen, die man 1541 in die Entwicklung Marburgs setzte, erkennbar gelernt. Denn weder Straßburg noch Jena, weder Helmstedt noch Altdorf erhielten für ihre theologischen Fakultäten Promotionsrechte. Selbst wenn die protestantische Konfession im Augsburger Religionsfrieden 1555 reichsrechtlich mit dem alten Glauben gleichgestellt worden war, so schlug diese Gleichstellung gleichwohl nicht voll auf die Privilegierungspraxis der neuen protestantischen Hochschulen durch.

___________ 1541, in: Marburgische Beyträge zur Gelehrsamkeit, 4. Stück, Marburg 1750, 130–158, hier 142f.

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III. Die Verdichtung der Mitte: neue Dimensionen des Hochschulwesens im Dreieck Marburg– Herborn – Gießen Diese konfessionell bedingten Einschränkungen erfuhren eine entschiedene Erweiterung, als sich gegen Ende des 16. Jahrhunderts ein neuer Kreis an Hochschulen auftat und zugleich die Privilegierungsfrage neue Konturen erhielt. Hatte Marburg Ende der 20er Jahre eine konfessionelle Vorreiterrolle gespielt und diese im schon erwähnten Raum zwischen Erfurt und Köln, Wittenberg und Heidelberg beibehalten können, so änderte sich dies zuerst an der Grenze des umrissenen Raumes. Als Julius Echter von Mespelbrunn 1575 eine Universität in Würzburg ins Leben rief, fiel es dem katholischen Fürsten nicht schwer, sich die nötigen Privilegien zu besorgen. Bemerkenswert war nur, daß sich der Würzburger Fürstbischof nicht an den Papst, sondern an den Kaiser wandte, um die Privilegien zu erwerben42. Ganz anders gestalteten sich die Verhältnisse, als 1584 im nassauischen Herborn, kaum einmal 50 Kilometer westlich Marburgs, die bereits erwähnte prononciert kalvinistische Anstalt entstand. Auch wenn sie alsbald zu einem wissenschaftlichen Höhenflug ansetzte, der sie in dieser Hinsicht dem seinerzeit zwischen Luthertum und Kalvinismus oszillierenden Marburg gleichstellte, blieb die reformierte Hochschule doch erst einmal unprivilegiert. Was Philipp der Großmütige und seine Umgebung mit viel Mut und vielleicht noch mehr Chuzpe 1541 erreicht hatten, versuchte der nassauische Graf Johann VI. mit seinen engen Beziehungen zu den Niederlanden erst gar nicht: einen Antrag auf Privilegierung seiner neuen Anstalt zu stellen. Überraschend war dies freilich in mehrerlei Hinsicht nicht. Denn auch die waldeckischen Grafen verzichteten 1578 und später darauf, ihr seinerzeit in Korbach gegründetes Gymnasium Illustre den Hochschulen in der engeren und weiteren Umgebung rechtlich gleichstellen zu lassen. Dabei spielte weniger die hochproblematische finanzielle Situation des Grafenhauses und seine innere Zerstrittenheit eine Rolle als der Umstand, daß es sich eindeutig um ein Gymnasium Illustre minderer Qualität handelte43. Überdies hätte seinerzeit die Privilegierung einer gräflichen Gründung einen Präzedenzfall im Reich dargestellt. Weniger ins Gewicht gefallen sein dürfte, daß das Lehrpersonal einen deutlichen kalvinistischen Einschlag besaß44.

___________ 42 Vgl. hierzu: Peter Baumgart, Die kaiserlichen Privilegien von 1575 für die Universitäten Würzburg und Helmstedt, in: Würzburger Diözesan-Geschichtsblätter 35/36. Aus Reformation und Gegenreformation. Festschrift für Theobald Freudenberger, 1974, 320ff. 43 Bisher hierzu: Louis Curtze, Geschichte des Gymnasiums zu Corbach, Arolsen 1869. 44 Näher hierzu: Arnd Friedrich, Die Gelehrtenschulen in Marburg, Kassel und Korbach, Darmstadt/Marburg 1983.

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Verschafften das Korbacher Gymnasium Illustre und weit mehr noch die Herborner Hohe Schule im Raum zwischen Lahn, Dill und Eder ganz neue Farbtupfer der universitätsnahen bzw. universitären Ausbildung, ohne daß die reichsrechtliche Ebene bemüht worden wäre, so änderten sich die Zuordnungen in diesem Bereich zu Anfang des 17. Jahrhunderts noch einmal ganz entscheidend. Dabei war es die Kasseler Linie des hessischen Hauses, die in jeder Hinsicht den Anstoß zu einer weiteren Ausdehnung, aber zugleich Ausdifferenzierung des universitären Systems gab. War unter Protektion Landgraf Wilhelms IV., des ältesten Sohnes Philipps des Großmütigen, bereits zu Anfang der 70er Jahre des 16. Jahrhunderts vom seinerzeitigen Abt in der Hauptstadt des Stiftes Hersfeld eine neue Anstalt gegründet worden45, so unterstreicht dies die besonderen hochschulpolitischen Aktivitäten der Kasseler Landgrafen in ihrem weiteren politischen Einflußfeld46. Daß der Kasseler Landgraf den Hersfelder Abt vorschickte und ihn ausdrücklich um die kaiserliche Approbation für seine „Newe Trivial oder Particular Schule“ nachsuchen ließ47, wurde in Wien aber sofort als eine eher ungewöhnliche Bitte erkannt. Denn aus dem Gesuch ging hervor, daß die Einkünfte für die Schule so gut wie ausschließlich von hessischer Seite eingebracht wurden. Ohnehin wird man in Wien befürchtet haben, daß die Kasseler Linie des hessischen Hauses mit der neuen Hersfelder Anstalt ganz anderes im Sinne hatte, als dies mit der eher unverfänglichen Bezeichnung „Trivial- oder Particular Schule“ erkennbar war. Natürlich standen dabei die Erfahrungen aus der Privilegierung Marburgs vor Augen, doch dürfte Wien überdies darüber informiert gewesen sein, daß in der unmittelbaren Nachbarschaft Marburgs in Wetter eine „Academiola“ entstanden war. Sie brachte unter der theologischen Ägide des örtlichen Pfarrers Hermann Pincier, zugleich auch der pädagogischen Patronage des Rektors Justus Vultejus, reformierte Zöglinge in großer Zahl hervor. Sie fanden sowohl im Kasseler Teil der Landgrafschaft, mehr aber noch in der Kurpfalz ihr Unterkommen. Gerade in Heidelberg und seiner Umgebung machten mehrere von ihnen eine solche Karriere, daß Wetter geradezu als Kaderschmiede der reformierten Sache galt48. Al___________ 45

Vgl. hierzu: Otto Gliss, Zur Geschichte der Schulgründung, in: ders. (Hrsg.), Festschrift zum 400jährigen Bestehen der Alten Klosterschule 1570–1970, Bad Hersfeld 1970, 35–48. 46 Zum beständigen Eingreifen der Landgrafen in die Belange der Stadt Hersfeld seit dem frühen 16. Jahrhundert und der Anbindung an die Landgrafschaft siehe: Jürgen Witzel, Hersfeld 1525 bis 1756. Wirtschafts-, Sozial- und Verfassung einer mittleren Territorialstadt, Marburg 1994, 298ff. 47 Gesuch des Hersfelder Abtes an Kaiser Matthias II. auf dem Speyrer Reichstag in: HHStAW RHR Lehen dt. Exped. 68; dieser bisher unbekannte Vorgang bedürfte einer ausführlicheren Darstellung. 48 Adolf Stölzel, Entwicklung des gelehrten Richtertums in deutschen Territorien, Bd. 1, Berlin 1872, 114; ihm folgend und mit umfangreichem Material substantiierend: Volker Press, Calvinismus und Territorialstaat, Stuttgart 1971.

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lerdings setzte der lutherische Landgraf Ludwig IV. von Hessen-Marburg der Institution um 1580 faktisch ein Ende, indem er Pincier nach Haina in den Kellerwald versetzte. Seitdem wurde es ruhig um die „Academiola“. Gleichwohl haben ihre berühmtem Abgänger, zu denen mit Oswald Croll auch der Leibarzt Christian von Anhalts rechnete, die besondere Literatizität Wetters später immer wieder gefeiert49. Doch nicht nur Landgraf Wilhelm IV. . hat sich in der Gründertradition seines Vaters Philipp versucht, sondern auch dessen Sohn Moritz der Gelehrte. Wenn sich die Hersfelder Gründungsinitiative auf Hochschulebene zerschlagen hatte, so nutzte Moritz die erstbeste Gelegenheit nach dem Tod seines Marburger Onkels Ludwig im Herbst 1604, um gegen die ausdrückliche Verfügung dessen Testaments die gemeinhessische Hochschule in Marburg zu kalvinisieren50. Dem vorausgegangen war während der Teilungsverhandlungen zwischen den beiden Landgrafen in Darmstadt und Kassel ein Gutachten der Herborner Theologen, das Moritz dazu anhielt, auf jeden Fall die Chancen zu nutzen, die sich mit der Marburger Universität böten und den Kalvinismus hier einzuführen. Als Reaktion begaben sich nicht nur die lutherischen Marburger Theologieprofessoren und andere Lehrkräfte ins nahe Gießen, sondern der hier regierende Landgraf Ludwig V. von Hessen-Darmstadt begann nun eine lutherische Gegengründung zum reformierten Marburg auf den Weg zu bringen51. Der Darmstädter Landgraf hat sich sehr früh in Prag um die Privilegierung seiner zuerst einmal Pädagog genannten Einrichtung bemüht. Denn nur ein halbes Jahr nach der Kalvinisierung Marburgs suchte er bereits im Frühjahr 1606 um die Privilegien nach, wobei es dafür keines großen Wagemutes bedurfte. Denn seine besondere Nähe zum Kaiserhaus war bekannt – und insoweit stellte sich die Situation völlig anders dar als unter seinem Großvater Philipp. Ludwig begründete die Eingabe, „seine Particular-Schuel in seiner Statt Giessen zu ainer Universitet oder Hohen Schuel aufzurichten“, gegenüber dem Kaiser mit ausschließlich konfessionellen und zugleich territorialen Ge___________ 49

Ulricus Bollinger, Encomium Wetterae Athenarum Hassiae, in: Oswald Croll, Basilica chymica, continens philosophicam propriam laborum experientia confirmatam descriptionem …, Frankfurt am Main 1609; eigene Seitenzählung des Anhangs, hier 9– 16. 50 Zur Konfessionspolitik des Landgrafen siehe: Gerhard Menk, Die „Zweite Reformation“ in Hessen-Kassel. Landgraf Moritz und die Einführung der Verbesserungspunkte, in: Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der „Zweiten Reformation“, hrsg. von H. Schilling, Gütersloh 1986, 154–183; ders., Absolutistisches Wollen und verfremdete Wirklichkeit – der calvinistische Sonderweg Hessen-Kassels, in: Territorialstaat und Calvinismus, hrsg. von M. Schaab, Stuttgart 1993, 164–238. 51 Näher hierzu schon: Anton Schindling, Die Universität Gießen als Typus einer Hochschulgründung, in: Peter Moraw/Volker Press (Hrsg.), Academia Gissensis. Beiträge zur älteren Gießener Universitätsgeschichte, Marburg 1982, 83–113.

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sichtspunkten. Er führte nämlich ins Feld, „daß sein Vetter Landgraf Moritz zu Hessen vorberürte Hohe Schul zu Marpurg, so bisher ain allgemaine Hessische Schuel geweßen, contra vetus institutum, ganz und gar alteriert, und calvinisch gemacht habe“52. Die Wiener Reaktionen auf die Darmstädter Eingabe fielen unterschiedlich aus. Während der Geheime Rat am 24. April 1606 dem Kaiser die Empfehlung gab, daß die Privilegierung „nachbliebe“53, stellte der Reichshofrat andere, weitere Überlegungen zur Eingabe und deren Begründung an. Zwar gab man auch im Reichshofrat zu bedenken, daß man „Gewissens halben zu newer Anstellung uncatholischer Academien nicht wol rathen“ könne, schränkte dieses Urteil dann doch wieder ein, indem im Anschluß daran eine konfessionelle Güterabwägung erfolgte. Wenn man nämlich „inter duo mala minus malum erwählen solte“, so hieß es in dem längeren Gutachten, dann sei es unstrittig, „daß ain Lutterische leidenlicher als ain Calvinische Academia zu tolleriren, weil bey derselben mehr übls dann bey der andern zu besorgen.“ Allerdings ging der Reichshofrat schließlich noch weiter, indem er genuin politische Gründe ins Feld führte, um Rudolf II. die Privilegierung offen anzuraten. Das Verhältnis des Kaisers zum Universitätsgründer bildete dabei den bestimmenden Gesichtspunkt der Überlegungen. Im Gutachten heißt es nämlich ungeschminkt: „Derhalben stellt Reichsrath zu E. Kay. Mt. gnedigisten Wolgefallen und Belieben, ob sy mehrged. Landtgr. Ludwigen zu Hessen als ainem löb[lichen], gegen Ewer Mt. wol affectionirten, gehorsamen Fürsten mit der gepettenen Conecession obbestimmter Massen aintweder wilfahren oder doch aufs wenigist ain Privilegium auf die Mainung und weiß, wie solhes vor dißen beeden Stetten Straßburg und Nürnberg wegen Irer Schuel zu Altorff gegeben, gnädigist erthailen wöllen.“ Für seine Entscheidung nahm sich der Kaiser zwar noch ein ganzes Jahr Zeit, doch fiel das Ergebnis dann um so vorteilhafter für den Petenten aus. Denn mit einem vollen Privileg honorierte man am kaiserlichen Hof die ja schon vom Reichshofrat ausdrücklich beschworene politische Haltung des Darmstädter Hofs. Daneben trug noch ein anderer Grund dazu bei, daß die neue Gießener Universität in den Genuß der vollen Privilegien kam. Aus überwiegend konfessionellen Rücksichten heraus entschied man sich dafür, die betont lutherische Anstalt gegenüber dem kaum drei Meilen bzw. 30 Kilometer entfernten, inzwischen kalvinisierten Marburg rechtlich nicht zu benachteiligen. Denn Landgraf Moritz zog natürlich den Nutzen aus dem bereits bestehenden Universitätsdiplom. Insoweit schien es aus dem Blickfeld des Reichshofrats sinnvoll, mit der bewußten Anknüpfung an das Marburger Privileg von 1541 einen klaren Akzent zu setzen. Denn dieser Schritt, der in Kassel am Hofe ___________ 52 Eingabe Ludwigs „ratione erigendae novae Academiae in seiner Statt Gießen“ in: HHStAW RHR Confirmationes Privilegiorum 9 und HHStAW RHR Vota 22. 53 Vermerk ausschließlich in: HHStAW RHR Vota 22.

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des Landgrafen natürlich sehr aufmerksam verfolgt wurde54, machte dem Eingeweihten deutlich, daß Marburg damit in jeder Hinsicht seine privilegierte Stellung verlor, indem Gießen nunmehr als rechtlich völlig gleichwertige Anstalt angesehen werden durfte. Zwar hatte zum einen die konfessionelle Güterabwägung zwischen Luthertum und Kalvinismus für die Wiener Entscheidung einen herausragenden Punkt dargestellt, überdies aber kam die problematische reichsrechtliche Stellung des reformierten Glaubens zum Tragen. Ein entsprechendes Schreiben von Kasseler Seite an mehrere Reichshofräte bestätigt dies auch indirekt55. So dürfte man am Hofe des Kasseler Landgrafen nur zu gut gewußt haben, daß man auf kaiserlicher Seite von der Erwartung ausging, daß in einer so knappen Entfernung, wie sie zwischen Gießen und Marburg bestand, auf längere Frist nicht zwei Universitäten überleben könnten. Im Falle des zu erwartenden Verdrängungswettbewerbs setze man in Wien aber ganz auf Gießen. Eine solche Entwicklung stellte sich nicht sofort ein, sondern erst zu Anfang des Dreißigjährigen Krieges. Nach 1607 blühten hingegen Marburg und das neu gegründete Gießen erst einmal nachhaltig auf. Ihre wissenschaftlichen Prägungen bezogen sie dabei aus weithin unterschiedlichen, gut gegründeten Konzepten. Sorgte der wissenschaftlich besonders interessierte, vielleicht sogar wissenschaftsbesessen zu bezeichnende Kasseler Landgraf mit allem Nachdruck dafür, daß die Marburger Anstalt in ein nunmehr eindeutig kalvinistisches Fahrwasser geriet, was den den Marburger Philosophieprofessor Rudolf Goclenius ausdrücklich von einer „Academia Mauritiana“ sprechen ließ, so besaß auch die Gießener Ludoviciana dank des Landeshern eine unverwechselbare Note. Ludwig sorgte aber nicht nur in baulicher Hinsicht für einen großen Aufschwung, sondern setzte 1609 mit Landgraf Philipp III. ein wissenschaftlich besonders interessiertes Mitglied des eigenen Hauses in die neue Residenz Butzbach, d. h. in das unmittelbare geographische Vorfeld Gießens56. Mit dieser Maßnahme sollte die besondere Nähe zwischen Dynastie und Universität ostentativ betont werden. Philipp III. . hat in den Folgejahren für ein besonders enges Verhältnis zur neuen Landesuniversität gesorgt, wobei Beaufsichtigung und Fürsorge in einem engem Bezug standen. So trat der Begründer der Butz___________ 54 Gutachten von Kanzler und Räten zu Kassel, 6. Juli 1607: „… es ist auch das jetzerhaltene Gießnische Privilegium dem Marpurgischen in verbis et sententia deromaßen gleich, daß es scheinet, es sey das Marpurgische Privilegium am Kayß. Hof per copiam eingeben unnd das Gießnische, personae et loci nominibus duntaxat mutatis, dranach ertheilet und gerichtet.“ (StAM 4 d Nr. 183). 55 [Kasseler Agent in Prag] an die Reichshofräte, 20. [VII. ?] 1607 (StAM 4 c Hessen-Darmstadt 1103). 56 Zu Philipp III. siehe die heute nicht mehr auf dem Stand der Forschung stehende Biographie: Wilhelm Diehl, Philipp, Landgraf von Hessen-Butzbach. Eine Festgabe zur Dreihundertjahrfeier der Begründung der Landgrafschaft Hessen-Butzbach, Darmstadt 1909.

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bacher Nebenlinie in auffälligem Maße durch großzügige Schenkungen an die Gießener Alma mater hervor, wobei diejenigen nach seinem Tod besonders zu erwähnen bleiben. Waren mit der Privilegierung, der Errichtung von Bauten und der erheblichen landesherrlichen Förderung die besten institutionellen Voraussetzungen für ein Aufblühen der neuen Anstalt geschaffen, so gewann die Neugründung aber auch in wissenschaftlicher Hinsicht klare Konturen. Für die Theologie stand dies ohnehin zu erwarten, boten doch allein schon die aus Marburg abgewanderten Theologen Balthasar Mentzer, Johann Justus Winckelmann und Heinrich Leuchter die Gewähr dafür, daß die Ludoviciana zu einem neuen, großen lutherischen Zentrum avancierte. Allein die jetzt einsetzenden heftigen kontroverstheologischen Auseinandersetzungen um die Mauritianischen „Verbesserungspunkte“ mit den Marburger Theologen, daneben aber auch die dogmatischen Debatten mit den großen Wissenschaftlern im nahen Herborn, erregten dabei angesichts der großen Namen der beteiligten Kombattanten weithin Aufsehen. So verfügte die neue Gießener Anstalt mit Caspar Finck über einen Philosophen, der nicht nur bei den lutherischen Studenten einen hohen Bekanntheitsgrad besaß. Aber auch die Gießener Juristische Fakultät, die u. a. mit Gottfried Antoni, Reinhard König und Theodor Reinkingk besetzt war, verlieh der Ludoviciana mit ihrer ausgeprägt kaisernahen Position bald ein klares Profil57. Ebenso wie in der Theologie entwickelte sich auch in der Jurisprudenz alsbald ein Streitschriftenkrieg, der für manche Beteiligte wie den Marburger Juraprofessor Hermann Vultejus, im übrigen ein Sohn des Wetteraner Philologen Justus Vultejus, und seinen Mitstreiter Christoph Deichmann alle bisher vermuteten Grenzen sprengte58. Nimmt man alles in allem, so wirkten Gießen und Marburg nicht nur wie zwei konfessionsgeprägte intellektuelle Leuchttürme in einer immer dichter werdenden Wissenschaftslandschaft, sondern die beiden hessischen Universitäten gerieten auch zum Sinnbild einer scharfen intellektuellen innerprotestantischen Konkurrenz. Diese entwickelte vor allem in so zentralen Fächern wie der Theologie und dem Staatsrecht so weit auseinanderliegende Konzepte, daß ihre Positionen sich höchst behinderlich auf eine innerprotestantische Konsensbildung auswirkten. Doch nicht nur Marburg und Gießen bestätigten dieses Bild der innerprotestantischen Zerrissenheit, sondern diese wurde durch das nahe Herborn noch weiter verstärkt. Denn die nassauische Hohe Schule verfügte ___________ 57 Hierzu u. a.: Heinhard Steiger, Zur Kontroverse zwischen Hermann Vultejus und Gottfried Antonius aus der Perspektive der politischen Theorie des Johannes Althusius, in: K.-W. Dahm/W. Krawietz/D. Wyduckel (Hrsg.), Politische Theorie des Johannes Althusius, Berlin 1988, 333–369; zu Reinking: Christoph Link, Dietrich Reinking, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker in der frühen Neuzeit, München 1995, 78–99. 58 Hermann Vultejus an Lgrf. Moritz, Marburg 11. V. 1609 (StAM 4 a 39 Nr. 56).

