Nach der kulturalistischen Wende: Festschrift für Arnold Zingerle zum 65. Geburtstag [1 ed.] 9783428527250, 9783428127252

Der hier vorgelegte Sammelband geht auf ein Symposion zurück, dass aus Anlass des 65. Geburtstages von Arnold Zingerle v

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German Pages 289 Year 2010

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Nach der kulturalistischen Wende: Festschrift für Arnold Zingerle zum 65. Geburtstag [1 ed.]
 9783428527250, 9783428127252

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Sozialwissenschaftliche Abhandlungen der Görres-Gesellschaft Band 29

Nach der kulturalistischen Wende Festschrift für Arnold Zingerle zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von

Gabriele Cappai, Wolfgang Lipp und Winfried Gebhardt

Duncker & Humblot · Berlin

CAPPAI / LIPP / GEBHARDT (Hrsg.)

Nach der kulturalistischen Wende

Sozialwissenschaftliche Abhandlungen der Görres-Gesellschaft in Verbindung mit Martin Albrow, Cardiff · Hans Bertram, Berlin · Karl Martin Bolte, München · Walter L. Bühl, München · Lars Clausen, Kiel · Roland Eckert, Trier · Friedrich Fürstenberg, Bonn · Dieter Giesen, Berlin · Alois Hahn, Trier · Horst-Jürgen Helle, München · Jan Siebert van Hessen, Bilthoven · Robert Hettlage, Regensburg · Ronald Hitzler, Dortmund · Wolfgang Jäger, Freiburg i. Br. · Werner Kaltefleiter †, Kiel · Franz-Xaver Kaufmann, Bielefeld · Henrik Kreutz, Nürnberg · Heinz Laufer †, München · Wolfgang Lipp, Würzburg · Nikolaus Lobkowicz, Eichstätt-Ingolstadt · Thomas Luckmann, Konstanz · Kurt Lüscher, Konstanz · Rainer Mackensen, Berlin · Georg Mantzaridis, Thessaloniki · Norbert Martin, Koblenz · Julius Morel †, Innsbruck · Peter Paul Müller-Schmid, Freiburg i. Ü. · Elisabeth Noelle, Mainz · Horst Reimann †, Augsburg · Walter Rüegg, Bern · Johannes Schasching, Rom · Erwin K. Scheuch †, Köln · Gerhard Schmidtchen, Zürich · Helmut Schoeck †, Mainz · Dieter Schwab, Regensburg · Hans-Peter Schwarz, Bonn · Mario Signore, Lecce · HansGeorg Soeffner, Konstanz · Josef Solař, Brno · Franz Stimmer, Lüneburg · Friedrich H. Tenbruck †, Tübingen · Paul Trappe, Basel · Laszlo Vaskovics, Bamberg · Jef Verhoeven, Leuven · Anton C. Zijderveld, Rotterdam · Valentin Zsifkovits, Graz

Herausgegeben von Michael N. Ebertz, Freiburg i. Br. · Hubert Knoblauch, Berlin · Winfried Gebhardt, Koblenz · Werner Schneider, Augsburg · Arnold Zingerle, Bayreuth

Band 29

Nach der kulturalistischen Wende Festschrift für Arnold Zingerle zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von

Gabriele Cappai, Wolfgang Lipp und Winfried Gebhardt

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-4999 ISBN 978-3-428-12725-2 (Print) ISBN 978-3-428-52725-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-82725-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

© Foto-Altkofer, Bayreuth

Inhaltsverzeichnis Einleitung: Zur Neupositionierung der Kultursoziologie Von Gabriele Cappai, Wolfgang Lipp und Winfried Gebhardt . . . . . . . . . . . . . 7

I. Theoretische Einblicke Deutungs-Aufgaben: Kultursoziologie zwischen ­Faktenzwang und Wirklichkeitsverlust Von Karl-Siegbert Rehberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Kultur, Kulturen, Kulturalismus Von Justin Stagl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Gedankenbilder. Kultur als Konstruktion und Konstitution des Sozialen – am Leitfaden Max Webers Von Horst Baier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Kultursoziologie als Kulturkritik Von Johannes Weiß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

II. Kultursoziologische Themen und Diagnosen Die Kultur in der Jetzt-Gesellschaft Von Carlo Mongardini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Individualismus, Ehe und romantische Liebe. Überlegungen vor allem im Blick auf Georg Simmel Von Hartmann Tyrell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Lügen im Alltag Von Robert Hettlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Die Zeiten der Rache: Vorwegnahme und Wiederholung (Orest vs. Paraśurāma) Von Enrique Gavilán . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

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Inhaltsverzeichnis

Die Spektrale Gemeinschaft. Eine Spanischstunde Von Pedro Piedras Monroy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Kulturelle Implikationen der Hochschulreform Von Gabriele Cappai . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

III. Empirische Studien Landschaft und Landschaftsplanung seit der Doppelrevolution Von Bernhard Schäfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Landbürger im Verein. Perspektiven bürgerlicher Vergesellschaftung Von Georg Kamphausen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Die Begehung der Kontinuität: Kultursoziologische Anmerkungen zu „Kaffee und Kuchen“ in Oberfranken Von Elísio Macamo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

IV. Persönliches Soziologie und Kultur. Worte zum Übergang Von Eckart Pankoke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Zwillingsschwärmer. Arnold Zingerle zum Fünfundsechzigsten Von Peter Nim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

Einleitung: Zur Neupositionierung der Kultursoziologie Von Gabriele Cappai, Wolfgang Lipp und Winfried Gebhardt Der Begriff „Kultur“ musste wahrlich nicht auf eine „kulturalistische Wende“ warten, um zu jener prominenten Stellung zu gelangen, die ihm bei der Analyse sozialer Phänomene zweifellos gebührt. In der theoretischen Konzeption von Klassikern wie Tocqueville, Weber, Simmel und anderen war Kultur als handlungskonstituierendes Element schon immer berücksichtigt worden. Aus der Perspektive dieser Klassiker, ist die relevante Feststellung nicht die, dass Kultur „überall ist“1, denn historisch betrachtet, ist diese Aussage trivial. Auch nicht die, dass Kultur Menschen steuert, indem sie die passenden „Programme“ dazu liefert,2 denn aus der Perspektive vernünftiger autonomer Individuen ist diese Aussage absurd. Vor allem aber nicht die, dass Kultur eine ontologisch zu begreifende Entität ist, die allein und in eigener Regie in die Welt eingreift, denn aus handlungstheoretischer Perspektive ist diese Aussage falsch: Nur handelnde Menschen, indem sie sich interpretativ, selektiv oder auch kritisch auf kulturelle Symbole beziehen, können etwas in der Welt bewirken. Ausgangspunkt einer jeden Betrachtung von Kultur kann also nur der handelnde Mensch sein. Aus dieser fundamentalen Einsicht lässt sich eine Reihe von Konsequenzen forschungstheoretischer sowie forschungspraktischer Natur herleiten. Bildet Kultur den Fundus, aus dem soziale Akteure schöpfen, um ihrem Handeln eine Orientierung zu geben und dieses zu legitimieren, so gilt es von vornherein ein Missverständnis auszuräumen, das der kultursoziologischen Konzeption, die hier vertreten wird, immer im Wege stand und heute leider noch steht: in kultursoziologischen Kategorien zu denken, bedeutet nicht, wie gelegentlich zu unrecht angenommen wird, der Kultur ein Erklärungsprimat bezüglich des Handelns zuzuschreiben. Kultur ist ein, wenn auch ein wichtiger, Handlungsdeterminant unter anderen und nur die empirische Wirklichkeit kann letztlich Auskunft darüber erteilen, auf welche Weise und wie stark sie bei der Handlungsstrukturierung beteiligt ist. 1  „When culture is everywhere“ lautet das dritte Kapitel des Buches „Transna­ tional connections“ von Ulf Hannerz (1996). 2  Kultur wird bei H. Kahn als „collective programming of the mind that distinguishes the members of one category of people from those of another“ definiert. Zitiert nach Hofstede / Bond (1988), S.  6.

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Die Frage der richtigen Einschätzung der Relevanz von Kultur für das Handeln darf nicht unterschätzt werden. An dieser Frage scheiden sich heute die Geister, als Repräsentanten unterschiedlicher Disziplinen als auch als Vertreter derselben Disziplin. Biologistische Ansätze, die an die „Intelligenz“ des Gens glauben und ökonomistische Konzeptionen, die nur und überall das rationale Kalkül am Werke sehen, haben eines gemeinsam: In ihrer Erklärung menschlichen Handelns verzichten sie gerne auf die „Variable“ Kultur. Genetische Betrachtungsweisen des Menschen sind als solche gewiss nicht zu verdammen, denn die Wirkungsmächtigkeit des Gens steht außer Zweifel. Die Frage ist hier vielmehr, was „macht“ Kultur aus einer vorgegebenen genetischen Anlage? Man kann ebenso nicht hoch genug die Macht der Rationalität als Instrument der Abwägung und Wahl von Handlungsoptionen in einer bestimmten Situation veranschlagen. Auch hier stellt sich allerdings die Frage, auf welche Weise ist Kultur bei der Definition der Situation, die uns erst etwas als erstrebenswert erscheinen lässt, oder auch nicht, beteiligt? Der Vertreter der heutigen Kultursoziologie meldet sich allerdings nicht allein bei jenen Positionen kritisch zu Wort, die Kultur vernachlässigen bzw. ausblenden. Er nimmt auch zu jenen Auffassungen kritisch Stellung, für die Kultur den Schlüssel darstellt, der alle Türen öffnet. Es gibt heute vielleicht aus kultursoziologischer Perspektive nichts Schädlicheres als jene Auffassungen, für die menschliches Handeln eine direkte Resultante bestimmter kultureller Inhalte oder, wie man im heutigen Jargon zu sagen pflegt, „Codes“, „Schemata“, „Muster“ und „Programme“ ist. Nichts trägt heute vielleicht mehr zur Diskreditierung des Kulturbegriffes bei, als seine Inflationierung im sozialwissenschaftlichen Diskurs und in der sozialwissenschaftlichen Praxis. Die Einrichtung neuer Studiengänge unter der viel versprechenden Etikette „Kultur und …“, mag sich bislang als ein erfolgreiches Mittel erwiesen haben (wie lange noch?), Einschreibungsquoten an Universitäten zu erhöhen. Taucht hier das Wort Kultur nicht als bloße Verzierung oder leere Floskel auf, was nicht selten der Fall ist, so wäre zu fragen, wie hier mit dem Kulturbegriff operiert wird. Die mehr oder weniger ausgesprochene Annahme ist oft dabei, dass es möglich sei, gültige Aussagen über die kausale Wirkung bestimmter kulturelle Inhalte auf so disparate Phänomene wie wirtschaftliche Entwicklung, Entstehung von Konflikten und Konfliktlösung, oder den Umgang mit der natürlichen Umwelt zu treffen. Nicht dass Kultur an der Entstehung und Gestaltung dieser Phänomene nicht beteiligt wäre. Die entscheidende Frage ist aber: Wie ist Kultur daran beteiligt? Die Antwort auf diese Frage verweist auf das Relationsgeflecht von Kultur, Sozialstruktur und Individuum, als eigenständige, jedoch interdependen-



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te Handlungsdimensionen. Sie verweist auf die Tatsache, dass Kultur ohne eine adäquate Berücksichtigung von strukturell zu konturierenden Handlungskontexten und ohne das In-Rechnung-Stellen eines Situationen definierenden und rational abwägenden Individuums ein leeres Wort bleibt. Ähnliches ließe sich über die in vieler Hinsicht modische Erscheinung interkultureller Studien sagen. Auch die interkulturelle Perspektive, sei es als Erschließung fremdkultureller Denk- und Verhaltensweisen, sei es als Akquisition „nützlicher“ Kompetenzen im Umgang mit fremden Kulturen, feiert heute (wie lange noch?) Hochkonjunktur. Ein Phänomen, das wahrscheinlich anhalten wird, solange es als ausgemacht gilt, dass die Kurzschließung von Individuum und Kultur Auskunft darauf geben kann, warum der Chinese, der Kongolese oder der Franzose so handeln, wie sie handeln. Diese Umgangsformen mit Kultur, indem sie ihr Objekt banalisieren, tragen dazu bei, diejenigen in ihrer Meinung zu bestärken, die meinen, Kultur habe in sozialwissenschaftlichen Erklärungsversuchen nichts zu suchen. Diese Betrachtungen führen direkt ins Zentrum der Kultursoziologie als einer Wissenschaft, die neben Kultur auch das Soziale und das Individuum ernst nimmt. Freilich sind letztere geschichtlich betrachtet, durch Kultur konstituiert. Es gilt aber daran festzuhalten, dass beide Eigengesetzlichkeiten entfalten, die auf Kultur zurückwirken. Kultur, soziale Struktur und Person sind, wie Jacob Burckhardt sagen würde, „Potenzen“, die in ihrer dialektischen Verschränkung und gegenseitigen Beeinflussung betrachtet werden müssen. Dies wird klar, wenn man betrachtet, wie Weber die Einwirkung von „Ideen“ auf die soziale Wirklichkeit zu veranschaulichen versucht. Ideen bleiben solche Potenzen, solange nicht auf die strukturell zu qualifizierende Handlungssituation als handlungsermöglichenden aber auch handlungseinschränkenden Kontext Bezug genommen wird. Dies entspricht der Tatsache, dass sich die soziale Wirklichkeit nur als eine aus sozialstrukturellen und kulturellen Elementen zusammengesetzte Einheit verstehen lässt, dass also Kultur in soziale Strukturen eingelagert ist und dass sich das intrikate Zusammenspiel zwischen beiden Elementen in einem Prozess der „Dialektik ohne Versöhnung“ (Michael Landmann) immer wieder neu gestaltet. Ideen bleiben aber auch dann Ideen, wenn man nicht zeigt, wie sich Individuen und Gruppen ihrer bemächtigen, sie in Auseinandersetzung mit anderen Ideen verteidigen, legitimieren, an gegebene Umständen anpassen und vielleicht auch, wenn sie ihren Interessen nicht mehr entsprechen, dann verwerfen. Die kultursoziologische Perspektive operiert nicht mit einem durch Symbole bzw. Werte gesteuerten Menschen, wie eine bestimmte Tradition in den Sozialwissenschaften gelegentlich annimmt. Sie setzt im Ge-

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genteil ein waches, kreatives und der Distanz zum Faktischen fähiges Individuum voraus.3 Diese fundamentale Annahme bezieht die Kultursoziologie vor allem aus ihrer Beschäftigung mit den Klassikern der philosophischen Anthropologie. Von Ernst Cassirer, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen wird die Vorstellung des Menschen als einem Kulturwesen übernommen, das weder durch seine Naturanlagen hinreichend gesteuert wird, noch etwa durch seine Verstandesfähigkeiten bloß auf eine optimale Adaption an äußere Gegebenheiten festgelegt wird. Als kulturfähiges, kulturwilliges und kulturbedürftiges Wesen ist der Mensch vielmehr gefordert, sich seine eigene Wirklichkeit aus Ideen und Werten selbst zu schaffen. Erst durch die Bedeutungen, die er seinem Handeln gibt, konstituieren sich für ihn Welt, Selbst und Gesellschaft. Der Mensch gilt nicht nur als „Schöpfer“ und „Geschöpf“ sozialer Einrichtungen und Regelungen, sondern auch in gleicher Weise als Produzent und Produkt geistiger und sittlicher Bedeutungen, mit denen, und wegen derer er die sozialen Einrichtungen und Regeln sogar zu durchbrechen und zu verändern pflegt. Berücksichtigt man Kultur, soziale Struktur und Individuum als eigenständige, wenn auch interdependente Dimensionen, so erweist sich der gesamtgesellschaftliche Kulturbegriff als eine – gleichwohl theoretisch notwendige – Fiktion, die – wenn überhaupt – nur in so genannten „primitiven Gesellschaften“ Realität für sich beanspruchen konnte. Es war der Fehler der klassischen amerikanischen cultural anthropology, dass sie von der Kultur der „primitiven“ Gesellschaften auf die Kultur von modernen Gesellschaften schloss und damit einer Substantialisierung, also einer Essentialisierung, Totalisierung, und Territorialisierung von Kultur Vorschub leistete. Denn Kultur verteilt sich in jeder Gesellschaft innerhalb unterschiedlicher sozialer Gruppen und in unterschiedlichen Formen. Der Gegensatz von „bürgerlicher Kultur“ und „Volkskultur“, von „Hochkultur“ und „Alltagskultur“ ist nur ein (heute allerdings weitgehend überholter) Ausdruck dieses Sachverhalts. Die Verteilung von Kultur in einer gegebenen Gesellschaft zu erfassen und zu beschreiben, ist immer eine empirische Aufgabe. Und gerade hier steht die Kultursoziologie angesichts übergreifender – auch die 3  Dies macht klar warum Kultur kein Objekt ist, sondern eine Relation und deshalb dauernd in Bewegung, ‚in action‘ ist. Sie entwickelt sich auch nicht als „Separatum, sie artikuliert sich in den Verhältnissen, Beziehungsformen und Wechselprozessen der Gesellschaft“ (Lipp 1994, S.  76). Vielleicht wäre es sogar der Sachlage angemessener, den Gegendstand der Kultursoziologie nicht mehr länger in der ‚Kultur‘, sondern im ‚kulturellen Wandel‘ zu sehen. Die Kultursoziologie muss sich jedenfalls des dauernden Gestaltwandels ihres Gegenstandes bewusst sein. Sie darf, wie Friedrich H. Tenbruck (1979, S.  405) es formulierte, „kein einzelnes Problem, keine einzelne Perspektive, kein einzelnes Gebiet kanonisieren, sie kann nicht an einer Erscheinung eine verpflichtende Theorie und Methode entwickeln“.



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Kultur betreffende – Individualisierungs-, Pluralisierungs- und Globalisierungsprozesse vor der schwierigen Aufgabe, die neuartigen, sich oftmals widersprechenden Verteilungsmuster und die sich in den meisten gesellschaftlichen Wirklichkeitsbereichen fast täglich neu zusammenwürfelnden, in der Regel medial vorproduzierten „Kultursynkretismen“ adäquat zu erkennen und zu beschreiben. Welche Perspektiven für die Kultursoziologie? Ausgehend von den oben diskutierten Grundannahmen formulierten die Gründer der Sektion Kultursoziologie ein Forschungsprogramm, das heute, auch angesichts der bedenklichen Entwicklungen in der neure Kulturdebatte, die oben angesprochen wurden, seine Aktualität behält.4 Wir fassen im Folgenden dieses Programm in seinen Grundzügen zusammen: 1. Die Erfassung und „dichte Beschreibung“ (Clifford Geertz) der Bedeutungsmuster oder der „geglaubten Wirklichkeiten“, welche dem individuellen wie dem sozialen Handeln der Menschen, explizit oder implizit, quer durch alle Daseinsbereiche und Institutionen als Voraussetzungen und Intentionen Halt und Sinn geben. 2. Die Suche nach den Ursachen, Modalitäten und Orten der Entstehung solcher Bedeutungsmuster oder „geglaubter Wirklichkeiten“. Warum, wie und wo haben sich Ideen, Bedeutungen und Werte gebildet? In welchen symbolischen Formen und Praktiken treten sie auf? Wie verfestigen sie sich zu Institutionen, zu Dogmen und / oder kanonisierten Lehrsätzen? 3. Die Identifikation der Akteure, ihren Strategien und Interessen. Welche stummen oder ausdrücklich formulierten Traditionen bestimmen gängige Bedeutungsmuster? Wer sind diejenigen, die sie thematisieren, verwalten 4  Mitte der Siebziger Jahre wurde auf Initiative von Wolfgang Lipp (Bielefeld) ein „Arbeitskreis Kultursoziologie“ gegründet. Er präsentierte sich beim 19. Deutschen Soziologentag als ad-hoc-Gruppe, aus deren Verhandlungen ein von Wolfgang Lipp und Friedrich H. Tenbruck herausgegebenes, für die weitere Entwicklung der Kultursoziologie in Deutschland richtungweisendes Schwerpunktheft der Kölner Zeitschrift (s. Lipp / Tenbruck 1979) hervorging. Im Dezember 1985 wurde der Arbeitskreis offiziell umgewandelt in die „Sektion Kultursoziologie“ der DGS.  Die Gründungskonzeption der Sektion war getragen durch das Bestreben, die verschütteten Traditionen der klassischen deutschen Kultursoziologie wie sie unter anderem mit den Namen Max Weber, Georg Simmel und Ernst Troeltsch verbunden sind, wieder aufzunehmen und der soziologischen Öffentlichkeit erneut ins Bewusstsein zu rufen. Zu den Gründungsmitgliedern der Sektion zählten u. a. Arnold Zingerle und folgende Autoren dieser Festschrift: Robert Hettlage, Georg Kamphausen, Carlo Mongardini, Eckart Pankoke, Karl-Siegbert Rehberg, Justin Stagl, Hartmann Tyrell und Johannes Weiß.

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und begründen, wie gehen sie dabei vor und von welchen Interessen werden sie dabei geleitet? Welche neuen Bedeutungsmuster, „geglaubte Wirklichkeiten“ oder auch „hergestellte Wirklichkeiten“ entstehen? Wer bringt sie ins Spiel, aus welchen Motiven und mit welchen Strategien und Absichten? Welche gelten als repräsentativ und welche nicht, und das heißt vor allem, welche werden entweder aktiv geteilt oder passiv respektiert und welche eben nicht? 4. Die Suche nach den Sozialformen und typisierten Handlungen, in denen „geglaubte“ und „hergestellte Wirklichkeiten“ soziale Gestalt annehmen. Welche Verhaltensstandardisierungen, Rollen und Normen und welche sozialen Gruppen (Gemeinschaften, Assoziationen, Szenen) bilden sich um welche Bedeutungsmuster? Wie sind diese Gruppen organisiert und strukturiert? Wie ist das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Elite und bloßen Mitläufern? Welcher Kommunikationsformen bedienen sie sich typischerweise? 5. Die Beschreibung und Analyse jener alltäglichen Gebrauchsgegenstände (vom Automobil über die Kleidung und die Wohneinrichtung bis hin zur Architektur und anderen künstlerischen Produkten), in denen sich „geglaubte“ und „hergestellte Wirklichkeiten“ materialisieren. Was ist gerade „in“ und was ist gerade „out“ und warum? Wie sehen die alltagsästhetischen Präferenzen (Moden) der Menschen aus? Wie wandeln sie sich und wer lenkt den Wandel? 6. Die Analyse der Kulturbedeutung solcher „geglaubter“ und „hergestellter Wirklichkeiten“. Welche Logik und Dynamik liegt ihnen zugrunde? Welche Macht üben sie über das Handeln der einzelnen, über die sozialen Institutionen und über die gesellschaftliche Entwicklung aus? Eine Kultursoziologie, die solche Fragen stellt, überschreitet zum einen die engen Grenzen soziologischer Binnendifferenzierung – dies gehörte von Anfang an zu den Grundüberzeugungen der Gründungsmitglieder der Sektion. Kultursoziologie versteht sich nicht als eine Bindestrich-Soziologie, die sich allein um die Prozesse der ästhetischen Produktionen des Theater-, Musik-, Literatur- und Kunstbetriebs oder um das Gebiet der religiösen, weltanschaulichen und wissenschaftlichen Ideenproduktion kümmert. Eine Kultursoziologie, die solche Fragen stellt, ist zum anderen auf Zusammenarbeit mit anderen Kulturwissenschaften angewiesen, insbesondere auf die Geschichtswissenschaft, weil kultursoziologische Fragestellungen ohne eine vertiefte Kenntnis geschichtlicher Zusammenhänge nicht möglich sind, aber auch auf Kooperationen mit der Ethnologie und Volkskunde, der Religionswissenschaft, der Theologie und den Literatur-, Musik- und Kunstwissenschaften. Kultursoziologie verstand und versteht sich in diesem Sinne als



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eine interdisziplinär angelegte, eigenständige Theorie- und Forschungsdisziplin innerhalb der Soziologie.5 Dieses hier nur skizzierte Programm ist ohne Zweifel erfolgreich gewesen. Die Kultursoziologie als eigenständige und interdisziplinär angelegte Theorie- und Forschungsdisziplin hat nicht nur in der Soziologie ihren Platz zurückerobert, sie avancierte darüber hinaus auch wieder zur theoretischen Leitdisziplin im inter- und transdisziplinären Diskurs. Mit ihrem Erfolg, den man durchaus als eine kulturalistische Wende innerhalb der Soziologie bezeichnen kann, sah sich diese neuere deutsche Kultursoziologie auch der Konkurrenz anderer Positionen mit ähnlichen Ansprüchen ausgesetzt. Zu nennen sind hier zum einen die kultursoziologische Position Pierre Bour­ dieus, die mit ihrem Habitus-Konzept vor allem die soziologische Sozialstruktur- und Gender-Forschung stark beeinflusst hat, zum anderen ist auf die französischen und anglo-amerikanischen Postmodernisten hinzuweisen, die aus einer zumeist neo-marxistischen Analyseperspektive die Zerstörungspotentiale der kapitalistischen Massenkultur untersuchen und auf die angelsächsischen cultural studies, die in einer dekonstruktivistischen Perspektive vor allem die authentischen Bedeutungsmuster und Symbolpraktiken populär- oder subkultureller Gruppen und Bewegungen unter dem Aspekt eines in der Moderne tobenden „Kampfes um Bedeutung“ und „ästhetische Definitionsmacht“ unter die Lupe nehmen.6 Hinzu kommt, dass sich parallel zu der Institutionalisierung dieser neueren deutschen Kultursoziologie andere, auf ähnliche, wenn auch nicht identische Theorietraditionen zurückgreifende Schulen gebildet haben, so zum Beispiel eine primär auf Alfred Schütz und Thomas Luckmann rekurrierende phänomenologisch orientierte Kultursoziologie (die allerdings unter dem Namen Wissenssoziologie firmiert), eine vor allem am Denken Helmuth Plessners orientierte philosophische Kultursoziologie und eine weitgehend an Norbert Elias anschließende Forschungsrichtung, die unter der Bezeichnung Zivilisationstheorie läuft. Es würde den Tatsachen nicht entsprechen, zu behaupten, die in diesem Band gesammelten Aufsätze, an deren Abfassung Vertreter unterschiedlicher Disziplinen beteiligt sind, ziehen alle an einem Strang. Der hier vorgelegte Sammelband geht auf ein Symposion zu Ehren des 65. Geburtstages eines Mitbegründers der Sektion Kultursoziologie, Arnold Zingerle, zurück. Er ist durch jene typische Heterogenität geprägt, die Sammelbände zur Ehrung eines geschätzten Kollegen nach Abschluss eines langen und produktiven akademischen Lebens oft prägen. Gleichwohl ist an der vorliegenden Veröffentlichung die Intention erkennbar, kultursoziologische Fragestellungen in ihrer historischen, theoretischen und empirischen Dimension zu beleuch5  6 

Vgl. dazu Gebhardt (2003). Vgl. dazu Göttlich / Albrecht / Gebhardt (2002).

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ten. Er soll dazu dienen, zum einen (auch kritische) Rückschau zu halten, zum anderen aber – in einer übergreifenden Standortbestimmung – die Fragen nach den spezifischen Aufgaben der Kultursoziologie und der kultursoziologischen Forschung nach der vollzogenen kulturalistischen Wende in der Soziologie und darüber hinaus neuen Antworten zuzuführen. Literatur Gebhardt, Winfried: Vielfältiges Bemühen. Zum Stand kultursoziologischer Forschung im deutschsprachigen Raum, in: Orth, B. / Schwietring, T. / Weiß, J. (Hg.): Soziologische Forschung: Stand und Perspektiven. Ein Handbuch, Opladen: Leske+Budrich 2003, S.  215–226. Göttlich, Udo / Albrecht, Clemens / Gebhardt, Winfried (Hg.): Populäre Kultur als repräsentative Kultur. Die Herausforderung der Cultural Studies, Köln: von Halem 2002. Hannerz, Ulf: Transnational connections. Culture, people, places, London / New York: Routledge 1996. Hofstede, Geert / Bond, Michael Harris: The Confucius connection: From cultural roots to economic growth, in: Organizational Dynamics 16, Heft 4, 1988, S.  5–21. Lipp, Wolfgang: Drama Kultur, Berlin: Duncker & Humblot 1994. Lipp, Wolfgang / Tenbruck, Friedrich H. (Hg.): Schwerpunktheft Kultursoziologie, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 31, Heft 3, 1979. Tenbruck, Friedrich H.: Die Aufgaben der Kultursoziologie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 31, Heft 3, 1979, S.  399–421.

I. Theoretische Einblicke

Deutungs-Aufgaben: Kultursoziologie  zwischen ­Faktenzwang und Wirklichkeitsverlust* Von Karl-Siegbert Rehberg I. Cultural turn und die Gründung der DGS-Sektion Kultursoziologie Der cultural – wie auch der linguistic oder neuerdings iconic – turn hat die Kultur- und Sozialwissenschaften seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nachhaltig verändert. Für die deutsche Soziologie war das mit einer Rückkehr der Kultursoziologie aus marginalisierter Stellung verbunden, obwohl doch die Gründungsväter des Faches, selbst wenn sie diese Benennung vermieden, sämtlich eine als „kultursoziologisch“ beschreibbare Perspektive eingenommen hatten. Dabei erschienen alle sozialen Zusammenhänge als „Kulturtatsachen“, gewiss immer auch „das Ökonomische“, so dass Ernst Troeltsch geradezu postulieren konnte, die wissenschaftlichen Elemente des Marxismus seien in die Soziologie übergegangen. Deshalb liege deren wichtigste Aufgabe in der Klärung des UnterbauÜberbau-Problems: „Man bezeichnet dieses Problem infolgedessen heute geradezu als das der Kultursoziologie.“1 An die Klassiker des Faches, vor allem an Max Weber, knüpfte auch Arnold Zingerle an. In seiner, mit dem Aufbau des Bayreuther Kulturschwerpunktes eng verbundenen Arbeit führte er eine doppelte Perspektivierung weiter: Zum einen ging es ihm um die kultursoziologische Heraushebung von Sinnsetzungs- und Sinndeutungsprozessen sowie um sozial-kulturelle Phänomene, wie z. B. Charisma, Ehre oder die (ihm wenigstens nicht anachronistisch erscheinende) „Höflichkeit“. *  Herzlich bedanke ich mich für die Unterstützung bei der Arbeit an diesem Aufsatz bei Tim Deubel und Lena Respondek. 1  Vgl. Troeltsch (1961), S. 370. Das wird auch bestätigt durch Max Webers ersten Entwurf für das „Handbuch der politischen Ökonomie“ (später: „Grundriß der So­ zialökonomik“), wo er für einen geplanten Abschnitt seines Beitrages den Arbeits­ titel „Wirtschaft und Kultur (Kritik des historischen Materialismus)“ notiert; vgl. Schluchter (1989), S.  56 f. Emil Lederer sieht sich in seinem Beitrag über Kultur­ soziologie in der „Erinnerungsgabe für Max Weber“ (1923), S.  149 f. genötigt, die „soziologische Betrachtung“ ganz ausdrücklich von der „materialistischen Geschichtsauffassung“ abzugrenzen, wesentlich gegen deren Determinismus argumentierend (ebd., S.  164).

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Aber es gibt bei ihm auch die Beziehung zu einer anderen Bedeutungsschicht des Wortes, zu den „Kulturen“ im Plural. In diesem Fall wird das durch seinen kenntnisreichen Rekurs vor allem auf den chinesischen Kulturkreis verwirklicht. In Justin Stagls „Ortsbestimmung“2 (ein Titel, der an Helmut Schelskys einstmalige Kampfschrift über unser Fach gemahnt) sind in polemischer Zuspitzung wichtige Entwicklungen bis zur heutigen Lage der Kultursoziologie vor Augen geführt.3 Hier sollen demgegenüber Situation und Funktion der Kultursoziologie erläutert werden, indem die Gründungskonstellation der Sektion „Kultursoziologie“ in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) zum Ausgangspunkt genommen wird. Die Vorgeschichte bringt auch René König ins Spiel.4 Dessen kultursoziologischer Hintergrund hatte für die westdeutsche Soziologie nach 1945 in merkwürdiger Umkehrung gewirkt. Seit seiner Dissertation bei Max Dessoir, in der es um das Verhältnis von ­Soziologie und deren Einfluss auf die naturalistische Literatur, besonders Emile Zolas, ging5 (eine Konstellation beschreibend, wie Wolf Lepenies sie später in seinen „Drei Kulturen“6 behandelt hat), bemühte König sich nach seiner Rückkehr aus dem Schweizer Exil um eine wissenschaftliche (Selbst-) Disziplinierung. Er legte sich als kultiviertem Weltbürger eine empiriebezogene Askese auf und stand deshalb noch zwanzig Jahre später in disziplinpolitischem Widerspruch zur Initiative einer Neubegründung der Kultursoziologie, wie Friedrich H. Tenbruck und Wolfgang Lipp sie in den 1970er Jahren ergriffen hatten. Allerdings konnte deren Programm doch in einem Schwerpunktheft der von König redigierten (es war dies ein „peer-review“ besonderer Art!) Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie im Jahre 1979 erscheinen.7 Seit seiner Zürcher Zeit und der Neubearbeitung seiner „Kritik der historisch-existentialistischen Philosophie“8 wies König auf der Basis einer von Durkheim angeregten „objektiven Soziologie“ jeden „Radikalismus der Lebensverbundenheit in den Geisteswissenschaften“9 zurück, somit auch die Justin Stagls Aufsatz im vorliegenden Band. Schelsky (1959). 4  Clemens Albrecht hatte beim Kasseler Soziologiekongress im Jahre 2006 dem, seit etwa dreißig Jahren beobachtbaren Wiederaufstieg der deutschen Kultursoziologie eine Ad-hoc-Gruppe gewidmet, die zugleich an René Königs hundertsten Geburtstag erinnern sollte, im Verhandlungsband (Rehberg 2008a) aber nicht dokumentiert ist. 5  Vgl. König (1930). 6  Vgl. Lepenies (1985). 7  Vgl. Lipp / Tenbruck (1979). 8  Vgl. König (1975). 9  Es ist dies die Überschrift des ersten Teils der Habilitationsschrift von König (1975), vgl. ebd., S.  23–148. 2  Vgl. 3  Vgl.



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Dilthey-Linie des historischen Denkens, aber ebenso alle lebensphilosophischen Positionen. Nie wäre ihm in den Sinn gekommen, Emile Durkheim als den ihn inspirierenden Aufklärungsautor „jenseits von Dogmatismus und Skepsis“10 – den er mit guten Gründen etwa gegen Adornos Verdächtigung eines latenten Faschismus’11 verteidigte – von Entgrenzungs- und Efferveszensphänomenen her zu deuten. König interessierte bei der Darlegung der Durkheimschen Argumente zum Totemismus, die er im Lichte der Analyse desselben Phänomens durch Claude Lévi-Strauss rekonstruierte, stattdessen die rituell-emotionale und zugleich ‚rationale‘, aus der Geschichte gelernt habende, Legitimierung der gemeinsamen Ordnung auf der Basis eines demokratischen Laizismus’.12 Nach Deutschland zurückgekehrt, propagierte er dann eine Soziologie, die „nichts als Soziologie“ sein sollte13, also alle geschichtsphilosophischen, anthropologischen und gesellschaftstheoretischen Fragestellungen strikt zu vermeiden hätte. Clemens Albrecht hat auf der Basis der editorischen Recherchen von Hans J. Hummell einige Motive freigelegt, die König zu einer derart radikalen Neuorientierung geführt haben mögen, dass er nämlich mit seiner Kritik auch sich selbst gemeint haben könnte, sich von früheren Positionen so scharf abgrenzend, dass niemand mehr sie ihm zuschreiben oder anlasten könnte.14 Ganz anders verlief die Richtung der von Tenbruck angestoßenen Debatte, die vielleicht auf die Neugründung einer kultursoziologischen Vereinigung gezielt hatte. Man hätte sich diese in Opposition zur Deutschen Gesellschaft für Soziologie denken sollen, somit auch zur „UNESCO-Soziologie“ der International Sociological Association (ISA), deren deutscher Mitbegründer und zeitweiliger Präsident gerade René König gewesen war. Gegen diese internationale Vertretung der deutschen Soziologie wurde schon 1951 die Deutsche Sektion des Institut International de Sociologie (IIS) König (1978a). Adorno (1967), S.  7–44, wo es u. a. heißt, dass Durkheims „zwanghafter Kollektivglaube nach rückwärts gestaut worden [sei] wie nachmals in manchen faschistischen Ideologien“ (ebd., S.  15). 12  Vgl. König (1978b). 13  König (1958), S.  7. 14  König war zuerst nach Sizilien, dann in sein Schweizer Exil gegangen, nachdem ein Angriff auf ihn im SS-Organ „Das schwarze Korps“ wahrscheinlich werden ließ, dass er in Deutschland nicht werde habilitieren können. Dort wurde er allerdings (gleich Othmar Spann und Ernst Niekisch) als einer jener „Schreibtischgelehrten“ [!] angegriffen, die dem Gedanken einer völkischen Wissenschaft zwar nahestünden, denen aber gerade deshalb umso schärfer vorzuwerfen sei, dass sie keinen „Zugang zu den nationalsozialistischen Grundwerten“ gefunden hätten; vgl. Clemens Albrechts (2002) Rezension zweier Bände der „Schriften“ René Königs, die zugleich ein folgenschwerer biographischer Essay über eine von König verborgene und verdrängte Seite seiner wissenschaftlichen Biographie während der NS-Zeit darstellt. 10  Vgl. 11  Vgl.

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gegründet. Dieses war 1893 von René Worms initiiert und nach 1945 von Corrado Gini, dem ehemaligen Leiter des von Mussolini eingerichteten Italienischen Zentralinstituts für Statistik, fortgeführt worden.15 Jedenfalls lag in diesem Angriff auf die DGS-Politik mehr als nur ein organisatorischer Affront. Auch der programmatische Neuentwurf für eine Kultursoziologie, die mehr sein sollte als nur eine spezielle Abteilung der Gesamtdisziplin, war mit Grundsatzpositionen verbunden. Zwar argumentierten Tenbruck und Lipp vorsichtig-ausgleichend für die Notwendigkeit, Kultursoziologie als Alternative zu einem „generalisierten Marxismus“ (wie Tenbruck den, besonders in der „Kölner Schule“ adaptierten Strukturfunktionalismus nannte) ins Spiel zu bringen. Das geschah jedoch – wie schon bei den Mitte der 1970er Jahre beginnenden Vorbereitungstreffen im Bielefelder Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) deutlich wurde – vor dem Hintergrund der scharfen Attacken Tenbrucks auf eine Mainstream-Soziologie, die in einer folgenreichen Begriffs- und Vorstellungsverschiebung nur noch von kollektiven Subjekten handele und funktionalistisch verengt sei, schlimmer noch: die das Alltagsbewusstsein von der Bundesregierung bis in die Kindergärten hinein präge. Gleichwohl sollten die alten Dualismen – wie Kultur vs. Zivilisation, Kultursoziologie vs. Analyse „äußerer Ordnungen“ (Dilthey) etc. – nicht wieder aufleben. Vielmehr ging es um eine Rehabilitierung des Sinnverstehens als einer Basis aller (auch der quantitativen) soziologischen Forschung. Der Streit um Tenbrucks polemische These von der „Abschaffung des Menschen“ durch die Struktursoziologie16, mit der er vor allem die politisierte Trivialisierung soziologischer Konstrukte scharfsinnig auflas und angriff, beschäftigte die Zunft. So setzte sich Joachim Matthes 1980 als Vorsitzender der DGS in seiner Eröffnungsrede des 20. Deutschen Soziologentages in Bremen mit den Kritikern Schelsky und Tenbruck ausführlich auseinander.17 Es ging um kontroverse Ansichten über die Aufgabenstellung der Soziologie, wobei sich zeigte, dass man Tenbrucks Positionierung der Kulturdimension durchaus auch in einen Zusammenhang mit Helmut Schelskys „anti-soziologischem“ Abschied vom Fach stellen konnte.18 1984 hatte dann in Dortmund beim 22. Deutschen Soziologentag die (nicht eben zur Freude Tenbrucks) neugegründete Sektion für „Kultursozio15  Vgl. zu diesem von Gunther Ipsen als „Bürgerkrieg in der Soziologie“ bezeichneten Streit: Weyer (1984), S.  79–87. 16  Tenbruck (1984). 17  Vgl. Matthes (1981). 18  Vgl. Rehberg (1986).



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logie“ ihren ersten öffentlichen Auftritt19; Gründungssprecher wurde bekanntlich Wolfgang Lipp. „Kultur“ erschien – wie Helmuth Berking in dem von ihm gemeinsam mit Richard Faber herausgegebenen Buch „Kultur­ soziologie. Symptom des Zeitgeistes?“ schrieb – als „Zauberformel unserer Geistesgegenwart“: „Wo früher ‚Gesellschaft‘ war, […] ist heute ‚Kultur‘ geworden.“20 Das war eine Übertreibungsformel, die der erklärten Programmatik für die Neugründung einer kultursoziologischen Sektion zwar widersprach, jedoch den streitbaren Gehalt gegen die Hegemonie der ‚SuhrkampKultur‘ gut traf. Korrekturen der analytischen Perspektive, Wiederkehr eines verdrängten, aber reichhaltigen Potentials soziologischer Forschung, schließlich auch Distinktionswünsche (nicht zuletzt gegenüber der Kritischen Theorie, obwohl diese sich im Kern doch auf eine Kritik der „Kulturindustrie“ reduziert hatte, aber auch gegenüber Norbert Elias, dessen zufälliges Auftreten in einer der ZiF-Vorbereitungssitzungen Tenbruck zu relativ panischen Reak­ tionen veranlasste), auch Abgrenzungsbedürfnisse also spielten bei der Institutionalisierung der Kultursoziologie im Rahmen der DGS eine wichtige Rolle. Es ging um mehr als um Anzüge und Krawatten, Sprachkenntnisse und Bildungsgut. Jedoch erwies sich als zutreffend, was Manfred Lauermann in seinem witzig-phänomenologischen Versuch der Beschreibung einer Schulbildung ebenfalls anmerkte: „Der Denkstil [der Gründungsmitglieder der Sektion] ist wahlverwandt.“21 Übrigens hat gerade die Sektion „Kultursoziologie“ – entgegen allem Misstrauen, das ihr in den Gremien der DGS anfangs entgegenschlug – durch Themenöffnung und unterschiedlichste Kooperationsformen das Gegenteil der befürchteten Selbstabschließung erzeugt, etwa durch die Einrichtung von Arbeitsgemeinschaften wie der für „Philosophische Anthropologie und Soziologie“, die von Konrad Thomas und mir organisiert worden war, später auch der Cultural Studies oder der Konsumsoziologie. Hier könnte übrigens auch die klassisch so bedeutsame, in den heutigen Soziologien auf der ganzen Welt jedoch randständig gewordene Kunstsoziologie eine Heimstatt finden, anknüpfend an Bemühungen vor allem von Hans Peter Thurn. Die ethnologische Perspektive war durch Justin Stagl präsent; aber hier war die Ausdifferenzierung der Disziplinen doch so weit fortgeschritten, dass es allenfalls zu überfachlichen Kooperationen und zu einer ethnologischen Anreicherung der deutschen kultursoziologischen Diskurse kommen konnte, 19  Dort sprachen Wolfgang Lipp, Karl-Siegbert Rehberg, Justin Stagl, Alois Hahn, Joachim Matthes und Hans-Peter Thurn; vgl. Franz (1985), S. 212–227 sowie Schäfers (1985). 20  Berking (1989), S.  25. 21  Lauermann (1989).

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nicht zu einer genuinen Ethno-Kultursoziologie (trotz der etwa gleichzeitigen Karriere ethno-methodologischer und die eigene Gesellschaft ethnographisch verfremdender Ansätze). Die Wirkung der theoretisch und diskursiv wiederbelebten Perspektive wurde vor allem aber durch die Neuentdeckung der großen ‚kultursoziologischen‘ Autoren befördert, allen voran Max Webers, dann Georg Simmels (nun als Theoretiker der Moderne) und der Begründer der Kultursoziologie im engeren Sinne, so auch als einem Analytiker der „Systeme der Kultur“, Wilhelm Diltheys. Später kamen auch Ernst Grünwald, Alfred Vierkandt, Max Scheler oder Alfred Weber wieder in den Blick, nicht zuletzt die Wissenssoziologie Karl Mannheims.22 Das vollzog sich im Kontext einer breiteren Kulturalisierung wissenschaftlicher Fragestellungen und einer überall bemerkbaren öffent­lichen Aufwertung des Kulturbereichs seit den 1970er Jahren. In der Soziologie konnte man darin wohl auch eine Reaktion auf die Ermüdungen der neomarxistischen Diskussionen über „Basis“ und „Überbau“ und der Suche nach „Gesetzmäßigkeiten“ sehen. Allerdings vollzog sich das in verschiedenen Ländern ganz unterschiedlich. Der Strukturalismus und die gegen ihren Willen „poststrukturalistisch“ genannten Autoren mobilisierten in Frankreich den kulturellen Blick für eine untergründige Machtkritik. Michel Foucault ­wäre zu nennen, sodann die ethnologisch angeleitete Analyse der gesellschaft­lichen Ordnungen durch kulturelle Geltungskämpfe und -hierarchisierungen, wie Pierre Bourdieu sie entwickelt hat. All das trug zur Kulturalisierung der Soziologie ebenso bei wie die protosoziologischen Fundamentalanalysen von Verstehensgrundlagen und Sinnhorizonten in der phänomenologischen Tradition.23 In den Vereinigten Staaten halfen kultursoziologische Orientierungen bei der Überwindung der Dichotomie zwischen behavioristischen und mechanistischen Konzepten des menschlichen Handelns auf der einen und Deutungen der anthropologischen „Intersubjektivität“ des Menschen24 auf der anderen Seite. Und nach Talcott Parsons integrationsorientierten Funktionsbeschreibungen des Kultursystems25 war es besonders Jeffrey Alexander, der im Rahmen des Neo-Funktionalismus eine kulturelle Perspektivierung forderte26; in Deutschland könnte man für diesen Theoriezusammenhang etwa an 22  Erstmals wurden kultursoziologische Manuskripte Karl Mannheims publiziert, die den Rahmen für das Programm der Wissenssoziologie absteckten; vgl. Mannheim (1980) sowie die Dokumentation des Streites um die Wissenssoziologie in Meja / Stehr (1982). 23  Man denke an die Wirkung eines „Kultbuches“ für den akademischen Unterricht: Berger / Luckmann (1966). 24  Mead (1973) und Joas (1980; 1985). 25  Vgl. dazu auch Baecker (1999). 26  Vgl. Alexander / Seidman (1990).



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die anders gelagerten Kultur-Evolutions-Studien von Richard Münch denken.27 Viele dieser Autoren – zuerst in der Ungleichheitsforschung, dann in seiner Strukturierungstheorie auch Anthony Giddens28 – suchten eine Brücke zwischen Marx und Weber zu schlagen, welche nun in ein neues Verhältnis zueinander gesetzt werden konnten. Rezipiert wurden in der Bundesrepublik jedoch auch semiotische Konzepte (besonders Charles S.  Peirce) und der Strukturalismus, etwa Roland Barthes, sodann die gesamte Bandbreite der Poststrukturalisten und Dekonstruktivisten. Ein Durchbruch der Kulturperspektive gelang international durch die Einbeziehung ethnologischer Autoren, allen voran von Clifford Geertz’ und Mary Douglas’. Aber auch die Communitarians reicherten die Kulturdiskurse an, indem sie gegen die Gefahren des modernen ‚Rückzugs-Individualismus‘ Sinngebungs-Ressourcen forderten, die durch eigene Traditionen und „Erinnerungsgemeinschaften“ gespeist wären.29 Eine große Karriere machte nun auch wieder Durkheims ‚Sozialtheologie‘ des Heiligen und der zivilreligiösen Bindungskraft – wie überhaupt Rituale zu einer Schlüsselkategorie unterschiedlichster Kulturvergleiche wurden30: Arnold van Genepp wurde wieder aktuell, Victor Turner ein zentraler Autor. Beeinflusst vor allem durch die Erschließung des Werks von Antonio Gramsci31 entwickelte sich auch ein kultureller Neomarxismus. Es dürfte schließlich die in der gleichen Zeit aufsteigende Kulturalisierung der Geschlechterbeziehungen und -definitionen (auch wenn man nicht zu dem radikalen Konstruktivismus von Judith Butler32 kommen will) eine Art Schwungrad für die kultursoziologische Perspektive gewesen sein. Was die Unterschiedlichkeit von Kulturansätzen nach dieser ‚Erfolgsgeschichte‘ betrifft, hat Winfried Gebhardt in einer Bestandsaufnahme der soziologischen Forschung aus der Sicht der DGS-Sektionen einen ersten Überblick gegeben33 (zu den Cultural Studies vgl. Abschnitt VI.). Alle diese Beispiele machen klar, dass mit dem cultural turn Disziplinüberschreitungen unausweichlich wurden. Allerdings darf man dabei (vor allem mit Blick auf Hochschulkarrieren) eine negativ wirksame, allen bekannte, zumeist jedoch ignorierte Paradoxie nicht übersehen: Überall bedient man sich einer, die Münch (1984). Giddens (1979) und (1988). 29  Vgl. Bellah u. a. (1987) und Etzioni (1996). 30  Vgl. z. B. Wulf (2004) und für die mediävistische Forschung Althoff (2004) oder Schmitt (1992). 31  Wirkungsvoll war besonders die internationale („praxistheoretische“) Rezep­ tion seiner Quaderni del carcere, die in Italien zwischen 1948 und 1951 publiziert worden waren; vgl. Gramsci (1991–1994) sowie (1983). 32  Vgl. Butler (1990). 33  Vgl. Gebhardt (2003). 27  Vgl. 28  Vgl.

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Disziplingrenzen transzendieren sollenden Rhetorik, während alle Entscheidungen im Wissenschaftssystem disziplinären Kriterien folgen. II. Kultur als Virtualität Der Erfolg der Kultursoziologie hatte auch seinen Preis. Hatte Tenbruck vor allem an Max Webers historische „Wirklichkeitswissenschaft“ gedacht, wurden – besonders während der Blüte postmoderner Diskurse – Wirklichkeitsauflösungen zunehmend bedeutsam: Alles konnte zum „Text“ werden, alles zur bloßen „Konstruktion“. Andreas Reckwitz hat in seiner innertheoretischen Rekonstruktion kulturtheoretischer Ansätze immer auch die wissenssoziologische Überlegung „äußerer“ Einflussgrößen mitlaufen lassen und den Erfolg des kulturellen Blicks ganz wesentlich auf Tendenzen der (Post-)Modernisierung in den reichsten Gesellschaften bezogen. Subjektivierung und Selbstorganisation in der bürgerlichen Gesellschaft waren Voraussetzungen einer „organisierten Moderne“ (Peter Wagner34), die sich in Richtung einer „Hochmoderne“ entwickelt, welche von Ulrich Beck und Anthony Giddens die geschichtsphilosophisch eingestimmte Benennung einer „Zweiten“ oder „reflexiven“ Moderne erhalten hat.35 Prägend wurden Kontingenzerfahrungen und Differenzwahrnehmungen als Bedingungen kollektiver und individueller Identität.36 Das Mögliche scheint heute so attraktiv zu sein wie einstmals in Positivismus oder Marxismus das Gesetzmäßige. Es werden Möglichkeitsräume imaginiert, die vielleicht nicht einmal Robert Musils Protagonist Ullrich für möglich gehalten hätte. Einleuchtend ist die seit dem Historismus entwickelte Kritik an EinFaktor-Theorien der Gesellschaftsentwicklung37, weniger hingegen die neueste Tendenz, alle Bestimmungsfaktoren der Entwicklung in bloße Kontingenzbeziehungen aufzulösen. Das stimmt zwar in dem trivialen Sinne, dass alles jeweils auch anders hätte kommen können, nicht aber für die „Pfadabhängigkeiten“ bestimmter Entwicklungslinien. Eine Kritik an einem Einheitsmodell, wie etwa Alexandre Kojève und ihm folgend Francis Fukuyama es bis ins Karikaturhafte überpointiert hatten, wenn sie die gesamte Menschheit als potentielle US-Amerikaner ansahen38, ist schlüssig. Aber die StrukWagner (1995). ganze, von Ulrich Beck herausgegebene Suhrkamp-Reihe „Edition Zweite Moderne“ zeugt davon. 36  Vgl. Makropoulos (1997). 37  Das wurde für die Moderne bereits relativiert durch Eisenstadt (2002). 38  Alexandre Kojève sah in den Vereinigten Staaten das „Endstadium des marxistischen ‚Kommunismus‘ erreicht“, „da praktisch alle Mitglieder einer ‚klassenlosen Gesellschaft‘ dort schon jetzt erwerben können, was ihnen gefällt, ohne deshalb 34  Vgl.

35  Eine



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turähnlichkeiten und -übernahmen in Modernisierungsprozessen sind doch gleichermaßen unübersehbar. Kontingenzeuphorie mag die dekonstruktivistischen Aspekte kulturwissenschaftlicher Perspektiven begünstigen. Jedoch kommt gegenüber den Virtualisierungsaspekten zunehmend wieder die ‚Materialität‘ in den Blick, gibt es die Anerkennung des „Vetos der Fakten“. Manche datieren das auf die gewaltsame Geburtsstunde durch den (inzwischen zum Topos verkommenen) NineEleven. Es scheint wieder bewusst zu werden, dass sich – entgegen postmodernen Suggestionen (zuweilen auch Niklas Luhmanns) – in den fluiden Welten von Lebensstilen und Systemkopplungen durchaus reale Machtprozesse sowie Geltungs- und Einflusshierarchien aufweisen lassen. Bourdieu hatte das lange zuvor in den Mittelpunkt seiner Gesellschaftsanalyse gestellt, dabei zwar von „Klassen“ sprechend, aber in einer Weise, dass deren kulturell geprägte, implizit mit der ständischen Geschichte Frankreichs verbundenen Geschmacksausprägungen entscheidend wurden.39 Luhmann hatte mit Bezug auf England ganz ähnlich vermutet, dass „Kultur“ dort in Absetzung von der industriellen Moderne als ein „Schichtattribut“ gelte, welches „nicht mehr auf Geburt verweist, sich aber auch nicht allein dem mit industrieller Produktion erworbenen Reichtum überlässt“40. Derartige Distinktionsprozesse gelten aber nicht nur innergesellschaftlich. Seit langem ist „die Weltgesellschaft“ ­hierarchisiert und „Kultur“ wird nachdrücklich mit den daraus entstehenden Konflikten in engsten Zusammenhang gebracht. Das erklärt den Erfolg von Samuel Huntingtons Annahme über die neuartigen Kultur- und Konfliktkonstellationen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts.41 In ähnlicher Weise erscheint die Flut von Neuentdeckungen des Religiösen, wird geradezu eine „Wiederkehr der Götter“42 in Aussicht gestellt. Vielleicht ist es aber auch nur so, dass die Säkularisierungsgewissheiten in öffentlichen Kulturdiskursen, sodann auch die (partiell durchaus zutreffende) Individualisierungssoziologie bestimmte Wirklichkeitsausschnitte derart aus dem Blick verloren hatten, dass man sich nun darüber verwundert zeigt, allen diesen weltbildprägenden Kulturtatsachen wieder zu begegnen. Umgekehrt heißt das übrigens nicht, dass alle Säkularisierungsthesen verfehlt wären; aber sie haben eben selbst eine mythologische Dimension43 angenommen. mehr arbeiten zu müssen, als sie Lust haben“. Auch wirkten „Amerikaner nur deshalb wie reichgewordene Russen und Chinesen […], weil die Russen und Chinesen einfach noch arme Amerikaner sind“; vgl. Kojève (1988), zit. in König (1980), S.  287 ff.; ähnlich argumentiert: Fukuyama (1992). 39  Vgl. Bourdieu (1982). 40  Luhmann (1999), S.  40 f. 41  Vgl. Huntington (1997). 42  Vgl. Graf (2004). 43  Darauf hat konsequent Hans Blumenberg (1974) hingewiesen.

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III. Exkurs: Luhmanns Umgehung des Kulturbegriffes Trotz des institutionellen Erfolges der soziologischen Kulturperspektive – den man auch an Ausschreibungstexten für Professuren oder an Themen erfolgreicher Forschungsanträge (z. B. dem neuen „Exzellenzcluster“ der Universität Konstanz) ablesen kann –, trotz dieser nicht nur Drittmittel mobilisierenden Themen-Durchsetzung, melden sich zunehmend Stimmen, die das Soziale vom Kulturellen erneut scheiden wollen. Das hängt mit der erwähnten Literarisierung und Virtualisierung von Kulturkonzepten ebenso zusammen wie mit der wirkungsreichen Verdrängung des Kulturbegriffs durch eine so prominente Theorie wie die von Niklas Luhmann. Mag sein, dass er sich damit – wie von der Philosophischen Anthropologie Arnold Gehlens, vielleicht eher sogar noch von dessen unbequem gewordenen, angriffslustigen Konservativismus – zu distanzieren suchte von der „Abendland“-Schwärmerei der ersten Nachkriegszeit. Die Suche nach einem neuen Geschichtssinn sollte zur Verarbeitung der selbstverschuldeten Katastrophe beitragen und erwies sich als Hintergrundsfolie der westdeutschen Variante einer gesamtdeutschen Flucht aus der Geschichte.44 Theodor W. Adorno bemerkte nach seiner Rückkehr aus dem Exil an die Frankfurter Universität, dass es im Nachkriegsdeutschland zwar ein starkes Interesse an „geistigen Dingen“ gebe, jedoch habe der „Umgang mit Kultur […] etwas von dem gefährlichen und zweideutigen Trost der Geborgenheit im Provinziellen. […] Bildung heute hat nicht im geringsten die Funktion, das geschehene Grauen und die eigene Verantwortung vergessen zu machen und zu verdrängen“.45 Gleichwohl überraschte Luhmanns apodiktischer Satz, wonach es sich bei „Kultur“ um „einen der schlimmsten Begriffe“ handele, „die je gebildet worden sind“.46 Wenigstens verhindere er ein Verständnis gesellschaftlicher Sonderphänomene wie der Kunst. Er hat übrigens als Ersatzbegriff für „Kultur“ den der „gepflegten Semantik“ entwickelt. Damit knüpft er ebenfalls an die antike, aus der Agrikultur entwickelte Metaphorik des Pflegens und Hegens an. Seine von da aus entfalteten wissenssoziologischen Studien eröffnen einen Distanzraum zu allen kausalen Kurzschlüssen zwischen Gesellschaftsstruktur und Sinnproduktion und dem Autor zugleich ein weites Feld, seine eigene Kultiviertheit zu demonstrieren, indem er durch überraschende Quellenfunde die Selbstproduktion des Sinns und seiner Verzweigungsmöglichkeiten zu einem unerschöpflichen Thema macht. Jedenfalls lässt sich auf diese Weise der ontologische Ballast der Rehberg (2002). (1971), S.  20 f. 46  Luhmann (1995), S.  398. 44  Vgl.

45  Adorno



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Begriffsgeschichte abwerfen. Zur gesellschaftlichen Selbstbeobachtung gehört auch die Konstruk­tion von Vergangenheit. Aus ganz anderer Perspektive hat Arnold Zingerle das in einer Kritik an Manuel Castells’ „Netz­ werkgesellschafts“-Analyse bestätigt.47 IV. Beispiel: Universität als System, Organisation und Institution Arnold Zingerle hat in seiner Abschiedsvorlesung48 die heutige Lage der Universität, die vermuteten Folgen der ‚Reformen‘ (wie inzwischen jede Verschlechterung genannt wird), die Wahrscheinlichkeit bestimmter Entwicklungspfade dargestellt und skeptisch beurteilt. Das war nur thematisierbar mit Bezug auf Wissenskulturen, auf Bildung etwa, und die seit der Berliner Universitätsgründung von 1810 auf Reflexion angelegte Wissenschaftlichkeit der Universität. In diesem, die deutschen Hochschulen insgesamt betreffenden Leitideen-Kampf, in dem die Schlachtrufe „Bologna“ heißen oder „Konzentration“ (was immer Kürzungen und Streichungen meint), „Flexibilisierung“, schließlich „Exzellenz-Universität“ (was implizit wohl die Zurückstufung der Mehrheit deutscher Universitäten zu finanziell noch schlechter gestellten, reinen Lehranstalten euphemistisch verdecken soll), geht es um Dimensionen der Hochschulrealität, die analytisch nicht ohne die Unterscheidung von „Institution“ und „System“ erfasst werden können. Anders gesagt: Die Universität wird unter Ignorierung ihrer institutionellen Gestalt als Großorganisation reformiert, die Plausibilitäten dieses Aspekts auf das Ganze der höheren Bildung übertragen. Es ist nicht von ungefähr, dass Luhmann die Universität nur noch im Medium von Interviews und boshaft-verschmitzten Essays behandeln wollte, als „Mi­ lieu“, das sich gegenüber den Kategorien ausdifferenzierter Teilsysteme der Gesellschaft nur noch in Erlebnisbegriffen fassen lasse. Demgegenüber wurde die „Wissenschaft der Gesellschaft“ als dasjenige Subsystem beschrieben, das mittels der binären Opposition „wahr / falsch“ prozessiert. Das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium „Wahrheit“ erscheint dann als Bedingung, mehr noch als „Katalysator“ für die Ausdifferenzierung von Wissenschaft als System.49 Ohne einen spezifischen Wahrheitsbegriff und ohne Durchsetzung einer sozialen Eigenorganisation für die auf ihm beruhenden Operationen würde Wissenschaft nicht existieren – es gibt eben auch Gesellschaften ohne Wissenschaft, d. h. ohne ein mit autonomen Regeln versehenes Wahrheitsproblem. In der modernen GeZingerle (2005), bes., S.  125–133. Zingerle (2007) sowie Rehberg (2009). 49  Vgl. Luhmann (1990), bes. S.  167 ff. 47  Vgl. 48  Vgl.

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sellschaft hat Wissenschaft sich demgegenüber als wichtiges Teilsystem etabliert, ergänzt sich selbst, verfeinert sich, wirkt auf andere Systeme und wird von diesen beeinflusst. Entscheidend ist hier, dass auch dieses System „rekursiv“ ist, wie Luhmann sagt, das heißt, dass im Wissenschaftssystem eine Form der Beobachtung entwickelt wurde, die sich in besonderer Weise selbst (und zwar in ihrer Beobachtungstätigkeit) beobachtet, woraus eine Mehrebenigkeit der Perspektive entsteht – eben das, was wir „Reflexion“ zu nennen längst gewohnt waren. Wissenschaft also produziert Wissenschaft, verwissenschaftlicht die aus der Umwelt eindringenden Problemstellungen und Realitätszumutungen. Das soll lakonisch wirken und ist – der technisch-komplizierten Sprache zum Trotz – verblüffend einfach. Luhmanns Buch über die Wissenschaft ist voll von faszinierenden Überlegungen und von dem bei ihm gewohnten Scharfsinn. So kann man über die Co-Evolution von Gesellschaft und Wissenschaft50, über die Umstellung von ontologischem auf konstruktivistisches und von einheitstheoretischem auf differenztheoretisches Wissen51 viel lernen, unausschöpfbar der in dem Buche steckende Diskussionsstoff. Aber „Universität“ kommt – im Sachregister ganz unerwähnt – nur zufällig vor.52 Sie ist für den Bielefelder autopoietischen Gelehrten eine historische Voraussetzung des autonomen Wissenschaftssystems.53 Heute sind Hochschulen, systemtheoretisch gesprochen, Koppelungssysteme, ein Wechselbalg aus Wissenschafts- und Erziehungssystemen. Die kulturellen Rahmenbedingungen, gar das, was man zu Recht die „Idee“ der Universität genannt hat, lässt sich so nicht erfassen, weshalb man – gerade auch für ein Verständnis der Wissenschaftsentwicklung – eine andere Perspektive hinzufügen müsste. Universität ist eben nicht nur als Wissensraum oder als systemisch hochgetriebene Kommunikation zu verstehen, auch nicht nur als formale Organisation. Vielmehr ist sie auch als „Institution“ zu beschreiben.54 Vergisst man durch die blendende Abstrak­ tionshöhe Luhmanns nicht die politischen Konnotationen und sozusagen die „Kulturbedeutung“ seiner Theorie, so erscheint höchst einleuchtend, warum er den Institutionenbegriff zunehmend verdrängte, ihn schließlich für untheo­ retisierbar und nicht trennscharf genug haltend. Deshalb hat er ihn aus seiner Analyse am Ende ganz ausgeschieden, ihn nur noch als Kontrastfolie für etwas merkwürdig „Geisteswissenschaftliches“ verwendend. Der Begriff könne – sagt er zur Abschreckung – den Eindruck erwecken, „dass etwas 50  Ebd.,

S.  608. S.  627. 52  Vgl. z. B. ebd., S.  353, 450, 625, 639, 643 u. 678 f. 53  So auch in Luhmann (1997), S.  566. 54  Vgl. zur „Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen“: Rehberg (1994) und (2001). 51  Ebd.,



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Höheres, Sinnreicheres, vielleicht auch Geheimnisvolleres im Spiel sei“.55 Da schaute wieder „Kultur“ um die Ecke. An der Universitätsentwicklung lässt sich gut demonstrieren, wie wichtig es ist, deren symbolische Selbstbehauptung samt den (bis heute wirksamen) Konflikten um ihre möglichen Zielsetzungen institutionenanalytisch zu verstehen. Die „Leitidee“ der deutschen Universität (vermittelt durch diese, aber etwa auch der US-amerikanischen Liberal College-Traditionen, was hierzulande jedoch in Vergessenheit geriet) scheint symbolisch oft in der Kurzformel „Humboldt“ auf. Das ist in erster Linie nicht nur der Name eines der preußischen Reformer, sondern die Kurzbezeichnung für ein ganzes Programm, dessen diskursive Aktualität unbestreitbar ist. In vielen Auseinandersetzungen wird – zumeist historisch ungenau – auf Wilhelm v. Humboldt verwiesen, der 1809 Direktor der Sektion für Kultus und Unterricht im preußischen Innenministerium wurde, das Amt ungern angetreten hatte und im Konflikt mit dem König, der ihn damals noch nicht zum Minister machte, kaum mehr als zwölf Monate nach Amtsantritt seinen Rückzug in die Diplomatie antrat. Seine – auch von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Johann Gottlieb Fichte und anderen bereicherte56 – Gründungsidee der Berliner Universität strukturiert noch heute Geltungsansprüche und Konfliktaustragungen im Feld der universitären Beziehungen. Das ist durchaus merkwürdig, denn es ist unübersehbar, wie sehr sich Bedingungen und Formen des akademischen Studiums seither verändert haben – organisa­ tionssoziologisch lässt sich die Aktualität der Gründungsüberlegungen aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts eigentlich nicht verstehen, vom Gesichtspunkt der Institution her aber sehr wohl. Die letzte ungebrochene Darstellung fand diese „Leitidee“ 1923, dann nochmals 1946 durch Karl Jaspers. Obwohl seine Beobachtung schon geschärft war durch den skeptischen Blick des von ihm so bewunderten Max Weber und dessen unerbittlichen Kritiken am Hochschulwesen, hielt Jaspers an Formeln der Selbstermutigung ungebrochen fest. Die Universität blieb ihm die Stätte, „an der Gesellschaft und Staat das hellste Bewußtsein des Zeitalters sich entfalten lassen“ und zwar durch ständische Formung, sokratische Erziehung im Dialog und die Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden.57 Systemtheoretisch fanden sich sehr ähnliche Gedanken später in Talcott Parsons’ Darstellung der Universität als „Treuhändersystem“ der Rationalität.58 55  Luhmann

(1992), S.  92; vgl. dazu Rehberg (2005), S.  302 ff. Anrich (1956); darauf haben sich Diskurse zur Verteidigung und Reform der Universität immer wieder bezogen, etwa Paulsen (1966), Jaspers (1980) oder Schelsky (1963) sowie, vom Tübinger Fall ausgehend, Jens (1977). 57  Vgl. Jaspers (1980), S.  9. 58  Parsons / Platt (1990). 56  Vgl.