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durch ihre Professoren in Theologie, Philosophie und Jurisprudenz gleichermaßen über höchst eigenwillige und unverwechselbare Konturen. Bis hin zu der Studentenschaft aus der Schweiz und anderen Ländern sprach sich nach 1607 herum, daß zwischen Lahn und Dill auf engstem Raume eine besondere Dichte an universitären Anstalten bestand, die im Heiligen Römischen Reich ihresgleichen suchte. Dies schuf natürlich auch Möglichkeiten des Vergleichs. So nutzte der Züricher Student Marcus Bueller im September 1610 die Chance, auf dem Weg von Frankfurt zu seinem Studienort Herborn erst einmal in Gießen Station zu machen. Hier nahm er die Gelegenheit wahr, um sich vor Ort sowohl von dem führenden Theologen Balthasar Mentzer wie seinem philosophischen Pendant Caspar Finck eingehend über die Studienbedingungen informieren zu lassen59. Die beiden führenden intellektuellen Repräsentanten Gießens scheinen eine solche Gelegenheit nach allen Regeln der Kunst und des Könnens genutzt zu haben, um die Vorteile des Luthertums gegenüber dem Kalvinismus herauszustreichen. Nicht nur dies, sondern auch die studentischen Wechselspiele zwischen Marburg und Herborn machen deutlich, daß die dichte innerprotestantische Konkurrenz das wissenschaftliche Geschäft deutlich belebte. Jedenfalls wurde damit auch die Behauptung des Reichshofrats in der Gießener Privilegierungsfrage widerlegt, daß es völlig „unnötig“ sei, „in Teutschlandt mehr Academias … aufzurichten“, da es „derselben ohne daß zimblich vil“ gebe60. Eine dieser Anstalten, die in ihrem institutionellen Zuschnitt aus dem Rahmen fällt, ist dabei bisher übergangen worden, nämlich das in Kassel beheimatete „Collegium Mauritianum", eine von Moritz dem Gelehrten begründete Ausbildungsstätte für den protestantischen Adel61. Die Attraktivität für eine angemessene chevalereske Ausbildung, aber auch ihr weiter Einzugsbereich stellen einen untrüglichen Beleg dafür dar, daß sie ein weiteres belebendes Element der Ausbildung im Bereich zwischen Fulda und Lahn darstellte62. Durch die Nähe zum Kasseler Hof war sie den Ansätzen zur Ausbildung des Adels, wie sie an der Hohen Schule Herborn ebenfalls unternommen wurden, deutlich überlegen.

___________ 59 Marcus Bueller an Johann Wirtz, Herborn 17. IX. 1610 (Staatsarchiv Zürich E II 386 fol. 1). 60 Gutachten des Reichshofrates für die Gießener Privilegierung (HHStAW RHR Confirmationes Privilegiorum 9 und ebda. RHR Vota 22). 61 Zu ihrem Auf- und Ausbau bisher: Theodor Hartwig, Die Hofschule Kassel unter Landgraf Moritz dem Gelehrten, Marburg 1864; Norbert Conrads, Ritterakademien der frühen Neuzeit. Bildung als Standesprivileg, Göttingen 1982, 115ff. 62 Holger Th. Gräf, Die Kasseler Hofschule als Schnittstelle zwischen Gelehrtenrepublik und internationalem Calvinismus, in: ZHG 105 (2000), 17–32.

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IV. Der Ausbau der akademischen Ränder: Hanau, Rinteln und Paderborn Einen neuen Farbtupfer erhielt die Bildungslandschaft zwischen Main und Weser, als 1607 in Hanau eine weitere reformierte Hohe Schule begründet wurde63. Es war Graf Philipp Ludwig II. von Hanau-Münzenberg, der es für notwendig und sinnvoll erachtete, in seiner unmittelbar am Main gelegenen, inzwischen um eine Neustadt ausgebaute Residenz die Einrichtung einer universitätsähnlichen Anstalt vorzunehmen64. Der ganz und gar in nassauischem Geist erzogene und wie sein früh verstorbener gleichnamiger Vater ebenfalls weitgereiste und bestens ausgebildete Philipp Ludwig65 eröffnete dabei eine ganz im kalvinistischen Geiste begründete Anstalt. Nach Herborner Vorbild kam damit ein Privilegierungsgesuch nicht in Frage. Doch erfuhren die Dinge alsbald eine überraschende Wende. Denn nahezu zeitgleich mit der Akademiegründung unternahm Philipp Ludwig II. einen Schritt, der eine fundamentale Veränderung seiner Politik andeutete: Er suchte die Nähe des Prager Kaiserhofes, wobei das Hauptinteresse für diesen Schwenk in der Sicherung der Hanauer Primogenitur gegen die Ansprüche seines Bruders Albrecht lag66. Allerdings war dies wohl nicht der einzige Grund für seine Entscheidung. Denn es darf angenommen werden, daß bei seinem Entschluß, als kaiserlicher Rat in die Dienste des gleich kunst- und wissenschaftsbeflissenen Rudolf zu treten, vermutlich auch die langfristige Privilegierung „seiner“ Hochschulgründung eine Rolle spielte. Das günstige Ergebnis der gerade eben erreichten Privilegien für Gießen dürfte dabei eine wesentliche Rolle gespielt haben. Denn es konnte Philipp Ludwig und seinen Räten kaum verborgen bleiben, daß die politische Nähe des Darmstädter Hofes zum Kaiser das Gießener Privilegierungsverfahren und sein günstiges Ergebnis maßgeblich beeinflußt hatte. Die Gründung und das zuerst einmal maßvolle wissenschaftliche Aufblühen der hanauischen Hohen Schule verschaffte dem wissenschaftlichen Dreieck Marburg-Herborn-Gießen einen neuen, nicht besonders weit abgelegenen protestantischen bzw. kalvinistischen Außenposten mit günstiger Lage am Main. ___________ 63 Zu Hintergründen und Bedeutung siehe außer: Menk, Die Hohe Schule Herborn (1584–1660), 187ff. auch: Wolfram Heitzenröder, „Zu Gottes Ehre und der Einheimischen Nutz, Heil und Seligkeit“. Die Anfänge der Hohen Landesschule in Hanau am Main, in: Festschrift zur 375-Jahr-Feier der Hohen Landesschule Hanau (1607–1982), Hanau 1982, 11–25. 64 Vgl. zu ihm: Ute Müller-Ludolph, Philipp Ludwig II. von Hanau-Münzenberg (1576–1612). Eine politische Biographie, Darmstadt/Marburg 1991. 65 Zu ihm, mit dem sich die kalvinistische Phase vorbereitete: Gerhard Menk, Philipp Ludwig I. von Hanau-Münzenberg (1553–1580). Bildungsgeschichte und Politik eines Reichsgrafen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Hess. Jb. für Landesgeschichte 32 (1982), 127–163. 66 Vgl. Müller-Ludolph, Philipp Ludwig II. von Hanau-Münzenberg, 145ff.

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Wenn die 1575 gegründete Würzburger Julius-Universität mit ihrer katholischen Prägung für die Hanauer Hohe Schule keine Konkurrenz bedeutete, so befanden sich die drei kalvinistischen Schwesteranstalten Heidelberg, Marburg und Herborn in relativer Nähe. Selbst wenn die Hanauer Anstalt nicht zuletzt wegen des frühen Todes ihres Gründers Philipp Ludwig im Jahre 1612 und den darauf einsetzenden schweren Auseinandersetzungen um sein Erbe nicht annähernd jenes wissenschaftliche Renommee erwerben konnte, wie dies für die beiden anderen kalvinistischen Anstalten festzuhalten ist, so wirkte das Dreieck Marburg-Herborn-Hanau gleichwohl für kurze Zeit wie ein intellektuelles Bollwerk des deutschen Kalvinismus. Nahm man Heidelberg noch dazu, so fiel die konfessionelle Bastion in einem vergleichsweise überschaubaren Raume noch beeindruckender aus. Erfuhr der von den drei hessischen und nassauischen Hohen Schulen geprägte Kernraum an Lahn und Dill durch die Einrichtung Hanaus 1607 einen neuen Außenposten im Süden, so dauerte es nur weitere drei Jahre, ehe auch ein universitärer Ausgriff nach Norden erfolgte. Eine weitere Gründung bot sich schon allein deswegen an, weil zwischen Marburg und Bremen zwar mit dem Korbacher Gymnasium Illustre und dem von Johann Lambach gegründeten Dortmunder Gymnasium weitere Ausbildungsstätten zur Verfügung standen, sie jedoch keinen Hochschulstatus besaßen. Bemerkenswerterweise war es erneut ein Reichsgraf, der nun die Initiative zur Akademiegründung ergriff und damit nach Nassau, Bentheim und Hanau dem Grafenstand ein weiteres positives Zeugnis seiner Bildungsbeflissenheit ausstellte. Den angesichts der Größe des Territoriums vermeintlich wagemutigen Schritt unternahm Graf Ernst von Holstein-Schaumburg67. Er hatte sich während seiner Jugend durch die Ausbildung an der Universität Helmstedt und durch zahlreiche Reisen eine beachtliche Bildung angeeignet, so daß die Gründungsinitiative angesichts seiner üppigen finanziellen Ressourcen und eines hohen Bildungsimpetus nicht überraschend kam. Die 1610 eingerichtete Anstalt wurde dabei erst einmal im Landesinneren in Stadthagen angesiedelt, bevor sie ein Jahrzehnt später nach Rinteln und damit unmittelbar an die Weser umzog68. Daß dabei erhebliche Widerstände seitens der Stadt überwunden werden mußten, scherte den Gründer der Anstalt wenig. Ihm nämlich war es außerordentlich wichtig, die bessere Ver___________ 67

Zu ihm zuletzt: Helge Bei der Wieden, Ein norddeutscher Renaissancefürst. Ernst zu Holstein-Schaumburg (1569–1622), Bielefeld 1994. 68 Zur Academia Ernestina vor allem: Gerhard Schormann, Aus der Frühzeit der Rintelner Juristenfakultät, Bückeburg 1977; ders., Academia Ernestina. Die schaumburgische Universität zu Rinteln an der Weser (1610/21–1810), Marburg 1982; Gerhard Menk, Die schaumburgische Hohe Schule in der Universitätslandschaft der frühen Neuzeit, in: Hubert Höing (Hrsg.), Zwischen Tradition und Innovation. Zur Geschichte der Erziehung und Bildung in Schaumburg, Bielefeld 2007 (im Druck).

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kehrslage einer universitären Anstalt zu nutzen und so die Attraktivität der Anstalt für die Studentenschaft zu verbessern. Dies macht deutlich, daß Graf Ernst von Holstein-Schaumburg keineswegs nur Interesse daran zeigte, an der neuen Hochschule die Ausbildung jener Beamten und Pfarrer zu gewährleisten, die er für sein eigenes Territorium brauchte. Sicherlich war ein hohes Maß an Isonomie der juristischen wie theologischen Normenwelt in einem staatlichen Gebilde, das mit den beiden weit auseinanderliegenden Territorialkomplexen Holstein und Schaumburg besonders schwierigen Strukturbedingungen unterlag, besonders gefragt. Gleichwohl verfolgte der hochgebildete Landesherr mit der Einrichtung einer Hochschule Ziele, die sich nicht nur aus den Notwendigkeiten des eigenen Territoriums ableiteten. Vielmehr machte er sich den Umstand zunutze, den beachtlich großen Raum zwischen Bremen und Marburg, der bisher über keinerlei akademische Anstalt verfügte, nach seinen eigenen Vorstellungen aufzufüllen. Die Anregung zu einem solchen Schritt dürften nicht zuletzt im dynastischen Umfeld Graf Ernsts zu suchen sein, war er doch mit einer Schwester Landgraf Moritz’ von Hessen-Kassel verheiratet. Beide Männer verfügten nicht nur über einen gleich weiten Bildungshorizont, sondern waren sich auch mit ihrem ausgesprochen hohen Maß an Ehrgeiz sehr ähnlich69. Vor allem teilten sie die Auffassung über das Idealbild eines Herrschers, das – wie auch bei Rudolf II. – die enge Verbindung von Politik und Wissenschaft als zeitgemäß ansah70. Nicht zuletzt spielte die schaumburgische Beamtenschaft bei der Gründungsinitiative eine wichtige Rolle. Der Bückeburger Regent hatte nämlich 1602 mit Eberhard von Weyhe einen in staats- wie reichsrechtlichen Fragen sehr versierten Beamten an sich gebunden, der zuvor in Kasseler Diensten gestanden hatte. Außer den erkennbaren innerterritorialen Notwendigkeiten war im Spätjahr 1609 noch ein weiterer Beweggrund ausschlaggebend dafür, daß man am Bükkeburger Hof zur Gründung einer Hohen Schule schritt. Ein wesentlicher Anreiz dafür, im kleinen Holstein-Schaumburg eine Hohe Schule ins Leben zu rufen, lag auch daran, daß die rasche Gründung Gießens, vor allem aber dessen wenig problembehaftete Privilegierung zwei Jahre zuvor, den Eindruck er___________ 69 Für Moritz siehe: Gerhard Menk, Ein Regent zwischen dem Streben nach politischer Größe und wissenschaftlicher Beherrschung des Politischen, in: ders., Landgraf Moritz der Gelehrte. Ein Kalvinist zwischen Politik und Wissenschaft, Marburg 2000, 7–78. 70 Evans, Rudolf II and his World; vgl. auch den Prager Tagebucheintrag Melchior Goldasts von Haiminsfeld (zu ihm unten) unmittelbar nach dem Tod Rudolfs: „Keyser Rudolff soll ein hochverstendiger weisser Fürst gewest seyn, cujus summo judicio tranquillitas Imperii tamdiu stetit, hat ein heroisch Gemüt gehabt, qui nihil commune nec vulgare sapiebat, omnia vulgara contemnebat, sola rara et miranda amabat.“ (Heinz Schecker, Das Prager Tagebuch des Melchior Goldast von Haiminsfeld in der Bremer Stadtbibliothek in: Abhandlungen und Vorträge, hrsg. von der Bremer Wissenschaftlichen Gesellschaft 5, Heft 4, Bremen 1931, 267).

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weckt hatte, daß man es in Holstein-Schaumburg mit ähnlicher Leichtigkeit zu einer Vollanstalt bringen könne71. Doch nicht nur im Falle der Privilegien orientierte man sich unübersehbar an einer der drei Anstalten im Dreieck Marburg-Gießen-Herborn, sondern auch in wissenschaftlichen Fachgesichtspunkten schien es in einem sehr frühen Stadium der Überlegungen angeraten, an einer dieser Anstalten intellektuelle Anleihen zu nehmen. So diente die Herborner Juristenausbildung, die seit Dezember 1586 von niemand anderem als dem großen Staatsrechtler Johannes Althusius als erstem Juristen vor Ort konzipiert worden war, als Vorbild für die Stadthagener bzw. Rintelner Richtlinien72. In Bückeburg hat man ähnlich früh wie in Gießen Anstrengungen wegen des Erwerbs der Universitätsprivilegien unternommen. Hier setzte man freilich nicht ausschließlich auf Kaiser Rudolf II., sondern ebenso auf das Kurfürstenkolleg. Die Gründe dürften aus Bückeburger Sicht in den unübersichtlichen Verhältnissen gelegen haben, die die Reichsverfassung nach dem gescheiterten Reichstag von 1608 bot. So nutzte der Bückeburger Hof 1611 das Nürnberger Treffen der Wahlfürsten des Reiches, um wegen der Privilegierung Stadthagens vorstellig zu werden73. Das Ergebnis fiel allerdings erwartungsgemäß wenig günstig aus. Aus diesem mißlungenen Vorstoß zog Ernst 1615 die Konsequenz, mit Melchior Goldast von Haiminsfeld einen der großen Reichspublizisten nach Bückeburg zu holen. Mit den Kenntnissen Goldasts wollte Ernst die Chancen auf einen alsbaldigen Erfolg in der Privilegierungsfrage zumindest erhöhen, wenn nicht gar erzwingen. Wahrscheinlich gehen die Überlegungen, neben dem Universitätsprivileg die ebenfalls vom kaiserlichen Hof abhängige Standeserhöhung Ernsts zu betreiben, ebenfalls auf Goldast von Haiminsfeld zurück. Denn die Zuerkennung eines Universitätsprivilegs an einen Reichsgrafen bedeutete seinerzeit immer noch einen Präzedenzfall – und auf die Durchbrechung scheinbar eherner Prinzipien zu hoffen, schien dem in Fragen der Reichsverfassung außerordentlich versierten Goldast wenig sinnvoll. Bevor es ihm 1620 gelang, Graf Ernst den Fürstentitel zu sichern, unternahm der Jurist 1619 nach dem Tode von Kaiser Matthias noch rasch einen Versuch, über seine langjährigen guten Beziehungen zum kurpfälzischen Hof die Privilegierungsfrage voranzubringen. Die Stellung des Reichsvikars, die Kurfürst Friedrich V. für kurze Zeit einnahm, versuchte er zu nutzen, um sich schon einmal vorab das Privileg für die schaumburgische Universität ausstellen zu lassen. Goldast dürfte dabei von der Überlegung geleitet worden sein, nun endlich jenen Präzedenzfall schaffen zu können, der den künftigen Kaiser band. Allerdings hielt ___________ 71 Schaumburgische Kanzlei an Dr. Joachim v. Holtz, Bückeburg 22. November/2. Dezember 1610; gedruckt in: Schormann, Aus der Frühzeit der Rintelner Juristenfakultät, 123. 72 Gutachten gedruckt bei: Schormann, Academia Ernestina, 307. 73 Einschlägige Korrespondenz schon in: Lucae, Europäischer Helicon, 507–511.

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Ferdinand II. sich dann doch weder an die Vorgaben der Gießener Privilegierung noch an diejenige des kalvinistischen Reichsverwesers. Denn die Gradvergabe für die Theologen blieb in dem Ende April 1620 ausgestellten kaiserlichen Diplom ausgenommen74. Wenn im Falle der schaumburgischen Universität, die nach der Privilegierung ihren Umzug nach Rinteln vollzog, fast in jeder Hinsicht besondere Bedingungen vorherrschten, die sich bis in die religiöse Haltung des Gründers erkennen lassen, so war es doch – wie bisher vermutet – keineswegs nur seine eigene Ausbildungsstätte Helmstedt, die für die Einrichtung Stadthagens bzw. Rintelns bestimmend wurde. Trotz aller Bindungen an das welfische Haus und seine Einrichtungen zeigten sich Ernst und seine Räte mindestens ebenso stark von dem politisch wie intellektuell, nicht zuletzt aber auch in institutioneller Hinsicht so anregenden Raum zwischen Kassel und Frankfurt bestimmt. Wenn dies bereits die beiden Juristen Eberhard von Weyhe und Melchior Goldast von Haiminsfeld deutlich machen, so holte sich Ernst auch 1605 noch den bisher im hessischen Rauschenberg wirkenden Theologen Johann Michelbach als Hofpfarrer nach Bückeburg. Mit Justus Reifenberg und Reinhard König gewann er schließlich auch noch zwei Juristen für seine akademische Neugründung, die ihre entscheidenden Jahre in Marburg, Gießen und Herborn verbracht hatten75. Mit Stadthagen bzw. Rinteln ist aber keineswegs schon jener Kreis umgrenzt, der die seinerzeitige personelle und zugleich institutionelle Ausstrahlungskraft der akademischen Anstalten im Dreieck Marburg-Gießen-Herborn hinreichend beschriebe. Denn weserabwärts erlebte das 1584 eingerichtete Bremer Gymnasium Illustre im Jahre 1610 eine einschneidende institutionelle Erneuerung, wobei der bis 1607 in Herborn wirkende Philologe und Theologe Matthias Martinius die entscheidenden Akzente nach Herborner Vorbild setzte76. Mit ihm als neuem Rektor perpetuus, zugleich aber auch mit seinem hohen wissenschaftlichen Bekanntheitsgrad gelang es Martinius, das Bremer Gymnasium Illustre zu einer Anstalt mit einem hohen Maß an Attraktivität zu erheben. Daß auch die Bremer Hohe Schule über keine Privilegien verfügte, gereichte ihr nicht zum Schaden. Mit Stadthagen bzw. Rinteln, dann aber auch Bremen vergrößerte sich der Rahmen jener Anstalten, die nicht unwesentliche Impulse aus dem hessisch-nassauischen Kernraum erhielten, ganz entschieden in die nördliche Richtung. Es wirkt insofern durchaus nachvollziehbar, daß die Rin___________ 74

Abdruck in: Lucae, Europäischer Helicon, 513–515. Nachweise in: W. Hänsel (Bearb.), Catalogus Professorum Rintelensium. Die Professoren der Universität Rinteln und des akademischen Gymnasiums zu Stadthagen 1610–1810, Rinteln 1971. 76 Zu ihm bisher vornehmlich: Gerhard Menk, Kalvinismus und Pädagogik. Matthias Martinius (1572–1630) und der Einfluß der Herborner Hohen Schule auf Johann Amos Comenius, in: ders., Zwischen Kanzel und Katheder. 75