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Wenn man heute die „Leitidee“ der Universität als institutionellen Mecha­ nismus näher betrachtet, dann zeigt sich, dass viele der Spannungen und Widersprüchlichkeiten, durch welche die Hochschulen gekennzeichnet sind, bereits in der Gründungsphase mitgedacht oder doch in die gewählten Lösungen eingebaut waren – zum Teil als unaufgelöstes Problem, zum Teil als gewollte Synthese. Diese ist jedoch ohne Auseinandersetzungen um die Auslegung ­dieser „Idee“, um ihren Gehalt und ihre Geltungsreichweite nicht zu denken. Es liegt eine Besonderheit institutioneller Ordnungsstabilisierung darin, dass die Vielschichtigkeit der Optionen und Möglichkeiten, ja sogar noch des in einem Konzept Ausgeschlossenen, präsent bleiben, d. h. in verschiedenen ­Situationen und aus unterschiedlichen Interessenlagen heraus mobilisierbar werden. Daraus eben besteht die kulturelle Vielschichtigkeit und in Konflikten jeweils neu austragbare Bestimmbarkeit von Institutionen. Weil es sich immer um Leitdifferenzen handelt – wofür Luhmann, aber auch Autoren im Umkreis des Poststrukturalismus und Protagonisten des Postmoderne-Denkens den Blick geschärft haben –, ist es nun keineswegs so, wie im Alltag oft unterstellt und wie in jeder Institutionenmetaphysik vorausgesetzt wird, dass es eine unveränderbare Idee (die sich, hegelianisch gesprochen, im Handeln der Menschen selbst auslege) gäbe, der alles Ordnungshandeln nur zu folgen habe. Deshalb ist es auch nicht so, dass die Universität als einheitliches, sozusagen „organisches“ Gebilde in Reinform je existiert hätte und erst nach 1945 oder durch die Bildungsausweitung der sechziger Jahre oder den Ansturm der Studentenrevolte, zerbrochen oder zerstört worden sei. In welchem Maße die Universität nicht nur als Großorganisation oder als System der Wahr-Falsch-Kommunikationen zu begreifen ist, wird immer dann deutlich, wenn es um verschärfte Konflikte geht. Dafür ist die Studentenrevolte der späten 1960er und beginnenden 70er Jahre das treffendste, und viele auch noch nachträglich erschütternde, Beispiel. Die Universität wurde projektiv gleichsam zum Mikrokosmos der kapitalistischen Welt gemacht, der als Lebensstil-Laboratorium ebenso wie als Produktionsstätte einer politisierten Form ‚weltbürgerlicher‘ Orientierung dienen sollte. Diese Auseinandersetzungen, ihre Bloßstellungserfolge und Partizipationsanstöße, aber auch Überziehungen, ihr Witz ebenso wie ihre Kategorienverwechslungen oder selbst produzierten Engstirnigkeiten und zuweilen sogar Brutalitäten sind hier nicht zu analysieren. Lediglich sei daran erinnert, in welchem Maße Universitäten von der symbolischen Vermittlung ihrer Ordnung abhängen und wie irritierbar sie sind, wenn man sie genau dort angreift. Dann versteht man auch, dass symbolische Ordnungen nichts Unwirk­ liches, nur Erdachtes, Übersinnliches sind. Welcher Empörungs- und Emotionsaufwand, wenn eine Studentin sich in einer Senatssitzung an einen Stuhl anketten ließ, um so „die Öffentlichkeit“ der Sitzung „herzustellen“,



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wenn Rektorate besetzt, Titel verhöhnt, Veranstaltungen umfunktioniert wurden. Darin drückten sich handfeste strukturelle Probleme – nicht nur gesamtgesellschaftlicher Art (wie man damals gerne sagte), sondern auch auf der Ebene der immer ungenügender ausgestatteten Hochschulen und ihrer, den neuen Verhältnissen in keiner Weise mehr gerecht werdenden, Ordinarienverfassung aus. Aber die Angriffsflächen waren symbolische. So haben die westdeutschen Universitäten den Anpassungsprozess an die neue Situation durch sofortiges Überbordwerfen ritueller Selbstdarstellungsformen begonnen. Die Professorentalare wanderten nur in der Bundesrepublik in Schränke und Asservatenkammern – in Bonn mag man sie heimlich angelegt haben, in der DDR verblieben sie den Rektoren, die heute wie vereinsamte Opfertiere den Zug der anzugbewehrten Dekanen bei den wieder aufgelebten Immatrikulationsfeiern und Ehrenpromotionen anführen. 1968 hatte sich die Furcht schnell ausgebreitet, dass solcher Aufzug gesellschaftlich inakzeptabel geworden sei. Aus der genial-vereinfachenden Formel „Unter den Talaren, Muff von tausend Jahren“ hörte man in erster Linie ja nicht die lange Geschichte akademischer Institutionen heraus, dachte weder an die karolingische Hofschule noch an die etwas kürzer zurückliegenden Universitätsgründungen in Bologna, Paris, Prag oder Heidelberg. Hamburg, wo Studenten das medienwirksame Spruchband bei der Immatrikulations­ feier des Wintersemesters 1967 / 68 entrollt hatten, war ja überhaupt erst seit 40 Jahren in Betrieb. Die Erinnerung an derlei Traditionen war es also nicht, die zu schockhaften Reaktionen führte. Vielmehr dachte jeder sofort an jene anderen, gerade verstrichenen „Tausend Jahre“ – und das traf. Es ist dies auch eine Geschichte von Trägergruppen, von Interessen- und Machtkonstellationen, von Artikulations- und Verschweigenschancen, also durchaus eine andere als nur die einer ausdifferenzierten Wissenschaftskommunikation. Konkrete historische (und gegenwärtige) Phänomene lassen sich nicht adäquat beschreiben und verstehen (erst recht nicht „erklären“), ohne Bezugnahme auf Akteure, Vermittler und ‚Zuschauer‘, ohne Sinnkontexte und deren Deutung, ohne Rekurs auf Interessenkämpfe und -hierarchisierungen. V. Animal symbolicum und anthropologische Kulturgegebenheit Ich habe dieses Beispiel, das durch Arnold Zingerle nahe gelegt wurde, gewählt, um auch von da aus die Vorteile einer kultursoziologischen Perspektive zu verdeutlichen. Trotz erneuter Skepsis dem Kulturbegriff gegenüber und durchaus auch gegen dessen Umdeutung in eine bloße Kontingenz- und Virtualitätskategorie, vermag sie einen Beitrag zur Vermeidung empiristischer oder radikal-konstruktivistischer Vereinseitigungen zu leis-

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ten.59 Diese Option für eine kultursoziologische Orientierung folgt anthropologischen Prämissen: Seit der Antike wurde der Mensch als ein nicht nur Werkzeuge, sondern zuallererst Symbole schaffendes Tier verstanden. Alle Modalitäten und Formen des menschlichen Lebens hängen von zeichenhaften Verweisungssystemen ab, denn die Mittelbarkeit und Künstlichkeit des menschlichen Weltbezuges ist grundlegend. Das ist in der philosophischen und theologischen Reflexion immer schon präsent gewesen und ist auch ein Schlüsselthema der Philosophischen Anthropologie. Prägnant haben Helmuth Plessner und Arnold Gehlen gezeigt, dass der Mensch „von Natur aus ein Kulturwesen“ ist60, angewiesen darauf, dass seine Antriebsstrukturen, seine „erste Natur“ kulturell geformt werden. Insofern lebt der Mensch in der künstlichen Sphäre einer „zweiten Natur“. Das bedeutet zugleich, dass die von den Menschen wahrgenommene und – selbst noch in den Erkenntnisakten – von ihnen geschaffene „Welt“ stets symbolisch vermittelt ist. Als Kulturwesen ist der Mensch darauf angewiesen, alle Situationen, in denen er lebt, zu deuten und zugleich das Hier und Jetzt zu überschreiten. In jeder konkreten Raum- und Zeitstelle muss er auch andere Wirklichkeiten präsent halten. Insofern ist Kultur gleichbedeutend mit Formen der Situationstranszendierung um der Situationsbewältigung willen. Von da aus lässt sich auch das Spezifische der menschlichen Sozialität verstehen. „Geist“ zu haben, bedeutet die Verfügung nicht nur über Gesten und naturgeleitete Ausdrucksbewegungen, sondern eben auch über „signifikante Symbole“.61 Deren Bedeutung wird gewusst und in die eigenen Absichten eingebaut, vor allem aber kann sie von anderen geteilt werden. Daraus ergeben sich dann die Grundstrukturen menschlichen Handelns sowie die von Alfred Schütz und den phänomenologischen Soziologen behandelten lebensweltlichen und weiter ausdifferenzierten Wissensvorräte, aus denen heraus eine wirklich durch und durch soziale Welt (auch noch als Existenzhintergrund des je Einzelnen) entsteht. Für die Struktur der symbolischen Verfügung über die Welt und über das eigene Selbst hat Gehlen ein Wort Johann Gottfried Herders aufgegriffen: Sprachmäßigkeit.62 Das soll zum Ausdruck bringen, dass der Mensch – die Formierung seiner Antriebsstruktur eingeschlossen – die Weltdinge, aber auch eigene Vorstellungen und Wünsche gegeneinander verschieben und 59  Dass die Soziologie insgesamt eine solche vermittelnde Rolle gegenüber sowohl kulturalistischen als auch empiristisch-naturwissenschaftlichen Vereinseitigungen einzunehmen vermag, habe ich mit Bezug auf die heutige Kontroverse zwischen Biologie und Sozial- bzw. Kulturwissenschaften skizziert in: Rehberg (2008b). 60  Vgl. Gehlen (1993), S.  88 u. ö., sowie Plessner (1981), bes. „Das Gesetz der natürlichen Künstlichkeit“ (S.  383–396). 61  Mead (1973), bes. Teil II, Kap. 9 u. 10 (S.  100 ff.). 62  Gehlen (1993), bes. S.  65, 404 u. ö.



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kombinieren kann, und zwar in der Weise, wie das auf der Ebene der Wörter und Begriffe durch das menschliche Sprachvermögen geschieht. Das heißt jedoch nicht, dass der Mensch wesentlich ein ‚sprechendes‘ Wesen sei. Nicht nur, dass er auch zu schweigen vermag – vielmehr sind seine Wahrnehmungen (schon im Mutterleib) an Körperberührungen geknüpft, konstituieren Tasterfahrungen, Hunger und Gesättigtheit, Wärme und Kälte, Empfindungswechsel und schließlich die Fülle der Seheindrücke und Geräusche sein sachbezogenes und interpersonales Kommunikations- und Erfahrungsfeld. All diese vor- oder metasprachlichen Welt- und Selbstkontakte werden im Gehirn unlösbar mit sprachlichen Zeichen verschweißt – selbst wenn viele davon in Wörtern am wenigsten ausdrückbar sind. Daraus folgt, dass schon die elementaren Lebensprozesse des Menschen – wie prägnant auch Ernst Cassirer gezeigt hat63 – mit dessen Symbolisierungsfähigkeit verknüpft und dass alle kulturellen Leistungen von da aus zu verstehen sind. Sprachzeichen und Bilder schaffen Welten und halten sie verfügbar. Es geschieht dies selbst in Systemzusammenhängen, wie (der vor allem in der Soziologie unterschätzte) Wilhelm Dilthey klar herausgearbeitet hat. Alois Hahn hat darauf nachdrücklich hingewiesen, dies vielleicht als kulturelles Versöhnungsangebot an Luhmann und seine Adepten unterbreitend.64 Insgesamt könnte durchaus also auch gelten: ‚Gerade um die Welt zu verändern, kömmt es darauf an, sie zu interpretieren!‘ VI. Heutiger Bedeutungszuwachs der kultursoziologischen Perspektive Wenn die Geisteswissenschaften und somit auch die Kultursoziologie verunsichert und manchem schon als obsolet erscheinen, so ist das vielleicht ein spezifisch deutsches Phänomen. Zum Teil nämlich könnte der Wechsel von Bildungsüberschätzung und -selbsthass ein Reflex auf die politischen Fehloptionen bildungsbürgerlicher Kreise in der verhängnisvollen ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts sein. Hinzu kommt jedoch, dass die Kulturspezialisten auf Kritik und Selbstkritik so geeicht sind, dass es manchmal so scheinen mag, als ob sie ihre Selbstaufhebung diskursiv jeweils miterzeugen müssten, um sich intellektuell zu rechtfertigen. Und es dürfte wohl auch das „Jahr der Geisteswissenschaften“, welches die Bundesbildungsministerin Annette Schavan 2007 ausrufen ließ, mehr ein Produkt der Verunsicherung oder des Trostes sein, als der stolzen Selbstgewissheit. Was immer auch die Gründe sein mögen, es scheint zum Gemeinplatz geworden zu sein, dass der Stern kulturwissenschaftlich fundierter Erklä63  Vgl. 64  Vgl.

Cassirer (1973–1975); dazu Wassner (1999). Hahn (1992) und (1999).

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rungsansätze zu sinken drohe. Und doch zeigt sich gerade in den neuesten Wissenschaftskonkurrenzen, dass die kultursoziologischen Perspektiven natur- und wirtschaftswissenschaftlich eher bestätigt als widerlegt werden65: Zuerst gilt das für die Debatte um die gehirnphysiologisch bestrittene „Willensfreiheit“, die gezeigt hat, dass die aktionsauslösenden Impulse ohne kulturelle ‚Inhalte‘ nicht zu denken sind. Selbst Benjamin Libet, auf dessen Experimente die kühne Behauptung eines meta-subjektiven Auslösermechanismus sich oft stützt, gab deterministischen Theorien keine so gute Erklärungschance wie solchen, die Willensakte unterstellen.66 Ebenso zeigt sich die zunehmende Bedeutung der Kenntnis von kulturellen Sinnhorizonten und objektivierten Deutungssystemen in der Volkswirtschaftslehre, deren Modelltheorien sich ohne kulturelle Kontextualisierungen zunehmend als realitätsfern erweisen; es dürfte dies den (sogar eine Nobelpreis-Verleihung nicht verhindernden67) ökonomischen Neo-Institutionalismus begünstigt haben. Schließlich lässt sich das auch an soziologischen Theoriekontroversen demonstrieren, nachdem innerhalb der heute sehr prominenten RationalChoice-Ansätze seit Jahren die Tendenz zu einer sekundären Kulturalisierung der Modelle und Erklärungsansätze zunimmt. Immer deutlicher wird, dass rationales Kalkül, dass Vermeidungsinteressen und Wunschpräferenzen, dass die Minimierung von Transaktionskosten etc. ohne die kulturelle Einbindung und deren situative Vermittlung ins Leere laufen (worauf etwa Hartmut Esser mit seiner Theorie der „Situationslogik“68 reagiert hat). Unerwähnt blieben bisher die Cultural Studies, deren Anhänger in Deutschland in dem genannten Forschungsüberblick Winfried Gebhardts nur als „diffuse, weil noch nicht klar strukturierte Gruppe jüngerer Soziologen“ als randständig reportiert wurden.69 Aus meiner Sicht bietet dieser Ansatz eine wichtige Verbindung zu den neuesten Medientheorien, und dies ohne die methodischen und theoretischen Engführungen vieler Kommunikationswissenschaftler. Die aus dem Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham hervorgegangenen Kulturtheoretiker intonierten eine Gegenmelodie zur führenden Kritikstimme der „Frankfurter Schule“ oder auch mancher der sich eher als konservativ verstehenden Kultursoziologinnen und Kultursoziologen. Den englischen (oft aus der Arbeiterbewegung kommenden) Analytikern der Massenkultur war es um die Aufhebung der Trennung von Hochkultur und populärer „Kultur“ und um die Einbeziehung unterauch Rehberg (2008b). Libet (2004). 67  1993 wurde Douglass C. North in Anerkennung seiner Arbeiten über institu­ tionellen ökonomischen Wandel mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet. 68  Vgl. Esser (1996) und (2003) sowie Gresshoff / Schimank (2006). 69  Gebhardt (2003), S.  222. 65  Vgl. 66  Vgl.



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schiedlichster Alltagspraktiken gegangen. Alltagskultur wurde dabei wesentlich unter dem Gesichtspunkt des „Eigensinns“ und ihrer subversiven Potentiale in der Aneignung kultureller Angebote der Kulturindustrie verstanden (und zuweilen doch auch überschätzt). Jedoch ist es wichtig, dass die Kultursoziologie auch diese Stimme aufnimmt (wie in der DGS-Sektion vielfältig geschehen). Manche meinen70, die Kultursoziologie solle sich der vorherrschenden synkretistisch-trivialisierenden Kulturneugier gegenüber in einer neuen Weise auf („bürgerliche“?) Qualitätsdimensionen des Kulturellen besinnen. Nicht länger sollte eine (lebenspraktisch von den daran interessierten Soziologinnen und Soziologen selbst zumeist gar nicht praktizierte) diffuse Ausweitung der Kulturbereiche dominieren. Erst am Maßstab der entscheidenden Kulturleistungen (beispielsweise in den Künsten) ließen sich kultur­ soziologisch trennscharfe Kategorien und Beurteilungskriterien entwickeln. Das ist angesichts der Geltungshierarchien kultureller Praktiken tatsächlich ein unhintergehbarer Bezugspunkt. Jedoch sähe ich in einer programmatischen Themenverschiebung doch eher eine neue Einseitigkeit. Jenseits aller klassen- oder ethno-folkloristischen Verherrlichung der Massenkultur (wie sie zuweilen in den Cultural Studies zu beobachten ist), wäre in jeder kulturellen Praxis das Material auch zu einer Kritik der Macht zu sehen, wie Rainer Winter das angeregt hat71, um der Kulturanalyse eine gesellschaftstheoretische Dimension zu eröffnen. Heute vermag – nach den ideologisch aufgeheizten Konflikten früherer Tage – die Kultursoziologie nicht trotz, sondern wegen ihrer unterschied­ lichen Ansätze und Ausrichtungen die speziellen Soziologien bestimmter kultureller Handlungsfelder miteinander in Kontakt zu bringen sowie methodische Reflexionen und theorievergleichende Perspektiven zu entwickeln. Daraus ergeben sich zugleich ihre Potentiale für sozial- und gesellschaftstheoretische Denkanstrengungen. Ihrer materialen und historisch fundierten Fragestellungen und Materialien wegen ist sie auch in der Lage, aktuelle Kulturprobleme aufzugreifen und eigenwillig zu behandeln. Somit würde sich wiederum – wenn gewiss auch nicht allein von diesem Ansatz her – erweisen, dass ‚Kultur‘ als zentrales Medium menschlicher Lebensweise eine unaufgebbare Bedeutung für alle soziologische Forschung hat.72 Und es ist offensichtlich, dass viele der Protagonisten einer solchen Synthesearbeit im vorliegenden Buch zu Ehren Arnold Zingerles versammelt sind. 70  So Joachim Fischer (Dresden) während der in Anm. 4 erwähnten Ad-hoc-Sitzung beim 33. Kongress der DGS in Kassel 2006. 71  Vgl. Winter (2001), Hörning / Winter (1999), Göttlich / Mikos / Winter (2001 und Grossberg / Nelson / Treichler (1992). 72  Vgl. Zingerle (2005), S.  133 ff. über den „Imperativ des kulturellen Subjekts“.

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Karl-Siegbert Rehberg

– Soziologie als „Wirklichkeitswissenschaft“ jenseits von Naturalismus und Virtualitätseuphorie. Eröffnungsvortrag des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, in: ders. (Hg.): Die Natur der Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt a. M. / New York: Campus 2008b, S.  23–41. – Der unverzichtbare Kulturbegriff, in: Baecker, D. / Kettner, M. / Rustemeyer, D. (Hg.): Zwischen Identität und Konkurrenz. Theorie und Praxis der Kulturrefle­ xion, Bielefeld: transcript 2008c. – Universität als Institution, in: Felten, F. J. / Kehnen, A. / Weinfurter, S. (Hg.): Institution und Charisma. Festschrift für Gert Melville zum 65.  Geburtstag. Köln / Weimar / Wien 2009, S.  9–32. Schäfers, Bernhard: Die Soziologie und ihre Kritiker. Bericht über eine Podiumsdiskussion beim 22. Deutschen Soziologentag, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 37, 1985, S.  185 ff. Schelsky, Helmut: Ortbestimmung der deutschen Soziologie, Düsseldorf / Köln: Diederichs 1959. – Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen, Reinbek: Rowohlt 1963. Schluchter, Wolfgang: „Wirtschaft und Gesellschaft“ – Das Ende eines Mythos, in: Weiß, J. (Hg.): Max Weber heute. Erträge und Probleme der Forschung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S.  55–89. Schmitt, Jean-Claude: Die Logik der Gesten im europäischen Mittelalter, Stuttgart: Klett-Cotta 1922. Tenbruck, Friedrich H.: Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder Die Abschaffung des Menschen, Graz / Wien / Köln: Styria 1984. Troeltsch, Ernst: Gesammelte Schriften, Bd. 3: Der Historismus und seine Probleme [Neudr. d. Ausg. v. 1922], Aalen: Scientia 1961. Wagner, Peter: Soziologie der Moderne. Freiheit und Disziplin, Frankfurt / New York: Campus 1995. Wassner, Rainer: Institution und Symbol. Ernst Cassirers Philosophie und ihre Bedeutung für eine Theorie sozialer und politischer Institutionen, Münster / Hamburg / London: Lit 1999. Weyer, Johannes: Westdeutsche Soziologie 1945–1960. Deutsche Kontinuitäten und nordamerikanischer Einfluß, Berlin: Duncker & Humblot 1984. Winter, Rainer: Die Kunst des Eigensinns. Cultural Studies als Kritik der Macht, Weilerswist: Velbrück 2001. Wulf, Christoph / Zirfas, Jörg (Hg.): Die Kultur des Rituals. Inszenierungen. Praktiken. Symbole, München: Fink 2004. Zingerle, Arnold: Der Hypertext – kultursoziologisch betrachtet, in: Drepper, T. / Göbel, A. / Nokielski, H. (Hg.): Sozialer Wandel und kulturelle Innovation. Historische und systematische Perspektiven. Eckart Pankoke zum 65. Geburtstag, Berlin: Duncker & Humblot 2005, S.  113–136. – Humboldts Universitätsidee – heute. Über Freiheit von Forschung und Lehre als institutionelle Leitidee der Universität, in: Spektrum, Heft 3, 2007, S.  30–36.

Kultur, Kulturen, Kulturalismus Von Justin Stagl I. Soziales durch Soziales zu erklären ist ein Grundprinzip der Soziologie. Gerne erstreckt sie dieses „soziologistische“ Erklärungsprinzip auch auf Kulturelles, das damit zum Epiphänomen des Sozialen herabgestuft wird. Es gibt indes eine soziologische Richtung, die in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Deutschland hervorgetretene „Kultursoziologie“, welche die Kultur als eigene Daseinssphäre neben der Gesellschaft ansieht und die Wechselwirkungen zwischen beiden untersucht.1 Man hat diese Kultursoziologie als eine Reaktion des durch den Ersten Weltkrieg erschütterten deutschen Selbstgefühls zu verstehen gesucht: Von der „Sehnsucht nach einer neuen Kultursynthese“ getrieben habe sie „Kultur nicht als einen analytischen, sondern wieder als Wertbegriff“ verwendet (Winfried Gebhardt). Der Autor setzt mit einem tadelnden Rufzeichen noch hinzu: „Re-Substantialisierung!“.2 Wertender oder analytischer Kulturbegriff, das ist in der Tat der springende Punkt. Warum aber der Tadel? – Es gibt in der empirischen Wirklichkeit viele kulturelle Standards, die schwer oder gar nicht miteinander vereinbar sind. Sie alle werten, und dabei werten sie einander auch ab. Welche Standards und Wertungen sollen also gelten? Der analytische Kulturbegriff resigniert vor dieser Sachlage. Er beschränkt sich darauf, kulturelle Phänomene zu beschreiben und miteinander in Beziehung zu setzen, womit er zeigen kann, dass sie systematische Zusammenhänge bilden, ähnlich wie die Sprachen. Solche „kulturellen Systeme“3 gehören der Ebene des Seins an. Sie lassen sich mit anderen Systemen vergleichen, in Beziehung setzen, vielleicht auch auf solche zurückführen. Und analog zu den Sprachen hat es seit unvordenklichen Zeiten immer mehrere kulturelle Systeme nebeneinander gegeben, welche in verschiedenen Arten der Verwandtschaft, Nachbarschaft, Rehberg (1986). (2003), S.  216. 3  s. Bühl (1986). Bühl bezeichnet die Kultur hier als „lose gekoppeltes, dynamisches und zum Teil fluktuierendes Mehrebenensystem“ (S.  121). 1  s.

2  Gebhardt

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wechselseitigen Beeinflussung oder Abgrenzung ineinander verstrebt waren und sind. Eben daraus ergibt sich das Problem der Unterschiedlichkeit der kulturellen Standards. Wer von Kultur im Sinne von kulturellem System spricht, gebraucht den Begriff daher zumeist im Plural, Kulturen. Diese koinzidieren mehr oder minder exakt mit anderen Formen systematisch integrierter Großgruppen wie Ethnien, Sprach- und Religionsgemeinschaften oder eben auch Gesellschaften. Der Kulturbegriff wird aber auch im Singular, Kultur, gebraucht. Dies ist die ältere Verwendungsweise, die im Alltag vorherrscht, während die Pluralform eher in wissenschaftlichen und ideologischen Diskursen zu finden ist. Kultur im Singular meint nicht ein System, vielmehr einen Prozess, den Prozess der Kultivierung. Dieser Prozess hat eine Richtung und Phasen, ein Früher und Später, Tiefer und Höher, ein Weniger oder Mehr an Kultur: Er wertet. Kultur als Prozess ist der eigentliche europäische Kulturbegriff, der auch in Nachbar- und Alternativbegriffen steckt wie etwa „Zivilisation“.4 Er verweist über das bloße Sein hinaus auf ein Sollen: Wo Unkultur war, soll Kultur werden. Daher muss er sich auch nicht mit Beschreibungen und systematischen Analysen begnügen, sondern kann Bewertungsstandards anlegen und Handlungsanweisungen geben. Ohne ihn gäbe es keine Erziehung, keine Kulturpolitik und auch keine kulturelle Neuorientierung. Das ist die Ausgangslage. Was der analytische gegen den wertenden Kulturbegriff einzuwenden hat, ist die illegitime Vermischung von Sollen und Sein. Freilich ist dessen Sollensaspekt schwer zu begründen und unterliegt zudem dem moralischen Einwand, dass er den eigenen Standpunkt absolut setzt und fremde abwertet. Überdies schafft er Ungleichheit, Stufen der Kultiviertheit, die mit Formen der sozialen Ungleichheit etwa nach Macht, Geld oder Prestige interferieren. So liegt es nahe, ihn aus dem wissenschaftlichen Diskurs auszuschließen und der vorwissenschaftlichen Sphäre der Gesellschaft, und hier dem Bereich des Wir-Gefühls, des Ethnozentrismus, der Rechtfertigung sozio-politischer Hierarchien zuzuweisen. Die Wissenschaft von der Kultur hat sich dann an Kultivierungsprozessen nicht mehr zu beteiligen, sondern sie nur noch zur Kenntnis zu nehmen. Eng verbunden, wenn auch nicht identisch mit dieser Einstellung ist der kulturelle Relativismus, die Forderung, kulturelle Erscheinungen nur aus deren eigenen Voraussetzungen heraus zu erklären.5 Mit einer solchen Abhalfterung des wertenden Kulturbegriffs sind freilich nicht alle Probleme gelöst. Der Eindruck bleibt bestehen, dass der analytische am wertenden und dass die „Kulturen“ an der „Kultur“ parasitieren. 4  Niedermann 5  s.

(1941); Kroeber / Kluckhohn (1952); Sobrevilla (1971). Rudolph (1968) und neuerdings Cappai (2000).



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Es gibt etwas Allgemeinmenschliches und dazu gehört die Kultur – auch in der Vorstellungswelt der anderen Kulturen. Selbst wenn sich alle kulturellen Systeme so klar und deutlich voneinander unterschieden, dass eine Betrachtung „nur aus den eigenen Voraussetzungen heraus“ möglich wäre, selbst unter dieser nicht nachweisbaren, ja unwahrscheinlichen Bedingung bliebe noch zu klären, was „kulturelle Erscheinungen“ eigentlich sind und warum es möglich sein soll, den Begriff „kulturell“ transkulturell zu verwenden. Die Allianz zwischen analytischem Kulturbegriff und kulturellem Relativismus maximiert die zwischen den Menschengruppen bestehenden Unterschiede, minimiert ihre Gemeinsamkeiten und entleert damit die Begriffe „Kultur“ und „Mensch“.6 In Wirklichkeit setzt der analytische den wertenden Kulturbegriff immer schon voraus, ja er selber trifft, wie zu zeigen wird, unterschwellig ziemlich massive Wertungen. II. Zunächst hatte sich die Kultursoziologie auf die kulturellen Hochleistungen („Hochkultur“, „Repräsentativkultur“) konzentriert und andere Formen von kultureller Integration der Gesellschaft („Volks-“, „Populär-“, „Massen-“, „Alltagskultur“) erst allmählich in ihren Interessenskreis einbezogen. Dies geschah in größerem Umfange erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Zusammenhang damit verschob sich das kultursoziologische Forschungsinteresse von der Geistesgeschichte und den Geisteswissenschaften hin zu den Ethnoswissenschaften wie Volkskunde und Ethnologie / Kulturanthro­ pologie. Nicht, dass die Kultursoziologie von diesen Schwesterdisziplinen herzlich willkommen geheißen worden wäre. Es bildete sich ein Verhältnis der Konkurrenz, Abgrenzung und trotzdem der wechselseitigen Beeinflussung. In der Epoche des „Kalten Krieges“, die rückblickend als das Goldene Zeitalter der Soziologie erscheint, konnte die Kultursoziologie als Vorhut des soziologistischen Imperialismus wahrgenommen werden. Doch blieb im Inneren des Faches das Verhältnis zwischen dessen Hauptstrom und der Kultursoziologie weiterhin distanziert. Hier wirkten die Kultursoziologen wie Schöngeister und bunte Vögel. Als im Rahmen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie eine kultursoziologische Sektion gegründet werden sollte (1983 / 84), stießen die Bemühungen auf kühles Miss­ trauen.7 Diese Anfangsschwierigkeiten sind nun überwunden, die Sektion dazu Stagl / Reinhard (2005) sowie Antweiler (2007). Sektion ging auf eine von Wolfgang Lipp 1976 in Bielefeld gegründete Arbeitsgruppe zurück; ein wesentlicher Inspirator aus der älteren Soziologengeneration war Friedrich H. Tenbruck. Bis zur endgültigen Anerkennung durch die DGS 6  s.

7  Die

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floriert, ja sie ist eine der größten der Gesellschaft geworden. Wieso war das möglich? Ich habe relevante Begriffe „gegoogelt“: „Gesellschaft“ kommt auf 85 Millionen Eintragungen, „Gesellschaftswissenschaften“ auf 2,3 Millionen; „Kultur“ dagegen auf 250 Millionen und „Kulturwissenschaften“ auf 3,5 Millionen. Noch vor zehn Jahren wäre das Verhältnis umgekehrt gewesen. Alles aber schlägt ein Zweig der Kulturwissenschaften, die „Cultural Studies“, mit 179.000.000. Stars wie Marilyn Monroe (3,4  Millionen) und Angelina Jolie (10,2 Millionen) werden von diesen locker überholt. Die Cultural Studies befassen sich nicht nur mit der Populärkultur, sie sind geradezu ein Teil von ihr geworden. Darauf wird noch einzugehen sein. Diese paar Zahlen (die dank Google leicht vermehrt werden könnten) bezeugen ganz offensichtlich eine Wende: Kultur ist nun kein etwas anrüchiges Wort mehr und kein Epiphänomen von irgendetwas. Sie gilt heute als eigenständiger Seinsbereich von höchster Dignität. Die Kulturwissenschaften scheinen davor zu stehen, die Sozialwissenschaften zu beerben. Als Kultursoziologe der alten Schule sieht man diesen Trend mit gemischten Gefühlen. Man hat Recht bekommen. Man steht nunmehr nicht gegen den Strom, man schwimmt mit ihm. Das Pathos der Opposition ist das der Stimme des Rufenden in der Wüste. Ist es bloß der Oppositionsgeist, dem es ob der Vollständigkeit dieses Sieges unbehaglich wird? Die Wüste ist doch zur grünen Aue, das Pathos obsolet geworden Das hängt wohl mit den Ereignissen des Jahres 1989 zusammen, gegen die ein vernünftiger Mensch kaum etwas einwenden können wird. Zuvor dominierte ein struktureller Gegensatz zwischen „Ost“ und „West“, nunmehr ist es ein kultureller Gegensatz zwischen dem „Westen“ und dem „Rest der Welt“. Entsprechend wurde der Soziologismus von einem Kulturalismus abgelöst. Doch etwas von der alten Polarität ist auf die neue übergegangen, und der neue Kulturalismus sieht dem alten Soziologismus entsprechend ähnlich. Das soll nun näher begründet werden: III. Kultursoziologie ist laut „Wikipedia“ eine „spezielle Soziologie, die sich (…) Phänomenen des Alltags, aber auch kulturellen Symbolen widmet und Themen wie soziologische Aspekte von Architektur, Bildenden Künsten, Literatur, Musik usw. bearbeitet. Andererseits kann Kultursoziologie als Bezeichnung für eine allgemeinsoziologische Perspektive verwendet werdauerte es bis 1984. Einige Anfangsschwierigkeiten wurden erwähnt in Schäfers / Stagl (2005).



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den, welche die kulturelle Bedingtheit aller sozialen Erscheinungen hervorhebt und sich dadurch von szientistischen Gesellschaftskonzepten abhebt.“8 Dies sind eigentlich zwei Definitionen. Die erste umfasst die Erforschung der Alltagskultur, die kulturelle Semiotik sowie die Soziologie der Kulturinhalte und konstituiert damit ein lockeres Bündel nützlicher Teildisziplinen. Problematischer ist die zweite. Sie nimmt die allgemeinsoziologische Perspektive ein, die auch die klassische Kultursoziologie vertritt, zugleich aber sprengt sie diese Perspektive durch radikale Vereinseitigung. Es interessiert sie allein die Wirkung, welche die Kultur auf die Gesellschaft hat, nicht aber die umgekehrte. Damit verabsolutiert sie die Kultur und stuft die Gesellschaft zu deren Epiphänomen herab. Das ist eben der Ansatz, den man „Kulturalismus“ nennt. Kulturalismus ist der von den Füßen auf den Kopf gestellte Soziologismus. Beide „Ismen“ reduzieren einen Seinsbereich auf einen anderen, wobei der Soziologismus von oben nach unten und der Kulturalismus von unten nach oben verfährt. Dieser will Kulturelles nur durch Kulturelles erklären. Die sozialen Institutionen, die menschlichen Triebe und Bedürfnisse, ja der Organismus selbst mit seinen Entwicklungsphasen, die Geschlechter, Krankheit und Tod gelten ihm als kulturell bedingt und verfügbar.9 Die über dies alles verfügende Kultur aber ist von Menschen gemacht und kann daher auch wieder neu gemacht, dekonstruiert und rekonstruiert werden. Dieser auf Giambattista Vico zurückgehende Gedanke ist heute mit einem Pathos der Erleichterung verbunden. Durch ihn scheinen sich die Zwänge der modernen Welt postmodern zu lockern, das eiserne Gehäuse der Hörigkeit zu einem Gummikäfig zu werden (Ernest Gellner).10 Die Zuchtmeister der Moderne, Wissenschaft und Philosophie, büßen durch ihn ihren privilegierten Beobachterstatus ein und werden selber Beobachtungsobjekte, nämlich für die Kulturwissenschaft. Man kann es geradezu eschatologisch formulieren: Diese fröhliche Wissenschaft verheißt der Menschheit, sie aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit zu führen. Sie kann in einer gemäßigten und in einer radikalen Variante auftreten. Gemäßigt ist zum Beispiel Jeffrey C. Alexander. Er legt der Kultursoziologie nahe, die soziale Wirklichkeit zunächst einmal aus methodischen Gründen „einzuklammern“: „Handlungen und Institutionen müssen behandelt werden, als ob sie nur durch Skripte strukturiert wären“, unter welchem Begriff Alexander die „Codes und Erzählungen“ versteht, welche die einzuklammernden Handlungen und Institutionen generiert haben.11 Ein radikaler 8  s.

Wikipedia, Art.  Kultursoziologie. Cappai (2010). 10  Gellner (1987). 11  Alexander (2004), S.  60. 9  s.

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Kulturalist ist etwa Klaus P. Hansen, der einen semiotisch-konstruktivistischen Kulturbegriff befürwortet, welcher sich „bis zum Kriterium einer von keiner Notwendigkeit getrübten Freiheit und Willkür“ vorwagt und behauptet, dass menschliche Kollektive ihre „Lebenswirklichkeit selbstherrlich und imaginativ“ erzeugen.12 Während Alexander also immerhin noch anerkennt, dass die um die soziale Wirklichkeit zu legende Klammer auch wieder einmal aufgelöst werden muss – spätestens wenn man das kultursoziologische Oberseminar hinter sich lässt –, wird bei Hansen dieses Oberseminar zu der Agentur für die De- und Rekonstruktion der Wirklichkeit. Natürlich spricht nichts gegen die Methode, menschliche Handlungen und Hervorbringungen wie Texte zu interpretieren, hinter denen sich strukturierende Skripte auffinden lassen. Die damit gewonnene Fülle an Erkenntnissen steht außer Streit. Bestritten wird hier allerdings die mit dieser Methode oft verbundene Tendenz, die Wirklichkeit jenseits dieser „Texte“ auszublenden, für uninteressant oder unzugänglich oder gar beliebig verfügbar zu erklären. IV. Die „Kulturalistische Wende“ – Hansen nannte sie einen „stillen Paradigmenwechsel“13 – schlägt ein neues Kapitel in der uralten Auseinandersetzung zwischen Klugheit und Wahrheit, Rhetorik und Philosophie auf: „Was ist Wahrheit?“ hatte Pontius Pilatus gefragt.14 Diese Pilatusfrage stellt auch der Kulturalismus. Philosophische und wissenschaftliche Aussagen sind für ihn Konstruktionen, Texte, und nichts als das. Wer mit dem Anspruch auftritt, eine Wahrheit zu sagen oder auch nur zu suchen, macht sich ihm verdächtig. Der Wahrheitsfreund will etwas. Was will er? In zwischenmenschlichen Beziehungen Hegemonie ausüben: Das muss ihm versalzen werden. In seiner Fröhlichkeit wie in seiner polemischen Tendenz ist der Kulturalismus eher eine eigenständige Bewegung als eine Gegenbewegung. Er tritt auf gegen (a) den „Essentialismus“, (b) den „Szientismus“ und (c) den „Elitarismus“: Ad (a) Anti-Essentialismus: Häufig findet man Ankündigungen einer „nichtessentialistischen Theorie“ von irgendwas oder den Vorwurf eines „essentialistischen Diskurses“ an irgendjemanden. Was soll das heißen? Ein solcher Diskurs gilt als verwerflich, und zwar aus wissenschaftsphilosophi12  Hansen

(1993), S.  173, 171; s. dazu auch noch Stagl (2004). Hansen (1993). 14  Joh. 18, 38. 13  s.



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schen, vor allem aber aus moralisch-politischen Gründen.15 Der „Essentialist“ lässt sich als Nachfahre des „Bourgeois“ ansehen, insoferne er eine nicht nur unhaltbare, sondern auch bösartige Ideologie vertritt. Wer Allgemeinbegriffe verwendet und Allgemeinaussagen macht, erhebt sich über das Hier und Jetzt, will, dass die anderen ihm beipflichten und beansprucht somit einen Vorrang vor diesen. Solche Ansprüche haben einst Aristokraten, Priester und, jawohl, Bourgeois vertreten, heute tun es Philosophen und Wissenschaftler. Sie alle sind durch den Nachweis ungerechtfertigter Essentialisierungen ideologiekritisch zu enttarnen. Ein solcher Panideologismus ist einerseits politisch korrekt und dispensiert andererseits davon, die eigene Position diskursiv zu rechtfertigen. Ad (b) Anti-Szientismus: Wissenschaft sucht als arbeitsteiliges Gemeinschaftsunternehmen mittels kontrolliertem Denken und kontrollierter Erfahrung ein kohärentes, allen Menschen zumutbares Weltbild zu gewinnen. Den Nichtwissenschaftlern gegenüber kann sie sich durch die Nützlichkeit der angewandten Wissenschaften legitimieren. Ihre Kontrolle des Denkens und der Erfahrung ist eine Leistung, die seit nunmehr 2500 Jahren kultiviert worden ist. Die Wissenschaft mit ihren Disziplinen steht insoferne für Kultur im Singular, in diesem besonderen Falle für einen nach Wahr und Falsch wertenden und insoferne nicht bloß analytischen Kulturbegriff. Der AntiSzientismus, der etwa in der zitierten Wikipedia-Definition aufscheint, wendet sich zunächst gegen einen Reduktionismus, der alle Disziplinen auf das Ideal der exakten Naturwissenschaften und ihrer Methodik zurückführen möchte, und auch gegen den Soziologismus. Er kann aber weitergehen und alle Wissenschaftler als Produzenten von Texten und nichts anderem behandeln. Ihre mit Wahrheitsanspruch auftretenden Publikationen werden dann, zumindest implizit, mit Texten etwa der Propaganda oder der Populärkultur gleichgesetzt und gleichbehandelt. Damit kann man die Arbeit der Wissenschaftler bagatellisieren, ohne gleich schon auf die Segnungen der angewandten Wissenschaften verzichten zu müssen. Ad (c) Anti-Elitarismus: „Ziel von Kulturvermittlung kann es nicht sein – schreibt Birgit Mandel – Geschmacksbildung bei weniger gebildeten Gruppen zu betreiben, sondern die Transformationskräfte der Künste selbstverständlicher in unterschiedlichste Bereiche der Gesellschaft im Sinne einer ‚Kultur von allen‘ zu integrieren.“16 Wenn ich die Autorin richtig verstehe, will sie einerseits die „weniger gebildeten Gruppen“ nicht hegemonial be15  s. dazu neuerdings Aleksandrowicz / Weber (2007) und hier vor allem Isernhagen (2007): „Kulturwissenschaft(en) als Konfliktwissenschaft(en): Plädoyer für einen sanften Universalismus“ (Anstelle von „Essentialismus“ sagt man gelegentlich auch „Universalismus“). 16  Mandel (2005), S.  15.

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vormunden, dabei andererseits aber doch am avantgardistischen Credo von den „Transformationskräften der Künste“ festhalten und den Widerspruch zwischen beiden Zielen, den sie fühlt, durch den vieldeutigen Begriff „integrieren“ verdecken. Kultur ist für den Kulturalismus prinzipiell etwas Gutes, nur darf sie nicht von den Wenigen gepflegt werden, die sich dadurch von den Vielen abheben, sie muss zur Sache von Allen werden. So schwärmt denn auch der Begründer der Cultural Studies, Raymond Williams, von „demokratisch partizipativen Kommunikationsgemeinschaften“17, dem kulturalistischen Äquivalent für das, was einst „Gesellschaften“ hieß. Aus diesem Ideal kultureller Gleichverteilung rührt die Faszination, die die dahinschwindenden Stammesgesellschaften, die bedrohte Volkskultur und die nichtelitären Minoritäten und Hybriditäten auf den Kulturalismus ausüben. Er ist somit eigentlich rückwärtsgewandt, eine Form romantischer Flucht aus der Moderne. Doch das anti-elitäre Pathos gibt den selber zur kulturellen Elite gehörenden Kulturalisten das gute Gewissen, das man braucht, wenn man sich auf Dauer durchsetzen will. Die nun folgenden Ausführungen richten sich gegen zwei Hauptströmungen des Kulturalismus, die ich die interpretierende und die verändernde nennen möchte. Vereinfachend gesprochen ist die eine aus der westeuro­ päisch-amerikanischen und die andere aus der marxistisch geprägten Sozialwissenschaft hervorgegangen oder sie sind doch bereit, diese zu beerben. Die eine trägt das Etikett der „Kulturwissenschaften“, die andere das der „Cultural Studies“. V. „Kulturwissenschaft(en)“ – meist wird die Pluralform verwendet – stehen für eine Sparversion der Geisteswissenschaften. Als solche erscheinen sie zumindest in manchen B. A.-Programmen, die sich deutschsprachige Universitäten unter dem Druck des „Bologna-Prozesses“ verordnen. Eignet sich dieser inhaltlich schwach bestimmte Sammelbegriff doch gut dazu, Schwachstellen in der Ausstattung zu kaschieren. Andere Universitäten sind dabei, ein besonderes Fach „Kulturwissenschaften“ einzurichten. Was diese nun eigentlich sind und was genau sie untersuchen, bleibt mehr oder minder ungeklärt, denn sie besitzen keinen Kanon, keine Fachgesellschaft, keinen akademischen Cursus Honorum, vielmehr werden sie von den traditionellen geistes- oder sozialwissenschaftlichen Disziplinen aus betrieben. Eine gewisse Zusammenfassung, wie Studenten sie doch wohl brauchen, bieten Einführungswerke, Sammelbände und Reader, die prominente Einzelstudien 17  Zit.

n. Göttlich (1999), S.  206.



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verarbeiten. Solche Studien fungieren als exempla im Sinne der klassischen Rhetorik, deren Wirksamkeit vor allem auf der Form ihrer Präsentation beruht. Große Kulturtheoretiker des 20. Jahrhunderts wie Warburg, Cassirer, Freud, Gramsci, Elias, Adorno oder Bourdieu werden – dies ist zumindest mein Eindruck – eher im Sinne legitimatorischer Vereinnahmung rezipiert. Tiefergehende Einflüsse kommen vom hier nicht näher behandelten französischen Poststrukturalismus18 und von der „Interpretativen Kulturtheorie“ Clifford Geertz’. Beide verweisen auf die Ethnologie, jener über den Strukturalismus von Lévi-Strauss, diese über die amerikanische Cultural Anthropology. Das enzyklopädische Forschungsprogramm der Ethnologie mit korrespondierender „Allzuständigkeit“ des Ethnologen war einer Notlage geschuldet: drohendes Verschwinden bei zugleich schwieriger Erreichbarkeit der Forschungsobjekte.19 Die Interpretative Kulturtheorie überträgt diese Allzuständigkeit von einer wissenschaftlichen Frontsituation auf das vergleichsweise komfortable Hinterland touristischer Erreichbarkeit. Natürlich ist in den leichter erreichbaren, aber komplexeren Kulturen einer solchen Betrachtungsweise nur jeweils ein kleiner Ausschnitt zugänglich, dessen Relevanz für größere Zusammenhänge jedoch stillschweigend unterstellt wird. Die Cultural Anthropology hatte sich über den zwischen kleinen, exotischen und hochkomplexen modernen Kulturen bestehenden Unterschied immer schon hinweggesetzt, da sie den Anspruch vertrat, die für alle Kulturen zuständige Disziplin zu sein. Ein Schössling des europäischen, vor allem des deutschen Historismus, war sie von Einwanderern und Amerikanern der ersten Generation getragen worden und hatte sich gegen die einheimische szientistische Ausrichtung der Ethnologie (Entwicklungstheorie, Sozialdarwinismus, Rassenlehre) durchsetzen können. Ihre Devise dabei war die Rekonstruktion fremder Kulturen aus deren eigenen Voraussetzungen heraus. Das war mehr als eine wissenschaftliche Methode, denn es floss ein humanistisches Pathos mit ein, das Fairness für die Opfer des Fortschritts forderte und so der eigenen Kultur kritisch gegenübertrat. Dieses Pathos ist der durch Clifford Geertz erneuerten Cultural Anthropology verloren gegangen. Hier erfolgt die ganzheitliche Rekonstruktion aus den eigenen Voraussetzungen heraus nur mehr in einem engen, ausschnitthaften, vom externen Beobachter mehr oder minder willkürlich gezogenen Rahmen. Der raum-zeitliche sowie der wirtschaftlich-sozial-politische Kontext des Ausschnittes, auf den das Schlaglicht der Beobachtung fällt, werden vernachlässigt. Die so gewonnenen Inseln enthalten dann als Rest ein Geflecht semiotischer Verweise, an denen der Kulturanthropologe seine Interpreta­ 18  s. 19  s.

jedoch die Kritik in Reinhard (2005). dazu etwa Stagl (1993).

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tionskunst erprobt, wofür sich dann das Schlagwort „Dichte Beschreibung“ eingebürgert hat.20 Die Dichte Beschreibung wendet ihre Aufmerksamkeit von der ethnographischen Wirklichkeit ab, um sie auf die in dieser enthaltenen Zeichen zu konzentrieren. Diese Zeichen sind dem Beobachter vorgegeben und insoferne authentisch; sie legitimieren damit das interpretative Unterfangen. Trotzdem hat das Unterfangen ihren wechselseitigen Verweisen nachzugehen etwas Unverbindliches, Spielerisches. An die Stelle einer den Umgang mit der Welt und den Menschen erleichternden Komplexitätsreduktion tritt eine Komplexitätsproliferation. Sie führt zur Wahl kleiner und kleinster Themen bei Verzicht auf eine funktionale Analyse. Nun muss man sich die Frage nach der Interdependenz von Kultur und Gesellschaft gar nicht mehr erst stellen. Diese semiotische Mikrologie ist derzeit in den Geisteswissenschaften im Aufwind. Es gibt freilich auch Kritik, und diese kommt nicht zufällig gerade aus der Ethnologie. Die aus der Gesellschaft exstirpierte Kultur wird, so Adam Kuper, zur „Großen Oper“.21 Das Interesse an ihr ist ein vornehmlich ästhetisches. In Verbindung mit dem kulturellen Relativismus mag das auch psychohygienisch empfehlenswert sein („you are o.k., I am o.k.“). Doch es verbirgt sich dahinter ein Pferdefuß. Die Fairness gegenüber dem Fremden läuft, wenn sie sich zur Zelebration der kulturellen Vielfalt steigert, auf die Rechtfertigung jedweder Segregation hinaus. Dem aus Südafrika stammenden Kuper fällt auf, dass die interpretative Kulturtheorie von Segregationsbefürwortern erfreut aufgegriffen wird (Der Hippie-Slogan „you are o.k., I am o.k.“ lässt sich auf Afrikaans mit „apartheid“ wiedergeben). Wenn „Kultur“ neuerdings auch als Euphemismus für Rasse gebraucht wird, hat sich die ursprüngliche Zielrichtung der Cultural Anthropology in ihr Gegenteil verkehrt. Kupers Einwand gegen Geertz ist letztlich ein moralischer: Dessen Zelebration der Vielfalt spielt das den Menschen Gemeinsame herunter.22 Das bedeutet nicht, dass die Semiotik und auch nicht, dass die semiotische Mikrologie uninstruktiv wären oder keine wichtigen Resultate erbracht hätten. Der Universalhistoriker Wolfgang Reinhard gesteht ihnen die folgenden methodologischen Neuorientierungen zu: (1) den Hinweis auf die Brüchigkeit, Heterogenität und Diskontinuierlichkeit, die in den untersuchten Wirklichkeiten verborgen sind; 20  Geertz (1973): Thick Description: Towards an Interpretive Theory of Culture – Dieses „überaus fügsame Schlagwort“ hat Geertz von dem Philosophen Gilbert Ryle entlehnt (Petermann 2004, S.  998). Die Literatur dazu ist inzwischen kaum noch übersehbar. 21  Kuper (1999), S.  117 ff. 22  Op. cit., S.  247. s. auch Stagl / Reinhard (2005) sowie Antweiler (2007).



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(2) die Rehabilitation der subjektiven Binnensichten – wobei es nun aber nicht mehr um die der außergewöhnlichen, sondern um die der gewöhnlichen Subjekte geht, von denen keine „großen Erzählungen“, sondern „kleine“ handeln; (3) den Rückgang des Erklärungswertes unbewusster Prozesse und Strukturen, deren Wirksamkeit das 20.  Jahrhundert zu Lasten des subjektiven Bewusstseins überschätzt hatte.23 Aber auch Reinhard bringt hiergegen einen moralischen Einwand vor: Mit der Wiederentdeckung des einzelnen Menschen ist auch das Argumentum ad Hominem wiedergekehrt. Wenn man den Normalmenschen unter Verzicht auf übergeordnete Standards die größtmögliche Empathie ent­ gegenbringt, darf man sich auch mit all dem identifizieren, was die kleinen Subjekte halt so reden, denken und tun. Das bedeutet eine „Rehabilitation des Stammtisches“ und eine Lockerung des wissenschaftlichen Anstandes.24 VI. Die Cultural Studies gehen – über Marx – gleichfalls auf den deutschen Historismus zurück.25 Sie bilden das britische Pendant zur Frankfurter Schule und zum Französischen Poststrukturalismus. Diese drei Richtungen suchen den politisch wie moralisch diskreditierten Marxismus wenigstens kulturpolitisch zu retten. Für die Cultural Studies kam der richtungsweisende Impuls weniger aus dem marxistischen Dogma als aus den Wunden, die die britische Klassengesellschaft geschlagen hat. Von der Interpretativen Kulturtheorie unterscheiden sie sich durch eben dieses Ressentiment und durch ihren Aktivismus. Entstehungszeit: sechziger Jahre. Ort: Birmingham, im englischen Industrierevier. Begründer: Raymond Williams, ursprünglich Literaturwissenschaftler.26 Zunächst suchte die Schule von Birmingham die Populärkultur gegenüber der Hochkultur aufzuwerten („to function as apologists for lowbrow culture“, D. Rowe).27 Dieses Anliegen hat sich angesichts der Verbürgerlichung der Arbeiterschaft mittlerweile auf eine Fürsprache für die Subkulturen und die Kulturen der ehemaligen Kolonialvölker verschoben, auf eine „Legitimation des Anderen“ (Homi Bhabha).28 Nunmehr wenden sich Reinhard (2005). Reinhard (2005) und Schäfers / Stagl (2005). 25  s. dazu Williams (1986). 26  Später wurde Williams nach Cambridge berufen und hat den Ruf angenommen. 27  „The initial project for many sociologists of popular culture was to function as apologists for lowbrow culture“ (Rowe 1995, S.  5). 28  Bhabha (1994). 23  s. 24  s.

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die Cultural Studies gegen jeglichen kulturellen Hegemonieanspruch, sei es der „Eurozentrismus“, „Androzentrismus“ oder „Logozentrismus“,29 und sind damit in den Hafen der Postmoderne eingelaufen. Ihre Vertreter halten sich bereit, weltweit für alle peripheren Kulturgemeinschaften, die selber dazu nicht in der Lage sind, die „Artikulation“ zu übernehmen. In der etwas umständlichen Sprache, deren sich diese Artikulation bisweilen bedient, definiert Rainer Winter dieses Ziel als die Bereitstellung von „Handlungsoptionen und Stärkung der Reflexivität sowie der ‚agency‘ der Beteiligten“.30 Das ist auch nötig, weil kulturelle Zentralität mit der Ausübung von Macht einhergeht. Die Cultural Studies hegen, wie der britische Kulturhistoriker Stefan Collini es formuliert, „den Verdacht, dass die meisten kulturellen Aktivitäten im Grunde nur Verschleierungen der Tatsache darstellen, dass irgend jemand versucht, irgendjemand anderen fertig zu machen (…). Kaum eine Seite (…), auf der wir nicht erfahren, dass jemand, der über irgendeine Form von Macht verfügt, (…) jemand anderen ‚dominieren‘. ‚unterdrücken‘, ‚ausschließen‘, ‚ausbeuten‘, ‚mystifizieren‘, ‚marginalisieren‘ möchte, wogegen es die Aufgabe derer ist, die die Cultural Studies betreiben, dies zu ‚verhindern‘, ‚demaskieren‘, ‚bestreiten‘, ‚dazwischenzutreten‘, ‚dagegen anzukämpfen‘ “.31 Das ist gut gemeint, geht jedoch nicht ohne Paradoxien ab. Der blinde Fleck der Cultural Studies ist das Urressentiment gegen die Hochkultur. Da „der Wert der Hochkultur übersehen, z. T. sogar geleugnet (wird), verweigern (sie) sich dem ästhetischen Argument“ (Hans-Otto Hügel).32 Die Frage, ob etwas gut gelungen, schön oder richtig ist, dürfen sie gar nicht stellen, denn ihr Ressentiment impliziert, dass die Hochkultur die Kultur der Macht­ eliten und nichts anderes ist. Kulturelle Hochleistungen irgendwelcher Art können sich dann niemals aus inneren Gründen – Überlegenheit über andere kulturelle Leistungen –, sondern immer nur aus äußeren Gründen – Macht, Geld, Reklame – durchgesetzt haben. Dieser Generalverdacht wirft aber seinen Schatten auch auf ihre Apologie der Kultur der einfachen Leute. Man muss nämlich annehmen, dass diese nicht um ihrer eigenen Werte wegen, sondern nur aus Anteilnahme mit der misslichen Lage ihrer Träger gelobt wird. Was aber ist ein solches Lob wert? So versagen sich die Cultural Studies – anders als etwa die Frankfurter Schule – die Möglichkeit, zu den von ihnen untersuchten Phänomenen kritisch Stellung zu beziehen. Es bleibt ihnen nur die Möglichkeit, sie zu zelebrieren. Darin treffen sie sich mit der Interpretativen Kulturtheorie. etwa Stagl (2002). (2005), S.  285. 31  Collini (1993), S.  457. Meine Übersetzung. 32  Hügel (2003), S.  8. 29  s.

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Doch anders als diese halten sie zumindest Trost und Hoffnung für die low- und middlebrows bereit: Kultur ist eigentlich gar nicht so wichtig. Um sie zu erwerben, braucht man sich nicht mehr anzustrengen und für seine Unkultur muss sich niemand mehr genieren. Im Gegenteil. Kultivierungsmängel gelten nunmehr als Ausweis erlittener Unterdrückung und somit als ein moralisches Plus. Wer sich zu schämen und Buße zu tun hätte, sind eher die Kultivierten. Ist es die Schlichtheit dieser Botschaft, die für die 179.000.000 Anklicke von „Cultural Studies“ verantwortlich ist? VII. Im interpretierenden wie im verändernden Kulturalismus meldet die political correctness ihren Herrschaftsanspruch an. Man wird nicht umhin können zu bemerken, dass die Gleichbewertung eines jeden Standpunktes ein Moment der Herablassung enthält: Wer schon nicht so tüchtig ist wie Wir, sollte doch bukolisch sein. Dann können Wir seine kulturellen Produkte interpretieren und sind bereit, sie zu loben oder ihnen mittels Artikulation neue Lichter aufzusetzen. Als den Sachwaltern der Bukoliker kommt die kulturelle Hegemonie einstweilen Uns zu. Denn Wir meinen es gut. Dieser Hegemonieanspruch ist umso wirksamer, je weniger er reflektiert und ausgesprochen wird. Dieses unterschwellig Messianische teilt der Kulturalismus mit dem ansonsten von ihm bekämpften Szientismus. Auch dieser legt ja seine Wertungen ungern offen.33 Der Menschheit zu verkünden, dass sie nunmehr ihre Lebenswirklichkeit selbstherrlich und imaginativ erzeugen könne, heißt ihr den Weg ins Paradies zu öffnen – nicht graduell wie der Szientismus, sondern mit einem Schlag. Zum derzeit noch unerlösten Zustand der Menschheit gehört neben der Auslieferung der Kultur an die Macht auch noch die Abneigung, mit der die Kulturgemeinschaften einander gegenüberstehen. Der Ethnozentrismus wird von der kulturalistischen Verheißung entweder großzügig übersehen, als Rückstand früherer Unterdrückungsverhältnisse entschuldigt oder er soll durch Artikulationsarbeit entsorgt werden. Sollten dann alle Kulturgemeinschaften zu demokratisch partizipativen Kommunikationsgemeinschaften geworden sein, dann wäre die Menschheit, vom Fluch der Macht erlöst, ein Blumenstrauß ohne Dornen. Aber auch heute schon hat der Generalverdacht gegen die Kultivierung seine gratifikatorischen Momente. Es macht Spaß, anderen in die Parade zu fahren. In kulturalistischen Texten fällt eine durchgehaltene Fröhlichkeit auf. Sie geht als Attitüde wohl auf Nietzsche zurück und hat etwas Provo33  s.

Tenbruck (1984), bes. Kap. 2, „Die Glaubensgeschichte der Moderne“.

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katives und Karnevalistisches.34 Wie verschieden Messianismus, Karneval und Revolution auch sind, haben sie doch das Motiv der „verkehrten Welt“ miteinander gemeinsam.35 Die Umkehrung des Bestehenden kann für die Zukunft verhießen, in einem begrenzten Rahmen spielerisch umgesetzt oder auch gewaltsam zu erzwingen versucht werden. Zu einer wirklichen, blutigen Revolution ruft der Kulturalismus meines Wissens nirgends auf (die chinesische „Kulturrevolution“ war auf andere Weise gerechtfertigt worden). Vorgesehen ist seitens der fröhlichen Wissenschaft ein friedsamer Übergang in das Reich der Freiheit, ein Übergang wie etwa der von 1989. Wer aber sind die Adressaten dieser Heilslehre? Offensichtlich sind es die middlebrows, die sich so nach unten hin als Gönner und nach oben hin als Widerstandskämpfer aufspielen können. Wolfgang Reinhard spricht von ­einer „Legitimationswissenschaft der Single-Gesellschaft, die nicht mehr glaubt, dass man etwas machen kann, außer das eigene kleine Glück durch geschickte Aneignung der anonymen Vorgaben“.36 Hedonismus und Opportunismus aus Prinzip setzen Ordnungen voraus, die aus nichthedonistischen, nichtopportunistischen Prinzipien entstanden sind. Diesen Zwiespalt hat Dostojewskis Großinquisitor auf den Punkt gebracht: „Wir werden (den Menschen) beweisen, dass sie nur elende Kinder sind, dass aber der Kinder Glück süßer ist als jedes andere (…). Es wird tausend Millionen glücklicher Kinder geben und hunderttausend Dulder, die auf sich genommen haben den Fluch der Erkenntnis des Guten und des Bösen“.37 Analog wird die Menschheit vom Kulturalismus in die Majorität bukolischer Textproduzenten und eine Minorität tüchtiger Textinterpreten unterteilt. Wenn jemand unter den Produzenten sich erkühnt, einen hegemonialkulturellen Anspruch zu erheben, wird er von den Interpreten mittels Dekonstruktion in die Schranken gewiesen. Wer jedoch bescheiden bleibt, dem wird durch Fürsprache und Artikulation geholfen. Interpreten aber sind beides: klug wie die Schlangen und einfältig wie die Tauben; sie erkennen das Gute und das Böse, doch mit den anderen meinen sie es gut. Diese Dreierkonstellation ist der Soziologie nicht unbekannt. Vilfredo Pareto hatte der großen Masse eine herrschende und eine nach Herrschaft strebende Elite gegenübergestellt, wobei diese sich die Sache der Masse zu Eigen macht, um jene aus ihrer Position zu verdrängen.38 So hatten die hermeneu34  Auf diese unspießige Fröhlichkeit, die kaum jemand zu stören scheint, habe ich hingewiesen in Stagl (1992), S.  148 f. 35  s. Mühlmann (1964), S.  307–311 („Das Mythologem von der verkehrten Welt“). 36  Reinhard (2005), S.  7. 37  Dostojewski, S.  473. 38  s. dazu Pareto (1988), bes. §§ 2025–2046.



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tischen Disziplinen der akademischen Welt zwar angehört, waren dort aber bis vor kurzem mehr oder minder die Letzten gewesen, nun, mit der Kulturalistischen Wende, möchten sie als die allein befugten Interpreten die Ersten werden. Man darf nicht übersehen, dass dieser Kampf gegen den Szientismus, den Essentialismus, den Elitarismus und die Hochkultur nicht von außen her geführt wird, sondern aus relativ privilegierten Positionen in der akademischen Welt und den Medien, die durch ihren Bildungsauftrag fest in der westlichen Gesellschaftsordnung verankert sind. Hier konzentriert sich das „kulturelle Kapital“ (Pierre Bourdieu).39 Wer besonders mit diesem, mit anderen Kapitalsorten aber schwach ausgestattet ist, die so genannten Bildungsaufsteiger also, hegen tendenziell gegen die Besitzer der anderen Kapitalsorten gemischte Gefühle. Dennoch erlaubt ihnen der Kulturalismus eine friedliche Koexistenz mit ihnen. Seine selbstverordnete Fröhlichkeit und Harmlosigkeit hat es ihm möglich gemacht, die Neuordnung der Welt nach dem Zusammenbruch des Marxismus ohne Schaden zu überstehen, ja zu prosperieren. Ist sie doch mit der kapitalistischen Angebot-und-Nachfrage-Theorie von Kultur keineswegs unvereinbar. VIII. Mit der Kultursoziologie im eigentlichen Sinne des Wortes dagegen lässt sich zumindest der radikale Kulturalismus nicht vereinbaren. Denn diese verweigert sich dem Kulturalismus wie dem Soziologismus, sondern sucht eine Zwischenposition zwischen beiden zu gewinnen. Heute neigt der Zeitgeist mehr dem Kulturalismus zu. Doch da das Kulturelle solche Aufmerksamkeit auf sich zieht, beschäftigen sich auch soziologistische Richtungen mit ihm, auch wenn sie darin nur eine Verzierung des Sozialen – eine „gepflegte Semantik“, um mit Niklas Luhmann zu sprechen40 – sehen können. Wer kein Reduktionist sein möchte, bekommt Schwierigkeiten. Die Stärke des Reduktionismus ist der robuste Wille zur Vereinfachung, der sich komplexeren Positionen gegenüber als Skeptizismus äußert, und der Skeptiker ist bekanntlich unwiderlegbar. Dafür jedoch ist der nichtreduktionistischen Kultursoziologie der Prozess der Kultivierung selber zugänglich und nicht 39  Bourdieu

(1979). seinem Bedürfnis, eine posthume Versöhnung zwischen seinem Lehrer Friedrich H. Tenbruck und Niklas Luhmann herbeizuführen, schreibt Alois Hahn (2006), S.  16: „Das, was (bei Tenbruck, J. St.) Verselbständigung von Kultur heißt, entspricht weithin dem, was in der etwas idiosynkratischen Terminologie Luhmanns als Selbstreflexion von kommunikativer Autopoiesis ‚gepflegte Semantik‘ bezeichnet werden könnte.“ 40  In

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bloß dessen Produkte. Da sie ihre Wertungen nicht zu verstecken braucht, kann sie sie offen legen und auch Kritik an den untersuchten kulturellen Phänomenen ausüben. Vor allem aber ist ihr die Hochkultur kein Stein des Anstoßes. Sie muss sich ihr nicht nur dekonstruktiv, sie kann sich ihr konstruktiv nähern. Heute wird die hochkulturelle Thematik um die Dimension des Lebensstils erweitert, vor allem unter dem Titel „Bürgerliche Kultur“ behandelt.41 Die Bürgerliche Kultur hat viele, zum Teil sehr weit zurückreichende kulturelle Traditionen in sich aufgenommen. Sie schließt auch die wissenschaftliche Bildung ein und wird zu einem Gutteil durch das formale Bildungswesen und öffentliche kulturelle Institutionen vermittelt. Die Frage, an der sich die Geister scheiden, ist die, ob diese Art und Weise der Kultiviertheit nichts anderes (der Lieblingsausdruck des Reduktionismus!) ist als die Kultur eines herrschenden Standes, eben des Bürgertums? Und ob sie mit diesem untergehen wird, ja unterzugehen verdient? Oder ob sie, über die bürger­ lichen Standesspezifika hinaus, wenngleich mit diesen vermischt, Momente einer universalen Anschlussfähigkeit in Religion, Philosophie, Wissenschaft, Kunst und Lebensführung enthält? Wenigstens ich meine, dass der der Bürgerlichen Kultur vorgeworfene Essentialismus / Universalismus das „Andere“ mehr respektiert als dessen gleichgültiges Gewährenlassen. Literatur Albrecht, Clemens (Hg.): Die bürgerliche Kultur und ihre Avantgarden, Würzburg: Ergon 2004. Aleksandrowicz, Dariusz / Weber, Karsten (Hg.): Kulturwissenschaften im Blickfeld der Standortbestimmung, Legitimierung und Selbstkritik, Berlin: Frank & Timme 2007. Alexander, Jeffrey C.: Kultursoziologie oder Soziologie der Kultur? Auf dem Weg zu einem überzeugenden Programm, in: Albrecht, C. (Hg.): Die bürgerliche Kultur und ihre Avantgarden, Würzburg: Ergon 2004, S.  59–63. Antweiler, Christoph: Was ist den Menschen gemeinsam? Über Kultur und Kulturen, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007. Bhabha, Homi K.: The Location of Culture, London / New York: Routledge 1994. Bourdieu, Pierre: La distinction. Critique sociale du jugement, Paris: Ed. de Minuit 1979. Bühl, Walter L.: Kultur als System, in: Neidhardt, F. / Lepsius, M. R. / Weiß, J. (Hg.): Kultur und Gesellschaft, Sonderheft 27 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen: Westdeutscher Verlag 1986, S.  118–144. 41  Vgl.

Albrecht (2004) sowie Friedrich et  al. (2006).



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Gedankenbilder Kultur als Konstruktion und Konstitution des Sozialen – am Leitfaden Max Webers* Von Horst Baier I. Ortsbestimmung der Kultursoziologie Meine drei Beiträge zum Kreis um Wolfgang Lipp griffen das Thema „Kultur und Zivilisation“ auf. Auf der Sommerakademie in Altaussee im August 2003 versuchte ich, mich dem Antagonismus begriffsgeschichtlich zu nähern. Die Entgegensetzung von Kultur und Zivilisation, erstmals bei Immanuel Kant und auslaufend bei Norbert Elias, verschärfte die soziopoli­ tische Zwischen- und Sonderstellung Deutschlands im weltgeschichtlichen Dualismus der angelsächsischen Flügelmächte Amerikas und Englands, verbunden mit Frankreich, hier und Eurasiens mit der Vormacht Russlands dort (Ludwig Dehio). Der Höhepunkt war der Erste Weltkrieg.1 Schon damals, aber noch begrifflich eindringender und quellentiefer, zeigte ich im Beitrag zur Festschrift für Wolfgang Lipp „Kultur und Religion. Institutionen und Charisma im Zivilisationsprozeß“, erschienen 2005, wie im „Krieg der Geister“, gebahnt mit Jacob Burckhardt und geschärft durch Max Weber, zuerst gesamteuropäisch, dann weltausgreifend sich herrschaftliche Nationalstaaten, ein wertproduktiver Kapitalismus und religiöse Wirtschaftsethiken um den abendländischen Kern der Kultur herausbilden. Die drei Burckhardt’schen Potenzen Staat, Religion, Kultur, erweitert um Wirtschaft, steigern sich wechselseitig zum „Weltbürgerkrieg“ (Ernst Nolte), der nach der Implosion der Sowjetunion zur Explosion im „clash of civilizations“ (Samuel P. Huntington) führt. Es ist ein Geschichtsdrama – ich nehme die Dramatologie Wolfgang Lipps auf – von der Gelehrtenkultur der Aufklärung über den Krieg der Geister, der mit Waffen ausgetragen wird, *  Vorabdruck in der rumänischen Zeitschrift „Cultura. International Journal of Philosophy of Culture and Axiology, Jaşi No. 9, 2008, p.  7–27. 1  Baier, Horst: Drei Thesen. Kultur und Zivilisation. Zur Geschichte und Soziologie eines Antagonismus. Sommerakademie „Kultur und Zivilisation“ bei Wolfgang Lipp in Altaussee vom 18. bis 21.8.2003 (ungedruckt).