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telner Anstalt nach dem Aussterben der Schaumburger in das hessenkasselische Territorium überging und hier zu einer zweiten Landesuniversität avancierte. Fielen die Privilegierung der schaumburgischen Landesuniversität und ihre Verlagerung nach Rinteln schon in eine Zeit, der die Auseinandersetzungen um die böhmische Krone deutlich ihren Stempel aufdrückten, so wurden auch die Konturen der schließlich dreißig Jahre währenden kriegerischen Auseinandersetzungen auf bildungspolitischer Ebene vor ihrem Ausbruch deutlich. Denn der berühmte Militärtheoretiker Graf Johann VII. von Nassau-Siegen, ein Sohn des Herborner Hochschulgründers, eröffnete 1616 in seiner Residenzstadt an der Sieg eine Kriegsschule77. Sie knüpfte an jene Zeiten an, als Siegen bereits zweimal zwischen 1594 und 1601 und dann erneut zwischen 1606 und 1609 Hochschulstandort gewesen war78. Nach Beendigung der zweiten Auslagerung der nassauischen Hohen Schule an die Dill versuchte Johann VII. zumindest ein Pädagog in seiner Residenzstadt zu begründen79, doch scheiterte dies offenbar an den Finanzen. Um aber die Stadt an der Sieg nicht völlig von der Wissenschaft abzuschneiden, verfiel Johann schließlich auf die Idee, seine eigenen Neigungen und Kenntnisse in eine Schulgründung umzumünzen. Nicht zuletzt verfolgte er mit der Kriegsschule den Zweck, neue wirtschaftliche Impulse zu setzen. Allerdings blieb die Lebensdauer der Anstalt mehr als kurz bemessen, schloß sie doch schon wieder, kaum daß sie gegründet worden war. Ähnlich erging es einem anderen akademischen Unternehmen, das 1614 von Fürstbischof Dietrich von Fürstenberg ins Leben gerufen wurde: die Paderborner philosophisch-theologische Akademie80. Zwar wurde sie bereits 1615 sowohl von Kaiser wie Papst privilegiert, doch blieb sie mit ihrer ausschließlich auf die Philosophie und Theologie beschränkten Ausbildung ein Torso. Auch in anderer Hinsicht erwies sie sich als Paradebeispiel für den Ausnahmefall. Sie wurde nämlich von 1623 bis 1637 geschlossen. Allerdings gehörte sie nach ihrer Wiedereröffnung zu den ersten Anstalten, die mitten im Krieg den vollen ___________ 77

Zu ihr siehe: Gustav Droysen, Die erste Kriegsschule in Deutschland, in: Zeitschrift für deutsche Kulturgeschichte NF 4 (1865), 36–52; Max Jähns, Geschichte der Kriegswissenschaften, vornehmlich in Deutschland, 2. Bd., München 1890, 1021–1030; Bernhard Poten, Geschichte des Militär-Erziehungs- und Bildungswesens in den Landen deutscher Zunge, 2. Bd., Berlin 1891, 325–346; L. Plathner, Graf Johann von Nassau und die erste Kriegsschule, ein Beitrag zur Kenntnis des Kriegswesens um die Wende des 16. Jahrhunderts, Berlin 1913; Conrads, Ritterakademien in der frühen Neuzeit, 131–136. 78 Vgl. Gerhard Menk, Die universitäre Tradition Siegens in der frühen Neuzeit, in: Siegener Beiträge. Jahrbuch für regionale Geschichte 5 (2000), 43–68. 79 Dillenburger Räte an [Wilhelm Ludwig] zu Nassau, Dillenburg 9. IV. 1609 (HStAW 170 III 1609 Jan.-Juli, fol. 184–185; Konz.). 80 Vgl. Honselmann, Die Philosophisch-Theologische Akademie in Paderborn.

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Lehrbetrieb aufnahm81 – wenn denn unter den gegebenen Bedingungen zweier Fakultäten davon die Rede sein kann.

V. Die Neustrukturierung der Hochschullandschaft im Schatten des Dreißigjährigen Krieges und nach seinem Ende Führt schon das Schicksal der Paderborner Semiuniversität vor Augen, daß der einsetzende Krieg erheblich Konsequenzen für die meisten deutschen Territorialstaaten und ihre Universitäten hatte, so berührten die kriegerischen Auseinandersetzungen auch die Hochschullandschaft zwischen Main und Weser, und dies in besonderem Maße. Denn zeitgleich mit der Schließung Paderborns kündigte sich ein Ereignis an, das bereits in dem Antrag Landgraf Ludwigs V. für das Gießener Universitätsprivileg eine wichtige Rolle gespielt hatte: der Anfall Marburgs und des gesamten Oberhessen an die Darmstädter Linie des hessischen Hauses. Damit wurde zugleich der Weg für die Verlagerung der darmstädtischen Landesuniversität von Gießen nach Marburg frei. Während die „Academia Mauritiana“ mit ihrer kalvinistischen Programmatik von der Bildfläche verschwand, entstand zugleich am traditionellen Universitätsstandort jene prononciert lutherische Anstalt, die sie schon in Gießen gewesen war. Nun mußten selbstverständlich die reformierten Theologen ihren Platz in Marburg räumen. Immerhin zeigte sich ein eingeschränktes Maß an konfessioneller Toleranz darin, daß die Juristen bleiben konnten. Mit Hermann Vultejus zählte einer der großen alten Männer seiner Zunft zu den Begünstigten. Neu war ein solches Verhalten gegenüber Juristen nicht, denn auch in Rinteln war es unter anderen Umständen in Übung. Wenn man freilich in Darmstadt geglaubt haben sollte, mit der Übernahme Marburgs einen endgültigen Sieg erzielt zu haben, so sah man sich getäuscht. Denn es war abzusehen, daß man sich am Kasseler Hof mit seiner ausgeprägten Bildungstradition langfristig nicht damit zufrieden gab, ohne eigene akademische Bildungsinstitution dazustehen. Wenn eine solche Anstrengung unter Landgraf Moritz nicht möglich war, so hat sein Sohn Wilhelm V. nach seiner Regierungsübernahme den Versuch unternommen, den eingetretenen Verlust so rasch wie möglich wettzumachen. Die Ansätze für eine Neugründung reichen zwar in die späten 20er Jahre zurück, doch bedurfte es schon des politischen Zwischenhochs, den der deutsche Protestantismus nach 1633 erlebte, um

___________ 81 Vgl. hierzu: Joseph Freisen (Hrsg.), Die Matrikel der Universität Paderborn. Matricula Universitatis Theodorianae Padibornae 1637–1844, 2 Bde., Würzburg 1931– 1932.

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die Eröffnung einer hessen-kasselischen Hochschule zu bewerkstelligen82. Der Standort Kassel, den man als Sitz wählte, verfügte seinerzeit über den großen Vorteil einer gut befestigten Stadt. Ebenso wie alle anderen reformierten Akademien ist die Kasseler Hohe Schule ohne Privileg geblieben. Nur eine deutliche politische Annäherung der Kasseler Linie an das habsburgische Haus hätte Chancen hierzu eröffnet, doch stand sie fest im Lager der Habsburg-Gegner. Nach dem Tod Wilhelms V., der nur ein Jahrzehnt die Regierung führen konnte, hat seine Witwe Amalie Elisabeth den bisherigen Kurs bis zum Westfälischen Frieden fortgeführt. Die Kasseler Hohe Schule stellte ein Unikat in der deutschen Bildungslandschaft dar. Während nämlich allenthalben das Wissenschaftssystem nachhaltig unter den Folgen des Krieges litt, ja die reformierte Seite in besonderem Maße durch den Verlust Heidelbergs, dann auch kurze Zeit später den Übergang Marburgs an Hessen-Darmstadt und schließlich auch den allenthalben spürbaren schweren personellen Aderlaß in Form der Abwanderung zahlreicher Professoren ins Ausland geschädigt wurde83, zeigte man in Kassel einen fast schon verzweifelt zu nennenden Mut, um die alten wissenschaftlichen Traditionen des Territoriums wie der Stadt gleichermaßen aufleben zu lassen. Allerdings paßt diese Attitüde ganz ins Bild jener Politik, die Landgraf Wilhelm V. in der Nachfolge seines Vaters führte. War es schon ungewöhnlich genug, daß er seit Anfang der 30er Jahre Bündnisse mit den großen auswärtigen Mächten Schweden und Frankreich einging und damit eine politische Extremposition innerhalb der deutschen Territorien bezog84, so läßt sich ein Gleiches von seiner Bildungspolitik sagen. Mitten im tosenden Krieg und unter schwierigsten Umständen eine Institution ins Leben zu rufen, die unterhalten sein wollte, bedeutete ohne Frage einen achtunggebietenden Akt. Mit der Verlegung der hessen-darmstädtischen Anstalt nach Marburg, die 1625 in Form einer feierlichen Eröffnung im örtlichen Schloß vollzogen wurde, überdies der Gründung einer neuen hessen-kasselischen Landesuniversität in der Residenz an der Fulda, verlagerte sich der bisher im Dreieck MarburgHerborn-Gießen liegende Schwerpunkt des Hochschulsystems eindeutig nach Norden. Allerdings blieb diese Konstellation, die vom scharfen innerhessischen Gegensatz mit seinen überaus reiche Blüten treibenden Beiprodukten lebte, nur eine überschaubare Zeit erhalten. Was nämlich in der Ausnahmesituation des ___________ 82 Hierzu W. Falckenheiner (Hrsg.), Die Annalen und die Matrikel der Universität Kassel, in: ZHG NF 18 (1893), 190ff.; Inge Auerbach, Eine löbliche Hochschule, die gleich am Anfang wieder zergehen mußte, in: Prisma Nr. 32 (Juni 1984), 40ff. 83 Eine einschlägige Untersuchung zum wissenschaftlichen Exil, den der Dreißigjährige Krieg insbesondere auf kalvinistischer Seite nach sich zog, fehlt. 84 Zuletzt hierzu: Dieter Albrecht, Die Kriegs- und Friedensziele der deutschen Reichsstände, in: Krieg und Politik 1618–1648. Europäische Probleme und Perspektiven, hrsg. von K. Repgen unter Mitarbeit von E. Müller-Luckner, München 1988, 241ff.

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Krieges geboren worden war, fiel nach seinem Ende den neuen Verhältnissen mit der innerhessischen Einigung zum Opfer. Nachdem die Universitäten ohnehin zu Beginn der 40er Jahre aufzuleben begannen, ging wenige Jahre später auch die hessen-darmstädtische Zeit in Marburg zu Ende. Nun erfolgte die Rückverlagerung der Landesuniversität nach Gießen, so daß der Weg zur Schließung Kassels und zur Neueröffnung der hessen-kasselischen Landesuniversität an ihrem alten Standort Marburg frei wurde. Die Wiedergründung ist 1653 unter dem jugendlichen Landgrafen Wilhelm VI. erfolgt, wobei freilich der neue starke Mann in der Kasseler Verwaltung, der früher an den reformierten Hochschulen Sedan und Breda wirkende Jurist Johann Heinrich Dauber, daran einen maßgeblichen Anteil trug85. Der fervente Kalvinist Dauber war auch bestimmend dafür, daß die Marburger Anstalt ihren früheren kalvinistischen Anstrich wiedergewann. Vor allem auch die Ächtung des Cartesianismus trug dazu bei, daß Marburg mehr als manche andere Anstalt dem nach 1648 überkommen erscheinenden konfessionellen Geiste verpflichtet wurde. Wenn schon der Umzug der beiden hessischen Landesuniversitäten an ihren früheren Standort den Eindruck der Rückkehr zu den früheren Verhältnissen und damit einen konservativen Zug vermittelten, so galt dies auch für die gesamte universitäre Landschaft. Mit Ausnahme des Übergang der bisherigen schaumburgischen Anstalt an Hessen-Kassel blieb nämlich so gut wie alles beim Alten – oder kehrte dazu zurück. Immerhin konnte Hessen-Kassel seinen eigenen territorialen und zugleich auch universitären Einflußbereich bis an die Weser ausdehnen, indem Rinteln anfiel. Sein neuer Zweck bestand darin, die in Hessen-Kassel notwendigen lutherischen Pfarrer für Schaumburg und Oberhessen auszubilden. Mit diesem Anspruch hat Rinteln die Rolle des universitären Aschenputtels in Hessen-Kassel bis zu seiner Schließung 1810 nur höchst selten abschütteln können86. Noch deutlicher als nach dem dreißigjährigen Krieg wurde dies seit dem frühen 18. Jahrhundert, als Landgraf Carl das Collegium Carolinum begründete und damit die Stiftungstradition der hessenkasselischen Familie um eine weitere Nuance bereicherte87. Im späten 18. Jahrhundert, als Landgraf Friedrich II. die Kasseler Anstalt durch spektakuläre Berufungen wie diejenige Georg Forsters und Samuel Thomas von Soemmerings ___________ 85 Hierzu und zum folgenden: Gerhard Menk, Johann Heinrich Dauber. Der Erneuerer der Marburger Universität nach dem Dreißigjährigen Krieg, in: Jörg Jochen Berns (Hrsg.), Marburg-Bilder. Eine Ansichtssache, Bd. 1, Marburg 1995, 241–264; ders., „Omnis novitas periculosa“. Der frühe Cartesianismus an der Hohen Schule Herborn und (1649–1651) und die reformierte Geisteswelt nach dem Dreißigjährigen Krieg, in: K. Schaller (Hrsg.), Comenius. Erkennen – Glauben – Handeln, St. Augustin 1985, 135–163. 86 Schormann, Academia Ernestina; Menk, Die schaumburgische Hohe Schule. 87 Zum Collegium Carolinum vornehmlich: Theodor Hartwig, Mitteilungen aus der Geschichte des Collegium Carolinum in Kassel, in: ZHG 41 (NF 31) (1908), 69–96; eine der neueren Forschung angemessene Studie fehlt.

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weiter aufwertete, schien aber nicht nur die frühere Stellung Rintelns, sondern auch diejenige der Marburger Universität auf dem Spiel zu stehen. Daß die Zusammenführung Marburgs mit dem Carolinum scheiterte, bestätigt das hohe Maß an Beharrungskraft, das die universitäre Welt nach 1648 entwickelte. Dieser Eindruck findet sich auch darin bestätigt, daß es den reformierten Hochschulen im Bereich zwischen Main und Weser trotz der reichsrechtlichen Gleichstellung des Kalvinismus im Westfälischen Frieden nicht gelang, die Privilegierung zu erreichen. Wenn die Stadt Bremen einen solchen Versuch erst gar nicht unternahm, so wagten die Grafen von Nassau bereits im Herbst 1648 den ersten Vorstoß in Wien, um das nachzuholen, was vor dem Westfälischen Frieden nicht möglich war. Allerdings spielte man seinerzeit trotz aller grundsätzlicher Zustimmung am Kaiserhof auf Zeit88. Erst nachdem Kiel das Privileg zuerkannt worden war, eröffneten sich neue Perspektiven. Gleichwohl endeten die jetzt vornehmlich von dem alerten und weltgewandten Johann Moritz von Nassau-Siegen sowie seinem eher biederen Verwandten Ludwig Heinrich von Nassau-Dillenburg unternommenen Anstrengungen, der Herborner Anstalt neuen Glanz zu verleihen, ergebnislos. Dies lag inzwischen weniger am kaiserlichen Willen, sondern ausschließlich am dem eigenen finanziellen Unvermögen. Nicht unwesentlich für diesen Umstand wirkte sich freilich die Verlagerung der Verantwortung auf mehrere Linien aus, wobei der zwischenzeitliche Übergang Nassau-Hadamars zum Katholizismus sowie die Begründung einer katholischen Nassau-Siegener Linie die innerdynastische Einigkeit nachhaltig unterminierten. Insoweit kam es keineswegs überraschend, daß auch die nassauische Hohe Schule ihren unprivilegierten Status bis zum Ende ihrer Tage im frühen 19. Jahrhundert beibehielt. Nicht anders erging es ihrer hanauischen Schwester – und auch dabei spielten dynastische und konfessionelle Änderungen eine wesentliche Rolle. Denn nach dem Aussterben der reformierten Hanau-Münzenberger Linie fielen deren Lande an die lutherischen Hanau-Lichtenberger. Trotz aller Flausen, die Graf Friedrich Casimir nicht zuletzt im überseeischen Bereich im Kopfe führte89, ungeachtet auch der Extravanganzen, die er sich im konfessionellen Bereich leistete90, begann er sich nach 1668 intensiver um die Privilegierung der Hanauer Hohen Landesschule zu bemühen. Nach ersten Anstrengungen der Geldbeschaffung griff er 1670 zu einer Maßnahme, die man in Nassau weit vorher unternommen hatte und 1725 wiederholen sollte: die Einreichung eines förmli___________ 88

Zum folgenden eingehender: Menk, Hohe Schule Herborn, 92ff. Vgl. Ferdinand Hahnzog, Hanauisch-Indien einst und jetzt, Hanau 1959; zusammenfassend zum hanauischen Grafen: Friedrich Wilhelm Cuno, Friedrich Kasimir von Hanau-Münzenberg, in: ADB 23 (1886), 38–41. 90 Ebda. und: Paul Jung, Beiträge zur Kirchenpolitik des Grafen Friedrich Kasimir von Hanau, in: Hanauisches Magazin 6 (1927). 89

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chen Antrags in Wien91. In dem Schreiben Friedrich Casimirs heißt es einleitend, die Hanauer Grafen hätten in den beiden „Stätten Alt- und New-Hanaw vor Jahren eine Academi auffgerichtet und darzu ein solches Collegium, welches zu einer Universität appropriieret“ sei. In seinem Schreiben versichert der Hanauer Graf ausdrücklich, daß die „Academi sich in guetem Ufnehmen“ befände, ihr freilich bisher „allain die Authoritet oder die forma essensialis, daß es eine kayserliche Universitet seye und genennet werden möge“, ermangele. Dann bedient er sich allerdings einer Begründung für seinen Antrag, die vermutlich in Wien Stirnrunzeln auslöste, weil er vornehmlich wirtschaftliche Gründe für die Privilegierung ins Feld führte. Zwar sollte sie zuvorderst das „Studium litterarum“ verbessern, zugleich jedoch „beyde in grosses Abnehmen geratene und fast aller Nahrungs lose Stätt“ Alt und Neu- Hanau „wider ins Aufnemben“ gebracht werden. Dies war eindeutig die Sprache des Merkantilisten Johann Joachim Becher, der in den Diensten Friedrich Casimirs stand. Einer solchen Argumentation stand man in Wien skeptisch gegenüber. Zwar wandte sich Leopold I. im November 1670 an die hanauische Vormundschaft, um eine Präzisierung der bisherigen, angeblich spärlichen Angaben über Personen und Lehrumfang zu bitten92; als jede Antwort ausblieb, dürfte man in Wien sehr erleichtert darüber gewesen sein, daß das Hanauer Privileg nicht weiter verfolgt werden brauchte.

VI. Das protestantische Hochschulwesen im strukturellen und konfessionellen Kontext Wenn die Reformation im Latein- und niederen Schulwesen auf bereits bestehende Anstalten zurückgreifen konnte, diesen allerdings durch konfessionelle und vielfach auch institutionelle Impulse zu neuem Leben verhalf, verhielt es sich mit den Hochschulen ganz anders. Denn hier bedurfte es im bis zum frühen 16. Jahrhundert völlig universitätsfreien Raum zwischen Main und Weser umfangreicher landesherrlicher Initiativen, um innerhalb eines Jahrhunderts eine völlig neue, vergleichsweise dichte Hochschullandschaft zu schaffen. Dabei kamen zumindest auf die protestantischen Landesherrn und Städte keine allzu großen finanziellen Lasten zu, weil sie die Fundierung auf säkularisiertem Klostergut gründeten und weniger – wie im Schulwesen üblich – die jeweiligen Kommunen an den Lasten beteiligten. Der Rückgriff auf das säkularisierte ___________ 91 Graf Friedrich Casimir von Hanau an Kaiser Leopold I., präs. 22. September 1670 (HHStAW Antiqua 26 Nr. 2); dieses Gesuch ist der bisherigen Forschung unbekannt geblieben, da es sich nicht im Bestand „Confirmationes privilegiorum“ des Reichshofrats befindet. 92 Leopold I. an die Hanauische Vormundschaft, Wien 6. November 1670 (Kop. in: HHStAW Antiqua 26 Nr. 2).

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Klostergut war Bedingung dafür, daß die Hochschulen ausschließlich als landesherrliche bzw. in Bremen als städtische Anstalten entstanden und dies auch blieben. Es erscheint selbst unter diesen besonderen Bedingungen bemerkenswert, daß innerhalb nur eines Jahrhunderts, nämlich zwischen 1527 und 1610, im Raum zwischen Weser und Main mit Marburg, Würzburg, Herborn, Gießen, Hanau, Paderborn, Rinteln und Bremen gleich acht universitäre oder doch auf universitärem Standard stehende Anstalten gegründet wurden. Rechnet man noch das Collegium Mauritianum und die 1616 gegründete Siegener Militärschule hinzu, sind es sogar zehn Institutionen, die eingerichtet wurden. Auf diese Weise entsteht der Eindruck einer höchst lebendigen, vornehmlich vom Protestantismus geprägten Bildungslandschaft. Mit Marburg, t und t verfügte sie nach 1605 über einen verdichteten Kern, der immerhin drei Anstalten aufwies. Lenkt man den Blick auf die konfessionelle Seite, so vermittelt sich der Eindruck einer äußersten Farbigkeit. Denn innerhalb des protestantischen Spektrums lassen sich eigentlich alle überhaupt vorstellbare Nuancen erkennen. Von der Mitte der 70er Jahre ab war mit Würzburg, das allerdings eine deutliche Randlage aufwies, eine erste katholische Anstalt vertreten, der nach dem Jahrhundertwechsel in Paderborn eine zweite, aber nicht voll ausgebildete Institution folgte. Mit dem Jesuitengymnasium im Fulda und dann den 1624 in Siegen und wenige Jahre später von Graf Johann Ludwig in Hadamar gegründeten Jesuitenschulen kamen weitere katholische Anstalten unterhalb der universitären Ebene hinzu93, so daß die Gegenreformation auch auf Bildungsebene bestens greifbar wird. Denn sie veränderten die bisher deutlich dominierende protestantische Note. Der katholische Farbtupfer verstärkte sich noch weiter, als Fulda in den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts eine katholische Universität mit päpstlichen Privilegien erhielt94. Gerade auch unter Berücksichtigung dieser nicht unerheblichen Veränderungen des konfessionellen Spektrums läßt sich festhalten, daß keine andere Epoche als die des Konfessionalismus eine solch nachhaltige Wirkung auf das Hochschulwesen zwischen Main und Weser hatte. Wenn von dem Gründungsimpetus zwischen 1527 bis 1610 ganz überwiegend die protestantische Seite profitierte, so holte die katholische Seite in der Folgezeit verlorenes Terrain auf, wobei die Jesuiten einen wichtigen Beitrag leisteten. Das Haus Nassau, zuzeiten Johanns VI. in vielem der Vorreiter eines hoch entwickelten kalvinisti___________ 93 Zum Siegener Jesuitengymnasium und seinen konfessionellen Hintergründen siehe: Gerhard Specht, Johann VIII. von Nassau-Siegen und die katholische Restauration in der Grafschaft Siegen, Paderborn 1964. 94 Zu ihr siehe: Rainer Polley, Die Adolphsuniversität in Fulda 1734–1805, Marburg 1984; zu ihrer intellektuellen Einbettung näher: Gerhard Menk, Das frühneuzeitliche Bildungswesen im heutigen Hessen.

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schen Bildungsprogramms, mit dem andere Nachteile aufgefangen werden sollten, rückte nunmehr auf katholischer Seite erneut in die vorderste Front der gegenreformatorischen Neuerer. Daß in einzelnen Fällen nicht nur die ganze Breite des Raumes, sondern auch mehrerer konfessioneller Spielarten genutzt wurde, unterstreicht beispielhaft der Ausbildungsweg Johann Crolls des Jüngeren. Es handelte sich dabei um den Sohn des gleichnamigen Konvertiten, der im rheinischen Altenkirchen geboren wurde und zuerst einmal ab 1604 die Herborner Hohe Schule besuchte95. Als Johann Croll d. Ä. aber noch im gleichen Jahr konvertierte und nach Koblenz zog, brachte er ihn alsbald im Fuldaer Jesuitenkolleg unter, wo er seine Ausbildung beendete. War die Zeit des Konfessionalismus von einer auffälligen Betriebsamkeit, vielleicht geradezu von Hektik gezeichnet, indem der Aufruf Luthers zur Gründung von Schulen und letztlich auch auf Hochschulebene besonderen Anklang fand, so beruhigte sich das Bild nach der Rückkehr der hessendarmstädtischen Universität nach Gießen und der Restituierung Marburgs 1653 zusehends. Da man auch in wissenschaftlicher Hinsicht sowohl in Marburg wie in Herborn, in Rinteln wie Gießen deutlich an die Vorkriegszeit anknüpfte, überdies der Rechtsstatus der kalvinistischen Anstalten trotz nachhaltiger Bemühungen der Landesherren keine Änderung mehr erfuhr, stellt sich jetzt ganz eindeutig der Eindruck der Beharrung, ja vielleicht sogar bis zu einem gewissen Maß der intellektuellen wie institutionellen Erstarrung ein. Zwar lassen sich unter dem Eindruck des Pietismus Ansätze zur Änderung der Lehrform wie der institutionellen Verhältnisse festhalten, doch sind sie jenseits der Universität Gießen96 nur noch in der Grafschaft Waldeck zu fassen97. Es spricht für sich, daß – ganz im Gegensatz zum brandenburgischen Halle – keinerlei hochschulähnliche Neugründungen von Bedeutung im vorgezeichneten regionalen Rahmen zu registrieren sind. Denn das 1709 gegründete Kasseler Carolinum verfügte über einen gänzlich anderen als einen pietistischen Hintergrund – und selbstverständlich galt dies auch für die Fuldaer Universität. Eine der späten Hochschulgründungen sui generis ist zur Mitte des 18. Jahrhunderts in Hanau zu verzeichnen. Hier versuchte sich mit Johann Jacob Moser einer der großen Repräsentanten des Reichsstaatsrechts in der Begründung einer Staats- und ___________ 95 Vgl. Gerhard Menk, Konfessionelle Haltung im Konflikt. Eine Fallstudie am Beispiel des Pfarrers Johann Croll, in: ders., Zwischen Kanzel und Katheder. 96 Hierzu vor allem: Walter Köhler, Die Anfänge des Pietismus zu Gießen 1689 bis 1695, in: Die Universität Gießen von 1607 bis 1907. Beiträge zu ihrer Geschichte, Bd. 2, Gießen 1907, 136ff; Rüdiger Mack, Pietismus und Frühaufklärung der Universität Gießen und in Hessen-Darmstadt, Gießen 1984. 97 Vgl. hierzu: Gerhard Menk, Martinus Michael als Rektor des Korbacher Gymnasiums (1681–1684). Ein Beitrag zur Pädagogik und zum Organisationsgrad des frühen Pietismus, in: ders., Zwischen Kanzel und Katheder; eine in Flechtdorf geplante Gründung eines pietistischen Seminars scheitert allerdings.

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Kanzleiakademie98. Allerdings scheiterte diese institutionelle Sonderform recht rasch, indem ihre Existenz auf die Jahre zwischen 1749 und 1751 begrenzt blieb. Selbst wenn die tradierten universitären Formen sich längst nicht mehr als das Nonplusultra der Ausbildung erwiesen, so wurde der Ausbruch aus den Traditionen und der Versuch zur Spezialisierung keineswegs immer belohnt. Anders verhielt es sich mit den Gründungen des konfessionellen Zeitalters und den hochrangigen Gelehrten, die sie hervorbrachten. Wenn schon die Universität Marburg seit ihrer Gründung bis weit in das frühe 17. Jahrhundert hinein eine Wirkung entfaltet hatte, die nicht nur die Herborner Theologen 1604 ins Schwärmen geraten ließ99, so galt dies kaum minder für die Herborner Akademie und die Gießener Ludoviciana mit ihren zahlreichen professoralen Schwergewichten in Theologie und Jurisprudenz, Philosophie und Philologie. Bremen konnte immerhin bis weit in den 30jährigen Krieg hinein vom Ruf eines Matthias Martinius profitieren. Die große wissenschaftliche Blütephase der Gründungen des konfessionellen Zeitalters endete nicht ganz mit dem konfessionellen Zeitalter, selbst wenn nach 1648 eher Stillstand denn Neuorientierung eintrat. Nur die älteste der akademischen Anstalten, das hessen-kasselische Marburg, machte zuzeiten Christian Wolffs zwischen 1723 und 1740 auch im Hinblick auf die Attraktivität für die Studentenschaft eine heraushebenswerte Ausnahme100. Das Erstaunliche daran ist freilich, daß Wolff in manchem, wenn nicht vielem an den Herborner Enzyklopäden Johann Heinrich Alsted anknüpfte101. Er hatte zwar ein Jahrhundert vor ihm gelebt und gelehrt, nahm aber auch noch zu Wolffs Zeit einen so hohen wissenschaftlichen Rang ein, daß seine Werke keineswegs nur im europäischen Raum, sondern lange noch in den nordamerikanischen Kolonien als „North-West-Passage of Sciences“ gerühmt wurden102. Dies macht schlagartig deutlich, daß die während des konfessionellen Zeitalters gegründeten Hochschulen des Main-Weser-Raumes keineswegs nur von kurzfristiger Bedeutung für die moderne Wissenschaft waren, sondern eine „longue durée“ entwickelten. ___________ 98 Zu ihrem Zweck siehe: Johann Jacob Moser, Wiederhohlte Nachricht von einer Staats- und Cantzley Academie, oder einer näheren Anleit- und Zubereitung junger von Universitäten oder Reisen kommenden Printzen, Hanau 1749 (und weitere Drucke); zur Akademie bisher vor allem: Rudolf Berges, Die Hanauer Staats- und Kanzleiakademie von Johann Jacob Moser in den Jahren 1749–1751, in: Hanauer Anzeiger 1943 September 15 und 16; eine angemessene Darstellung fehlt. 99 Gutachten der Herborner Theologen vom 6. Januar 1605 in: HStAW 171 H 1875. 100 Künftig hierzu: Gerald Soliday, Die Marburger Studentenschaft und die Bildungspolitik im 18. Jahrhundert. 101 Kurzfassung eines auszubauenden Konzeptes in: Gerhard Menk, Deutsche Aufklärung und westeuropäische Wissenschaftstheorie. Christian Wolff und der Ramismus, in: Alma Mater Philippina SS 1979, 25–28. 102 Cotton Mather, Directions for a Candidate of the Ministry, Boston 1726, 33.

Politics, the City and the Popular Drinking House in Early Modern Europe1 Peter Clark Popular drinking houses – whether called alehouses, tippling houses, cabarets, taverne, buschenwirte, or fratschler – posed many problems for the authorities in the early modern period. Preaching to the Long Parliament in London in the 1640s Henry Wilkinson declared that: “Alehouses generally are the Devil’s castles, the meetings place of malignants and sectaries”. In France the abbé Reguis denounced the “miserable cabaretiers who are the loss and ruin of our parishes”. But it was not just the political danger and social damage such premises caused that agitated magistrates. As we shall see their numbers, activities, relationship to communal space, and problems of regulation absorbed a great deal of civic attention. At Dachau in Germany, for instance, such issues constituted 20 per cent of council business in the mid-17th century.2 Popular drinking houses have been discussed in the debate over social discipline in the 16th and 17th centuries. They have also attracted attention from cultural historians.3 However in general, systematic research on the subject has made slow progress, though in the last few years there has been a wave of new research including work by literary scholars.4 ___________ 1 At this time I would like to recall my long and warm friendship with Heinz Schilling (and Ursula!) dating back to 1978, with memories of shared family lunches in France, Spain and Germany when our children were young, of excellent teaching and research collaboration, and of swimming together in a pool at Göttingen (without caps!). 2 H. Wilkinson, Miranda, Stupenda, London 1646, 26; Jean Nicolas, Le Tavernier, Le Juge et Le Cure, in: L'Histoire 25 (July-August, 1980), 25; Beat Kümin, Drink and Design: The Social Construction of Early Modern Public Houses (forthcoming). I am very grateful to Dr. Kümin for allowing me to read the typescript of his major book. 3 E.g., K. Wrightson, Alehouses, order and reformation, in E. and S. Yeo (eds.), Popular Culture and Class Conflict 1590–1914, Hassocks 1981; Peter Burke, Popular Culture in Early Modern Europe, London 1978, 108–11. 4 For the older literature see for instance Peter Clark, The English Alehouse: A Social History 1200–1830, London 1983; A. Simon, The History of the Wine Trade, London 1964; Thomas Brennan, Public Drinking and Popular Culture in Eighteenth Century Paris, Princeton 1988. For recent works see B. Kümin/B. Ann Tlusty (eds.), The World of the Tavern, Aldershot 2002; B. Ann Tlusty, Bacchus and the Civic Order: The Culture of Drink in Early Modern Germany, Charlottesville, VA 2001; Kümin, Drink and Design (forthcoming); also the articles by Beat Kümin and Tom Brennan in: Drinking and

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In this essay on popular drinking houses I want to draw on past and recent work to reflect and link together several of those major interests in Heinz Schilling’s distinguished research career – politics, the city, and social regulation. I will look first at the reasons why drinking houses caused such concern to city rulers, and will then go on to examine changing patterns of official regulation, and the advent of a new policy regime towards the end of our period. Much of my data and argumentation comes from the cities and towns of England that I know best, but I have included a tentative comparative perspective on other urban centres in Europe. Some of the evidence relates to the wider spectrum of drinking establishments, but here I have tried to focus the analysis away from the bigger, respectable inns, auberges and taverns, which were often located in large premises on the main streets of town, which serviced the expanding needs of merchants, landowners, farmers and respectable citizenry and which were often closely linked to urban government, and instead more towards the small popular premises kept in back rooms or cellars and which had a very different profile, at least in the 16th and 17th centuries.5 What alarmed city rulers about popular drinking houses in the 16th and 17th centuries was their large and growing numbers. Already in the 1520s, before Rome’s renaissance as the capital of the Counter-Reformation, the city had several hundred alberghi, osterie and taverne, or one for every 233 inhabitants. At Antwerp in 1584 we find 376 public houses or one for every 32 houses. The biggest cities had the highest density of houses. For instance, in some districts of London before the Civil War there was one licensed drinking house for every 16 houses. A visitor to Lyon in 1664 claimed that in almost every house one found a cabaret.6 Indicative of the increasing numbers, at the provincial town of Shrewsbury, on the borders with Wales, the incidence of drinking houses more than trebled between the 1560s and 1620s, well ahead of the rate of population increase. At Dijon in France the number of drink traders nearly ___________ Public Place, Contemporary Drug Problems 32 (1) (Spring 2005); Suzanne Rau/Gerd Schwerhoff (eds.), Zwischen Gotteshaus und Taverne, Köln 2004; Suzanne Rau/Gerd Schwerhoff, Frühneutzeitliche Gasthaus-Geschichten zwischen Stigmatisierenden Fremdzuschreibungen und Fragmentieren Geltungserzählungen, in: Gert Melville/Hans Vorländer (eds.), Geltungsgeschichten, Köln 2002, 181–201; Gunther Hirschfelder, Alkoholkonsum am Beginn des Industriezeitalters (1700–1850), Köln 2003. For literary scholarship see, for instance, Adam Smyth (ed.), A Pleasing Sinne: Drink and Conviviality in Seventeenth-Century England (Studies in Renaissance Literature), Cambridge 2004. 5 By comparison see the studies by Tlusty, Bacchus and the Civic Order, and John Chartres, The Eighteenth-Century English Inn, in: Kümin/Tlusty (eds.), The World of the Tavern, 205–26 which are primarily concerned with respectable establishments. 6 Jean Delumean, Vie Economique et Sociale de Rome, Paris 1957, vol. 1, 142; Hugo Soly, Kroeglopen in Brabant en Vlaanderen, in: Spiegel Historiae 18 (1983), 570; Clark, English Alehouse, 49; R. Dion, Histoire de la Vigne et du Vin en France, Paris 1959, 473.

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doubled between 1643 and 1750. In Moscow drink houses likewise multiplied in the 17th century.7 By 1700 new popular drinking premises were increasingly widespread: kabaki, kruzhechnyi dvory and other vodka shops in Eastern Europe, brandy shops and ginshops in Western Europe.8 How do we explain this apparent growth of drinking houses in cities – fuelling the nightmares of political leaders. Clearly one was general urban population expansion from the 16th century into the 17th century; for the big metropolitan centres this trend continued into the 18th century.9 But more than increased demographic demand had an impact, for as we have noted the increase of drinking premises often ran ahead of urbanisation. Supply factors were clearly at work. The increase of drinking houses was part of a general growth of the service sector in European towns from the later Middle Ages as urban economies became more sophisticated and as urban industries suffered growing competition, particularly from the countryside.10 A second factor was the changing structure of the drink trade. Domestic production of drink (particularly of beer) seems to have been in decline among ordinary people (probably due to falling living standards). At the same time, in Northern Europe (slowly spreading southward) there was an important growth of wholesale brewing, associated with the greater capital and equipment needed for brewing with hops to make beer – increasingly in vogue from the 15th century as old-style ale production declined.11 Wholesale brewers, engaged in a competitive trade, sold to drinking houses on credit and may have actually encouraged retailers to set up in retailing, in order to boost their own market share.12 Also encouraging the retail trade was the fact was it was fairly easy to enter, requiring few skills and little capital, with many traders simply using part of their home as a boozing room. Many poor alehouses were kept in tenements, often on town outskirts, or as at Chester in 1605 in “cellars and private chambers”; customers sat on a bench or at the household table. At the same time, the profit margin (both for beer and wine sales) was fairly high. It was thus an attractive option for the ___________ 7 Clark, English Alehouse, 47; Philip Benedict (ed.), Cities and Social Change in Early Modern France, London 1989, 139; R.E.F. Smith/D. Christian, Bread and Salt, Cambridge 1984, 142. 8 George E. Snow, Drink Houses in Early Modern Russia, in: Kümin/Tlusty (eds.), The World of the Tavern, 196–204; Peter Clark, The ‘Mother Gin’ Controversy in the Early 18th Century, in: Transactions of the Royal Historical Society, fifth series, 38 (1988), 63–84. 9 Jan de Vries, European Urbanization 1500–1800, London, 1984, 28–35. 10 See Peter Clark, The European City 400–2000, Oxford, forthcoming. 11 R. W. Unger, Beer in the Middle Ages and Renaissance, Philadelphia 2004, 74– 106, 143–94. 12 Unger, Beer, 219; Clark, English Alehouse, 82, 86.

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growing numbers of poor people in town, including many poor women and widows, who were trying to earn enough to avoid destitution. Demand factors were also significant. Drinking houses retailed drink, food (usually) and accommodation (often). In a world where water was scarce and (for ordinary townspeople) increasingly polluted and where other refreshments such as milk were too often contaminated, alcoholic beverages were as much the staff of life as bread. But many drinking houses also provided meals. While large inns and taverns might offer elaborate dinners to better off guests, poor victuallers often sold no more than a cheap snack such as bread and cheese. Still for the growing number of poor people on the road tramping to town such food, if they could afford it, was essential to keep them going. Accommodation in popular drinking houses was also rudimentary, often no more than a sleeping place on the floor, on a table, or in a shared bed with a servant or the landlord and his wife. For many subsistence migrants to town, driven by economic deprivation in the countryside, the drinking house provided them with their first place of refuge in the harsh uncertain world of the town or city.13 In London in the 17th century there may have been 10,000 migrants per year pouring into the city; even in smaller towns the gross inflow of newcomers was high.14 For migrants as well as local people drinking houses might offer credit, even loans, news about finding a job. For French journeymen or compagnons on the Tour de France cabarets in cities offered stop over places to get relief and a new ticket for their travels. Single men away from home might go there to meet a prostitute or other woman and have sex. Here too victuallers often resold small quantities of foodstuffs which they had bought at market or directly from farmers. In this way alehouses and the like functioned as a corner shop for an urban neighbourhood.15 They also serviced in other ways as a neighbourhood centre, a focus for neighbourly sociability and solidarity, for games and entertainments, and rites de passage. Many tavern customers in 18th century Paris drank with someone who resided less than two or three streets away. Alehouse customers in English towns often included a high proportion of young servants or journeymen, going there to escape the controls of their master.16 But outsiders also participated in this social world. Sociability at the drinking house was not static but a process, ___________ 13 M. J. Groombridge (ed.), Calendar of City Council Minutes 1603–1642 (Lancs. and Cheshire Record Society), 106 (1956), 200–1; Kümin, Drink and Design (forthcoming); Clark, English Alehouse, 97–8; Daniel Roche (ed.), La Ville Promise, Paris 2000, discusses the role of drinking houses and lodging houses receiving migrants to Paris. 14 Jeremy Boulton, London 1540–1700, in: Peter Clark (ed.), Cambridge Urban History of Britain: vol. II , Cambridge 2000, 317–18; Philip Benedict (ed.), Cities and Social Change in Early Modern France, London 1989, 13–15, 14. 15 Nicolas, Le Tavernier, 25; see Kümin, Drink and Design. 16 Brennan, Public Drinking, 226–7, 245–6; Clark, English Alehouse, 125–7.