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zum Kampf der Religionen, der die kulturelle Hegemonie auf den Kontinenten anzielt. Es ist unsere Gegenwart.2 Mein dritter Beitrag sucht nach dem Standort der Soziologie auf der Suche nach der Wirklichkeit solcher Weltgesellschaft. Wenn wir uns nicht in Eschatologie und Geschichtsphilosophien, Souveränitätsbehauptungen des Staates und Wirtschaftsglobalisierungen verlieren wollen, die den Standort der Soziologie zuerst erodieren, dann eliminieren, müssen wir ihre Gnoseologien und Methodologien überprüfen. In meinem Festvortrag zu Ehren von Wolfgang Lipp anlässlich der Überreichung der Festschrift auf Schloß Tillysburg Anfang Juli 2005 behauptete ich, dass die heute dominierenden „master-theories“ der Soziologie Überdehnungen des kognitiven Apparats und seiner methodischen Instrumente zur Folge haben. Ich zielte auf die Systemtheorie Niklas Luhmanns, auf die Kommunikationstheorie von Jürgen Habermas und auf die soziologische Phänomenologie von Alfred Schütz mit seiner heutigen Schule um Thomas Luckmann, wobei ich bewusst im deutschen Sprachfeld geblieben bin. Diese Großtheorien sind gefangen in den „cosmopolitischen Fictionen“ (Jacob Burckhardt3): einer „Weltgesellschaft“, einer universalen „Sprachgemeinschaft“, einer mundanen „Lebenswelt“, die man unschwer wissenssoziologisch, diskursanalytisch, bewusstseinskritisch auflösen kann. Eine „Ortsbestimmung der Soziologie“ (Helmut Schelsky) ist auf diesem Wege gar nicht möglich. Erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch geraten sie in die Fallen des transzendentalen Bewusstseins, der sprachlichen Weltaneignung, der sozialen Sinnkonstruktionen. Ihre Methodologien sind Operationen der systemevolutiven Selektionsdifferenz, der kommunikativen „idealen Sprechakte“, der sinnkonstitutiven Strukturbildung. Verborgen bleibt ihre Herkunft aus Biologie, Linguistik, Anthropologie4, stattdessen wird die Soziologie zur soziologischen „Theorie als Praxis“, zur menschheitlichen Emanzipationsutopie, zur „Protosoziologie“ gewendet. Dementgegen habe ich eine Umkehrung der soziologischen Methode vorgeschlagen, die man durchaus als sinnesphysiologischen und wahrnehmungspsychologischen Reduktionismus kritisieren kann. Die Forderung Schelskys nach einer „soziologischen Primärerfahrung“5, die Anschlussfähigkeit zu den Großtheorien haben könnte, verlange von uns das beobachtende Auge, das mithörende Ohr und den handlichen Griff ins Umfeld. Der Blick auf die Welt, das Ohr für die Welt, der Griff zur Welt bilden erst, 2  Baier

(2005). (1982), S.  321, Anm. 18. 4  Fischer (2006). 5  Schelsky (1959) und dazu ders. (1965). 3  Burckhardt



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wenn sie nicht metaphorisch gemeint sind, die Gesichtspunkte, die Sprech­ orte, die Handlungssituationen, die seit den Klassikern die Soziologie zur „Wirklichkeitswissenschaft“ (Max Weber) oder zur „Wissenschaft der sozia­ len Tatsachen“ (Emile Durkheim) machen. Auf Schloss Tillysburg habe ich eine Skizze der Rückkehr des Soziologen zu den Phänomenen und Praktiken gegeben und Augen-, Ohren- und Tatzeugen aufmarschieren lassen.6 Heute will ich mich konzentrieren auf den ersten Sinn der Wissenschaften, auf das Auge. Dessen Schauen der Ideen und Ideenbilder (ιδέα, εîδος, nach οράω: blicken, schauen) nach Platon zur Synopsis (σύνοψις) der Theorie (θεωρία) führt.7 Diese Synopsis verfestigt eine anschauliche Mannigfaltigkeit in einem Musterbild, zu einer idealen Gestalt also, zu einem τύπος, wie Platon die τύπωσις der Ideen und Ideenbilder beschreibt; es ist eine Metapher des ‚Bild‘hauers, der aus der ungeformten Materie eine Gestalt herausschlägt (τύπω: schlagen).8 Nicht will ich eine Begriffsgeschichte des βίος θεωρετικός versuchen und womöglich die sinnwidrige Bilderfeindlichkeit der Theorie, wie ich auf Tillysburg sagte, gleichsam als Negativ meiner Photographie von „Gedankenbildern“ aus meinem Begriffslabor ziehen. Ich möchte auf die Begriffsbedeutung und Begriffsverwendung solcher ‚Schauungen‘ hinaus, also auf ihren ontologischen Status und ihre methodologische Operation. Der Weg wird zum Idealtypus Max Webers führen und zur Frage, was er methodologisch für die Kultursoziologie leisten kann. II. Gedankenbilder – Anschauungen der Kultur, Kunst und Metaphysik Von solchen Anschauungen wissen wir jetzt, dass sie theorieförmig und ideenhaltig sind. Was ist aber das ‚Bild‘, das als εîδος, eine ιδέα trägt und ermöglicht? Wie gesagt, ich versuche keine begriffsgeschichtliche Skizzierung, sondern bringe drei Beispiele aus gegenwärtiger entfalteter Wissenschaft: aus Kulturgeschichte, Kunstwissenschaft und Philosophie. Zuerst Jacob Burckhardt, dem Max Weber besonders nahe stand. Entlang seiner Geschichtsstudien sind von seinen „drei Potenzen“ Staat und Religion durch „allgemeine weltgeschichtliche Anschauungen“ geprägt, d. h. typisierbar; sie sind von „universaler Geltung“. Die „Cultur“ dagegen ist immer als spontanes Produkt ästhetischen und moralischen Vermögens 6  Baier, Horst: Der Soziologe auf der Suche nach Wirklichkeit – mit dem Auge, dem Ohr, dem Griff zur Welt. Festvortrag zu Ehren von Wolfgang Lipp auf Schloss Tillysburg am 9.7.2005 (ungedruckt). 7  Natorp (1961), darin die „aristotelische Kritik der Ideenlehre“, S.  419–456. 8  Strenge / Lessing (1998).

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des Menschen „Partialcultur“. Sie steht gegen alle staatliche Herrschaft, die sich seit jeher des Geistes zu bemächtigen sucht, und gegen alle Naturund Weltreligionen, die sich die Kunst einverleiben möchten, um „Cultur“ zur Magie und Erlösungstechnik zurückzuverwandeln.9 9Die

Kulturgeschichte der Renaissance zum Beispiel zeigt ihm, wie die ­ enezianische Malerei von Giorgione bis zu Tizian „Existenzbilder“ hervorv bringt, die den „Beschauer traumhaft in dieses Dasein mit hineinzieh[en]“, in ein „zweites Dasein der Vervollkommnung“ zum „uomo universale“.10 Diese „Existenzmalerei“ ist nichts als Kunst, Ausdruck der Persönlichkeit im Wechselspiel von Künstler, Portrait und Beschauer, reinste Präsenz der ‚Cultur‘.11 Mein zweites Beispiel zitiert Erwin Panofsky aus der Kunstwissenschaft. In seiner Schrift von 1924: „Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunstgeschichte“ holt er aus Melanchthon heraus, „dass die Ideen nicht mehr metaphysische Substanzen sind, die außerhalb der sinnlichen Erscheinungswelt, aber auch außerhalb des Intellekts … existieren, sondern Vorstellungen oder Anschauungen, die im Geiste des Menschen selbst ihren Sitz haben“. Diesem ist als „Denker dieser Zeit“ selbstverständlich, „die Ideen vorzugsweise in der künstlerischen Tätigkeit sich offenbaren zu sehen“. Die Vervollkommnung des künstlerischen Menschen liegt nicht mehr in der Mimesis des Vorbildlichen, wie Platon will, sondern in der „freien schöpferischen Vorstellung, die ihren Gegenstand konstituiert, so dass sie ihrerseits zum Vorbild äußerer Gestaltung werden kann.“ Es ist Michelangelo, der Bildhauer, der aus der „Steinmasse des Blocks“, dem „marmo solo“ sein „concetto“ herausschlägt, ein Gedankenbegriff, den er dem „einer transzendenten Auffassung verpflichtenden Ausdruck ‚Idea‘ vorgezogen“ hat.12 Michelangelos Sonette sind die ‚Gedanken‘, sein malerisches und plastisches Werk die ‚Bilder‘, die ihm in erotischer Zuwendung zur „Donna leggiadra“ bewegten und uns noch heute berühren.13 Haben wir also mit Jacob Burckardt die herrschaftentzogene ‚kultivierte Persönlichkeit‘ und mit Erwin Panofsky das transzendenzfreie Kunstwerk aus dem „Geist der Zeiten“ herausgeschöpft, so zeigt die Philosophie mit Martin Heidegger, dass Kultur und Kunst – neben der Weltbemächtigung 9  Burckhardt (1982), Abschnitte „Von den drei Potenzen“, S.  254–263, und „Die Religion in ihrer Bedingtheit durch Cultur“, S.  332–341. 10  Burckhardt (1997), Kap. „Daseinsbilder“, S.  313–317 und ff. 11  Wittwer (2004). Über ‚Cultur‘ in der Potenzenlehre und Burckhards „Emanzipation von Theologie und Philosophie“, S. 179–183, die „innerliche Bildlichkeit der Geschichte“, S.  184–188. 12  Panofsky (1975), Zitate S.  4 und 64–68. 13  Die Sonette an Vittoria Colonna in Michelangelo Buonaroti (1975) mit einem Essay von Thomas Mann (1975).



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durch Technik und Wissenschaft – der Metaphysik keineswegs entronnen sind. „Das Kunstwerk wird zum Gegenstand des Erlebens“, wird objektiviert und konsumiert in der Lebenswelt als wirtschaftender Warenwelt. Die Kultur nimmt Maß an der „Verwirklichung der obersten Werte durch die Pflege der höchsten Güter des Menschen“. Es ist ihre Prostitution als staatliche „Kulturpolitik“. Die Propaganda für solchen Kapitalismus und Humanismus ist „nichts anderes als eine moralisch-ästhetische Anthropologie“, deren „Weltauslegung“ seit dem Ende des 18. Jahrhunderts „die Grundhaltung des Menschen zum Seienden im Ganzen als Weltanschauung bestimmt“. Es ist „Die Zeit des Weltbildes“, vorgetragen 1938 vor Naturforschern und Medizinern in Freiburg.14 „Der Grundvorgang der Neuzeit ist die Eroberung der Welt als Bild. Das Wort Bild bedeutet jetzt: das Gebild des vorstellenden Herstellens. In diesem kämpft der Mensch um die Stellung, in der er dasjenige Seiende sein kann, das allem Seienden das Maß gibt und die Richtschnur zieht.“ Die imperialen Kulturkriege und globalen Wirtschaftskonkurrenzen – es sind meine Worte – stehen unter der Logik der Selbstvernichtung im „Kampf der Weltanschauungen“, wie Heidegger sagt: „Gemäß dem Sinne dieses Kampfes setzt der Mensch die uneingeschränkte Gewalt der Berechnung, der Planung und der Züchtung aller Dinge ins Spiel.“ Die Methode der Wissenschaft und die Technik der Weltaneignung unterlaufen Kultur, Kunst und Metaphysik. „Gedankenbilder“ sind längst nicht mehr ihre schöpferischen Leistungen, wie sie noch Schiller im Brief an Goethe vom 6. April 1798 entwarf: „Ich will suchen mich wieder recht in die Arbeit zu werfen, daß ich nur erst das Gedankenbild aus mir herausstelle, weil ich es dann heller anschauen kann.“15 Gedankenbilder sind berechnende Methode und bilderschließende Logik geworden, Konstruktion und Konstitution der zu erforschenden und herstellenden Wirklichkeit in einem.16 14  Heidegger

(1957), Zitate S.  82 und 86 f. (2005), S.  606. 16  Heidegger ist in der Soziologie kaum rezipiert worden, die Korrespondenz mit Arnold Gehlen und Helmut Schelsky ist nicht erschlossen. Ich kenne nur persönlich Äußerungen von Heidegger und den beiden. Dagegen hat sich Heidegger eingehend mit Georg Simmel, Max Weber, Max Scheler, zuletzt sogar noch mit Niklas Luhmann beschäftigt. Ein neues Feld erschließt Johannes Weiß (2001) mit seinen Autoren im Band „Die Jemeinigkeit des Mitseins. Die Daseinsanalytik Martin Heideggers und die Kritik der soziologischen Vernunft“. Über den Bezug zu den „sozialen Kulturwissenschaften“ Weiß in seiner „Einleitung“, S.  31, und über die Wirkungsgeschichte von „Die Zeit des Weltbildes“ in der „wissenschaftlichen Welterschließung“ der Beitrag von Joachim Renn (2001) „Der geworfene Entwurf der Moderne“, S.  245 f. 15  Goethe / Schiller

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III. Die Idealtypen Max Webers als Gedankenbilder Bewegen wir uns also in der „Zeit des Weltbildes“, treten wir an die Front des Kampfes der Weltanschauungen im „Krieg der Geister“ – nach der Befreiung von codierter Systemkommunikation mit unterlegter menschenentkernter Anthropologie; einem emanzipatorischen, sprach-politischen Humanismus, einer lebensweltlichen, erlebensvollen „Protosoziologie“. Fragen wir nach der „Macht der Bilder“, in Gedanken gefasst, in Logik und Methodologie der Soziologie. Bei Max Weber taucht der Begriff des „Gedankenbildes“ im II. Teil der Roscher-Knies-Studien 1905 in einem praktischen Sinn auf, der bereits seine wesentlichen Elemente enthält: „Die fundamentale Eigenschaft des ‚einfühlenden Verständnisses‘ (bei Hugo Münsterberg, H.  B.) ist es, gerade individuelle ‚geistige‘ Wirklichkeiten in ihrem Zusammenhang derart in ein Gedankenbild fassen zu können, dass dadurch die Herstellung ‚geistiger Gemeinschaft‘ des Pädagogen mit dem oder den Schülern und damit deren geistiger Beeinflussung in einer bestimmten gewollten Richtung möglich wird.“ Die „‚Phantasie‘ des Pädagogen“ (und des Psychologen, H.  B.) erlaubt es, aus ihrer „‚Menschenkenntnis‘ durch die Besinnung auf abstrakte ‚Gesetze‘ aus dem Gebiet des ‚Anschaulichen‘ in dasjenige des ‚Begriff­ lichen‘ zu übertragen.“ Es ist der Ort ‚trivialer Weltanschauungen‘.17 Solche alltäglichen, ja naiven Begriffsbildungen aus lebensweltlichen Anschauungen können in der Hand des Philosophen oder Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlers in „logischen Operationen“ zu „Relations- und Dingbegriffen“ hochgehoben werden. Die „anschauliche Evidenz“ etwa eines mathematischen Lehrsatzes oder einer empirischen Wahrnehmung gründen in der „kategorialen“ bzw. „sinnlichen Anschauung“, wie Husserl in seinen „Logischen Untersuchungen“ gezeigt hat.18 Beide Evidenzen formen, besser: figurieren „künstliche Gebilde“, deren „‚Einheit‘ durch Auswahl des mit Bezug auf bestimmte Forschungszwecke ‚Wesentlichen‘ bestimmt ist, ein Denkprodukt also von nur ‚funktioneller‘ Beziehung zum ‚Gegebenen‘ und mithin ein ‚Begriff‘“. Das „Gegebene“ kann im Bewusstseinsstrom für den Phänomenologen auftauchen oder in der empirischen Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit etwa für den Historiker erscheinen. „Wo die empirische Wissenschaft eine gegebene Mannigfaltigkeit als ‚Ding‘ und damit als ‚Einheit‘ behandelt, z. B. die ‚Persönlichkeit‘ eines konkreten historischen Menschen, da ist dieses Objekt zwar stets ein nur ‚relativ bestimmtes‘, d. h. ein stets und ausnahmslos empirisch ‚Anschauliches‘ in sich enthaltendes ge17  Weber

(1951a), zit. S.  80 f. und 63, Anm. 2. (1901), 1. Teil, § 19 ff. Dazu, in Absetzung von Kants „Begriffsbildern“, Hartmann (1979). 18  Husserl



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dankliches Gebilde.“19 Erkenntnislogisch gesehen ist es die Abweisung der Abbildtheorie oder der Korrespondenztheorie der Wahrheit. Methodologisch begriffen ist es der Schritt zur Bildung von operationablen Begriffen von historischen Individuen und Situationen. Solche „Denkprodukte“ mit Anschauungsimplementen sind methodische Instrumente, noch keine „reine Idealtypen“ mit ihrem eigentümlichen ontologischen Status. Diese konstruiert Max Weber in seinem berühmten Objektivitätsaufsatz von 1904.20 In Auseinandersetzung mit der „abstrakten Wirtschaftstheorie“ der Wiener Schule um Carl Menger relativiert und logifiziert er deren „Idealbild der Vorgänge auf dem Gütermarkt bei tauschwirtschaftlicher Gesellschaftsorganisation, freier Konkurrenz und streng rationalem Handeln“. Gegen vorschnelle Wirklichkeitsbehauptungen sagt er: „Dieses Gedankenbild vereinigt bestimmte Beziehungen und Vorgänge des historischen Lebens zu einem in sich widerspruchslosen Kosmos gedachter Zusammenhänge. Inhaltlich trägt diese Konstruktion den Charakter einer Utopie an sich, die durch gedankliche Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit gewonnen ist.“ Richtet sich die Konstruktion des Idealtypus auf der einen Seite logisch gegen die Wirklichkeitsunterlegung des Marktmodells seitens der „abstrakten Wirtschaftstheorie“: Der Idealtypus „ist nicht eine Darstellung des Wirklichen, aber er will der Darstellung eindeutige Ausdrucksmittel verleihen“. Und „er ist keine ‚Hypothese‘, aber er will der Hypothesenbildung die Richtung weisen“, etwa mittels „Zurechnungsurteilen“ entlang von vermuteten Kausalbeziehungen, Zweck-Mittelrationalitäten oder Wahrscheinlichkeitsberechnungen. Auf der anderen Seite wendet sich Weber gegen die Linearität der Entwicklungsstufen von Wirtschaftsformen der Berliner Historischen Schule um Gustav Schmoller; er zieht das Beispiel der mittelalterlichen Stadtwirtschaft an. Auch hier sind Idealtypen am Werke, und zwar als „genetische Begriffe“. Diese werden „gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluss einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde“. In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar, es ist eine Utopie. Gegen die Stufentheorie der Wirtschaftshistoriker kann man Wirtschaftsorganisationen nicht nur genetisch, sondern auch antagonistisch idealtypisieren. Gegen den „Idealtypus des Handwerks“ kann man „als Antithese einen 19  Max Weber (1951a), S.  109 f. mit Anm., in Anlehnung an die „Logischen Untersuchungen“ von Husserl (1901). 20  Weber (1951b), S.  190, folgende Zitate S.  191 f., 194 f.

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entsprechenden Idealtypus einer kapitalistischen Gewerbeverfassung, aus gewissen Zügen der modernen Großindustrie abstrahiert, entgegensetzen“. Womöglich führt uns diese Antithese zu einer „idealtypischen Entwicklungskonstruktion“ des modernen Kapitalismus, die nicht seine wirklichkeitsbehauptete „Geschichte“ ist, sondern „ein Versuch der Zeichnung einer ‚Idee‘ der kapitalistischen Kultur“21. Zwar sind „jede tatsächlich gewisse, in ihrer Eigenart bedeutungsvolle Züge unserer Kultur der Wirklichkeit entnommen und in ein einheitliches Idealbild gebracht“, jedoch müssen wir ein Erkenntnisinteresse haben, „die Utopie einer ‚kapitalistischen‘, d. h. allein durch das Verwertungsinteresse privater Kapitalien beherrschten Kultur zu zeichnen“. Solcher Entwicklungstypus muss für uns „Kulturbedeutung“ besitzen, „aus sehr verschiedenen Wertideen, zu denen wir sie in Beziehung setzen können“. Eine derartige logische Konstruktion wird zur „anschaulichen Demonstration des Idealtypus oder der idealtypischen Entwicklung“, nicht nur aus wertbezogener Kulturbedeutung „durch Anschauungsmaterial aus der empirisch-historischen Wirklichkeit“, sondern ist auch die Leistung von „Möglichkeitsurteilen“: „Solche Begriffe sind Gebilde, in welchem wir Zusammenhänge unter Verwendung der Kategorie der objektiven Möglichkeit konstruieren, die unsere, an der Wirklichkeit orientierte und geschulte Phantasie als adäquat beurteilt.“ Jede „Kulturanalyse“ ist nicht allein gedanklichbildliche Schöpfung entlang unserer Erkenntnisinteressen, sondern zudem Erzeugnis logischer Operationen, auf dem Boden von Gesetzeswissen. So findet der Freiburger Physiologe Johannes von Kries „Möglichkeitsurteile“ nicht nur auf dem Feld der „Thatsachen“ gemäß unserem „ontologischen Wissen“, sondern auch geführt von „nomologischen Wissen“. Sie können, folgert Weber, auch gebildet werden nach unserem „positiven Wissen von ‚Regeln des Geschehens‘“, nach „allgemeinen Erfahrungsregeln“, eben dem „nomologischen Wissen“.22 „Objektive Möglichkeiten“ entstehen 21  Bei der „Entwicklungskonstruktion“ denken wir an Webers Studie „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ von 1904 / 05. Ich zitiere sie einmal nach der von Johannes Winckelmann herausgegebenen Ausgabe „Die protestantische Ethik I und II“, Weber (1972–1973). Hartmann Tyrell hat mich aufmerksam gemacht, dass in den Antikritiken Webers Idealtypen als „Gedankenbilder“ methodisch skizziert werden, so im Band II im „Antikritischen Schlußwort“ contra Felix Rachfahl (S.  303 f.). Natürlich kann man auch die „Vollständige Ausgabe“ von Dirk Kaesler heranziehen; Weber (2004), S.  393 f. Man sehe mir nach, dass ich zur Protestantismus-Kapitalismusthese keine Sekundärliteratur zitiere, bis auf Tyrell (2002), der das Bilderthema freilich nicht methodologisch, sondern religionssoziologisch und -historisch angeht, sowie einschlägig Kippenberg (2001) und neuestens Schluchter / Graf (2005). 22  Weber (1951c), S. 276 f., dazu überhaupt der Abschnitt „Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung in der historischen Kausalbetrachtung“, S.  266 ff.



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durch gedankliche Zurechnungen von Ereignissen und Ereignisfolgen nach „Kausaladäquanz“, später wird er – in den „Soziologischen Grundbegriffen“ – ankoppeln: nach „Sinnadäquanz“ der sozial Handelnden. Ja, diese empirisch gefundenen und anschaulich beobachteten Elemente lassen sich isolieren, variieren und kombinieren, so dass die „objektiven Möglichkeitsurteile“ zu „Gedankenexperimenten“ werden, hier durch den Physiker Ernst Mach angeregt:23 „um die wirklichen Kausalzusammenhänge zu durchschauen, konstruieren wir unwirkliche“.24 Eduard Meyer hält er anhand der Perserkriege im dritten und vierten Band seiner „Geschichte des Alterthums“ (1901) vor, dass man nicht den „freien Willen“ oder „Zweckideen“ der historischen Akteure oder „Zufälle“ in „teleologischer Dependenz“ in die ‚Geschichte‘ projizieren müsse, es genüge, sie als Spielmaterial mit möglicher „kausalen Verursachung“ durchzuprobieren. Das historische Tatsachenmaterial stellt „nicht nur ein kategorial geformtes Gedankengebilde dar, sondern (empfängt) auch sachlich nur dadurch Gültigkeit, dass wir zu der ‚gegebenen‘ Wirklichkeit den ganzen Schatz unseres ‚nomologischen‘ Erfahrungswissens hinzubringen“.25 Die Idealtypen sind also solche „Gedankenbilder“, die kategorial geformt sind aus gegebenen Tatsachen und präsenten Anschauungen. Aus ihren „Prinzipien der Synthese“, wir können auch sagen: aus ihrer Synopse lassen sich gleichsam ‚transzendentale Collagen‘ als operable Begriffe bilden als „gedankliche Mittel zum Zweck der geistigen Beherrschung des empirisch Gegebenen“, zitiert wieder aus dem Objektivitätsaufsatz. Dem „ewig fortschreitenden Fluß der Kultur“ führt die Wissenschaft „stets neue Problemstellungen zu. Bei ihnen liegt die Vergänglichkeit aller, aber zugleich die Unvermeidlichkeit neuer idealtypischer Konstruktionen im Wesen der Aufgabe.“26 Der Prozess der denkenden Umbildung der unmittelbar gegebenen Wirklichkeit wird angetrieben vom Wandel ergriffener und umstrittener „Kulturbedeutungen“. Der „Gedankenapparat“ der Forscher „steht in steter Auseinandersetzung mit dem, was wir an neuer Erkenntnis aus der Wirklichkeit gewinnen können und wollen. In diesem Kampf vollzieht sich der Fortschritt der kulturwissenschaftlichen Arbeit“.27 23  Vgl. Ulrich Kühne (2005), S.  165 ff. Eine gründliche Rezension von Joerg H. Y. Fehige (2007): „Ein Sachverhalt ist epistemisch möglich, wenn er für ein epistemisches Subjekt seinem Wissen gemäß möglich ist“ (S.  153). 24  Weber (1951c), S.  287, folgendes Zitat S.  277. 25  Weber (1951b), zit. S.  206–208. 26  Ebd. 27  Logik und Methodologie des Idealtypus sind Thema sehr differenzierter Studien der internationalen Weber-Forschung, zumeist fokussiert auf Wissenschaftsgeschichte, Wertproblem, Handlungstheorie und Herrschaftssoziologie, weniger Kultursoziologie und fast gar nicht auf die Funktion kategorialer und empirischer Anschau-

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Von heute aus gesehen stehen die Kategorien der „sozialwissenschaft­ lichen und sozialpolitischen Erkenntnis“ Max Webers im emphatischen Sinn im Kampf der Begriffe und unter der Macht der Bilder. Ihr Feld ist die ‚Cultur‘ Jacob Burckhardts, bedrängt von Staat, Religion und Wirtschaft, die um sittliche Vervollkommnung des schönheits- und wahrheitsfähigen Menschen ringt. Sie wird nicht mehr, wie Erwin Panofsky gezeigt hat, vom Firmament der Ideen und vom Boden der Triebe bestimmt, sondern entfaltet sich im Medium des Geistes, geschaffen vom schönheitssuchenden Künstler und wahrheitsentwerfenden Forscher. Der ‚Krieg der Geister‘ ist, wie Martin Heidegger sein Jahrhundert ausgelegt hat, ein „Kampf der Weltanschauungen“ im „Gestell der Technik“ und im „Betrieb der Wissenschaft“. Die Soziologie als „Wirklichkeitswissenschaft“ wird diesen harten Satz über die Fronten der Kultur nachsprechen müssen, wenn sie über ihre Stellung im „clash of civilizations“ sprechen will. IV. Die transzendentale Textur der Kultursoziologie Der Idealtypus als ‚Gedankenbild‘ führt uns zur Frage, welchen ontologischen Status die von der Kategorie der Anschauung imaginierten oder visualisierten ‚Bilder‘ haben. Die für Max Weber maßgebliche Philosophie des südwestdeutschen Neukantianismus gibt uns keine Antwort. Das Idiographische Wilhelm Windelbands wie das historisch Individuierte Heinrich Rickerts bleiben eigentümlich bilderlos, abgesehen von den transzendentalen Anschauungsformen Kants, die den Erkenntnisgegenständen Raum und Zeit unterlegen und die Urteilsformen fundieren. Die Notwendigkeits-, Behauptungs- und Möglichkeitsurteile sind zwar „Anschauungsurteile“, gelten aber nur als „Vorstufe eigentlicher Begriffsurteile“ (Rudolf Eisler).28 Die Kategorie der ‚Möglichkeit‘ kommt jedoch bei Max Weber nicht in ihrer negativen Gestalt zur Verwendung, in dem Sinne also, dass sie ein Ausdruck unseres Nicht- resp. Nichtvollständig-Wissens im Gegensatz zum assertorischen oder apodiktischen Urteil ist, sondern gerade umgekehrt bedeutet sie bei ihm die Bezugnahme auf ein „positives Wissen“, eben „auf unser ‚nomologisches‘ Wissen“.29 ung, also meinen Ansatz. Anregungen hierzu findet man bei Oppenheimer (1925), sowie bei: Hempel (1967); hierzu Wolters (2000). Janoska-Bendl (1965) – mit Hinweisen auf ältere Analysen des Idealtypus; Prewo (1979), bes. S.  85–152, wohl gegenwärtig das beste Werk über Webers Methodologie; Schmid (1994); Freund (1994); Scaff (1994); Ringer (1997), bes. S.  110–121; Kalberg (2001), bes. Teil II. Die kausale Soziologie: Strategie und Verfahren, S.  117–246. 28  Eisler (1913), Artikel „Anschauung und Anschauungsformen“, S. 33–38, sowie „Urteil“, S.  707–711, zit. S.  707. 29  Weber (1951c), S.  276.



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Die Max Weber begleitende und den Neukantianismus überschreitende Philosophie hatte dieses Thema aufgenommen und bis in unsere Tage die bildlichen Elemente der Erkenntnis zu fassen versucht. Ich kann nur Fingerzeige geben auf die Phänomenologie Edmund Husserls und die Sprachphilosophie bei Ludwig Wittgenstein. Zuerst zu Husserl. In einer Zusammenstellung nicht zufällig erst unserer Tage von Texten über „Phantasie und Bildbewusstsein“ zeigt Husserl in einer Vorlesung von 1904 / 05 die „Wesensgemeinschaft der physischen Imagination und der gewöhnlichen Phantasievorstellung bezüglich der ‚geistigen Bilder‘“: Die „innerliche Bildlichkeit“ präsentiert „das eigentlich imaginative Bewusstsein“, die „äussere Bildlichkeit“ ist hinzugeführte Veranschau­ lichung des symbolischen Bewusstseins“.30 Das „Bildlichkeitsbewusstsein“ hat eine „immanente Funktion“ sowie eine „symbolische“. Im Rahmen meines Themas kennzeichne ich die erste als transzendentale Konstitution von Welt – in Verbindung mit der Selbstpräsentation der singulären Bewusstseinsinhalte. Die zweite Funktion der Bildlichkeit ist die empirisch-symbolische Fremdpräsenz einer phänomenalen Welt, die später „Lebenswelt“ genannt wird. Sie führt über Interaktionsund Institutionsanalysen bei Alfred Schütz zum „Sinnhaften Aufbau der sozialen Welt“31, was nicht mehr unser Thema ist. Wer sich zu „Husserls Phänomenologie der Imagination“, so der Titel eines Buches von Paolo Volonté von 1997, einführen lassen will, wird sorgfältig zusammengesuchtes Anschauungs- und Begriffsmaterial finden „Zur Funktion der Phantasie bei der Konstitution von Erkenntnis“, so der Untertitel. Die Ironie ist, dass Volonté Weber-Forscher ist, aber keinerlei Bezug zu Weber und seiner Husserl-Rezeption bzw. Nichtrezeption nimmt.32 Nur durch die Vorarbeit von Husserl, der an einer Eidetik, einer „Ideenschau“, das Apriori der sinnlichen Wahrnehmung findet, ist eine Soziologie ohne Metaphysik der platonischen Ideen und ohne Transzendenz von Erkenntnisprinzipien möglich – in soziologiegeschichtlicher Analogie zu Max Weber, der zur selben Zeit ohne Vernunfttranszendenz und transzendentale Aprioritäten auskommt. Das ‚Ideale‘ des Idealtypus benötigt keine metaphysische ‚Idee‘, sein ‚Typisches‘ ist kein teleologisches ‚Urbild‘. Sie sind freie Schöpfungen des Geistes als gedanklich-bildliche Ordnung des Mannigfaltigen zwecks empirischer Forschung. „Gedankenbilder“ setzen auch keine Anthropologie voraus, sondern der „Idealtypus“ ist das methodische Instrument der Konstruktion und Konsti30  Husserl

(2006), zit. S.  23–25 u. 52–56. (1932). 32  Volonté (1997). 31  Schütz

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tution der sozio-kulturellen Welt. Es ist mein Einwand gegen die „BildAnthropologie“ von Hans Belting, in deren Gefolge Christoph Wulf die „mentalen Bilder des Sozialen“ mit ihren mimetischen Prozessen „körperbasiert“. Mit Rückgriffen auf Husserl und den späten Wittgenstein werden die Visualisierungen der Soziologie zu Paradigmen einer „reproduktiven Einbildungskraft“, deren „Imaginationen“ sich ritualisieren und institutionalisieren. Auf diesem Wege landet man bei Gehlen, den Wulf nicht zitiert, oder – im naturalistischen Fehlschluss – in der Neurophysiologie und Genetik.33 Befreien wir Wittgenstein aus solchem Korsett. Seiner „Bildtheorie der Sprache“, die eben keine „Proto-Soziologie“ ist, verdanken wir den Aufschluss eines Zusammenhangs von „Bildern und Worten“, wie ein Schwerpunktheft der Zeitschrift für Philosophie vom Herbst 2006 vorführt.34 Seine „epistemischen Bilder“ haben keine eidetischen Evidenzen wie bei Husserl, was ja Weber durchaus mit den kategorialen und sinnlichen Anschauungen aufnimmt, haben also keine transzendentale Funktion, sondern werden, wie ich sage, methodologisch umgewendet. Sie haben eine „diagrammatische“ Qualität, aus „skripturalen wie bildlichen Elementen“ werden Schemata, also Graphen, Modelle oder Pläne gebildet, deren Erkenntnisprogramm durch die „Isomorphie“ von protokollierten Sätzen, graphischen Aufzeichnungen und sprachlichen Bildern bestimmt ist. Sie erlauben eine Morphologie der Strukturen und ihrer Bewegungsabläufe in der sprachlich-bildlich geformten Wirklichkeit. Insofern ist wissenschaftliche Sprache immer „diagrammatisch“ – von heuristischem Schemata über mathematische oder stochastische Modelle bis zu experimentellen Versuchsplänen. Dies meine ich, wenn ich sage, dass Wittgenstein als „visueller Denker“ eine methodologische Wendung der ‚Gedankenbilder‘ im Medium der Sprache vornimmt. Die imaginierten bzw. visualisierten Bilder gehen von einer Einheit von Idee und Wahrnehmung bzw. Bild und Wort aus. Der transzendentale Boden zwischen Subjekt und Objekt (in der Linie der Vernunftkritik Kants); von Meditierendem und Meditiertem (mit Husserls „Cartesianischen Meditationen“); von Sprechendem und Gesprochenem (seit dem „linguistic turn“) setzt allemal die Kantische Einheit der „Synthesis der Urteile a priori“ voraus, die erst die „Synthesis der Urteile a posteriori“ als Erfahrungsurteile ermöglicht. Schauen wir aus, wo wir auf dem Weberschen Niveau des 33  Belting

(2001), Wulf (2006) und Wulf / Hüppauf (2006). Julius Schneider (2006) einleitend zu den Beiträgen von Jörg R. J. Schirra / Klaus Sachs-Hombach (2006); Jakob Steinbrenner (2006) und Dieter Mersch (2006). Aus dem letzten mit dem Titel „Wittgensteins Bilddenken“ zitiere ich, dort die Verweise auf Wittgensteins Schriften. Ertragreich dazu und weit ausholend in Semiotik und Semantik: Oliver R. Scholz (2004). 34  Hans



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‚Kampfes der Gedankenbilder‘ im Krieg der Kulturen um ihre hegemonialen ‚Kulturbedeutungen‘ stehen können. Verworfen habe ich, mich dem „iconic turn“35 anzuschließen. Die Geschichts- und Kulturwissenschaften haben ihn aufgenommen und eine „Bilderwissenschaft“ mit einer „visual history“ und „visual culture“ entfaltet. Der 46. Deutsche Historikertag 2006 in Konstanz stand unter dem Thema „Geschichtsbilder“, Gerhard Paul hat ein Studienbuch „Visual History“ herausgegeben.36 Klaus Sachs-Hombach hat die „Disziplinen, Themen, Methoden“ in einem Band „Bilderwissenschaft“ zu Wort kommen lassen mit Kultur- und Kunstwissenschaft, Ethnologie, Politikwissenschaft und Soziologie.37 Die Historiker, Geistes- und Sozialwissenschaftler verwenden jedoch ‚Bilder‘ durchgehend als illustratives und dokumentarisches, als fotound filmästhetisches Material, das zu erweiterten Analysen und Interpreta­ tionen führt. Die logische Konstitution und methodologische Konstruktion der Welt durch ‚Gedankenbilder‘ ist nicht ihr Thema. V. Kultur als Herrschaft: Max Weber und Michel Foucault Jedoch führen uns die beiden bedeutendsten Kunstsoziologen – ich meine Arnold Gehlen und Michel Foucault – auf das Terrain der ‚Gedankenbilder‘. Die „Zeitbilder“ Gehlens38 schließen die gesellschaftlichen Entstehungskonstellationen auf, etwa der Renaissance-Kunst, der niederländischen, der manieristischen und der modernen Malerei, mitsamt den Weltbildern der Produzenten und Rezipienten. Sie sind Zeitdokumente einer ins Bildliche erweiterten Soziologie, an die Gehlen bild- und begriffslogische Folgerungen anschließt. „Da das abstrakte Bild (der modernen Malerei) zugleich mit dem Gegenstand das Wiedererkennen abtrug, erscheint es als ‚irrational‘, und es entsteht die Frage, wohin die unserer Anschauung beigegebene Begrifflichkeit abgewandert ist: in die Kommentarliteratur.“ Der „ideelle Bereich absoluter Wahrheiten“ der religiösen Malerei des Mittelalters und später das „Bezugssystem der ‚Natur‘“ seit der Renaissance haben sich aufgelöst und die „menschliche Subjektivität“ hat sich als Voraussetzung der Kunst etabliert, „und zwar in ihrer reflektierten, in sich selbst zurückgespiegelten Form. … Alle moderne Kunst ist Reflexionskunst“. Aber alle Kommentierungen und Verschriftlichungen der Kunst ruhen auf „einer unmittel35  Bachmann-Medick

(2006), über den „Iconic Turn“, S.  329–365. (2006). 37  Sachs-Hombach (2005), darin speziell „Soziologie“ von Schelske (2005). Instruktiv, aber methodologisch unergiebig Bredekamp u. a. (2007), besonders Barlösius (2007). 38  Gehlen (1986), Zitate S.  16, 17, 162. 36  Paul

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baren und nicht ausgefalteten Rationalität des Auges selbst, mit der und an der diese Kunst experimentiert.“ Es ist eine „unmittelbare inneroptische Reflexion“, wie die Wahrnehmungspsychologie erforscht hat. Gehlen ist „der Ansicht, dass die Doppelbeziehung von Anschauung und Intellekt dem Auge wesenseigen ist. Wenn also mit dem Gegenstande notwendig zugleich der Begriff, das Wiedererkennbare und Benennbare aus dem Bilde vertrieben wird, dann siedelt er sich neben ihm an und erscheint dort als Begleittext.“ Bild und Schrift gehören zusammen. Die Kategorien der Anschauung und die der Begrifflichkeit verbinden sich, in meiner Sprache, zu einem ‚Gedankenbild‘. Michel Foucault wiederum entschlüsselt die Beziehung der Malerei zur Sprache vor den „Meninas“ von Velasquez.39 Im Spiegel des Gemäldes spiegelt sich nicht nur der portraitierte spanische König, sondern auch der Beschauer selbst, es sind „Existenzbilder“ von erwachender und vergehender Subjektivität im Sinne seiner „Erfindung des Menschen“. Foucaults Analysen der Schrift von Gustave Flaubert über „Die Versuchung des heiligen Antonius“40 holen einen anderen Darstellungseffekt hervor. Der Text von Flaubert verschriftlicht die malerischen Präsentationen der Visionen des Heiligen Antonius, so dass sie zu Repräsentationen des Wissens einer ‚Bilder‘geschichte werden. „Das wahre Bild ist Kenntnis.“ Das Imaginative und Imaginäre der satanischen Versuchung wiederholt sich „von Buch zu Buch zwischen den Schriftzeichen“ der Interpretationen und Kommentare. „Es entsteht und bildet sich heraus im Zwischenraum der Texte. Es ist ein Bibliotheksphänomen.“ Das ‚Bild‘ reproduziert sich im Text, der den Schreiber und Leser imaginierten Versuchungen aussetzt und ihn an die Pforten der Hölle führt. Der „Zwischenraum der Texte“ mit solchen ‚Gedankenbildern‘ öffnet uns eine Spur bei der Frage nach ihrem ontologischen Status. Was spielt sich in diesem Zwischenreich ab, der den Menschen und seine Menschenwelt zerreißt, am Ende vernichtet? Foucault hat in seiner „Mikrophysik“ und seinen „Dispositiven der Macht“ die Abtrennung und Ausgrenzung der Diskurse mit den Kategorien des ‚Kampfes‘ und einer militärischen Terminologie analysiert.41 Erst durch solche Diskurse um „Die Ordnung der Dinge“ wird 39  Michel Foucault (1999). Mit einem Nachwort von Rainer Marx (1999). Dazu Hans Belting (2006), bes. S. 130–134; sowie Caroline Kesser (1994), über Foucault S.  143–164. 40  Flaubert (1966), mit einem Nachwort von Michel Foucault. Dazu Klaus Krüger (2005). 41  Foucault (1976) sowie (1978). Aus dem ersten „Macht und Körper“ und „Die Macht und die Norm“, S.  105–129. Aus dem zweiten „Historisches Wissen der Kämpfe der Macht“ und „Machtverhältnisse durchziehen den Körper“, S.  55–74 u. 104–117. Neuerdings eine Auswahl Foucaults (2005) von Thomas Lemke.



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die Produktion von Individuen mit ihren Institutionen installiert. „Eine Archäologie der Humanwissenschaft“, der Untertitel des benannten Buches von 1966 / 7142, ergründet die Zerrissenheit der einzelnen Menschen in sich und gegeneinander. Die Macht imprägniert ihre Körper und Seelen, unterwirft sie durch Disziplin und Gehorsam. Solches „Gouvernement“ rationalisiert die mit sich und anderen streitenden Körper zur verstetigten Herrschaft. Das Charisma ist ein Abglanz des „Begehrens“ nach psychisch verinnerlichter wie institutionell veräußerlichter Macht. Foucault sowie besonders seine deutschen und amerikanischen Interpreten haben die Konvergenz mit Webers Herrschaftssoziologie herausgearbeitet.43 Durchgegriffen auf das Medium des Diskurses mit seinen „Regeln und Dispositionen“, gibt es jedoch einen begriffsbildenden Unterschied. Während Max Webers methodologischer Individualismus Herrschaftsstrukturen auf den Legitimitätsglauben sozial Handelnder zurückführt44, werden bei Foucault die Subjekte mit ihrer sozialen Praxis durch den Machtdiskurs erzeugt. Macht ist nicht mehr „soziologisch amorph“, sondern metamorphisiert sich in der „Genealogie des Willens zur Macht“ auf der Folie Nietzsches zu historischen Formen der Herrschaft. Staat und Strafjustiz, Wirtschaft und Industrie, Klinik und Psychiatrie, Lebenskultur und Sexualität „erfinden“ den Menschen, erzwingen Gehorsam und Disziplin und lassen ihn in den Strukturen wieder verschwinden. Eine solche „Genealogie“ ist ein Archiv des „historischen Wissens der Kämpfe“, seine „Archäologie“ bringt die kriegerischen Konflikte zu Tage, die den Menschen hervortreiben, ihn leiden und handeln lassen. „Die Kategorien Kampf, Konfrontation und Krieg werden zu Instrumenten der genealogischen Optik, die auf die Prinzipien der Kausalität und der Finalität verzichtet“, weil „kalkulierte, geplante Gewalt“, eben die „Dispositive der Macht“, die soziale Welt als Kollektiv der Körper rationalisiert. In logischer Umkehr sind es bei Weber die Befehls- und Gehorsamsketten der sinnvoll handelnden Menschen, die im Unterwerfungsglauben die tradi­ tionalen, charismatischen, legalen bzw. bürokratischen Herrschaftsvoll­ züge  strukturieren und typisieren lassen. Das „Machtverhältnis, nicht ­Sinnverhältnis“ bestimmt dagegen bei Foucault die „soziale Ordnung der Dinge“. 42  Foucault

(1971). Neuenhaus (1993). Hier (S.  87 ff.) finden sich meine Zitate mit Werkverweisen auf Foucault. David Owen (1994). Lemke (2001). 44  Auf die Rekonstruktion der Herrschaftssoziologie Webers verzichte ich hier. Man studiere die jetzt sorgfältig edierten und kommentierten Texte: Weber (2005). Dazu Edith Hanke / Wolfgang J. Mommsen (2001), darin vor allem Gangolf Hübinger (2001). 43  Petra

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„Die Matrix des Krieges und der Schlacht“45 selbst enthält die Kriterien des Machtdiskurses. Kein Gerichtshof der Vernunft, keine Verstandesapparatur der Urteilsformen, kein Organismus als Naturzweck für sich selbst, kein Kunstwerk unter der Idee des Schönen durchherrscht die Menschenwelt. Die kantische „Idee eines transzendentalen Subjekts“ ist verloschen. Eine „empirisch-transzendentale Doublette“ des Menschen, wie sie für das anthropologisch-humanistische Denken des 18. / 19. Jahrhunderts bestimmend war, ist nicht mehr nötig. Genau hier liegt der Punkt, an dem sich Foucault und Weber treffen. Die Kategorie der Anschauung und des Gegebenen sind rein immanent gedacht und lassen die ‚Gedankenbilder‘ der Idealtypen entwerfen. Das „nomologische Wissen“ aus Erfahrungsregeln und Beispielbildern, das ihn konturiert und illustriert, entspricht dem genealogischen Wissen, das Foucault aus Dispositiven und Direktiven der Macht jeweils historisch spezifisch kombiniert und variiert. Es sind „Individualisierungstechniken“, die Konkurrenz, Konflikt, Kampf aufdecken und erkennen lassen, immer partialisiert durch Weltanschauungen und inkorporiert in Menschenleibern. Ob Foucault’sches Machtpragma oder Weberscher Herrschaftsglauben, Kultur im ‚Krieg der Geister“ ist immer der Kampf um Hegemonie in der Menschenwelt. Dieses machtvolle Gedankenbild, das vor unserem geistigen Auge und unserem wahrnehmenden Blick aufscheint, wäre ohne die Kategorie der Anschauung, ob in idealtypischer oder genealogischer Optik, nicht herauszubilden gewesen. Methodologisch ist es aus den uns zugespielten objektiven Möglichkeiten oder aus den ordnungssuchenden Diskurschancen konstruiert. Ontologisch formen sich Gedankenbilder zwischen Beobachter und Beobachtetem, zwischen Forscher und Tatsachen, zwischen Sprechendem und Gesprochenem zu einem transzendentalen Medium, das erst Kultur konstituiert. Ich nenne es eine transzendentale Textur der Kultur, als logische und methodologische Bedingung der Möglichkeit der Kultur überhaupt und ihrer Erkenntnis, etwa als Kultursoziologie. Wie wir aus einer antimetaphysischen Einstellung uns gleichwohl auf Kant beziehen müssen, bedarf einer gedankenscharfen Prüfung, die uns vom Neukantianismus befreit und zu Kant selbst zurückzugehen aufgibt.46 Martin Heidegger zeigt uns den Weg, wie sich mit Kant Bild und Begriff in einem ontologischen Schematismus verbinden lassen, in meiner Sprache, zu einer ‚transzendentalen Textur‘ der sozialen Welt. Die Wissenschaftler, ob Kultursoziologen, Sozialanthropologen oder Ethnologen, streiten um eine „dichte Beschreibung der kulturellen Systeme“ 45  Neuenhaus 46  Heidegger

(1993), S.  90. (1998), über „Bild und Schema“ §§ 19–23, S.  88–113.



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(Clifford Geertz47), die wirklichen Menschen stehen im Kampf der Bilder und Körper, von dem sie als Akteure und Agenten zumeist gar nicht wissen, dass es ein Kampf der Kulturen ist. Hier finde ich einen Stand in einer zeitgemäßen „Ortsbestimmung der Soziologie“, worauf sich eine Kultursoziologie bauen lässt. Literatur Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006. Baier, Horst: Drei Thesen. Kultur und Zivilisation. Zur Geschichte und Soziologie eines Antagonismus, Sommerakademie „Kultur und Zivilisation“ bei Wolfgang Lipp in Altaussee vom 18. bis 21.8.2003 (ungedruckt). – Kultur contra Zivilisation im Krieg der Geister – mit Blick auf Max Weber, in: Schäfers, B. / Stagl, J. (Hg.): Kultur und Religion, Institutionen und Charisma im Zivilisationsprozeß. Festschrift für Wolfgang Lipp, Konstanz: Hartung-Gorre 2005, S.  59–82. – Der Soziologe auf der Suche nach Wirklichkeit – mit dem Auge, dem Ohr, dem Griff zur Welt. Festvortrag zu Ehren von Wolfgang Lipp auf Schloss Tillysburg am 9.7.2005 (ungedruckt). Barlösius, Eva: Gesellschaftsbilder – die Grafik des Sozialen, in: Bredekamp, H. / Bruhn, M. / Werner, G. (Hg.): Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 5.1. Systemische Räume, Berlin: Akademie Verlag 2007, S.  9–17. Belting, Hans: Bild-Anthropologie, München: Wilhelm Fink 2001. – Der Blick im Bild. Zu einer Ikonologie des Blicks, in: Hüppauf, B. / Wulf, C. (Hg.): Bild und Einbildungskraft, München: Wilhelm Fink 2006, S.  121–144. Bredekamp, Horst / Bruhn, Matthias / Werner, Gabriele (Hg.): Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 5.1. Systemische Räume, Berlin: Akademie Verlag 2007. Buonaroti, Michelangelo: Zeichnungen und Dichtungen, ausgewählt und kommentiert von H. Keller, Frankfurt a. M.: Insel 1975. Burckhardt, Jacob: Über das Studium der Geschichte. Weltgeschichtliche Betrachtungen, hg. von P. Ganz, München: C. H. Beck 1982. – Die Kunst der Betrachtung. Aufsätze und Vorträge, hg. von H. Ritter, Köln: DuMont 1997. 47  Geertz (1987). Sein semiotischer Kulturbegriff stützt sich auf Max Weber: „Ich meine mit Max Weber, dass der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe“, S. 9; über die „Kartographie“ symbolischer, „unkörperlicher Landschaften“, S.  29 f. und 44 ff.

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Kultursoziologie als Kulturkritik Von Johannes Weiß I. René König hat bemerkt und viele haben es wiederholt: Die Soziologie ist als Krisenwissenschaft aufgekommen und hat sich nur als solche durchsetzen können. Diese Behauptung hat viel für sich, und sie ist insbesondere dann zutreffend, wenn man die Soziologie einerseits mit Auguste Comte beginnen lässt, der die von ihm erfundene Wissenschaft auf die Erhellung und Überwindung der „großen Krise“ verpflichtete, und andererseits mit Karl Marx, der die große Krise allerdings anders auffasste, anders erklärte und so auch anders – theoretisch und praktisch – zu überwinden unternahm. Die Behauptung gewinnt zusätzliche Plausibilität, wenn man an die wirkungsgeschichtliche Bedeutung von Jean-Jacques Rousseau und an Robert Spaemanns These vom Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (bei de Bonald) denkt. II. Damit wird aber zugleich klar, dass der Gesellschaftswissenschaft als Krisenwissenschaft die Gesellschaftskritik voraus und zugrunde liegt. Krise und Kritik stehen in einem Verhältnis der wechselseitigen Erzeugung und Verstärkung. Je größer die behauptete Krise, desto radikaler die Kritik – oder eben: je größer die Kritikbereitschaft, desto größer die behauptete Krise. Eine nähere Betrachtung1 zeigt im übrigen, dass die diagnostizierte große Krise vornehmlich nicht als Krise der gesellschaftlichen oder politischen Ordnung, sondern der Kultur, d. h. der überkommenen Weltdeutungen, Sinngebungen und Wertordnungen aufgefasst, die Gesellschaftskritik also in ihrem Kern als Kulturkritik vorgebracht wurde. Die Soziologie der Kultur gehört genau deshalb ins Zentrum der frühen Soziologie, weil sie explizit auf die Krise der Kultur reagiert und dabei wesentliche Motive der vorsoziologischen Kulturkritik aufnimmt.

1  Vgl.

Weiß (1993), S.  251 ff.

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III. Wie lässt sich die Kritik der Gesellschaft und / oder der Kultur in eine wissenschaftliche Form überführen? Offenbar so, dass die „Kriterien der Kritik“ (Marx) sich aus der Erforschung des Gegenstands mit Notwendigkeit ergeben, also keineswegs dem beliebigen, subjektiven Wünschen und Meinen der Kritisierenden entspringen. Eben dies leistet nach dem Marxschen Verständnis die Methode der Dialektik, sofern sie (Nachwort zur 2. Aufl. des Kapital) nichts anderes sei als die „Einheit von Analyse und Kritik“. Das bedeutet, dass sich die Kritik auf streng wissenschaftliche, empirische Weise als Selbst-Kritik des Untersuchungsgegenstands aufweisen lässt. Eine solche Möglichkeit hatte Marx in der vor-materialistischen Phase seines Denkens (insbesondere in der Deutschen Ideologie) zu praktizieren versucht, indem er die tatsächlichen sozio-politischen Gegebenheiten mit ihrer Selbst-Beschreibung und Selbstlegitimierung konfrontierte, um aus ihrer sachlichen Unangemessenheit auf das Falsche und Unhaltbare jener Gegebenheiten zu schließen. Dieses Verfahren ist später von der Kritischen Theorie wieder aufgenommen und beansprucht worden. Die zweite, noch radikaler und einwandsimmuner gemeinte Methode ist die von Marx im Umkreis der Kritik der politischen Ökonomie verwendete. Hier wird der harte Kern der geschichtlichen Wirklichkeit, (die so genannte „materielle Basis“) nicht mehr mit beiherspielenden Interpretationen („Überbau“), sondern mit sich selbst, d. h. mit den eigenen, im Rahmen der gegebenen Gesellschaftsformation unauflösbaren Widersprüchen konfrontiert. Neben oder, wie bei Marx, verbunden mit diesen beiden Verfahrensweisen gibt es eine dritte, bei der eine Perspektivenverschiebung von der wissenschaftlichen Erforschung des Gegenstands zur Frage nach seiner Wissenschaftsförmigkeit stattfindet. Es wird, wiederum: mehr oder minder ausdrücklich, unterstellt, dass sich die gesellschaftliche Wirklichkeit, und zwar in Gestalt der objektiven Verhältnisse ebenso wie der sie tragenden Ideen und Wertsetzungen, vor dem Richterstuhl der Vernunft zu verantworten, auf ihren wissenschaftlichen, wissenschaftsförmigen oder zu verwissenschaft­ lichenden Charakter hin überprüfen zu lassen hätte. Der Grad an wissenschaftlicher oder wissenschaftlich-technischer Rationalität ergibt dann den Maßstab, vermittels dessen sich das Haltbare vom Unhaltbaren unterscheiden lässt. In dieser Weise argumentiert, was die Gründungsphase der Soziologie angeht, insbesondere Comte, wenn er die „große Krise“ auf die destruktiven Wirkungen des metaphysischen, näherhin aufklärerischen Geistes zurückführt und eine Reorganisation der Gesellschaft unter Führung des positiven Geistes und näherhin der Soziologie fordert und betreibt. Diffe-



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renzierter und sachnäher zwar, im Kern aber von derselben Art ist die Weise, wie Durkheim die Soziologie nicht nur als Mittel der Erkenntnis, sondern auch als Medium der Reform und Restabilisierung der Gesellschaft ins Spiel bringt. IV. Wie stellt sich die frühe, klassische Kultursoziologie zu dem solcherart vorgegebenen Umgang mit der Krise und der Kritik der modernen, zeitgenössischen Gesellschaft und Kultur? Sie leugnet weder die Krisenhaftigkeit der geschichtlichen Lage noch die Möglichkeit einer weitreichenden Kritik. Wohl aber bezweifelt sie, dass die Krise auf diese Weise angemessen aufgefasst, die Kritik überzeugend angesetzt und begründet werde und in eins damit, dass das Verhältnis von Kultur und Kulturwissenschaft richtig verstanden werde. Im wesentlichen sind es zwei Entgegensetzungen, die auf diese Weise in Frage gestellt werden: 1. der Gegensatz zwischen einer harten sozio-politischen oder ökonomischen Wirklichkeit und einer daraus hervorgehenden, also bloß derivativen Deutung, Bedeutung und Bewertung, 2. der Gegensatz zwischen einem wissenschaftlichen Weltverständnis, innerhalb dessen allein über die Wahrheit und Richtigkeit seiner selbst und aller anderen Weltverhältnisse entschieden wird, einerseits und diesen anderen Weltbezügen andererseits, die dazu weder hinsichtlich ihrer selbst noch hinsichtlich der Wissenschaft imstande sind. V. Die bis heute klassische, d. h. im wesentlichen von Max Weber und Georg Simmel auf die Bahn gebrachte Kultursoziologie ist insofern Soziologie, als sie nach der gesellschaftlichen Bedingtheit und Funktionalität kultureller Schöpfungen fragt bzw., durchaus von Marx inspiriert, die Eingebundenheit ihrer Genese und Wirkung in Macht-, Klassen- und Interessenkonflikte untersucht oder, im Anschluss an Nietzsche und dann Freud, sie als Folge und Funktion psychischer oder sozio-psychischer Bedürfnisse deutet, sie also unter dem Gesichtspunkt der Ideologisierung oder Rationalisierung in den Blick nimmt. Zugleich aber besteht sie darauf, dass durch solche Untersuchungen der Eigensinn, die Eigenlogik, die eigentümliche Kausalität und auch das Eigenrecht kultureller Sinnwelten und Gebilde nicht grundsätzlich in Frage gestellt werde, dass vielmehr, umgekehrt, ihre gesellschaftliche Bedeutung und Wirksamkeit sich gerade dann am deutlichsten zeige, wenn eben dies:

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ihr Eigensinn und ihre eigene Dynamik, in Betracht gezogen und in Rechnung gestellt würden. VI. Es ist an dieser Stelle unnötig, im Einzelnen darzulegen, wie sich diese Auffassung in unterschiedlicher Weise etwa bei Georg Simmel, bei Max und Alfred Weber und dann bei Max Scheler zeigt und auswirkt. Wohl aber sei zur Exemplifikation Ernst Troeltschs Vortrag auf dem 1.  Deutschen Soziologentag (1910) über Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht und die daran anschließenden Debatte (unter Beteiligung von Weber, Simmel, Tönnies und anderen) angeführt. In Übereinstimmung mit entsprechenden Bemerkungen von Weber und Simmel, aber gegen die gemäßigt „materialistische“ Erklärungsweise von Tönnies bringt Troeltsch die gemeinte Sicht- und Denkweise sehr prononciert zum Ausdruck: „Wer in den Quellen lebt und die religiöse Denkweise kennt, wer die Schriften dieser Menschen, ihre Argumentationen kennt, der weiß, dass über diese Menschen die innere Logik einmal ergriffener Gedanken, aus welchen Zusammenhängen heraus immer, eine eigene selbständige Macht ausübt.“ Gerade Martin Luther sei dafür ein sehr gutes Beispiel. Gewiss lasse sich vieles an ihm „aus allgemeinen sozialen Verhältnissen“ verstehen, „das Wesentliche seines religiösen Gedankens und seiner Theologie“ aber gerade nicht: „Der Mann hat irgendeine Monomanie, und aus diesem Gedanken der fürchterlichsten Unfähigkeit, jemals etwas Gutes zu tun, der Höllenangst, dem Bedürfnis nach Seligkeit, entwickelt sich ganz autonom die Dialektik seiner Gedanken, bis sie später natürlich eingreift in die natürlichen Verhältnisse.“ Anschließend spricht Troeltsch, im Blick auf einen „Haufen von Akten von Wiedertäufern“, die er eben studiert habe, von einer „reinen Dialektik der Idee“, die sich völlig unbekümmert um ökonomische Chancen und Interessen vollziehe.2 Sehr prinzipiell und sehr dezidiert hat sich, ganz in diesem Sinne, Georg Simmel geäußert: „Alle rein sachlichen Bedeutsamkeiten, an denen unsere Seele irgendwie teilhat, die logische Erkenntnis und die metaphysische Phantasie über die Dinge, die Schönheit des Daseins und sein Bild in der Selbstherrlichkeit der Kunst, das Reich der Religion und der Natur – alles dies, soweit es zu unserem Besitz wird, hat innerlich und seinem Wesen nach mit ‚Gesellschaft` nichts zu tun“.3 Deshalb muss, was das „Reich der Religion“ angeht, gerade in soziologischen Untersuchungen auch das erkennbar werden, 2  Troeltsch 3  Simmel

(1969), S.  212 f. (1917), S.  72.



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„was an dem religiösen Verhalten als die rein religiösen – und als solche gegen alles Soziale gleichgültigen – Elemente gelten dürfe“.4 VII. Die unterschiedlichen, aber nicht unvereinbaren gegenwartsdiagnostischen Formeln, mit denen die frühen Kultursoziologen die geschichtliche Lage beschreiben, haben auch dies gemeinsam, dass sie auf die Verselbständigung und Eigendynamik kultureller Sinnsphären abheben. Das gilt für Webers Rede von der „Entzauberung der Welt“ ebenso wie für Simmels Einsicht in die „Tragödie der Kultur“ und auch für Troeltschs – von Dilthey übernommene – Rede von einer „Anarchie der Werte“. Als kultur-kritisch erweist sich die Kultursoziologie hier gerade insofern, als sie auf der Notwendigkeit der Unterscheidung und Entgegensetzung beharrt und darauf verzichtet, den Sachgegebenheiten mit normativen Versöhnungspostulaten entgegenzutreten. Wo dies, wie bei Troeltschs Forderung einer neuen „Kultursynthese“ oder Max Schelers Bemühungen um eine neue Weltanschauung, doch geschieht, wird nichts Unzulässiges oder Unsinniges unternommen, wohl aber werden die erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnis gesetzten Grenzen überschritten. Eine Kultursoziologie, die diese Grenzen bedenkt und beachtet, besitzt kein geringeres, sondern ein größeres kulturkritisches Potential als diejenige Kultur- und Gesellschaftskritik, von der sie sich – als Erfahrungswissenschaft – abgesetzt hat. Ihre Überlegenheit zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sie ihre eigenen Voraussetzungen, ihre Möglichkeiten und ihre Grenzen bewusst und systematisch in ihre Analysen einzubeziehen genötigt und imstande ist. VIII. Das insoweit Vorgebrachte steht und fällt damit, dass das dabei unter „Kritik“ Verstandene eindeutig von einer kritischen Bewertung unterschieden werden kann, dass es also in dieser Hinsicht durchaus keiner Verabschiedung eines methodologischen Grundsatzes bedarf, an dem festzuhalten eine an Max Weber anschließende kulturwissenschaftliche Forschung allen Grund hat. Tatsächlich ist der gemeinte und in den bisherigen Überlegungen – undefiniert – beanspruchte Begriff der Kritik kein „Wertbegriff“ im Sinne Webers, weil er nichts anderes als Unterscheidung meint. Das entspricht ganz 4  Ebd.,

S.  19.

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der primären Bedeutung des griechischen Verbs krinein (scheiden, sondern, sichten, unterscheiden), auch wenn darin die Verschiebung hin zu einem bewertenden Entscheiden, Richten und (Ver-)Urteilen immer schon angelegt ist. Zunächst und vor allem heißt Kritik jedoch, in der Sache zu unterscheiden, Ungleiches als ungleich, Gleiches als gleich, Vereinbares als vereinbar, Unvereinbares als unvereinbar auszuweisen. IX. Mit Kritik im Sinne von begründeter Bewertung, positiver oder negativer Wertschätzung, wertender Beurteilung ist dieser elementare Begriff also keineswegs identisch. Doch ist – wie beim Bedeutungsspektrum von krinein oder beim Begriffsfeld scheiden / unterscheiden / entscheiden im Deutschen – das eine mit dem anderen verbunden, und zwar in doppelter Weise. Zunächst insofern, als auch ein Unterscheiden „in der Sache“ bestimmter Kriterien bedarf. Dabei kann es sich um auf die Sache bezogene Hinsichten handeln, bei deren Festlegung es aber auch nicht ohne jede Bewertung – zumindest im Blick auf kognitive Nützlichkeit / Ergiebigkeit – abgeht. Es können jedoch ebenso wohl „praktische“, also etwa moralische oder politische Werte (als Präferenzkrite­ rien) ins Spiel kommen, deren Geltungsanspruch sich zwar nicht erfahrungswissenschaftlich begründen lässt, von den Forschenden aber nicht nur für möglich, sondern sogar für verbindlich gehalten wird. Umgekehrt ist jedes aktuelle Bewerten unterschiedlicher gesellschaftlicher Gegebenheiten oder Möglichkeiten, wenn es mehr sein soll als eine instinktive, begründungsfreie Geschmacksäußerung, ein Ausdruck ganz subjektiver Vorlieben und Abneigungen oder gar eines bloßen Wunschdenkens, auf jene vorgängige Unterscheidung in der Sache angewiesen: Ohne Unterscheidungskriterien, mit denen sich in der einen oder anderen Weise ein Bewerten verbindet, keine Unterscheidung – aber ohne Unterscheidung in der Sache auch keine rationale und praktikable wertende Stellungnahme. Der zweite Teil dieses Grundsatzes darf keineswegs so verstanden werden, als ob die so gewonnene Unterscheidung eine bestimmte wertende Stellungnahme zu dem Unterschiedenen impliziere oder logisch aufnötige. Weil das so ist, kann die Kultursoziologie mit mannigfachen wertgebundenen Unterscheidungen operieren, ohne damit die empirische Triftigkeit und Erklärungskraft ihrer Analysen zu schwächen und ohne gegen das Wertfreiheitspostulat zu verstoßen. Das kann am Beispiel der Adornoschen Musiksoziologie5 deutlich gemacht werden: Es ist sehr wohl möglich, die von Adorno entwickelte und 5  Adorno

(1962).



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verwendete Typologie musikalischen Hörens (und in die damit verbundene Unterscheidung unterschiedlicher musikalisch-kompositorischer Komplexitäts- und Anspruchsniveaus) zum Zwecke empirisch-kultursoziologischer Forschung zu verwenden, ohne die Adorno bei deren Konstruktion bestimmenden musikästhetischen (und zugleich gesellschaftskritischen) Wertgesichtspunkte in die eigene aktuelle Bewertung zu übernehmen, also zur Grundlage der eigenen Hoch- oder Geringschätzung zu machen. Eben dies hat Arnold Zingerle in seiner Studie zu den Bayreuther Festspielen demonstriert.6 X. Oft sind die zu Untersuchungszwecken gemachten Unterscheidungen derart, dass über die relative Bewertung der so unterschiedenen Möglichkeiten ein breiter, manchmal fast vollständiger Konsens besteht. Das ist in zeitgenössischen, differenzierten Gesellschaften vor allem hinsichtlich einer wertenden Abstufung nach rechtlichen Normen der Fall, außerdem, obzwar schon viel weniger, bei moralischen Bewertungen, und dabei geht es vor allem um eine Übereinstimmung in der negativen Beurteilung. Bei kulturellen (etwa religiösen oder künstlerischen, nicht: wissenschaftlichen) Schöpfungen und Gebilden, Einstellungen und Handlungen geht es weniger um eine wertende Einschätzung dieser – moralischen oder rechtlichen – Art, und deshalb gibt es hier kaum einen breiten, gar gesellschaftsübergreifenden Bewertungskonsens. Das aber ist für das logische Verhältnis und auch für das forschungsmethodische Zusammenspiel von Kritik im Sinne des Unterscheidens und Kritik im Sinne des Bewertens ohne jede Relevanz. Umso wichtiger erscheint es, dass bei der Konstruktion der analytischen Unterscheidungen darauf geachtet wird, welche Unterscheidungshinsichten oder -kriterien bewertungsrelevant sind oder sein könnten. Auch in dieser Hinsicht ist Adornos Typologie instruktiv. Hier werden diese Hinsichten klar bestimmt, und damit wird deutlich zum Ausdruck gebracht, welche Art einer (möglichen) Bewertung im Blick steht. Der Umstand, dass unterschiedliche, wenn nicht widersprüchliche Wert­ orientierungen die „Auswahl und Formung“ von Forschungsgegenständen motivieren und bestimmen, lässt durchaus eine kritische Prüfung der Forschungen nach innerwissenschaftlichen Kriterien zu – hinsichtlich ihrer theoretischen Annahmen, ihrer Methodik und ihrer Resultate gleichermaßen.7 Und wenn mit dieser Prüfung ein klares Bewusstsein jener Wertorien6  Zingerle

(1998). Versuch, innerhalb dieses Spielraums einen Prozess kultureller „Vergewöhnlichung“ zu beschreiben, vgl. Weiß (2003). Wenn sich die dort angeführten Beob7  Als

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tierungen einhergeht, können auch diese sich dabei zwar nicht als „falsch“, wohl aber als fragwürdig erweisen – etwa weil sie erkennbar und ohne sachlichen Grund zur Ausblendung bestimmter Problemdimensionen oder zur Vernachlässigung alternativer Methoden geführt haben, nicht selten aber auch deshalb, weil die Untersuchungen entgegen ihrer Intention die faktische, gesellschaftliche Marginalität oder die Realitätsferne und praktische Unanwendbarkeit der betreffenden Wertgesichtspunkte vor Augen führen. Es kommt allerdings auch vor, dass gerade politisch fragwürdige – etwa „geistesaristokratische“ – Voreingenommenheiten den Blick schärfen für Gegebenheiten und kausale Zusammenhänge, die bei einer politisch eher konsensfähigen Wertbindung ausgeblendet zu werden pflegen. Die Dialektik einer antiaufklärerisch motivierten Aufklärung enthält keine logischen Probleme, ist leicht zu durchschauen und für andere, nach eigener Ansicht vorzuziehende Zwecke nutzbar zu machen. XI. Die soweit vorgetragenen Überlegungen waren nicht dazu bestimmt, neue Einsichten zutage zu fördern. Die Absicht war vielmehr, noch einmal darüber nachzudenken, ob eine insbesondere von Max Weber sich herschreibende kultursoziologische Forschungspraxis, zu der gerade Arnold Zingerle über viele Jahrzehnte hinweg Wesentliches beigetragen hat, auch weiterhin gute Gründe auf ihrer Seite hat. Sie muss sich ja dem nahe liegenden und tatsächlich immer wieder erhobenen Vorwurf stellen, bei ihr – wie schon bei Max Weber selbst – vermischten sich kulturwissenschaftliche und kulturkritische, wenn nicht geradezu ideologische Motive in einer mehr oder minder undurchsichtigen, aber jedenfalls unzulässigen Weise, werde also die Werturteilsfreiheit nur propagiert, um sie desto ungehemmter missachten zu können.8 Dieser Vorwurf wird dem kritischen Impetus, der für diese Kultursoziologie tatsächlich konstitutiv ist, nicht gerecht; eher schlägt er auf die zurück, die ihn erheben. Eine im beschriebenen Sinne kritische, das heißt in der Sache und im Blick auf Bewertungsoptionen unterscheidende Soziologie hebt darauf ab, das empirisch Gegebene im Horizont anderer, nach eigener, wohldurchdachter Überzeugung höher zu schätzenden Möglichkeiten zu achtungen und Argumente nicht unabhängig von – in der gemeinten Weise – mitspielenden Wertpräferenzen prüfen lassen sollten, wäre dieser Versuch gescheitert. 8  Ein Beispiel für diesen – wiederholt gegen Weber selbst gerichteten – Vorwurf ist die Behauptung, in dessen Religionssoziologie führe die persönliche Bindung an den Protestantismus zu einer systematischen Verzerrung der Wahrnehmung und Deutung katholischer Religiosität und Kirchlichkeit.



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erforschen. Dazu bedarf es durchaus keiner Konfundierung von Tatsachenund Werturteilen. Erfordert ist nur, darauf zu verzichten, sich vom Vorfindbaren den Spielraum und Maßstab des Denkbaren, Wünschbaren und Realisierbaren vorgeben zu lassen.9 Literatur Adorno, Theodor W.: Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1962. Rehberg, Karl-Siegbert: Kultursoziologische Perspektiven und die Tradition der Weberschen Soziologie, in: Berliner Journal für Soziologie 1, 1991, S.  253–262. Simmel, Georg: Grundfragen der Soziologie. Individuum und Gesellschaft, Berlin: G. J. Göschen 1917. Spaemann, Robert: Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration. Studien über L. G. A. de Bonald, München: Kösel 1959. Troeltsch, Ernst: Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht, in: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages (Frankfurt 1910), Frankfurt a. M.: Sauer u. Auvermann 1969. Weiß, Johannes: Vernunft und Vernichtung. Zur Philosophie und Soziologie der Moderne, Opladen: Westdt. Verlag 1993. – Der Herr als Kammerdiener, der Kammerdiener als Schwein – Über Normalisierung als Vergewöhnlichung, in: Link, J. / Loer, T. / Neuendorff, H. (Hg.): ‚Normalität‘ im Diskursnetz soziologischer Begriffe (Diskursivitäten. Literatur. Kultur. Medien, Bd. 3), Heidelberg: Synchron 2003, S.  219–227. Zingerle, Arnold: Zwischen Musikgenuss, Sinnsuche und Verzauberung, Kap. VII, in: ders. / Gebhardt, W.: Pilgerfahrt ins Ich. Die Bayreuther Richard-WagnerFestspiele und ihr Publikum. Eine kultursoziologische Studie, Konstanz: UVK 1998, S.  157–218.