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constantly shaped and defined in relation to the ebb and flow of migrants coming to town, serving to integrate them into the urban social world. Essential for neighbourhood sociability and informal conviviality was of course heavy boozing, often ritualised with the drinking of healths in a particular order. Toasts of this kind not only articulated mutual solidarity but gave recognition to the participants in neighbourly society. Drinking was often accompanied by singing, gambling and games. Traditional songs often on sexual themes celebrated male fellowship and solidarity, and lampooned women and other outsiders. Richard Steele confessed that Englishmen “seldom begin to sing until they are drunk”, but once singing “it was not uncommon for half a dozen good voices to fire off song after song the night through”.17 Customers gambled both for drink and money, participating in a great variety of card and other games. In late medieval Paris “gambling was in fact inseparable from tavern life” and gaming was widespread in German taverns. Games of chance at the English alehouse included guilebones or ten bones, noddy board, penny prick, shovehappeny or slide thrust, fox mine host, tick tack, milking cromock, bowls, nine and ten holes, mum chance, cross amd pile, hide under the hat and marbles. If indoor games increased in number, many neighbourly and communal games also took place around the drinking house – among them bowls, cricket, and football. The association of these activities with the drinking house reflected how in both Protestant and Counter-Reformation cities the parish church and its churchyard, where many neighbourly activities had traditionally taken place, were now increasingly regulated and controlled by the authorities.18 Many of these activities and functions of drinking houses – not just their numbers – caused town magistrates and state authorities growing anxiety: the ease with which outsiders could set up in the trade, undermining the position of freemen and town guilds; the large amounts of grain used for brewing, aggravating high prices; the help given to poor migrants, despite the efforts of the authorities to control the poor influx into cities; the availability of prostitutes and risk of debauchery and illicit sex there, the involvement of drink retailers in breaking market regulations, buying and selling foodstuffs; the tendency for poorer customers to waste their meagre money on getting drunk, often running up debts, ___________ 17 John Harley, Music in Purcell's London, London 1968, 141; see also W. Gardiner, Music and Friends: III, London 1853, 52. 18 Bronislaw Geremek, The Margins of Society in Late Medieval Paris, Cambridge 1987, 280 et seq.; Kümin, Drink and Design (forthcoming); Clark, English Alehouse, 151–3; Robert Malcolmson, Popular Recreation in English society 1700–1850, Cambridge 1973, 71–4; R. Muchembled, Culture Populaire et Cultures des Élites dans la France Moderne, Paris 1978, 194–97; C. Hill, Society and Puritanism in Prerevolutionary England, London 1964; Heinz Schilling, Civic Calvinism, Kirksville 1991, especially chapter 2; for a more general discussion of confessionalisation and state formation see Heinz Schilling, Religion, Political Culture and the Emergence of Early Modern Society, Leiden 1992, chapters 5–6.

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and so driving their families to destitution. A Bernese ordinance of 1530 complained that many men were “constantly in public houses, uselessly wasting all possessions even though their wives and children faced starvation at home”. At Hadleigh, a market town in Essex, a poor man confessed he had wasted several pounds at an unlicensed alehouse and owed the landlord 20 shillings “on the score” [credit] for “black pots of beer”; after drinking there the man had beaten his wife and nearly killed a neighbour when he intervened.19 As this last case illustrates, drinking houses posed or were seen to pose, wider risks to public order. Crime was frequently hatched in drinking houses, with customers going into the community to steal or rob, and frequently trying to sell the stolen property to the landlord or other clients. At Manchester the many alehouses were said to be “very nurseries of all malefactors and harbours for all lewd and evil disposed persons”. In France cabarets and taverns were heavily involved in illegal contraband trades in salt, tobacco and leather. Across Western Europe Beat Kümin has estimated that between a fifth and a third of all offences dealt with by the ecclesiastical and secular courts in the 16th and 17th centuries had an explicit link to drinking houses.20 As 16th century woodcut prints often depicted, heavy drinking led frequently to drunkenness and disorder. At Bishop’s Stortford near Cambridge customers were playing at shovelboard in the alehouse, when there was a dispute over the tokens used; one player left but returned with a knife and killed another of the group. Sometimes as here violence was contained within the public house, the landlord or his family often being the prime targets, but on other occasions fighting customers tumbled out into the street or clashed with local constables. At Leicester magistrates reported that the outskirts had many obscure unlicensed houses “where great and many disorders are daily committed”.21 Even more worrying for the authorities was the way that seditious discussion might erupt at the drinking house, triggered frequently by news brought by travellers. Already in the medieval era, as Jacques le Goff noted, drinking houses were “an essential node for communication”. News, legends, myths circulated there. Before and after the Reformation criticism of the Church and of___________ 19 Kümin, Drink and Design (forthcoming); W. Addison, Essex Heyday, London 1949, 164. 20 Huntington Library, California, Ellesmere Ms. 6297; Nicolas, Le Tavernier, 26; Kümin, Drink and Design (forthcoming). 21 Kümin, Drink and Design (forthcoming); Alison Stewart, Taverns in German Prints at the Time of the German Reformation, in: Kümin/Tlusty (eds.), The World of the Tavern, 97–115, stresses the complexity of the moral messages in the prints. J. S. Cockburn, Calendar of Assize Records of Hertfordshire: Indictments James I, London 1975, 163; H. Stocks/W. H. Stevenson (eds.), Records of the Borough of Leicester: IV, Cambridge 1923, 259.

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ficial policies frequently took place at drinking houses. Bob Scribner remarked that “the most common place for discussions about religion was the inn”. In England on the eve of the English Revolution it was said “religion is now become the common discourse in every tavern and alehouse”. Secular rulers were also vulnerable to debate. “Do you want to hear bald talk about great lords, princes and powerful men? Just go to a tavern”, Guarinonius reported in 1610. Not long before the calling of Parliament in 1639 there was much critical comment in London drinking houses about Charles I and his policies in Scotland.22 Most talk and criticism at the drinking house never went very far, but sometimes it could lead to more serious trouble. During the German Peasants War in 1524–5 concrete plans were hatched at taverns and in the next decade an enclosure riot at York was apparently organised at a local alehouse. In the peasants war in Switzerland in 1653 public houses sometimes served as rebel meeting places. In the 17th century seditious books were kept and sometimes their printing organised at London alehouses.23 For the market town of Eccleshall in the Midlands we have detailed evidence from the 1590s about the alehousekeeper Thomas Jackson who allegedly “very lately sowed sedition among the soldiers very like to breed a mutiny” – probably these were troops en route to Chester and so to Ireland to suppress the Irish rebellion; at Chester there were several mutinies. As well as stirring up discontent in his house, Jackson was also accused of leading three minstrels and a crowd of a hundred in disturbances against the local vicar over tithe, and also denouncing him in church.24 Of course, it would be wrong to overstate the radical threat of the popular drinking houses. As I have argued elsewhere there were important structural reasons – such as the high turnover of drinking houses, the weak status of landlords, the indigence of many customers – which prevented them ever emerging as the headquarters of an alternative political order. Moreover, magistrates were anxious not just about drinking houses. Other political spaces existed during the 16th and 17th centuries which caused concern to the authorities: public squares and market places, craft halls, townhalls, town gates and churches. ___________ 22 Jacques le Goff, La Civilisation de l'Occident Médiévale, Paris 1972, 385–6; R.Scribner, Popular Culture and Popular Movements in Reformation Germany, London 1987, 57–8; Christopher Hill, The World Turned Upside Down, London 1972, 159; Guarinonius cited in: Kümin, Drink and Design (forthcoming); Calendar of State Papers Domestic, 1639, 43–4. 23 For evidence on the German peasants revolt and Swiss peasant war see Kümin, Drink and Design; A. Raine (ed.), York Civic Records: IV, in: Yorkshire Archaeological Society 108 (1943), 2–3; T. Birch (ed.), A Collection of the State Papers of John Thurloe: III, London 1742, 738; Calendar of State Papers Domestic 1683 July-Sept., 340. 24 S.A.H. Burne (ed.), Staffordshire Quarter Session Rolls: IV (William Salt Archaeological Society, 1936), 132–3, 331.

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However there are strong indications that such essentially public sites, whether outdoor or indoor, were increasingly regulated and controlled.25 What was particularly worrying about the drinking house was the way that it created a different type of political space in towns. Firstly, although it had political functions and various kinds of public, especially neighbourhood, activity took place there, it was run as a commercial business by a private landlord. It thus combined public and private functions in a new kind of mixed social space. However, no less worrying for ruling elites in the 16th and 17th centuries was the way that this kind of spatial ambiguity had another dimension – the way that many of the activities of the drinking house overlapped with the communal space of the street. Drinking, customers, gossip, games, entertainment, disorder and dissent (as in the Eccleshall case) all oscillated between drinking house and street and back. During the 16th and 17th centuries town rulers and preachers responded to the problems posed by drinking houses with a flurry of general denunciations. In the 1520s Nuremberg magistrates warned residents from visiting drinking houses and engaging in drinking and other activities there. At Florence in the 1580s preachers railed daily against the drinking houses, asserting they were “the ruin of our young men and boys”. In Germany in the 17th century magistrates condemned such places as leading to defamation and disorder, their landlords being godless and suspicious.26 Controls on drinking houses and their landlords piled up. Detailed surveys were made as at Zurich in 1530, in various English towns and counties in 1577, in Bavaria in 1580. French city representatives in the States-general in 1576 called for a reduction in the number of cabarets and taverns and the breaking of links with drink suppliers. Everywhere there was a growing stress on traders needing licenses and permits. A series of measures were enacted by the English Parliament under James I against illicit houses, drunkenness, Sunday opening and disorder in drinking houses. Action against drinking houses was frequently draconian.27 All the main religious confessions were engaged in campaigns to exert controls over drinking houses. At ___________ 25 Peter Clark, The Alehouse and the Alternative Society, in: Puritans and Revolutionaries: Essays in Seventeenth-Century History Presented to Christopher Hill, ed. by Donald Pennington/Keith Thomas, Oxford 1978, 47–72. For interesting discussions of other political sites see the papers given at the conference on Political Space (University of Warwick, 3–6 November 2005): http://www2.warwick.ac.uk/fac/arts/history/ researchcentres/socialsites/newsevents/socialsites/polspace/; Michael Reed, The Urban Landscape 1540–1700, in: Clark (ed.), Cambridge Urban History of Britain: II, 306–7. 26 Stewart, Taverns, 99; R.F.E. Weissman, Ritual Brotherhood in Renaissance Florence, New York 1982, 203; M. Frank, Satan’s Servant or Authorities Agent?, in: Kümin/Tlusty (eds.), The World of the Tavern, 13. 27 Kümin, Drink and Design; Clark, English Alehouse, 41–3; Dion, Histoire, 497; Judith Hunter, English Inns, Taverns, Alehouses and Brandyshops: the Legislative Framework, in: Kümin/Tlusty (eds.), The World of the Tavern, 68–9.

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Arras there was action in 1550 against young men and women going to the cabaret to drink and socialise during divine service. At Southampton in 1624 24 unlicensed traders were indicted including a tailor, 4 labourers and several others in poor trades, plus 8 widows; most of the men were fined and imprisoned.28 Examples of repressive action are innumerable. However such interventions tended to be sporadic and ineffectual. Waves of repression usually occurred at times of crisis when local rulers felt most threatened by the social and political problems associated with drinking premises. Subsequently the number of premises recovered quickly. In Wapping in East London in the bad harvest year 1630 26 out of 52 premises were suppressed but within three years the number had risen again to 37. One reason was that despite some increase in civic government tight controls were difficult to maintain over growing urban populations. Sir Robert Johnson complained how only one day was appointed for licensing drinking houses in a large area of London. Anyone turning up with an old license had it renewed, but many others also came along and got a license so that “the multitude [of alehouses] does become monstrous”. Corruption by local officials also played its part.29 No less important drinking houses, as we know, provided important economic and social functions, and however much the authorities feared such places they saw their significance in helping communities and ordinary people, residents and newcomers, to function in an urbanising world. Time and again magistrates recognised that aleselling gave deserving poor people, widows in particular, an opportunity to escape starvation or costly dependence on official relief.30 If earlier urban policy towards the popular drinking house was reactive, sometimes paranoid, often inconsistent, from the late 17th century however there are signs of a new regulatory framework starting to evolve, which was not only more effective in dealing with the drinking house problem but also led to the emergence of a new political role for the public house. As in a number of economic and social fields during the late 17th and 18th century, English cities seem to have had a pioneering role, linked to their precocious expansion and growing industrial and commercial prosperity, but some elements of the new framework for drinking houses may be emerging in other European countries.31 ___________ 28

Kümin, Drink and Design; Muchembled, Culture Populaire, 211; Southampton Record Office, SC9/2/1, fol. 9–10. 29 Calendar of State Papers Domestic, 1633–34, 124; Huntington Library, Ellesmere MS. 272; Kümin, Drink and Design. 30 Clark, English Alehouse, 79–80. They were also essential for victualling country people coming to town markets and fairs. 31 For the relatively high rate of English urban growth compared to other European countries see E. A. Wrigley, Urban Growth and agricultural change: England and the continent in the early modern period, in: Peter Borsay (ed.), The Eighteenth Century Town, London 1990, 39–82.

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Fundamental to the new framework was that magisterial controls on the drink trade in English towns (and also in the counties) were increasingly tight and targeted, focussed on the suppression of smaller, poorer premises, not only unlicensed ones but those which might cause a problem. (Instead of being allowed to sell ale indigent widows and other needy were given relatively generous and regular poor relief). It was increasingly difficult for putative landlords to start up in business. To get a license they needed references from respectable householders in the parish and to give large sureties or guarantees for their good behaviour. Licenses were expensive, costing £1 in London. They had to be annually renewed and at that time excise men and aggrieved residents could petition against the continuation of the landlord. Increasingly, magistrates set standards for the running of the house: premises had to be respectable, in some places stables were required; landlords had to attend church, and swear various oaths. There was growing control over the way that drinking houses intruded into the street, with regulation of their signs, storage barrels, urinals and the like. From the 1780s a wave of new restrictions over closing times at night and Sunday opening came into force, whilst both the façade and interior of premises attracted mounting attention. Particularly significant, during the 18th century one sees the increased definition of the social space of the public house, distinct from the public areas of the street.32 Magisterial effectiveness was underpinned by the growing power and activity of excise officials. The excise on ale and beer was levied first in England in 1643, and by the early 18th century the excise service was relatively vigilant and efficient, the levy on the drink trade yielding a quarter of national tax revenue. Increasingly excisemen cooperated with local magistrates to close down illicit or out of the way houses (which might evade taxation) and to create a network of more respectable premises that could be monitored and compelled to pay their taxes on time. Small brewing victuallers complained bitterly that the excise officers overestimated the amounts they paid; duties also had to be paid in advance of sales which again caused difficulties for the smaller landlord brewing his own. Excise inspections were extremely thorough and the few surviving records suggest they must have involved the landlord in a large amount of time. No doubt modest bribes could lubricate the process, though by 18th century standards the excise service was free of corruption.33 In many cities unlicensed premises largely disappeared, while the number of licensed ones declined absolutely or relatively, despite the growth of population. Thus industrialising and urbanising Warwickshire had one public house for 109 inhabitants in 1750 and one for over 300 inhabitants by the start of the ___________ 32

Clark, English Alehouse, 178–82, 254–9. John Brewer, The Sinews of Power: War, Money and the English state 1688– 1783, London 1989, 66–8, 93–4, 98; Clark, English Alehouse, 185–6. 33

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19th century. At Bristol, where there was one house for 93 inhabitants in 1760, forty years later the ratio was 1 to 175. All this worked in favour of larger established premises and better off landlords.34 Reduced competition improved the profitability of the drink trade, for instance reducing the pressure to tolerate bad debts, and gave landlords greater incentive to invest in their houses. During the 18th century even ordinary alehouses acquired purpose built premises and became more spacious, having specialist rooms, with a good range of fixtures and fittings. The earlier contrast between poor alehouses and large, respectable inns and taverns faded. By 1800 alehouses start to call themselves inns and taverns, and take on some of the functions of those establishments; the term public house was invented to cover most types of respectable drinking house. Public houses were increasingly associated with the state: they provided meeting places for local official meetings and billeted troops before barracks were built in the 1790s.35 It is important to see that the new scenario for public drinking houses was not simply a function of magisterial or fiscal policy. Also important for the new regime were commercial developments, above all the role of the new largescale brewers and the growing entrepreneurial activity of landlords. The brewing industry in England was increasingly concentrated: the number of brewers fell from 800 in 1684 to barely 700 thirty years later. The London industry came to be dominated by about a dozen big firms; even a provincial town like Maidstone in Kent had only a few wholesale firms.36 Large-scale brewers, now often prosperous and well-connected, not only opposed the opening of new drinking houses but invested in the retail trade, buying up houses or lending money on mortgages to publicans, who in return agreed to buy the brewer’s beer. Frequently brewers rebuilt houses they owned. Brewers collaborated closely with magistrates and the excise service: all parties saw the advantage of a more limited number of bigger, more respectable houses that could be kept ___________ 34 Clark, English Alehouse, 55–8. At Manchester according to Hirschfelder, Alkoholkonsum, 37–8, the ratio of drinking houses per inhabitant went from 1:72 in 1750 to 1:354 in 1801. 35 For the increasing prosperity of 18th century publicans in towns see for instance the inventories of: William Polling of Dover (died 1737), whose property included numerous chairs, tables and pictures and a stable with three horses, and whose debts included £23 owed to a brewer; and Robert Reynolds of Faversham (died 1778) whose estate included a furnished bar, delftware and other ceramics, a 36 hour clock, mahogany and other tables, and many pictures (Canterbury Cathedral Library, PROB 11/88/61, PROB 11/85/100). See also Clark, English Alehouse, 196–8; Chartres, The EighteenthCentury English Inn, 207–13, 221–2. 36 Huntington Library, Stowe Temple MSS., General, MS. 31; Peter Mathias, The Brewing Industry in England 1700–1830, Cambridge 1959, 12 et seq.; Peter Clark/Lyn Murfin, The History of Maidstone: The Making of a Modern County Town, Stroud 1995, 82–3.

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under permanent supervision. In this way we see the development of a mutually reinforcing system for the drink trade in which retailers, wholesalers, magistrates and tax authorities worked closely together to keep the industry orderly and beneficial to all the interested parties. Though this alliance of interests broke down in the early 19th century, a similar kind of coalition dominated the British drink trade through the 20th century.37 Being a publican became a less marginal and more stable and respectable trade. Profit margins increased. Families of landlords started to run a business over several generations. There was a much greater stability of premises. Publicans acquired their own distinctive dress. This is not to deny that there remained a good deal of instability and difficulty at the bottom end of the trade where a minority of less equipped houses in poor locations continued to change hands on a frequent basis. In the early 18th century ginshops, especially in London, took over some of the functions of the old cheap alehouses. However the public house trade was changed out of recognition. Running a public house remained an occupation with a great deal of risk but by the late 18th century the sensible well organized publican could manage that risk with some success.38 In this more secure environment with new resources at their disposal, publicans played a leading role as promoters of new communications and new entertainment and leisure activities. Building on their long-standing role as centres for the exchange of news and gossip, drinking houses were at the forefront of the information revolution of the 18th century, places where posted letters were collected and read, where a range of newspapers and magazines taken by the landlord on subscription could be perused and discussed. Again from the late 17th century urban landlords in England energetically promoted their business by hosting on their premises a range of music-concerts, sports meetings, plays and, last but not least, clubs and societies. Commercial concerts were staged for the first time in Europe in John Bannisterǥs London alehouse in the 1670s, while in the same decade alehousekeepers in the industrialising town of Halifax sponsored foot or running races “to gather the country to drink their ale”. After 1700 the landlord of the Red Lion, Barton St., Gloucester announced jumping, dancing, wrestling and bowling on a fair day, with prizes. New-style leisure events allowed people of different political and other opinions to come together, thereby creating a semi-neutral kind of political space.39 ___________ 37

Mathias, Brewing Industry, 6, 119 et passim; G. B. Wilson, Alcohol and the Nation, London 1940, chapters 9–10. 38 Chartres, The Eighteenth-Century English Inn, 207–8; Clark, English Alehouse, 200–204; Clark, The “Mother Gin” Controversy, 63–84. 39 Peter Clark/R.A. Houston, Culture and Leisure 1700–1840, in: Clark (ed.), Cambridge Urban History of Britain, vol. II, 578; Clark, English Alehouse, 233–4.

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Most striking however was the role of public drinking houses in the development of urban clubs and societies. Nine out of ten clubs and societies in Britain during the long 18th century held their meetings in public houses and frequently such associations were encouraged and sponsored by landlords, who helped advertise meetings, offered clubs special rooms and furniture, even provided them with loans to get them off the ground. In return landlords got a healthy volume of trade and enhanced their houses’ respectability and status in the urban community. Sometimes there were three or four clubs or society meeting in one house – usually on different days.40 Though some had existed before the English Civil Wars, clubs and societies were given important momentum in London and other major towns by the collapse of censorship and government controls on social activity during the English Revolution. From the late 17th century clubs and societies multiplied. And by the last decades of the next century metropolitan London had about 3,000 associations and provincial cities like Norwich about 20 different types; even a small country town like Maidstone in Kent had up to 30 clubs and societies. Overall, there were thousands of associations in Georgian towns with about 130 different types, ranging from alumni associations, and book, breeches, blasphemy, benefit, bell-ringing, bird-fancying, building and bee-keeping associations to scientific, social, sporting and student societies, amongst many others.41 Political clubs were a prominent category. As well as republican clubs in London before and after the Restoration, we find Whig and Tory clubs orchestrating party mobilisation during the Exclusion Crisis, and in the 18th century party clubs became an important ingredient of borough politics, and linked with the petitioning movement contributed to the evolution of a national political space. By the 1780s national party rivalry between Whigs and Tories was increasingly organized through party clubs, and during the next decade radical and conservative societies corresponded and networked to promote their views in the national political domain. At Norwich there were 40 political clubs in 1792 with over 4,000 members.42 However, all kinds of societies based in drinking houses contributed to the formation of a new kind of political space in 18th century Britain. Not only were non-political clubs drawn into political agitation like the masonic, ___________ 40

P. Clark, British Clubs and Society, 1580- 1800, Oxford 2000, 164–5. Clark, British Clubs, 2, 131, 133, 135–6. 42 Clark, British Clubs, 50–2, 54–6; Mark Knights, Politics and Opinion in Crisis 1678–81, Cambridge 1994; N. McKendrick et al., The Birth of a Consumer Society, London 1982, 232 et seq.; F. O'Gorman, Voters, Patrons and Parties, Oxford 1989; M. Knights, Politics 1660–1835, in: C. Rawcliffe/R. Wilson (eds.), Norwich since 1550, London 2004, 182–4. 41

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pseudo-masonic and social clubs which supported the radical John Wilkes against the government in the 1760s, but various societies were active in lobbying MPs and politicians, as for instance over the slave trade in the last part of the 18th century. With their growing role as information centres, drinking houses and the societies that met there provided a space for political discussion and debate. Some societies had rules against the discussion of political (and religious) topics, but it was clearly difficult to maintain this kind of political vacuum during times of political crisis or election campaigns. From the 1740s there was a growing number of debating societies both in London and provincial towns which debated political issues during the American war and even for a while during the French Revolution. Drinking houses in English towns (as in France) served as a home for trade clubs which organised strikes – part of the new social economy of labour.43 Helping this political consciousness and articulation was the kind of training in the political process which societies offered to a significant proportion of members. In London over half the members of benefit clubs may have served as elected officers over a period of three years and in most voluntary associations all the membership voted in elections and participated in discussing the finances, venue, feasts and other administrative matters. Political education of this kind was not limited to the voluntary sector, of course. But the multiplicity of societies in drinking houses meant that even artisans had access to club office and knowledge of club governance. Nor was it just political consciousness and training. A final type of political function which helped to mark the world of the British voluntary association was administrative. Reacting to growing public concerns over the high level of crime and the cost of prosecutions, hundreds of societies were established to pursue criminals and bring them to justice (though it is not clear they were very effective). Many other associations took on administrative activity in a more adhoc way, running schools or charities.44 Unlike in the 16th and 17th century when civic leaders and the state had sought to clamp down on the role of drinking houses as political centres, now there was relative little interference. Only in the 1790s during the height of the political crisis with France was there any substantial attempt to suppress activity at public houses, particularly that of radical and debating clubs.45 Drinking houses through their role as information centres, through their promotion of a range of new style leisure activities, and through their key part ___________ 43

J.S. Brewer, Party Ideology and Popular Politics at the Accession of George III, Cambridge 1976, 194–8; Middlesex Journal, 4–6 April 1769 et passim; J.R. Oldfield, Popular Politics and British Anti-Slavery, Manchester 1995. 44 Clark, British Clubs, 379–80, 254 et seq.; D. Hay/F. Snyder (eds.), Policing and Prosecution in Britain 1750–1850, Oxford 1989. 45 Clark, British Clubs, 175–6.

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in the growth of British associations developed a new political role in the 18th century: as places where political news might be exchanged, political ideas debated and political processes experienced; through their involvement in the political life of the local community; and through their pivotal position in the trend towards political networking and mobilisation across national and even international space. Admittedly, it was a limited political space – women and the very poor were generally excluded. But still the importance of public drinking houses in 18th century Britain and their accepted and recognised political role cannot be ignored . If in the 16th and early 17th century the perceived political threat from popular drinking houses was one of the main preoccupations of the authorities, now such premises formed a vital and accepted element in the emergence of the public sphere. Of course, other factors also contributed to the new political context in which drinking houses, their landlords and customers operated: the declining intervention of the state after the Glorious Revolution of 1688 in domestic affairs, leaving local administration to civic and county elites; the ending of censorship from the 1690s; and rising affluence, urban growth and educational standards during the long 18th century. However, as I have argued in this paper, an important foundation for this new development was the new more modern type of regulatory policy and framework – combining legal, fiscal and commercial controls in a mutually confirming way – which emerged in England during the 17th and 18th century. There are indications of at least some similar developments on the continent during the period, though more research needs to de done. All the indications are that controls on the drink trade were strengthened in the 18th century, with attempts to reduce the number of premises, and in some countries magisterial regulation was reinforced by fiscal policy. Already in the 17th century taxes on alcohol were a major source of municipal income in German cities like Augsburg and Nördlingen. In Russia spirit shops became a government monopoly and state revenues were increasingly dependent on kabaki selling spirits. In 18th century Paris there were attempts to strengthen financial controls over drinking houses; widespread evasion in the suburbs led in 1784 to the extension of the fiscal area, though at the cost of widespread protests.46 As for the greater vertical integration of the drink industry, in Switzerland there were moves in the 18th century by the vineyard-owning nobility to take over public houses as outlets for their wine, and at Leuven in Belgium brewers acquired increasing control of the drink trade later in the century.47 Whether all this added ___________ 46 B.A.Tlusty, The Public House and Military Culture in Germany 1500–1648, in: Kümin/Tlusty (eds.), The World of the Tavern, 148–9; Nicolas, Le Tavernier, 26. 47 Felix Müller, Ownership of Public Houses by the Swiss Nobility: a Regional Study, in: Kümin/Tlusty (eds.), The World of the Tavern, 183 et seq.; Raymond van Uytven, De Leuvense Bierindustrie in de XVIIIe eeuw, in: Bijdragen voor de Geschiedenis der Nederlanden 16 (1961), 204.

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up to the kind of multilateral regulatory framework found in Britain by 1800 remains to be seen. At the same time, the trend in Switzerland and South Germany was towards larger and more elaborate premises and in South German towns landlords enjoyed growing prestige. In France too the improved respectability of popular drinking houses in the 18th century was exemplified by the Parisian ginguettes.48 From a comparative perspective however the picture may have been less bright. James Boswell, the English diarist, recorded on his travels that French inns “are very seldom good, for the rooms are cold and comfortless and dirty”; Philip Brydone was equally damning about inns in Southern Italy which were “altogether execrable”. Visitors to the Baltic countries complained of the absence of inns except in the biggest towns and were usually disparaging about them. If the inns were so bad, popular drinking houses must, surely, have been worse.49 Not surprisingly public drinking houses seem to have had a less crucial role in the formation of a new kind of social and political space in continental cities. Though some Parisian clubs and masonic lodges met in wineshops and learned and charitable societies assembled in drinking houses in Brunswick, more often the new associations appeared to have shunned meeting in public houses. Electioneering might take place there and French cabarets were involved in political agitation before the French Revolution, but their role as the key component in the formation of a public sphere seems less clear than in Britain.50 To conclude, I would like to stress two points. Firstly, the development of an effective regulatory framework for the drink trade in the 18th century depended not only on more efficient and organised magisterial and fiscal control, but its alignment with economic, market forces – specifically the growing power of producers over the retail trade and the commercial interests of landlords. This is crucial for understanding the new effectiveness of government controls, particularly in Britain but increasingly elsewhere in Europe from the 18th century. Conversely, and this is my second point, the development of the public sphere depended not only on urbanisation, the freedom of the press, the growth of an information culture and the spread of voluntary associations, but on the in___________ 48

Kümin, Drink and Design; Brennan, Public Drinking, 87 et seq. F. Brady/F. A. Pottle (eds.), Boswell on the Grand Tour: Italy, Corsica, and France 1765–1766, London 1955, 252; Patrick Brydone, A Tour through Sicily and Malta, Paris 1780; N.Wraxall, A Tour round the Baltic throǥ the Northern Countries of Europe, edition London 1807. 50 Strangely, a recent discussion of the circulation of information in 18th century Paris barely mentions cabarets: R. Darnton, An Early Information Society: News and Media in 18th century Paris, in: American Historical Review 105 (2000), 1–35. David Garrioch, Neighbourhood and Community in Paris 1740–90, Cambridge 1986, 175–6; Kümin, Drink and Design; R. van Dülmen, The Society of the Enlightenment, Oxford 1992, 85 et passim. 49

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creased public control and definition of political space, most notably at the public drinking house. The emergence of civil society and modern public regulation advanced hand in hand.

Personenregister Abbt,  Thomas 445, 447, 454 Abraham (bibl.) 84 Achatius von Zehmen 148, 150, 151 Adam (bibl.) 84, 133 Aerssen, François van 469 Alba, Fernando Álvarez de Toledo Herzog von 200, 466, 467, 473, 494, 543, 545 Alberizzi, Mario 234 Albornoz, Gil de 354, 355, 357, 364 Albrecht von Hanau-Münzenberg 600 Albrecht, Herzog von Preußen 143, 144, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 155 Alegretti, Ignazio 219 Alexander VI., Papst 356 Alfons I., König von Neapel 356 Almendingen, Harscher von 563 Alsted, Johann Heinrich 587, 613 Altenstetter, David 297 Althaus, Paul 270, 273 Althusius, Johannes 453, 603 Amalie Elisabeth von HanauMünzenberg 450, 453, 607 Amsdorf, Nikolaus von 87 Anchises 490 Andersen, Friedrich 276 Anna Maria, Herzogin von Preußen 151 Antoinette de Bourbon 415 Anton I. von Lothringen 413, 419 Antoni, Gottfried 598 Apollonius von Tyana 244, 245 Archenholz, Johann Wilhelm von 556 Arendt, Hannah 384 Aristoteles 133, 383, 448 Arminius, Jacobus 209 Arndt, Ernst Moritz 528 Arnold, Gottfried 165 Arruntius, Aeserninus Lucius 436 Assarino, Luca 384 Athanasius von Alexandria 260, 261, 264, 266 Atticus, Titus Pomponius 453

August II., König von Polen 515 Augustinus von Hippo 140, 166 Augustus, Kaiser 490 Aurifaber, Johannes 108, 153 Aylmer, Gerald E. 401

 Baeumer, Maximilian L. 385, 387, 392, 393 Baglioni, Malatesta 226 Bahrdt, Karl Friedrich 551, 553, 554 Baidel, Peter 590 Bandini, Marco, Erzbischof von Marcianopolis 223, 234 Bannister, John 626 Barbatus, Nicolaus Asclepius 591, 592 Baron, Hans 41, 42 Baronius, Cesare 193, 254 Bartel, Adolf 276 Bartolotti, Guillelmo 179 Bayle, Pierre 245 Becher, Johann Joachim 610 Becker, Rudolf Zacharias 551 Becker, Winfried 407, 408 Bellot, Thyvent 125 Benedict, Philip 196 Benedikt XIV., Papst 266 Benkovich, Ágoston, Bischof von Großwardein 216 Benlich, Matteo, Bischof von Türkisch-Ungarn 220, 232, 233, 234 Benoit, Andry 119 Bercé, Yves-Marie 401 Berding, Helmut 13 Bernhard von Clairvaux 127, 130, 133, 141 Berniakovich, Filippo 235 Berniakovich, Mattia, Bischof von Türkisch-Ungarn 220, 235, 236, 237, 238, 239 Bernstorff, Andreas Gottlieb von 515 Besserer, Bernhard 67 Bethlen, Gabriel 223 Beulwitz, Caroline von 538

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Personenregister

Beyschlag, Karlmann 273, 274 Beza, Theodor 147, 419 Bicker, Kaufmannsfamilie 179 Bismarck, Otto von 271, 272, 277, 280, 304 Bisterfeld, Johann Heinrich 587 Blankenburg, Christian Friedrich von 551 Blickle, Peter 38, 39, 44, 360, 396, 399 Bloch, Ernst 18, 382 Blount, Charles 244, 245 Blücher, Gebhard Leberecht von 566 Bodin, Jean 385, 450, 496 Bogdan, Pietro, Erzbischof von Skopje 234 Bogerman, Johan 212 Bois, Philibert du 458, 464, 465, 466, 467, 468, 469, 470, 471, 472, 475 Bois, Philibert du (Senior) 466 Bomeranus, Johannes 120 Bonaventura 105 Boncarpi, Giacomo, Bischof von Türkisch-Ungarn 226, 227, 228, 229, 230, 231 Bongar, Jacques 461 Bonifatius VIII., Papst 353, 355 Bonivard, François 121 Borgia, Cesare 356 Borkovich, Márton, Bischof von Zagreb 216 Borromeo, Carlo, Erzbischof von Mailand 154 Bossuet , Jacques Bénigne 242 Boswell, James 630 Bourbon, Cathérine de 415, 416, 479 Bourdieu, Pierre 296 Braccio da Montone 355, 356, 369 Brederode, Pieter Cornelisz. 461, 478, 479, 480, 481, 482, 483, 484, 485, 499 Brentz, Samuel Friedrich 169, 170, 176 Brenz, Johannes 137 Brightman, Thomas 173 Brun, Jean 183 Brydone, Philip 630 Bucer, Martin 61, 64, 67, 68, 77, 79, 80, 83, 88, 89, 92, 93, 124, 166, 167, 172, 286, 391 Bueller, Marcus 599 Bugenhagen, Johannes 103, 107, 108, 109, 113, 114, 286 Bullinger, Heinrich 92

Burckhardt, Jacob 258 Burke, Edmund 383 Busbecq, Ogier Ghislain de 463 Büsching, Anton Friedrich 550 Buxtorf, Johannes 161, 162 Buzanval, Paul Chouart de 468

 Caesar, Gaius Iulius 453 Caesar, Johan Baptist 171 Calgacus 489 Calixt, Georg 164, 171 Callières, Francois 459 Callot, Jacques 423 Calvin, Johannes 51, 52, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 117, 118, 119, 120, 121, 123, 124, 125, 137, 203, 265, 391, 585 Calvör, Caspar 162 Camengrado, Andrea da 224 Camengrado, Filippo a 219 Campe, Joachim Heinrich 555 Canini, Girolamo 384 Canisius, Petrus 136, 137, 286, 296 Canobius, Jan Franciscus 151, 152 Cant, Reynier 208 Capito, Wolfgang 61, 62, 67, 68 Caracciolo, Alberto 346 Caravale, Mario 346 Carlyle, Thomas 53 Carocci, Giampiero 346 Celsus 245, 247 Cesarini, Alessandro 362 Chamberlain, Houston Stewart 281 Châtellier, Louis 297 Chigi, Fabio 486 Christian August von Sachsen 240 Christian von Anhalt 467, 595 Chrysostom, Dio 140 Cicero, Marcus Tullius 453, 496 Clamice, Paolo a 219 Claude de Lorraine, Herzog von Guise 415 Clemens VII., Papst 493 Clemens VIII., Papst 346, 373 Clemens X., Papst 235, 236 Clemens XI., Papst 239 Clément, Jacques 497 Cola di Rienzo 380 Collibus, Hippolythus à 469 Colyer, Jacques 503

Personenregister Constantius II., röm. Kaiser 260, 261 Cooper, Anthony Ashley, Earl of Shaftesbury 258 Cop, Nicolaus 78, 80 Cornet, Christoph 472 Covarrubias y Leyva, Diego de 479 Cranach, Lukas 29 Cremona, Giovanni Battista Dovaria von 227 Crinesius, Christoph 163 Croll, Johann der Ältere 612 Croll, Johann der Jüngere 612 Croll, Oswald 595 Crome, August Friedrich Wilhelm 549, 550, 551, 552, 553, 554, 555, 556, 557, 558, 559, 560, 561, 563, 564, 565, 566, 567, 568 Cromhout, Adriaan 208 Cromwell, Oliver 173, 174 Cruciger, Caspar 104 Crusius, Siegfried Lebrecht 532 Cyprian 250, 252, 255

 Dalberg, Karl Theodor von, Erzbischof von Mainz 520 Dantiscus, Jan 148 Dauber, Johann Heinrich 608 David 271 Deciani, Tiberio 479 Deichmann, Christoph 598 Delila (bibl.) 133 Delille, Gérard 376 Delumeau, Jean 346 Dentière, Marie 122 Deodato, Pietro, Erzbischof von Sofia 234 Derventa, Giovanni Braenovich a 236, 237 Descartes, René 179 Diderot, Denis 380 Dietrich von Fürstenberg 605 Dietrich, Veit 110 Dilich, Wilhelm 583 Dilthey, Wilhelm 23 Diokletian, röm. Kaiser 244, 252 Dodwell, Henry 253 Dohm, Christian Wilhelm 550, 551 Dohna, Fabian von 482 Domingo de Calatayud 421 Donatus von Passau 138, 141 Du Luc, Charles-François de Vintimille 509

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Du Pouget, Bertrand 354, 364 Dudley, Robert 195, 404 Dudycz, Andrzej 146 Dülmen, Richard van 386, 394, 395

 Ebeling, Christoph Daniel 465 Eck, Johann 58, 61 Eckhart von Hochheim 132 Edward I., König von England 173 Egmont, Lamoral Graf von 466, 545, 546 Ehinger, Hans 63 Eichhorn, Anthon 143 Elert, Werner 270, 273 Elias, Norbert 52, 577 Elisabeth I., Königin von England 271 Ellington, Donna Spivey 138 Elm, Kaspar 7, 8, 9, 24 Engels, Friedrich 395, 396 Erasmus von Rotterdam 81 Erastus, Thomas 582 Ernst von Holstein-Schaumburg 588, 601, 602, 603, 604 Eugen Franz von SavoyenCarignan 509, 512 Eugen IV., Papst 356 Eusebius von Caesarea 244, 253, 255, 257 Eva (bibl.) 133

 Fabri, Johann Ernst 542 Farel, Guillaume 88, 89, 123 Fecht, Johann 171 Feige, Johann 589, 590 Felgenhauer, Paul 165 Ferdinand I., Kaiser 592 Ferdinand II., Kaiser 223, 429, 523, 582, 603 Ferdinand III., Kaiser 227, 229, 230, 425 Ferus (auch Wild), Johannes 137 Fester, Richard 547 Fichte, Johann Gottlieb 33 Finck, Caspar 598, 599 Flacius, Matthias 147 Forster, Georg 551, 608 Franck, Kaspar 137 Franz I. Stephan, Kaiser 414, 427, 428 Franz I., Herzog von Lothringen 413, 416 Franz I., Herzog von LothringenGuise 415, 416

Personenregister

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Franz I., König von Frankreich 356, 416, 465, 493 Franz II., Herzog von Lothringen 420, 421, 422 Franz II., Kaiser 558 Franz von Assisi 136 Franz, Herzog von Anjou 404 Franz, Herzog von Mantua 159, 169 Freder, Johann 110 Freud, Sigmund 300 Friedlieb, Philipp Heinrich 161 Friedrich Heinrich von Oranien 586 Friedrich I., König von Schweden 515 Friedrich II., Kaiser 353 Friedrich II., König von Preußen 272, 279, 280, 434, 517, 551 Friedrich II., Landgraf von HessenKassel 608 Friedrich III., Kurfürst von der Pfalz 582 Friedrich Kasimir von HanauMünzenberg 609, 610 Friedrich V., Kurfürst von der Pfalz 603 Friedrich Wilhelm I., König von Preußen 515 Friedrich Wilhelm, Kurfürst von Brandenburg 300 Fries, Jakob Friedrich 565 Froment, Antoine 121, 122 Fulda, Daniel 534

 Galerius, röm. Kaiser 252 Gardi, Andrea 367 Gaspard II. de Coligny 494 Gast, Johannes 122 Gatterer, Johann Christoph 519, 532 Gattinara, Mercurino 498 Gedike, Friedrich 542 Geer, Louis de 179 Georg I., König von England 514, 515 Georg von Hessen 557 Georg von Kappadokien 259 Gerbihan, Herman de 119 Gerhard, Johann 166, 167 Gerson, Christian 159 Gerson, Jean 132, 133, 134 Gerson, Levi Ben 159 Gervinus, Georg Gottfried 387 Geyl, Pieter 331, 332, 334, 403 Gibbon, Edward 241, 242, 243, 244, 245, 246, 247, 248, 249, 250, 251,

252, 253, 254, 255, 256, 257, 258, 259, 260, 261, 262, 263, 264, 265, 266, 267 Gibessière, Jane la 120, 121 Giese, Tiedemann 148, 151 Giraffi, Alessandro 384 Goclenius, Rudolf 597 Goebbels, Joseph 305 Goertz, Hans Jürgen 391, 394 Goethe, Johann Wolfgang von 435 Goldast, Melchior 603, 604 Goldsmith, Oliver 574 Goldstone, Jack A. 401 Gomarus, Franciscus 209 Gonzaga, Elisabeth 415, 426 Gonzaga, Henrietta 420 Granvelle, Antoine Perrenot de 545, 546 Gratiani, Gasparo, Woiwode von Moldau 222 Gregor I., Papst 140 Gregor VII., Papst 266 Gregor X., Papst 353 Gregor XIII., Papst 225, 346, 366, 367 Greineisen, Ludwig Justus 554, 556 Griewank, Karl 382, 383, 392 Grolmann, Karl Ludwig Wilhelm 562, 563 Grolmann, Ludwig Adolf Christian von 555, 556, 557 Grotius, Hugo 253 Guarinonius, Hippolytus 621 Guido I., Graf von Flandern 333 Gustav II. Adolf, König von Schweden 442, 519, 523, 524, 525, 526, 527, 528

 Halem, Georg Anton von 551 Hammerdörfer, Karl 541, 542 Hanewinkel, Stephanus 187 Harms, Claus 276 Harnack, Adolf von 23 Hauck, Albert 272 Havemann, Michael 160 Heeren, Arnold 238, 387 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 25, 45, 55, 388 Heinrich I., Herzog von Lothringen 415 Heinrich II., Herzog von Lothringen 414, 415, 420, 421, 422