9  Die vorgetragenen Überlegungen sind in der Sache und auch hinsichtlich ihrer Motive dem verwandt, was Joachim Fischer im Sinn hat, wenn er der Kultursoziologie einen „qualitativen“ Begriff von Kultur abfordert und zutraut; s. dazu die Debatte im kommenden Heft der Sociologia Internationalis (2010).

II. Kultursoziologische Themen und Diagnosen

Die Kultur in der Jetzt-Gesellschaft Von Carlo Mongardini Es ist heute schwierig, Kultur zu definieren, da sie immer eine Hierarchie von Werten und Gruppen bedeutet. Ebenso schwierig ist es zu bestimmen, welche die herrschende Kultur ist. Was aber charakterisiert heute unsere westliche Kultur? Besteht sie in den abstrakten Formen des Ökonomizismus mit seiner geschlossenen Logik und seinen Theoremen der kalkulierenden Vernunft oder in der Fragmentierung der Komplexität? Besteht sie eher in dem Versuch, die verschiedenen stimulierenden Erlebnisse des Alltäglichen zu institutionalisieren und sie als prägende Formen der Kultur zur Geltung zu bringen? Dürfen wir den immer deutlicheren Rückfall in Fundamentalismus und Lokalismus als heraufkommende Kultur betrachten? Oder sollten wir einen Sinnbezug der gegenwärtigen Kultur eher in dem entheiligenden, explosiven „Lebensdurst“ der neuen Generationen finden, die jede Fixierung der Realität, jede Begrenzung zurückweisen, um das Leben als solches emphatisch als ewigen Augenblick und daher als Gegenwart aufzufassen?1 Wie kann in diesem Fall Kultur, die Gegenwart ist, weil diese das Einzige ist, das nie vergeht, mit ihrer „Ewigkeit“ auf repräsentative Weise Gegensatz sein zur Zeit der Moderne, von der Nietzsche schreibt, sie sei ein „Prestissimo“? Zieht man dieses alles in Betracht, kann die zeitgenössische Kultur nur als „Kultur der Gegenwart“ identifiziert werden, weil die Gegenwart zugleich ihre Kontinuität darstellt, obwohl diese Identität einen Gegensatz bildet zu den Ideen von Kultur oder Zivilisation, wie wir sie bisher gedacht haben. Herkommend aus einem Prozess, der im Laufe der Zeit einem ideellen Ziel zustrebt, finden wir uns in einer implosiven Wirklichkeit wieder, deren Grenzen von der Gegenwart umschrieben sind. Es handelt sich um eine „umgestürzte Utopie“, wie sie bereits von Norbert Elias bezeichnet wurde. Auch sie ein Modus, das „Ende der Geschichte“ zu verwirklichen – ein „Ende“ freilich, welches, wie wir wissen, selbst auch sein Ende finden wird: seine Auflösung. Was aber heute unser Interesse weckt, ist die Frage, wie dieser Prozess der westlichen Kultur unter den Bedingungen der Globalisierung im Ver1  Vgl.

Maffesoli (2000).

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hältnis zu den anderen Kulturen charakterisiert werden kann. Handelt es sich um eine Krise oder um eine Dekadenz des Westens? Im zweiten Fall erfüllte sich nur das unvermeidliche Schicksal, dem alle großen Kulturen erliegen. Der Unterschied ist nicht von geringer Bedeutung. Krisen beinhalten Auswege, Dekadenz dagegen ist in der Regel ein Weg ohne Umkehr. Um die Befindlichkeit unserer Kultur zu erläutern und möglichst zu verstehen, sollten wir in der Lage sein, bedeutsame Phänomene jenseits der vorherrschenden Kultur der Gegenwart zu erfassen. Doch wir sind selbst so sehr mit dieser Kultur verwachsen, dass es uns bereits schwerfällt, historische Prozesse von langer Dauer zu denken. Es sei nur daran erinnert, wie beispielsweise die zeitgenössische Soziologie und Politologie nur über das Alltägliche und die Tagespolitik nachdenken, wie sie vom Tag leben und nur das Gegenwärtige aufspüren. Mit dieser Gegenwartsdominanz hängt offensichtlich die weitgreifende Fragmentierung der Fächer und Themen an unseren Universitäten zusammen, ohne dass eine Möglichkeit bestünde, sie miteinander zu verknüpfen. Ich glaube, dass diese Fächer keine Zukunft haben, wenn sie sich nicht wieder – wie es Tradition westlichen Denkens ist – der Deutung der großen Wandlungsprozesse widmen, von denen unsere Geschichte durchzogen ist. Statt im Käfig der Gegenwart eingeschlossen zu bleiben, sollten sie eher an die Klassiker anknüpfen, um diese Kultur, ihre Entstehungsgeschichte und ihre charakteristischen Züge zu erläutern. Eine der Denkströmungen, die nach meinem Urteil fähig ist, die so umschriebene kulturelle Wirklichkeit zu erklären, ist die Analyse des Kapitalismus und seiner Umwandlungen – eine Analyse, die sich seit zweihundert Jahren über die Klassiker der Ideengeschichte entwickelt hat. Sie ist umso dringlicher, als es sich heute um eine neue Form des Kapitalismus handelt, die flüssiger ist, dynamischer und abstrakter. Es ist der Finanzkapitalismus, der den industriellen Kapitalismus überlagert und deshalb wie ein Spiel innerhalb einer virtuellen Realität erscheint. Dieser auf der Anonymität des elektronischen Geldes beruhende Kapitalismus kennt keine Grenzen und ist imstande, sich jederzeit dort zu materialisieren, wo er die höchsten Gewinne erzielen kann. Deswegen hat dieser dergestalt „volatile“ Kapitalismus jenen „Geist“ und jene „Seele“ verloren, die ihm von den Klassikern zugeschrieben wurden, die sich noch auf den Industriekapitalismus bezogen. Wir haben es mit einem „extremen Kapitalismus“, wie sich Alain Touraine ausdrückt, zu tun, der in seinem Totalitarismus versucht, sich von den Grenzen der Moral und der Politik zu befreien. Mit diesem Kapitalismus, mit dieser Ökonomie des Geldes nähert sich unsere Kultur, wie Simmel notiert hat, dem Ideal der absoluten Objektivität.2 2  Vgl.

Simmel (1992).



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Es sind somit insbesondere diese Ökonomie und diese Kultur, die bevorzugter Gegenstand kultursoziologischer Analyse werden sollten. Diese Analyse hat eine große Tradition im westlichen Denken, von Marx bis Schumpeter, sei es auf sozialistisch wie liberal inspirierter Seite. Es sei an Max Webers Wort vom Kapitalismus als der entscheidenden modernen Lebensmacht erinnert; es sei an Schumpeter erinnert, der immer wieder betont hat, der Kapitalismus könne nur als ein ununterbrochener Wandlungsprozess betrachtet werden, der fähig ist, alle seine Krisen zu überwinden. Die Feststellung, seit den siebziger Jahren habe sich der Kapitalismus von Grund auf in einen Finanzkapitalismus umgewandelt, wirft nun die Frage auf, welche einschneidenden Folgen diese Wandlung im ökonomischen, sozialen und politischen Leben nach sich gezogen hat.3 Die Veränderung des Kapitalismus hat aufs Neue und zutiefst die westliche Kultur beeinflusst. Wie und mit welchen Folgen – welche Zukunft hat die westliche Kultur? Das ist, meiner Meinung nach, ein großes Thema für die Kultursoziologie. Um nur einige Züge dieser Änderung zusammenzufassen, möchte ich Folgendes hervorheben: • Um sich weiter entwickeln zu können, benötigte der Kapitalismus einen immer größeren Raum für den freien Markt. Er musste sich deshalb von jeder Lokalisierung und von den Grenzen von Moral, Kulturen und Staaten befreien. Der heutige Zustand entgrenzter, durch das elektronische Netz beherrschbarer Räume entspricht dieser Entwicklung vollkommen. Der Kapitalismus benötigte aber gleichzeitig einer Reduktion der Zeit auf die Gegenwart4 d. h. eben eine Kultur der Gegenwart, die in sich selber, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft, wachsen kann.5 Er benötigte somit in der Tat die bereits angedeutete Elias’sche „umgestürzte Utopie“, jedoch nicht nur in einem zeitlichen, sondern auch anthropologischen Sinn. Hier besteht die Utopie in einer Verzauberung der Gegenwart durch Kuriositäten, Ungewöhnlichkeiten, Stimulationen mit dem Zweck, die Massen anzuziehen, sie zu zerstreuen und den Konsum zu steigern. Durch die Sozialisierung und die Theatralisierung der Emotionen wird die Kultur ein Artefakt. Es gehört jedoch zum Wesen der Kultur, dass sie entsteht, wenn wir aus innerem Bedürfnis etwas suchen, und wenn daraufhin dieses Bedürfnis im Leben der Gruppe generalisiert und institutionalisiert wird; sie bildet sich ferner, wenn auf der Grundlage jenes Bedürfnisses sich individuelle Kreativität entwickelt – und nicht, wenn wir schlicht auf die Stimulationen durch den Markt reagieren. dazu: Mongardini (2007). italienischen Original heißt es: „Puntualizzazione del tempo“. 5  Vgl. Luhmann (1976). 3  s.

4  Im

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Innerhalb der Kultur der Gegenwart durchläuft der Mensch eine anthropologische Wandlung. Er wird Nomade,6 wird Abenteurer, nicht nur im physischen, sondern auch im sozialen, moralischen und symbolischen Raum: in der Ökonomie ebenso wie in den moralischen Gefühlen. So wird zum Beispiel das Recht biegsam und die Moral situationistisch. Der Abenteurer, schreibt Simmel, ist „auch das stärkste Beispiel des unhistorischen Menschen, des Gegenwartswesens. Er ist einerseits durch keine Vergangenheit bestimmt  …, andererseits besteht die Zukunft für ihn nicht“. Bei ihm, so zeigt Simmel am Beispiel Casanovas, verschlingt „der Rausch des Augenblicks … die Zukunftsperspektive gleichsam mit Haut und Haaren“.7 Allgemein bedeute „die Form des Abenteuers …: daß es aus dem Zusammenhange des Lebens herausfällt“.8 Also auch etwas, das typisch als Spiel erscheint und auch charakteristisch ist für die Ökonomie des Geldes und den Finanzkapitalismus. • Um weiter zu wachsen, benötigte der Kapitalismus ferner die Verbreitung, Uniformität und Passivität der Massenphänomene. Markt und Masse sind eng miteinander verbunden und können nur gemeinsam wachsen. So wurde im letzten Jahrhundert das Regime der Bürger allmählich durch ein Regime der Massen ersetzt, das im Vergleich zum beendeten Regime eine andere Moral und eine andere Politik bevorzugt. Die Masse besitzt keine andere als die utilitaristische Moral, bemerkt Georges Bataille. Selbst in Bezug auf die Werte, denen allgemeinste Anerkennung zukommt, stelle sie bis zuletzt die Frage „Wozu dient er?“ Diese Moral ersetze die bürgerliche Moral, die wertorientiert sei und die Basis der sozialen Gruppen bilde; doch hätten heute die Gruppen wenig Festigkeit, Zusammenhalt und Dauer. Größeres Gewicht komme eben der Masse mit ihrer Moral des Konsums und der Akkumulation zu9 – eine Tatsache, die den Sinn des Industriekapitalismus verändere. Darum auch die Verbreitung von Spekulation und Bestechung, die nun nicht mehr der Pathologie, sondern der Physiologie des gesellschaftlichen Lebens zugerechnet werden müssten. Wir können also von einer ökonomizistischen Massenideologie sprechen. Sie überträgt die Alltagswirklichkeit in Zahlen und Daten und rückt den individuellen Egoismus in den Vordergrund. Sie folgt dem Wahnbild einer Gesellschaft, die sich ohne Krisen entfaltet, eines dem Markt entspringenden Wohlstands und Glücks – eines Prozesses, von dem man glaubt, er führe zur Schaffung der „einen Welt“. Melucci (1989). (1996), S.  171. 8  Ebd., S.  168. 9  s. z. B. über dieses Thema Bataille (1976). 6  Vgl.

7  Simmel



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• Aber die Massen müssen auch immer wieder erneuert und weiter stimuliert werden. Und deshalb hat die Kultur der Gegenwart sich auch die Revolution anverwandelt, indem sie immer neue Emotionen für die Massen hervorbringt. Es ist eine Revolution, die in hohem Maße mittels Technologie und Kommunikation die Scheinwelten des Alltags einbezieht.10 Mit Recht schreiben deshalb Boltanski und Chiapello, der neue Kapitalismus bediene sich einer revolutionären, „befreienden“ und in Waren erscheinenden Philosophie.11 In diesem Gedanken taucht freilich, in neuer Version, eine Idee Walter Benjamins wieder auf: Die Bewegung der Massen hätte dazu gedient, die materiellen Beziehungen des Kapitalismus zu maskieren. Der Kapitalismus, notiert Benjamin, ist ein naturhaftes Phänomen gewesen, mit dem Europa in einen neuen Schlaf versetzt und durch neue Träume umgarnt wurde, womit mythische Kräfte aufs Neue ins Leben gerufen wurden.12 Mit der anverwandelnden Introjektion des Phänomens Revolution ergab sich keine marxistische, sondern eine kapitalistische Revolution – eine Revolution, die sich auch in der Politik widerspiegelt. Die hierarchische, wertorientierte bürgerliche Politik mit ihren anhaltenden ideologischen Auseinandersetzungen zwischen Regierenden und Regierten über die idealen Werte, die in der Gesellschaft repräsentiert werden sollten, existiert beinahe nicht mehr, ebenso wie die politische Gesellschaft, die sich durch die repräsentative Demokratie gebildet hatte. Die Demokratie ist fast zur Leerformel geworden. Die neue Politik hat Legalität und Legitimität, Macht und Autorität, Stimme und Konsensus voneinander getrennt. Wie wir sehen werden, kann eine Politik, die sich ausschließlich in einer Kultur der Gegenwart bewegt, nur eine Politik der Kontingenz und der Notwendigkeit sein und deswegen kann sie nur zwischen den Illusionen des Populismus und der kalten Logik der Ökonomie pendeln. Die Globalisierung hat den Sinnhorizont erweitert und Situationen von Entscheidungsnotwendigkeit vermehrt, die nicht genügend Zeit für eine demokratische, reflexive Wahl frei lassen. Eine Kultur der Gegenwart verstärkt die Konflikte, die sie in sich selbst trägt und die sie auf ihre eindimensionale Zeitstruktur beschränkt. Sie kennen nicht mehr die Milderung einer Zeit, die sich zwischen Vergangenheit und Zukunft entfaltet. Diese Konflikte laufen meistens ab zwischen der kalten Logik der kalkulierenden Vernunft, die die absolute Herrschaft einer unhistorischen Vernunft etabliert und die Gegenwart verewigen wird, auf der einen Seite und den Lebensimpulsen, die keine starre Einengung ertragen, auf der anderen. Diese Konflikte sind sowohl im kollektiven wie im das Thema des Scheines vgl. Maffesoli (1990). Boltanski / Chiapello (1999). 12  Frisby (1985), S.  293. 10  Über 11  Vgl.

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individuellen Leben bemerkbar. So kann man vielleicht sagen, dass man nicht mehr vom Individuum sprechen kann, sondern von einem Subjekt, das immer zwischen egoistischen Tendenzen und irrationalen Emotionen geteilt ist. Das instabile Gleichgewicht des Individuums geht in der Kultur der Gegenwart verloren. Das Individuum erscheint so als ein Konstrukt des Bürgertums, welches zusammen mit diesem in Verfall gerät. Die Kultur der Gegenwart zeigt somit einen Prozess von ImplosionExplosion: Sie bringt einen totalitären Konstruktivismus hervor, der die Geschichte umfassen und fixieren will, und zugleich eine gewaltige Explosion des Leben, das keine Grenzen der Moral, der Kultur oder der Politik mehr kennt. Und das entbehrt nicht der Logik: in einer Welt, die der Pluralität ihrer Ziele und der Besonderheiten der einzelnen Kulturen beraubt ist, kann nur mehr das Leben selbst Ziel des Lebens sein. „So strebt“, schreibt Simmel, „der Begriff des Lebens … zu der zentralen Stelle auf, in der Wirklichkeit und Werte – metaphysische wie psychologische, sittliche wie künstlerische – ihren Ausgangspunkt und ihren Treffpunkt haben“.13 Auch die letzte Gestalt der Kultur als Kultur der Gegenwart kann, übernimmt man Simmels Gesichtspunkt, mit seinen eigenen Worten gedeutet werden: als „Zeichen oder vielmehr … Erfolg der unendlichen Fruchtbarkeit des Lebens, aber auch des tiefen Widerspruchs, in dem sein ewiges Werden und Sich-Wandeln gegen die objektive Gültigkeit und Selbstbehauptung seiner Darbietungen und Formen steht, mit denen und in denen es lebt“.14 Der Lebensdurst findet also sein Ziel einzig und allein in sich selbst. Er drückt sich in Gewalttätigkeit und Primitivität aus und zerstört die Formen, die das Leben selbst zwangsläufig hervorbringt. Die Erfahrung des Sozialen fällt auseinander in Autoritarismus und Anarchie, die sich gegenseitig verfolgen und rechfertigen. Im Strudel solcher Phänomene bewegt sich die Gesellschaft fort. Was sie noch zusammenhalten kann, sind Kontingenz, Notwendigkeit, Angst – und dies erzeugt eine anhaltende Krise der sozialen Bindung. Die Radikalisierung der Gegenwart führt deshalb dazu, dass wir weithin und dauerhaft unter den Bedingungen von Kontingenz leben. Deshalb ist Kontingenz im sozialen und politischen Leben nicht mehr eine marginale Erscheinung, sondern ein zentrales Element unserer zeitgenössischen Erfahrung des Sozialen und der Kultur. Sie vermehrt Zustände der Notwendigkeit, der Ausnahme, des Notfalls. Damit entspricht die Kategorie des politischen Konsensus nicht mehr einer demokratischen Wahl zwischen verschiedenen Optionen, sondern einem Zustand von Angst und Unsicherheit. 13  s.

Simmel (1999), S.  188. S.  184.

14  Ebd.,



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Die Politik ist heute die Verwaltung der Gegenwart in einem Klima von Kontingenz und oszilliert zwischen der Führung der Wirtschaft im Einvernehmen mit den sozialen Mächten und der Kontrolle der Massen durch Ängste und Populismus. Dazu benötigt man (und der neue Kapitalismus will genau dies) eine starke Regierung und einen schwachen Staat. Wenn aber der Staat schwächer wird, so bedeutet dies das Ende der Demokratie und das Entstehen von sozialen Mächten, die auf wirtschaftlicher Ebene eine feudalistische Gesellschaft wiedererstehen lassen, einen funktionalen Feudalismus, wie er schon von Gaetano Mosca und Vilfredo Pareto wie auch später von Harold Laski vorausgesagt wurde.15 Zum Schluss haben wir noch unsere Frage zu beantworten. Handelt es sich um eine Durchgangskrise oder um eine Dekadenz unserer Kultur? Eine Kultur der Gegenwart zeigt eher die Merkmale der Dekadenz, aus der wir den Ausgang nicht finden werden, solange die Politik im „Land der Verzauberung“ (Burdeau) verharrt16 und solange vor allem die Intellektuellen nicht aufhören, der Gegenwart hinterherzulaufen. Solange wir in dem Zustand der Gegenwartskultur im erläuterten Sinne und des ihr affinen Ökonomizismus bleiben werden, wird der Westen nicht aus der Dekadenz herauskommen. Eine Kultur benötigt Konfrontation und Dynamik der Werte, sie erfordert Ideologien im Sinne Max Webers, nämlich intellektuelle – über den Umgang mit Ideen verlaufende – Rationalisierung des sozialen und politischen Willens.17 Die ideologische Abflachung zum Ökonomizismus bedeutet Dekadenz und Totalitarismus: sie bedeutet am Ende den Untergang der westlichen Kultur. Literatur Bataille, Georges: La limite de l’utile, in: ders.: Œuvres complètes, Band VII, Paris: Gallimard 1976, S.  181–280. Boltanski, Luc / Chiapello, Eve: Le nouvel esprit du capitalisme, Paris: Gallimard 1999. Burdeau, Georges: La politique au pays des merveilles, Paris: Puf 1979. Freund, Julien: L’idéologie chez Max Weber, in: Revue européenne des sciences sociales 11, Heft 30, 1973, S.  5–19. Frisby, David: Fragments of modernity. Theories of Modernity in the work of Simmel, Kracauer and Benjamin, Cambridge: Polity Press 1985. Laski, Harold J.: Democracy in crisis, London / New York: Routledge 1997. 15  Laski

(1997). Burdeau (1979). 17  Vgl. Freund (1973). 16  s.

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Luhmann, Niklas: The future cannot begin: temporal structures in modern society, in: Social Research 43, Heft 1, 1976, S.  130–151. Maffesoli, Michel: Au creux des apparences. Pour une étique de l’esthétique, Paris: Plon 1990. – L’instant éternel. Le retour du tragique dans les sociétés postmodernes, Paris: Denoël 2000. Melucci, Alberto: Nomades of the Present, London / Philadelphia: Temple Univ. Press 1989. Mongardini, Carlo: Capitalismo e politica nell’era della globalizzazione, Milano: F. Angeli 2007. Simmel, Georg: Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?, in: ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Georg Simmel Gesamtausgabe Bd. 11, Frankfurt a. M. 1992, S.  42–62. – Das Abenteuer, in: ders.: Philosophische Kultur, Georg Simmel Gesamtausgabe Bd. 14, Frankfurt a. M. 1996, S.  168–185. – Der Konflikt der modernen Kultur. Ein Vortrag, in: ders.: Gesamtausgabe Bd. 16, Frankfurt a. M. 1999, S.  181–207.

Individualismus, Ehe und romantische Liebe Überlegungen vor allem im Blick auf Georg Simmel Von Hartmann Tyrell I. Vorbemerkung Spätestens seit Alexis de Tocqueville ist der Begriff des Individualismus einer der prominenten Begriffe, mit denen sich die moderne Gesellschaft selbst beschreibt und gegen ältere Sozialverhältnisse unterscheidet.1 Was die Resonanz des Begriffs und den teilweise emphatischen Begriffsgebrauch angeht, so sei hier nur auf die klassische europäische Soziologie um 1900 verwiesen; deren drei Heroen – Émile Durkheim, Georg Simmel und Max Weber – waren, wenn auch mit unterschiedlicher Akzentuierung, bekennende Individualisten.2 In Deutschland wird der Begriff zu dieser Zeit allerdings weniger mit Tocqueville als mit Jacob Burckhardt in Verbindung gebracht, mit dessen Kultur der Renaissance in Italien. In diesem Sinne läßt Simmel den Individualismus der modernen Zeit in Florenz beginnen, mit einem „Individualismus der Auszeichnung, zusammenhängend mit dem Ehrgeiz des Renaissancemenschen, seinem rücksichtslosen Sichdurchsetzen, seiner Wertbetonung des Einzigseins“. Dieser ist ihm allerdings nur das Vorspiel für die Darstellung jener „beiden Formen des Individualismus“, deren Gegensatz ihn spätestens seit 1901 immer neu beschäftigt hat, der Gegensatz 1  Verwiesen sei dafür nur auf Rauscher (1976), Sp. 289 ff., Koebner (1934), insbes. S.  262 ff., Lukes (1973), S.  12 ff., auch Luhmann (1989), S.  216 ff. 2  Vgl., was Durkheim angeht, nur: L’individualisme et les intellectuels, 1898 (Durkheim 1986), auch etwa Kippenberg (1996), König (2002), S.  51 ff., 57 ff. Von Simmels Individualismen wird im weiteren noch ausgiebig die Rede sein. Für Max Weber sei hier nur auf jene Bemerkungen in der Protestantischen Ethik (1920, S.  95 f.) verwiesen, in denen von den „Wurzeln jenes illusionslosen und pessimistisch gefärbten Individualismus“ die Rede ist, „wie er in dem ‚Volkscharakter‘ und den Institutionen der Völker mit puritanischer Vergangenheit sich noch heute auswirkt“. In der zugehörigen Anmerkung heißt es: „Der Ausdruck ‚Individualismus‘ umfaßt das denkbar Heterogenste.“ Es folgen Illustrationen dafür und zugleich die Forderung nach einer „gründliche(n), historisch orientierte(n) Begriffsanalyse“. Am Ende der Anmerkung findet sich der Hinweis auf „Jacob Burckhardts geniale Formulierungen“, den Koebner (1934), S.  253 ff., 285 ff., dann ausdrücklich aufgenommen und weiter ausgeführt hat.

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eines auf die Gleichheit setzenden Individualismus der Freiheit, wie ihn die Aufklärung artikuliert, und eines der Romantik zugehörigen Individualismus der Differenz und der Singularität.3 Von diesem Gegensatz wird im folgenden wiederholt die Rede sein. Von beträchtlicher Prominenz ist für die ­Soziologie im weiteren Talcott Parsons’ bekannte, an Durkheim, an den ‚Kult des Individuums‘ anschließende Formel vom „institutionalisierten Individualismus“.4 Mit diesem ist ein zentrales und vielschichtiges Strukturmoment moderner Sozialverhältnisse bezeichnet. Auffällig ist zudem, daß in diesem Zusammenhang, wie ich hier nur andeuten kann, immer wieder die Religion im Spiel ist, wenn auch auf unterschiedliche Art.  Das findet sich nachdrücklich im Anschluß vor allem an Ernst Troeltsch5 bei Parsons. Dieser sah im historischen Hinter- oder Untergrund der individualistischen Moderne den dem Christentum eigenen Individualismus: „the implicit individualism of all Christianity“.6 In diesem Sinne hat sich schon 1898 auch Durkheim geäußert: der modernen „Reli­ gion des Individuums“ und der Menschenrechte gegenüber komme dem auf den ‚inneren Glauben‘ des einzelnen setzenden Christentum eine unbestreitbare Vorläuferrolle zu.7 Stärker noch als bei Durkheim findet man diesen Akzent bei Simmel gesetzt, wenn er sagt, daß es „unverkennlich“ sei, „eine wie starke Individualisierungstendenz sich mit dem Christentum Bahn bricht.“ Gemeint ist damit nicht ein Individualismus im Sinne der „qualitativen Unterschiedenheit zwischen Mensch und Mensch“, sondern einer der „Verantwortlichkeit des Menschen für sich selbst, die er auf nichts abschieben und die ihm niemand abnehmen kann“.8 Es ist dies ein Gedanke ganz in der Nähe des berühmten Simmelschen Aufsatzes vom Heil der Seele, den 3  Vgl. nur Simmel (2004), S. 249 ff., auch (1995a), S. 49 ff. („Die beiden Formen des Individualismus“, zuerst 1901). 4  Vgl. Parsons (1960), S.  146 ff., auch Brandt (1993), S.  158 f. 5  Vgl. nur Troeltsch (1912), S.  39 ff., mit seiner Charakterisierung der „sozio­ logische(n) Struktur“ des ‚ethischen Grundgedankens Jesu‘: „absoluter Individualismus“, aus dem „absoluter Universalismus“ folgt. 6  Ich verweise nur auf Parsons (1972), S. 43 ff., 65 ff. (hier bezogen auf die Reformation); Parsons setzt auch hier neben Weber auf Ernst Troeltsch. Vgl. im übrigen die vorzüglich zusammenfassende Studie von Brandt (1993), S. 153 ff., 309 ff. 7  So heißt es bei Durkheim (1986), S. 64: „Das Zentrum des moralischen Lebens selbst ist so von außen nach innen verlegt und das Individuum zum souveränen Richter seines eigenen Verhaltens erhoben worden, ohne anderen außer sich selbst und seinem Gott Rechenschaft ablegen zu müssen.“ 8  Vgl. Simmel (1999), S.  331 f. Und weiter: „In der absoluten Selbstverantwortlichkeit der Seele, wie sie nackt vor ihrem Gott steht, und zwar zu jeder Stunde des Lebens, sehe ich den tiefsten metaethischen Kern des Christentums.“ Was Simmel hier und im unmittelbar folgenden schreibt, ist nicht ohne Berührung mit jener tiefen „inneren Vereinsamung des einzelnen Individuums“ (vor Gott), wie sie Weber



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Arnold Zingerle jüngst eindringlich gewürdigt hat.9 Bei Max Weber wiederum findet man den (modernen) Individualismus in einer stärker historisierten, ja periodisierten Gestalt; er kann im Blick auf die angelsächsischen protestantischen Sekten vom „Individualismus in der Zeit seiner heroischen Jugend“ sprechen.10 In einer ebenfalls stark historisierenden Tönung stößt man im übrigen noch in den 1960er Jahren auf die Rede von einem „abendländischen Individualismus“; Niklas Luhmann sieht ihn als „aus dem mittelalterlichen Dualismus von Staat und Kirche hervorgetrieben“ an; er sei „nur möglich geworden, weil auch die Religion nun die Züge eines exklusiven Systems annimmt.“11 Ich belasse es bei diesen Andeutungen. Der hier vorgelegte Beitrag verfolgt durchaus semantische Absichten; ihn interessiert die Begriffs- und (kommunikative) Erfolgsgeschichte ‚des Individualismus‘, die Vieldeutigkeit des Begriffs und die Sinnverschiebungen im Sprachgebrauch; nicht minder ist es sein Anliegen, einiges von der Vielfalt der Individualismen (etwa durch adjektivische Anreicherung wie im Falle des ‚affektiven Individualismus‘) zu registrieren, ebenso den Wechsel der Gegenbegriffe, die im Spiel sind. Eben das aber führt auf die entscheidende Einschränkung, was Wortfeld und Sprachgebrauch des Individualismus angeht. Das individualistische Vokabular interessiert hier nur, soweit es in einem historisch-soziologischen Sinne der Beschreibung und Charakterisierung spezifisch moderner bzw. tendenziell moderner Sozialverhältnisse dient. Das heißt vor allem: hier bleibt jener (wert- oder unwertbesetzte) ideologisierte Sprachgebrauch außer Betracht, der ‚den Individualismus‘ immer mit der Gegenbegrifflichkeit ‚des Kollektivismus‘ (oder ‚Holismus‘ usw.) paart, beide alternativ veranschlagt und zu ‚weltanschaulicher‘ Parteinahme drängt. Dabei ist es dann unerheblich, ob die Sache des Individuums liberal befürwortet wird oder ob sie in konservativem Geiste als sozial zerstörerisch verabscheut, etwa für die „große Krankheit unserer Zeit“ erklärt wird; es war bekanntlich eine solche Parteinahme gegen den Individualismus, auf die Durkheim während der Dreyfus-Affäre reagierte.12 Überdies (1920), S.  93 ff., (im calvinistischen Kontext) als seelische Konsequenz der Prädestinationslehre beschreibt und ‚Individualismus‘ nennt. 9  Vgl. Zingerle (2010), auch (1997). 10  Im Blick auf die Sekten, insbesondere „die Quäker-Ethik“, heißt es daraufhin bei Weber (1906), Sp. 579: „Die Autonomie des Individuums erhielt so einen nicht im Indifferentismus, sondern in religiösen Positionen ruhenden Ankergrund, und der Kampf gegen alle Arten ‚autoritärer‘ Willkür wuchs zur Höhe einer religiösen Pflicht empor.“ Weber kommt es aber zugleich auf die damit einhergehende „gemeinschaftsbildende Macht“ an. 11  Vgl. nur Luhmann (1965), S.  48 f. 12  Vgl. zu den konservativen Feindseligkeiten gegen den Individualismus („l’odieux individualisme“) im französischen 19. Jahrhundert nur Lukes (1973), S. 3 ff. Ich lasse

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muß hinzugefügt werden: den begriffsgeschichtlichen Interessen geht der Beitrag nicht vorrangig und schon gar nicht systematisch nach; er nimmt sie, wenn man so sagen darf, mit, wo es aufschlußreich scheint. Das primäre Anliegen des weiteren ist es stattdessen, ‚den Individualismus‘ als Kategorie zu reaktivieren und soziologisch zum Klingen zu bringen: als durchaus mehrdeutigen Kompaktbegriff (im Singular), der zur Beschreibung und Bestimmung wesentlicher Strukturen der modernen Gesellschaft nahezu unvermeidlich, in jedem Fall aber hochgradig dienlich ist.13 Es gilt also, des Näheren aufzuweisen, daß und wie der Individualismus den modernen Sozialverhältnissen inhärent ist und in ihnen zum Tragen kommt. Gezeigt werden soll das nicht am angesprochenen Beispiel der Religion und auch nicht am Fall jener gesellschaftlichen Sphäre, der man den Individualismus am nachhaltigsten zugesprochen hat: der ökonomischen, den Marktverhältnissen. Was diese angeht, sei an dieser Stelle nur auf Simmels Philosophie des Geldes hingewiesen; das vierte Kapitel des Buches trägt den Titel: „Die individuelle Freiheit“.14 Hier soll es vielmehr um ein anderes Feld ‚privater‘ Sozialbeziehungen gehen, das individualistisch imprägniert ist und auf dem der Individualismus sich Bahn gebrochen hat: um das Feld von romantischer Liebe und Ehe. Auch diesen kommt, wiewohl privat und intim, in der modernen Gesellschaft institutionelle Geltung zu; es darf auch hier von ‚institutionalisiertem Individualismus‘ die Rede sein. Ich füge hinzu: die Nähe, ja Zusammengehörigkeit von Intimität und Individualismus zu betonen, ist durchaus nicht originell; diese war – man denke nur an Schleiermacher – um 1800 klar vor Augen. Ihre wohl eindringlichste Artikulation und analytische Durchdringung aber hat (auch) dieser Zusammenhang bei Georg Simmel erfahren, und deshalb steht die Simmelsche Sicht der Dinge im Vordergrund der folgenden Darlegungen (zumal im vierten Abschnitt). Damit ist deutlich, daß der historische Bogen, den es zu schlagen gilt, vom späten 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart reicht. Der weitere Gedankengang orientiert sich auch in soziologisch-systematischer Hinsicht an Simmel; er schließt über weite Strecken an dessen Differenhier, vom fünften Abschnitt abgesehen, gerade die konservative Seite der Begriffsgeschichte beiseite; in diesem Diskurs steht der Individualismus gegen das ‚soziale Band‘ oder ‚die Institutionen‘, und der Akzent liegt auf der ‚individualistischen‘ Auflösung und Zerstörung der sozialen Bande; vgl. auch Tyrell (1993), S. 129 ff. Zu Durkheim im Kontext der Dreyfus-Affäre nur Gilcher-Holtey (1997). Auch das programmatische Gegensatzpaar von Individualismus und Kollektivismus im soziologisch-sozialtheoretischen Sinne, die bekannte Entgegensetzung also der „zwei Soziologien“ bleibt hier ganz außer Betracht; vgl. nur Vanberg (1975). 13  Die schon bei Max Weber angesprochene Vieldeutigkeit des Begriffs muß dem nicht entgegenstehen; es gilt, sie genauer auszuleuchten. 14  Simmel (1989), S.  375 ff.



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zierungstheorie an. Für diese ist, wie ich an anderer Stelle näher ausgeführt habe, charakteristisch, daß sie die Prozesse sozialer Differenzierung nicht für sich, sondern korrelativ behandelt, sie eben allenthalben in den Zusammenhang mit anderen tragenden ‚Modernisierungsprozessen‘ bringt. Die Prozesse, um die es dabei geht und die auch untereinander ‚korrelieren‘, sind u. a. das gesellschaftliche Größenwachstum (die „Ausdehnung der Gruppe“) und die Entwicklung der Geldwirtschaft; dazu gehören prominent aber auch Prozesse der ‚Individualisierung‘ oder der „Ausbildung der Individualität“.15 Auch Simmels Unterscheidung des Individualismus des 18. Jahrhunderts von dem des 19. Jahrhunderts hat Bezug auf Differenzierung. Es geht bei dieser Unterscheidung, wie angedeutet, um zwei ganz unterschiedlich sich artikulierende Individualismen, um „Individualität als Freiheit und als qualitative Besonderung“.16 Den letzteren, den ‚romantischen‘ „Individualismus des 19. Jahrhunderts“, den „der Einzigkeit“, der „seinen Philosophen in Schleiermacher gefunden“ und mit der romantischen Liebe unmittelbar zu tun hat, sieht Simmel als im unmittelbaren Zusammenhang mit sozialer Differenzierung stehend an: „Der große weltgeschichtliche Gedanke, daß nicht nur die Gleichheit der Menschen, sondern auch ihre Verschiedenheit eine sittliche Forderung sei, wird durch Schleiermacher zum Drehpunkt einer Weltanschauung: durch die Vorstellung, daß das Absolute nur in der Form des Individuellen lebe, daß die Individualität nicht eine Einschränkung des Unendlichen sei, sondern sein Ausdruck und Spiegel, wird das Sozialprinzip der Arbeitsteilung in den metaphysischen Grund der Dinge eingesenkt. Freilich hat die in die letzten Tiefen der individuellen Natur hinabreichende Differenzierung leicht einen mystisch-fatalistischen Zug (‚So mußt du sein, dir kannst nicht entfliehen. So sagten schon Sibyllen, so Propheten.‘).“17 Daß es nun im folgenden um eine Art Rehabilitierung des Individualismus zu gehen hat, hat damit zu tun, daß der Begriff speziell in Deutschland 15  Vgl. nur Simmel (1992a), S.  791 ff., das Kapitel 10 der großen Soziologie von 1908 („Die Erweiterung der Gruppe und die Ausbildung der Individualität“), in dem es um „eine bestimmte Korrelation und wechselseitig bestimmte Entwicklung von Formen der Vergesellschaftung“ geht, dies in einem wechselseitigen Steigerungssinne. Vgl. im übrigen Tyrell (1998), S.  135 ff., auch Junge (1997). 16  Vgl. Simmel (1992a), S. 869, 811 ff.: „Das 18. Jahrhundert erstrebte im Ganzen die Individualität in der Form der Freiheit, der Ungebundenheit der persönlichen Kräfte durch Bevormundungen irgendwelcher Art, ständische oder kirchliche, politische oder wirtschaftliche.“ Dabei geht es aber um eine Freiheit, die jedem Individuum unterschiedlos und gleich zukommen sollte. Simmels späte ‚kleine‘ Soziologie von 1917 (1999, S.  122 ff.) enthält die subtilste Ausarbeitung des Gegensatzpaares; dazu auch Schroer (2000), S. 311 ff. Man sieht hier überdies, daß an der klassischen Debatten um die Frage der Menschenrechte (König 2002) die Stimme Simmels nicht überhört werden sollte. 17  Simmel (1999), S.  145 f.

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spätestens seit den 1980er Jahren stark ins Hintertreffen geraten ist, weitgehend übertönt und verdrängt durch den aktualitätsfixiert-zeitdiagnostischen Prozeßbegriff der Individualisierung. Diesen Begriff hat Markus Schroer im Jahr 2000 „das Zauberwort unserer Tage“ genannt und sich von dem Zauber verführen lassen, ihn zugleich als Leitbegriff für eine durchaus kluge und breit angelegte Studie zu wählen, die die klassischen wie aktuellen Theoriebestände der Soziologie zur Befindlichkeit und zum Schicksal ‚des Individuums‘ in der Moderne durcharbeitet, sie miteinander vergleicht und systematisiert. Das Buch läßt sich hier an verschiedenen Stellen sinnvoll hinzuziehen; gleichwohl ist bemerkenswert, daß weder Schroer noch andere Autoren, die sich zur gleichen Zeit näher mit der Diskussionslage um 1900 auseinandergesetzt haben, hinsichtlich ihres Begriffsgebrauchs registrieren, daß sie den alten ‚Individualismus‘ durch die zeitgenössische ‚Individualisierung‘ ersetzt haben.18 Daß es bei diesem Monitum nicht um Spitzfindigkeit oder um eine Art Begriffsfetischismus geht, wird im dritten Abschnitt dieses Aufsatzes näher aufgewiesen. Es scheint mir im übrigen kein Zufall, daß der Individualismus Tocquevilles bei Schroer unregistriert bleibt. Eben diesem möchte ich mich im folgenden zweiten Abschnitt zuwenden, teils aus begriffsgeschichtlichem Interesse, vor allem aber, weil gerade dieser Individualismus den Blick stark auf die privaten und Nahbeziehungen des Individuums richtet und damit in den Ehe- und Familienkontext führt. II. Tocqueville: Individualismus und Familie Es ist der Zusammenhang von Individualismus und Privatsphäre, den man bei Tocqueville nachdrücklich an- und ausgesprochen findet, allerdings in einer uns heute fremd gewordenen Tonart und Akzentuierung. Zur Sprache gebracht ist das in eben jener Passage des zweiten Teils des Amerikabuches, die in Sachen ‚Individualismus‘ den locus classicus darstellt und die den Begriff im angelsächsischen Sprachraum kommunikabel gemacht und ihm darüber hinaus bleibende Resonanz verschafft hat.19 Ich möchte deshalb – ouvertüreartig – einen Blick auf die semantischen Anfänge ‚des Individualismus‘ werfen, und es gilt damit, jene Passage etwas genauer in den Blick zu nehmen, die vom „Individualismus in den demokratischen Ländern“ handelt und die den Leser mit dem Begriff auf folgende Art bekannt macht: „Der Individualismus ist ein noch junger Ausdruck, der aus einer neben Schroer (2000) nur Junge (1997). auch in dem Sinne, daß man den Tocquevilleschen Individualismus mit späteren Individualismuskonzeptionen zusammengebracht und verglichen hat; vgl. nur Kalberg (2000), der in diesem Sinne Max Weber und dessen Amerikabeschreibung ins Spiel bringt. Er spricht bei Weber von einem (asketisch-protestantischen) „Individualismus der Weltbeherrschung“, den er von Tocqueville deutlich abrückt. 18  Vgl.

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neuen Vorstellung hervorgegangen ist. Unsere Vorfahren kannten nur die Selbstsucht.“20 Wichtig ist zunächst: ‚der Individualismus‘ hat hier einen Gegenbegriff, der noch bei Durkheim nachwirkt: den (älteren Begriff) des Egoismus.21 Im Kontrast zu diesem wird der Individualismus expliziert. Diese Explikation stützt sich primär auf Beobachtungen über die Familie, über das Familienleben bei den „demokratischen Völkern“. Und man kann fast sagen: der Individualismusbegriff hat einen ‚familistischen‘ Akzent; er hat zunächst weniger das Individuum als seine Familie und deren privates Fürsichsein im Sinn. Tocquevilles Beobachtungen sind dabei gewonnen aus dem Kontrast zu den Familienverhältnissen bei „den aristokratischen Völkern“. Und was diesen Kontrast angeht, so ist der Individualismus in eine begriffliche Mittelstellung gebracht: von der sozialen Verhärtung des Egoismus wird er positiv abgehoben; andererseits aber bedeutet er „eine Entfremdung gegenüber der vertu publique, dem politischen Gemeinsinn“, wie sie dem aristokratischen Erbe zugehört.22 Der „Individualismus in den demokratischen Ländern“ ist, wie man sagen könnte, ein ‚Privatismus‘; ihm entspricht die Einstellung des einzelnen, „niemandem“ (auch ‚der Allgemeinheit‘ nicht) „etwas schuldig“ zu sein, und zugleich sind hier soziale Konditionen gegeben, die ‚falschem Bewußtsein‘ Vorschub leisten: Die Individuen, „bilden sich gern ein, ihr ganzes Schicksal liege in ihren Händen“. Auf lange Sicht hat in Tocquevilles Augen damit auch der Individualismus, indem er „den Quell der öffentlichen Tugenden“ austrocknen läßt, gesellschaftlich abträgliche Folgen.23 Was nun familienbezogen am Tocquevilleschen Individualismus auffällt, ist dreierlei: Es ist zunächst der Blick auf die ‚Totalpopulation‘ der Fami­ lien, nämlich auf das millionenfach privatisiert-segmentäre Nebeneinander der Familien – jede mit ihrem eigenen Familienleben befaßt, jede das eigede Tocqueville (1976), S.  585. Egoismus „ist eine leidenschaftliche und übersteigerte Liebe zu sich selber, die den Menschen dazu treibt, alles nur auf sich zu beziehen und sich selber vor allem den Vorzug zu geben“ (ebd.). Was Durkheim (1986), S.  55 f., angeht, so war es für den Individualismus, zu dem er sich 1898 im Kontext der Dreyfus-Affäre bekannte, nötig, „zu dem kleinlichen Utilitarismus und dem utilitaristischen Egoismus von Spencer und der Ökonomisten“ auf Distanz zu gehen. „Aber es gibt einen anderen Individualismus“, denjenigen „Kants und Rousseaus“, den, „der mehr oder weniger glücklich in der Erklärung der Menschenrechte formuliert worden ist (…) und der die Grundlage unseres moralischen Katechismus geworden ist.“ Vgl. weiterhin die Affinitäten von ‚Individualismus‘ und ‚egoistischem Selbstmord‘ im Selbstmordbuch (Durkheim 1973). 22  Vgl. Koebner (1934), S.  265. 23  de Tocqueville (1976), S.  584 f. 20  Vgl. 21  Der

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ne private Familienglück suchend. Beeindruckend sind sodann und vor allem Tocquevilles Beobachtungen zur Zeitlichkeit, nämlich zur Labilität der modernen Familienverhältnisse. Für diese gilt eben – von Generation zu Generation ‚familienzyklisch‘ sich wiederholend – ein Diskontinuitäts- und Neugründungsprinzip: Die Familien kommen, sie haben ihre Zeit und weichen anderen. Das moderne Individuum ist in Tocquevilles (aristokratischen) Augen als soziales Wesen abgeschnitten von seinen Vor- und Nachfahren, es ist nicht mehr Glied in einer Kette von (im Nacheinander) zusammengehörigen Generationen, sondern ist, was seine sozialen Bande angeht, nur den ‚zeitgenössisch‘ ihm Nächststehenden und Angehörigen verpflichtet. Drittens aber fällt auf, was bei Tocqueville nicht zur Sprache kommt. Zwar ist ihm die Intimisierung der (mit Durkheim gesprochen) ‚kontrahierten‘ Familienverhältnisse durchaus vor Augen. Aber er löst die Einheit der Familie nicht weiter auf; weder die Emotionalisierung des Eltern-, zumal des Mutter-Kind-Verhältnisses, noch die romantische und Gattenliebe24 kommen – als historisch neuartig – in den Blick. Gerade auf das familiale Neugründungsprinzip hin aber kommt ja der romantischen Liebe, was das wer-mitwem angeht, maßgebliche Bedeutung zu. Von dem eigentümlichen Individualismus, der daran (schon im Sinne der ‚freien Gattenwahl‘) impliziert ist, soll im folgenden noch ausgiebig die Rede sein. Ich lasse Tocqueville nun bewußt etwas ausgiebiger zu Wort kommen:25 Der Individualismus ist ein überlegendes und friedfertiges Gefühl, das jeden Bürger drängt, sich von der Masse der Mitmenschen fernzuhalten und sich mit seiner Familie und seinen Freunden abzusondern; nachdem er sich eine kleine Gemeinschaft für seinen Bedarf geschaffen hat, überläßt er die große Gesellschaft gern sich selbst. (…) Der Individualismus ist demokratischen Ursprungs, und er droht sich in dem Grade zu entfalten, wie die gesellschaftliche Einebnung zunimmt. In den aristokratischen Völkern bleiben die Familien während Jahrhunderten im gleichen Stande und oft am gleichen Orte. Das verleiht allen Generationen eine Art von Gleichzeitigkeit. Ein Mensch kennt fast alle seine Ahnen, und er achtet sie; er glaubt schon seine Urenkel zu erspähen, und er liebt sie. Willig nimmt er Pflichten gegenüber den einen wie den andern auf sich, und häufig widerfährt es ihm, daß er persönliche Freuden den Wesen opfert, die nicht mehr oder noch nicht da sind. (…) In den demokratischen Völkern entstehen unaufhörlich neue Familien aus dem Nichts, andere fallen fortwährend dahin zurück, und die, welche überdauern, wan24  Was diese beiden differenten Sozialbeziehungen angeht, die in ‚der Familie‘ zu einer durchaus synthetischen (und eben nicht: ‚nuklearen‘) Einheit zusammenfinden, so verweise ich hinsichtlich ihrer soziologischen Charakteristik nur auf zwei eigene Beiträge: Tyrell (1981, 1987). 25  de Tocqueville (1976), S.  584 ff.



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deln sich alle; das Gewebe der Zeiten wird fortwährend zerrissen, und die Spur der Geschlechter verwischt sich. Leicht vergißt man die, die uns vorausgingen, und von denen, die uns folgen werden, hat man keine Vorstellung. Man kümmert sich allein um die Nächststehenden. (…) So läßt die Demokratie jeden nicht nur seine Ahnen vergessen, sie verbirgt ihm auch seine Nachkommen und trennt ihn von seinen Zeitgenossen; sie führt ihn ständig auf sich allein zurück und droht ihn schließlich ganz und gar in der Einsamkeit seines eigenen Herzens einzuschließen.

Der abschließende Satz, der unverkennbar in die Richtung von Durkheims Selbstmordbuch deutet, läßt dann auch die Familienbande durchschnitten erscheinen.26 Ich lasse das im übrigen so gesagt sein und halte nur noch fest: der Toquevillesche Individualismus ist als solcher in den USA nach wie vor im Gespräch, und er spielt für die Selbstbeobachtung der amerikanischen Gesellschaft – des privaten (zumal familialen) wie des öffentlichen Lebens – eine bedeutsame Rolle, so unter ‚kommunitaristischen‘ Vorzeichen. Man denke nur an Robert Bellah und seine Mitarbeiter, an Habits of the Heart: Individualism and Commitment in American Life, ein Buch, das noch im Titel auf Tocqueville anspielt und das 1985, als in Deutschland ‚die Individualisierung‘ aufkam, erschienen ist. „Der Individualismus ist der wirkliche Kern der amerikanischen Kultur“, heißt es dort; er ist es in bürgerlich-republikanischer wie in protestantischer Tradition.27 Allerdings kommt es dem Buch dann (mittels adjektivischer Anreicherung) darauf an, verschiedene Individualismen, die in dieser Kultur in jüngerer Zeit gedeihen, zu unterscheiden. Die Rede ist vor allem vom ‚utilitaristischen‘ und vom ‚expressiven‘ Individualismus, überdies von einem ‚radikalen‘ Individualismus. All diese Individualismen lösen sich von den älteren moralisch-öffentlichen „commitments“, und der Leitgedanke des Buches ist nicht zuletzt ein Durkheimscher: auf der Pathologielinie des Selbstmordwerks liegend. Bellahs soziologische Sorge kreist um einen zu weit getriebenen, ‚radikalen‘ Individualismus und versteht diesen stark sozial-isolationistisch: „Wir fürchten daß er krebsartig gewachsen sein könnte – daß er die sozialen Zwischenräume zerstört, (…) daß er zu einer Bedrohung für die Freiheit selbst geworden ist“.28 26  Auch im Selbstmord, 1897 erschienen, sind dann, was den „egoistischen Selbstmord“ und die ihm günstigen Sozialmilieus angeht, ‚Individualismus‘ (zumal „exzessiver Individualismus“) und ‚Egoismus‘ einander nicht fern; vgl. Durkheim (1973), S.  162 ff., 233 f. Der egoistische Selbstmord resultiert aus einer „übertriebenen Vereinzelung“, und „der Individualismus [ist, H.  T.] nicht notwendig gleichbedeutend mit Egoismus, aber er kommt ihm nahe“ (ebd., S.  247, 430). 27  Ich halte mich hier an die deutsche Übersetzung; vgl. Bellah et  al. (1987), insbes. S.  174 ff., ferner im Kontrast zu Parsons Brandt (1993), S.  309 ff. 28  Ebd., S.  16.

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III. Individualisierung und Individualismus 1.  Die klassische Soziologie um 1900 und zumal Simmel und Durkheim29 haben uns wesentliche „soziologische Einsichten in den Bedingungszusammenhang von sozialer Differenzierung und Individualismus“ hinterlassen. Niklas Luhmann, der das sagt, hat diese Einsichten unter Hinzunahme des amerikanischen Strukturfunktionalismus in seinen frühen Arbeiten wieder aufgegriffen; er hat das zumal in Grundrechte als Institution, seiner Habilitationsschrift von 1965 getan. In diesem Buch finden sich ganz wesentliche (und meist übersehene) Argumente in Sachen ‚Individualismus‘ zusammengestellt. Sie sind soziologisch grundlegend und sollen hier einleitend kurz angesprochen werden. Soziale Differenzierung ist bei Luhmann der Ausgangspunkt. Die Frage aber ist: wie verlängert sie sich zu den Individuen hin? Luhmanns Antwort ist die, die sich schon bei Simmel findet: Die gesteigerte Komplexität der modernen Gesellschaft hat ihren Niederschlag bei den Individuen als ‚Rollenpluralismus‘ oder (in der Sprache Simmels) als „Kreuzung sozialer Kreise“. Mehr und mehr aber setzt im Gefolge davon die Sozialordnung auf die „Verschiedenheit“ der Individuen; sie rechnet mit dieser und gibt ein Verhalten frei, in dem, wie Luhmann sagt, „der einzelne (…) sich selbst zu einem konsequent durchgehaltenen Selektionsprinzip“ macht. Luhmann bringt dies mit Simmel, in den Gegensatz zu dem „rationale(n) Individualismus des 18. Jahrhunderts“, der die Sozialordnung gerade auf „die Gleichheit der Individuen“ gebaut wissen wollte, zumal auf die Gleichheit „in ihrer höchsten Möglichkeit: der Vernunft“.30 Dieser Individualismus war zugleich der, der im Blick auf die politischen Herrschaftsverhältnisse Freiheit im Sinn hatte. An dieser Stelle nun bringt Luhmann soziologisch einen Vorbehalt ins Spiel und verweist auf Durkheim, auf seine „bahnbrechenden Forschungen über die Notwendigkeit institutioneller Stützen des Individualismus“, womit primär auf das Selbstmordbuch angespielt ist. Das führt dann zugleich auf Parsons und die angesprochene „Institutionalisierung des Individualismus“, zugleich auf Fragen des ‚Außenhaltbedarfs‘ individualisierter Selbstdarstellung.31 Die entscheidende Einsicht steckt hier aber in der Beobachtung des Nebeneinanders von gegenläufigen Entwicklungen, und auch hier liegt Luhmann durchaus auf der Linie Simmels. Was er herausstellt, ist die „Gleichzeitigkeit eines hochgetriebenen Persönlichkeitsindividualismus und eines 29  Es reicht hier, auf die Darstellung bei Schroer (2000), S.  137 ff. (für Durkheim), 284 ff. (für Simmel) hinzuweisen; ferner Tyrell (1998), S.  134 ff. 30  Luhmann (1965), S.  48 ff. 31  Ebd., S.  49 f.



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weithin unpersönlichen Verhaltens“, wie es im Alltag vielfältig erforderlich ist.32 Und dabei geht es nicht um einen Widerspruch, sondern darum, daß in komplexen und differenzierten Sozialverhältnissen das eine wie das andere strukturell möglich bzw. vonnöten ist. Zugleich sind damit die Weichen für den Widerspruch gestellt, mit dem Luhmann auf Thesen vom ‚Massenzeitalter‘ u. ä. reagiert: „Die Entwicklung geht nicht den oft angeprangerten Gang vom stolzen Individuum zum Massenmenschen. Sie nimmt den Weg zu bewußterer Selbstdarstellung“.33 Und in dieser Richtung macht Luhmann sich dann – in einem Buch über die ‚Grundrechte‘ – einen soziologischen Reim auf „Würde und Freiheit“. Angeregt von Goffman und ausgesprochen interaktionsnah setzt er auf „die Individualisierung der Selbstdarstellung“. Es könnte nach dem Gesagten scheinen, daß die Begrifflichkeit des ‚Individualismus‘ bei Luhmann in guten Händen war. Dem ist allerdings nicht so. Die entscheidende spätere Abhandlung mit dem Titel Individuum, Individualität, Individualismus von 1989 macht sich den Individualismus nicht mehr soziologisch zueigen; sie nimmt ihn mit seinem ‚-ismus‘ stattdessen als Fall einer ideologisierten Begriffsbildung. Im Einvernehmen mit Reinhart Koselleck sieht Luhmann seit dem beginnenden 19. Jahrhundert die Ausdifferenzierung einer besonderen latent politikbezogenen „Kommunikationsebene“ in Gang, „auf der Ideen und Prinzipien angegriffen und verteidigt werden können, ohne daß dies eine Rückführung auf Natur oder gemeinsame Werte voraussetzt.“ Solche Begrifflichkeit, die sich auf Ablehnung oder Bejahung hin aufdrängt, verrät sich an der Markierung mit dem ­‚-ismus‘, und ‚der Individualismus‘ – seit den 1820er Jahren ‚im Gespräch‘ und ausgestattet mit verschiedenen Begriffsantipoden ‚kollektivistischen‘ Zuschnitts – ist unbestritten ein Fall dieses ideologischen Typus. Er fand dementsprechend, wie Luhmann zeigen kann, auch bald seine konservativen Gegner wie seine liberalen Befürworter. Für Luhmann liegt hier der Grund, gegenüber dem Begriff auf Distanz zu gehen. Mit den Klassikern, „Simmel vielleicht ausgenommen“, sympathisiert er in dem besagten Aufsatz nicht 32  Was Simmel angeht, so sei hier nur ein Aufsatz von 1896 zitiert, der der Philosophie des Geldes voranliegt und fast alle der wesentlichen Themen des Buches vorab zur Sprache bringt; dort heißt es: „Die Ströme der modernen Cultur ergießen sich in zwei scheinbar entgegengesetzte Richtungen: einerseits nach der Nivellirung, der Ausgleichung, der Herstellung immer umfassenderer socialer Kreise durch Verbindung des Entlegensten unter gleichen Bedingungen, und andererseits auf die Herausarbeitung des Individuellsten hin, auf die Unabhängigkeit der Person, auf die Selbständigkeit ihrer Ausbildung. Und beide Richtungen werden durch die Geldwirthschaft getragen, die einerseits ein ganz allgemeines, überall gleichmäßig wirksames Interesse, Verknüpfungs- und Verständigungsmittel, andererseits der Persönlichkeit die gesteigertste Reservirtheit, Individualisirung und Freiheit ermöglicht.“ Vgl. Simmel (1992b), S.  184. 33  Luhmann (1965), S.  55.

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mehr.34 Auch in Liebe als Passion (von 1982) wird der im Liebeskontext gern geltend gemachte ‚Individualismus‘ von Luhmann begrifflich vermieden; aber natürlich sind dort die „Soziogenese von Individualität“ und die „Individualisierung“ der Liebes-Semantik wesentliche Themen, auf die zurückzukommen sein wird.35 2.  Ich habe bereits auf den Sprachgebrauch in den angelsächsischen Ländern hingewiesen, der, nicht zuletzt in der Tradition Tocquevilles, den Individualismus semantisch schätzt und pflegt. Es ist vor diesem Hintergrund bemerkenswert, daß in Deutschland und in der deutschen Soziologie – allerdings nur hierzulande36 – seit den 1980er Jahren der Prozeß- und Bewegungsbegriff der Individualisierung Karriere gemacht hat: mit einem vehementen Neuigkeitsanspruch und auch als Individualisierungstheorie auftretend. In die Kommunikation gebracht hat ihn vor allem Ulrich Beck, ihm jedenfalls wird er allenthalben zugerechnet.37 Der Begriff, an dem nicht recht klar ist, ob er bloß prozessual richtungsbeschreibend oder kausal (‚verursachend‘) gemeint ist, hat angesichts der tiefgreifenden sozialstrukturellen und Verhaltensänderungen, denen er gerecht werden, die er ‚auf den Begriff bringen‘ will, außerordentlich starken Anklang gefunden. Sein Problem ist weniger, daß er sich sich bei näherem Zusehen als überaus vieldeutig zeigt. Gravierender ist: der Begriff – immer im Singular gebraucht – suggeriert das Im-Vollzug-Sein eines Makroprozesses, eines kompakten gesellschaftlich durchgreifenden ‚Megatrends‘, der in der Konsequenz einige Autoren dann von einer ‚individualisierten Gesellschaft‘ sprechen läßt. Die Gegenbegrifflichkeit, die der Begriff mit sich führt, ist, bleibt relativ unbestimmt; die Rede ist vor allem von ‚traditionalen Bindungen‘, und meist wird Individualisierung in diesem Sinne ganz schlicht beschrieben als Prozeß der Herauslösung der Individuen „aus traditionalen Bindungen (Klassenmilieu, Familie, Geschlechtsrollen)“.38 Luhmann (1989), S.  216 ff. nur Luhmann (1982), S.  13 ff., 123 ff. 36  Das beobachtet schon Burkart (1993), S.  159 f., vor allem im Kontrast zum amerikanischen ‚Individualismus‘. 37  Vgl. zunächst Beck (1983); für Beck (1986), S.  205, ist der Begriff „ein überbedeutungsvoller, mißverständlicher, vielleicht sogar ein Unbegriff, der aber auf etwas verweist, was wichtig ist“! Markus Schroer (2000), S.  3, ist die „bemerkenswerte Karriere“ der Individualisierung vor Augen; was deren „Initialzündung“ betrifft, so verweist er auf das Jahr 1983 und nennt mit Elisabeth Beck-Gernsheim, Josef Mooser und Werner Fuchs drei weitere Autoren, die in diesem Jahr neben und teils unabhängig von Ulrich Beck mit dem Zauberwort hervorgetreten sind. Vgl. ebd., S.  9, auch 381 ff., mit einer ausgiebigen Darstellung der Beckschen Dinge. Skeptisch zur Vieldeutigkeit der Individualisierungsbegrifflichkeit und um Klärung bemüht Pollack (1999). 38  Vgl. nur Burkart (1993), S.  159. 34  Vgl. 35  s.



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Auch wenn man heute den Eindruck von einer Individualisierungsmode haben kann, die nach zwei Jahrzehnten im Abklingen ist, so gibt der enorme Kommunikationserfolg einer ‚Individualisierung‘, die vom ‚Individualismus‘ nichts mehr zu wissen scheint, doch zu denken – hinsichtlich der Soziologie, aber auch über sie hinaus. Was die Soziologie angeht, so ist im empirischen Blick der Individualisierungsthese nicht zuletzt der seit den 1960er Jahren sich vollziehende (und unbestreitbar gravierende) Wandel der Ehe-, Familien- und Intimverhältnisse; zumal ‚die Liebe‘ interessiert und das, was die beziehungsmobile Individualisierung von ihr übrig läßt, womit zugleich die Scheidungsproblematik ins Spiel kommt. Gerade auf familiensoziologischem Feld hat Elisabeth Beck-Gernsheim mit ihren einschlägigen Arbeiten früh Anklang gefunden, und die ‚Individualisierungstheorie‘ ist dort bis heute prominent im Gespräch.39 Eine nähere Darstellung scheint mir verzichtbar, und es mag an dieser Stelle genügen, auf die ernste, sowohl empirische als auch konzeptionelle Diskussion zur Sache hinzuweisen, die sich im Heft 3 / 1993 der Zeitschrift für Soziologie findet. In dieser Debatte zwischen Günter Burkart einerseits sowie Ulrich Beck und Elisabeth BeckGernsheim andererseits kommt über die hiesigen Verhältnisse hinaus vergleichend auch „das Beispiel USA“ zur Sprache.40 Für die Resonanz jenseits der Soziologie gilt, daß sie durchaus nicht nur ‚Nachrede‘ oder Resonanzverstärkung gewesen ist, die sich von der Beckschen Rhetorik hat beeindrucken lassen. Ich möchte dafür ein Exempel geben, das (wenigstens) mich beeindruckt hat, und beziehe mich dabei auf Dieter Schwab, den renommierten Zivilrechtler und Rechtshistoriker. Familiensoziologen ist er nicht unbekannt, weil er der Verfasser des umfänglichen Familienartikels in dem von Reinhard Koselleck u. a. herausgegebenen begriffsgeschichtlichen Handbuchunternehmen Geschichtliche Grundbegriffe ist. Ich möchte hier nur kurz zitieren aus einem Rückblick, den Schwab 1993 auf 40  Jahre bundesdeutschen Familienrechts (1953–1993) gegeben hat. 1953, am Beginn des Zeitraums gilt weitgehend noch das BGB von 1900, auf dessen Scheidungsrecht ich unten im fünften Abschnitt noch kurz zu sprechen kommen werde. Schwabs Artikel, der für eine Festschrift anläßlich des 40. Geburtstags des Familienministeriums geschrieben ist41, bezieht sich auf vierzehn unmittelbar familienrechtsbezogene Bundesgesetze zwischen 1953 und 1993 und konstatiert für diesen Zeitraum eine ‚fundamentale Umgestaltung‘ des Rechts: „In der Sache blieb kaum ein Stein auf dem anderen“! 39  Vgl. nur Beck-Gernsheim (1983), Beck / Beck-Gernsheim (1990); für die aktuelle Familiensoziologie den Überblick von Burkart (2006). 40  Vgl. Burkart (1993) sowie Beck / Beck-Gernsheim (1993); Burkart hat darauf noch einmal kurz geantwortet. 41  s. Schwab (1993); das folgende längere Zitat ebd., S.  64 f.

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„Betroffen waren insbesondere die Kerngebiete des persönlichen Eherechts und des Ehegüterrechts, des Rechts der Ehescheidung und der Scheidungsfolgen, das Recht der nichtehelichen Eltern- und Kindschaft, das eheliche Kindschaftsrecht, das Adoptionsrecht und schließlich das Recht der Vormundschaft und Pflegschaft über volljährige Personen. Aus historischer Perspektive fragt man nach den Gründen für einen fast kompletten Austausch des Rechts, unter dem familiäre Beziehungen gelebt werden. War das überkommene Recht von der sozialen Wirklichkeit völlig überholt worden? Läßt sich eine gärende Unzufriedenheit der Bürger mit dem alten Familienrecht konstatieren? Vieles spricht dafür, die Impulse für die Gesetzesreformen in der Bewußtseinsebene der mit der Rechtspolitik befaßten Führungsschicht zu suchen: In gewisser Weise waren es, ähnlich den Kodifikationen der Aufklärung, ‚Reformen von oben‘. Sieht man einmal von der verfassungsrechtlichen Einkleidung der rechtspolitischen Grundgedanken ab, so erscheint rückblickend die Individualisierung als tragender rechtspolitischer Impuls der familienpolitischen Entwicklung. Es geht um die subjektiven Rechte der einzelnen: das Recht der Frau auf Gleichheit und gleiche Teilhabe, das Recht des Kindes um Wahrung seiner Integritäts- und Entfaltungsinteressen und Achtung der Selbstbestimmung, zu der es fähig ist; das Recht des Vaters auf Beziehungen zu seinem Kind; das Recht des gebrechlichen Menschen zugleich auf Hilfe und Chance zur Selbstbestimmung, um nur die Hauptpunkte zu nennen. Die Individualisierung streitet mit dem Gedanken der familiären Bindung, das das traditionelle Familienbild prägt: Unausweichlich wird die ‚postmoderne‘ Familie schon von ihrer Rechtsstruktur her gesehen etwas anderes sein als diejenige zu Beginn unseres Jahrhunderts.“

Unverkennbar ist hier, was ‚die Individualisierung‘ angeht, der soziologische, der Becksche Sprachgebrauch gewählt. Es wird damit auf eine kompakte Prozeßgröße rekurriert, der Schwab den Umbau des Rechts und die Richtung, die ihn bestimmt, zurechnet. ‚Die Individualisierung‘, der die Gesetzgebungswerke sukzessive zuarbeiten, treibt sich gewissermaßen selbst voran, wobei offen bleiben mag, ob das nun in einem eher kausalen oder einem eher teleologischen Sinne zu verstehen ist. Der Befund, der sich ja auf einen (im Ganzen) ungeplanten, aber in den einander folgenden Gesetzgebungen sich durchhaltenden Prozeß bezieht, macht gleichwohl Eindruck und verdiente die empirische Prüfung unbedingt. 3.  Im Zusammenhang der in diesem Aufsatz verfolgten Fragestellung interessiert an der Individualisierungstheorie nun vor allem die Frage, wie sie es mit dem (älteren) Individualismus hält. Da aber fällt sogleich auf, daß gerade Ulrich Beck wenig darum bemüht ist, seine so erfolgreiche Begriffsbildung zu der großen semantischen Tradition des Individualismus irgendwie ins Verhältnis zu setzen.42 Man hat eher den Eindruck von Verdrängung. 42  Andeutungen immerhin zu einem „ahistorischen Individualisierungsmodell“, das den Klassikern zugeschoben wird, bei Beck (1986), S.  205 ff.; diese Modellie-



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Und in gewisser Hinsicht, nämlich von der temporalen Logik her, die ‚der Individualisierung‘ inhärent ist, ist Beck geradezu genötigt, das individualistische Erbe zu ignorieren. Denn die Individualisierung soll in seinem Sinne ja einen gesellschaftlich ganz neuartigen und aktuellen Prozeß bezeichnen, der dem späten 20. Jahrhunderts zugehört und der den „Rahmen der bisherigen Begrifflichkeiten“ sprengt. Becks zeitdiagnostischer Gestus ist (nicht anders als dann auch im Fall der ‚zweiten Moderne‘) der der Geltendmachung und Beschwörung einer dramatischen und epochalen Diskontinuität. Schon das verbietet es, ‚die Individualisierung‘ in der Kontinuität ‚des Individualismus‘ zu denken. Der grundstürzende ‚individualisierende‘ Wandel gegen Ende des 20. Jahrhunderts geht ja nicht gut zusammen mit einem ‚modernen‘ (oder gar ‚institutionalisierten‘) Individualismus, von dem – als maßgeblicher Signatur der Moderne – bereits um 1900 die Rede ist. Auch kann ein Prozeß der Individualisierung einem bereits ‚institutionalisierten Individualismus‘ schlecht nachfolgen; zudem läßt sich der letztere schlecht im Sinne von ‚traditionaler Bindung‘ beschreiben. Vertretbar scheint es mir dagegen, wie Günter Burkart (und bisweilen auch Beck selbst) von einem „neuen Individualisierungsschub“ zu sprechen; diese Formulierung befreit von der Nötigung, den voranliegenden Individualismus zu ignorieren und stellt stattdessen Zusammenhänge her. Andererseits ist man dann erst recht dazu genötigt, die Spezifika des Neuen und den Zeithorizont ‚des Schubs‘ genauer zu identifizieren.43 Die weiteren Überlegungen dieses Beitrags wollen nun, wie eingangs gesagt, den Individualismus als institutionelle Signatur der modernen Gesellschaft rehabilitieren; die prozessuale Rede von ‚Individualisierung‘, wie man sie ja auch bei Simmel findet, ist damit keinesfalls ausgeschlossen. Man kann in der Sprache des Sports auch sagen: die folgenden Darlegungen wollen den Individualismus ins Spiel zurückholen und tun es auf dem Felde von romantischer Liebe und Ehe, teils auch mit Blick auf die Scheidungsthematik.

rung zeugt aber von geringer Befassung mit den daselbst genannten Klassikern. Ferner sprechen Beck / Beck-Gernsheim (1993), S.  181 f., in ihrer Antwort auf Burkart (1993) ein „individualistische(s) Mißverständnis der Individualisierungsdebatte“ an und verweisen dort explizit auf Durkheim und den Parsonsschen „institutionalisierten Individualismus“. Hier geht es des Näheren dann aber durchaus nicht darum, ‚Individualismus‘ und ‚Individualisierung‘ miteinander ins Benehmen zu setzen. Denn das Mißverständnis, das hier verhandelt wird, hat nur die gesellschaftliche Institutionalisierung im Sinn: Beck / Beck-Gernsheim machen auch für ihre Individualisierung geltend, daß sie „vergesellschafteter“ Natur ist und daß dabei „neue Institutionen“ im Spiel sind. 43  Vgl. nur Burkart (2006), S.  177 f.

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Es sind vor allem drei Gründe, die das veranlassen: Der erste ist, daß es mir gerade bezogen auf Intimbeziehungen sinnvoll scheint, den Anschluß an den internationalen Sprachgebrauch wiederherzustellen, etwa an den des „affective individualism“, den der englische Familienhistoriker Lawrence Stone propagiert und der nicht zuletzt „romantic love“ und die „companionate marriage“ im Sinn hat.44 Im fünften Abschnitt dieses Beitrags wird darauf zurückzukommen sein. Der zweite und vorrangige Grund aber ist der, überlegenes klassisch-soziologisches Ideengut, das angesichts der Individualisierungseuphorie vom Vergessen bedroht ist, ins soziologische Gespräch zurückzuholen. Es ist Gedankengut der Zeit um 1900, und mir geht es dabei, wie gesagt, vor allem um Georg Simmel – als den ertragreichsten und subtilsten Beobachter auf dem Felde der ‚kleinen Kreise‘ und des Intimen, zugleich aber als klassischen Autor in Sachen ‚Individualismus‘. Ihm ist der gesamte vierte Abschnitt des Aufsatzes gewidmet. Auch Max Weber wird darin gelegentlich zur Sprache kommen. Der dritte Grund schließlich führt in die Geschichte des Ehe- und Scheidungsrechts. Um es im Blick auf Dieter Schwab zu sagen: gerade ihm ist ja vor Augen, daß ‚die Individualisierung‘ auf dem Feld des Ehe- und Familienrechts nicht etwas ist, das erst in der zweiten Hälfte 20. Jahrhunderts in Gang gekommen wäre. Begriffs­ geschichtlich und familienrechtshistorisch gilt ja vielmehr: es waren die spätaufklärerische und die romantische Ära, also die Zeit vor und um 1800, in denen ‚das Individuum‘ erstmals und nicht nur ehe- und familienrechtlich für Unruhe gesorgt hat, was dann in Deutschland seinerzeit eine ausgeprägt ‚familienkonservative‘ Reaktion nach sich gezogen hat, die in der Eherechtsgesetzgebung des BGB (von 1900) ihren Höhepunkt fand. Genau darauf haben Marianne und Max Weber – als Anwälte des Individualismus auf dem Feld des Ehe- und Scheidungsrechts – mit Nachdruck (kritisch) reagiert. Der fünfte Abschnitt dieses Beitrags bemüht sich, diese Entwicklung, wenngleich ganz skizzenhaft, nachzuzeichnen; man stößt auch hier auf ein bedeutsames Stück Geschichte (und Begriffsgeschichte) des ‚Individualismus‘.

44  Vgl. zunächst Stone (1977), S.  231 ff. Der Individualismus („a very slippery concept“) wird hier (ebd.: S.  223 f.) so erläutert: „Here what is meant is two rather distinct things: firstly a growing introspection and interest in the individual personality; and secondly, a demand for personal autonomy and a corresponding respect for the individual’s right to privacy, to self expression, and to the free exercise of his will within limits set by the need for social cohesion“. Vgl. ferner Stones große dreiteilige Scheidungsstudie, die die (gerade in England spät eintretende) ‚Scheidungsrevolution‘ des 20. Jahrhunderts u. a. zurückführt auf „the powerful ideology of individualism“; dazu näher Tyrell (1995), S.  100 ff. Zu Individualismus und ‚großer Transformation‘ auch Stone (1992), S.  348 ff.



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IV. Romantische Liebe und Individualismus nach Georg Simmel 1.  Fragt man im Kontext der ‚bürgerlichen Kultur‘45 nach der Funktion der romantischen oder, mit Niklas Luhmann, der ‚passionierten Liebe‘46, so stößt man auf ein Wer-mit-wem-Problem. Angesichts des Kulturerfolgs der Liebe seit dem späten 18. Jahrhundert tut man m. E. gut daran, dies als ihr Bezugsproblem in Rechnung zu stellen. Die Liebe löst nämlich, zwingend und alternativlos, ein spezifisches Wer-mit-wem-Problem; sie löst es im Hinblick auf die ehelich-paarweise Verbindung und Zusammengehörigkeit einer bestimmten Frau und eines bestimmten Mannes; sie sagt, wer für wen auf eheliches Zusammenleben hin der bzw. die ‚Richtige‘ ist. Die Liebe ist (und gibt) – unter der Prämisse ‚freier Gattenwahl‘ und angesichts unendlich vieler möglicher Paarungen – die Antwort auf die (hoch selektive) Frage nach der Wahl und Findung des Ehegatten: wer ‚höchstpersönlich‘ mit wem?47 Wenn es sich um Liebe handelt, dann ist diesbezüglich alles eindeutig und ‚zwingend‘; daß es um Liebe geht, meint eben, daß man ,keine Wahl‘ mehr hat, denn nur noch ein Mensch kommt dann in Frage. Liebe ist, was ihren subjektiven Sinn angeht, das Dementi von Wahl; den Gedanken an andere Möglichkeiten, an personelle Alternativen schneidet sie ab und negiert in diesem Sinne alle Kontingenz. Und obendrein beschafft die Liebe – wohlgemerkt in der ‚bürgerlichen Kultur‘ – die Motivation für den Schritt (die Entscheidung) zur Ehe, also dafür, zu heiraten und einander ‚Mann und Frau‘ („mein Mann“ / „meine Frau“) zu werden. Sie schafft den 45  Zur (Wiederaufnahme der) Rede von ‚bürgerlicher Kultur‘ fühle ich mich ermutigt durch eine Tagung der Sektion ‚Kultursoziologie‘ der jüngsten Zeit, die der Frage „Wie bürgerlich ist die Moderne? – Bürgerliche Gesellschaft, Bürgertum und Bürgerlichkeit“ gewidmet war; vgl. den Bericht von Grummt / Hausdorf (2008). 46  Ich verweise hier nur auf Luhmann (1982) sowie im Gefolge davon auf Tyrell (1987), Faulstich (2002), Schmidt (2007). 47  Die in der Individualisierungsliteratur dominierenden Beschreibungen der heutigen Liebesverhältnisse sind unglücksfokussiert: „Chaos“, Überforderung usw. Sie mögen dramatisiert sein; jedenfalls legen sie nahe, nach (funktionalen) Alternativen zu fragen. Wie aber wäre – bezogen auf paarweises Zusammenleben und Familienbildung hin – das Wer-mit-wem (in einer Großpopulation) anders ,organisierbar‘? Man könnte, jenseits der Liebe und ihrer ja nicht selten trügerischen Glücksversprechen, an markt- und geldvermittelte Paarungen oder an computergestützt-wohlfahrtsstaatliche Paarfindungen und ähnliches denken. Man sieht aber doch sofort: zur Liebe (als Selektor) gibt es in einer ‚individualistischen Kultur‘ schwerlich eine Alternative. Im 18. Jahrhundert konnte man allerdings noch ganz anderer Meinung sein. In England etwa war Samuel Johnson ausdrücklich der Auffassung: „die Liebe ‚has no great influence upon the sum of life‘. Seiner Ansicht nach könne man den Lord Chancellor ebensogut mit der Ehevermittlung beauftragen, denn es gebe Tausende von Frauen, mit denen ein Mann ebenso glücklich sein könne, wie mit derjenigen, die er sich selber ausgesucht hat“ (van Ussel 1970, S.  83).

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‚nötigenden Grund‘ für die beiderseitige folgenschwere Selbstfestlegung auf gemeinsame Ehe und (tendenziell auch) Elternschaft; wird sie ihrer Funk­ tion gerecht, so ‚überwältigt‘ sie dazu. Fragt man nun nach dem spezifischen Individualismus, der dem Kulturmuster oder Code der romantischen Liebe inhärent ist, so sind dazu zwei Dinge vorauszuschicken, die ich an anderer Stelle48 breiter ausgeführt habe; beide fügen sich mit dem ‚affektiven Individualismus‘ im Sinne von Lawrence Stone gut zusammen. Zum einen: zum Individualismus der Liebe gehört wesentlich, daß der / die einzelne selbst wählt und wählen muß, zugleich aber auch höchstpersönlich erwählt werden muß. Es geht um koinzidierende ‚doppelte Selektivität‘.49 Solche Personenwahl, bei der man gleichermaßen wählt und erwählt wird, isoliert das Individuum. In Liebesdingen kann man sich nicht vertreten lassen, und die Wahl, die sie im Hinblick aufeinander treffen, fällt ganz auf die Liebenden selbst zurück, wird ihnen und ihrem Wollen exklusiv zugerechnet. Zugleich geht es – entgegen dem alten herrschaftlichen Elternrecht und menschenrechtsartig – um Freiheit, um ‚freie Gattenwahl‘, die gegen das ‚Anderswollen‘ und die Intervention Dritter, und selbst der Eltern, geschützt und als Wahl zu respektieren ist. Diese Freiheit gründet ihr Recht darauf, daß es bei Liebe und Gattenwahl um ‚ureigenste‘ und um höchstpersönliche, private Belange der / s einzelnen geht und zugleich um solche von höchster persönlicher Bedeutsamkeit. Zum anderen: ‚individualistisch‘ ist die Freiheit der Gattenwahl aber auch darin, daß sie, wie Simmel sagt, eine Freiheit ist, „die durch Individualität beschränkt ist“.50 Das ‚eigene Herz‘ wählt, von sich aus und nach persönlich-eigentümlicher Präferenz. Erwählt aber hat es damit ein anderes, besonderes Individuum. Die Liebe ist dann in diesem Sinne die leidenschaftliche Präferenz für dieses eine bestimmte ‚alter ego‘, nur für dieses. Der / die Geliebte ist im Notwendigkeitssinne der / die einzige; Platz für Dritte ist hier nicht. Niklas Luhmann sieht vor allem in dieser Exklusivität den Ansatzpunkt für die „Individualisierung“ der Liebes-Semantik.51 Die ins Unbedingte gesteigerte ‚Bevorzugung‘, nämlich ‚Passion‘ hat allerdings eine tolerante Kehrseite, denn sie verlangt die passionierte Attitüde, die Anbetung des / der eigenen Geliebten nicht auch von Dritten, auch nicht den Nächststehenden. Robert Spaemann sagt es so: „Es gehört zur Leidenschaft, sich gegen ihre mögliche Außenansicht abzuschirmen, ohne deren Möglichkeit zu bestreiten. Leidenschaft ist die Verabsolutierung des Relativen im BeTyrell (1987). ‚Wahl‘ und ‚Selektivität‘ zu reden, heißt in der Beobachtersprache (in der ‚Außenansicht‘ mit Spaemann) zu sprechen. 50  Simmel (1992a), S.  809. 51  Vgl. Luhmann (1982), S.  123 ff. 48  Vgl. 49  Von



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wußtsein, daß diese Verabsolutierung nicht universalisierbar ist.“52 Zur Illustration davon verweist Spaemann auf den abweichenden Fall des Don Quichote, „der von jedermann verlangt, Dulcinea als die schönste aller Frauen anzuerkennen“. Man kann mit etwas anderer Akzentuierung hinzufügen: die Höchstrelevanz, die sich für die Liebenden mit ihrer Liebe verbindet – sie überwältigt von sich aus; auf die Affirmation oder den Applaus seitens der anderen ist sie nicht angewiesen und damit auch ohne Veranlassung, diesen einzuholen. Und nichts muß die Liebenden dann daran irritieren, daß andere Paare es mit ihrer Liebe ebenso enthusiastisch halten wie sie selbst. 2.  Aus der antiken und christlichen Tradition drängt sich, was die Liebessemantik angeht, die Differenz von ,agape‘ oder ,caritas‘ einerseits und ,eros‘ oder ,amor‘ andererseits auf. Zugleich stellt sich die Frage nach beider Einheit. Wo man sie scheidet, scheidet man sie typisch in eine Liebe, die (zumal aus Mitleid) gibt, und in eine Liebe, die begehrt. Und man stößt auch auf die Auffassung, die Moderne erst habe zum definitiven Auseinandertreten von beiderlei Liebe geführt.53 Man gewinnt diesem Gegensatz aber ein schärferes Profil ab, wenn man nach der sozialen Figuration fragt, die ihm zugehört. Hält man sich diesbezüglich an Max Weber, nämlich an sein stark russisch, durch Tolstoj und Dostojewski geprägtes Verständnis von ‚religiös-universalistischer Brüderlichkeit‘54, so führt das auf die Differenz und den Wertgegensatz einer kultiviert individualistischen (gegengeschlechtlich-paarweisen) passionierten Liebe hier und einer schlechterdings anonym, ja unpersönlich adressierten Bruder- und Menschenliebe dort. Max Weber hat die letztere Liebe in der Zwischenbetrachtung wie folgt charakterisiert: „die Übersteigerung der Brüderlichkeit zu jener (…) nach dem Menschen, dem und für welchen sie sich opfert, überhaupt nicht mehr fragenden, an ihm im letzten Grunde kaum noch interessierten ‚Güte‘, die ein für allemal das Hemd gibt, wo der Mantel gefordert wird, an jeden, der ihr zufällig in den Weg kommt, und nur weil er ihr in den Weg kommt: – eine eigentümliche Weltflucht in Gestalt objektloser Hingabe an jeden Beliebigen, nicht um des Menschen, sondern rein um der Hingabe als solcher, mit Baudelaires Worten: um der ‚heiligen Prostitution der Seele‘ willen“.55 Was Weber hier intellektuell erregt, das ist die Interesselosigkeit dieser ‚Jedermannsliebe‘ gegenüber dem IndividuelSpaemann (1985), S.  14. dazu nur Josef Pieper (1986), S.  21 ff., mit einem reichhaltigen historischen Überblick über das Liebesvokabular; zu Eros und Agape insbes. ebd., S. 98 ff., auch 178 ff. 54  Näher dazu Tyrell (1997), S.  204 ff. 55  Weber (1920), S.  546. 52  So

53  Vgl.

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len, ihre Indifferenz gegenüber der je besonderen Person (als solcher), die sie beschenkt, für die sie sich aufopfert. Das aber bringt diese Liebe in den denkbar schärfsten Gegensatz zur ‚romantischen Liebe‘. Die mitleidige Liebe entzündet sich am Leid des (eines) anderen, nicht an der ‚Besonderheit‘ seiner Person, und das drückt ihr – in der Wertung durch die andere Liebesart – einen Zug geradezu von ‚Lieblosigkeit‘ auf. Der (Baudelairesche) Prostitutionshinweis am Ende des Weberzitats will ersichtlich hinaus auf die Individualitätsblindheit jener universellen Brüderlichkeit. Deren ganze Emphase geht ja auf die „Solidarität aller Menschen“, aller gleichermaßen; sie will darauf hinaus, keinen Unterschied zu machen, keinerlei Präferenz zu haben – es sei denn die zugunsten der Leidenden, der Schwachen, der Sündigen, der Armseligen. Wie sehr nun diese christliche Menschen- und Bruderliebe von dezidiert individualistischen Wertprämissen her direkt anstößig ist, ist in Georg Simmels Schopenhauer und Nietzsche von 1907 eindringlich verdeutlicht. In seiner Frontstellung gegen die Schopenhauersche Mitleidsethik war es eben Friedrich Nietzsche, der den individualistischen Wertstandpunkt artikuliert und geltend gemacht hatte, und zwar in einer nachdrücklich aristokratischen Fasson. Simmel sagt es so: Vor allem ist ihm, Nietzsche, „jene Solidarität der Wesen verhaßt, in der das Mitleid wächst und die mit ihm, auf der Seite des Gebenden wie Empfangenden, das Fürsichsein der Persönlichkeiten und ihren Abstand nivelliert. Der Mitleidige entkleide das fremde Leid des eigentlich Persönlichen, er mache sich den Leidenden zur leichten Beute; es sei die Tugend, in der erfahrungsgemäß die Dirnen exzellieren – die Wesen also, für die das Aufsichhalten, die Reserve der Persönlichkeit am vollständigsten der Promiskuität, der wahllosen Hingabe gewichen ist. Das Mitleid bringt den Menschen am tiefsten zum andern herunter und zwar, in der Mehrzahl der Fälle zu dem Schwachen, dem Verkommenen, dem Besiegten.“56 Ich lasse nun die Wertkollision, deren man hier ansichtig wird57, beiseite und halte einstweilen nur fest: der romantischen Liebe sind die individualistischen Wertgehalte nicht nur inhärent, vielmehr artikuliert sie und meint sie diese. Was das spezifische ,Wer mit wem‘ angeht, mit dem es die ,passionierte Liebe‘ zu tun hat, so zeigt sich schon auf den ersten Blick: diese Liebe ist im höchsten Grade ,persönlich wählerisch‘, denn ihr kommt ersichtlich alles auf den Unterschied zwischen dem / r Einen und Einzigen, der / die allein in Frage kommt, und allen anderen an. 56  Simmel

(1995b), S.  364. der sozialethischen und der Nietzscheschen Wertlehre (…) geht die Spaltung bis auf den Grund“, sagt Simmel (ebd., S.  215). Vgl. aber auch Simmels Fragment „Über die Liebe“ (Simmel 2004, insbes. S.  144 ff.); hier die auf das „Individualitätsprinzip“ hin ausgearbeitete Unterscheidung von ‚allgemeiner Menschenliebe‘, ,christlicher Liebe‘ und ,erotischer Liebe‘. 57  „Zwischen



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Die romantische Liebe meint, wie gesagt, exklusive Präferenz: Die erklärte Liebe zu Dir schließt die Liebe zu allen anderen aus; sie wäre dementiert durch das ‚Auch-lieben‘ eines Anderen, durch die Liebe zu auch nur einem einzigen Dritten.58 Unbestreitbar weist eine solche Struktur aber nun Form­ analogien zu der ökonomischen Institution des Eigentums und seiner Exklusivität auf: Auch dessen Logik ist ja bekanntlich die der Auschließung aller Dritten; mein Haben bedeutet das Nichthaben aller anderen. Und die Analogie verlängert sich ins Individualistische: gerade das Privateigentum – das Individuum als Eigentümer und Interessent – ist ja für den Individualismus der modernen Gesellschaft in Anspruch genommen worden, soweit diese eben Marktgesellschaft ist. Dafür sei hier nur an C. B. Macpherson und sein Konzept des bürgerlichen ‚Possessivindividualismus‘ erinnert.59 Zumal in den Augen des Historischen Materialismus liegt es dann natürlich nahe, den Liebescode und den ihm eigentümlichen Individualismus für eine Sekundärerscheinung des Possessivindividualismus zu halten, sie also als ideologischen Reflex einer durch die ökonomische Basis und die Eigentumsverhältnisse vorgegebenen Struktur beschreiben (und erklären) zu wollen. Genau dem aber hat Georg Simmel entschieden widersprochen. Für ihn ist es falsches, unterkomplexes Einheitsdenken, so zu argumentieren. Seine ‚differentielle‘ Soziologie will der hohen Komplexität und internen Heterogenität der modernen Gesellschaft Rechnung tragen. Und diesem Denkansatz entspricht es, auch im Falle der beiden besagten Individualismen damit zu rechnen, daß in der Moderne in durchaus verschiedenen sozialen Kontexten formverwandte Erscheinungen auftreten, und den Soziologen beeindruckt die Gleichheit der Form gerade deshalb, weil sie an ganz heterogenen Inhalten auftritt. Falsches Einheitsdenken – Denken nämlich von der Prämisse ‚der Gesellschaft‘ und ihrer einheitlichen Bestimmtheit her – will hier auf einen Kausalzusammenhang hinaus und verführt dazu, in der einen Erscheinung die bedingende ‚Hauptsache‘ und in der anderen eine abgeleitete Erscheinung sehen zu wollen. Das mag jenen zusagen, deren intellektuelle Bedürfnisse nur durch entsprechende Einheit(lichkeit)sbefunde zu befriedigen sind. Mit Simmel aber und dem Programm der Philosophie des Geldes ist dem entgegenzuhalten: das in der Form Affine kann – der Komplexität und Differenzierung der modernen Sozialverhältnisse gemäß – durchaus heterogene Quellen haben. Daß sich in der modernen Ökonomie im Blick auf Eigentü58  Luhmann (1982), S.  123 ff., spricht hier von: „Exklusivität: „Es gilt als ausgemacht (…), daß man nur eine Person zur gleichen Zeit wirklichen lieben könne.“ Das ist so noch mit Blick auf das 17. Jahrhundert gesagt. Vgl. im übrigen Tyrell (1987), S.  573 ff. 59  Vgl. Macpherson (1973).

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mer und Marktteilnehmer Individualismus zur Geltung bringt, muß die Liebe nicht hindern, das von eigenen Prämissen her auch und anders hervorzubringen und zu artikulieren. Wenn aber schon ‚Einheit‘, dann von jenen kulturellen ‚Tiefenschichten‘ her, die die Ökonomie ebenso binden wie die Liebessemantik. In eben diesem Sinne wollte Simmel „dem historischen Materialismus ein Stockwerk“ unterbauen, „derart, daß der Einbeziehung des wirtschaftlichen Lebens in die Ursachen der geistigen Kultur ihr Erklärungswert gewahrt wird, aber eben jene wirtschaftlichen Formen selbst als das Ergebnis tieferer Wertungen und Strömungen, psychologischer, ja metaphysischer Voraussetzungen erkannt werden.“60 3.  Ich komme nunmehr etwas näher auf das zu sprechen, was Simmel den „Individualismus des Andersseins“ (bzw. der „Einzigkeit“) genannt und dem 19. Jahrhundert zugeordnet hat. Dieser Individualismus steht, wie gesagt, gegen den „Individualismus der Gleichheit“, der der des 18. Jahrhunderts ist.61 Simmel sagt es etwa so: „Sobald das Ich im Gefühl der Gleichheit und Allgemeinheit hinreichend erstarkt war, suchte es wieder die Ungleichheit, aber nur die von innen heraus gesetzte. Nachdem die prinzipielle Lösung des Individuums von den verrosteten Ketten der Zunft, des Geburtsstandes, der Kirche vollbracht war, geht sie nun dahin weiter, daß die so verselbständigten Individuen sich auch voneinander unterscheiden wollen: nicht mehr darauf, daß man überhaupt ein freier einzelner ist, kommt es an, sondern daß man dieser Bestimmte und Unverwechselbare ist“.62 „Das moderne Differenzierungsstreben“, die „Individualisierungstendenz“ richtet sich nun auf das ‚Anderssein‘ der Individuen, auf die Steigerung der Individualität, auf das, was den einzelnen unterscheidet und singularisiert, und es ist die Romantik gewesen, die dies ,zur Sprache gebracht‘ und in einem Wertsinne geltend gemacht hat. Bei Schleiermacher zumal sah Simmel die Botschaft von der „Verschiedenheit“ zur „sittlichen Forderung“ erhoben und zugleich ins Metaphysische gesteigert. Mit diesem Individualismus der Einzigkeit hat aber die romantische Liebe nun aufs Unmittelbarste zu tun, gerade bei den Romantikern. Denn die Liebe war diesen das Medium, in dem Individualität nicht nur thematisch ist, sondern in spezifischer Weise ‚kommunikabel‘ wird und zu sozialer Geltung kommt. Die Liebe war den Romantikern eben die besondere Konstellation, in der zwei Individuen in ihrer Einzigkeit und um dieser willen ‚zueinander finden‘, in der sie sich emphatisch und differenzbewußt aufeinander beziehen, und – einander ‚verstehend‘ – einer des anderen als Indivi60  Simmel (1989), S. 13; vgl. zu diesem Argument auch den 1896 veröffentlichten Aufsatz „Das Geld in der modernen Cultur“ (Simmel 1992b, S.  195 f.). 61  Simmel (1999), S.  122 ff. 62  Ebd., S.  143.



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dualität, als einer ,Welt für sich‘ (mit Schleiermacher) ‚ansichtig werden‘. Ganz ausdrücklich etwa heißt es ja bei Novalis: „Liebe macht Individualitäten mittheilbar und verständlich.“ Der romantischen Liebe ist die Einzigkeit und ‚Unersetzlichkeit‘ jenes einen ,significant other‘ nicht etwas bloß Mit-gemeintes; sie ist ihr das Wesentliche. Ich möchte das kurz illustrieren am Fall der verstehenden Liebe. Die Liebe nimmt ja ihre Exklusivität und ihren Enthusiasmus zu einem guten Teil aus dem wechselseitigen Verstehen und Verstandenwerden der Liebenden. Es ist ihnen dies der „Gleichklang der Herzen“, und für das Beglückende daran ist wesentlich, daß die Liebenden solch höchstpersönliches Einanderverstehen als etwas ganz Unwahrscheinliches und Überwältigendes empfinden. Daran ist vorausgesetzt: Verstehen ist selten und unwahrscheinlich; Intransparenz aber und die Unzugänglichkeit der Individuen füreinander sind das Normale. All das ist nun seinerseits nur plausibel auf dem gesellschaftlichen Niveau forcierter Individualisierung der Einzelpersönlichkeit und interindividueller Differenzierung, zugleich auch bei gesteigerten Vereinzelungserfahrungen („Einsamkeit“) der Individuen. Je ausgeprägter und vielfältiger die Besonderung der Individuen, desto unwahrscheinlicher wird es aber, den zu finden, der zu einem – auf höchstpersönliches Verstehen hin – ‚paßt‘, und desto wahrscheinlicher ist es, daß sehr viele ‚nicht passen‘. Individualität „beschränkt“ so die Möglichkeiten der Liebeswahl und setzt zugleich die Vielzahl der anderen voraus, die nicht in Frage kommen. „Dem einzelnen“, sagt Simmel im Blick auf die Freiheit der Gattenwahl, „erwächst aus der Einzigkeit seines Wesens eine entsprechende Einzigkeit dessen, was ihn ergänzen und erlösen kann, eine Eindeutigkeit der Bedürfnisse, deren Korrelat es ist, daß ein möglichst großer Kreis möglicher Wahlobjekte zur Verfügung stehe.“63 Und die romantische Liebe bedarf des Kontrasthorizonts der vielen schon, um den einen zum „significant other“ schlechthin zu exponieren und so das Unwahrscheinlichkeitserlebnis mit ihm zu ermöglichen. Die Liebe ist also auf beiden Seiten ‚quantitativ bestimmt‘: Sie ist es auf der Innenseite im Sinne der exklusiven (und zugleich reziproken) höchstpersönlichen Zusammengehörigkeit zu zweit, und sie ist es nach außen hin in dem negativen Sinne, daß unbestimmt viele andere nicht in Frage kommen. 4.  Daß es sich bei dem zuvor Gesagten nun nicht – im Irrelevanzsinne – ‚bloß‘ um Semantik oder um Überbauangelegenheiten handelt, ist in Sim63  Simmel (1992a), S.  809; es heißt dort weiter: „denn je individueller die Wünsche und inneren Notwendigkeiten sind, desto unwahrscheinlicher, daß sie in einem eng umgrenzten Gebiet ihre Befriedigung finden.“ Der Gedankengang findet sich im Schlußkapitel der großen Soziologie, das eben den Titel trägt „Die Erweiterung der Gruppe und die Ausbildung der Individualität“ (ebd., S.  791 ff.).

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mels Philosophie des Geldes eindrucksvoll aufgewiesen, im Teil I. des fünften Kapitels des Buches, das den Titel „Das Geldäquivalent personaler Werte“ trägt.64 Das was in diesem Abschnitt verhandelt wird, ist einerseits die im Zuge der Modernisierung sich immer stärker geltend machende Individualisierung der Einzelperson, das Hervortreten „personaler Werte“. Und andererseits geht es um die zunehmende Abstraktheit und Indifferenz des Geldes. Entscheidend ist nun, daß Simmel beide Prozesse aufeinander bezieht und dabei auf die kulturell immer deutlicher sich artikulierende Inkommensurabilität zwischen dem Geldwert und den personalen Werten stößt. Es kommt dabei auf die Gegenläufigkeit und den Zusammenhang beider Entwicklungen an. Simmel wählt, um das zu demonstrieren, zunächst den Fall des Wergelds, also jener bis ins Hochmittelalter sich durchhaltenden Strafrechtspraxis der Mordsühne durch Geld, bei ständisch variierenden Tarifen. Die Langfristentwicklung der kulturellen Verunmöglichung solchen Strafrechts, das von einer „Preisschätzung des Menschen“ ausgeht, bringt Simmel auf die Formel: „Die vorschreitende Differenzirung der Menschen und die ebenso vorschreitende Indifferenz des Geldes begegnen sich, um die Sühnung des Mordes durch Geld unmöglich zu machen.“65 Auf die naheliegende Ablaßproblematik geht Simmel nicht explizit ein; gleichwohl sieht er das Christentum in den genannten Prozeß aufs Nachhaltigste verwickelt: „Indem das Christentum die Menschenseele für das Gefäß der göttlichen Gnade erklärte, wurde sie für alle menschlichen Maßstäbe inkommensurabel und blieb es.“66 Das Inkommensurabelwerden von quantifizierender Geldschätzung und individueller Person, die Tendenz also zur prinzipiellen Unübersetzbarkeit von personalen in Geldwerte führt Simmel dann weiterhin an den Beispielen von Kaufehe und Mitgift, am Fall der Prostitution67, an der Geldheirat und der Bestechungsproblematik vor. Mir kommt es an dieser Stelle des Näheren auf die Problematik der Geldheirat an, dies deshalb, weil sich an dieser das Problem des ‚wer mit wem‘, 64  Simmel

(1989), S.  482 ff. (1992b), S.  188. Der Satz entstammt dem Aufsatz „Das Geld in der modernen Cultur“ von 1896. In der Philosophie des Geldes heißt es: „Die steigende Wertung der Menschenseele und die sinkende Wertung des Geldes begegneten sich, um das Wergeld unmöglich zu machen“ (Simmel 1989, S.  519). 66  Simmel (1989), S.  492. 67  Im Fall der Prostitution heißt der ‚personale Wert‘ „weibliche Sexualehre“; je mehr diese sich an Liebe und Ehe bindet, desto weiter entfernt sie sich aus den Wert- und Sinnhorizonten des Geldes („Ware und Preis“). „Eben derselbe Kulturprozeß der Differenzierung, der dem Individuum eine besondere Betonung, eine relative Unvergleichbarkeit und Unaufwiegbarkeit verschafft“, macht das Geld als „Maßstab und Äquivalent“ des Personalen immer unangemessener; wo aber jenes Aufwiegen „doch weiterbesteht, wie in der Prostitution, führt es zu einer furchtbaren Herabdrückung des Persönlichkeitswertes“ (Simmel 1989, S.  519). 65  Simmel



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bezogen auf Liebe, Ehe und ‚Paarung‘, besonders schön verdeutlichen läßt. (Für den Zitatreichtum des folgenden sei um Nachsicht gebeten.) Ausgangspunkt ist hier die ‚Scham‘, die „Herabsetzung der persönlichen Würde, die heute mit jeder nicht aus individueller Neigung geschlossenen Ehe gegeben ist – so daß die schamhafte Verhüllung des ökonomischen Motives als Anstandspflicht erscheint“.68 Simmel kontrastiert dies mit „relativ undifferenzierten“ Sozialverhältnissen, denen im Hinblick auf das ‚wer mit wem‘ der Heirat „die ökonomischen Motive“ gerade die wesentlichen waren. Die Entwicklung, derer man damit ansichtig wird, hat nun ihren Grund, wie Simmel meint, darin, „daß die steigende Individualisierung es immer widerspruchsvoller und unwürdiger macht, rein individuelle Verhältnisse aus anderen als rein individuellen Gründen einzugehen“. Einer „stark individualisierten Gesellschaft“ ist es eben adäquat, daß für die Personenwahl der Ehe gute (und legitime) Gründe nur solche der „rein individuelle(n) Herzensneigung“ sind.69 Auf dem Niveau forcierter Individualisierung gilt eben, wie schon gesagt, daß das „Zueinanderpassen je zweier Individuen immer seltener wird: die abnehmende Heiratsfrequenz, die sich allenthalben in sehr verfeinerten Kulturverhältnissen findet, ist sicher teilweise dadurch veranlaßt, daß äußerst differenzierte Menschen überhaupt schwer die völlig sympathische Ergänzung ihrer selbst finden. Nun aber besitzen wir für diese absolut kein anderes Kriterium und Zeichen als die gegenseitige instinktive Zuneigung“.70 Der letzte Satz dieses Zitats scheint mir der alles Entscheidende zu sein: Auch wenn die Liebe ja bekanntlich vielfach ‚falsch‘ und ‚unpassend‘ wählt, so gilt doch, daß sie – in unserem kulturellen Horizont – schwerlich substituierbar ist. In der höchstpersönlichen Frage der Gatten- oder Partnerwahl ist etwas anderes als die ‚Liebe‘ nicht erkennbar, das Auskunft geben könnte über den mir persönlich gemäßen Partner – etwas also, das anstelle der Liebe das je individuelle ‚wer mit wem‘ steuern und die Wahl gerade dieses Partners (und keines anderen) plausibel und ,zwingend machen‘ könnte. Auch wer beim ersten Mal Schiffbruch erlitten hat, wird beim zweiten Mal als Kriterium seiner Wahl nicht auf etwas ganz anderes setzen (wollen und) können als eben die Liebe. Und nicht auf die Liebe wird er 68  Simmel 69  Ebd.

(1989), S.  520.

70  Ebd., S.  521. Was die „abnehmende Heiratsfrequenz“ angeht, so könnte man sagen: die unentwegte Zunahme des Verheiratetenanteils der Bevölkerung bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts scheint Simmel zu widersprechen. Dessen Abnahme seit den 1970er Jahren, die so gern mit ‚Individualisierung‘ in Verbindung gebracht wird, könnte man dagegen ebenso auf Simmels Konto buchen wie die Zunahme der Scheidungen, die wachsende Tendenz dazu also, sich vom ‚falschen‘ Partner zu trennen.

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sein Unglück zurechnen, sondern auf den ehedem Geliebten – als ‚den falschen‘.71 Als am wenigsten instruktiv im Hinblick auf die ‚richtige‘, je individualitätsadäquate Partnerwahl sah Simmel aber das Geld an. „Die Geldheirat schafft direkt den Zustand der Panmixie – der auswahllosen, ohne Rücksicht auf die individuellen Qualitäten stattfindenden Paarung“.72 Man hat von Historikerseite noch vor einiger Zeit gemeint, für die Partnerwahl im 19. Jahrhundert den empirischen Nachweis führen zu sollen, daß dabei die Liebe eine geringe, das Geld aber eine umso größere Rolle gespielt hat.73 Bemerkenswert ist aber nicht ‚die Hartnäckigkeit‘ der Geldheirat, sondern das immer nachdrücklichere Durchdringen ihrer kulturellen Diskreditierung, ja ‚Illegitimierung‘; sie wird zu einer Art ‚abweichenden Verhaltens‘, zu dem man sich offen nicht mehr bekennen kann. Eben darin aber drückt sich der Kulturerfolg der ‚personalen Werte‘ aus. „Es ist“, wie Simmel74 sagt, „also auch in diesem Fall nichts anderes, als die gestiegene Individualisiertheit innerhalb der Gesellschaft, die das Geld zu einem immer ungeeigneteren Vermittler rein individueller Beziehungen macht.“ Diese ‚Ungeeignetheit‘ aber verlängert sich in die allgemeine kulturelle Mißbilligung der Geldheirat. V. Max und Marianne Weber und das Scheidungsrecht Bei Max und Marianne Weber finden sich wiederholt Überlegungen, die den ‚religiösen Individualismus‘ zusammenführen mit der Problematik von Liebe und Ehe. Der Kontext dafür sind die verschiedenen Eheauffassungen im Protestantismus, ausgehend von der „ziemlich grobe(n) lutherischen Deutung des Sinnes der Ehe“ über die Eheauffassung der Puritaner hin zur „Quäkerethik“, „wie sie aus William Penn’s Briefen an seine Frau spricht“. Es ist in den Weberschen Augen vor allem „der religiöse Individualismus des Täufertums“, der ein subjektiviert-verinnerlichtes Verständnis der Ehe möglich und artikulierbar gemacht hat und der das Geschlechterverhältnis als solches explizit einbezieht: „Geschlechter machen keinen Unterschied, da zwischen Seelen keiner besteht; sie sind der Träger der Freundschaft“, heißt es bei William Penn.75 Ich deute dies nur an und halte mich – in Sachen Individualismus und Ehe – im übrigen an die Weberschen Stellung71  Zur konfliktsoziologischen Seite davon – im Anschluß an Simmel – Tyrell (2001). 72  Simmel (1989), S.  521. 73  Vgl. Borscheid (1983). 74  Simmel (1989), S.  521. 75  Vgl. Max Weber (1920), S.  556 ff., 563, Marianne Weber (1907), S.  279 ff., 291.



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nahmen zum Scheidungsrecht des BGB (von 1900). Man findet sie zuerst und breit ausgeführt in Marianne Webers bedeutendem Buch über Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung von 1907.76 Ich werfe vorab einen kurzen Blick auf die deutsche Scheidungsrechtsentwicklung im 19.  Jahrhundert, an deren Anfang die (mit Koselleck) ‚generöse‘ Scheidungsregelung des preußischen ‚Allgemeinen Landrechts‘ von 1794 steht. Im Blick auf dieses fällt auf, daß das späte 18.  Jahrhundert von aller späteren ‚Skandalisierung‘ der Ehescheidung weit entfernt war. Denn für den aufklärerischen Vertragsgedanken und für die peuplistische Logik des ‚Polizeistaats‘, dem zerstrittene Ehen für unzureichend reproduktiv galten, war die Scheidung nichts Anstößiges; beides aber war bestimmend im ALR. Andererseits aber artikulierte sich in Deutschland zu Beginn des 19.  Jahrhunderts, wie gehört, die Semantik der romantischen Liebe mit besonderem Nachdruck; sie tat es nicht zuletzt – und selbst Rechtsdenker wie Hegel irritierend – so, daß sie Liebe und Ehe in einen zwingenden Sinnzusammenhang miteinander brachte: wenn Liebe, dann Ehe, ja: nur Ehe, wo Liebe. Daß die Liebe damit zur Ehegrundlage wird, verändert nun aber den Sinn der Scheidung vollständig. Denn unabweisbar liegt in der Konsequenz des emphatisch individualistischen Liebesbegriffs der romantischen Ära der – modern gesprochen – Zerrüttungsgedanke: Die lieblos gewordene Ehe hat ihren Bestandssinn verloren, sie ist ‚gescheitert‘ und kann, ja muß aufgelöst werden. Der Weg des deutschen Scheidungsrechts ist im Fortgang des 19. Jahrhunderts wesentlich durch die konservative Reaktion auf die romantische Liebeslogik bestimmt. Gegen die Liebesehe und gegen die im ALR leicht gemachte Scheidung entwickelte Carl Friedrich von Savigny – ‚antiindividualistisch‘ – den Begriff der „Ehe als Institution“, der der Ehe eine ‚vorrechtliche‘ sittliche Geltung und ‚Würde‘ zuspricht, nämlich ein Bestandsrecht ‚sui generis‘, jenseits der Wünsche und Interessen der Individuen.77 Teils mit Blick auf die Kinder geht es hier ersichtlich um die institutionelle Domestizierung der Liebesehe und ihrer Risiken. Und die Scheidung ist in dieser Wertung dann nicht nur ein Fall des privaten Unglücks, sie wird darüber hinaus zu etwas öffentlich Bedenklichem und Anstößigem. Diesen Standpunkt hat – patriarchalisch forciert – das BGB kodifiziert. Unter Berufung auf „die christliche Gesamtanschauung des deutschen Volkes“ war 76  Mehrere Beiträge in einem vor kurzem erschienenen, von Bärbel Meurer (2004) herausgegebenen Sammelband würdigen die Bedeutung des Buches. 77  Die Rede ist bei von Savigny von der „Würde der Ehe selbst, diese als Institution betrachtet, unabhängig von dem Recht und dem Willen der Individuen“; vgl. dazu und zum weiteren nur Mikat (1987), Blasius (1992), auch Tyrell (1993), S.  134 ff.

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die Scheidungserschwerung vor allem für die Frau das Ziel, wofür das Schuldprinzip als Grundlage diente. Was nun den dezidiert individualistischen Widerspruch angeht, den Marianne und Max Weber gegen die Ehegesetzgebung des BGB formuliert haben, so sei dafür an dieser Stelle nur auf eine kurze Passage aus der ‚Rechtssoziologie‘ in Wirtschaft und Gesellschaft verwiesen.78 Max Weber geht die Scheidungsproblematik hier nun allerdings nicht von der ‚romantischen Liebe‘ und der Intimisierung der Ehe her an; vielmehr ist es die grundsätzliche Frage der „sexuellen Vertragsfreiheit“, die auf das Problem der „Scheidungsfreiheit“ hinführt. Es geht dabei um eine starke Konkurrenzbeschreibung des Geschlechterverhältnisses und zugleich um die „legitime Ehe“ als Institution, die den „erotischen Konkurrenzkampf“ limitiert. Die Frage der Erleichterung bzw. der Erschwerung der Scheidung hat dann damit zu tun, wieviel sexuelle Vertragsfreiheit (und Konkurrenz) auch unter dem Regime der ‚legitimen Ehe‘ für Männer und Frauen verbleibt. Auf das Scheidungsrecht im BGB aber kommt Weber dann (abschließend) auf eine Art zu sprechen, die dessen vielschichtigen Antiindividualismus und die Motivlagen, die hinter den intendierten Freiheitsbeschränkungen zumal auf der Frauenseite stehen, mit außerordentlicher Schärfe und Prägnanz charakterisiert und bloßstellt: „Für die bürgerliche öffentliche Meinung sind meist die wirkliche oder vermeintliche Gefährdung der Erziehungschancen der Kinder maßgebend für die Ablehnung der Scheidungsfreiheit, daneben speziell bei den Männern autoritäre Instinkte und, soweit die ökonomische Befreiung der Frau in Frage steht, auch einfache Geschlechtseitelkeit oder Sorge um die in Anspruch genommene Position in der Familie. Dazu treten die autoritären Interessen der politischen und hierokratischen Gewalten, verstärkt durch die gerade infolge der Rationalisierung des Lebens in der Kontraktgesellschaft gesteigerte Vorstellung: daß die formale Geschlossenheit der Familie Quelle gewisser meist ziemlich dunkel vorgestellter irrationaler Werte oder ein Halt überindividueller Gebundenheit des einzelnen, sich danach sehnenden, schwachen Individuums sein könne. All diese ziemlich heterogenen Motive haben im ganzen in der letzten Generation eine Rückwärtsrevidierung der Scheidungsfreiheit und teilweise auch der innerehelichen ökonomischen Freiheit herbeigeführt.“

Dieser Passus, der von der Position des ‚starken‘ Individuums aus urteilt, macht es leicht, der Vieldeutigkeit ‚des Individualismus‘ ein Stück weit auf die Spur zu kommen, wenngleich unter negativen Vorzeichen. Einige Andeutungen dazu seien hier abschließend gemacht. Man muß dazu nur das antiindividualistische Motiv- und Einstellungssyndrom, das von Weber – als den Gesetzgeber von 1900 bestimmend und der Scheidungsfreiheit entge78  Vgl.

Weber (1972), S.  412 ff., insbes. 414.



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genwirkend – ins Feld geführt wird, in seine Einzelkomponenten zerlegen. Also: was steht im Sinne Webers gegen den und gegenbegrifflich zum Individualismus? Zunächst natürlich Herrschaftsinteressen, die männliche Autorität in der Familie, diese in Korrespondenz mit den staatlichen und kirchlichen Autoritäten und von diesen auf eine Weise gedeckt und gestützt, die René König und Helmut Schelsky ‚sekundär-‘ bzw. ‚tertiärpatriarchalisch‘ genannt haben. Der Individualismus hat hier eine emanzipatorische oder Freiheitsdimension! Sodann das Ehe- und Geschlechterverhältnis betreffend die männliche „Geschlechtseitelkeit“, die sich ihre Dominanz einbilden und darin nicht durch subjektive Rechte der Frau gefährdet sehen will. Weiterhin: die „formale Geschlossenheit der Familie“ und die Wertbesetzung ihres Zusammenhalts als solchen; gemeint ist damit die Familie als Gemeinschaft im Tönniesschen Sinne, einerseits als emotionale Vergemeinschaftung (mit der Disposition zur Distanzlosigkeit), andererseits als Solidargemeinschaft im Gegensatz zur „Kontraktgesellschaft“ mit ihren individuellen Ungebundenheiten, ihrem utilitaristischen Individualismus.79 Ferner geht es, was den „Halt überindividueller Gebundenheit“ betrifft, um den konservativ wertbesetzten Begriff der Institution, nämlich um die Geltendmachung einer sozialen Eigenexistenz ‚der Familie(n)‘ oberhalb der Individuen, die dann gern mit Sakraltiteln bedacht wird. ‚Die Familie als Institution‘, sie subsumiert die Individuen der Familie, ja dementiert sie als Individuen, ‚macht sie schwach‘ und bringt sie – Weib und Kind zumal – um ihre Handlungsautonomie, ihren Status als Rechtssubjekte. Wie sehr die staatlich wie kirchlich so stark favorisierte Institutionenbegrifflichkeit in diesem Sinne (ganz explizit) antiindividualistisch gemeint war, ja zu diesem Zweck kreiert worden ist, habe ich andernorts dargelegt.80 Dort ist aber auch der direkt gegenläufige ‚Deinstitutionalisierungsschub‘ zum Thema gemacht, der dann familien- und ehebezogen in den 1960er Jahren einsetzte und den man natürlich als Individualisierungsschub beschreiben kann, dies aber eben auf dem Hintergrund einer ‚reaktiven‘ – darin unbedingt modernitätszugehörigen, also nicht einfach nur ‚traditionalen‘ – antiindividualistisch-familienkonservativen Kulturströmung, die weit über ein Jahrhundert lang wenigstens in Deutschland normativ und rechtlich bestimmend war.

79  Dies vor allem in ökonomischer Hinsicht; vgl. nur die Darlegungen zum „Parallelismus von Geldwirtschaft und der Schwächung der Hausautorität“ bei Weber (1972), S.  227 f. 80  Vgl. Tyrell (1993).

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Lügen im Alltag Von Robert Hettlage Doubt truth to be a liar! (Hamlet) oder: Es is ned ois wahr, wos d’Leit liang! (Bayrisch)

I. Vorbemerkung In seinem Vortrag über den „Vortrag“ („lecture“) hat Erving Goffman die Frage aufgeworfen, ob ein Redner, der über Witze, Sprechfehler oder ­Theater etc. sprechen will, das Recht oder sogar die Pflicht habe, Witze zu erzählen, Versprecher zu begehen oder als Schauspieler aufzutreten.1 Wie steht es mit dem Reden über die Lüge? Wann geht es um die Lüge, wann um die „Lüge“ in Anführungszeichen? Wann um den Vortrag, wann um die Vortrags-Performance. Offensichtlich handelt es sich um ein Rahmungsproblem in dem Sinn, dass die Grenze zwischen dem Bezugnehmen auf den Gegenstand und dem Gegenstand selbst leicht ins Schwimmen geraten kann. Das kann bis zum klassischen Paradoxon führen, wenn ein Kreter behauptet, alle Kreter würden lügen! (Dieser Falle der Selbstbezüglichkeit entgeht man nur, wenn man ein Metakriterium einführt, das die „Selbstanwendung von Sätzen“ auf sich selbst verbietet.) Ist es überhaupt möglich, sich über die Lüge zu verbreiten, ohne zu lügen? Wenn ich nämlich mit der Feststellung beginnen wollte, „wie wir alle immer schon wissen  …“, riskiere ich gleich zwei Lügen auf einen Schlag. • Die erste Lüge beginnt mit der Verwendung von sog. Absoluta (alle / niemand; überall / nirgends; immer / nie). • Die zweite Lüge beruht in der Verdeckung des eigenen Nichtwissens. Denn „immer“ wenn Wissenschaftler oder andere Zeitgenossen unsicher sind, sagen sie mit dem Brustton der Überzeugung: „wie wir alle wissen  …“, selbstverständlich, zweifellos und anderes mehr. Nicht nur „alle“ wissen es nicht, der Sprecher oder Schreiber ist „immer“ Teil des Problems. Er weiß es meist auch nicht! 1  Goffman

(2005).

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Lassen Sie uns also mit der üblichen Floskel beginnen: Wie wir alle wissen, ist unser Leben voller Lügen! Aber Sie sollten mich in meiner Verunsicherung nicht so alleine lassen. Deswegen frage ich Sie auf den Kopf zu: „Haben Sie heute schon gelogen?“ Aber mal ehrlich! Wenn Sie mit „nein“ antworten, riskieren Sie, heute wenigstens einmal gelogen zu haben, nämlich jetzt. Wenn Sie mit „ja“ antworten, sind Sie diesmal vermutlich ehrlich gewesen und haben nicht gelogen. Aber heute haben Sie schon nicht die Wahrheit gesagt. Das haben Sie immerhin gerade eingeräumt. Halten wir es zum Einstieg also mit Wilhelm Busch: „Auch der beste Mensch muss lügen; bisweilen tut er’s mit Vergnügen!“ Im Folgenden möchte ich mich dieser Problematik in vier Schritten nähern: 1. Zunächst muss geklärt werden, was die Lüge überhaupt ist. 2. Dann geht es darum, verschiedene Lügenarten voneinander zu unterscheiden. 3. Weiterhin müssen wir fragen, wie Lügen im Alltag, also im sozialen Kontext, entstehen  und 4. welche privaten und gesellschaftlichen Einbettungen und Folgen sie haben. An diesen vier Schritten soll klar werden, dass die soziologische Bearbeitung der Lüge nur eine von vielen möglichen Herangehensweisen ist. Sie ist eine bewusst „an-ethische“ Form der Analyse,2 die wissen will, was es mit dem Phänomen als solchem auf sich hat, nicht aber, ob Lüge nicht sein soll, ob sie gut oder schlecht ist. Es gibt literarische, historische, ethnischnormative, künstlerische etc. Betrachtungen des Phänomens. Um all diese geht es hier nicht. Wohl aber um eine sozialphänomenologische Perspektive, die sich unmittelbar aus der Frage nach der Lüge im Alltag eines jeden ergibt. II. Was ist eine Lüge? Folgen wir unserer Alltagsmeinung, dann scheinen wir alle zu wissen, wann wir es mit einer faustdicken Lüge zu tun haben, nämlich dann, wenn einer nicht die Wahrheit sagt. Das klingt einleuchtend, hilft uns aber nicht recht weiter, nicht nur, weil wir dann wissen müssten, was die Wahrheit ist, sondern auch, weil viele andere Fragen offen bleiben. Vier solcher Fragen dienen uns als Hinführung zum Problem: 2  Weber

(1968).



Lügen im Alltag

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1.  So setzen wir voraus, dass Lüge immer auf einer Aussage beruht.3 Das ist aber keineswegs der Fall. Es gibt auch Lügen durch Nicht-Aussagen, seien es Taten, Gesten oder Schweigen. Gestisch lügen wir, wenn wir lachen, obwohl es uns zum Weinen zumute ist. Durch Schweigen lügen wir, wenn wir unsere wahre Meinung durch einen inneren Vorbehalt (reservatio mentalis) verschleiern oder die Kenntnis eines Sachverhalts durch NichtAussage verhüllen. Vor Gericht darf der Angeklagte schweigen. Er darf heute – der Rechtsidee nach – nicht durch Folter zum Reden gebracht werden. Wer mit der Mafia zu tun hat, weiß, dass Schweigen sehr lebenserhaltend wirken kann. Wer das Gesetz der „omertá“, den Ehrenkodex des Schweigens, nicht befolgt, also die Maske der Lüge nicht aufsetzt, hat bald nichts mehr zu lachen. Am besten ist es demnach für die Menschen immer noch gewesen, wenn sie nichts gesehen, nichts gehört, nichts gesagt haben. Dann können sie 100 Jahre alt werden, wie ein sizilianisches Sprichwort weiß. Schweigen und Lügen sind aber nicht nur die Waffen der Feigen und Mutlosen, sondern auch die der Ohnmächtigen und Unterdrückten. Lüge, so schreibt Ludwig Marcuse4, ist als Aussage oder Nicht-Aussage auch die „Defensive der Unbewaffneten“, die ebenso „wie der Tintenfisch, eine dunkle Flüssigkeit erzeugen“, um sich dem Verfolger zu entziehen. Wir haben also den Begriff „Aussage“ in einem weiten Verständnis zu nehmen. 2.  Unsere nächste Alltagsvorstellung ist die Überzeugung, dass es sich bei Lügen einfach um Falschaussagen oder Fehlkommunikationen handeln würde. Auch das ist zu kurz gegriffen. Nicht jede Falschaussage ist eine Lüge. Es gibt auch den Irrtum. Wer falsche Informationen gibt (z. B. eine unrichtige Beschreibung eines Weges), sagt zwar Unwahres, ist aber kein Lügner. Wer es nicht besser weiß, mag meinen und sagen, dass die Sonne hinter dem Horizont versinkt. Seine Aussage wird dann möglicherweise zur Lüge, wenn er sich (jenseits der Metaphorik der Sprechweise) gegen die Evidenz guter Gründe, also hier der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, zur Wehr setzt. Irrtümer und Illusionen sind natürlich tausendfach möglich. Auch gibt es feste Überzeugungen, den ehrlichen Kampf um das bessere Argument, die kreative Fiktion usw. Sie erfolgen aber im guten Glauben (bona fide). Sie setzen voraus, dass man aufrichtig von der Richtigkeit der Aussage oder den Möglichkeiten zutreffender Wirklichkeitskonstruktion überzeugt ist. Manchmal haben sie etwas mit Torheit zu tun. Manchmal ist es auch mit der Aufrichtigkeit (Wahrhaftigkeit) nicht so weit her. 3  Vgl.

Shibles (2000), S.  6 ff. (1981), S.  132.

4  Marcuse

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Lügen hingegen entstehen, wenn sich im doppelten Sinn Falschheit einschleicht: Falschaussage (Falschheit 1) und Verfälschungswille (Falschheit 2) des Aussagenden. Die Falschheiten im letzteren Sinn sind keineswegs einfältig, sondern oft sehr intelligente Konstrukte. Sie ergeben sich aus der Differenz zwischen Reden / Schweigen, Sagen / Meinen, Meinen / Handeln, Handeln / anders (nicht) Handeln. „Gute“, d. h. erfolgreiche Lügen, entbehren deshalb nicht der strategischen Raffiniertheit. 3.  Damit scheinen wir der Sache schon ganz nahe gekommen zu sein. Lügen wären – so gesehen – Falschhandlungen mit Verdeckungscharakter. Aber auch das genügt als Definitionskriterium noch nicht. Ein Mafioso betrachtet es als ehrenvoll, in seinem Metier ein exzellenter Könner zu sein. Als solcher genießt er auch bei der Polizei einen gewissen Respekt. Aber ein Schurke bleibt ein Schurke, auch wenn er ein echter, authentischer Schurke ist.5 Er ist das, weil er bewusst täuschen will. Oft ist es aber ganz schwer zu entscheiden, ob die Verhüllung der Wahrheit aus professioneller Kaltblütigkeit, Angst, Trägheit, Vorsicht, Höflichkeit, Mitgefühl, Liebe oder aus Rache erfolgte. Wir alle lügen lustvoll mit Hilfe des Friseurs und des Schneiders – und in späteren Jahren auch mit Hilfe des Zahnarztes oder immer häufiger dank der Künste des Schönheitschirurgen. Die Beweggründe sind vielfältig und meist anerkennenswert. Wir wollen schließlich gefallen und zu diesem Zweck die Welt fälschen oder das Schicksal korrigieren. „Das Recht der Lüge geht so weit wie die Not.“6 Es gibt aber auch die Lüge jenseits von Notlagen, Ohnmacht und Sympathie: die Lüge um ihrer selbst willen. Hier kippt der Wunsch, einen guten Eindruck machen zu wollen, leicht in schädigende Irreführung, Häme, strategische Vorteilsnahme o. ä. um. Dem vergnüglichen Spiel stehen wir mit Wohlwollen gegenüber, der gezielten, gewalttätigen Täuschung weniger. Unklar bleibt zudem, ob die Täuschung bewusst, halb- oder unbewusst erfolgt, ob sie sich nur auf den anderen richtet, oder ob ich mich nicht auch selbst täuschen will. Wer inszeniert sich nicht gern – und geht dabei seiner Inszenierung auf den Leim. Goffman war ein Meister der Beobachtung solcher Verhedderungen in die eigenen raffinierten Planungen. Die Abgründe der Selbsterkenntnis haben schon immer Angst verbreitet. Manchmal sind die Grenzen der Täuschung tatsächlich schwer zu ziehen, da jede Aussage zugleich immer auch eine rückbezügliche „Einsage“ ist, wie Paul Watzlawick u. a.7 festgestellt haben. Jede Selbstdarstellung trägt auch den Aspekt der Selbstenthüllung in sich.8 5  Comte-Sponville

(1998), S.  231. (1981), S.  134. 7  Watzlawick / Beavin / Jackson (2000). 8  Schulz von Thun (1998), S.  26 ff. 6  Marcuse



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4.  Es kommt zu diesem, schon ganz farbigen Panorama von Verdrehungen noch ein weiteres Moment hinzu: Von Lüge sprechen wir immer dann, wenn die Falschaussagen oder -handlungen mit Täuschungsintention einen asymmetrischen Charakter besitzen. Zur Lüge gehört nicht nur, dass man absichtlich falsche Fährten legt. Ein Publikum, das in eine Theateraufführung einwilligt, wird den begabten Schauspieler deswegen nicht für einen Lügner halten. Eine lügnerische Tarnung ist immer dann gegeben und als solche erfolgreich, wenn der Täter seine Absichten vorher nicht ankündigt, sein Opfer im Unklaren lässt oder Verwirrung auslöst. Dass unbedingt jeweils ein Schädigungswille vorliegen muss, ist nicht zwingend. Man kann beispielsweise ins Theater gehen und wissen, dass jetzt „Theater“ stattfindet, den Schauspielern aber doch auf den Leim gehen, wenn sie sich unerwartet unter das Publikum gemischt haben und „Schauspieler-Beschimpfung“ mimen. Wir müssen uns somit unter der Täuschung eine (soziale) Beziehung vorstellen, die zwei Seiten in einer Schieflage miteinander verbindet. Auf der einen Seite steht ein „Täter“, der willentlich einen Eindruck erzeugt oder aufrechterhalten will, den er selbst für falsch hält. Auf der anderen Seite haben wir das Opfer, das dieser Inszenierung ausgesetzt ist, dessen Falschheitsgehalt jedoch momentan nicht durchschauen kann (oder will). Man kann die Täuschung nur durch Verheimlichung(slüge), Verfälschung (slüge) oder durch beides gewinnen. Der Lügner lässt Informationen weg oder verdreht die Aussage so, dass der Belogene von dem abgelenkt wird, was es zu verheimlichen gilt. Das kann kurioserweise auch durch die Wahrheit geschehen, die so übertrieben (falsch) dargestellt wird, dass die Belogenen das Gegenteil dessen annehmen, was gesagt wurde: „Schau doch mich an, ich habe alle Macht über die Regierung“, würde eher von den realen Einflusschancen eines Mitglieds der Entscheidungseliten ablenken. Alle Machtanalysen, besonders die Befragungen der Eliten nach ihrem tatsächlichen Einfluss, lassen solche „Spiele“ mit schöner Regelmäßigkeit erkennen. Das „Opfer“ wird dann belogen, weil und in dem Maße, wie es – im Gegensatz zum Lügner – an die Wahrheit der Aussage, Handlung oder Darstellung glaubt (oder bis auf weiteres glauben muss). Lüge ist nur möglich, wenn von einer Seite aus Wahrheit unterstellt wird. Insofern ist jede Lüge ein „Parasit der Wahrheit“.9 Um es noch etwas komplizierter zu machen: Es ist auch eine Spaltung des Lügners oder des Belogenen in jeweils zwei Seiten möglich, so dass ein „wissentliches Unwissen“ und ein Zusammenspiel zwischen Lügner und 9  Ryle

(1964).

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Belogenem („collusive lying“10) vorstellbar ist. Wer wüsste nicht um die raffinierten Einwilligungen in die Lüge, wenn das Drama der Liebe aufgeführt wird. Hier wird die Entlastungsfunktion (oder Präventivwirkung) des Nichtwissens in Anspruch genommen.11 Auch im Drama der Angst werden solche Rollen verteilt. Wir kommen also zu folgender Definition: Lüge ist die systematische Produktion von Schein. Das Paradox des Lügners ist, dass er (die) Wahrheit beansprucht (signalisiert etc.), aber nicht meint. Er wirft ein Netz von selbstgesponnenen Bedeutungen (über Wirklichkeiten) aus, um andere darin zu fangen. Darin kann er sich aber auch selbst verheddern, nämlich dann, wenn Lügen zu „kurze Beine“ haben. Meist ist es sein schlechtes Gedächtnis, das dem Lügner ein Bein stellt. Manch ein Don Juan versucht, sich dagegen zu wappnen, indem er alle seine Freundinnen mit dem gleichen Kosenamen anredet. Sicher kann er sich mit dieser Taktik natürlich nicht sein. III. Die Lügenanfälligkeit des Alltags Als nächstes wollen wir uns fragen, warum die Lebenswelt des Alltags so empfänglich für die systematische Produktion von Schein (also für die Lüge) ist. Wir wissen meist voneinander, dass wir in der einen oder anderen Form Lügenexperten sind. Das Geschäft der Lüge ist uns bekannt und vertraut. Das hängt damit zusammen, dass die klassische, normative Betrachtung von Wahrhaftigkeit und Wahrheit der Realität des Alltags wenig entspricht. Jeder hat vielfältige Erfahrungen dazu, dass es oft unmöglich ist, immer ehrlich zu sein, z. B. dann, wenn es darum geht, die Wahrheit zu sagen oder die Gefühle der Mitmenschen nicht zu verletzen. Wir haben Erfahrung auch darin, dass wir in den kleinen Begegnungen des Alltags („face to face“) unseren Umgang mit Informationen bewusst kontrollieren. Es ist uns aus manchen Beispielen bekannt, dass Vorgesetzte ihre missliebigen Mitarbeiter „wegloben“, dass Vortragsredner selten über ihre Inkompetenzgefühle reden, dass Partner sich gegenseitig dadurch schützen, dass sie sich nicht die (ganze) Wahrheit (über ihr Liebesleben, über ihre politische Meinung, über ihre Ängste) sagen. Wir wissen auch, dass „small talk“ auf Partys kein Exempel für die Mitteilung wahrer Informationen ist, sondern der kommunikativen Gattung – Klatsch, Gerüchte, Übertreibung, unverbindliches Geplätscher – angehört.12 10  Barnes

(1996). Popitz (1968). 12  Bergmann (1987). 11  Vgl.



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Es ist sicher nicht falsch zu behaupten, dass es gar keine lügenfreien Lebensbereiche gibt. Das überrascht uns wenig. Denn unser Alltagswissen, also das, was wir als fraglos und selbstverständlich erachten und mit anderen teilen,13 kalkuliert die Allgegenwart von Lüge schon ein. Zu dieser Kompetenz gehört auch das Wissen, dass wir alle ganz unterschiedliche Expertisen im Lügen besitzen. Die einen sind notorische Lügner, die anderen versuchen, wenigstens im Allgemeinen, eine „ehrliche Haut“ zu sein. Trotzdem: Einige wissen (und müssen wissen), wie man ein Schrottauto als „fast neu“ verkauft, andere kaschieren ihre Selbstzweifel durch die „große Bugwelle“ des Imponiergehabes, wieder andere kennen die Art und Weise, wie man peinliche Begegnungen in hocherfreuliche Ereignisse umdeutet. Schließlich zwingen sich nicht wenige Menschen dazu, in allen Lebenslagen „positiv“ zu denken. Sie reden sich die Welt schön und versuchen krampfhaft, immer „nur nach vorne“ zu blicken. Die Kompetenzen sind unterschiedlich, aber das „Menschlich-Allzumenschliche“ in seiner ganzen Blütenpracht war nicht nur Shakespeare laut seinem Wahlspruch vertraut. Kein Erwachsener ist hier ohne einschlägige Erfahrungen. Jeder hat seinen Wissensvorrat. Auch das Lügenwissen ist abgesunkenes Wissen. Wir wissen dass, aber nicht genau wie es funktioniert. Um dies soziologisch klar zu machen, werfen wir einen Blick auf die Theorie von Erving Goffman: 1. Das Goffman’sche Interaktionsmodell

In all seinen Publikationen hat er sich mit dem mikrosoziologischen Verständnis von Interaktionen beschäftigt.14 Sein Einstieg scheint ganz banal. In Begegnungen treffen mindestens zwei Personen – besser: zwei komplexe soziale Systeme – aufeinander, deren Absichten und Verhaltensweisen nicht von Anfang an (vermutlich sogar nie vollständig) durchschaubar sind. Die „face to face“-Begegnung als solche (auf der Straße, im Vortrag, im Kino) lässt sich aber nur aufrechterhalten, wenn beide Personen wenigstens punktuell eine gemeinsame Realität schaffen. a)  Menschen in Begegnungen müssen sich zeigen und darstellen, also miteinander Kontakt aufnehmen, sich Beziehungszeichen (der Freundlichkeit etc.) geben, sich in ihrer Rede gegenseitig abstimmen, sich die gegenseitige Position anzeigen usw. Man hat das den Interaktions-, Kundgabeund Interpretationszwang genannt.15 Ein Beispiel: Es wäre für alle TeilnehSchütz (1974). Goffman (1967; 1973; 1977; 1981; 1982; 1986). 15  Srubar (1994), S.  100. 13  Vgl. 14  Vgl.

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mer einer Situation fatal, wenn sie eine Einladung zu einem Abendessen annähmen, zugleich aber jegliches Gespräch mit den Anwesenden der Abendgesellschaft verweigern würden. Sie sind also zum (situationstypischen) Engagement verpflichtet und müssen dazu ein bestimmtes Ritual gesitteter Begegnung, genannt „Benehmen“, beherrschen. Unvermeidlich und mit hoher normativer Aufladung versehen, sind „Teilnehmer“ dabei in irgendeine Art von Kommunikation – des Begrüßens, der Zugänglichkeit, der Aufmerksamkeit, des Redewechsels – verwickelt. b)  In sozialen Situationen müssen Menschen etwas von sich preisgeben, was anderen erlaubt, sie zu verorten. Dabei wollen sie sich den anderen aber nicht vollständig ausliefern. Deshalb üben sie immer eine gewisse Informationskontrolle aus. Auf diese Weise ergibt sich ein kleines Interaktionsmodell: Auf der einen Seite steht jemand, der Informationen von anderen erhalten will. Umgekehrt sind es die letzteren, die sich auf dieser Bühne die Kontrolle über ihre „Kundgabe“ nicht nehmen lassen wollen. Die Folge ist bedeutsam. Denn mit einer gewissen Zwangsläufigkeit treten sie in einen schier endlosen Interaktionsprozess von Kundgabe und Verhüllung, von Verheimlichung und Demaskierung ein. Das macht Begegnungen so zweideutig.16 c)  Störungsfrei gelingen Begegnungen nur, wenn die jeweiligen Partner ihr Gesicht („face“ und Fassade17) bewahren können, ihr Image nicht gefährden und wenn Diskrepanzen zur erwarteten Normalität unter den Tisch gekehrt werden. Da beide Seiten unter demselben Darstellungs- und Handlungsdruck stehen, ergibt sich daraus ein ständiger Interpretationszwang. Denn in jeder Situation müssen wir die Frage stellen: „Was geht hier eigentlich vor sich?“ Wer verbreitet richtige, wer falsche Informationen, wer hält wichtige Informationen zurück, wer verfälscht sie, um ein bestimmtes Bild von sich zu erzeugen? In vielen Fällen trauen wir uns zu, die Sache „richtig“ zu machen. Wir „wissen“, wie man sich auf der Straße „richtig“ begegnet. Wir verlassen uns auf unsere Lebenserfahrung und unsere Erziehung. Mit Hilfe dieses Hintergrundwissens navigieren wir uns durch die verschiedensten Alltagssituationen hindurch. Mit anderen Worten: Unsere Handlungen sind mit einer Reihe von Ordnungshinweisen eingerahmt, so dass der Alltag nicht ständig entgleist. d)  Auf der anderen Seite wissen wir aber auch, dass solche Ordnungsrahmungen für allerlei Veränderungen anfällig sind. Denn unsere Begegnungen sind jederzeit verwundbar: So kann ein einziges falsches Wort eine ernste Rede lächerlich machen, spaßhaftes Parlieren kann aber auch schnell in Ernst umschlagen. Wenn Körperdistanzen nicht eingehalten werden, kann 16  Goffman 17  Goffman

(1977), S.  300. (1985), S.  23 ff.; Reiger (1997), S.  20 ff.