Personenregister Heinrich II., König von Frankreich 424, 493 Heinrich III., König von Frankreich 495, 497, 578 Heinrich IV., Kaiser 266, 272 Heinrich IV., König von Frankreich 418, 419, 420, 432, 479, 484, 495, 524 Heinrich VI., Kaiser 353 Heinrich VIII., König von England 99, 100, 101, 109, 497 Heinrich von Lothringen, Herzog von Mayenne 415 Heinrich von Rohan 402 Helvetius, Claude Adrien 446 Helwig, Christoph 166, 168, 171, 173 Henriette de Lorraine 421, 422 Herberstein, Siegmund von 463 Herder, Johann Gottfried 532 Herlihy, David 56 Hermans, Susanna 470 Herold, Tobias 166, 167 Herwagen, Johannes 79 Hess, Ernst Ferdinand 158 Heyden, Gaspar van der 198 Hezel, Johann Friedrich Wilhelm 554 Hierokles Sossianus 244 Hilarius, Papst 153 Hilpert, Johann 163, 164 Himmler, Heinrich 305 Hipler, Franz 145 Hirsch, Emanuel 270 Hitler, Adolf 270, 272, 274, 278, 279, 280, 282, 283, 305 Hobbes, Thomas 245, 384 Hoffmann, Melchior 121 Holl, Karl 23, 75 Hoornbeek, Johann 163 Hornbeek, Johann 163 Hosius, Stanislaus 143, 144, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 155 Hosmann, Sigismund 161, 162 Huber, Ludwig Ferdinand 542 Humboldt, Wilhelm von 539 Hume, David 242, 246, 248, 251, 446 Hus, Jan 27, 391

 Ignoli, Francesco 230 Illye-Falvi, Nicolao Sz. 477 Ingoli, Francesco 230 Innozenz III., Papst 353

643

Innozenz X., Papst 230 Innozenz XI., Papst 237 Ivkovich, Tommaso 223

 Jablonsky, Daniel Ernst 297 Jackson, Thomas 621 Jakob I., König von England 451, 452, 622 Jakob II., König von England 260, 432 Janssen, Johannes 388 Jaup, Karl Heinrich 554, 562, 563 Jean-Baptiste Gaston d’Orléans 422, 424 Jedin, Hubert 24 Jeremia (bibl.) 495 Jesus Christus 81, 135, 137, 139, 158, 245, 246, 247, 248, 262, 265 Johann Casimir von PfalzZweibrücken 494 Johann Ernst von Anhalt 468 Johann III. von Brabant 333 Johann Ludwig von NassauHadamar 611 Johann Moritz von Nassau-Siegen 586, 609 Johann Sigismund Zápolya, König von Ungarn 232 Johann Sigismund, Kurfürst von Brandenburg 291 Johann VI. von NassauDillenburg 481, 482, 483, 484, 485, 593, 611 Johann VII. von Nassau-Siegen 581, 605 Johann Wilhelm von Jülich-CleveBerg 418 Johannes (bibl.) 128, 134, 137 Johannes XXII., Papst 354 Johnson, Ben 436 Johnson, Robert 623 Johnson, Samuel 435 Jonas, Justus 83 Joseph I., Kaiser 240 Joseph II., Kaiser 301 Jovian, röm. Kaiser 259 Julian 247, 258 Julian II., röm. Kaiser 258, 259, 260 Julius Echter von Mespelbrunn 581, 593 Julius II., Papst 356, 364, 365, 369 Julius III., Papst 370

644

Personenregister

Kant,  Immanuel 300, 551, 556 Karl Alexander von Lothringen und Bar 428 Karl I. Ludwig, Kurfürst von der Pfalz 297 Karl I. von Anjou, König von Neapel 353 Karl I., Herzog von Burgund 330, 413 Karl I., Kaiser 279 Karl I., König von England 260, 432, 436, 441, 621 Karl III., Herzog von Lothringen 413 Karl IV., Herzog von Lothringen 414, 417, 418, 419, 420, 422, 423, 424, 425, 428 Karl V., Herzog von Lothringen 426 Karl V., Herzog von von Lothringen 414 Karl V., Kaiser 16, 20, 58, 62, 66, 69, 147, 152, 286, 287, 329, 356, 416, 417, 420, 466, 493, 497, 498, 544, 589, 590, 591, 592 Karl VI., Kaiser 427, 510 Karl VII., König von Frankreich 437 Karl von Zerotin 467, 588 Karl XII., König von Schweden 515 Karl XIV., König von Schweden 560 Karl, Landgraf von HessenKassel 299, 608 Karl-Emmanuel I., König von Sardinien 428 Karl-Joseph von Lothringen, Erzbischof von Trier 426 Katharina II., Zarin von Rußland 515 Katharina von Bourbon 419 Katharina von Lothringen 422, 425 Katharina von Medici 418, 493, 494 Katich, Pietro, Bischof von TürkischUngarn 221, 222, 227, 236 Katz, David 174 Katzer, Ernst 276 Kaunitz, Wenzel Anton 517 Kempe, Anders 165 Kepler, Johannes 385, 386 King, James 436 Kingdon, Robert M. 15, 392, 393 Kisel, Philipp 138, 139 Knipstro, Johann 110 Knobelsdorf, Eustachy 146, 151 Knoblauch, Carl von 554 Koch, Johann Christoph 553

König, Reinhard 598, 604 Konstantin I., röm. Kaiser 243, 256, 257, 258, 260, 271 Körner, Gottfried 532, 539 Kornmann, Heinrich 169 Koselleck, Reinhard 10, 383, 401, 410, 444, 445 Krieger, Johann Christian Konrad 553, 556 Kymeus, Johann 141

 L’Hopital, Michel de 436 La Rochefoucauld, François Alexandre de, Herzog von Liancourt 401 Labadie, Jean de 185 Lajos II., König von Ungarn 232 Laktanz 244 Lambarde, William 435 Lambert, Tom 122 Lau, Franz 37 Lazareth (bibl.) 141 Le Roy, Louis 384 Leibniz, Gottfried Wilhelm 297, 298 Lenger, Friedrich 36 Lenz, Friedrich 549 Leo X., Papst 356, 357, 362, 370 Leopold I., Kaiser 298, 426, 510, 610 Leopold II., Kaiser 554, 558 Leopold III. Friedrich Franz, Herzog von Anhalt-Dessau 551 Leopold Joseph, Herzog von Lothringen 414, 426, 428 Leopold-Clement, Herzog von Lothringen 427 Lepidus, Marcus Aemilius 436 Leslie, Alexander 436 Lessing, Gotthold Ephraim 48, 49 Leuchter, Heinrich 598 Libanios 247 Lindanus, Wilhelm 199 Lingelsheim, Georg Michael 478 Lippomano, Alojzy 146 Loewenich, Walter von 273, 389 Lonicer, Johannes 83 Lortz, Joseph 143 Louis de Guise-Ancerville 422 Loyola, Ignatius von 51, 52, 53, 135 Ludwig Heinrich von NassauDillenburg 609 Ludwig I., Herzog von LothringenGuise 415

Personenregister Ludwig IV., Landgraf von HessenMarburg 595 Ludwig V., Landgraf von HessenDarmstadt 595, 597, 606 Ludwig VI., König von Frankreich 340 Ludwig VI., Kurfürst von der Pfalz 582 Ludwig von Anhalt 463, 464, 466, 468, 469, 471 Ludwig von Molart 222 Ludwig X., Landgraf von HessenDarmstadt 561 Ludwig XIII., König von Frankreich 422 Ludwig XIV., König von Frankreich 271, 300, 417, 425, 426, 427, 437, 444, 501, 503, 505, 509, 510, 512, 577 Ludwig XV., König von Frankreich 427, 575 Ludwig XVI., König von Frankreich 401 Luther, Martin 20, 23, 24, 28, 29, 34, 35, 42, 51, 52, 53, 57, 65, 67, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 111, 112, 113, 114, 124, 128, 137, 149, 153, 155, 158, 166, 167, 169, 172, 176, 270, 271, 272, 273, 274, 275, 276, 277, 278, 279, 280, 281, 282, 283, 286, 287, 300, 385, 387, 388, 389, 391, 394, 397, 430, 431, 496, 527, 612

 Mabillon, Jean 254 Machiavelli, Niccolò 41, 384 Macripodari, Giacinto, Bischof von Tschanad 234 Maecenas, Gaius Cilnius 488 Mager, Wolfgang 8, 10 Magnus, Albertus 141 Manasseh ben Israel, Samuel 173, 174 Mandel, Christoph 171 Mann, Golo 519 Marcellinus, Amminaus 258 Marcke, Hendrick van 208 Margarethe von Lothringen 422 Margarethe von Parma 200, 208, 545 Margaritha, Antonius 157, 158

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Maria (bibl.) 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142 Maria Magdalena (bibl.) 134, 139 Maria Stuart, Königin von Schottland 415, 432 Maria Theresia von Österreich 427 Maria Tudor, Königin von Frankreich 271 Marie von Lothringen-Guise 415 Markov, Walter 382 Marquardt, Manfred 406 Marshall, William 431, 451 Martin V., Papst 356, 369 Martini, Jakob 171 Martinius, Matthias 604, 613 Marx, Karl 25, 45, 300 Massarecchi, Pietro Erzbischof von Bar 224, 225, 226, 231 Mathieu, Pierre 384 Matkovich, Simone 224 Matthäus (Evangelist) 81 Matthias Corvinus, König von Ungarn 232 Matthias, Kaiser 603, 605 Mavrokordato, Alexander 504, 505 Max Emanuel, Kurfürst von Bayern 510, 512 Maximilian I., Herzog von Bayern 418 Maximilian I., Kaiser 287, 579 Maximilian II., Kaiser 492 Mazarin, Jules 425, 427 Mehmed, Bey von SzendrĘ 222 Meinecke, Friedrich 533 Melanchthon, Philipp 57, 88, 89, 90, 93, 103, 105, 108, 110, 111, 112, 137, 286, 300, 391 Melchisedek (bibl.) 23 Mendelssohn, Moses 550 Mendoza, Bernardino 496 Mendras, Henri 317 Mentzer, Balthasar 598, 599 Mérauld, Jacques 120, 121, 122, 123, 124 Mercier, Louis-Sébastien 380 Merian, Maria Sybilla 185 Merklin, Balthasar 69 Merriman, Roger B. 380 Metternich, Clemens Wenzel von 520, 567 Michelbach, Johann 604 Middleton, Conyer 242, 248 Milo, Titus Annius 453

Personenregister

646

Mlynek, Jürgen 20 Moeller, Bernd 33, 34, 35, 39, 42, 131, 392, 394 Mohammed 245, 246 Molanus, Gerhard Wolter 297, 298 Molther, Johannes 171 Monroe, James 52 Montaigne, Michel de 258, 295 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de 445 Moraw, Peter 13 Moritz von Oranien 205, 209, 465, 470 Moritz, Landgraf von HessenKassel 429, 432, 449, 451, 452, 464, 465, 466, 468, 469, 470, 471, 472, 595, 596, 597, 599, 602, 606, 607 Mörlin, Joachim 148, 149 Moser, Johann Jacob 612 Möser, Justus 445, 446, 447, 454 Moses (bibl.) 84, 245, 246 Mosheim, Johann Lorenz 249, 256 Muchembled, Robert 18 Mulleberg, Michel 97, 98, 108, 113 Müller, Johann 168 Müller, Peter 451 Müntzer, Thomas 386, 394 Mustafa, Kara 238 Mustafa, Nakkas, Wesir und Pascha von Buda 230 Mykonius, Friedrich 88, 105, 109, 114

 Nádasdy, László, Bischof von Csanád 216 Napoléon Bonaparte 281, 520, 549, 561, 564, 567 Natale, Luca Bischof von TürkischUngarn 239, 240 Neck, Reynier van 208 Neumann, Sigmund 392 Nicholas, Edward 173 Nicolai, Friedrich 550 Nicolas-François von Lothringen, Bischof von Toul 417, 423, 424, 425 Niebuhr, Barthold Georg 533 Niemöller, Heinrich 277 Niemöller, Martin 277 Nietzsche, Friedrich 300 Nikolaus III., Papst 353, 364 Nikolaus V., Papst 361, 364, 365 Nikolaus von Lothringen 416 Nusser, Karl-Heinz 383, 406

Oberman, Heiko Augustinus 23, 24,  55, 56, 74, 76, 77, 86, 390, 391, 392 Oekolampad, Johannes 79 Oestreich, Gerhard 15, 26 Oldenbarnevelt, Johan van 206, 209, 466, 467 Olearus, Gottfried 164 Olivares, Gaspar de Guzmán, Graf von 437, 438, 442 Origenes 245, 255 Osiander, Andreas 110, 147, 149, 155 Ostende, Jan van 198 Ostermann, Heinrich Johann Friedrich 515 Oxenstierna, Axel 436, 442, 525, 526, 527

 Paget, William 503 Paruta, Paolo 345, 346, 347 Paul II., Papst 365 Paul III., Papst 356, 370 Paul V., Papst 219, 366, 373 Paulus (bibl.) 94, 100, 128, 495 Paulus von Tarsus 171, 173 Pázmány, Péter, Erzbischof von Gran 216, 225 Peter I., Zar von Rußland 514, 515 Petri, Franz 9 Petrus von Alvernia 448 Peyrère, Isaac de la 165 Pfandl, Ludwig 200 Pfarrer, Mathis 61 Philipp I., Landgraf von Hessen 60, 450, 497, 581, 588, 589, 590, 591, 592, 593, 594, 595 Philipp II., König von Spanien 200, 337, 403, 404, 495, 498, 543, 544, 545, 547 Philipp III., Herzog von Burgund 337 Philipp III., Landgraf von HessenButzbach 166, 167, 172, 597 Philipp IV., König von Frankreich 340 Philipp IV., König von Spanien 437, 442 Philipp Ludwig II. von HanauMünzenberg 600, 601 Philipp Wilhelm, Herzog von PfalzNeuburg 300 Philipp, Graf von Horn 545 Philippe II. de Montmorency-Nivelle, Graf von Hoorn 466, 546

Personenregister Philostratos von Lemnos 244 Phyllis 133 Picardt, Johannes 211 Pighius, Stephanus Winandus 90 Pignard, Claude 120 Pincier, Hermann 594, 595 Pinder, Ulrich 135 Pirenne, Henri 403 Piscator, Philipp Ludwig 587 Pius IV., Papst 152 Pius V., Papst 218, 357 Placius, Vincentius 477 Platina (=Bartholomaeus de Sacchi) 119 Plinius der Ältere 248 Polling, William 625 Pollio, Joachim 171 Polybios 487, 488, 496 Porphyrius 244, 247 Porson, Richard 263 Posega, Luca Ibrishimovich da 236 Posega, Luca Marunchich da 236 Posega, Marino Ibrishimovich da, Bischof von Türkisch-Ungarn 220, 229, 230, 231, 232, 233 Preuß, Hans 270, 272, 273, 274, 275, 276, 277, 278, 279, 280, 281, 282, 283 Priestley, Joseph 254, 265, 266 Prinsterer, Guillaume Groen van 207 Prodi, Paolo 347, 348 Prüfer, Thomas 534 Pufendorf, Samuel 528 Pulcher, Publius Clodius 453 Pütter, Johann Stephan 519

 Ragusa, Bonifacio da 218 Rahlenbeck, Theodor Henrich 465 Rakoczy, Georg 587 Raleigh, Walter 242 Ranke, Leopold von 23, 48 Raumer, Friedrich von 528 Reael, Laurens J. 200 Recht, Vespanius 170 Reifenberg, Justus 604 Reinhard, Wolfgang 10, 12, 15, 25, 31, 32, 45, 47, 50, 129, 144, 146, 453 Reinhardt, Nicole 367 Reinhold, Karl Leonhard 542 Reinkingk, Theodor 598 Rembrandt van Rijn 179

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René II., Herzog von Lothringen 413, 414, 415, 416, 417, 419, 420, 428 Rengjich, Alberto Bischof von Türkisch-Ungarn 221, 223, 224, 228, 231 Rephun, Johann 169 Reynolds, Robert 625 Richelieu, Armand-Jean du Plessi 422, 423, 424 Riehl, Wilhelm Heinrich 289, 305 Rimbauds, Arthur 296 Ritter, Gerhard A. 17 Robertson, William 532 Robespierre, Maximilien de 561 Rörer, Georg 97, 103, 104, 106, 107, 108, 113 Rosenkranz, Gunde 441 Rosenstock-Huessy, Eugen 391 Rotteck, Karl von 387 Rublack, Hans-Christoph 51, 55 Rudolf II., Kaiser 499, 503, 595, 596, 600, 602, 603 Rudolf von Habsburg, Römischdeutscher König 353, 364 Ruggieri, Juliusz 146 Rühs, Friedrich 528 Ruinart, Thierry 254 Rupp, E. Gordon 283 Rüsen, Jörn 534

 Sadolet, Jakob 89 Salmasius, Claudius 193 Salomo (bibl.) 133 Saltzmann, Balthasar Friedrich 164, 170, 171 Salviati, Bernardo 493 Salzmann, Christian Gotthilf 551 Saravia, Adrian 195, 196, 200, 208, 213 Sarpi, Paolo 253 Sasse, Hermann 273 Scheel, Otto 279 Scherer, Sebald 297 Schiller, Friedrich 403, 519, 528, 532, 533, 534, 535, 536, 537, 538, 539, 540, 541, 542, 543, 544, 545, 546, 547, 548 Schilling, Heinz 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 25, 27, 28, 31, 32, 33, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 46, 47, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 117, 129,

648

Personenregister

144, 146, 311, 343, 345, 349, 360, 377, 378, 430, 456, 457, 475, 515, 516, 519, 543, 616 Schindler, Johann 162 Schlick, Joachim Andreas von 504 Schlözer, August Ludwig von 519, 552 Schmid, Carl Christian Erhard 554, 556 Schoeps, Hans Joachim 164 Schönborn, Johann Philipp von 297 Schoonhoven, Elisabeth 470 Schorn-Schütte, Luise 399 Schramm, Gottfried 7 Schreiner, Klaus 10 Schubert, Hans von 277, 388 Schudt, Johann Jacob 165, 166, 170, 176 Schulze, Winfried 384 Schurman, Anna Maria van 185 Schwan, Wolfgang 97, 98, 113 Schwanenburg, Matthias von 171 Scribner, Robert W. 38, 50, 51, 620 Seebaß, Gottfried 57, 400 Seibt, Ferdinand 380, 381 Seilern, Johann Friedrich 509 Selderhuis, Herman 74 Seltzer, Ludwig 168 Seneca 248 Serranus, Johannes 496 Servand, Pierre 122 Servetus, Michael 265 Sforza, Francesco 361 Siavus, Pascha von Buda 232 Sigismund II. August I., König von Polen 148, 149, 150, 155 Sigismund III. Vasa, König von Polen 432, 442 Simeon (bibl.) 135 Simmel, Georg 570 Simon VI., Graf zu Lippe-Detmold 37 Simon von Trient 169 Simons, Menno 121, 125 Simson (bibl.) 133 Sixtus V., Papst 346, 362, 366, 367 Skalich, Pawel 143, 154 Sleidanus, Johannes 493, 496 Smalze, Peter Abelis 442 Soemmering, Samuel Thomas von 608 Sombart, Werner 36 Spahn, Martin 54 Spalatin, Georg Burkhardt 105 Spangenberg, Cyriakus 137 Spinola, Christoph de Rojas y 298

Spinoza, Baruch de 179, 182, 185, 245 Stader, Ingo 372 Stanislas I. Leczynski, König von Polen 413 Steele, Richard 619 Steinmetz, Max 34 Stolleis, Michael 406 Strauß, David Friedrich 247 Sturm, Jakob 61 Sutel, Georg 109, 113 Symmons, Edward 430, 431 Szelepcsényi, György 230, 236 Szorc, Alojzy 143, 145

 Tacitus 248, 438, 488, 489, 490, 496 Terrelius, Johann 161 Theiner, Augustin 143, 144 Theodosius I., röm. Kaiser 271 Thomas von Aquin 141, 448 Thou, Auguste de 496 Tiberius, röm. Kaiser 436, 490 Tieck, Dorothea 529 Tillemont, Louis-Sébastien Le Nain de 245, 261 Tillinghast, John 173 Tilly , Johann t'Serclaes von 526 Tilly, Charles 405 Timotheus (bibl.) 100 Tocqueville, Alexis de 294 Toland, John 174 Töpfer, Bernhard 391 Tordeur, Johann (auch Stourdeur) 120 Torelli, Paolo 219 Tóth, Istvan 18 Trip 179 Troeltsch, Ernst 11, 23, 36, 37, 41, 42, 53, 74, 75

 Ulrike I. Eleonore, Königin von Schweden 515 UmiĔski, Józef 143 Urban VIII., Papst 227, 423, 424

 Vadian, Joachim 88 Varillas, Antoine 387 Vehse, Eduard 577 Veken, van der 179 Velislavi, Antonio 219 Vergil 490 Vermeer, Jan 179 Veronika (bibl.) 139

Personenregister Vierhaus, Rudolf 549 Villars, Claude-Louis-Hector de 509, 512 Virgilius 133 Voët, Gijsbert 477 Vogt, Niklas (Nikolaus) 519, 520, 521, 522, 523, 525, 526, 527, 528 Voigt, Johannes 143, 144, 148 Voltaire, eigentlich François-Marie Arouet 241, 243, 258, 259, 386 Vondel, Joost van den 179 Vultejus, Hermann 598, 606 Vultejus, Justus 594, 598

 Wagenseil, Johann Christoph 162 Wagner, Richard 281 Walch, Christian Wilhelm Franz 254 Wann, Paul 134 Weber, Max 11, 36, 44, 45, 52, 74, 147, 342 Weidig, Friedrich Ludwig 564 Welcker, Friedrich Gottlieb 565, 566 Welcker, Karl Theodor 564 Werdermann, Hermann 279 Wermter, Ernst Manfred 144, 146, 149, 152, 153 Werner, Georg Friedrich 554, 556 Wesenbeck, Matthaeus 479 Westphal, Joachim 79, 87 Weyhe, Eberhard von 602, 604 Wieland, Christoph Martin 386, 435, 542 Wiener, Peter F. 283