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das beim Gegenüber Unwohlsein und Befremden auslösen u. a. m. Der Rahmen wurde nicht eingehalten, so dass die Begegnung umgerahmt wird. Die Situation ist somit beinahe unmerklich „umgekippt“. Goffman unterscheidet zwei Arten solcher Rahmungsänderungen: die Modulation und die Täuschung: (1) Modulationen sind solche Konventionen, die mit Wissen der Teilnehmer in etwas anderes umgewandelt werden. Ein Beispiel: Wir alle begrüßen uns mit der Formel: „Wie geht’s?“ Gemeint ist nicht wirklich, wie es dem anderen gesundheitlich, beruflich, familiär geht. Wir fragen selten nach, worauf sich die Frage eigentlich bezieht. Denn es ist uns von Anfang an klar, dass es sich dabei nur um einen Eröffnungszug handelt, der andere Züge ermöglicht und die Begegnung weiterlaufen lässt. Die Veränderung der Frage: „Wie geht’s?“ in ein Begegnungsritual ist also transparent. Sie stellt somit kein Risiko dar. Um diesen Tatbestand zu verdeutlichen, hat Garfinkel18 seine berühmten „Krisenexperimente“ angestellt, die solche, für sicher gehaltenen Alltagsunterstellungen über den Haufen werfen. Sie sind aber als künstliche Arrangements von den Betroffenen bald erkennbar. (2) Das ist anders bei der zweiten Rahmungsform, der Täuschung. Sie ist nicht symmetrisch. Hier haben nicht mehr alle Teilnehmer die gleiche Vorstellung von dem, was eigentlich vor sich geht. Die Beteiligten spalten sich in zwei Gruppen auf: in die Wissenden und die Nicht-Wissenden, die Täuschenden und die Täuschbaren. Letztere können bloßgestellt und hereingelegt werden. Und weil das häufig so ist, sind die Begegnungen (d. h. die Situationsdefinitionen) der Menschen potentiell brüchig. Die einen können sich als inkompetent erweisen; sie stehen „neben den Schuhen“. Für sie besteht ein Verstehensrisiko. Für die Täuschenden besteht hingegen ein Entdeckungsrisiko. 2. Die Lügenanfälligkeit der Lebenswelt

Täuschungen sind allerdings sehr schwer aufzudecken, weil im Umgang miteinander ein Lügentabu herrscht. Wahrheit soll sein! Wenn jemand sein Lügenhandwerk also versteht, dann haben seine Lügen ziemlich „lange Beine“, ja sogar so lange, dass die gut gemachte Lüge – gesellschaftlich gesehen – die Wahrheit wird. Dabei sind Schädigungs- und Schutzaspekte zu unterscheiden. Beide greifen stark ineinander: a)  Dass Schädigungslügen „lange Beine“ haben können, ist eine irritierende Erfahrung. Aber sie hat ihren Grund darin, dass alles, was Gewissheit 18  Garfinkel

(1967).

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(Vertrauen) erzeugt, grundsätzlich auch der Täuschung dienen kann. Die Absichten, Strategien und Informationen liegen nicht offen zutage. Wir („das Auditorium“) kennen die „Innenseite des Ausdrucks“ oder die Hinterbühne (backstage) des Gegenübers nicht, auf denen die Täuschung fabriziert wird. Wir müssen uns mit der Vorderbühne zufrieden geben und aus der Interaktionssituation erschließen, inwiefern das Wahrgenommene und die Organisation des Wahrgenommenen übereinstimmen.19 Dazu schreibt Simmel20 in seiner Abhandlung über den Schauspieler: „Nicht dass der Schauspieler auf der Bühne ein König ist und im Privatleben ein armer Lump, macht jenes (Schauspiel, R.  H.) zu einer Lüge, denn in seiner aktuellen Funktion als Künstler ist er ein König, ein ‚wahrer‘ – aber vielleicht deshalb kein wirklicher – König. Das Gefühl der Unwahrheit entsteht nur bei dem schlechten Schauspieler, der entweder etwas von seiner Wirklichkeit als armer Lump innerhalb seiner Königsrolle anklingen lässt oder der so extrem realistisch spielt, dass er (das) in die Sphäre der Wirklichkeit trägt; da er aber in dieser allerdings ein armer Lump ist, so entsteht jetzt die peinliche Konkurrenz zweier, einander Lügen strafender Vorstellungen des gleichen Niveaus, zu der es nicht kommen kann, wenn das schauspielerische Bild uns in der wirklichkeitsfremden Sphäre der Kunst festhält.“ Für die Deutungsarbeit muss der potentielle Lügner (bzw. der Handelnde) erst seine Informationen übermitteln, wir jedoch wissen nicht, ob der die richtigen, die ganzen oder die verdrehten Informationen bereitstellt. Das Bedeutsame an der Lügenkonstellation ist nicht so sehr, dass der Belogene über die Sache eine falsche Vorstellung bekommt (das wäre nur ein Irrtum), sondern dass er über die Intention der lügenden Person „in Täuschung gehalten“ wird. Nur so gelingt den Lügnern, sich erfolgreich auf ihr „schlechtes Gedächtnis“ zu berufen, wenn sie auch zur Aufklärung einer Sache beitragen könnten. b)  Auf der anderen Seite wird man zugeben müssen, dass es nicht nur Benachteiligungs-, sondern auch Selbstschutzinteressen des „Lügners“ gibt. Denn die „Darstellungsnatur“ unseres Selbst (oder unserer Identität) bringt es mit sich, dass wir nicht nur unsere Kompetenzen, sondern auch Unvorteilhaftes, Riskantes, Unprofessionelles oder sonst wie „Diskreditierbares“ nach außen dringen lassen, wenn wir nicht aufpassen. Dazu gehören u. a. alle inneren Haltungen, die im Widerspruch zu äußeren Aufführungen stehen. Nicht alle unsere Eigenschaften, Gedanken und Gefühle sind nämlich solcher Art, dass sie ungeschützt in die Öffentlichkeit getragen werden können. Dadurch kommt es auch in dieser Hinsicht zu einer Spaltung zwischen innerer Einstellung und Außenwirkung, die als planmäßige Vernebe19  Goffman 20  Simmel

(1977), S.  18. (2001), S.  311.



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lung und Irreführung (anderer) über den „wahren Sachverhalt“ gedeutet werden muss. Je größer das Risiko der Aufdeckung, desto stärker die Bemühungen, sich enttäuschungssicher zu maskieren. Unsere ganze Persönlichkeit steht somit unter der Doppelperspektive von Darstellung und Verhüllung (Maske). In diesem Sinn sind Masken normal. Sie gehören zum modernen Umgang des Subjekts mit Identitätsgefährdungen, Täuschungsund Entfremdungswirkungen. In archaischen Kulturen hingegen sind „Masken nicht etwas, mit dem der Mensch agiert, vielmehr ist es die Maske, die agiert. Diese agierende Maske gilt weitgehend nicht als bloße Repräsentanz eines jenseitigen Wesens; für die Betrachter ist sie häufig genug dieses Wesen.“21 Masken sind jedenfalls nicht zwangsläufig etwas rein Äußerliches, sondern stehen in einem engen Verhältnis zur Artikulation des Innenraums. c)  Soziologisch gewendet, kann man das auf folgenden Nenner bringen: Die Orientierungsrahmung des Alltagslebens ist prinzipiell nicht gesichert, sondern gefährdet. Keiner kann sich im Alltag dem Handeln entziehen (vgl. den Interaktionszwang), man muss sich deshalb auf seine Deutungen verlassen und sich dem Verfälschungsrisiko stellen. Folglich ist der Argwohn ins soziale Leben eingebaut. Greifen wir zum besseren Verständnis nochmals auf unsere Anfangsüberlegung zurück: „Jeder“ weiß, dass er ein potentieller Lügner, aber auch ein potentiell Getäuschter ist. Aus diesem Grund sind wir im Alltag nicht nur Lügner, sondern auch gewiefte Lügendetektoren. Wir wollen und müssen manchmal die Wahrheit wissen. Deswegen achten wir besonders aufmerksam auf alle kleinen Beziehungszeichen, die uns Aufschluss über die „wahre“ Lage zu geben versprechen: Ein kleines Erröten, ein Zucken der Mundwinkel, ein Versprecher wecken unsere Aufmerksamkeit. So versuchen wir, dem anderen etwas abzuringen, was er uns willentlich nicht herzugeben bereit ist („signs given off“22). Dieses Hin und Her ist die Grundbedingung unseres sozialen Verkehrs. Er befindet sich in einer Pendelbewegung zwischen Maskierung (Ablenkung, Verdrehung, Vertuschung als Täuschungsversuche) und Demaskierung. (Willentliche) Informationsverfälschungen maskieren die Wahrheit. Sie sind Geheimnisse, die von der anderen Seite offen gelegt werden wollen, um ein mögliches Lügengebilde wieder zu zerstören. Noch im 18. Jahrhundert verschwiegen die Regierungen die wahre Lage der Staatsschulden, die militärische Stärke etc. Diese ängstliche Heimlichkeit erzeugte zwangsläufig die Gegenbewegung des Verrats und der Spionage. Denn nun hatten die Gesandten anderer Staaten nichts Besseres zu tun, als diese Staatsgeheimnisse auszukundschaften, indem sie 21  Wimmer / Schäfer 22  Goffman

(2000), S.  20. (1985), S.  6 ff.

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diejenigen zum Plaudern brachten, die etwas wussten oder zu wissen vorgaben.23 Es scheint allerdings so, als hätte jedes menschliche Zusammenleben eine bestimmte Geheimnissphäre nötig. d)  Wer nämlich im lebensweltlichen Vollzug immer und überall nur auf der Lauer liegt, um Geheimnisse, Unstimmigkeiten, Fallen, Halbwahrheiten und Vernebelungen aufzuspüren, der kommt selbst gar nicht mehr zum Handeln. Die Suche nach einem jeweils neuen Gleichgewicht und nach Beruhigung macht einen wesentlichen Teil unseres Verhaltens im Alltag aus. So greifen Lügen und Einwilligungen in die Lüge ineinander.24 Der Lügner tut so, „als ob“ er die Wahrheit sagen würde. Der Belogene tut vielfach so, „als ob“ der kommunikative Kontext fraglos gegeben wäre. Schütz nennt das die notwendige „Idealisierung“ der Alltagsroutinen. Was die Menschen dann für real halten, ist nach dem „Thomas-Prinzip“ in den gesellschaft­ lichen Folgen real. Es bestimmt „das Verhalten der Menschen mit derselben Notwendigkeit wie physische Kräfte.“25 Genau dieser Zusammenhang eröffnet dem Lügner alle Chancen. e)  Wenn die Situationen nicht so unter die Haut gehen, weil sie nicht unter so harten Vollzugszwängen stehen, wie es bei unseren „face to face“Begegnungen der Fall ist, sind wir jedoch nicht so schnell ruhig zu stellen. Hier sind die Distanzierungsmöglichkeiten und damit die Reflexionsspanne größer. Deshalb sind die Menschen dann auch vorsichtiger mit Idealisierungen. Auf die Frage, bei welchen Berufs- und Personengruppen man darauf vertrauen würde, dass sie die Wahrheit sagen, antworten in Deutschland26 mit „ja“: • Ärzte, Pfarrer, Richter

knapp 50%

• Lehrer, Nachrichtensprecher, Wissenschaftler

rd. 25%

• Meinungsforscher

14%

• Gewerkschaftsfunktionäre, Unternehmer, Politiker, Regierungsmitglieder

knapp 4%

• Keinem davon

17%

Die Menschen trauen sich also durchaus ein Urteil über die Positionen und Felder zu, in denen mal weniger, mal mehr gelogen wird. Dass jedoch ein generalisiertes Vertrauen herrschen würde, kann nicht behauptet werden, auch Ärzten gegenüber nicht, die mit 51% Zustimmung die Spitze der Vertrauenspyramide bilden. 23  Simmel

(1993), S.  322 f. hierzu Ortmann (2006), S.  29 ff. 25  Durkheim (1984), S.  312. 26  Institut für Demoskopie Allensbach (2006). 24  Vgl.



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IV. Variationen im Feld der Lüge Nach dem bisher Gesagten erstaunt es wenig, dass wir im Leben ganz unterschiedliche Lügen und Lügner antreffen. Nicht nur der Ausdruck der Lüge kann ganz verschieden sein, denn er kann im Reden, Schreiben und in der Körpersprache liegen. Er kann die Form des Behauptens, Meinens, Andeutens, Feststellens, Benehmens, Wünschens annehmen. Auch lässt sich der Grad der Bewusstheit, Freiwilligkeit und Wohlüberlegtheit unterscheiden (z. B. die sog. „Dienstlüge“ der telefonischen Verleugnung eines anderen: „Mein Chef ist gerade nicht im Büro“). Wenn Lüge der Ausdruck von etwas anderem ist als dem, was wir selbst glauben, dann kann das „Andere“ das Gegenteil des Ausgedrückten sein, die Differenz kann aber auch im Mehr oder Weniger bestehen. Auch unsere Überzeugung kann aufgeschlüsselt werden in „denken“, „zu sich selbst ­sagen“, „wissen“, „fühlen“, „beabsichtigen“ usw. Lügnerisch, inkonsistent oder schon dement wäre ich, wenn ich das, was ich heute zur Lüge vortrage und daher auch zu mir selbst sage, morgen ganz anders schreiben würde. Im Verständnis kämen wir aber nicht recht weiter, würden wir nur Lügenmuster aufzählen, also Spaßlügen, pathologische Lügen, Lebenslügen, Angstlügen, Halbwahrheiten usw.27 Ich möchte deshalb den Versuch wagen, Lügen nach ihren primären Intentionen zu klassifizieren und dazu zwei Achsen bilden: Auf der horizontalen Achse tragen wir den Grad des Selbstoder Fremdbezugs ab (Betroffenheitsachse), auf der vertikalen Achse haben wir es mit der möglichen Schädigungsabsicht zu tun. Sie reicht von der Phantasie bis hin zur krassen Ausnutzungs- und Verletzungsabsicht. Beide Achsen bilden ein Fadenkreuz, in dem wir eine Vielfalt von Lügenphänomenen einordnen können. Dadurch können wir eine Grobeinteilung in Phantasielügen, Vermeidungs- oder Schutzlügen und Übervorteilungs- oder Schädigungslügen vornehmen. 1.  Phantasielügen sind Spaß- und Spiellügen, wie sie im Kinderspiel (oder in manchen Kartenspielen) vorkommen. Phantasien haben oft einen dominanten Selbstbezug, wie sich am Jägerlatein zeigen lässt. Hier steht das übertriebene „Eindrucksmanagement“28 im Vordergrund. Bei der Angstlüge ist es die Entlastung von einer Dilemmasituation. Noch stärker wächst der Fremdbezug an, wenn man sich den Bereich der Fiktionen, der fingierten Realitäten und ihrer Erzähltradition, vornimmt. Besonders weitreichend sind die Fiktionen im Recht (z. B. die Unterstellung eines normativ aussagefähigen Rechtsbewusstseins des „Mannes auf der Straße“). Dasselbe gilt für die 27  Rechtmann 28  Goffman

(1979), 5. Kap. (1985); zur Übertragung auf Kollektiva vgl. Hettlage (1997), S.  7 ff.

Quelle: Eigene Darstellung.

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Politik (z. B. der „souveräne“ Wähler) oder die Wirtschaftstheorie (der „souveräne“ Kunde). Alle Modellbildungen haben notwendigerweise einen solchen fiktiven Zug, denn sie können ja nur stark vereinfachende Kartierungen einer überkomplexen Wirklichkeit sein. Wollen wir Baudrillard29 folgen, dann sind wir durch die modernen Medien schon überwiegend in einer Welt der Hyperzeichen und Metasymbolisierungen angelangt. In ihr können Realität und vermittelte „Realität“, Begebenheit und vorgetäuschte Wirklichkeit kaum noch auseinandergehalten werden. 2.  Höflichkeitslügen sind nicht mehr dem Sektor der Phantasie zuzuordnen, sondern sind überwiegend Schutz- und Vermeidungslügen. Hier wird die latente Funktion des Lügens noch klarer. Takt, das bewusste Übersehen von Peinlichkeiten und Entgleisungen, schützt mich und den anderen. Notlügen, die „white lies“, mit welchen der Arzt den todkranken Patienten abspeist, schützt ersteren zwar im Moment vor einer unangenehmen Konfrontation mit den harten Tatsachen einer Begegnung, nützt aber dem Krebspatienten, der nur noch drei Monate zu leben hat, nicht wirklich. Im Gegenteil! Er wird um sein Recht auf wahre Information und seine Chance, sein Leben bilanzieren zu können, betrogen. Jemanden schmeichelnd umgarnen, mag auch einen Selbstbezug haben, weil man sich so im guten Licht darstellen kann. Das Ergebnis kann aber die versuchte Täuschung des anderen über meine wahren Fähigkeiten sein. Personalchefs kennen das „Sich-selbst-verbiegende-Bemühen“ um den „richtigen Auftritt“ seitens eines Kandidaten aus zahlreichen Vorstellungsgesprächen. Schutz- und Vermeidungslügen mit überwiegendem Selbstbezug sind solche, die mit innerseelischen Verdrängungen, Verneinungen und Verleugnungen zu tun haben und vielleicht bis in die Lügenpathologie hineinreichen. Lebenslügen wären auf dieser Ebene anzusiedeln. Illusionen und Wunschdenken (wie es in manchen Utopien der Fall ist) sind aber auch gesellschaftliche Phänomene, haben also eine starke „andermenschliche“ Orientierung.30 Sie können gravierende Folgen haben, denn: „qui veut l’ange, fait la bête“.31 3.  Übervorteilungslügen schließlich sind solche, deren Fälschungscharakter („fabrication“) darauf aus ist, den anderen zu schädigen, zu verletzen, ihn absichtlich in einen Irrtum hineinzulocken, damit man dessen Gutgläubigkeit zu eigenen Zwecken ausnützen kann. Hierunter würde alles fallen, was mit Verdrehung, Verstellung, Heuchelei und Vertrauensmissbrauch zu 29  Baudrillard

(1976). (1928), S.  18. 31  Pascal (1962), S.  295. 30  Geiger

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tun hat. Immer stärker wird dabei der potentiell schädigende Fremdbezug, wenn man an manche Werbepraktiken denkt, die den Nutzen für den Käufer zwar anpreisen, aber nicht im Sinn haben und auch nicht verschaffen können. Ganz deutlich wird eine solche vernebelnde Schädigungstendenz in der Diplomatie, der statistischen Fälschung, der Ideologie, der Propaganda, der Parteilichkeit, dem Meineid, der Schutzbehauptung, der Korruption. Diese Sachverhalte werden meist über komplexe Strategien (und viele Mitspieler) hergestellt, die aber fast immer mit einer Lüge im genannten Sinn beginnen. So verfälschen diejenigen, die sich im Radsport dopen, die allgemeine Unterstellung, dass es im Leistungssport auf natürliche Leistungsdifferenzen ankäme. Korrupte Praktiken der Auftragsvergabe täuschen die ehrlichen Anbieter darin, dass diese der Auffassung sein können, an einer Ausschreibung teilzunehmen, bei der das bessere oder billigere Angebot zum Zug käme. Kartellartige Absprachen täuschen einen Preiswettbewerb vor, sprechen sich aber zu Lasten und im Unwissen des Verbrauchers ab, einen solchen Wettbewerb gerade nicht stattfinden zu lassen. All das sind nicht mehr Notlügen, Höflichkeitslügen oder Angstlügen, über die man verständnisvoll hinwegsehen könnte, sondern gravierende „black lies“, die nach Möglichkeit juristisch geahndet werden, aber nur schwer nachweisbar sind. Andere – wie die Propaganda- und Herrschaftslügen der Diktatoren – sind zwar nachweisbar, aber meist nicht zu ahnden, wenn einem sein eigenes Leben lieb ist. Auf das allgemeine Heldentum ist wenig Verlass. Andere „hegemonic lies“, wie etwa der Versuch, die Definitionsmacht („Deutungshoheit“) über das Leben und Denken anderer zu erlangen, mögen zwar nicht tödlich sein, können aber dennoch zerstörerisch wirken. Das Ergebnis dieser Blütenlese zu kleinen und großen Lügengebäuden lässt uns doch einigermaßen stutzig zurück. Es führt uns vor Augen, dass das Thema „Lüge“ weit über den kleinen Interaktionsalltag hinausreicht. Sich mit dem Lügen zu beschäftigen, hat also wenig mit Exotik zu tun. Vielmehr wird mit diesem Phänomen ein weites gesellschaftliches Feld abgedeckt, in dem es nicht um Spiel und Spaß, sondern um ganz andere, handfeste Interessen geht. Und diese sind durchaus nicht immer harmlos. Lügen, Intrigen, Skandale, Hinterlist und Fallenstellerei führen vielmehr mitten in bedeutsame gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge hinein. V. Leben und Lügen im gesamtgesellschaftlichen Kontext Bisher haben wir drei Argumentationsfelder herausgearbeitet: (1) Lüge reibt sich an einem Wahrheitsanspruch. Sie funktioniert nur, weil ein solcher Anspruch erhoben wird. Wer keine Wahrheit (mehr) unterstellt, kann auch nicht lügen oder belogen werden.



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(2) Lügen sind ein durchaus erwartbares soziales Phänomen, das deswegen – soziologisch gesehen – wie alle Abweichung von der Norm eine „normale“ Realität ist. Hier liegt der Unterschied zwischen dem soziologischen und dem ethischen Normalitätsbegriff. In vielen Situationen rechnen wir einfach damit, dass die Menschen, wir eingeschlossen, mit der Wahrheit nicht „pingelig“ umgehen. So hatte es Konrad Adenauer in seiner eingängigen, pseudonaiven Ausdrucksweise formuliert und dabei ein geflügeltes Wort geprägt. (3) Lügen sind nicht ausschließlich dadurch wirksam, dass das krasse Gegenteil der Wahrheit behauptet wird. Oft genügt für die Verdrehung der Absichten und das Schönreden der Verhältnisse der „vorsichtige Umgang“ mit der Wahrheit. Die halbe Wahrheit32 eröffnet ein mindestens ebenso weites Feld der Täuschung wie die blanke Unwahrheit. Lüge und Wahrheit haben viele Gesichter. Wenn beide ganz eindeutig zu beschreiben wären, hätten wir es leicht: „Denn alsdann nähmen wir das Gegenteil von dem, was der Lügner sagt, für Gewissheit. Aber die Kehrseite der Wahrheit hat der Figuren bei hunderttausend und ist ein Feld ohne Grenzen.“33 In jedem Fall handelt es sich um eine Informationsselektion seitens des Lügners, der hiermit ein asymmetrisches Kommunikationsverhältnis eingeht. Die weltweit verbreiteten Patronage-Systeme etwa funktionieren auf der Grundlage von tatsächlich gegebener, ungleicher Reichweite des Einflusses, vom Patron aber auch geförderter Intransparenz, ohne damit schon zwingend Lügensysteme sein zu müssen. Implizit haben wir auch schon darauf hingewiesen, dass Lügen nicht nur in den kleinen Begegnungen des Alltags stattfinden, sondern auch eine normale Realität der makro-sozialen, also gesamtgesellschaftlichen Kommunikation sind. Auch hier gilt das „Gesetz“ der Verschleierung, der Verdrehung und des Verschweigens. Wir klammern im Folgenden die Lügenbetrachtungen zur Kunst und Literatur, zu Wirtschaft und Wissenschaft, sowie Geschichtslügen und Mythen aus und wenden uns nur einem Teilbereich, dem modernen politischen Handeln, zu. Hier – wie überall – zeigt sich eine interessante Parallele zu unserem kleinräumigen Interaktionsmodell. Denn die Gründe und Chancen der Lüge sind die gleichen wie auf der Mikro-Ebene. Auch hier haben wir es zu tun mit: • Schutz- und Verdrängungsinteressen, Befreiung von Not- und DilemmaSituationen, Ablenkung von schlechten Leistungen, Vernebelung ungünstiger Imagewirkungen; 32  Nyberg

(1994). (1915), S.  54.

33  Montaigne

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• Hoheits- und Steuerungsinteressen (z. B. des Diskurses im Sinn der eigenen Machtziele, die als blanke Kämpfe um Position und Anerkennung aber so nicht offen gelegt werden können); • strategische Überwältigungs- und Schädigungsinteressen (Ausnutzung von Macht- und Erwerbschancen aller Art). Allerdings sind auf der Makroebene manche Interessenlagen wenigstens im Prinzip leichter erkennbar, da die Begegnungsverfahren stark formalisiert sind, der Handlungsrahmen organisiert oder sogar rechtlich fixiert ist. Das muss sich auch in der Struktur der Täuschung niederschlagen. Im Folgenden sollen nur drei zentrale Organisationselemente hervorgehoben werden: Machtvorrang, Bildproduktion und Kontrolle des Denkens. 1. Eliten, Macht und Verschleierung

Ausgangspunkt für die Überlegungen zur Erfassung makro-soziologischer Lügenkonstellationen kann die Tatsache sein, dass soziale Oberschichten und Eliten – gerade wegen ihrer herausgehobenen Stellung und ihrer Einflusschancen – ein besonderes Interesse an der Maskierung ihrer Macht (chancen) haben (müssen). Denn diese Ressourcen sind knapp.34 In der Soziologie ist dieser Aspekt unter der Überschrift: „Die vielen Gesichter der Macht“ bekannt. Die wichtigste, aber am wenigsten greifbare Machtausübung liegt ja darin, dass jemand (oder eine Gruppe) die Arena so bestimmt, dass er die Themen des Diskurses setzen oder von der Tagesordnung absetzen kann (Veto-Macht). Das gelingt aber nur, wenn die Macht sich als solche nicht zu erkennen gibt, sondern sich der Beobachtung von außen entzieht. An der Tendenz, von der Öffentlichkeit abgeschottete „Kabinettspolitik“ zu betreiben, hat sich der demokratische Geist immer gerieben. Er ist, bis auf weiteres, auch immer daran gescheitert. „Verbindungen schaden nur dem, der sie nicht hat“, lautet eine eingängige Formel der Erfolgreichen oder solcher, die es werden wollen. Verbindungen nützen aber wenig, wenn man offen über sie verhandeln, sie damit durchschauen und konterkarieren könnte. Deswegen gibt es überall auf der Welt Geheimgesellschaften (Ku-Klux-Klan), Logen (die P2 in Italien), akademische Verbindungen mit ihren nostalgischen Vereinnahmungen, Clubs mit ihren weltanschaulichen Loyalitäten, Freundeskreise, „old boys“-Netzwerke, Geschäftsfreunde mit ihren Einladungsstrategien, landsmannschaftliche Gruppen und andere mehr. Sie haben unterschiedlichen Gruppencharakter und verschiedenartige Aufnahme- und Vergesellschaftungspraktiken. Ei34  Papcke

(2001), S.  211 ff.



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nige verdecken die Mitgliedschaft, andere legen geheime Treueschwüre ab, wieder andere sind lose Zirkel und geben sich offen zu erkennen. „Alle“ stimmen aber darin überein, dass sie nicht nur durch Gesinnungen und Gesinnungskontrolle wirken, sondern auch über die Verfügbarkeit von Sozialkapital operieren. Wann, in welchem Ausmaß und mit welchen weiteren Loyalitätsbindungen es eingesetzt wird, muss aus der Sicht der Akteure dem Blick der Öffentlichkeit entzogen bleiben, will es wirksam bleiben. Die Ergebnisse ähneln daher oft einer Kartellabsprache. Zumindest lässt sich erahnen, dass die Grenze zwischen Beziehung, geschlossener Gesellschaft, Klientelsystem, Klüngel und Verfilzung fließend sein kann.35 Viele Vereinbarungen sind wirksam, gerade weil sie intransparent sind und nicht dokumentiert werden können. Diejenigen, die im gleichen Boot sitzen, müssen unter allen Umständen dicht halten. Das, was an die Öffentlichkeit gelangt, wird vorher in den „Hinterzimmern der Macht“36 strategisch behandelt. Man will vorher abschätzen, welche Strategie welchen Effekt auslöst. Zumindest dürfen aus der Sicht der Akteure keine „falschen“, d. h. unerwünschten und unkontrollierten Asso­ ziationen geweckt werden. Heute bauen „spin doctors“ zur Unterstützung solcher Absichten ein ganzes Arsenal von Kommunikationsstrategien auf, die dann greifen sollen, wenn man seinen Kandidaten oder seine Interessen in der Öffentlichkeit in der „richtigen“ Weise zeigen will. 2. Interessenpolitik und mediale Verstärkung

Die geschilderten strategischen Überlegungen gab es wohl immer. Auch in der Antike waren Individuen, Gruppen oder ganze Gesellschaften auf die Inszenierung guter Eindrücke angewiesen. Sie verwendeten theatralische Darstellungstechniken und arbeiteten an ihrem Image. Neu ist heute, dass wir durch die modernen Medien – besonders die Bildmedien – in einer „Theater- und Werbegesellschaft“ angekommen sind.37 Gemeint ist nicht nur die Wirtschaftswerbung, sondern die Bewerbung politischer Aktionen bis hin zum Aufbau ganzer politischer Plattformen. Europa ist dabei, sich in dieser Hinsicht ganz rasch zu amerikanisieren. Man denke nur an die „Elefantenrunden“ und die Kandidaten-Duelle im Fernsehen. Der Unterschied zwischen echtem Engagement und Maskerade, wahrem und aufgesetztem Gesicht, Spontaneität und gelernter Spontaneität ist tendenziell unerkennbar. Zu gut ist die Beratungsarbeit im Hintergrund. Sie ist zu einem Scheuch / Scheuch (1992) über den Kölner Klüngel. (2003), S.  215 ff. 37  Willems (2002). 35  Vgl.

36  Sarcinelli

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eigenen Herrschaftsinstrument herangereift. Kein Politiker kann sich mehr auf seine spontane Überzeugungskraft verlassen. Sie wird vorher im Kleinsten ausgelotet und in einem Publicity-Feldzug gezielt herbeigeführt. Im Endeffekt wird ein „Medienkanzler“ daraus, der wenig regieren, dafür aber immer eine gute Figur machen muss. „Wirkliche Demokratie erweist sich keineswegs nur durch ihre Form, sondern realisiert sich erst in der Art und Weise des öffentlichen Auftretens der Regierung.“ Thomas Paine hatte 1791 wohl noch etwas anderes damit sagen wollen! Die Folge der Mediokratie von heute ist jedenfalls, dass sich das Politikfeld in zweifacher Weise aufspaltet: Auf der einen Seite stehen die PolitikDarsteller und die Macher im Hintergrund. Auf der anderen Seite steht eine politisierte Öffentlichkeit und ein tendenziell gelähmtes, genervtes, apolitisches Publikum, das dadurch unterhalten wird („Infotainment“), dass es von den großen Fragen abgezogen und auf die kleinen Ausrutscher der Großen gelenkt wird. Für einen kurzen Moment darf es sich daran ergötzen, dass es hinter den Vorhang auf die Hinterbühne hat blicken dürfen. Die Selbstverstärkung der Theatralität von Politik ist in die Mediokratie eingebaut.38 Je mehr sich die Programme auf diesen (selbst wieder hergestellten) Publikumsgeschmack einschießen, desto stärker muss die Politik Verhüllungsund Überzeugungstechniken einsetzen. Wer die richtigen Symbole, zur richtigen Zeit, auf dem richtigen Kanal, an die richtige Teilöffentlichkeit bringt, kann die Zustimmungsraten erhöhen. Ob man sich dabei „zur Sache“ intensiv geäußert hat, mag dahingestellt bleiben, ob sich der „Macher“ in der Sache wirklich auskennt ebenfalls (Immer öfter lesen wir Hinweise darauf, dass Politiker Kompetenz mimen und Dinge unterschreiben, die sie nicht gelesen oder nicht verstanden haben!). Nicht immer gelingt die Vertuschung wahrer Absichten bzw. irregulärer oder inkompetenter Verhaltensweisen. Jedes Konkurrenzsystem scheint darauf angelegt zu sein, solche Vernebelungen zu unterlaufen. Ob damit die Wahrheit ans Licht kommt, steht noch dahin. Es ist vielmehr zu vermuten, dass man aus eben diesen Konkurrenzinteressen vorwiegend an der „Skandalisierung“ gegnerischer Handlungsweisen arbeitet. Hierbei kommt ein besonderer Aspekt der Werbegesellschaft zum Tragen. Man versucht, durch lautes Rufen nach dem „Dieb“, eigene Schwächen zuzudecken oder sich als das geringere Übel zu profilieren. Deshalb ist das gegenseitige Aufschaukeln von Skandalen und Lügenetikettierungen zu erwarten. Mit Wahrheitsfindung hat das meist wenig zu tun. Häufig gelingt – im gegenseitigen Einverständnis – eher die Zudeckung als die Aufdeckung (oder Aufklärung). Die notorische Erfolglosigkeit parlamentarischer Untersuchungsausschüsse 38  Ebd.



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zur Aufdeckung illegaler Waffenexporte, korrupter Geschäftspraktiken (z. B. die „Flugzeugbeschaffungsaffäre“ in Österreich 2006 / 2007) oder lügnerischer Wahlbeeinflussung (sog. „Lügenausschuss“ in Deutschland 2003) ist ein schlagender Beweis dafür. Auch die ungarische Regierung musste bis heute nicht zurücktreten, obwohl Ministerpräsident F. Gyurcsanyi eingestanden hat, seine Regierung habe in den letzten Jahren „von Anfang bis zum Ende“ gelogen und während vier Jahren „absolut nichts getan“.39 Der kokette Umgang mit der Lüge stimmt die Menge offenbar milde. Die Liste der Beispiele könnte mühelos fortgeführt werden. Das Gesagte genügt aber bereits, um die Verkettung von Auf- und Zudeckung zu illustrieren. Ein besonderes Beispiel der Dramatisierung von Informationen ist der Kampf um die richtigen Bilder im Sinne von Fernsehbildern. Vom ehemaligen Außenminister Henry Kissinger ist der Ausspruch bekannt, dass die USA den Vietnamkrieg durch das Fernsehen verloren hätten. Aus diesem Grund war der erste Irak-Krieg auch als ein Krieg der Bildklischees angelegt. Die Öffentlichkeit sollte von Anfang an zu einer politisch gewünschten Realitätsdeutung verführt werden, in der sich die „treffsichere Siegermacht“ mittels militärisch-chirurgischer Eingriffe vom „Reich des Bösen“ befreit. Dafür wurden die Medien weltweit regierungsamtlich mit zensierten Bildern versorgt. Unabhängige Recherchen vor Ort waren nicht erlaubt. Im zweiten Irak-Krieg wurde dieses Verfahren noch verbessert. Nun nahmen die handverlesenen „embedded journalists“ gleich am Kampfgeschehen teil, um noch höhere Authentizität zu simulieren. Das ist eine besondere Form von „politischer Korrektheit“! 3. Der Kampf um die richtige Sprache und das richtige Denken

Die genannten Beispiele weisen auf eine Steigerungstendenz hin. Sie setzt beim kontrollierten Netzwerk an, zielt auf die Macht über die Bilder und bestimmt dann die Sprache und das Denken. Jede totalitäre Ideologie tut das. Da stehen wir Gott sei Dank nicht. Aber wir sind gewarnt. Alle negativen Utopien geben Aufschluss über denselben politischen Lügenmechanismus. a)  In literarischer Hinsicht ist dazu George Orwells Roman „1984“ prägend geworden. Er gibt uns einen Vorgeschmack darauf, was wir erwarten dürfen, wenn die große Lüge der Hyperwahrheit terroristisch durchgesetzt wird: Die Supermacht Ozeanien, die sich mit Eurasien im permanenten Krieg befindet, wird vom übermächtigen und omnipräsenten „Großen Bruder“, der immer im Recht ist, beherrscht. Er will verhindern, dass seine 39  Vgl.

Kreutz (2006), S.  286 ff.

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Untertanen einer falschen, feindlichen, verderblichen Ideologie verfallen und lässt daher ihr ganzes Leben mit Hilfe von vier Ministerien überwachen. Dies geht hinein bis in die Bilder, die Sprache, das Denken, die Gefühle der Menschen. Alles wird umdefiniert („new speak“), so dass Wahrheit und Lüge nicht mehr unterscheidbar sind. Das „Wahrheitsministerium“ kontrolliert die Nachrichten und die Erziehung. Das „Friedensministerium“ beschäftigt sich mit den Kriegsangelegenheiten, das „Liebesministerium“ kümmert sich um Recht und Ordnung und das „Überflussministerium“ ist mit der Rationierung betraut. In Orwells genialem Wurf heißen die Ministerien der Reihe nach Miniwahr, Minipax, Minilieb und Minifluss. Aber Orwell war schließlich der Außenstehende, der als Autor das „double speak“ durchschauen konnte. Der Protagonist des Stückes, Winston Smith, erliegt hingegen am Ende dem Gedankenterror. Er wird durch Sonderbehandlung „gedreht“ und beginnt, den „Großen Bruder“ endlich zu lieben. b)  Dass diese Utopie unversehens nahe an die Realität heranrücken kann, zeigen alle real existierenden, totalitären Strukturen, besonders die Spielarten des Faschismus und Kommunismus, gegen die Orwell angeschrieben hatte. Nicht wissen konnte er, dass sich der kommunistische Diktator Kambodschas, Pol Pot, tatsächlich „Bruder Nr.  1“ würde nennen lassen. Rund zwei Millionen Menschen haben zwischen 1975 und 1979 die von ihm erzwungene Rückkehr in die Agrargesellschaft mit dem Leben bezahlt. Ein anderes, höchst unrühmliches Beispiel ist die kommunistische Diktatur des Nicolae Ceausescu in Rumänien. An ihr kann die totale Skrupellosigkeit und Verwirrung von Schein und Sein in einer durchgängigen Lügenkultur deutlich gemacht werden. Fünf Aspekte sind hervorzuheben: (1) Die charismatische Lüge: Das System beruht auf einer von oben aufgezwungenen, quasi-religiösen Devotion und Verehrung des Präsidenten, deren kultische Momente den Zwang kaschieren. (2) Die biographische Lüge und Mythenbildung vom Staatsführer als dem besten Schüler, dem großen Organisator und intelligentesten Entscheider, der einfach Präsident werden musste. (3) Die Diskurslüge: Ihr zufolge ist jede eigene Meinung des Volkes Verrat. Zweideutigkeiten und Interpretationen sind nicht erlaubt, da der Präsident und seine Partei das Wahrheitsmonopol besitzen. „Die Partei, die Partei hat immer Recht“ haben auch andere mit Inbrunst gesungen oder singen müssen. Deswegen heißt Volks-Demokratie nichts als Unterordnung. Was der Präsident in die Wege leitet, ist jeweils Gesetz. Eine Kontrolle ist nicht vorgesehen. Sie wurde zur vorauseilend sich unterwerfenden Selbstkontrolle umdefiniert.



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(4) Die Herrschaftslüge: Danach ist die vom herrschenden Machtapparat gewünschte Realität mit der „Wahrheit“ gleichzusetzen. Sie entspricht dem Geschichtsgesetz. Alle Abweichung und Misserfolge werden verschwiegen, alle Fehler in Erfolge umgedeutet. (5) Die Verteidigungslüge: Die Untergebenen sind zur Heuchelei verpflichtet, denn Erziehung und Karriere, ja das schlichte Überleben, beruhen auf der Abschaffung des selbständigen Denkens. Beifall, Zustimmung, Unterordnung und falsche Kommunikation dienen dem Selbstschutz. Dieses zutiefst bedrückende Beispiel zeigt uns, dass eine ins Extrem getriebene Lügengesellschaft diabolische Züge trägt. Sie ist jedenfalls das Gegenteil einer Zivilgesellschaft. Diese zeichnet sich u. a. dadurch aus, dass nach strikten Verfahrensregeln um politische Kontrolle gekämpft wird. Zu ihr gehört auch die mutige, öffentliche Rede (Zivilcourage) als Bürgertugend und Transparenz, die – wo immer möglich – mit Mitteln des Rechts und des öffentlichen Drucks erzwungen wird. Eine offene Gesellschaft muss keine gläserne Gesellschaft sein. Sie soll keine sein und wird keine sein, aber sie wird der Lüge – und der Wahrheit – auf der Spur bleiben (müssen). Literatur Barnes, John Arundel: A pack of lies. Towards a sociology of lying, Cambridge u. a.: Cambridge Univ. Press 1996. Baudrillard, Jean: L’échange symbolique et la mort, Paris: Gallimard 1976. Bellebaum, Alfred: Schweigen und Verschweigen. Bedeutung und Erscheinungsvielfalt einer Kommunikationsform, Opladen: Westdt. Verlag 1992. Bergmann, Jörg R.: Klatsch. Zur Sozialform der diskreten Indiskretion, Berlin: de Gruyter 1987. Collins, Randall: Four Sociological Traditions, New York / Oxford: Oxford Univ. Press 1985. Comte-Sponville, André: Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben. Ein kleines Brevier der Tugenden und Werte, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1998. Durkheim, Emile: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, 3.  Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984. Flierl, Alexander: Die (Un-)Moral der Alltagslüge?!, Münster: Lit 2005. Garfinkel, Harold: Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs, N. J.: Prentice Hall 1967. Geiger, Theodor: Die Gestalten der Gesellung, Karlsruhe: Braun 1928. Goffman, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1967. – Interaktion: Spaß am Spiel / Rollendistanz, München: Piper 1973.

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Die Zeiten der Rache: Vorwegnahme und Wiederholung (Orest vs. Paraśurāma) Von Enrique Gavilán1 Die Rache erscheint immer wieder – in der Mythologie, in der Literatur, im Theater, in der Liturgie, im Kino. Die konkreten Vorfälle wechseln, doch die Grundstruktur bleibt dieselbe: die Erinnerung an eine Untat, die Sucht (oder die qualvolle Pflicht), sie zu rächen, Erfolg oder Versagen, Gewissensbisse, Sorglosigkeit oder das Gefühl einer erfüllten Aufgabe, einer vollendeten Obsession. Es ist nicht schwierig, die Gründe zu identifizieren, die die Häufigkeit der Rachegeschichten erklären. Vier Typen lassen sich unterscheiden: – Erstens, politische Ursachen. Im Verlauf der Konflikte, welche die Rache schafft, kristallisieren sich Spannungen zwischen dem Staat (besonders in der Zeit seiner Entstehung) und den Einstellungen des Individuums oder der privaten Gruppen (Familien, Stamm, usw.). Sie treten öfter in Gesellschaften auf, in denen sich neue politische Strukturen herausbilden. Die Institutionalisierung einer politischen Ordnung, die eine genormte Lösung für die Untaten liefert, impliziert gleichzeitig den Verzicht auf private Lösungen.2 Das Wergeld ist das Musterbeispiel für einen solchen Übergang. – Zweitens, Gründe religiöser Art. Ihre Bedeutung wächst, wenn sich die Rache auf eine Ermordung bezieht. Es handelt sich hier nicht nur um die Handlung jenseitiger Wesen (der Toten, die Strafe beanspruchen; der übermenschlichen Geister, welche die unvermeidliche Sühne verkörpern, wie bei den Griechen die Erinnyen), sondern um die Hauptrolle, die die Rache in der Gestaltung von zentralen Grundbegriffen der Weltreligionen, wie Vergeltung, Ressentiment, Erlösung, spielte. Der Satz „Mein ist die Rache“ (Dtn. 32, 35) oder seine Paulinische Umbildung (Röm. 12, 19 ff.) fassen die Bedeutung ihres religiösen Widerhalls zusammen. – Drittens, der Ersatz, welchen das Schauspiel einer vollendeten Rache liefern kann. Allerdings handelt es sich um einen Ersatz, der ebenso illu1  Ich danke Alexandra Hausstein für die Korrektur der deutschen Fassung dieses Textes. 2  Klassischer Gegensatz Rache/Strafe (Hegel 1996a, S. 245).

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sorisch wie psychologisch wirkungsvoll ist. Die Identifizierung mit dem Rächer wird zum Linderungsmittel von unheilbaren Beleidigungen, und zeigt das konkrete Beispiel der Aufgabe, welche die Kunst im Allgemeinen und das Theater im Besonderen haben: Trost angesichts der Erfahrung der Unordnung der Welt. Die erzählerischen oder dramatischen Darstellungen der Rache dienen als Katharsis oder Sublimierung von alten und neuen Wunden. Zeichen dafür ist der beständige Erfolg von „Der Graf von Montecristo“, eine bescheidene Feuilletontherapie gegen das Unrecht. – Es gibt eine vierte Ursache. Wenn sie auch nicht so einflussreich ist wie die schon genannten, so ist sie doch von beachtlichem Interesse: Die Rache kann eine einmalige Zeit schaffen; die Verhältnisse zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft werden umgearbeitet. Die Rache und besonders das Racheprojekt bewirken eine besondere Form der Vergegenwärtigung des Gewesenen. Mit der Vergeltung versucht man, das schon Geschehene nachzubessern, seinen Sinn zu ändern. Aber die Umdeutung der zeitlichen Ordnung bringt auch einen anderen Aspekt mit sich. Der Wunsch oder die Verpflichtung zu einer Vergeltung verändert die Erfahrung von Zeit, die Einstellung des Rächers verwirrt sie. Die Erwartung wird so intensiv, dass alles, was keine Beziehung zu seinem Ziel hat, in seinen Schatten tritt. Die Spannung erschafft Formen der Gegenwart, Geistererscheinungen der Vergangenheit (der Untat) und der Zukunft (der Rache), welche die Gegenwart übergreifen. Das Jetzt wird verflacht, fast aufgehoben.3 Die gesellschaftliche, sittliche, politische oder ästhetische Bedeutung der Rache hat sich von einem Zeitalter zum anderen geändert, sogar radikal. Hamlet ist kein Orest, der seine Bildung in Wittenberg bekommen hat und mit Hilfe eines elisabethanischen Dichters über eine hervorragende Rhetorik verfügt. Genauso ist Hagen keine mythologische und moralische Umwandlung von Hamlet, so sehr ihn auch die verkehrte Symmetrie der Götterdämmerung mit dem dänischen Prinzen vergleichbar macht. Sogar in einem begrenzten Bereich, wie jenem der attischen Tragödie, kann sich der Sinn der Rache radikal verwandeln, wenn auch dasselbe Grundschema bleibt, ebenfalls dieselbe Fabel. Die Geschichte der Kinder von Agamemnon bietet, indem sie von Aischylos zu Sophokles und von diesem zu Euripides wandert, ein bedeutendes Beispiel dieser Wandlungen in einer relativ kurzen Zeitspanne.4 3  Man kann Ähnlichkeiten zwischen dieser Zeitauffassung und Heideggers Vorstellung der Eigentlichkeit feststellen (Heidegger 1993, S. 262 f.). 4  s. Burnett (1998).



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Im Folgenden werden zwei Geschichten von Familienrache erörtert. Sie kommen aus verschiedenen Traditionen: der attischen Tragödie und Indiens klassischer Epik. Sie handeln von ähnlichen Figuren, zwei Rächern, die ihre Mütter getötet haben: Orest und Paraśurāma. Die Geschichte des Zweiten bildet den Schwerpunkt des Aufsatzes; der Grieche ist eher ein Kontrapunkt. In beiden Mythen verläuft die Zeit anders. Es soll gezeigt werden, wie die Formen der Repräsentation von Zeit, die in den Geschichten der Vergeltung zusammenstoßen oder sich in ihren Verzerrungen gegenseitig unterstützen, sich zu einer singulären Kosmologie vereinigen, die es ermöglicht, die soziale Ordnung aufrecht zu erhalten. I. Die Erzählungen von Rāma Jāmadagnya In der indischen Tradition gibt es eine Person, die Ähnlichkeiten mit Orest aufweist. Bei diesem „indischen Orest“ handelt es sich um Rāma, die sechste avatāra (Verkörperung) des Gottes Visņu, einen jähzornigen Rächer. Um ihn von der Hauptfigur des Rāmāyaņa klar zu unterscheiden, wird er gewöhnlich Rāma Jāmadagnya („Rāma, Sohn Jamadagnis“) oder Para­ śurāma („Rāma mit der Axt“5) genannt. Wie der griechische Held, muss auch Paraśurāma den Mord seines Erzeugers rächen. Er hat seine Mutter, Reņukā, auf Befehl seines Vaters enthauptet. So vertreten beide Helden den Sieg der männlichen Geschlechtsseite. Aber das Interessante des Vergleichs liegt in den Abweichungen, die beide voneinander trennen. Im Unterschied zum Helden von Aischylos fehlt das Tragische bei Rāma. Keine Spur von Zaudern, Angst, Gewissenbissen, Unentschiedenheit quält den Muttermörder. Ungeheure Gewalt und verrückte Wut zeichnen seine Handlungen aus. Aber trotz der maßlosen Aggressivität wird er nie zur tragischen Person. Es gibt zahlreiche Erzählungen um Paraśurāma.6 Hier werden nur zwei Mythen von Rache und Strafe untersucht. Sie zeigen bedeutende Ähnlichkeiten mit den Geschichten der Atriden. Es wird außerdem auf die unge5  Der Name Paraśurāma drückt den Widerspruch, der die Person auszeichnet, aus. Paraśu (Axt) als Sinnbild der Gewalt und Rāma (des Friedens) stellen den Zwiespalt dar. Rāma bedeutet „was Ruhe gibt“. Darum gibt es eine Verbindung mit dem Tod. Nach einer sehr bekannten indischen Überzeugung kann man die Befreiung erlangen, wenn man in Benares stirbt. Man soll das geheime Mantra aussprechen, um sie zu erhalten. In der heiligen Stadt Benares raunt der Gott śiva dem Sterbenden das Mantra ins Ohr, das er aussprechen muss. Es sagt „Rāma, Rāma“ (Eck 1993, S. 332 ff.). 6  In der Epik gibt es andere Taten des Rāma Jāmadagnya; sie beziehen sich auf seine Rolle als Guru von groβen Kriegern (Bhīsma, Droņa, Karņa, …). Im Rāmāyaņa dient seine Erscheinung dazu, die Groβartigkeit des anderen Rāma auszuzeichnen.

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wöhnliche Geburt des Helden eingegangen; sie ist der Schlüssel zum Verständnis dieser außeralltäglichen Persönlichkeit. Die verwendeten Fassungen der Mythen stammen aus dem Mahābhārata.7 Für die Geschichte der Atriden beschränke ich mich auf die Trilogie von Aischylos. 1. Die Geburt

Im klassischen Hinduismus steigt Visņu, der Beschützer-Gott, auf die Erde hinab,8 wenn diese sich in Unordnung befindet und das kosmische Gleichgewicht durcheinander gebracht ist. Er soll die Ordnung wieder herstellen. Manchmal muss er auf paradoxe Weise handeln, zum Beispiel durch ungeordnete Taten Ordnung schaffen. Dies geschieht auch in dem Fall, der uns interessiert: eben dem Fall Rāmas, seines sechsten avatāras. Visņu wird hier zur abartigen Persönlichkeit, fast zu einer Missgeburt, einem Wesen, das halb Priester (Brāhmane) und halb Krieger (Ksatriya) ist. Eine derartige Kastenmischung ist in der indischen Epik etwas Ungeheures. Sie erklärt die Gewalt des Gottes, die durch die Axt symbolisiert wird. Diesmal steigt er herab, um die Untaten des Königs Arjuna Kārtavīrya zu beenden. Der kriegerische Hochmut dieser Person bedroht das kosmische Gleichgewicht. Wie in der indischen Mythologie üblich, hatte der König, um in den Besitz von außergewöhnlicher Macht zu kommen, die Gunst eines Gottes durch Buße und Andacht erlangt.9 Von ihm erhielt er unhaltbare Kraft (tausend Arme) und absolute Beweglichkeit (einen goldenen Wagen). Beide Zeichen sind denjenigen entgegensetzt, die den Brāhmanen prägen. Der Priester geht zu Fuß und die einzige Macht, die er besitzt, ist seine Stimme.10 Der unbesiegbare Hochmut von Kārtavīrya wird so zum Sinnbild einer allgemeineren Unordnung: die alltägliche Bedrohung durch die Unterwanderung der Kasten, die ständige Gefahr, dass die Krieger den Brāhmanen, die keine militärische oder politische Macht haben, den Vorrang entreißen. Demgegenüber stellt der sechste avatāra Visņus, Rāma Jāmadagnya, die unbesiegbare Herrschaft der sittlichen Ordnung (Dharma) dar, die Macht des Wortes, die Gewalt, die sie einschließt, die unerbittliche Strafe, die jene erwartet, die sich auf ihre Waffen angesichts der anscheinenden Schwäche des Priesters verlassen. 7  Die erste Fassung findet man im Vanaparvan (Buch 3.), Mahabharata, Bd. III (1990), S. 249 ff. Die zweite Fassung, die in śanti parvan (Buch 12.) erzählt wird, wiederholt die frühere mit kleinen Varianten (Ibidem, Bd. 9, S. 99 ff.). 8  Avatāra bedeutet wortgetreu: „Herabsteigen“. 9  In diesem Fall ist der Freigebige Dattātreya. 10  Die Ksatriyas kommen aus dem Arm von Purusa (dem Urwesen, mit dessen Gliedern der Kosmos geschaffen worden ist); die Brāhmanen aus seinem Mund.



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Rāma ist in einem unheimlichen Geschlecht geboren, dem Stamm der Bhārgavas, der Nachfahren des Weisen Bhŗgus. Die Bhārgavas sind seltsame Wesen. In der Mythologie erscheinen sie in Zuständen, in denen Paradox und Widerspruch herrschen. Sie gehören zur Brāhmanen-Kaste, jedoch sind einige der Mitglieder dieses Geschlechtes, wie Kāvya Uśanas, nicht zu Diensten der Götter, sondern ihren Feinden, den dämonischen Asuras. Letzten Endes brauchen auch die Teufel Kapläne. Die Umstände seiner Geburt machen Paraśurāma zu einem einmaligen, nämlich dem unberechenbarsten Mitglied seines Stamms. Ŗcīka, Großvater des Helden, ein Bhārgava, heiratet eine Fürstin, die aus der Kriegerkaste kommt, Satyavatī.11 Es handelt sich um eine Mischehe, die jedoch nicht unrecht ist, da der Mann der höheren Kaste angehört. Freilich wird die Anomalie der Bindung durch einen Fehler verkompliziert, der im Augenblick der Empfängnis stattfindet. Bei Hindus gibt es ein präzises Ritual für den Moment, in dem man daran glaubt, ein Sohn werde von den Eltern gezeugt. Es heißt Garbhādhāna („das Einpflanzen im Mutterleib“), das erste Sakrament im Leben eines Mannes.12 Die Zauberkraft der Zeremonie, welche die Zeugung begleitet, erreicht eine unbeschränkte Macht. Die Genauigkeit der Handlungen, sowohl vom Gesichtspunkt der weiblichen Physiologie als auch der Stand der Sterne gesehen, bestimmt das Geschlecht, die Sittlichkeit und die Zukunft des Kindes. Für Satyavatī wurde das Sakrament noch wichtiger, denn ihr Mann besaß unsagbare Zaubergelehrsamkeit. Das Schicksal führte in ein scheinbares Desaster, aber gerade der Fehler erlaubte es, die Bedrohung der kosmischen Ordnung, die es zu bekämpfen galt, abzuwenden. Ŗcīka bereitete zwei Rituale vor. Das eine war für seine Frau bestimmt. Sie sollte einen Brāhmanen zeugen. Das andere Ritual war für seine Schwiegermutter. Sie wollte einen Krieger mit ihrem Mann zeugen, darum hatte sie die Hilfe des wissenden Ŗcīka ersucht. Aber wegen eines Unfalls (oder, in anderen Fassungen, wegen eines Betrugs der Schwiegermutter) wurden die Speisen und die Mantras verwechselt.13 Satyavatī, erschrocken 11  Der Name der Frau (Satyavatī, „Wahre“) kündigt schon ihre Bedeutung an. Es ist auch der Name einer anderen Hauptperson des Mahābhārata: Vyāsas (des Schöpfers der Dichtung) Mutter. 12  Es ist das erste der zahlreichen Sakramente, die das Leben des Mannes prägen. Die Zahl ist schwankend. In der Vergangenheit war sie sehr hoch. Heute kann es im Allgemeinen nur sechzehn Sakramente geben (s. Pandey 1998, S. 23). 13  „He [Ŗcīka] cooked the sacrificial food consisting of milk and rice for giving unto Gadhi [Schwiegervater] a son. Calling his wife, .. [he] said, ‚This portion of the sanctified food should be taken by thee, and this (other) portion by thy mother. A son will be born of her that will blaze with energy and be a bull among Kshatriyas. Invincible by Kshatriyas on earth, he will be the slayer of the foremost of

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durch die Aussicht, ein Ungeheuer zu erzeugen, bat nun wiederholt ihren Mann, das Schicksal möge sie und eine Generation überspringen. Der zukünftige Brāhmane-Krieger würde nicht ihr Sohn (Jamadagni, „Feuer, das auffrißt“), sondern ihr Enkel (Paraśurāma) sein. Der würde zum Ungeheuer, zu einem Priester mit den Eigenschaften eines Kriegers, aber gerade deshalb noch gefährlicher, weil er zusätzlich die heilige Tatkraft eines Brāhmanen hätte. Aischylos suchte einen Grenzfall: nicht das Offensichtliche, Naheliegende – die Rache, die der echte Mensch (der Sohn des Opfers) ausführt – sondern eine Lage, in der die Rache eine so grausame Untat wie Muttermord einbezieht.14 Orest steht vor einem innerlichen Zwiespalt: zwischen der Pflicht, den Vater zu rächen und dem Abscheu vor dem Muttermord. Hier liegt die Wurzel des tragischen Konfliktes. Im indischen Mythos verläuft die Spaltung nicht innerhalb des Helden; in diesem Sinne gibt es keine Tragödie. Paraśurāma wird nicht schwanken, wenn ihm der Vater befiehlt, seine Mutter zu enthaupten. Der Widerspruch ist äußerlich, er liegt im Ursprung der Person, eines Brāhmanen, dem die sonderbaren Umstände seiner Geburt zu den grausamsten Gewalten befähigen. Die tragische Spaltung von Orest wird hier zu einer Kastenvermischung, die ein Ungeheuer geschaffen hat. 2. Enthauptung der Mutter

Reņuka, Paraśurāmas Mutter, stößt an einem Fluss, aus dem sie Wasser für das Abendopfer holen soll, das ihr Mann täglich ausführt, auf ein unerwartetes Schauspiel. Dieses lenkt sie von ihrem Vorhaben ab und verursacht ein Desaster: Citraratha, König der Gandharvas, spielt im Wasser mit den Apsaras, und Reņuka, von der Schönheit des Mannes gefesselt, vergisst die Zeit. Die Folge ist eine fatale Verspätung. Ihr zorniger Mann errät die Ursache. Sein Urteil ist unabweisbar: die unkeusche Mutter müsKshatriyas. As regards thee, O blessed lady, this portion of the food will give thee a son of great wisdom, an embodiment of tranquillity, endued with ascetic penances, and the foremost of Brahmanas … The queen-mother […] gave the portion intended for herself unto her daughter, and herself took from ignorance the portion intended for the latter. Upon this, Satyavati, her body blazing with lustre, conceived a child of terrible form intended to become the exterminator of the Kshatriyas“, The Mahābhārata, Bd. VIII (1991), S. 100. 14  „Simple, successful revenge was unsuitable for Attic tragedy … In consequence the Attic dramatists turned to revenge fictions that could supply saving perversities – cases where the vindictive action failed, or where an improper agent performed it. Best of all were stories in which the vengeance duty was crossed by a contradictory imperative, and this is why all three of the greatest poets made tragedies about Orestes“, Burnett (1998), S. 99.



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se von ihren Söhnen getötet werden. Aber die vier älteren Kinder können den Befehl nicht ausführen. Zwischen dem Gehorsam gegenüber dem Vater und dem Abscheu vor dem Mord wählen sie die Untätigkeit. Sie werden vom Vater verdammt und sinken auf die Stufe stummer, unbeseelter, tierähnlicher Wesen.15 Es ist der fünfte Sohn, Paraśurāma, der seine Mutter ohne zu zögern enthauptet.16 Jamadagni ist derart befriedigt, dass er seinem Sohn gewährt, was es begehrt. Rāma erbittet dreierlei: erstens, für seine Mutter das Leben und für seine Brüder die Rückkehr ins Menschsein; zweitens, für sich selbst zum einen, nicht unter Gewissensbissen wegen des Mordes an seiner Mutter leiden zu müssen; zum anderen aber ein langes Leben und Unbesiegtheit auf dem Schlachtfeld (eine seltsame Bitte für einen Brāhmanen – ein Zeichen dafür, wie stark die kriegerische Natur in ihm dominiert). In der Erzählung kann man vielsagende Hinweise auf andere Momente der hinduistischen Mythologie finden, insbesondere solche, die im Mahābhārata selbst vorkommen.17 Doch ist das Ereignis allerdings eine Variation des Hauptthemas, das die Geschichten um Paraśurāma beherrscht, welches das Niedersteigen des Gottes erklärt und sich im Gemetzel von Kriegern voll entfaltet. Eine genauere Analyse könnte zur Erkenntnis führen, die Geschichte der Enthauptung lasse sich wie eine Variation des zentralen Themas der großen Tötung lesen. Die Frage ist immer, inwiefern die Überlegenheit der sittlichen (wahren) Ordnung gegenüber der (scheinbaren) Naturordnung bejaht wird. Die Autorität der Brāhmanen behauptet sich nicht nur auf einer kriegerischen Ebene (Tötungen von ksatriyas), sondern vor allem auf einer priesterlichen (Überlegenheit der sittlichen Ordnung gegenüber der Naturordnung). Im Unterschied zu seinen Brüdern ist Rāma fähig, die wahre Ordnung jenseits des Anscheins wahrzunehmen. Darum kann er ihr gegenüber ohne Zögern die Treue bewahren. 15  „They, however, were quite confounded and lost heart. And they could not utter a single word. Then he in ire cursed them. And on being cursed they lost their sense and suddenly became like inanimate objects, and comparable in conduct to beasts and birds“, The Mahabharata, Bd. III (1990), S. 249. 16  „Him the mighty-armed Jamadagni, of great austerities, addressed, saying, ‚Kill this wicked mother of thine, without compunction, O my son.‘ Thereupon Rama immediately took up an axe and therewith severed his mother’s head“ (Ibidem). 17  Dasselbe Abenteuer erleben die Hauptfiguren der Dichtung (die Pāņdava) am Ende des Vanaparvan: Fünf Brüder, von denen nur der letzte der Stimme des Vaters gehorcht. Dank seiner Folgsamkeit kann er seine Brüder vom Tod erlösen. Arjuna (der dritte Pāņdava) überfällt denselben König der Gandarvas mit seinen Apsaras im Bad, sie streiten und versöhnen sich danach. In der hinduistischen Mythologie finden Enthauptungen oft statt, der Gott Gaņeśa ist das bekannteste Opfer.

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Die Enthauptung und Heilung Reņukās drückt die Überlegenheit des väterlichen Prinzips (moralisch und unsichtbar) gegenüber dem Weiblichen (natürlich und sichtbar) aus. Jamadagni ist fähig, seine eigenen Söhne zu entmenschlichen (wegen ihrer Unfähigkeit, ihre Mutter zu töten!) oder zu befehlen, seine Frau zu enthaupten (wegen ihrer unreinen Gedanken in dem Augenblick, in dem es ihre Pflicht war, Wasser zu holen18). Der Brāhmane hat auch die Macht, seiner Frau das Leben und den Söhnen das Menschsein wiederzugeben. Dieser Aspekt der Erzählung verdeutlicht die Überlegenheit der Stimme, die befiehlt, gegen den Arm, der ausführt. Im Wort liegt sowohl die wahre Macht als auch das Menschsein, das die ungehorsamen Söhne verlieren. Wer, wie Rāma, jene Ordnung wahrnimmt, verehrt ihre Stimme blindlings gegen alle Widerstände, sogar die der eigenen Gefühle. 3. Rache gegen die Ksatriyas

Ein ungeheuerliches Gemetzel ist die dritte themabezogene Erzählung. Rāma rächt seinen Vater und so unterdrückt er den kriegerischen Hochmut vorbildlich. Die Handlung äußert sich in zwei Momenten. Der erste enthält noch begrenzte Gewalt, bis zu einem gewissen Punkt proportional zur Straftat. Es handelt sich um einen Raub unter erschwerenden Umständen. Jamadagni, der Geschädigte, ist ein Asket, der seine Gastfreundschaft angeboten hat; die Räuber bedienen sich ihrer höheren Macht; das Geraubte, eine Kuh, ist ein heiliger Gegenstand. Zur Strafe verliert der Verantwortliche seine Arme. Im zweiten Moment aber wird die Rache zu Ungeheuerlichkeit. Die Strafe wiederholt sich immer wieder, bis der Rächer fünf Blutseen bildet. Arjuna Kārtavīrya, jener Krieger, dessen Missetaten das Herabsteigen Visņus verursacht hatten, besucht die Eremitage Jamadagnis. Dort weckt die wundertätige Kuh des Gastgebers seinen Neid, und er entscheidet sich, sie zu rauben.19 Daraufhin erbittet der Asket die Hilfe seines furchtbaren Sohnes. Der bestraft und demütigt Kārtavīrya, indem er dessen Arme mit Pfeilen abtrennt (keine leichte Aufgabe, denn der Räuber hatte tausend). Aber die Ksatriyas lassen sich das nicht zu Warnung nehmen. Die Söhne des unglücklichen Kārtavīrya stürzen sich in die Rache und begehen eine noch schlimmere Untat; sie ermorden Jamadagni mit hässlichen Gesten. Als Paraśurāma den Körper seines Vaters entdeckt, wird er von ungeheurer Wut 18  Die Umstände verschärfen die Sünde: Wasser für das Opfer. Bei den Brāhmanen sind das Wasser und die Frau die Hauptträger der Unreinheit. Zudem sind die Dämmerungen die gefährlichsten Zeiten. 19  Im Mahābhārata ist sie eine gewöhnliche Kuh, aber im Bhāgavata purāņa (IX, 15, 25) ist sie Kāmadhenu, die Mutter aller Kühe, die jeden Wunsch befriedigen kann, usw.



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erfasst und rächt sich maßlos.20 Er beginnt, jedes Mitglied der Kriegerkaste, Frauen, Kinder und Greise einbezogen, zu vernichten. Aber das Blutbad befriedigt ihn nicht. Er wiederholt es einundzwanzig Mal, bis fünf Seen mit dem Blut der Toten entstanden sind. So schafft er ein heiliges Land, Samantapañcaka. Nach Erfüllung seiner Mission übergibt er Kaśyapa, dem Urerzeuger, die eroberte Weltherrschaft und zieht sich in die Berge Mahendra zurück. Aber auch Kaśyapa wird die Herrschaft nicht behalten, sondern er wird sie den Brāhmanen überlassen.21 Viele Generationen später wird die Schlacht von Kuruksetra, die innere Achse des Mahābhārata, in Samantapañcaka stattfinden. Das Ereignis bildet einen Hauptmythos innerhalb dieser gigantischen Dichtung. Das Uropfer Rāmas hatte den Raum für die Schlacht geweiht. Indem die Schlacht von Kuruksetra auf heiligem Land stattfindet, wird sie zum Ritus und das Blutvergießen von Ksatriyas zur Erneuerung eines entfernten Vorbildes. Die Störungen der sittlichen Ordnung (der Hochmut der Krieger bei Paraśurāma; die Auflösung des Dharmas im Zeitalter der Kaliyuga) können nur durch Opfer aufgehoben werden, zum Wesen des rituellen Opfers gehört aber die ständige Wiederholung. Die Weihe von Samantapañcaka verwandelt das Gemetzel in einen Ritus, in reine Tat. So kommt Rāma vielfältige Bedeutung zu. Die Rache bestätigt und legitimiert nicht nur die Hierarchie der Kasten, sondern weiht einen Raum, wodurch die Heiligkeit künftiger Schlachten verbürgt ist, so schrecklich sie auch sein mögen. Darüber hinaus zeigt sich das Gemetzel in Samantapañcaka als Kosmogonie, als Schöpfung eines gesellschaftlichen Kosmos, die der Aufteilung des Urwesens (Purusas) ähnelt. Das Ende der Erzählung unterstreicht die kosmogonische Natur der Tat. Nach der einundzwanzigfach wiederholten Tötungshandlung, die ihn zum unumstrittenen Weltenherrscher macht, entsagt Rāma der so erhaltenen Herrschaft. Der Held übergibt sie Kaśyapa, dem Vater alles Lebendigen (Menschen, Ādityas, Nāgas, Vögel, Teufel, usw.). Durch das Opfer stellt Rāma die gesellschaftliche Ordnung wieder her, stiftet den Ritus, der sie erneuern kann, und weiht die Stätte, an der das Opfer verwirklicht werden muss. Mit der Übergabe der geheilten Welt an denjenigen, der sie bevölkern 20  Rāma Jāmadagnya ist kein echter Brāhmane Bhārgava wie sein Vater, sondern ein grauenvoller Krieger. Er kann seinen Vater nicht wieder erwecken, allerdings ihn rächen, und wie! 21  Dies ist von Bedeutung für die Legitimation der priesterlichen Kastenherrschaft. Unübersehbar die Analogie zur Konstantinischen Schenkung (Donatio Constantini), die als Fälschung bekanntlich lange Zeit unerkannt blieb: der Kaiser (Rāma) gewährt Silvester I (Kaśyapa und den Brāhmanen) seine Rechte. Der Papst überträgt sie den christlichen Königen, behält jedoch immer Rechte über die Kronen.