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Wilhelm Clito, Graf von Flandern 340 Wilhelm I. von Oranien 206, 404, 481, 543, 545 Wilhelm I., Kaiser 281 Wilhelm III. von Holland 333 Wilhelm III. von Oranien 271 Wilhelm IV., Landgraf von HessenKassel 594, 595 Wilhelm Ludwig von Nassau 581 Wilhelm V., Landgraf von HessenKassel 449, 450, 606, 607 Wilhelm VI., Landgraf von HessenKassel 449, 608 Wilhelm, Georg 160 Wilhelmß, Pieter 473 Wilkes, John 627 Wilkinson, Henry 615 Winckelmann, Johann Justus 598 Winstanley, Gerard 385 Wojtyska, Henryk Damian 143, 145 Wolff, Christian 613 Wolzogen, Hans Paul Freiherr von 276 Wyclif, John 27, 391 Wyndrecht, Jacques 470

 Zakrzewski, Wincenty 145 Zeeden, Ernst Walter 45 Zenobi, Bandino Giacomo 375 Zimmermann, Wilhelm 387 Zwinger, Theodor 480 Zwingli, Ulrich 60, 79, 124, 286, 297, 391

Ortsregister Aachen  9 Aalst 333 Agnadello 356 Ägypten 188 Albanien 218, 234 Alexandria 259, 262 Altdorf 592 Altenburg 105 Altona 299 Altrandstädt 300 Amsterdam 185, 200, 208, 339, 343, 464, 465, 468, 470, 474, 585 Anagni 360 Ancona 235, 239, 360, 361 Anhalt 470 Anhalt-Dessau 553 Ansbach 299, 576 Antwerpen 197, 199, 333, 339, 343, 546, 616 Arad 238 Arras 343, 622 Artesien 334, 336, 337, 343 Artois 334 Aschaffenburg 520 Ascoli 360 Assisi 355, 360 Augsburg 49, 60, 61, 111, 291, 294, 295, 296, 298, 578, 629 Avignon 354, 359

 Bács 219 Baden (Schweiz) 509, 510, 512, 513, 516 Banat 223, 231 Bar 224, 225, 413, 414, 415, 417, 418, 421, 422, 423, 424, 425, 426, 427 Basedow 551 Basel 479, 480 Bavay 333 Bayern 288, 329, 337, 425, 432, 583, 622 Bayonne 494 Bayreuth 276, 281

Belgien 318, 331, 552, 629 Belgrad 220, 221, 222, 223, 224, 226, 227, 228, 229, 230, 231, 237, 238, 239, 240, 505 Benevent 359, 360 Bentheim 601 Berg 300, 329 Bergen-op-Zoom 186 Bergneustadt 7 Bergwitz 97, 104 Berkeley 19 Berlin 16, 17, 18, 19, 51, 297, 439, 550, 551, 567, 576 Bern 117, 122, 620 Bertinoro 360 Biberach 291, 298 Bielefeld 8, 9 Bishop’s Stortford 620 Böhmen 101, 103, 131, 292, 402, 444 Bologna 347, 350, 353, 354, 355, 359, 364, 365, 366, 367, 368, 371, 372, 373, 374, 375, 376, 378 Bosnien 218, 229, 234, 235, 238 Brabant 119, 186, 187, 205, 208, 334, 335, 337, 338, 342, 343 Brandenburg 291, 550 Brandenburg-Preußen 550 Brasilien 586 Braunsberg 154 Braunschweig 630 BRD 303, 305 Breda 585, 586, 608 Bremen 514, 601, 602, 604, 609, 613 Brest 430 Brisighella 360 Bristol 624 Brügge 343, 466 Brüssel 200, 465, 466, 590 Bückeburg 603, 604 Buda 219, 220, 228, 230, 231, 236, 240

225, 233,

299,

427, 356, 369, 377, 333,

611,

232,

Ortsregister Budapest 18 Bulgarien 218, 234, 285, 318 Buren 185 Burgund 330, 337, 342, 578 Butzbach 597

 Calenberg 444 Calvi 360 Cambrai 493 Cambrésis 334 Cambridge 438, 586, 620 Camerino 360 Campagna e Marittima 359 Carpi 226 Cascia 360 Cesena 360 Champagne 415 Chester 617, 621 Cingoli 360 Città della Pieve 360 Città di Castello, 360 Cività Castellana 360 Cleve 300 Coburg 276 Coevorden 211 Coimbra 18 Comtat Venaissin 359, 360 Csanád 216 Culemborg 185

 Dachau 615 Damiette 188 Dänemark 325, 432, 440, 441, 451, 513, 578 Danzig 148, 149 Darmstadt 556, 567, 595, 606 DDR 17, 34, 35, 38, 301, 303, 305, 324, 379 Deggendorf 97 Den Briel 200, 202 Den Haag 458, 464, 465, 467, 468, 469, 470, 471, 472, 475, 479, 585, 586 Dessau 551 Deutschland 14, 22, 23, 27, 31, 34, 35, 36, 37, 38, 43, 46, 47, 50, 51, 52, 71, 80, 118, 128, 136, 154, 166, 172, 173, 174, 196, 200, 201, 211, 269, 272, 275, 278, 282, 285, 286, 287, 288, 289, 291, 293, 295, 296, 298, 301, 302, 303, 304, 306, 308, 309, 315, 318, 324, 325, 327, 335,

651

378, 393, 408, 409, 413, 419, 430, 437, 440, 442, 443, 444, 472, 473, 490, 493, 494, 496, 509, 514, 515, 516, 523, 524, 526, 527, 528, 555, 561, 563, 568, 577, 579, 581, 584, 585, 587, 599, 607, 615, 622, 629 Deventer 585 Dijon 616 Dinkelsbühl 291 Dortmund 13, 279 Dublin 437

420, 448, 507, 525, 566, 586,

 Eccleshall 621, 622 Eisleben 276 Elbing 335 Elsaß 297, 335, 419, 505, 527 Elster 97, 104 Emden 10, 15, 18, 42, 43, 44, 46, 198, 480, 481 Ename 333 England 13, 36, 40, 41, 173, 174, 195, 200, 203, 242, 254, 259, 260, 262, 264, 265, 318, 324, 327, 336, 337, 339, 380, 383, 384, 385, 388, 409, 431, 432, 436, 437, 439, 440, 441, 444, 451, 452, 463, 474, 484, 485, 486, 489, 493, 495, 501, 512, 513, 545, 587, 616,ꆹ621, 624, 625, 626, 627, 629, 630 Erfurt 50, 592, 593 Erlangen 272, 274, 299 Erlau 231 Ermland 145, 147, 148, 149, 151, 153 Essex 620 Europa 7, 17, 18, 20, 22, 25, 26, 31, 38, 40, 47, 49, 55, 56, 118, 123, 131, 138, 144, 160, 170, 175, 181, 206, 210, 266, 309, 311, 312, 313, 314, 315, 316, 318, 319, 320, 323, 324, 325, 326, 327, 328, 338, 339, 341, 343, 347, 348, 349, 376, 384, 386, 387, 405, 408, 430, 432, 435, 437, 438, 439, 441, 445, 452, 453, 456, 464, 467, 490, 504, 506, 507, 508, 512, 515, 516, 517, 524, 525, 526, 527, 542, 543, 545, 569, 571, 577, 578, 587, 630

 Fabriano 360 Faenza 360 Fano 360

Ortsregister

652

Ferentino 360 Ferrara 347, 350, 352, 353, 355, 356, 359, 368, 372, 374, 375, 376 Finnland 326, 515 Flandern 186, 205, 208, 333, 334, 335, 336, 337, 338, 339, 340, 342, 343, 465, 466 Flensburg 276 Florenz 41, 242, 350, 352, 355, 356, 363, 622 Fojnica 235 Foligno 360 Forlì 360 Franeker 201, 585 Franken 289 Frankenhausen 107 Frankfurt am Main 67, 166, 198, 290, 444, 520, 557, 604 Frankreich 46, 83, 85, 88, 90, 91, 147, 203, 271, 285, 294, 295, 299, 304, 315, 318, 324, 337, 340, 348, 356, 359, 380, 388, 413, 415, 416, 422, 425, 426, 427, 432, 433, 437, 439, 443, 444, 446, 465, 466, 470, 474, 485, 492, 493, 494, 495, 496, 497, 501, 506, 507, 509, 510, 512, 527, 541, 546, 555, 560, 561, 565, 566, 584, 607, 615, 616, 618, 620, 628, 630 Freiburg 7 Friedrichsburg 513 Friesland 185, 189, 206, 337 Frombork 145 Fulda 581, 611 Fünfkirchen 146, 228, 231, 236 Füssen 517

 Geldern 186, 329, 335, 337, 414 Generalitätslande 186, 192 Genf 88, 90, 91, 93, 95, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 124, 125, 181, 198, 263, 265, 392, 419, 466, 479 Gent 195, 341 Genua 350, 376 Georgien 379 Gießen 13, 14, 15, 519, 550, 553, 554, 555, 556, 558, 559, 560, 561, 562, 563, 565, 567, 595, 596, 597, 598, 599, 600, 602, 603, 604, 606, 607, 611, 612, 613 Gloucester 626 Goa 473

Gotha 551 Göttingen 33, 109, 519, 567 Gouda 188 Gran 230, 233, 239, 240 Granada 380 Griechenland 285 Groningen 337, 471, 585 Großwardein 216 Gyöngyös 220, 231, 232, 233, 235 Gyöngyöspata 232

 Haarlem 188 Hadamar 611 Hadleigh 620 Haina 595 Halle 108, 334, 550, 551, 612 Hamburg 108, 109, 110, 113, 299 Hanau 600, 601, 610, 611, 612 Hannover 297, 513, 514, 515 Harderwijk 585 Heidelberg 199, 480, 564, 567, 582, 583, 592, 593, 594, 601, 607 Heilsberg 147, 151, 154 Helmstedt 166, 592, 601, 604 Hennegau 334, 335, 337 Herborn 587, 593, 594, 595, 598, 599, 600, 601, 603, 604, 607, 609, 611, 612, 613 Hersfeld 594 Hessen 437, 444, 451, 452, 470 Hessen-Darmstadt 549, 558, 561, 562, 607 Hessen-Kassel 429, 449, 450, 485, 608 Himeria 227 Holland 186, 196, 197, 199, 200, 201, 205, 206, 333, 335, 337, 338, 339, 340, 341, 342, 447, 468, 469, 585 Holstein 602 Holstein-Schaumburg 602, 603

 Imola 360 Indien 162, 313, 473 Iran 379 Irland 285, 323, 430, 437, 443 Israel 84 Italien 41, 221, 231, 236, 285, 295, 318, 324, 348, 349, 352, 353, 354, 385, 432, 437, 458, 474, 578, 630

 Jászberény 220, 231 Jena 166, 533, 538, 542, 556, 564, 592

Ortsregister Jerusalem 94 Jesi 360, 361, 362, 363 Jülich 300, 329, 335

 Karlowitz 240, 503, 504, 505, 506, 507 Kasachstan 19 Kaschau 225 Kassel 595, 604, 606, 607, 608 Katalonien 380, 432, 437, 438, 442, 443, 451, 452 Kaufbeuren 291 Kent 625, 627 Kiel 609 Kirgisien 379 Kleve 329 Koblenz 612 Köln 7, 50, 290, 333, 418, 592, 593 Königsberg 143, 144, 145, 146, 149, 150, 152 Konstantinopel 215, 227, 230, 235, 240, 256, 474 Konstanz 58, 67, 68, 69 Korbach 593, 594, 601 Köthen 468, 469 Krassóvár 223 Kroatien 285 Kulm 148

 Latium 375 Lausanne 242, 466 Leerdam 185 Leeuwarden 212 Leicester 404, 620 Leiden 185, 193, 195, 201, 468, 479, 585, 586 Leipzig 34, 37, 153, 272, 526, 566 Lemberg 145 Lemgo 10, 37, 38 Leuven 629 Liège 120 Limburg 337 Lindau 67 Lippa 236, 238 Lippe 10, 11, 37, 38, 39 Litauen 326 Livland 151 àomĪa 155 London 198, 242, 439, 442, 480, 616, 618, 621, 623, 624, 625, 627, 628 Longjumeau 494

470, 565,

653

Loreto 360 Lothringen 413, 414, 415, 416, 417, 418, 419, 420, 421, 422, 423, 424, 425, 426, 427, 428 Lübeck 110, 113 Lunéville 426 Lüttich 330, 334, 335, 337 Lützen 519, 524, 526, 528, 565 Luxemburg 333, 334, 337 Lyon 120, 122, 124, 484, 566, 616

 Maasland 343 Macerata 350, 360, 361 Madison 15 Madrid 20, 442, 493 Magdeburg 526 Maidstone 625, 627 Mailand 350, 352, 354, 355, 356 Mainz 30, 137, 290, 519, 526, 561 Malta 187 Manchester 620 Mannheim 299, 485 Mantua 352 Marburg 485, 487, 519, 588, 589, 590, 591, 592, 593, 594, 595, 596, 597, 598, 599, 600, 601, 602, 603, 604, 606, 607, 608, 609, 611, 612, 613 Marche 355, 356, 359, 360, 361, 375 Marcianopolis 234 Marienburg 148 Mark 329 Marseille 493 Massachusetts 587 Memmingen 63, 67 Metz 415, 416, 418, 424 Midlands 621 Mljet 219 Modena 226, 356 Mohács 222, 224 Moldau 218, 223, 234 Montalto 360 Montauban 584 Monterotondo 221 Moskau 437, 578, 617 München 17, 139, 421, 576 Münster 9, 10, 13, 14, 18, 118, 387, 394, 395, 484, 519

 615, 626,

Namur 335, 337 Nancy 413, 414, 419, 420, 421, 422, 423 Nantes 271, 299, 419, 444

Ortsregister

654

Narni 355, 360 Nassau 583, 601, 609 Neapel 18, 353, 356, 359, 361, 376, 380, 384, 437 Nepi 360 Neuengland 447, 587 Neu-Hanau 480, 610 Neuwied 299 Niederlande 9, 13, 15, 37, 39, 40, 43, 44, 46, 119, 120, 177, 178, 179, 180, 181, 182, 183, 185, 186, 187, 189, 192, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 202, 203, 204, 205, 206, 210, 212, 253, 285, 299, 318, 329, 330, 331, 333, 334, 335, 336, 337, 339, 342, 343, 380, 388, 402, 403, 404, 405, 409, 428, 429, 432, 433, 437, 441, 463, 467, 468, 469, 470, 471, 474, 480, 481, 482, 483, 484, 485, 493, 494, 497, 499, 506, 532, 540, 541, 542, 543, 546, 552, 584, 585, 586, 587, 593 Nijmegen 186, 333 Nocera 360 Norcia 360 Nordamerika 388, 586, 588 Nordeuropa 617 Nördlingen 629 Norwich 627 Nürnberg 112, 135, 393, 444, 468, 524, 596, 622 Nystad 513, 515

 Oberlößnitz 276 Olovo 229, 236, 238 Oppenheim 295 Orléans 479, 584 Orvieto 350, 360 Osimo 360 Osnabrück 13, 18, 291, 485, 519 Österreich 335, 413, 432, 485, 563 Osteuropa 324, 617 Ostfriesland 480, 481 Otricoli 360 Overijssel 335 Oxford 18, 242, 253

 Paderborn 471, 581, 605, 606, 611 Paris 341, 380, 413, 417, 419, 421, 423, 424, 426, 439, 469, 480, 520, 560, 561, 572, 578, 584, 618, 619, 629

Parma 356 Patrimonium Petri 359 Perugia 347, 350, 355, 356, 368, 369, 370, 371, 372, 373, 376 Pest 219, 228, 231, 232, 233 Piacenza 356 Pikardie 334, 337 Pisa 350 Poissy 147 Polen 146, 154, 218, 232, 285, 318, 323, 324, 432, 503, 513 Pommern 110, 440, 444 Portsmouth 281 Portugal 379, 380, 432, 437, 438, 578 Požega 219, 229, 233 Prag 465, 466, 470, 472, 582, 595 Preußen 144, 148, 149, 151, 152, 155, 303, 304, 335, 348, 513, 551, 561, 563 Prizren 222, 224

 Ragusa 219, 221, 223, 224, 227, 229, 231, 235, 237, 238, 239 Rastatt 509, 510, 512 Ravenna 353, 359 Ravensburg 291 Recanati 360 Reggio Emilia 354, 356 Rijnsburg 185 Rimini 354, 355, 360 Rinteln 588, 601, 603, 604, 605, 606, 608, 609, 611, 612 Rive 119, 122 Rom 95, 101, 146, 148, 154, 215, 218, 221, 223, 224, 226, 229, 230, 232, 235, 236, 237, 238, 239, 250, 257, 261, 263, 267, 271, 345, 350, 356, 358, 359, 364, 366, 367, 368, 369, 371, 372, 373, 374, 375, 377, 425, 431, 444, 453, 472, 489, 490, 491, 493, 494, 497, 570, 616 Romagna 353, 356, 359, 364 Rügen 110 Rumänien 285 Rußland 285, 318, 432, 463, 501, 513, 515, 578, 629 Ryswick 416, 426, 504, 505, 506

 Saarland 413 Sabina 359, 360

Ortsregister Sachsen 58, 69, 80, 98, 104, 106, 109, 110, 111, 113, 114, 287, 300, 329, 513 Saint-Germain 494 Saint-Omer 195 Samland 148, 153 San Severino 360 Sarajevo 234, 235, 236, 238 Sardinien 428 Saumur 584 Savoyen 428 Schaumburg 602, 608 Schlesien 289, 300 Schnepfenthal 551 Schottland 41, 260, 335, 380, 432, 436, 437, 442, 451, 452, 486, 586, 621 Schweden 432, 440, 441, 442, 501, 513, 578, 607 Schweiz 34, 46, 242, 285, 467, 485, 512, 566, 584, 599, 621, 629 Sebenico 221, 222 Sedan 281, 584, 608 Seeland 200, 206, 333, 337, 338, 342, 447 Sengwarden 550 Serbien 218, 222, 225, 285 Siebenbürgen 587 Siegen 605, 611 Skopje 234 Slawonien 231 Smederevo 223 Spanien 31, 203, 205, 209, 212, 285, 324, 337, 356, 402, 403, 404, 432, 441, 442, 444, 472, 474, 480, 481, 483, 484, 493, 494, 499 Speyer 290, 589 Split 239 Spoleto 355, 360 Sremski Karlovci 504 Stadthagen 550, 601, 603, 604 Stockholm 437, 526 Stralsund 110 Straßburg 61, 63, 67, 70, 71, 79, 80, 120, 124, 295, 418, 428, 479, 480, 505, 592, 596 Sutri 360 Syrmien 225, 228, 229, 239 Szegedin 223, 236 SzendrĘ 220, 223, 224, 227, 230, 237 SzĘny 227



655

Temeschwar 223, 234, 240 Terni 360 Terracina 360 Tirol 426 Todi 360 Tolentino 360 Toskana 414, 427 Toul 415, 423, 424 Tournai 334 Transsylvanien 477, 586 Trient 144, 146, 148, 152, 153, 162, 494, 495 Tschechien 318, 324, 379 Tübingen 23, 24, 51 Türkei 215, 221, 224, 225, 226, 227, 233, 234, 240, 463, 474, 502, 504, 506, 507, 508, 516, 588 Tuzla 238 Tyrnau 218

 Ukraine 379 Ulm 67, 293 Umbrien 355, 356, 359, 368, 369, 371 Ungarn 215, 216, 217, 218, 219, 220, 221, 222, 223, 224, 225, 226, 227, 228, 229, 230, 231, 232, 233, 234, 235, 236, 237, 238, 239, 240, 285, 318, 326, 427, 505 Urbino 355, 357 USA 19, 41, 52, 313, 323 Utrecht 182, 333, 335, 337, 339, 340, 341, 342, 477, 486, 512, 585

 Valenciennes 333 Valentano 360 Vaudois 380 Velika 234, 236 Venedig 234, 235, 337, 350, 355, 356, 359, 373, 503, 545 Venezuela 379 Verdun 415 Vervins 484 Veszprém 230 Vetralla 360 Vianen 185 Višnjevci 237 Visso Consulta 360 Viterbo 350 Vlissingen 200

656



Wales 616 Wapping 623 Warschau 151 Warwickshire 624 Wassenar 19 Weimar 276, 542 Weißenburg 67 Weißenfels 565 Westeuropa 324, 328, 617 Wetter 594 Wetzlar 554, 556, 562 Wien 146, 148, 151, 215, 218, 224, 226, 227, 229, 230, 231, 238, 416, 425, 426, 427, 428, 505, 558, 570, 578, 582, 591, 597, 609, 610

Ortsregister Wieuwerd 185 Wilna 151 Wittenberg 70, 76, 90, 93, 94, 97, 98, 99, 103, 104, 105, 107, 108, 109, 113, 153, 166, 276, 592, 593 Wörlitz 553 Worms 290 Württemberg 293, 300 Würzburg 291, 297, 580, 593, 611

 222, 235, 442, 594,

Ysselstein 185

 Zagreb 216 Zips 225