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soll, beginnt ein neuer Zyklus, der mit einem neuen kosmischen Opfer enden wird, Kuruksetra, der Säuberung von dem sich reproduzierenden Übermaß, welches die Erde überfluten wird. Die Pāņdava – die Helden des Mahābharata – hören Rāmas Geschichte, während sie eine lange Pilgerfahrt machen, um sich auf die unvermeidliche Schlacht geistig vorzubereiten. Auf der Reise besuchen sie die heiligsten Stätten Indiens. Auf den Mahendra Bergen, dem Rückzugsort Paraśurāmas, treffen die Helden auf eine Gruppe Asketen, die Rāma verehren. Sein Schüler Akŗtavraņa erzählt ihnen die alte Geschichte. Die Pāņdavas bleiben bis zu dem Tag, an dem der schreckliche Brāhmane erscheinen soll, um ihm Achtung zu zollen. So geschieht es. Als Rāma auftaucht, nimmt er seinerseits ihre Respektsbezeugung an und erweist damit den Pāņdavas eine große Ehre. Es ist ein bemerkenswerter Gestus: Die ihm Ehre erweisen, kommen aus einer echten Ksatriya-Sippe, aus einer Kaste, gegen die sein mörderischer Haß gerichtet war. „Then on the fourteenth day of the moon, the mighty-souled Rama at the proper hour showed himself to those members of the priestly caste and also to the virtuous king [Yudhisthira, der ältere der Pandavas] and his younger brothers. And … the lord [Yudhisthira] together with his brothers, worshipped Rama, and, O most righteous of the rulers of men, the very highest honours were paid by him to all those members of the twice-born class.“22 II. Zeit und sittliche Ordnung: Orest vs. Paraśurāma Der Vergleich zwischen den parallelen Geschichten beider Rächer hilft, die schon bekannten Unterschiede zwischen den beiden Traditionen besser zu zeichnen. Hier interessieren jene, die sich auf die Zeit beziehen. Beide Zeitordnungen sind radikal verschieden. Die Ähnlichkeit des Muttermordes unterstreicht nur die Differenz. Die Orestie beschreibt und erklärt den Übergang in ein neues Zeitalter: die Erinnyen werden zu Eumeniden. Die tragische Peripetie wird von Aischylos als fortschrittliche Bewegung vorgestellt, welche die mythische Genealogie des attischen Justizsystems beschreibt. Bei Aischylos erscheint die Zeit als ein ebenso klarer wie unabänderlicher Pfeil. Im Gegenteil dazu ist der Wesenszug der Zeit bei Paraśurāma das Zyklische. Gegenüber der geradlinigen, unabänderlichen und fortschrittlichen (quasi „hegelianischen“23) Bewegung, welche die Orestie kennzeichnet, kehrt das The Mahabharata III (1990), S. 251. der Tat benutzt Hegel das Beispiel der Orestie in diesem Sinne: „Orest ist verfolgt von den Eumeniden und wird von Athene vom sittlichen Recht, dem Staate 22 

23  In



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Geschehene im Fall Rāma Jāmadagnyas immer wieder. Der Kreis, welcher der mythischen Zeit eignet, verstärkt sich in der hinduistischen Epik. Zum einen kann sich ein Ereignis ständig wiederholen; gegen die (westliche) Logik kehrt ein kosmisches Gemetzel einundzwanzigmal wieder. Zum anderen können die Folgen des Ereignisses rückgängig machen werden. So unabänderliche Taten wie eine Enthauptung können problemlos annulliert werden. Das Wesen eines Vorfalls ändert sich, wenn er nur als Wiederholung erscheint (zum Beispiel, das siebzehnte Gemetzel von Ksatriyas). Der tragische Charakter einer schrecklichen Tat, wie die der Enthauptung einer Mutter, verblasst, wenn er umgekehrt werden kann. Doch die Erzählung wird so nicht belanglos (aus westlichem Gesichtspunkt wird die umkehrbare Enthauptung Reņukās fast zur Farce; ihr gegenüber erscheint bei uns der purgative Weg Orests) – im Gegenteil: Im indischen Mythos geben Wiederholungen der Tat einen anderen Sinn, sie wird zum Urbild. Der Zeit Paraśurāmas eignen andere Eigenschaften. Erstens gibt es keine Risse in den Erzählungen: zwischen Absicht und Ausführung einer Tat ist keine zeitliche Trennung zu finden. Zweitens, Zeitabstände existieren nicht, oder präziser, die Abstände sind absolut ungleichartig; es gibt keine Entsprechungen zwischen der jeweiligen Zeitdauer, die eine Kohärenz der verschiedenen Erzählungen ermöglichen würden. Drittens, die Reihenfolge ist beliebig (die Ursache kommt nach der Wirkung, usw.); als Folge findet man erstaunliche Paradoxa, die ein Feld schaffen, welches die nicht-dualistischen (advaita) Gesichtspunkte unterstützt. In den Mythen Rāma Jāmadagnyas existiert keine dramatische Spannung; sie könnte auch nicht erscheinen, weil es da keine zeitlichen Brüche gibt. In diesem Fall ermöglicht es der Vergleich mit den Atriden wieder, das Besondere der indischen Legende deutlicher zu bestätigen. In Choephoren zweifelt Orest, als er seine Mutter töten soll. Der Held gibt den Anschein, ganz entschlossen zu sein; er hat die Unterstützung Elektras und namentlich die Bewilligung Apollos, aber Klytaimnestra entkleidet ihre Brust und erweckt in ihrem Sohn Entsetzen angesichts einer Untat, die sein Leben verwandelt wird. So hält Orest in diesem Moment inne und fragt seinen getreuen Gefährten: „Pilades, was soll ich tun? Muβ ich Skrupel haben, meine Mutter zu töten?“24 Der Freund spielt auf das Orakel des Gottes und auf die Eide Orests an und überredet ihn, die Rache auszuführen. Angesichts einer ähnlichen Situation gibt es bei Rāma weder Zweifel noch Zögern. Es gibt keine Leere, welche den Befehl des Vaters von der freigesprochen ... Die neuen Götter sind die Götter des sittlichen Rechts“, Hegel (1996b), S. 104. 24  Πυλάδη τί δράσω; μητέρ’ αιδεσθω κτανειν (899), Aeschylus (1995), S. 244.

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Enthauptung Reņukās trennt, keine Anspannung und Sorge, dass sich ein Drama entwickeln könnte. In diesem Sinne vertritt Paraśurāma die zu Hamlet entgegensetzte Stellung. Jener wäre ein wehmütiger Orest, welcher den kurzen Zweifel des Atriden ausbreitet, um Shakespeares ganze Tragödie zu füllen. Der Zeit des indischen Mythos fehlen die Brüche, über denen dramatische Spannung geschaffen werden könnte. Die Zeitabstände sind ungleich. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen den Phasen abgelaufener Zeit. Zum Beispiel, Rāma Jāmadagnya ist Avatāra des Beschützers, der auf die Erde herabsteigt, um die Unordnung zu bereinigen, die durch die explosive Mischung aus Macht und Hochmut bei Arjuna Kārtavīrya erzeugt wurde. Aber von dem Zeitpunkt, in dem die Gefahr erscheint, bis zu ihrer Lösung verrinnen drei Generationen! In einer normalen Erzählung hätte die Verspätung verheerende Nachwirkungen gehabt. Aber im hinduistischen Mythos ist der Krieger während der langen Zeit nicht einmal gealtert. In einer Welt, in der Rāma die Kaste der Mächtigen einundzwanzigmal zerstören kann, sind die Zeitabstände bedeutungslos. Die Inkongruenz zwischen den Zeiten der Atriden und der Bhārgavas äuβert sich in zwei entgegengesetzten Formen der Erzählstruktur. Eine geradlinige Zeit schlieβt die Sprünge aus, welche die geteilten Augenblicke vereinigen lieβen. Das Jetzt knüpft direkt nur an den Zeitpunkt, der vorhergeht, und den, der nachfolgt, an. Aber in der indischen Epik herrscht dieser Ausschluss nicht. Die Erzählung zeigt eine unvorhersehbare Freiheit, jeder Augenblick kann potentiell an jeden Augenblick anknüpfen. Es gibt Sprünge, die sehr entfernte Momente vereinigen, es gibt sogar Verbindungen zwischen verschiedenen Stufen der Erzählung (der Erzähler kann in die Welt des Mythos, den er erzählt, eindringen, und da bestimmend handeln; die mythischen Helden erscheinen neben ihrer eigenen Geschichte; sie können ihrem Mythos zuhören, ihn glossieren, usw.).25 Die Erzählung kann die Ordnung der geradlinigen Zeit auch vermeiden. Eine mit Reņukā verknüpfte Figur, Chinnamastā (wörtlich „die Enthauptete“), bietet ein wunderbares Bild der erzählerischen Zeitordnung und ihrer Paradoxien. Sie ist eine der zehn Gestalten, welche die Göttin im Tantrismus hat; sie heiβen Mahāvidyās (Hohe Weisheiten).26 Sie wird mit ihrem eigenen Haupt in der linken Hand dargestellt, in der Rechten hält sie das Schwert, mit dem sie ihr Haupt abgehauen hat. Die Enthauptung ermöglicht es ihr, ihre treuen Anhänger, Dākinī y Varņiņī, zu ernähren. Aus dem Hals 25  Das ist sehr anders als die Weise, in der Odysseus seine eigene Geschichte aus Demodokos Mund hört. Der griechische Held und der Rhapsode können sich unterhalten, aber weder der Arglistige noch der blinde Barde könnten dann zum trojanischen Krieg zurückkehren, im Unterschied zu Vyāsa. 26  Über Chinnamastā: Kinsley (1997), S. 144–166.



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sprieβen drei Blutspringbrunnen. Aus zwei von ihnen bedienen sich ihre teuflischen Helferinnen, mit dem dritten ernährt sie sich selbst. III. Paradoxe Zeitordnung als Folge einer paradoxen Wahrheit Das Belehrende dieser Zeitordnung entspringt nicht so sehr den Seltsamkeiten ihres vagen Profils, sondern der Weise, wie ihre Gestalten die Haupt­ idee versinnbildlichen, welche den Mythos beherrscht. Diese Idee ist offenkundig: es handelt sich darum, die immer gefährdete Überlegenheit der Brāhmanen den Kriegern gegenüber zu behaupten. Die Mythen des Bhārgava zeigen uns eine duale Welt, deren echtere Seite nicht die sichtbarere ist. Innerhalb der natürlichen Ordnung, die eigentlich den Kriegern Überlegenheit gäbe, verweist der Mythos auf eine andere Wirklichkeit, eine weniger wahrnehmbare moralische Ordnung, deren Linien trotzdem wahrer sind. Satya („Wahrheit“) ist hier das zentrale Konzept in der indischen Gesellschaft.27 Ihre metaphysische Dimension ist unübersetzbar. Sie hat ihren Ursprung in sat, „das, was existiert“. Satya, „Istheit“, wird so zum Wirk­ lichen.28 Die Erbfolge folgt nicht der natürlichen Ordnung: die vier älteren Söhne bemerken die Wahrheit im Befehl Jamadagnis nicht; nur Rāma kann die Macht der Stimme wahrnehmen, die Feuer ist. Brāhmane und Ksatriya wurden aus dem Mund und dem Arm Purusas geboren, Stimme gegen Gewalt. Der Mythos Paraśurāmas belehrt uns über die Überlegenheit der ersten. Die Axt ist nur das Gerät. Die Macht, welche Reņukā enthauptet, kommt aus der Stimme Jamadagnis – „Feuer, das auffrißt“. Ihre Hinrichtung enthüllt die Überlegenheit der männlichen Seite, die Fähigkeit des Sohnes, Dharma zu erkennen, es anzunehmen und in sich selbst jede Zuneigung zu unterdrücken, die eine schutzlose Mutter erwecken kann. Die Enthauptung bestraft Reņukās Fehltritt, die einen anderen schuldig bewundert hat, die Schönheit eines Gandharvas am Abend. Die Gewalt des kriegerischen Brāhmanen ermöglicht es nicht nur, den Hochmut der Ksatriyas zu strafen. Seine Geschichte lässt eine paradoxe moralische Ordnung erscheinen, eine Ordnung, die wahrer sein will. Dharma kann nur in einer Zeit erkannt werden, die nicht die alltägliche ist. Die 27  Gandhis Bewegung bekam ihren Namen aus diesem Begriff (Satyagraha, „jene, die an Satya festhalten“). Heute beherrscht er das Wappenschild des Staates Indiens, dessen Leitspruch besagt: Satyameva jayate („Satya wird siegen“). In den Leichenzügen wird das Mantra wiederholt: Ram nam Satya, Hai! („Doch Rams Name ist Satya!“) 28  Über Satya: Zimmer (1994), S. 154 ff.

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Offenbarung der Wahrheit verlangt die Veränderung der Zeitregeln: die Aufhebung ihrer Folgerichtigkeit und die Verwandlung der Verhältnisse zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Erzähler und Erzählung. Nur in dieser verrückten Welt, in der die Zeit ihre Linearität verloren hat, können die Wahrheiten erfasst werden, die den Schlüssel zur gesellschaft­ lichen Ordnung bergen. Literatur Aeschylus: Agamemnon, Libation-Bearers, Eumenides, Fragments, Übersetzung von Herbert Weir Smyth, London: Harvard University Press 1995. Burnett, Anne Pippin: Revenge in Attic and Later Tragedy, Berkeley: University of California Press 1998. Eck, Diana L.: Banaras City of Light, New Delhi: Penguin Books 1993. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Heidelberger Schriften 1808–1817, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996a. – Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996b. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen: Niemayer 1993. Kinsley, David: Tantric visions of the divine feminine, Berkeley: University California Press 1997. The Mahabharata of Krishna-Dwaipayana Vyasa, 12 Bde., Übersetzung ins Englische von K. M. Ganguli, New Delhi: Munshiram Manoharlal 1990–1992. Pandey, Rajbali: Hindu Samskāras, Delhi: Motilal Banarsidass 1998. Zimmer, Heinrich: Philosophie und Religion Indiens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994.

Die Spektrale Gemeinschaft Eine Spanischstunde Von Pedro Piedras Monroy1 Das dargestellte Martyrium ist die noch an den Wundrändern spürbare Repräsentation einer Männerfreundschaft, schwankend zwischen Entsetzen und Treue. 

W. G. Sebald, Nach der Natur

More and more recent studies of collective remembering and forgetting take the form of case by case investigations of just such processes of change. Recognizing the need to contextualize shifts in meaning assigned to the past translates into reconstructing the socially, culturally and politically complex trajectories. This empirically based approach appears to me as the most reasonable, at least at this stage of analytical time. For while ideas developed here, as much as the theoretical roots of the work of ­others, suggest particular heuristic strategies, these cannot substitute for the richness of empirical material. The task, for now, is to formulate good questions, not abstract answers. 

Iwona Irwin-Zarecka, Frames of Remembrance

I. Spaltung Wann endet die Vergangenheit? Das ist sicherlich eine Frage, die viele Spanier bewegt, die kein Ende der Thematisierung des Spanischen Bürgerkrieges in den zeitgenössischen Diskursen der Politik oder der Kultur sehen. Beide Seiten des Krieges werden heutzutage oftmals im Alltag herauf­ beschworen. Spanien ist immer noch eine (wenigstens) zweigeteilte Nation. Die Mehrheit akzeptiert natürlich die Demokratie und den allgemeinen 1  Ich danke Alexandra Hausstein für die großzügige Hilfe bei der Verbesserung des Manuskripts.

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­ olitischen, sozialen und kulturellen Rahmen, wie z. B. eine Nation oder p Mitglied der EU zu sein. Diese Mehrheit bildet aber keine Einheit. Die tiefe Spaltung Spaniens ist erkennbar in der Schwierigkeit oder sogar in der Unmöglichkeit der gemeinsamen Symbole. Spanien hat kein Symbol, das für die Gesamtheit stehen könnte. Die Flagge ist ein gutes Beispiel dafür. Viele Spanier erkennen die Flagge Spaniens nicht an. Einige bevorzugen die Flagge der Republik; sie akzeptieren selbstverständlich ebensowenig die Monarchie als Symbol. Viele andere akzeptieren zwar die Monarchie, empfinden jedoch die Flagge als etwas Fremdes. Die Nationalisten aus dem Baskenland, Katalonien und Galizien haben ihre eigenen Flaggen und betrachten die spanische oft als feindlich. Sogar zahlreiche Konservative, welche die spanische Flagge akzeptieren, zeigen gleichzeitig ihre höhere Españolität mit der Adlerflagge aus der Zeit Francos: sie wäre das echte Gegensymbol zu den heutigen Roten und Separatisten, sozusagen den Nicht-Spaniern.2 Der Bürgerkrieg ist immerwährend präsent in Kultur und Gesellschaft des heutigen Spaniens. Beide großen politischen Seiten (PSOE und PP)3 beziehen ihre Position als Erben dieses Krieges.4 Sogar im Fußball finden sich diese Spuren. Real Madrid wird nicht selten als das Team Francos aufgefasst und Barcelona als Symbol des Widerstands gegen die Diktatur. Deswegen findet man trotz der verbreiteten Katalanophobie viele Leute in Spanien, die politisch gesehen antimadridistisch sind und Barcelona als ihr „politisches Team“ wählen. Man weiß eigentlich nicht, ob der Prozess der sog. Transición immer noch lebendig ist oder nicht. Obwohl er in die Zeit zwischen 1975 (Tod Francos) und 1986 (Eintritt in die EG) zu legen ist, scheint manches ideale Ziel der Transición noch nicht gelungen. Wenngleich die ökonomischen und sozialen Bedingungen heute denen anderer Europäischer Länder ähnlich sind, so ist dennoch die politische Kultur Spaniens immer noch wie vorher voller Hass und Verachtung gegen die gegnerischen politischen Positionen. Die Stellungnahme der katholischen Amtsträger während des Krieges und 2  Ein anderes Beispiel ist die Hymne Spaniens. Vor allem aus der Welt des Sports kam der Wunsch nach einer Nationalhymne. 2007 gab es einen lächerlichen Wettbewerb um den Text der Hymne. Fachleute aus den Sprachwissenschaften und der Musikwissenschaft wurden in die Jury berufen. Niemand war einverstanden mit dem Gewinner (auch Plácido Domingo, der sie zum ersten Mal singen sollte, war unzufrieden). Bis zum heutigen Tage müssen die patriotischen Sportanhänger auf einen Text verzichten, den sie singen könnten. 3  PSOE gilt für Partido Socialista Obrero Español, Sozialdemokratische Partei, und PP für Partido Popular, (konservative) Volkspartei. 4  Das wird immer wieder mit negativen Sätzen vorgetragen; beide Seiten reklamieren die Wahlen für sich gegen die Roten oder gegen die Franquisten.



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unter Franco, immer zur einen Seite neigend, kompliziert das Problem erheblich. Glaube und Laizismus, Tradition und Modernität, politische Neigung und religiöser Kompromiss lassen das Panorama noch schwieriger entziffern und fast unmöglich verbessern; vor allem, weil die Ideen der politischen und religiösen Hierarchien nicht immer mit denen der Menschen, die sie unterstützen, identisch sind. Hinter all diesen Differenzen bleibt ein ewiger Schatten, dessen Ursprung in den Jahren des Bürgerkrieges liegt. Man könnte sogar sagen, dass die durch den Krieg verursachte Spaltung zum Bestandteil des genetischen Codes der Spanier geworden ist. Das hat viel mit dem sog. Problem der zwei Spanien (Las Dos Españas) zu tun, wie es vor einigen Jahren von Santos Julià analysiert wurde: Die Metapher der zwei Spanien, des alten und neuen, offiziellen und wirklichen, des toten und lebendigen ist während des Krieges zur Basis einer neuen Fassung der großen Erzählung von der Geschichte Spaniens als Tragödie gemacht worden. Es ist freilich keine liberale Fassung, die von einer gefallenen Nation handelt, die sich abermals erheben musste, um dem das Volk wieder die Freiheit zu geben – es ist vielmehr eine metaphysische, ja religiöse Fassung, die von einem unbeugsamen Schicksal handelt, das Spanien den tödlichen Kampf zwischen zwei ewigen und einander ausschlieβenden Prinzipien auferlegt.5

Jeder, der Spanien kennt, bemerkt diese Spaltung sofort. Es ist nicht einfach, abzuschätzen, wann sie ein Ende finden wird. Es ist jedoch möglich, versuchsweise die Bedeutung der ungelösten Frage des Bürgerkrieges und der Nachkriegszeit für das Einheitsproblem als Gedächtnisproblem zu erörtern – das betrifft insbesondere den Gegenstand der folgenden Seiten: den Anteil, den die Erinnerung der Massenmorde und der brutalen Repression jener beiden Epochen an dem Problem haben. II. Feenmärchen Ab 1970 gibt es in Spanien verschiedene Umstände, die einen komplexen Weg in die Demokratie zeichnen. Die Kontingenz, die das Bild der Ereignisse bestimmt hatte, ist durch den geschichtlichen Diskurs in Notwendigkeit verwandelt worden. Vor allem in den achtziger Jahren haben die verschiedenen spanischen Regierungen mit Hilfe mancher Historiker und Journalisten in der Öffentlichkeit eine neue Erzählung von Spaniens politischem Weg aufgebaut. Man kann sogar behaupten, der Prozess des Umbaus des Franquismus, die sog. Transición Española, sei durch die Medien in ein Feenmärchen für die Masse umgeschrieben worden: neueste Geschichte Spaniens also, für das Publikum gemacht. 5  Juliá

(2004), S.  288.

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In dieser Erzählung wird die Transition in die Demokratie ungefähr so dargestellt: Ein guter Prinz hatte einen perversen Stiefvater, der Staatschef war, aber zum Volk in einer sehr schlechten Beziehung stand, weshalb ihn fast niemand liebte. Eines Tages starb der Stiefvater in seinem Bett und der Prinz wurde zum König proklamiert. Nun musste er gegen den bösartigen Anhang des Stiefvaters, zugleich aber auch gegen manche von dessen alten, schlimmen Feinden kämpfen. Eine Kohorte von treuen Rittern, die der junge König sorgfältig ausgewählt hatte, erlangte zusammen mit anderen Helden, die vorher gegen den Stiefvater gekämpft hatten und jetzt den neuen König mit Altruismus akzeptierten, fast ohne Gewalt den Sieg und brachte endlich Frieden und Demokratie in das Land Spanien. Dessen Bewohner waren nun froh und dankbar, denn sie waren immer schon gegen den schlechten Stiefvater und stets beseelt von demokratischen Überzeugungen gewesen. In den achtziger Jahren scheint in der Tat niemand in Spanien franquistisch gewesen zu sein. Natürlich gab es viele, die aktiv mit dem Franquismus sowohl im Krieg als auch in der Zeit der Diktatur mitgearbeitet hatten. Natürlich gab es viele, die Verbrechen und Frevel begangen hatten. Es war aber schwer möglich, sie anzuklagen; denn Bürokratie und Militärs hatten die Zeit Francos überdauert. Deswegen schlossen – um beim Bild des ­Feenmärchens zu bleiben – König, Ritter und Helden einen Pakt, um die beschämende Vergangenheit zu vergessen und die Idee des neuen Spaniens zu entwickeln. In der vermeintlichen Ruhe der Transición glaubte man nichts gegen die Franquisten unternehmen zu müssen; so wurde die Transición auf Kosten der Opfer des Franquismus gestaltet. Amnesie zog Amnestie nach sich. König, Ritter und Helden setzten 1978 eine Verfassung in Kraft, die, wie sie glaubten, gewaltlos6 ein Modell der Demokratie in Spanien schaffen sollte – nur sind inzwischen einige Arbeiter in Vitoria, einige Anwälte in Madrid durch rechtsgerichtete Terroristen und Hunderte von Polizisten, Militärs usw. durch ETA-Terroristen ermordet worden.7 Das Feenmärchen des neuen Spanien schien perfekt und als Produkt exportfähig.8 Nur künstlich liess sich der Krieg in der Transición „überwinden“. Die Spanier scheinen im Märchen ex nihilo zur Demokratie zu neigen. 6  Dass sie selbst ein gewaltloser Prozess gewesen sei, ist einer der größten Mythen der spanischen Transición. 7  Die definitive öffentliche Sublimation des Feenmärchens geschah durch das Fernsehen: zuerst mit der Dokumentarfilm-Serie La Transición von Victoria Prego (1995) und danach mit der Fiktion-Serie Cuéntame cómo pasó (Erzähle mir, wie es passiert ist, ab 2001), wodurch das Feenmärchen sinnlich erfassbar gemacht und ein neues Gedächtnis kreiert wurde. 8  s. Tusell / Paniagua (2008), S.  23.



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Es gibt kein Wort mehr zu sagen, weder über die Toten von einst, noch über die verbreitete freiwillige Kollaboration mit dem Franquismus. Vergessen ist die Grundlage der heutigen Demokratie in Spanien. Zum berühmtesten Lied wurde in der Zeit der Transición eines der Gruppe Jarcha, Libertad sin Ira (Freiheit ohne Zorn, 1976), in dem es heißt:

Die Alten erzählen, es gab in diesem Land einen Krieg, Und es gibt zwei Spanien, die immer noch Den Groll von alter Schuld bewahren.9

Die „Alten“ sind hier diejenigen, die aus Groll erinnern und behaupten, Spanien hätte einen schrecklichen Krieg erlitten. Sie sind es, die in und mit den beiden Spanien leben. In dieser Sicht sind es eigentlich die erinnernden „Alten“, die das wirkliche Hindernis für Demokratie und Freiheit darstellen. In der Transición befinden sich die Opfer, so Gayatri Spivak, zweifach im Schatten, fallen zweimal in subalterne Stellung: sie wurden Opfer im Krieg, und danach wurde ihnen die Schuld für die Stagnation Spaniens zugeschrieben.10 Der Kreuzzug gegen die erinnernden „Alten“ findet in Spanien seinen Höhepunkt in der Welt der Comics, einer Kunst, die ganz nahe am großen Publikum agiert. Den Comic-Heften, den tebeos, kommt in gewisser Weise eine Bildungsfunktion für viele spanische Kinder und Jugendliche zu, vor allem in einem Milieu mit unterentwickelter Lesekultur und an Orten, an denen es weder Bibliotheken noch Buchhandlungen gibt. Manche Comics zeigen typisch spanische Familien (wie La Familia Cebolleta). In ihnen tritt wiederholt ein langbärtiger Großvater mit den Attributen eines an den Kriegsfolgen immer noch körperlich leidenden Veteranen auf, der es nicht lassen kann, über den Krieg zu sprechen und von dem sich alle Jüngeren gelangweilt entfernen. Man lacht über diese Figur des erinnernden Alten, bei der das Ewiggestrige, Konservative hervorgehoben wird. Sie fordert indirekt dazu auf, nur vorwärts zu blicken. Es drängt sich der Eindruck auf, die ganze Bevölkerung Spaniens wolle oder könne nicht mehr erinnern. Die Erzählung der Transición schlägt Spanien als ein Subjekt vor, das nur in der Zukunft lebt und im Vergessen die einzige Lösung für das Problem der nationalen Versöhnung erblickt. Alle Spanier scheinen die Epoche der Transición schweigend, ja stumm zu durchlaufen. Tatsächlich war es nicht immer so. Das künstliche Vergessen brachte Stille und Schweigen mit sich, doch handelte es sich nicht selten darum, Stimmen, die gleichwohl sich äußerten, zum Schweigen zu bringen. 9  Das Lied verneint das, von dem „die Alten“ reden, erfahren zu haben. Es hätte nichts anderes als Menschen gesehen, die nur das Leben ohne Lüge und in Friede leben wollen. 10  s. Spivak (1994).

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Die Transición beließ die Toten des Krieges und der Repression unter der Erde. Ihrem Schweigen fielen die Erinnerungen mancher Spanier anheim, die man hätte vergessen müssen – so die Politiker –, um die neue Nation erbauen zu können. So wird den Toten und den Opfern der Repression der Kriegs- und Nachkriegszeit verordnet, keine Rolle zu spielen in der Erzählung der Transición; sie werden aus der zeitgenössischen Geschichte Spaniens ausgegliedert und als „reine Vergangenheit“ angesehen. Wenn die Vergangenheit einer Nation tatsächlich aber nicht vergeht, kann es geschehen, dass diese Nation auf eine Weise von ihrer Vergangenheit eingeholt wird, die man nur mit „Besessenheit“ beschreiben kann, einer (kollektiv-)psychischen Aberration, die mit vielen Ursachen zusammenhängen kann, zu denen eben auch ein problembehaftetes, teils unbewusstes Verdrängen zu zählen ist. In der Zeit der Transición und auch heute noch leben in Spaniens kollektivem Gedächtnis zu viele Tote und zu viele traumatische Erinnerungen fort. Die Idee des Vergessens war und ist erfolgreich nur in den Feenmärchen der Transición; bewusstes Erinnern und seine kommunikative Gestaltung im kollektiven – und daran anknüpfend – kulturellen Gedächtnis11 ist nach wie vor ein ungelöstes Problem. III. Gespenster Gleich einem Widerschein der ausgedehnten „offiziellen“ Erzählungen der Geschichte sind in Spanien nicht wenige Dokumente der (teils münd­ lichen, teils niedergeschriebenen) individuellen Erfahrung erhalten: Dokumente der Opfer des Franquismus – die Dokumente, die das Leiden der Menschen belegen, das im Interesse des neu erfundenen Spaniens vergessen werden sollte. Ein Fall dieser individuellen Erfahrung lässt sich aus einem Konvolut von Listen, Heften, kleinen Dichtungen und gemischten Papieren erschließen, das ich zufällig im Nachlass eines Verwandten entdecken konnte. Der Verfasser dieses Konvoluts ist Ángel Piedras (†  1997), 1910 in Nava del Rey (Valladolid) geboren. Sohn einer Familie von armen Tagelöhnern, hat er selbst ebenfalls bis zu seinem sechsundzwanzigsten Lebensjahr als Tagelöhner gearbeitet. Er sympathisierte mit der sozialistischen Partei. Im Juli 1936, in den ersten Tagen des repressiven Vorgehens der Putschisten am Beginn des Krieges, das in den besetzten Zonen des Landes großen Schrecken verbreitete, wurde er verhaftet und gefoltert. Nach 101 Tagen Haft wurde seine Todesstrafe in eine Gefängnisstrafe umgewandelt. Nach 8  Jahren Gefängnis wurde er 1944 begnadigt. Sämtliche Brüder Ángels wurden im Gefängnis und Konzentrationslager festgehalten. Der jüngste, 11  Zu

dieser Differenz zwischen den beiden Gedächtnisformen s. Assmann (2002).



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mein Großvater, ist im Januar 1938 in Cáceres ermordet worden. Auch die Mutter, deren Söhne ins Gefängnis gebracht wurden, starb durch den dadurch erlittenen inneren Schmerz. Ángel bearbeitete im Laufe der Jahre mehrere Listen mit den Namen der Opfer der Unterdrückung in seinem Dorf. Er hat auch einige autobiographische Hefte geschrieben, die sich auf die Zeit von der Geburt bis zu seiner Entlassung aus dem Gefängnis beziehen. Allein schon die Existenz dieser Aufzeichnungen – elementarer, widerständiger Erinnerungen gegenüber dem „offiziellen“ und zugleich in der Gesellschaft sich verbreitenden Vergessen in der Zeit der Transición – kann als beredtes Zeugnis gegen die Manipulation der nicht vergehen wollenden Vergangenheit in Spanien gelten. 1. Die Listen

Nach seiner Gefangenschaft begibt sich Ángel auf die Suche nach den Namen der Opfer des Franquismus in seinem Dorf. Das Ergebnis ist eine Reihe von Listen, die Tag für Tag genauer werden. In der Regel enthalten sie Vornamen, Namen, Spitznamen, manchmal auch den Ort der Verhaftung oder des Todes. Mit der Konstruktion seiner Listen12 hat Ángel Piedras vergangene Realität vergegenwärtigt: das auf seinen Listen Gesammelte kann unter diesem Aspekt als Objektivation des gegenwärtig Gewordenen aufgefasst werden. Insofern sie vor allem Namen enthalten, bieten sie Vergegenwärtigung in zwei Richtungen dar: (1) senkrecht: jeder Name vermittelt die Vorstellung individueller Präsenz und (2) waagerecht: alle Namen zusammen vermitteln die Vorstellung kollektiver Gegenwart einer Gemeinschaft der Opfer, die über die hier Genannten hinausreicht – ein gedankliches Artefakt zwar, das jedoch wegen der Betroffenheit, die es auszulösen vermag, mehr bedeutet, wie Eelco Runia erläutert: Presence is not the result of metaphorically stuffing up absences with everything you can lay your hands on. It can at best be kindled by metonymically presenting absences. Some strategies for having ourselves affected by the past, for having the past intrude upon us, actually do work. One of the most effective is the naming of the names of the dead – or, more specifically, of the victims of history. (…) (…) names are the metonymies par excellence. By providing the names of the dead, absent lives are made present in the here and now. A name is a cenotaph for the person who once bore it, an abyss in which we may gaze into the fullness 12  Es gibt zwar mehrere Listen, aber ihr Inhalt bildet etwas Singuläres ab: die Gemeinschaft der Opfer von Verfolgung und Repression.

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of a life that is no more. In the names of the dead, in short, we glimpse the numinosity of history. They have that effect, I believe, because ultimately they throw us back on ourselves. When we let our eyes travel over the names on the Monument to the Missing or the Vietnam Veterans Memorial, the past takes possession of us insofar as the awesome depth of life in ourselves opens up.13

Nun war (und ist) gerade das Spanien Francos voller Namenslisten. In jeder Stadt, jedem Dorf findet man in der Regel am Marktplatz oder an der Wand der Kirche eine Liste der Namen der Caídos por Dios y por la Patria [der für Gott und Heimat Gefallenen], angeführt vom hervorgehobenen Namen von José Antonio Primo de Rivera – des Gründers der Falange Española, der Partei der spanischen Faschisten. Diese Listen waren sicherlich ein Gegenmodell für die Liste Ángels: täglich, über 40 Jahre hinweg, waren ja die Menschen in Spanien überall mit derartigen Listen konfrontiert, die in ihrer Vielzahl gleichwohl ein Ganzes bildet – die immense Liste aller Gefallenen auf der nationalistischen Seite. Zu beachten ist allerdings, dass die Listen ungleiche Kategorien von Toten zusammen nennen: gleichermaßen Soldaten und zivile Opfer der Rojos [Roten]. Die Öffentlichkeit dieser Totenlisten des Franquismus führte dazu, dass alle jene Toten nicht mehr nur als Gespenster der Spanischen Geschichte existieren können: darüber hinaus gab es auch Gedenkfeiern, Hommagen, Schilder, Monumente, Gemälde u. a. m. Doch das vielleicht größte Symbol des Kultes um die franquistischen Kriegsopfer ist das berühmte Valle de los Caídos [Tal der Gefallenen], ein gewaltiges Mausoleum mit Basilika. Bewusst am Guadarrama-Gebirge unweit des Escorials placiert, versehen mit einem riesigen Kreuz und enormen Statuen dort, wo die Gräber Francos und José Antonio Primo de Riveras liegen, wurde dieses Monument erbaut – durch die Arbeit von republikanischen Gefangenen. Es gibt noch eine andere wichtige Liste aus der Zeit des Franquismus, deren Ziel es war, ausschließlich die Opfer „roter“ Repression festzuhalten: die sog. Causa General, eine Art juristischer Untersuchung, die ein Gerichtsverfahren über die Verbrechen der Republikaner vorbereiten und den Putsch von 1936 rechtfertigen sollte.14 Ángels Liste ist faktisch in Gegenstellung zu dieser eigentümlichen Rechtsbelehrung bearbeitet. Ob er die Causa General kennen gelernt hat oder nicht, Ángels Absicht bezog sich gleichsam auf deren Kehrseite: er ist ein Individuum, das versucht, die Beschuldigungen umzukehren im Interesse einer moralischen und politischen Entschädigung der Opfer des FranquisRunia (2006), S.  309–310. hat die Entstehung der Causa General als propagandistisches Programm des Franquismus erklärt. s. Espinosa Maestre (2006). 13  s.

14  Espinosa



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Abbildung 1: Liste 02a von Ángel Piedras (Ausschnitt)

mus, der mit Terror und Brutalität nicht geizte – in einer spanischen Region, in der es keine Kriegshandlungen gab, wohl aber, als Folgen des Putsches, politische und soziale „Reinigungen“. Dabei gibt es freilich einen erheb­ lichen praktischen Unterschied zur Causa General: seine Liste schweigt sich über die Täter aus. Sie klagt nur an, um die soziale Anerkennung der Opfer zu erreichen. Die Namen sind hier insofern passive. Jedenfalls erwecken die Listen die Namen der Opfer zu neuem Leben in einer neuen Zeit. Diese Namen sind nicht nur Zeichen des Erinnerns, die

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viele Bewohner von Nava del Rey entziffern können, sondern – analog zu biologischen Zellen – lebendige Gebilde, in denen sich Wahrheit auf mindestens dreifache Weise verbindet: in der Zeit, im Raum und im (politischen wie menschlichen) Schicksal. Durch das Zusammentreffen dieser drei Dimensionen erhält die Liste Ángels einen dramatischen Charakter und damit eine Inszenierungsqualität von großer Kraft. Der Wert der Liste liegt nicht in der bloßen Anwesenheit der Namen, sondern in der von ihr intendierten umfassenderen historischen und individuellen Wahrheit. 2. Hefte

Es gibt, wie angedeutet, noch andere Schriften von Ángel Piedras: fünf Hefte15 mit Erinnerungen, die mit Eindrücken von der Grippeepidemie des Jahres 1918 beginnen und 1944 mit der Befreiung aus dem Gefängnis enden.16 Irgendwann ist Ángel zu der Überzeugung gekommen, die Listen würden nicht genügen. Im demokratischen Spanien ging Ángel an die Öffentlichkeit und intensivierte seine Nachforschungen. Die verschiedenen Listen, auf die ich mich beziehe, sind trotzdem alle in der Zeit der Transición verfasst. Die meisten von ihnen stammen aus den achtziger Jahren.17 Er entdeckte alsbald, dass selbst Opfer der Repression kaum bereit waren, sich über die Zeit des Terrors zu äußern. Nicht wenige sagten von sich, sie könnten sich nicht mehr erinnern. Mehrmals kam es sogar vor, dass Opfer, die auf der Liste standen, gegenüber dieser ablehnend reagierten.18 Viele Opfer, die genau wie er im 15  Es handelt sich um die Hefte von Petri, einer Tochter Ángels, an deren Veröffentlichung ich zurzeit arbeite. Sie sind sicher nicht die einzigen, die Ángel geschrieben hat, aber weitere Hefte sind unauffindbar. 16  Wenn sich seine Erzählung auf die Zeit danach bezieht, so nur, um zu erklären, wie er zu bestimmten Berichten gekommen ist, die nicht auf seiner eigenen Erfahrung beruhen. So berichtet er in einem Heft von einer Begegnung mit Marcos López im Madrid der 50er Jahre, dem einzigen Überlebenden eines Massakers, dem Angehörige der Gemeinde von Nava del Rey in einem Kiefernwald in der Nähe des Ortes zum Opfer gefallen waren. Marcos López sprach mit ihm über Einzelheiten seiner Flucht nach Madrid. 17  s. Piedras Monroy (2006), S.  144. 18  Mein Artikel „La Lista de Ángel Piedras“ analysiert, welche Gründe dieses Schweigen hat. Es war nicht nur Angst oder der Wunsch, die alten Zeiten zu vergessen. Es gab auch einen zweckrationalen Grund. Viele Opfer des Franquismus empfanden Scham über ihre Vergangenheit als Opfer. In den langen Jahren des Franquismus entstanden neue soziale Beziehungen zu denjenigen, die sie einst unterdrückt hatten; sie wollten daher mit ihrer Vergangenheit brechen. Ángel Piedras hat mit mir, als ich ein junger Mann war, direkt darüber gesprochen (s. Piedras Monroy, 2006, S.  152–154). Außerdem sind die alten Opfer durch Rundfunk und Fernsehen



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Gefängnis waren oder deren Verwandte oder Freunde ermordet wurden, wollten nicht mehr als Opfer gesehen werden. Sie wollten die Fragen, die Ángel ihnen stellte, um die Liste zu vervollständigen, nicht beantworten.19 Ihr Leben nach der Zeit der Anlässe, die dazu führten, dass sie in die Liste aufgenommen wurden, brachte es mit sich, dass die Überlebenden sich neue Existenzen aufbauen und nicht mehr in der Gruppe der damaligen Zeit mit ihren Namen identifiziert werden wollten. Doch die Namen sind immer noch da. Das Nichterinnern der alten Opfer brachte Ángel in Zweifel über den Wirklichkeitsgehalt seiner eigenen Erinnerungen, stellte diese infrage. Deshalb begann er, um sich und seiner Umwelt Gewissheit zu verschaffen über die Wahrheit seiner Erinnerungen, diese niederzulegen in den Erzählungen seiner Hefte. An dieser Stelle sind einige Bemerkungen zur aliterarischen Sprache der Hefte angebracht.20 Sie ist roh, manchmal telegraphisch kurz, aber von der Intensität der gesprochenen Sprache. Andererseits stellt sie in ihrer Trockenheit und ihrem Mangel an jeglicher Orthographie – Ángels Bildungsstätte war das Leben, nicht die Schule – so manche Entschlüsselungsaufgabe. Die Erfahrungen, die in den Heften zum Ausdruck kommen, sind düster, sämtliche Erinnerungen erfüllt von Trauer und Schrecken: es tauchen in ihnen die Toten der Grippe-Epidemie auf, die seine älteren Brüder ins Grab brachten; Menschen aus der Nachbarschaft, die sich das Leben nahmen; eine Gemüsegärtnerin, die von ihrem Mann ermordet wurde, und deren Leiche er auf dem Boden sah; die Leiden der Tagelöhnerarbeit; schließlich die grauenvollen Tage des Sommers 1936, die belastenden Wintertage im Gefängnis. Eine Konstante gibt es in den verschiedenen Heften: die Erwähnung seiner eigenen Erinnerungsfähigkeit. So gibt es an verschiedenen Stellen Sätze wie:

in ihrer Meinung zum Aufbau des neuen Staates im demokratischen Spanien beeinflusst worden. Die Mehrheit akzeptierte so das Feenmärchen: die Idee der nationalen Versöhnung und die Idee des notwendigen Vergessens. Das bedeutete aber auch, sich der Frage nach der Vergangenheit zu verweigern. 19  Es gibt viele Theorien über das Schweigen der Opfer nach dem spanischen Bürgerkrieg: s. u. a. Preston (2004), S. 17 (Angst); Aguilar (1996), S. 65 (Angst und Verbergen der Vergangenheit, um den Söhnen und Töchtern ein besseres Leben zu ermöglichen); oder Palomares (2004), S.  38–39 (Pakt des Schweigens in der Transición). 20  Die Struktur der Texte von Ángel Piedras haben nichts zu tun mit der allgemeinen Struktur literarischer Selbstbiographien, wie sie durch Mary Warnock beschrieben wurden. Ángel benutzt keine vorherigen persönlichen Dokumente (Tagebücher o. a.), es gibt keine Moralisierung, es gibt keinen Prozess der persönlichen Bildung. Es gibt zeitweise sogar ein Verschwinden des Ichs als Zentrum der Erzählung (s. Warnock 1989, S.  113–114).

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Abbildung 2: Aus dem Heft „Erinnerungen eines Bauern“ von Ángel Piedras „So ich ein gutes Gedächtnis habe, erinnere ich mich an viele Sachen aus der Zeit meiner Kindheit“, (…) „ich bemerke viele Dinge, weil ich ein gutes Gedächtnis habe, trotzdem die 8 Jahre [im Gefängnis] mich viele Dinge vergessen machen“, (…) „Die Vergangenheit erinnernd erinnere ich mich an viele Dinge, seit ich kaum 7 Jahre alt war“, (…) „Weil ich viele Dinge meiner Jugendzeit erinnere“, (…) „Ich habe viele Erinnerungen seit ich nur 8 Jahre alt war“, (…) „Weil ich ein gutes Gedächtnis habe“, (…) „Ich werde Euch etwas erzählen, an das ich mich erinnere“ u. s. f.



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Abbildung 3: Dichtung „Schon sagt die Mehrheit“, von Ángel Piedras

Von besonderem Interesse sind die Hefte als Ángels Antwort auf das Schweigen seiner Nachbarn. So stellt er in einem kleinen, aphoristisch wirkenden Gedicht, das sehr ausdrücklich die Einstellung der Einwohner von Nava del Rey gegenüber der Zeit der Repression anspricht, die Schlüsselfrage: Wie Vergessen?

Schon sagt die Mehrheit, dass es nichts zu erinnern gibt. Kann man so einfach Einen Bruder und eine Mutter Ohne Mitleid ermordet Vergessen?21

Die Erzählungen der verschiedenen Hefte sind fast dieselben. Manche enthalten neue Beschreibungen oder Anekdoten, aber im Wesentlichen wiederholen sie dieselben Geschichten, sodass die Hefte einen rituellen Eindruck vermitteln. Es gibt einen grundlegenden Zusammenhang zwischen Erinnerung und Ritus. So auch hier: jeder Eintrag des Autors in seine Hefte wiederholt die Leiden der erinnerten Opfer. Mit dieser steten, rituellen Mimesis der Opfer scheint Ángel die Rettung derer zu versuchen, die zusammen auf der Liste erscheinen. Es gibt aber etwas anderes in den Heften. Sie enthalten nicht nur Episoden der Gewalt wie Folter und Totschlag. Auch hier findet man Namen, 21  In einem anderen Artikel habe ich diese Dichtung als „Y dice la mayoría“ (Und sagt die Mehrheit) umgeschrieben. Eigentlich schreibt Ángel „Ya cice“. Ich hatte mich an meinen Onkel erinnert, der mir die Dichtung persönlich mit „Y dice“ rezitiert hatte. Deswegen nahm ich an, das „a“ von „Ya“ sei nur das falsch geschriebene „d“ von „dice“ und das „c“ von „cice“ ein einfacher Schreibfehler. Heute denke ich, dass „Ya“ („schon“) eine selbständige und wichtige Bedeutung hat: Viele, die vorher erinnerten, wollen schon nicht mehr erinnern.

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jedoch – im Unterschied zu den Listen – nicht nur die der Opfer (die in den Heften erscheinenden sind relativ wenige), sondern auch und vor allem Namen von Tätern. Die Hefte sind deswegen etwas verwirrend und unbequem, weil dort die Namen konkrete Individuen beschuldigen, den guten Ruf von Familien beflecken und vergangene Umstände an den Tag bringen, welche die gegenwärtige Gesellschaft schwer akzeptieren kann. Die Namen der Hefte sind deswegen, im Gegensatz zu den Namen der Listen, aktive. IV. Die Spektrale Gemeinschaft Die letzten Jahre seines Lebens entscheidet sich Ángel Piedras, auf Distanz zu den Mitbewohnern seines Ortes zu leben und keinen Kontakt mehr zu ihnen zu pflegen. Er wird sich immer in seinem Haus sowie in dem der Nonnenstraße gegenüberliegenden Park aufhalten, in Gesellschaft allein einiger unmittelbarer Nachbarn und Nachbarinnen. Die soziale Realität des Ortes vereint die Namen der Liste nicht mehr, die Lebenden wollen von den Toten getrennt bleiben. Ángel ist nicht länger seiner alten Nachbarschaft verbunden, sondern hält seinen unglücklichen papierenen Kameraden die Treue, mit denen zusammen er vor vielen Jahren dasselbe Schicksal geteilt und erlitten hatte. Doch die Namen der Toten und die mancher vergesslicher Lebenden existieren nur in Ángels Liste fort; und Ángel setzt die reale Gesellschaft, die ihn umgibt, aus und lebt nur für die Gemeinschaft, die in seiner Liste existiert. Ángel wollte trotzdem niemals seinen Heimatort verlassen. Nur eine Tochter wohnte im Dorf. Er war Witwer und die Hälfte seiner großen Familie wohnte in Frankreich. Er hätte Nava del Rey einfach verlassen können, doch hatte er eine der Zeit und dem Raum enthobene Verbindung zu den Menschen der Liste, mit ihrer Zeit, ihrem Raum und ihrem Schicksal. So wurde er gleichsam zum Hüter dieser Gemeinschaft von Opfern, die – äußerlich besehen – nur in seinen Schriften existiert. Ángels Geschichte ist ein überaus beredtes Beispiel für die Kraft und Kreativität menschlicher Erinnerung auch und gerade von traumatischen Erfahrungen. Es lässt in diesem spanischen Fall besser verstehen, wie die Erinnerung von Unterdrückung und Terror in der Kriegs- und Nachkriegszeit aufrechterhalten und gestaltet wurde; und auf welche Weise Individuen alleine und oft hoffnungslos dafür kämpften. Gegenüber der neuen spanischen Gesellschaft, die offensichtlich lange Zeit umwoben war vom Ideengespinst eines politisch gewollten Feenmärchens, nimmt die Gemeinschaft der Liste von Ángel eine spektrale Konnotation ein. Diese – wie ich sie nennen möchte22 – spektrale Gemeinschaft Ángels ist ihrerseits nur ein Teil 22  Das von mir bewusst hier eingesetzte Wort „spektral“ ist nicht, wie im Deutschen üblich, abgeleitet aus dem naturwissenschaftlichen „Spektrum“, auch nicht aus



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Abbildung 4: Gruppe der Gefangenen aus Nava del Rey, im Moment der Entlassung aus dem Gefängnis von Burgos (1944), Ángel Piedras ist der Dritte von rechts in der unteren Reihe

der unermesslich großen spektralen Gemeinschaft, die in der Zeit der Transición dazu verurteilt wurde, für immer im Schweigen zu verharren. Letztlich scheint sie die Gesellschaft, die Politik und die Kultur Spaniens besessen zu haben. Man kann nicht behaupten, die Enkelgeneration der Opfer von Bürgerkrieg und politischer Unterdrückung sei, im Vergleich zur Generation der Söhne, empfindlicher geworden gegenüber den damit gegebenen Problemen. Allerdings verfügt die Enkelgeneration vermehrt über Bildungs- und informationelle Ressourcen, und zweifellos wächst allgemein die Offenheit der spanischen Gesellschaft für die Vergangenheitsproblematik. Bildhaft gesprochen: es hat sich heute die Zahl der Ohren vermehrt, die offen sind für die Stimmen der Gespenster, so auch derjenigen, denen Ángel Piedras erst die Stimme verliehen hat. Unsere Zeit aber ist bereits eine, in der es nur noch wenige Überlebende der Repressionsepoche gibt. In dieser Hinsicht ist abermals die Frage Aleida Assmanns zu stellen: „Was wird sich ändern, wenn diese Generation der dessen metaphorischem Gebrauch für „Vielfalt“, sondern aus dem spanischen Wort espectro, „Gespenst“.

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Zeitzeugen nicht mehr mitspricht?“23 Reinhart Koselleck antwortet darauf: das Aufrechterhalten der Erinnerung bringe mit der Zeit eine Verwissenschaftlichung des kollektiven Gedächtnisses mit sich; daraus ergebe sich zwangsläufig, dass die Erinnerung farblos und blass wird, ohne jene starke Leidenschaft, die jedes tiefere Verstehen voraussetzt. Doch Assmann zeigt uns, dass im Ablauf der Generationen sich das Problem der Vergangenheit auch verschärfen kann, wenn es als ein besonders belastendes Erinnerungsproblem (mit Traumata und Verdrängungen) erfahren wird; die Erinnerungsproblematik des Holocaust ist dafür das herausragende Beispiel. Auch der spanische Fall kann von daher beleuchtet werden. Wie bereits angedeutet, leben nur noch wenige Zeitzeugen mit direkten Erfahrungen zu den oben erwähnten historischen Ereignissen. Ihre Zeit und die Zeit ihrer Söhne war (wie der berühmte Titel des Romans von Martín Santos besagt) eine Zeit der Stille (oder: des Schweigens), Tiempo de Silencio.24 Die Zeit der Stille umfasste nicht nur die Epoche Francos, sondern auch die ersten zwanzig Jahre der Demokratie. Dieses Schweigen verdeckt die unberührbare Sphäre der Gespenster, die fortexistierende spektrale Gemeinschaft, die viele Spanier – nicht selten unbewusst – dazu bringt, die spanische Flagge nicht als die ihre, die Monarchie nicht als die von ihnen mitgetragene Regierungsform, die politischen Gegner nicht anders denn als Todfeinde anzusehen, usw. Soll die spektrale Gemeinschaft endlich zu ihrer Ruhe kommen – und davon hängen viele wichtige Entwicklungen in Gesellschaft, Kultur und Politik im künftigen Spanien ab – so setzt dies freilich voraus, dass sie bewusst wahrgenommen wird und dass akzeptierte Wege des öffentlichen Umgangs mit ihr gefunden werden. Vor ungefähr zehn Jahren schien die Zeit dazu gekommen zu sein. Die speziellen politischen Umstände Spaniens seit Ende der 1990er Jahre wären eine gute Gelegenheit gewesen, um über die Opfer des Franquismus ins Gespräch zu kommen. Eine Linke ohne Argumente gegenüber der effizienten ökonomischen Politik der konservativen Regierung und bemerkenswerte Erfolge bei Problemen, die die öffentliche Meinung beunruhigt hatten (wie Terrorismus, Arbeitslosigkeit), veranlassten die sozialistische Partei zu einem Linksruck, von dem sie sich neue politische Chancen erhoffte. Mit einer die Dinge simplifizierenden und fast automatischen Identifizierung der konservativen Partei mit der Ideologie des Franquismus, mit der Rhetorik des No Pasarán und der übertriebenen Benutzung der dreifarbigen republikanischen Flagge in Demonstrationen, meetings und Veranstaltungen umhüllte sich die PSOE mit dem Mantel des Widerstands gegen Franco. 23  Assmann / Frevert

(1999), S.  28. Übersetzung ins Deutsche ist Schweigen über Madrid (Eichborn, Frankfurt a. M. 1991). 24  Die



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Während der Regierung der konservativen Partei (PP) (1996–2004) stieß die Linke die Diskussion über die Wunden des Bürgerkriegs an, was unbequem war für die Konservativen, die sich nur mühsam von den franquistischen und nationalkatholischen Ideen entfernten. Plötzlich gerieten mit dieser Diskussion alle Gespenster durcheinander. Gleichzeitig mit dem Kampf gegen die spanische Irakpolitik wurde in diesem Moment die sog. Memoria Histórica zum wichtigsten Teil des sozialistischen Diskurses: geradezu pflichtgemäß wandte man sich den blutigen Ereignissen des Krieges zu, um sie zu denunzieren. Der neue Krieg um das Gedächtnis wuchs zu einem lang anhaltenden Zermürbungskrieg aus. Er kam vielen Sektoren der spanischen Gesellschaft gelegen, vor allem natürlich der Mehrheit der ungezählten Opfer und deren Familien, die bislang stumm geblieben waren. Schließlich nahm sich auch die Zunft der Historiker der Themen und Fragstellungen der Memoria Histórica an und machte sie zu einem bevorzugten Forschungsfeld, das zwischen 1996 und 2004 die Zahl entsprechender Veröffentlichungen spürbar steigerte. Unübersehbar und verständlich kamen dabei die Motivationen, Interessen und Orientierungen, die dabei im Vordergrund standen, überwiegend von der politischen Linken. Jedoch blieb die Politisierung auch auf der anderen Seite nicht aus; in einer Vielzahl von Schriften wurde über den roten Terror und über die Lügen der „anderen Seite“ debattiert. Das Großthema Memoria Histórica war so erfolgreich und hinterließ einen so starken Eindruck, dass man in Spanien sogar dazu tendiert, den Begriff Historia (Geschichte) durch den Begriff Memoria (Gedächtnis) abzulösen.25 Der zunächst für unwahrscheinlich gehaltene Sieg der PSOE wurde dennoch und unversehens durch die Attentate von Madrid (11. März 2004) ermöglicht. Dieses Ereignis markiert das Ende der Mobilisierung für die Opfer des Krieges; man sah nun die Zeit gekommen, einen Schlussstrich unter das Thema der Unterdrückung in der Zeit des Bürgerkriegs und danach zu ziehen. Für die PSOE bedeutete dies eine Art von retrospektiver Korrektur ihres Irrtums in den Jahren 1982–1996, als sie die Opfer fast völlig vergessen hatte. Schließlich erließ die sozialistische Regierung Spaniens 2007 ein Gesetz, mit dem das Gedächtnis der Opfer in der Gestalt, die es unter dem Franquismus angenommen hatte, in eine neue und angemessene Form gebracht werden sollte. Das Gesetz Für die Erkennung und Erweiterung der Rechte und die Festlegung von Maßnahmen zugunsten der Opfer von Verfolgung und Ge25  Ein Beispiel: einem Dokumentarfilm über die Geschichte Spaniens wurde der Titel Memoria de España gegeben, dem gleichnamigen Buch folgend (s. García de Cortázar 2005), auf welches der Film auch inhaltlich zurückgeht (s. Piedras Monroy 2008, S.  61–66).

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walt in Bürgerkrieg und Diktatur will dem Problem der Ungerechtigkeit, das im einseitigen Gedenken der Opfer liegt, ein Ende machen. Bewusst oder unbewusst hat es trotzdem große Missverständnisse in Bezug auf elementare Erfordernisse für das Funktionieren des kollektiven Gedächtnisses gegeben. Ich gebe hier ein Paar Beispiele. Das schon erwähnte Tal der Gefallenen (Valle de los Caídos), seine Basilika, seine benediktinische Abtei, das riesige Kreuz oder die Gräber von Franco und José Antonio Primo de Rivera werden fortan durch eine Stiftung verwaltet mit dem Ziel: „das Gedächtnis aller Opfer des Bürgerkriegs von 1936–1939 und der späteren Repression ehrend zu bewahren, um die Kenntnis dieser Periode der Geschichte Spaniens zu vertiefen und den Frieden und die demokratischen Werte zu preisen.“ (Artikel 18). Kann sich jemand ernsthaft vorstellen, ein Monument der Bürgerkriegssieger, bei dessen Errichtung Tausende der besiegten Spanier als Zwangsarbeiter eingesetzt wurden und von denen viele deshalb zu Tode gekommen sind, könne heute letztere genauso repräsentieren wie die zuerst genannten? Indem jene Zielsetzung so tut, als könne dem Monument so, wie es nun einmal ist, eine neutraler, „gerechter“ Sinn übergestülpt werden, wird sowohl die historische Realität geleugnet wie den Opfern ein zweites Unrecht zugemutet. Opfern ist, wie man weiß, nur unter besonderen Umständen zumutbar, die Orte der Untaten, die sie trafen, zu besuchen; das gilt auch für das Bedürfnis der Nachkommen, ihrer Toten unter den Opfern zu gedenken (gleich ob in Auschwitz oder in den Kiefernwäldern bei Nava del Rey); nur als pervers kann indes die Erwartung Opfern gegenüber (eingeschlossen deren Nachfahren) bezeichnet werden, sie könnten sich durch Monumente zu Ehren ihrer siegreichen Feinde und Peiniger geehrt fühlen. Ferner besagt Artikel 15 desselben Gesetzes: „Die staatlichen Verwaltungen genehmigen Grabungsprojekte zur Lokalisierung von sterblichen Überresten der Opfer […], der Vorschrift über das geschichtliche Erbe gemäß“. In einer demokratischen Gesellschaft sind die Gerichtsärzte verantwortlich für aufgefundene Leichen; in jedem Fall ziehen Leichenfunde gerichtsmedizinische Untersuchungen und damit ein gerichtliches Verfahren nach sich. Der Duktus und die Begrifflichkeit des zitierten Artikels werfen die Frage auf, ob hier nicht zwei grundverschiedene ethisch-politische Kategorien verhängnisvoll verwechselt werden: betroffenen Generationen ein menschenwürdiges Totengedenken zu ermöglichen auf der einen Seite, der Gesellschaft epochenübergreifende Identität durch die Pflege ihres kulturellen Erbes zu sichern auf der anderen. Zwei Generationen trennen uns erst vom spanischen Bürgerkrieg und seinen Nachwehen in den Jahrzehnten des Franco-Regimes. Es wäre schwer erträglich und eine eklatante Unangemessenheit, die sterblichen Überreste der Opfer aus jenen dunklen Zeiten der spanischen Geschichte, die uns gleichwohl noch nahe sind in den mitgeteil-



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ten Erlebnissen und Erfahrungen, als Kulturerbe oder geschichtliches Erbe behandelt sehen zu müssen; die Toten, denen allein würdiges Gedenken angemessen ist, wären verwandelt in Kulturgüter, vergleichbar griechischer Keramik hinter Museumsglasscheiben oder Objekten gewinnträchtiger prähistorischer Industrien. Politisch gewendet, bedeutet das Gesagte: während die Regierung wieder in Ruhe Luft holen zu können scheint (für einen wie lange dauernden geschichtlichen Augenblick, wäre zu fragen), geistert die spektrale Gemeinschaft immer noch durch Spanien; ihre unbequeme Gegenwart ist gewiss kein gutes Omen. V. Schluss In ihren Prinzipien ist die inzwischen etablierte spanische Demokratie unanfechtbar, sie ist jedoch nach wie vor beeinträchtigt durch erhebliche Unvollkommenheiten des politischen Systems und der heutigen Verfassung der Spanischen Gesellschaft. Viele von diesen stammen aus einer problematischen Behandlung der Vergangenheit. Die Toten des Bürgerkriegs bringen mehrfache menschliche Botschaften und Lehrstücke für die künftigen Generationen mit sich.26 Solange die Lehren dieser Toten noch nicht auf einer Ebene gedeutet werden, die dem ganzen Menschen gerecht wird, stattdessen aber reduziert werden auf politische Funktionen, werden die Toten in Gestalt der Gespenster (im oben dargestellten Sinne) ihr umtriebiges Eigenleben fortsetzen und in der Politik, in der Gesellschaft, in der Kultur Unruhe stiften. Jenseits der Amnesie, die einfach passiert (wie meistens aufgrund traumatischer Erfahrungen), ist bewusstes oder gar verordnetes Vergessen keine Lösung, es war und ist nicht nur irrig, sondern auch ungerecht in seinen Auswirkungen. Das Vergessen hat in Spanien die Erniedrigung der einer Seite auf Dauer gestellt und deshalb die kulturelle Spaltung des Landes vertieft. Es ist verfehlt, wenn einige Politiker glauben, in übereilten, sachlich nur oberflächlich vorbereiteten Verfahren gedächtnispolitische Gesetze auf den Weg bringen zu können, die geeignet sind, die schwierigen Identitätsprobleme des gegenwärtigen Spanien zu lösen. Wann immer die sozialen und politischen Umstände schwierig werden, ist ohnehin zu erwarten, dass die Sorge um eine vertretbare Gedächtnispolitik in den Hintergrund tritt; die spektrale Gemeinschaft könnte dann abermals erscheinen und die schönen Feenmärchen Spaniens in Alpträume verwandeln. 26  Bürgerkriege sind auch gute Beispiele für das menschliche Übel und für den unmenschlichen logischen Pragmatismus des menschlichen Handelns in bestimmten kriegerischen Umständen. s. Kalyvas (2006).

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Vergangenheit endet, wenn sie nicht mehr gegenwärtig ist: dann also, wenn sie endlich beginnt, vergangen zu sein. Das Ende der Vergangenheit ist dann ihr Anfang. Literatur Aguilar Fernández, Paloma: Memoria y Olvido de la Guerra Civil Española, ­Madrid: Alianza 1996. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses, in: Erwägen Wissen Ethik 13, Heft 2, 2002, S.  183–190. Assmann, Aleida / Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1999. Bermejo Barrera, José Carlos: Moscas en una Botella. Cómo Dominar a la Gente con Palabras, Madrid: Akal 2007. – ¿Qué debo recordar? Los historiadores y la configuración de la memoria, in: ders.: ¿Qué es la historia teórica?, Madrid: Akal 2004, S.  50–70. Causa General. La dominación Roja en España, 4. Aufl., 1961. Espinosa Maestre, Francisco: La memoria de la represión y la lucha por su reconocimiento, in: Hispania Nova. Revista de Historia Contemporánea 6, 2006, http: /  / hispanianova.rediris.es. García de Cortázar, Fernando (Hg.): Memoria de España, Madrid: Punto de Lectura 2005. Irwin-Zarecka, Iwona: Frames of Remembrance. The Dynamics of Collective Memory, New Brunswick, New Jersey: Transaction Publishers 1994. Juliá, Santos (Hg.): Víctimas de la Guerra Civil, Madrid: Temas de Hoy 1999. – Historias de las Dos Españas, Madrid: Taurus 2004. Kalyvas, Stathis N.: The Logic of Violence in Civil Wars, Cambridge u. a.: Cambridge University Press 2006. Margalit, Avishai: The Ethics of Memory, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 2004. Palomares, Jesús María: La depuración de la historia, in: Silva, E. / Esteban, A. / Castan, J. / Salvador, P. (Hg.): La memoria de los olvidados. Un debate sobre el silencio de la represión franquista, Valladolid: Ámbito 2004, S.  37–43. Pethes, Nicolas / Ruchatz, Jens (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001. Piedras Monroy, Pedro: La Lista de Ángel Piedras. Memoria de la Guerra Civil y Subalternidad, in: Revista da Faculdade de Ciências humanas e sociais 18, 2006, S.  143–161.



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Kulturelle Implikationen der Hochschulreform Von Gabriele Cappai I. Einleitung Über die letzte umfassende Universitätsreform, die Lehre, Forschung und Anbindung an die soziale und ökonomische Wirklichkeit des Landes neu regeln will, ist viel gesagt und geschrieben worden. Wir verfügen bereits über mehr oder weniger ausführliche Analysen ihrer Bedeutung für Lehre und Forschung, über statistische Dokumentationen hinsichtlich der Probleme ihrer Implementierung und nicht zuletzt über Prognosen in Bezug auf zu erwartende mittel- und langfristige Folgen für das Studium an Hochschulen und für die Bildung im Allgemeinen.1 Wagt man sich also an dieses Thema heran, so ist die Gefahr, bereits Gesagtes zu wiederholen, relativ hoch. Vieles hängt letztlich von dem theoretischen Instrumentarium ab, das man betätigt, und von der ideologischen Position, die man bezieht. Im Folgenden werde ich mich auf die Diskussion bestimmter Aspekte der Hochschulreform beschränken.2 Weitgehend auslassen werde ich die Forschungsproblematik, die bereits von anderen Autoren ziemlich ausführlich behandelt worden ist.3 Dies heißt jedoch nicht, dass hier Forschung in ihrem Konnex mit der Lehre ausgeblendet wird. Im Zentrum meiner Ausführungen wird vor allem die so genannte „Praxisorientierung“ des Studiums stehen, insofern diese die Loslösung der Studiengänge von ihrer Anbindung an Disziplinen zur Folge hat. Wir werden sehen, dass sich um diese Problematik herum Themen und Probleme gruppieren, die eine unmittelbare Relevanz für die kulturelle Handlungsdimension haben. 1  Zu den Höhepunkten dieser Debatte gehören unter anderem folgende Schriften: Morkel (2000); Stölting / Schimank (2001); Lamnek (2002); Münch (2007); Mayer /  Krücken / Hornbostel (2009); Kaube (2009). 2  Vergegenwärtigen wir uns noch einmal in aller Kürze die zentralen Argumente, die von den Befürwortern der Reform zu ihrer Legitimation ins Spiel gebracht werden: Bessere Strukturierung und Straffung des Studiums, Verkürzung der Studiendauer, internationale Vergleichbarkeit der Abschlüsse, Praxisnähe bzw. Praxisanbindung des Studiums, Steigerung der Konkurrenzfähigkeit des Landes in einem globalen Kontext. 3  Münch (2007).

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Im Folgenden soll es auch darum gehen, zu zeigen, dass die Reform drei Arten von Verlierern zu produzieren droht: Die ersten sind die Geistes- und Sozialwissenschaften, als jene Wissenschaften, die eigenständige Verfahren zur Erforschung der sozialen und kulturellen Welt entwickelt haben. Die zweiten Verlierer sind die Studenten der Geistes- und Sozialwissenschaften, insofern diese in einem System sozialisiert werden, das von ihnen unmittelbar verwertbares Wissen abverlangt und dabei die Tatsache aus den Augen verliert, dass das, was wertvolles Wissen ist und wie man dieses erlangt, keine Praxis bestimmen kann. Der dritte Verlierer schließlich ist Deutschland als das Land, das in den beiden vorigen Jahrhunderten wie kein anderes in Europa zum Aufstieg und zur Entfaltung der Geistes- und Sozialwissenschaften beigetragen hatte. II. Pro und contra Technokraten und technokratisch gesinnte Menschen neigen dazu, Veränderungen an komplexen sozialen Systemen vorzunehmen, ohne die Folgen dieses Handelns zu Überschauen. Vielleicht ist es noch zu früh, um endgültig sagen zu können, ob die Idee einer neuen Universität, die in Bologna ihre Geburtsstunde fand, zu jenen Arten von Interventionsmaßnahmen mit paradoxen Folgen gehört. Sicher ist aber, dass sich die Anzeichen dafür mehren, dass die Reform nicht so greift, wie sie greifen sollte, und dass die Probleme, die sie hervorruft, mit der Zeit immer klarer ans Tageslicht treten. Es handelt sich um Probleme, die sowohl innerhalb der Universitätslandschaft als auch außerhalb dieser die Geister spalten. Die Befürworter der Reform führen die negativen Externalitäten derselben, die mittlerweile auch von militanten Reformern zugegeben werden, auf Inkonsistenzen zurück, die durch ex-post-Maßnahmen absorbiert werden könnten. Es handele sich also dabei um unbeabsichtigte Nebenfolgen, mit denen das neue System mehr oder weniger langfristig fertig werde. Erfolg sei im Übrigen nur dann garantiert, wenn man die Implementierung der Reform mit stärkerer Entschiedenheit und Kohärenz als bisher betreibe.4 Die Gegner, die ich im Folgenden hauptsächlich an Positionen von Geistes- und Sozialwissenschaftlern festmachen werde, behaupten andererseits, die Reform treffe das zentrale Nervensystem der Bildung an Hochschulen und mache es zunichte. Sie zerstöre ein erprobtes und im internationalen Vergleich auch erfolgreiches System der Produktion, Prüfung und Vermittlung von höherem Wissen. Ein System, das in vielerlei Hinsicht verbesse4  Bergan

(2009).



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rungsbedürftig war, es aber keineswegs verdiente, kurzerhand als „Auslaufmodell“ behandelt zu werden. Zwischen den beiden Fronten nimmt in der Gemeinschaft der Diskutanten eine dritte Position versöhnend immer mehr Konturen an.5 Das Argumentationsmuster ist vielleicht bekannt: Beide konträre Vorstellungen, wie eine Institution der höheren Bildung organisiert werden muss und welche Ziele sie verfolgen soll, enthalten wichtige und auch richtige Elemente. Es kommt jetzt darauf an, diese unterschiedlichen Elemente in einer Einheit gekonnt zu verbinden. Diese Position hat etwas Bestechendes an sich, weil sie die beiden Kontrahenten ernst nimmt und sie dazu motiviert, nachzudenken, wie eine mögliche Synthese aussehen könnte. Die Frage ist allerdings, ob wir es hier mit einem harten Kern in der Form von „Ideen“, „Idealen“ oder auch „Werten“ zu tun haben, die sich aus der Perspektive ihrer Vertreter für Kompromisse und Synkretismen wenig eignen. Nun scheint bei vielen Befürwortern des „alten Systems“ gerade dies der Fall zu sein. Kann diese Position als eine Art Fundamentalismus angesehen werden, der blind dafür ist, dass die Welt neue Antworten auf alte und neue Fragen braucht und dass diese Antworten die Schaffung neuer Strukturen der Wissensproduktion, Wissenskontrolle und Wissensvermittlung voraussetzen? Wir können diese Frage nur dann beantworten, wenn wir, so denke ich, einen tieferen Einblick in manche Aspekte des „alten“ Systems und seine Funktionsweise gewinnen. Doch bevor ich mich dieser Problematik zuwende, erscheint mir an dieser Stelle eine Zwischenbemerkung erforderlich. III. Notwendige Unterscheidungen Die Diskussion zwischen Befürwortern und Gegnern der Studienreform leidet daran, dass sie nicht deutlich genug zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften einerseits und Naturwissenschaften andererseits unterscheidet. Dies mag eine Konsequenz der Tatsache sein, dass die Reformideologen diesen Unterschied kaum berücksichtigt haben. Die Reform ist für das ganze Universum der höheren Bildung und nicht für bestimmte Domänen derselben gedacht. Meine Überzeugung ist nun aber, dass man sich viele Missverständnisse und Streitigkeiten erspart hätte, wenn zwischen Geistesund Sozialwissenschaften einerseits und Naturwissenschaften andererseits ein Unterschied gemacht worden wäre. Standardisierung in Forschung und Lehre kann beispielsweise in einem Fall sehr sinnvoll sein, in einem ande5  Schimank

(2009), S.  5.

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ren weniger oder überhaupt nicht. Mit dem Gebot des Praxisbezuges verhält es sich ähnlich.6 Ohne ontologische Gräben zwischen den zwei Wissensdomänen schaffen zu wollen, kann gesagt werden, dass es schädlich für beide wäre, wenn typische Verfahrensweisen und Ziele nicht auseinander gehalten werden würden.7 Vorausgesetzt, dass es in beiden Domänen um die Suche, Sicherung und Vermittlung von wahrem Wissen geht, so muss eingesehen werden, dass die De-Kontextualisierung des untersuchten Phänomens in den Sozialwissenschaften in einem größeren Ausmaß abträglich sein kann als in den Naturwissenschaften. Im Selbstverständnis handlungstheoretischer Sichtweisen sind beispielsweise sowohl die Entstehungsbedingungen als auch die (beabsichtigten sowie die unbeabsichtigten) Folgen einer Handlung als Bestandteile dieser Handlung zu betrachten und müssen deswegen von der Analyse in Rechnung gestellt werden. Der Biochemiker, der ein Molekül auf seine Bestandteile untersucht, hat hingegen eine wertvolle Arbeit geleistet, auch wenn er ihre Genese und Entwicklung außer Acht lässt. Es ließe sich ebenso behaupten, dass, wenn es stimmt, dass sowohl Natur- als auch Sozialwissenschaften auf Erklärung (und also auf die Verwendung von nomologischem Wissen) abzielen8, doch die letzteren, insbesondere dort, wo es um Motive des Handelns geht, auch auf Verstehen und Interpretation angewiesen sind. Dies alles hat Konsequenzen für die Lehre und Forschung an Hochschulen, die von den Reformern nicht ausreichend bedacht wurden. Die negativen Folgen der fehlenden Unterscheidung zwischen Geistesund Sozialwissenschaften einerseits und Naturwissenschaften andererseits werden nicht zuletzt an der von der Reform propagierten Trennung von Forschung und Lehre sichtbar. Diese Trennung mag in den Naturwissenschaften gerechtfertigt erscheinen. Forschung entspricht hier nämlich einer komplexen Tätigkeit, bei der zeitintensive Beobachtungsprozeduren und langwierige Experimente in Labors notwendig sind. Es handelt sich um Tätigkeiten, die oft wenig Zeit für die Lehre übrig lassen. Ebenso wahr ist auch, dass es in den Naturwissenschaften primär, wenn auch nicht ausschließlich, um die Vermittlung von bewährten Prozeduren und Techniken 6  Gewiss gibt es eine gewisse Evidenz dafür, dass hier Unterschiede nicht so sehr Wissensdomänen auszeichnen, sondern quer durch Disziplinen verlaufen. Wer würde beispielsweise leugnen, dass in den Sozialwissenschaften der Praxisbezug sehr ausgeprägt sein kann und dass hingegen in den Naturwissenschaften oft Grundlagenforschung mit wenig Praxisbezug praktiziert wird? 7  „Einheit der Wissenschaft“, so Mittelstraß, „sollte nicht bedeuten, Einheit der Wissenschaft in einem System. Dieses System gibt es nicht und wird es auch nicht geben, weil dies zur Folge haben müsste, alle Wissenschaften einer Methode und einer Theorie zu unterwerfen.“ Mittelstraß (1985), S.  230. 8  Diese Annahme wird jedoch in den Sozialwissenschaften nicht immer geteilt.



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geht, die sich für jene Arten kritischer, abwägender Diskussion wenig eignen, die in den Geistes- und Sozialwissenschaften üblich und notwendig sind. Die Trennung von Lehre und Forschung, so wie sie von der Reform favorisiert wird, muss letztlich von zwei Seiten betrachtet werden: Dozenten und Studenten. Was die Dozenten angeht, so muss gefragt werden, welche Implikationen es hat, wenn ein Universitätsprofessor nur doziert, aber keine Forschung betreibt. Insbesondere auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften ist diese Haltung fatal, denn ein Dozent, der nur unterrichtet und nicht forscht, publiziert auch nicht, d. h. er exponiert sich nicht dem Urteil seiner Fachkollegen. Er stellt also nicht unter Beweis, dass er noch fähig ist, an einem Ort der Produktion und Sicherung von höherem Wissen arbeiten zu können. Was die Gruppe der Studenten angeht, so muss gefragt werden, ob ein Studium ohne Forschung sinnvoll ist. Ergibt es einen Sinn, Studenten aus Denkprozessen auszuschließen, bei denen es um die Generierung und Prüfung von höherem Wissen geht? Begreifen wir Forschung als Prozess der Wahrheitsfindung und Wahrheitsprüfung durch das Abwägen von Argumenten in der offenen Diskussion unter Anleitung des Dozenten, dann muss diese Frage mit einem klaren Nein beantwortet werden. Auch bei der Trennung von Lehre und Forschung liegt die Vermutung, oder man sollte besser sagen: die Evidenz, auf der Hand, dass bei der Studienreform ausschließlich von einer naturwissenschaftlichen Perspektive her gedacht wurde. IV. Grundpfeiler des deutschen Systems der höheren Bildung Die Tatsache, dass das deutsche System der höheren Bildung trotz der erwiesenen Mängel erfolgreich war, ist unumstritten. Es gibt wenige Abschlüsse, die in der ganzen Welt so begehrt waren wie das deutsche Diplom. Und auch das Curriculum im Magisterstudium war gut dazu geeignet, einen Überblick über die jeweilige Disziplin anzubieten, bei der auch Vertiefung und Spezialisierung in Methoden, Theorien und nicht zuletzt Praxisfelder vorgesehen waren. Abschlussarbeiten und Abschlussprüfungen im Diplomund Magisterstudiengang boten am Ende eine gute Möglichkeit nachzuweisen, wie gut ein Student nach im Durchschnitt fünfeinhalb Jahren Studium das in Disziplinen verbürgte Wissen beherrschte. Disziplinen und nicht so sehr Praxisfelder standen im Zentrum des universitären Studiums. Das deutsche System der höheren Bildung hatte auch vorgesehen, dass die Praxis, „die reale Welt da draußen“, nicht zu kurz kommen sollte und hatte deswegen der Universität die Fachhochschule zur Seite gestellt. Die potenziellen Abnehmer konnten also je nach Interesse, Neigung und Ein-

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schätzung der Marktlage wählen, ob für sie das eine oder das andere Modell besser geeignet war. Aber auch im alten System darf der Praxisbezug insbesondere der Sozialwissenschaften nicht unterschätzt werden. Die Befürworter der Reform fanden und finden, dass diese Art von Arbeitsteilung wenig Sinn ergibt. Sie haben mit dem Argument der Markttauglichkeit des Studiums beschlossen, eine Differenzierung rückgängig zu machen, die ihre Logik gerade im Markt findet: Differenzierung und Modellvielfalt minimieren bekanntlich das Risiko von Verlusten. Warum war aber das deutsche System der höheren Bildung ein gutes System? Bei der Beantwortung dieser Frage muss man weiter ausholen, denn auch Systeme der Produktion, Prüfung, Vermittlung und Verbreitung von höherem Wissen haben eine Geschichte. Von dieser komplexen Geschichte möchte ich einige Aspekte hervorheben, die, wie es mir scheint, von zentraler Bedeutung sind, um die Tiefendimension jener Realität zu verstehen, die die Reform radikal in Frage stellt. Es handelt sich um die Phänomene der Schulen, des Kanons und des Seminars. 1. Die Schulen

Schulen in höheren Bildungsanstalten waren oft Orte der Entfaltung, Sicherung und Stabilisierung jenes Wissens, das das Wesen von wissenschaftlichen Disziplinen ausmacht.9 Vor allem die Konkurrenz zwischen Schulen war oft Grund für Vergleiche und Kritik zwischen unterschiedlichen Auffassungen von Theorie, Methodologie oder Methode, die der jeweiligen Disziplin zugute kam. Der Synkretismus war dabei keine seltene Erscheinung. Wer einer Schule offiziell angehörte, hatte das Bewusstsein, einer intellektuellen Elite anzugehören. Man kann sich schwer mit einer Universität und nur bedingt mit einer Disziplin identifizieren, mit einer Schule aber wohl. Deutschland verdankt seine Vorrangstellung in den Geistes- und Sozialwissenschaften im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts einem breiten Netzwerk von Schulen, welches das ganze Land abdeckte. Ihre Gründung und Begründung fanden diese Schulen durch besondere Persönlichkeiten, die aufgrund ihres Prestiges, intellektuellen Angebots und gelegentlich auch Charismas national und international große Attraktivität hatten. Man denke dabei etwa an Namen wie, um nur einige der bekanntesten zu nennen, Edmund Husserl für die Phänomenologie, Martin Heidegger für die Fundamentalontologie, Heinrich Rickert und Wilhelm Windelband für den Neukantianismus, Karl Mannheim für die Wissenssoziologie oder in jüngerer 9  Zum Phänomen Schule in Bezug auf die Soziologie s. unter anderen: Tiryakian (1981); Szacki (1981).



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Zeit an Figuren wie Hans-Georg Gadamer für die Hermeneutik, Hans Albert für den kritischen Rationalismus, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer für die kritische Theorie oder an Niklas Luhmann für die Systemtheorie. In diesen Schulen wurden feste Fundamente gelegt, auf denen die Geistes- und Sozialwissenschaftler in der ganzen Welt heute noch bauen. Eine Präzisierung erscheint an dieser Stelle notwendig: Wenn hier von „Schulen“ die Rede ist, so darf man dieses Wort nicht ausschließlich mit großen Namen in Verbindung bringen, die entscheidende Anstöße zur Entwicklung von Disziplinen und Denkrichtungen gegeben haben. Unter dem Begriff „Schule“ sind auch jene Wissenschaftler zu verstehen, die sich als „Vermittler“ eines bestimmten Theorie- oder Methodenansatzes verstanden. Eine Vermittlung, die freilich immer auch Abwandlungen und Abweichungen einschloss. Der Geist der Schule lebt heute, unter den Bedingungen auch tief greifender Transformationen und der Veralltäglichung des ursprünglichen Charismas, in der Lehre und Forschung dieser Wissenschaftler weiter. Dieser lebt aber auch bei Nicht-Schulenangehörigen, bei jenen frei schwebenden Geistern also, die sich nolens volens mit den Leistungen der Schulen konfrontieren müssen, denn wie gesagt, dort wurden Maßstäbe gesetzt, die für ganze Disziplinen verbindlich waren und noch sind. Freilich haben Schulen etwas Dogmatisches an sich. Sie neigen dazu, „exklusive“ Betrachtungen der Welt zu liefern, die in Kollision zu anderen Betrachtungen stehen können, jedoch nicht stehen müssen. Ein Grundzug der Schule war aber, dass sie, eine Garantie für solide Theorie- und Methodenausbildung lieferte. So betrachtet, sorgten Schulen für die Güte des wissenschaftlichen Kanons in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Nach dem zweiten Weltkrieg hat vielleicht nichts mehr dazu beigetragen, Deutschland in die Gemeinschaft der europäischen Nationen wiedereinzuführen als die Verbreitung der deutschen „Kultur“, die ein wichtiges Vehikel in den Schulen fand. Das Gedeihen der Schulen entsprach für Deutschland der Schaffung eines immensen symbolischen Kapitals, das sich (unbeabsichtigt) in Finanzkapital konvertieren ließ und noch heute konvertieren lässt. Deutsches Kulturgut, das durch die Schulen transportiert wurde, trat in die Universitätsräume von ganz Europa vor allem in der Form von Büchern und Zeitschriftartikeln ein, die auf Übersetzung angewiesen waren und deren Rechte bei deutschen Verlagen gekauft werden mussten (Es wäre interessant, dieses Phänomen zu quantifizieren). In vielen Fällen fand man es aber besser, einen direkten Zugang zum Original zu suchen. Jeder Philosoph und, wenn auch in weit geringerem Ausmaß, jeder Soziologe in Europa, der etwas auf sich hielt, musste deutsch zumindest lesen können. Die Schulen, sei es in ihrer Glanzperiode oder in ihrer Phase der Veralltäglichung, lebten von einem einfachen Prinzip: Es sind Personen und

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Personengruppen, die mit einem bestimmten Angebot und fachlichem Profil auf dem Markt der Ideen auftraten und miteinander konkurrierten. Dieses einfache Prinzip droht nun durch die Reform kompromittiert zu werden. Die heutige Rhetorik der Exzellenzzentren und Exzellenzcluster verstellt den Blick für die Tatsache, dass Exzellenz nur Personen auf Grund ihrer individuellen Leistungen zugeschrieben werden kann.10 Leistung, die freilich nicht an der Intensität der Beteiligung an Netzwerken oder an der Häufigkeit der Teilnahme an „meetings“, die immer mehr den Charakter von Events haben, sondern am tatsächlichen wissenschaftlichen Produkt gemessen werden sollte. Es versteht sich von selbst, dass man wissenschaftliche Produkte nicht unter Verschluss halten darf, sondern sie müssen durch Veröffentlichung Eingang in die „scientific community“ finden.11 Selbstverständlich spielen für gute Forschung und gute Lehre finanzielle und strukturelle Ressourcen eine wichtige Rolle. Dies ist insbesondere auf dem Gebiet der Naturwissenschaften evident, auf dem es viel auf gut konzertierte Gruppenarbeit ankommt. Der Glaube aber, dass man vor allem durch Umstrukturierungsmaßnahmen und Umverteilung der immer knapper werdenden Mittel Exzellenz schaffen könnte, ist irrig und treibt andere in die Irre. Nicht zuletzt die Studenten. Entscheidungskriterien für ein Studium an einer bestimmten Universität sind heute, so lässt sich vielfach beobachten, nicht so sehr Personen, die durch Prestige aufgrund objektiver Leistungen für wissenschaftliche Qualität bürgen, sondern Programme, die mit Zauberwörtern wie „Praxisnähe“, „Exzellenz“, „Alleinstellungsmerkmal“ und „Profil“ nicht sparen. Man könnte, ohne verallgemeinern zu wollen, auch sagen: Floskeln, die viel versprechen und wenig halten. Das Verhalten auf der Seite der „Kunden“ ist klar: Man geht nicht zu einer bestimmten Uni, weil dort ein bestimmter Professor mit einem bestimmten Profil wirkt, sondern, weil dort eine gut aufgebaute Internetseite mit viel selbst zugeschriebener Exzellenz wirbt. Internetpräsentationen von Studiengängen sind heute mehr und mehr zu Fangnetzen für Studenten auf der Suche nach interessanten Angeboten geworden. Es lohnt sich heute also, so denken manche, an der Internetseite bis ins Detail zu feilen. Die Behauptung, dass die Schulen als ein deutsches Phänomen „Exzellenzzentren“ waren und dass dieses Modell der Produktion, Sicherung und 10  Man kann Exzellenz durch die Konzentration beträchtlicher Finanzmittel und der Schaffung neuer Strukturen nicht ab novo kreieren. Richard Münch (2007) ist neuerdings ausführlich darauf eingegangen. 11  Die Vergabe von Geldern steht heute meistens nicht im Verhältnis zu den erbrachten Resultaten der Forschung, falls überhaupt welche vorgelegt werden, Münch (2007).



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Vermittlung des Wissens seine Gültigkeit bis heute nicht verloren hat, riskiert als „gestrig“ abqualifiziert zu werden. Zu unrecht, wenn man sich vergegenwärtigt, worin die Leistung der Schule bestand und heute noch bestehen könnte. 2. Der Kanon

Schulen waren kanonbildend und kanongebunden zugleich. Kanonbildend waren sie, weil sie in die Arena der qualifizierten Wissensproduzenten unter der Bedingung der Herausbildung einer klaren Identität oder, wenn man will, eines Profils, eintreten konnten. Eine Identität, die in der Regel durch den Vergleich und die kritische Auseinandersetzung mit anderen Denkrichtungen gebildet wurde. Auf diese Weise trugen die Schulen zur Differenzierung, Spezifizierung und auch ständigen Revision des Kanons innerhalb einer Disziplin oder eines Disziplinenverbundes entscheidend bei. So gesehen ist der Kanon etwas Dynamisches und auch Umstrittenes. Was unabdingbar zum Kanon gehört, was in seinem Zentrum oder an der Peripherie stehen muss, was aktuell und überholt ist, war Thema ständiger Auseinandersetzungen innerhalb geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen.12 An dem Gedanken aber, dass man einen Kanon braucht, wurde nur selten gerüttelt. Dies bedeutet freilich nicht, zu leugnen, dass es auch unzählige Fälle gab und gibt, in denen man sich faktisch nicht an den Kanon hielt. Die Kanongebundenheit der Schulen zeigt sich dadurch, dass man trotz Kritik und gelegentlich sogar Ablehnung grundsätzlich am Kanon festhält. Man hält sich an den Kanon, weil dieser eine fundamentale Leistung erbringt: Er minimiert die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation unter Vertretern derselben Disziplin bzw. desselben Disziplinenverbundes. Auch zwei so unterschiedliche Autoren wie Heidegger und Luhmann, die wie vielleicht keine anderen mit der Tradition der eigenen Disziplin brechen und ihre Revolution an der Sprache ansetzen ließen, konfrontierten sich ständig mit dem Kanon. Zeichen der Pluralisierung, wenn nicht sogar der Auflösung dieses Universums gab, es im Übrigen schon längst bevor die Reform das Studium von Disziplinen loszulösen und mit Feldern, Themen und Schwerpunkten zu verbinden versuchte.13 Es ist nützlich, sich an zwei Höhepunkte der Kritik an der klassischen Kanonvorstellung zu erinnern, um den Abstand zur heu12  Gerade

die Geschichte der Soziologie bietet hierzu ein gutes Beobachtungsfeld. wird oft das Siegel des Praxisbezuges aufgedrückt, ohne jedoch gleichzeitig einen Beweis für ihre tatsächliche Praxistauglichkeit zu erbringen. 13  Diesen

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tigen Lage besser abmessen zu können. Der eine betrifft die Konzeption einer „anarchischen Erkenntnistheorie“14, der andere jene des „postmodernen Denkens“. Die Floskeln des „anything goes“ und des „die großen Erzählungen sind zu Ende“ hatten in den achtziger und neunziger Jahren des 20.  Jahrhundert in den Geistes- und Sozialwissenschaften hohe Konjunktur erfahren. Man hatte aber nicht den Eindruck, Paul Feyerabends Sprache und Argumentationsweise sowie jene der Vertreter postmodernen Denkens wären für andere Wissenschaftler nicht anschlussfähig gewesen. Kritik und auch Ablehnung zeigten im Grunde, dass der Streit unter Insassen desselben Bootes stattfand. Es mag sein, dass man damals die Lage anders einschätzte. Es mag sein, dass die Kontrahenten sich als Angehörige unterschiedlicher Welten empfanden. Fest steht aber, dass das Gespräch zwischen den Fronten möglich war und hin und wieder auch praktiziert wurde. Eine Bestandsaufnahme der damaligen Literatur könnte dies leicht belegen. Ein Kanon löst sich nicht deswegen auf, weil sich immer wieder Häretiker laut zu Wort melden und ihre Botschaft Gefolgschaft findet. Ein Kanon löst sich dann auf, wenn seine Idee fremd geworden ist. Wohlgemerkt: Fremd geworden nicht als Resultat wohlbegründeter Kritik, sondern durch die schlichte Tatsache, dass seine Notwendigkeit im „System Wissenschaft“ nicht mehr erkannt wird. Die Studienreform riskiert, die Kulturwissenschaften in einen kanonfreien Raum zu treiben. Indem die Reform sich nicht an Disziplinen, sondern primär an Praxisfeldern orientiert, rüttelt sie gewaltig an der Idee des Kanons. Hauptreferenz soll dabei nicht mehr die Produktion und Kommunikation von wissenschaftlich gesichertem hohem Wissen, sondern die Formung von für das Berufsleben tauglichen Subjekten sein. Maßstab ist hier nicht die Bildung und Pflege eines wissenschaftlichen Habitus, sondern die Ausbildung für Berufsfelder, deren genaue Konturen in Zukunft niemand kennt: Fernsehsender, Werbeagenturen, soziale Einrichtungen, Verwaltungen, Kreditinstitute, Organisationen der Entwicklungshilfe etc.15 Das Argument, nach dem das Studium das Berufsleben nicht aus den Augen verlieren dürfe, leuchtet unmittelbar ein. Dieses Argument gilt, so denke ich, nicht nur für die Fachhochschulen, sondern auch für die Universitäten.16 Der Anspruch aber, dass ein Studium eine direkte Kopplung von Feyerabend (1976). Tatsache, dass Praxisbezug als Imperativ die Idee der Freiheit von Lehre und Forschung kompromitiert, ist neuerdings mit Nachdruck von Arnold Zingerle (2009) hervorgehoben worden. 16  Es wären drei unterschiedliche Verhaltensformen zur Praxis vorstellbar: Praxisferne, Praxisbezug und Praxiskonformität. Es ist klar, dass in diesem Aufsatz vor allem die letzte Form im Zentrum der Kritik steht. 14  Vgl. 15  Die



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Wissen und Berufsleben realisieren soll, ist in den Geistes- und Sozialwissenschaften fatal. Warum denn eigentlich? Die Antwort muss in den unterschiedlichen Anforderungen gesucht werden, die an diese zwei Handlungsfelder gestellt werden: Die Wissenschaft sucht nach wissenschaftlich gesicherten Wahrheiten, systemtheoretisch gesehen diskriminiert sie die Wirklichkeit (nicht nur die empirische) nach dem binären Code Wahr / Nicht Wahr. Die Welt der Praxis ist hingegen nicht primär an Wahrheiten interessiert, sondern an funktionalen Lösungen für sich immer neu stellende Probleme. Erkenntnisse und Fertigkeiten müssen sich hier im spezifischen Tätigkeitsfeld von mal zu mal bewähren. Damit ist sicherlich nicht gemeint, die Idee der Wahrheit hätte keine Bedeutung für die Praxis.17 Gerade eine solche Sichtweise würde die Ideologen der Reform in ihrer Überzeugung bestärken, das Studium nicht im Sinne der Theoria, sondern als berufsbezogene Ausbildung zu begreifen. Die relevante Frage ist hier, welche Konsequenzen es hat, wenn wir die Idee der Wahrheit und die Schulung zur Wahrheitssuche aus der Universität verbannen. Es handelt sich dabei sicherlich um eine schwierige Frage, vor allem angesichts der Tatsache, dass es viele Wahrheitsdefinitionen gibt. Man könnte sich aber vielleicht zumindest in den Sozialwissenschaften auf wenige Prinzipien einigen. Max Weber sah die Aufgabe einer wertfreien Sozialwissenschaft darin, nicht Ziele zu setzen, sondern diese im Hinblick vor allem auf drei Anforderungen zu hinterfragen: die Adäquatheit der Mittel für ihre Realisierung, ihre Kompatibilität mit anderen Zielen, die wir vielleicht daneben verfolgen mögen, schließlich, die möglichen Nebenfolgen, die ihre Verwirklichung für uns und für Dritte haben könnten. Wenn wir Webers Ansicht teilen, und ich denke es gibt keinen Grund sie nicht zu teilen, dann stellt sich eine einfache Frage: Wie können wir diesen Anforderungen genügen und dabei dafür Sorge tragen, dass wir die Idee der Wahrheit als regulatives Prinzip nicht aus den Augen verlieren? Darüber, welches die besten Mittel zur Realisierung von gegebenen Zwecken sind, ob diese Ziele miteinander kollidieren und welche Nebenfolgen als schädlich zu erachten sind, wird man möglicherweise, je nach Perspektive unterschiedliche Einschätzungen geben. Manche dieser Einschätzungen werden sich aber als adäquater erweisen als andere. Doch ohne eine regulative Wahrheitsidee wären wir nicht in der Lage, zu sagen, was als adäquat angesehen werden muss und was nicht. 17  Wahrheit und Wahrheitssuche, wie diese auch immer verstanden werden, würden in dieser Perspektive Probleme darstellen, die nur eine verschwindende Anzahl von Wahrheitstheoretikern, Epistemologen und Wissenschaftstheoretikern beschäftigen.

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Werden Studenten in den Geistes- und Sozialwissenschaften nicht mit diesen Fragen konfrontiert, dann stellt sich die Frage, welche anderen Institutionen der höheren Bildung in Zukunft diese wichtige Aufgabe übernehmen sollen. Wir haben uns nur scheinbar von unserem Thema entfernt, denn das Gesagte hat unmittelbar mit der Idee des Kanons zu tun. Die Befürworter der neuen Ordnung fühlen sich nicht an Maßstäbe gebunden, die von den Wächtern des Kanons hochgehalten werden. Die Modularisierung des Studiums drängt dazu, von der Soziologie, der Rechtswissenschaft, der Wirtschaftswissenschaft oder der Politikwissenschaft das zu nehmen, was man gerade für die praktische Handhabung des anvisierten Feldes braucht und nichts darüber hinaus. Auf diese Weise sind in den Curricula vieler Studiengänge, die das Soziale zum Thema haben, nicht nur die Auseinandersetzung mit den Klassikern des Faches, sondern auch jede seriöse Beschäftigung mit Erkenntnistheorie, Theorie und Methoden als überflüssiger Ballast deklariert worden. Die Situation wird nicht dadurch gerettet, dass das, was den Bachelor-Studenten nicht zugemutet werden konnte, dem Master-Studenten zur Pflicht werden sollte. Wird auf der unteren Stufe keine solide Basis geschaffen, so wird man darauf nur Konstruktionen aufbauen, die keine Kontur und keinen Bestand haben werden. 3. Das Seminar

Die Schulen waren in Deutschland lange Zeit der Ort, an dem der „akademische Ethos“ Realisierung finden konnte. Sie waren der Ort, an dem Individuen im Sinne der Akademie geformt wurden. Der typische Organisationsmodus der Schule war das Seminar. In relativ überschaubaren Gruppen konnte hier der Schulgründer, sein Assistent oder einfach der Schulvertreter Studenten in die Grundprinzipien der Schule einführen und in der Diskussion mit ihnen diese Prinzipien auf theoretische und methodologische Stringenz und Güte prüfen. Diese Form der Organisation des akademischen Lebens als Aneignung, Verarbeitung und Vermittlung von hohem Wissen blieb auch nach der Veralltäglichung der Schulen gültig und wurde mit mehr oder weniger Erfolg in anderen europäischen Ländern imitiert. Auch dort, wo Seminare nicht Ausdruck einer bestimmten Schule waren, behauptete sich diese Organisationsform als eine einmalige Möglichkeit, Wissensinhalte in diskursiver Auseinandersetzung zwischen Lehrer und Studenten abzuwägen, zu vergleichen und der Kritik zu unterziehen. Freilich gab es dabei auch viel Leerlauf, Unverständnis und auch Des­ orientierung, die in manchen Fällen zu Verlängerung oder sogar Abbruch des Studiums führte. Freilich war die Seminarstunde gelegentlich nicht



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strukturiert, dies zumindest, wenn man die mit Powerpoint gestaltete Unterrichtseinheit als Maßstab nimmt. Und freilich gab es auch „faule“ Dozenten, die die Arbeit scheuten, und „autistische“ Dozenten, die systematisch über die Köpfe der Studenten redeten. Diese Art von Problemen erledigte gelegentlich die Konkurrenz, in dem Sinne, dass es möglich war, „Faule“ oder „Autisten“ zu vermeiden, indem man zum anderen Lehrstuhlinhaber oder zum anderen Assistenten ging. Mit denjenigen Universitäten, die wenig Auswahl boten, war es natürlich schlecht bestellt. Die entscheidende Frage ist hier aber letztlich: sind mit der Reform faule und desorientierte Dozenten und Studienabbrecher verschwunden? Der Glaube, dass neue Strukturen individuelle Dispositionen verändern können, scheint mir irrig zu sein. Auch auf diesem Feld gäbe es für die empirische Forschung viel zu tun. Zurück zur Organisationsform Seminar. Bei dieser Form der Kommunikation handelte es sich, oder zumindest war es so gedacht, um eine vom Dozenten geleitete „Forschungssituation“ im weitesten Sinne des Wortes. Dies freilich, wenn man bereit ist, sich vom herkömmlichen Begriff von Forschung loszulösen, der diese Tätigkeit lediglich auf langwierige Experimente im Labor oder auf langfristig angelegte Recherchen in Archiven und Bibliotheken einschränkt. Forschung in einem erweiterten Sinne des Wortes wird immer dann praktiziert, wenn man nach Wahrheit im oben definierten Sinn strebt. So gesehen betreibt man auch dann Forschung, wenn man unter der Leitung des Dozenten einen platonischen Dialog diskutiert, die möglichen Folgen der Einführung eines Gesetzes erwägt, eine Konfliktsituation spieltheoretisch simuliert oder ein Interview in der Gruppe nach bestimmten Verfahren analysiert. Oft hing der Erfolg einer Stunde nicht so sehr von dem ab, was der Dozent an strukturierten Inhalten mitteilte, sondern an der Neugier, die dieser in den Studenten erweckte und sie dazu veranlasste, in eigener Initiative sich zusätzliche Literatur über das gerade behandelte Thema zu beschaffen. Bei dieser Literatur handelte es sich gewiss nicht, wie heute üblich, um Einführungsbücher. Das Seminar war oft eine Anleitung zur Selbsterziehung. Die Organisationsform des Studiums in Seminaren, so wie man diese in den Geistes- und Sozialwissenschaften bislang kannte, war als eine Einrichtung gedacht, die drei Tätigkeiten gleichzeitig ermöglichen sollte: die Vermittlung von höherem Wissen, das Erlernen von Fertigkeiten, die zur selbständigen Wissensaneignung erforderlich sind, und nicht zuletzt das Betreiben von Forschung in dem oben definierten Sinne. Die Studienreform möchte diese einmalige Form der Wissensproduktion, Wissensprüfung und Wissensvermittlung auf die letztgenannte Tätigkeit reduzieren: Sie soll hauptsächlich Wissensvermittlung leisten.

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Die Studienreform trifft dadurch den Geist des Seminars im klassischen Stil und macht ihn zunichte. Nicht nur hat sie mit ihren Standardisierungsvorgaben keine Augen für Kreativität als ein unprogrammiertes und nicht programmierbares Phänomen, das aus der Konfrontation zwischen Dozent und Studenten resultiert. Sie hat auch für Wirklichkeitszugänge wenig übrig, die ein fundiertes Wissen erfordern, das in langjähriger und kontinuierlicher Auseinandersetzung mit Theorie, Methodologie und Methoden anzueignen ist. Gewiss, nicht alle Studiengänge sind heute als wirres Sammelsurium von Modulen konzipiert. Immer wieder stößt man auf sinnvolle Konstruktionen, die Profilbildung mit disziplinverbürgtem Wissen mehr oder weniger gut verbinden. Die unverkennbare allgemeine Tendenz ist aber, Disziplinen als Steinbruch zu verwenden. Die Modularisierung des Studiums begünstigt die Parzellierung und Fragmentierung von Wissensbeständen, aus denen dann bunte Mischungen entstehen. Diesen heterogenen „Wissenspaketen“ hängt man dann gelegentlich das Etikett „interdisziplinär“ an. Man schaut dabei gerne darüber hinweg, dass Interdisziplinarität die Auseinandersetzung mit Disziplinen voraussetzt. V. Implikationen für die Kultur Ich komme schließlich zu der Frage der kulturellen Implikationen der Studienreform. Diese gehört zu jenen Arten von Fragen, deren Antworten jederzeit riskieren, Schiffbruch an der Unbestimmtheit des Problems zu erleiden. Weil Kultur zu den Begriffen gehört, die aufgrund ihrer Unbestimmtheit die Analyse ins Leere führen können, ist es angebracht, nicht auf einen allgemeinen, sondern auf einen spezifischen Kulturbegriff Bezug zu nehmen. Hierzu bietet sich Parsons’ und Shils’ Unterscheidung von Kultur als Ensemble von kognitiven, evaluativen und expressiven Symbolen an.18 Die Reform tangiert die kognitive Symboldimension, insofern sie bestimmte „Ideen“ oder „Ideale“ radikal in Frage stellt, die im früheren Hochschulsystem hochgehalten wurden. Der Name Humboldt steht hier für einen wesentlichen Teil dieser „Ideen“ und „Ideale“. Die dazu alternative Konzeption vom Studium als „Ausbildung“ tritt nicht allein für Praxisbezug, sondern für die Vorstellung ein, dass vor allem Praxisfelder für die Organisa­tion des Studiums orientierungsweisend sein sollen. Es sind also Funktionserfordernisse, die aus der Praxis entspringen, die in Zukunft den Ton angeben sollen. 18  Parsons / Shils

(1967), S.  3–30 und S.  159–190.



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Die kulturelle Dimension in ihrer kognitiven Variante ist bei dieser Auffassung insofern tangiert, als wichtige Fragen nicht mehr gestellt werden, weil sie im Denkhorizont der Praxis einfach nicht auftauchen: Die Praxis interessiert sich in der Regel nicht für Probleme und Fragestellungen, die ihr unmittelbares Tun transzendieren. Sie hinterfragt beispielsweise nicht Ziele nach ihrer Kompatibilität mit anderen Zielen. Und sie stellt meistens auch nicht die Frage der Nebenfolgen ihres Tuns, wenn damit die langfristigen Konsequenzen einer bestimmten Handlung für Natur- und Menschenwelt gemeint sind. Freilich findet gelegentlich in der Praxis auch dies statt, worauf es hier aber ankommt, ist eine Sicherung auf Dauer, eine Institutionalisierung der Orte, an denen diese Fragen gestellt werden. Wo sollte dies geschehen, wenn nicht in einer Institution der höheren Bildung? Die Reduzierung des Denkens auf die Praxis funktionaler Anforderungen scheint den ersten Teil des Weberschen Diktums zu bestätigen, nach dem „Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen […] unmittelbar das Handeln der Menschen [beherrschen]“. Was ist aber mit dem zweiten Teil des Diktums? Was ist mit Webers Behauptung, dass: „die ‚Weltbilder‘, welche durch ‚Ideen‘ geschaffen wurden, sehr oft die Bahnen bestimmt (haben), in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte“?19 Von dieser Perspektive aus betrachtet, erscheint die Vorstellung, dass im Studium die Praxis tonangebend sein soll, als Ausdruck eines Weltbildes, das Anpassung an das Gegebene fordert und heiligt. Zu dieser Kultur der Weltanpassung gehört auch die Vorstellung einer Einheitswissenschaft unter naturwissenschaftlichem Vorzeichen. Die Reform rührt an der kognitiven Dimension der Kultur, insofern sie eine Errungenschaft rückgängig zu machen droht, die zwar immer prekär war, sich aber doch letztlich im akademischen Bewusstsein durchgesetzt hatte. Vieles spricht dafür, dass die Universitätsreform den Jahrhunderte währenden Versuch der Geistes- und Sozialwissenschaften untergräbt, gegenüber den Naturwissenschaften Autonomie zu erlangen. Die Modularisierung des Studiums kommt dem Bedürfnis der Naturwissenschaften entgegen, ihr Objekt zu segmentieren und zu dekontextualisieren, um es experimentellen Verfahren unterziehen zu können. Im Gegensatz dazu leben jedoch die Geistes- und Sozialwissenschaften von der Kontextualisierung der Phänomene, die sie behandeln. Wie bereits ausgeführt, sind insbesondere die Sozialwissenschaften auf die Produktion von Wissen angewiesen, die auf eine Maximierung des Kontextes abzielt. Betroffen von der Reform ist die kognitive Dimension von Kultur schließlich auch deswegen, weil die Orientierung an Praxisfeldern und die damit 19  Weber

(1978), S.  252.

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einhergehende Entmachtung der Disziplinen mit dem „Verlust des Kanons“, gemeint als Verschwinden der Idee seiner Notwendigkeit, verbunden ist. Es ist anzunehmen, dass in dem Ausmaß, in dem diese Idee verblasst, die bereits vorhandene Unübersichtlichkeit über das, was wertvolles Wissen ist und wie dieses angeeignet und geprüft werden soll, noch mehr anwachsen wird. Von dieser Unübersichtlichkeit bedroht sind freilich weniger die Naturwissenschaften, denn für diese war und ist eine klare Orientierung am Kanon Grundlage ihrer Existenz. Freilich werden in den Geistes- und Sozialwissenschaften Logiker, Wissenschaftstheoretiker, Methodologen und manche Empiriker ihre wertvolle Arbeit weiter verrichten, die Anzahl derjenigen, die meinen man könnte die Dinge auch „ganz anders anpacken“, wird jedoch im kanonfreien Raum steigen. Nicht die Konfrontation über Inhalte, unter Bezugnahme auf eine gemeinsame Sprache, sondern Strategie und Macht bleiben dann als Kriterien übrig, um darüber zu entscheiden, was wissenswert ist und wie man zu Wissen kommt. Betrachten wir die Reform unter der Perspektive expressiver Symbole, so gäbe es viel zu sagen. Ich beschränke mich aber auf eine Beobachtung, die ich an der Exzellenzrhetorik festmachen möchte, die heute immer mehr die Szene an Hochschulen (und Kultusministerien) beherrscht. War bis vor wenigen Jahren im akademischen Milieu das Understatement als eine nachahmungswürdige Tugend angesehen und praktiziert, so erleben wir heute einen Wettkampf, bei dem sich manche Akademiker in der Selbstzuschreibung von Exzellenz zu überbieten versuchen. Eine Exzellenz, die zumindest in den Geistes- und Sozialwissenschaften oft nicht an konkreten Resultaten in der Forschung, sondern an der Menge der angeworbenen Drittmittel und an der Anzahl der angeworbenen Studenten gemessen wird. Zum Korollar der Exzellenzrhetorik gehört die mittlerweile von manchen Akademikern fleißig verfolgte „Sichtbarkeit“ in den lokalen Medien. Das Bild des erfolgreichen Professors gewinnt in dieser Landschaft immer mehr die Konturen eines VIPs, dessen Ambitionen nicht durch Veröffentlichung in guten Zeitschriften, sondern durch Einladungen in Fernseh-Talkshows und durch die Häufigkeit der Nennungen in der lokalen Presse befriedigt werden. Wird in den Geistes- und Sozialwissenschaften nicht mehr die Gemeinschaft der Wissenschaftler, sondern die medial vermittelte Öffentlichkeit zur Hauptreferenz, so wird der Kulturwissenschaftler mit dem Journalisten konkurrieren müssen und kurz- oder langfristig mit Sicherheit vor ihm kapitulieren. Dies alles bringt eine radikale Veränderung der Semantik von Begriffen wie Reputation und wissenschaftlicher Ehre mit sich.20 20  Zur Problematik der Ehre in der Wissenschaft s. Justin Stagl (1991). Zum Begriff Ethos in der akademischen Welt s. Shils (1978).



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Ich komme schließlich zur evaluativen Symboldimension. Hier drängt sich folgende Frage auf: Welches Wertesystem favorisiert die Reform? Gehen wir davon aus, dass Werte Kriterien der Auswahl in einem Universum offener Alternativen sind, so könnte unsere Frage auch lauten: Welche Selektionskriterien etablieren sich mit der Reform? Als erstes wäre hier das Selektionskriterium der Praxis zu nennen. In seiner extremsten Form besagt dieses Kriterium, dass das Hochschulsystem all das ausselektieren soll, was sich nicht direkt mit der Praxis in Verbindung bringen lässt. Als mehr oder weniger direkte Konsequenz dieser Entscheidung ließen sich ex negativo zwei andere Kriterien angeben, die bereits besprochen wurden: Der disziplinär verbürgte Kanon ist nicht mehr verpflichtend, und die Wahrheit ist kein Kriterium mehr für Entscheidungen zwischen Alternativen. Die Wahrheit hört hier also auf, ein Kriterium der Selektion von Wissen zu sein. Wahrheit ist kein Wert mehr, weil, wie bereits ausgeführt, die Praxis nicht an Wahrheit, sondern an Rezeptwissen interessiert ist, das sich in der Kontingenz des Moments bewähren muss. Die Frage, welches Wertesystem die Hochschulreform favorisiert, kann auch anthropologisch gewendet werden. Sie würde dann lauten: Welcher Persönlichkeitstypus wird langfristig durch das von der Studienreform etablierte System gefördert? Welche menschliche Auslese betreibt sie also? Es handelt sich um eine Frage, mit der die Gefahr des Abrutschens ins Spekulative verbunden ist. Nichtsdestoweniger sollte sie gestellt werden. VI. Schluss Ich habe mit der Behauptung begonnen, dass die Universitätsreform an Strukturen ansetzt, weil auf dieser Ebene ein dringender Bedarf nach Veränderung diagnostiziert wurde. Der Begriff Kultur spielte in der Debatte, die darauf folgte, wenn überhaupt, nur insofern eine Rolle, als dieser von den Reformgegnern ins Feld gebracht wurde. Dem technokratischen Geist der Reformbefürworter setzten diese ein Ideal von Universität entgegen, für die zwischen Humboldt und Schelsky viele andere Namen stehen. Dass die Reform die kulturelle Dimension tangieren würde, war für viele Diskutanten offensichtlich und auch vorhersehbar. Was allerdings nicht vorhersehbar war, war die Schnelligkeit, mit der sie, wenn auch nicht immer mit dem erhofften Erfolg, voranschreitet. Bedenkt man, dass sozialen Strukturen eine gewisse systemische Trägheit eigen ist, Reformen zu rezipieren21, so gehört das Prestissimo dieser Reform zu den wichtigen Explananda der Soziologie. Es gibt bereits einige dieser Erklärungsversuche. 21  s.

dazu Lübbe (1987).

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Einer von diesen rekurriert auf die These der fortgeschrittenen Entbürgerlichung europäischer Gesellschaften. In einer entbürgerlichten Gesellschaft, so hier das Argument, haben Versuche, die „Ausbildung“ zum Ziel und die „Bildung“ zur Zielscheibe zu machen, ein leichtes Spiel. Diese These, so denke ich, hat etwas Wahres an sich, doch sie vermag eher Auskunft über ermöglichende als über determinierende Faktoren zu geben. Zu diesen determinierenden Faktoren würde ich sic et simpliciter persönliche Interessen anführen. Mit anderen Worten, die Entbürgerlichung schafft ein kulturelles Umfeld, in dem sich die Dynamik individueller Interessen erst entfalten kann. Es handelt sich dabei um Interessen, die ich nicht an einer spezifischen Schicht oder einem spezifischen Milieu festmachen würde. Die Reform, so ist zu beobachten, ist Objekt der Zustimmung (oder der Ablehnung) seitens Menschen (Studenten wie Dozenten), sowohl mit bürgerlichem als auch mit nicht-bürgerlichem Hintergrund. Neben dem Faktum der Entbürgerlichung müsste man also auch die Tatsache berücksichtigen, dass unterschiedliche Stellungnahmen zur Reform unterschiedlichen (materiellen sowie ideellen) individuellen Interessen entsprechen. Der homo oeconomicus fühlte sich in der Alma Mater schon immer zu Hause. Es wäre eine Aufgabe der empirischen Forschung, nicht nur diese Interessen zu benennen, sondern auch klar zu machen, welche die Verlierer und welche die Gewinner der Reform sind. Die erste Kategorie steht bereits jetzt fest, darum ging es ja in diesem Aufsatz. Über die zweite etwas zu sagen, wäre eine Aufgabe gesonderter Auseinandersetzung. Literatur Bergan, Sjur: Der lange Weg, in: DUZ. Deutsche Universitätszeitung 65, Heft 4, 2009, S.  14–15. Feyerabend, Paul: Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchischen Erkenntnistheorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976. Kaube, Jürgen (Hg.): Die Illusion der Exzellenz. Lebenslügen der Wissenschafts­ politik, Berlin: Wagenbach 2009. Lamnek, Siegfried: Globalisierung – Internationalisierung – Amerikanisierung – Bachelorisierung – McDonaldisierung? Die Hochschulreform und ihre Konsequenzen, in: Soziologie. Forum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Heft 1, 2002, S.  5–25. Lübbe, Hermann: Helmut Schelsky und die Interdisziplinarität. Zur Philosophie gegenwärtiger Wissenschaftskultur, in: Kocka, J. (Hg.): Interdisziplinarität. Praxis – Herausforderung – Ideologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987, S.  17–33. Mayer, Karl Ulrich / Krücken, Georg / Hornbostel, Stefan: Symposion zu Richard Münch, Die Akademische Elite. Zur Konstruktion wissenschaftlicher Exzellenz, in: Soziologische Revue 32, Heft 1, 2009, S.  3–20.



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Mittelstraß, Jürgen: Anspruch und Herausforderung der Geisteswissenschaften. Dokumente zur Hochschulreform 56, Bonn – Bad Godesberg: Westdeutsche Rektorenkonferenz: Dokumentationsabt. 1985. Morkel, Arnd: Die Universität muss sich wehren. Ein Plädoyer für ihre Erneuerung, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 2000. Münch, Richard: Die akademische Elite. Zur sozialen Konstruktion wissenschaft­ licher Exzellenz, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007. Parsons, Talcott / Shils, Edward A.: Toward a General Theory of Action, Cambridge, Massachusetts: Harvard Univ. Press 1967. Schimank, Uwe: Humboldt. Falscher Mann am falschen Ort, in: FAZ, 15 April 2009, S.  5. Shils, Edward A.: The Academic Ethos, in: The American Scholar 47, Heft 2, 1978, S.  165–190. Stagl, Justin: Die Ehre des Wissenschaftlers, in: Zingerle, A. (Hg.): Sociologia dell’onore – Soziologie der Ehre, Annali di Sociologia / Soziologisches Jahrbuch 7 / II, 1991, Milano: Franco Angeli / Berlin: Duncker & Humblot, S.  15–32. Stölting, Erhard / Schimank, Uwe (Hg.): Die Krise der Universitäten, Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Sonderheft 20, Wiesbaden: Westdt. Verlag 2001. Szacki, Jerzy: ‚Schulen‘ in der Soziologie, in: Lepenies, W. (Hg.): Geschichte der Soziologie, Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin, Bd. 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, S.  16–30. Tiryakian, Edward A.: Die Bedeutung von Schulen für die Entwicklung der Soziologie, in: Lepenies, W. (Hg.): Geschichte der Soziologie, Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin, Bd. 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, S.  31–68. Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen: Mohr 1978. Zingerle, Arnold: Humboldts Universitätsidee – heute. Über Freiheit von Forschung und Lehre als institutionelle Leitidee der Universität, in: Spektrum, Heft 3, 2009, S.  30–36.

III. Empirische Studien

Landschaft und Landschaftsplanung seit der Doppelrevolution Von Bernhard Schäfers I. Die Erfindung der Landschaft durch den Städter Die Ästhetisierung von Naturräumen als Landschaft ist ein Produkt städtischer Hochkultur und der Reflexion des Städters auf Natur und ihre Veränderungen durch den Menschen. Das antike Rom, das von drangvoller Enge und bisher unbekannter Stadtgröße geprägt war, ist der wohl wichtigste Ort dieser neuen, landschaftsbezogenen Empfindungen. Die Thematisierung der Landschaft als Ideallandschaft, als Arkadien; das Bukolische als „Zugabe“ zur Villa des Städters in schöner Landschaft, wie sie in den Hirtengedichten („Bucolica“) des Wahlrömers Vergil (70–19 v. Chr.) aufscheinen, setzen den Stadtbewohner voraus. Plinius d. J. (62–113) spricht es im Hinblick auf die Sehnsucht nach seiner Villa am Meer deutlich aus: „Ein seltsam Ding ist doch dieses Stadtleben“. In seinem Brief an Minicius Fundanos beschreibt er alle die Dinge, die er in Rom an einem Tag tun musste und fährt fort: „Wie viel kostbare Zeit habe ich doch mit solch ödem Zeug vergeudet“. Auf seinem Landgut bei Laurentum sei eine andere Welt, wo er „etwas lese, schreibe oder den Körper pflege, der ja unseren Geist stützt“, da höre er nichts und spreche nichts, was er „hinterher bereuen würde“. Diese poetischen Reflexionen auf Natur als Landschaft oder Landschaft als Natur haben sich tief in das abendländische Bewusstsein eingegraben. Sie wurden in der Frührenaissance, zumal bei Francesco Petrarca (1304– 1374), erneuert, mit nachhaltiger Wirkung auf Malerei und Poesie. Seit dem ausgehenden Mittelalter entwickelte sich eine immer komplexere und sich verselbstständigende Landschaftsmalerei, die für die Entstehung eines empfindsamen Landschaftsbegreifens in der sich entwickelnden frühbürgerlichen Gesellschaft einen hohen Stellenwert bekam. Die Stadt stand fortan nicht mehr der „freien“ Landschaft fremd gegenüber, sondern war auf die Landschaft bezogen.1

1  Kauffmann

(1970).

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Mit dieser Veränderung der Wahrnehmung von Landschaft waren nicht nur ästhetische Dimensionen verbunden, sondern ganz reale, materiell fundierte Prozesse. Ein historisches Beispiel, an dem der Zusammenhang von ökonomischen und sozialen Dimensionen und neuen Formen der Wahrnehmung verdeutlicht wurde, ist die Villa. Die Villenarchitektur in Venetien, der Toskana und der römischen campagna veränderte seit der Renaissance das Verhältnis von Stadt und Land. Auch das sich auf die Agrarlandschaft beziehende Herrschaftsverhältnis erhielt durch die Villa, diesem „irdischen Paradies“ (Petrarca), einen neuen Bezugspunkt. Die Villa steht für den ländlichen Raum zwar im „Zentrum des Podere, sie ordnet die Landschaft und sie beherrscht sie“, aber die Städte, ob Venedig, Florenz oder Rom, blieben die Ausgangspunkte und Zentren dieser Villenkultur.2 Seit dem 18. Jahrhundert kommt mit der „Erfindung“ des englischen Landschaftsgartens ein neues Element hinzu, das seit der Klassik und der Romantik Anlass zu subtilen ästhetischen Überlegungen ist. Als Fragen nach der Nützlichkeit der Landschaft3 auftauchten, kündigte sich eine neue Epoche an; von den nun einsetzenden, die Kulturlandschaft verändernden Entwicklungen bis in die Gegenwart wird zu sprechen sein. II. Differenzierungen des Landschaftsbegriffs seit der Doppelrevolution – Landschaft in der Kultursoziologie Sprachgeschichtlich taucht der Begriff Landschaft im 9. Jahrhundert auf, als Übersetzung der lat. Begriffe regio oder provincia, also als Raumbegriff. Etymologisch heißt Landschaft soviel wie geschaffenes, gestaltetes Land (die Bedeutung von schaft bezieht sich immer auf eine Form der Zusammenfassung, wie bei Sippschaft, Gemeinschaft usw.). Seit dem 12. Jahrhundert bekommt „Landschaft“ die weitere Bedeutung, auf gemeinsame Eigenschaften einer Bevölkerung auf abgegrenztem Raum zu verweisen, wie der Begriff Landsmannschaft zum Ausdruck bringt.4 Hieran erinnert z. B. der heute noch gebräuchliche Begriff Landschaftsverband für die ehemaligen preußischen Provinzialverwaltungen in WestfalenLippe oder im Rheinland. Bei Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897), einem Mitbegründer kultursoziologischen Denkens, lesen wir: „Jedes Jahrhundert hat nicht nur seine 2  Bentmann / Müller

(1970), S.  34. Umbruch von ästhetisierter Landschaft zu ihrer Nützlichkeit wird thematisiert bei Krysmanski (1971). 4  Haber (2001), S.  6. 3  Der



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Weltanschauung, sondern seine eigene Landschaftsanschauung“.5 Als Riehl dies in den 1850er Jahren schrieb, war die Doppelrevolution6 und damit die bis heute sich wechselseitig beschleunigende politisch-soziale und industrielle Revolution auch in Deutschland in vollem Gange. Die Beschleunigung der industriell-technischen, der sozialen und kulturellen Phänomene führte zum immer rascheren Wandel von bisher natürlichen, landwirtschaftlichen und städtischen Räumen und Raumnutzungsmustern ganz allgemein. Zugleich intensivierte sich der Diskurs über Landschaft als Natur- und / oder Kulturphänomen. Mit Beginn des wissenschaftlichen Zeitalters und den sich spezialisierenden Disziplinen erfolgten auch begriffliche Differenzierungen von Natur- und Landschaftsräumen: Wird ein bestimmter geographischer Raum, z. B. ein durch Berge oder einen Fluss, durch Wälder oder einen Küstensaum dominierter Naturraum, in spezifischer, auch ästhetisierender Weise als Einheit gesehen, ist nunmehr von Naturlandschaft die Rede; tritt zur Naturlandschaft das Werk des Menschen hinzu, sprechen wir von Agrar- und / oder Kulturlandschaften. Damit ein geographischer Raum zur Landschaft wird, muss, wie es der Soziologe und Kulturphilosoph ­Georg  Simmel (1858–1918) ausdrückte, die „geistige Tat“ des Menschen hinzutreten. Die Natur, so Simmel, „wird durch den teilenden und das Geteilte zu Sondereinheiten bildenden Blick des Menschen zu der jeweiligen Individualität ‚Landschaft‘ umgebaut“.7 Und in einem an Hegel orientierten Verständnis über die Formung von Landschaft zur Kulturlandschaft heißt es bei Martin Schwind: „Kulturlandschaft ist geformter Geist“.8 Die im 19. Jahrhundert begonnene, fachlich zunächst unter dem Einfluss von Alexander von Humboldt (1769–1859) stehende Arbeit an Grundbegriffen der Unterscheidung von Räumen unterschiedlicher Prägung, Naturnähe und Naturferne, hat bis in die Gegenwart Tradition, wie aktuelle Fachdiskurse und Planergespräche über den Begriff der Kulturlandschaft zeigen (vgl. VI). Für die Gegenwart unterscheidet Beate Jessel9 folgende „Dimensionen des Landschaftsbegriffs“: – Landschaft als durch unterschiedliche Kriterien differenzierte räumlichmaterielle Einheit; – Landschaft als integrierende Beschreibung des physiognomischen Gestaltcharakters eines Ausschnitts der Erdoberfläche; bei Gröning / Herlyn (1990), S.  12. (1962). 7  Simmel (1957), S.  142. 8  Schwind (1964). 9  Jessel (2005), S.  580 f. 5  Zit.

6  Hobsbawm

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– Landschaft als abstrakter Ausdruckswert einer komplexen Ganzheit, als Schema des Fühlens und Erlebens, des Deutens und Zusammenfassens: von der „politischen Landschaft“ bis zur „Medienlandschaft“. Neben den genannten Landschaftsbegriffen gibt es den der Stadtlandschaft, und zwar in zweifacher Ausprägung: als geographischen und als städtebaulichen Begriff.10 Der geographische Begriff, der sich nicht durchsetzte, stammt von Siegfried Passarge; er vertrat die Auffassung, dass Städte – räumlich betrachtet – eigene Landschaften bilden.11 Dieser Begriffsbildung wurde zu Recht entgegengehalten, dass es keinen Sinn mache, den Unterschied von Stadt und Land begrifflich zu verwischen. Erfolgreicher war der seit ca. 1900 aufkommende Begriff Stadtlandschaft in städtebaulicher Absicht, also als Gestaltungskonzept vor allem im Hinblick auf die Durchgrünung der Städte mit Parks, zoologischen Gärten und Grüngürteln. III. Indienstnahme der Landschaft durch Industrialisierung und Verstädterung Die Soziologie als Wissenschaft von den Formen menschlichen Handelns und seiner Vergesellschaftung, aber auch von den Zwängen, die Normen und Werte, Institutionen oder Organisationen auf das individuelle und kollektive Handeln ausüben, fragt mit Bezug auf das hier verhandelte Thema: Welches sind die Gründe, die Menschen zu bestimmten Zeiten in bestimmten geographischen Räumen ganz spezifische Agrarlandschaften, Kulturund Stadtlandschaften hervorbringen ließen? Was waren die wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Voraussetzungen und die geistig-kulturellen Grundlagen eines bestimmten Umgangs und einer bestimmten Einstellung zu Natur und Landschaft? In seinen Überlegungen über „Landschaft in der Geschichte“ macht der Soziologe und Sozialphilosoph Hans Freyer (1887–1969) den radikalen Bruch deutlich, der den Umgang mit Natur seit dem Beginn des Industriezeitalters vor gut 200 Jahren kennzeichnete. Landschaft wird in den Prozess des Nützlichen und der Machbarkeit (Hans Freyer) einbezogen; sie wird zu einem Element der technisch-industriellen und der politisch-emanzipatorischen Entwicklungen. In dieser Perspektive und mit Blick auf den Umgang mit Landschaft und Natur gibt es zwischen den beiden dominanten Ideologien des Industriesystems, der liberal-kapitalistischen und der sozialisti10  Kauffmann 11  Vgl.

(1930).

(1970). sein Sammelwerk von 1930: „Stadtlandschaften der Erde“, Passarge



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schen, keinen Unterschied: Für Zwecke der wohlhabenden bzw. der gerechten Gesellschaft ist alles erlaubt. In den Worten Hans Freyers: „Der industrielle Produktionsprozess löst sich von der Landschaft ab; mit jedem technischen Fortschritt wird seine Bindung an sie loser, seine Selbstherrlichkeit größer, bis zu dem Grenzwert hin, dass die Landschaft zu der bloßen Standfläche wird, die nach rein industriellen Erwägungen frei gewählt werden kann“.12 Diese Abstraktheit des Industriesystems gegenüber der Landschaft ist nach Freyer der eigentliche Grund dafür, dass sich das industrielle System in so hohem Maße als übertragbar und expansiv erweist. Das gilt auch für den ländlichen Raum und die mehr und mehr industria­ lisierten landwirtschaftlichen Produktions- und Vermarktungsbedingungen, unter die er geraten ist, zumal nach dem Zweiten Weltkrieg. Die industrialisierte Landwirtschaft lässt nur noch partiell Kulturlandschaft im bisherigen Verständnis des Wortes zurück. Die Flurbereinigungen der 1960er und 1970er Jahre und die mit ihnen verbundenen Begradigungen und Betonierungen haben zu dem geführt, was der Raumplaner Gerhard Isbary als flurbereinigte Traktorenlandschaft bezeichnete. Bei der entsprechenden „Bereinigung“ des Kaiserstuhls in Südbaden wurde das besonders deutlich. IV. Landschaften für die Freizeit Am Beginn der Freizeitlandschaft und der sich in Deutschland erst andeutenden bürgerlich-industriellen Gesellschaft, in der Zeit der deutschen Romantik, steht das Wandern. Es hat nicht nur zur Entdeckung von Landschaften und Kulturräumen beigetragen, sondern hält bis heute die Sehnsucht nach unverfälschter Natur oder der ästhetisch gestalteten Kultur- und Agrarlandschaft wach. Mit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert folgte die für die Entdeckung von Landschaft sehr wichtige Jugendbewegung, die im Geist der Romantik „aus grauer Städte Mauern“ „hinaus ins weite Feld“ strebte. Lassen wir Ansätze seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts außer Betracht, kam es erst seit den 1950er-Jahren zu einer sich beschleunigenden Entwicklung der Freizeitgesellschaft. An ihr partizipierten immer breitere Schichten, zumal die schnell wachsende Schicht der Angestellten. Der Zuwachs an Freizeit durch die Einführung der Fünftagewoche, neue, zeitsparende Haushaltsgeräte und vor allem aber das Auto, das die seit den späten 1950er Jahren so beliebte „Fahrt ins Blaue“ nun auch ganz individuell bzw. familiär erlaubte, führten zu „Landnahmen“ neuer Art.  Die beliebten deutschen Natur- und Kulturlandschaften, Oberbayern und der Chiemgau, die 12  Freyer

(1990), S.  57 f.

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ostfriesischen Inseln und die Lüneburger Heide, Rhein- und Moseltal oder die Bodenseelandschaft werden nun zu beliebten Freizeitlandschaften für den wachsenden Massentourismus. Freizeitaktivitäten wurden „landschaftsbezogen“, wie das der Soziologe Helmut Schelsky (1913–1984) auf dem Mainauer Gespräch des Jahres 1970 zum Ausdruck brachte. Der enorme Zuspruch zur Landschaft rühre daher, dass sie als ästhetisches Verhältnis sozialisierbarer sei als das Verhältnis zur Kunst; es beruhe nicht auf höherer Bildung, sondern sei unmittelbar sinnlich und gefühlsmäßig zugänglich13 (die seit 1953 durchgeführten Mainauer Gespräche, von Graf Lenart Bernadotte ins Leben gerufen, hatten für die Entwicklung einer landschaftsbewussten und schließlich ökologischen ­Bewegung einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert. In der „Grünen Charta von Mainau“ tauchte 1961 erstmalig der Begriff Landschaftsverbrauch auf). Die zunehmenden Wochenendfreizeiten und Kurzurlaube, die Ferienreisen von immer mehr Menschen aller Altersgruppen führten zur Landschaftsverplanung und Einrichtungen von Freizeitlandschaften. Der Eigenwert der Landschaft, den man hervorheben will, geht durch Erschließung und kommerzielle Nutzung häufig verloren. Dies wiederum führte zu verstärkten Bemühungen um Landschaftsschutz und die Einrichtung von immer mehr Natur- und Landschaftsschutzgebieten, die ihre eigenen Probleme haben (und oft heftige Proteste der dort lebenden Menschen hervorrufen). Der Werbeslogan: „hier können Sie noch unberührte Natur erleben“, ist der sicherste Weg, dem Unberührten das Ende zu bereiten. Schnell werden aus bisher ruhigen Orten solche der Überfüllung und der Anhäufung mit events. „Inzwischen“, so sagte der Stadt- und Landschaftsplaner Lucius Burckhardt, „hat der Verschleiß der Landschaft weltweite Ausmaße angenommen. Mit Hilfe von Charterfluggesellschaften werden die entferntesten Winkel der Erde nach Landschaften abgesucht“.14 V. Stadtentwicklung und Landschaft Noch im 18. Jahrhundert hatte die Mehrzahl der Städte eine sich deutlich gegen das Land abgrenzende Stadtmauer; die Bevölkerung Kölns, eine der größten Städte des Mittelalters im deutschen Raum, fand bis ca. 1820 im Mauerring aus dieser Zeit Platz. Dann führten die Bevölkerungsexplosion, Industrialisierung, Verstädterung und der Infrastrukturausbau für Eisenbahn, Straßen und Kanäle zu einem jährlich steigenden Flächenbedarf. 13  Schelsky

(1990), S.  127. (1990), S.  114 f.

14  Burckhardt



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Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gab es erste Städtebaukonzepte, die dem Wildwuchs der verstädterten industriellen Landschaft Einhalt gebieten und das Land bzw. die Landschaft vor weiteren Zerstörungen bewahren wollen. Der Stadtplaner Ernst May (1886–1970) wollte Städte so gestalten, dass sie zugleich der Landschaftssteigerung dienen. Dies sollte durch eine kluge, auf die Umgebung Rücksicht nehmende Topographie der Stadtgestalt bzw. der Planung einzelner Stadtviertel erreicht werden, z. B. durch die mit klaren Rändern begrenzte Absetzung zur umliegenden Landschaft und Landwirtschaft. Auch im erstmals in Breslau von Ernst May verwirklichten Konzept der „Aussiedlung“ eines Stadtteils als „Trabantenstadt“ (ein Begriff von May) ist diese Absicht deutlich. Die Trabantenstadt war zugleich ein Gegenentwurf zu einem der bekanntesten Städtebaumodelle des beginnenden 20. Jahrhunderts: Ebenezer Howards (1850–1938) Gartenstadt (Garden City). Howard, der in London Parlamentsstenograph war, hatte die Auswüchse ungehemmten und unhygienischen städtischen Wachstums gleichsam am eigenen Leibe miterlebt. Sein Modell, das bald nach 1900 in England und vielen Ländern Europas umgesetzt wurde – in Deutschland z. B. in Hellerau bei Dresden oder in Karlsruhe-Rüppurr – betonte die Eigenständigkeit eines neuen, weitgehend autarken städtischen Gebildes; es sollte 32 Tsd. Einwohner nicht überschreiten und die schnelle Erreichbarkeit des ländlichen Umfeldes erlauben. Das Problem großstädtischen Wachstums und der Expansion in die Landschaft konnten die Gartenstädte nicht lösen. Wolfgang Lipp betonte in seinen Anmerkungen über die Gartenstadt zu Recht, dass sie nichts mit Gartenlaube oder Schrebergarten zu tun hatte, sondern als Teil industriegesellschaftlicher Wohnungs- und Städteplanung gedacht war.15 Der Wiederaufbau der zerstörten deutschen Städte nach dem Zweiten Weltkrieg führte zunächst dazu, dass auch die Wohnbevölkerung in die Innenstädte zurückkehrte. Deren Umbau zu Dienstleistungszentren führte jedoch bald zur Verdrängung der Wohnfunktion an die Stadtränder und – entsprechend der rasch wachsenden Bevölkerung und der zunehmenden Verfügung über den PKW – ins grüne Umland. Der Prozess der Suburbanisierung hatte begonnen. Dem Wohnen folgten rasch weitere Funktionen und Einrichtungen: Supermärkte für Haus und Garten, Hobby und Freizeit, Büround Verwaltungsgebäude von Versicherungen, Tankstellen und preiswerte Hotels, Autosalons und -werkstätten, Anlagen für Freizeit und Fitness usw. Die anhaltende Beliebtheit dieses städtisch suburbanisierten Raumes rührt nicht zuletzt daher, dass bei allen diesen Einrichtungen kostenloser Parkraum reichlich zur Verfügung steht – was Bedenken im Hinblick auf die 15  Lipp

(1994), S.  595 f.

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Entwicklung der Innenstädte und den exzessiven Landschaftsverbrauch aufzuwiegen scheint. Der disparaten, zumeist konzeptlosen Entwicklung der bloßen Flächenzuteilung gab der Architekt und Stadtplaner Thomas Sieverts mit dem Begriff Zwischenstadt einen zugkräftigen Namen. Weltweit, so Sieverts, entstehe dieser neue Stadttypus, der in bisher unbekanntem Maße durch „verstädterte Landschaft“ bzw. „verlandschaftete Stadt“ gekennzeichnet sei. „Alle Versuche…, den Bild- und Strukturtypus der historischen europäischen Stadt mehr oder weniger direkt zum allgemeinen und verbindlichen Leitbild für Zukünftiges zu machen“, seien zum Scheitern verurteilt.16 Über den Zusammenhang von „Zwischenstadt und Landschaft“ heißt es: „Die Zwischenstadt kann eine beliebige Vielfalt von Siedlungs- und Bebauungsformen entwickeln, solange sie insgesamt in ihrem Erschließungsnetz lesbar und vor allem wie ein ‚Archipel‘ in das ‚Meer‘ einer zusammenhängend erlebbaren Landschaft eingebettet bleibt: Die Landschaft muss zu dem eigentlichen Bindeelement der Zwischenstadt werden“. Sieverts sieht sehr deutlich, dass sich an dieser Auffassung und Bewertung des Charakters von Landschaft die Geister scheiden. VI. Landschaftsplanung und Kulturlandschaft – Aktuelle Entwicklungen Seit Beginn der Doppelrevolution wird aus Landschaft und Natur sowohl ein ausbeutbares Reservoir als auch ein bewusst zu beplanendes Element der menschlichen Lebenswelt. In jedem Fall gerät Landschaft in die Zugzwänge der wissenschaftlich-technischen und der sich in rasantem Tempo verstädternden Welt, zunächst in Europa und Nordamerika, nunmehr global. Die Diskussion um die Bewahrung der Umwelt bzw. der Schöpfung kommt erst nach 1970 mit der ökologischen Bewegung ins allgemeine Bewusstsein und erhält nach und nach Gesetzeskraft, wenn nicht Verfassungsrang. Die Bewahrung von Landschaft und Kulturlandschaft wird zu einer weltweit anerkannten Aufgabe, wie entsprechende Registrierungen durch die UNESCO als Weltkulturerbe zeigen. Faktisch hat dies alles nur Relevanz, wenn Landschafts- und Naturschutz ein wichtiger Gegenstand der Stadt- und Regionalplanung sind. In einschlägigen Gesetzen – so im Bundesnaturschutzgesetz oder im Raumordnungsgesetz – wird dem Ausdruck verliehen. Die Erhaltung der „gewachsenen Kulturlandschaft“ steht im Zielkatalog des Raumordnungsgesetzes. Die Akademie für Raumforschung und Landesplanung (ARL, mit Sitz in Han16  Sieverts

(1997), S.  7, 29.



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nover) richtete einen entsprechenden Arbeitskreis ein, um den Planungsbehörden auf Bundes- und Landesebene Vorschläge zu machen. Doch die Realisierung stößt weiterhin auf große Schwierigkeiten durch die Ansprüche der Arbeits- und der Freizeitgesellschaft. Der exzessive Landverbrauch für die Zwischenstädte und Infrastrukturplanungen, für den weiterhin anwachsenden Flugverkehr und für europäische Schnelltrassen wird sich fortsetzen. Auch die Schiene kann, was gerne übersehen wird, Stadt- und Landschaftsräume sehr beeinträchtigen, wie die ICE-Schnelltrasse von Karlsruhe in die Schweiz und an anderen Orten zeigt. Der genannte Arbeitskreis der ARL ließ verlauten: Die enorme Zunahme an Geschwindigkeit durch die Bahn verursache, dass nur noch ein Bruchteil der Kulturlandschaft wahrgenommen werde – als Zeitlandschaften. Hieraus resultiere der „Bedarf nach Zeitoasen, also Landschaftsteilen, die über eine hohe Nutzungs- und Gestaltungskontinuität verfügen und in denen bewusst reduzierte Geschwindigkeit angestrebt werden sollten“.17 Nur öffentlicher Druck und ein Bewusstseinswandel in der breiten Bevölkerung kann letztlich etwas bewirken. Hierfür sind die Voraussetzungen nicht sehr günstig, weil es auch seitens der Politik – ob in Berlin oder Brüssel, auf Landes- oder kommunaler Ebene – an entsprechender Willensbildung fehlt. Noch haben der exzessive, billige Flugverkehr und der hypertrophe LKW-Verkehr absoluten Vorrang; die Politiker können sich hierbei auf den Erhalt von Arbeitsplätzen ebenso stützen wie auf die Bedürfnisse und Wünsche ihrer Wähler. VII. Schlussbemerkungen Konnte der Münsteraner Philosoph Joachim Ritter18 in seiner Rektoratsrede (1962) zum Thema Landschaft im Sinne der Ästhetik von Friedrich von Schiller und Georg W. F. Hegel noch davon ausgehen, dass die Freiheit des Menschen die Bändigung der Natur unter seine Zwecke erfordert, so ist uns diese naiv zu nennende Form des Zusammenspannens beider Katego­ rien gründlich abhanden gekommen. Um das Jahr 1970 kündigte sich etwas Neues an, sowohl mit dem Beginn der digitalen Revolution als auch mit dem Bewusstwerden der „Grenzen des Wachstums“. Das Bewusstwerden der weltweiten Auswirkungen der Ausbeutung und Belastung von Natur einerseits, der Endlichkeit von Ressourcen andererseits riefen die ökologische Bewegung auf den Plan; Themen der Umwelt und ihrer Belastbarkeit 17  Tönnies 18  Ritter

(2007), S.  40. (1990).

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wurden zu „Tagesthemen“ und Inhalten von Politik, Gesetzgebung und Rechtsprechung. Angesichts dieser Entwicklungen verbieten sich alle naiven Ästhetisierungen von Natur und Landschaft; sie können sich im Spiegel der bisherigen und weiter stattfindenden Formen des ausbeutenden Verhaltens nur blamieren. Damit ist nicht gesagt, dass ästhetische Betrachtungen von Landschaft obsolet sind; sie können dazu beitragen, offenkundige Gefährdungen abzuwenden und ein neues, von bloßer Ausbeutung und Kommerzialisierung bestimmtes Verhältnis von Mensch und Natur, Kultur und Landschaft herbeizuführen. Literatur Bentmann, Reinhard / Müller, Michael: Die Villa als Herrschaftsarchitektur. Versuch einer kunst- und sozialgeschichtlichen Analyse, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hg.): Stadt – Landschaft. Orientierungen und Bewertungsfragen zur Entwicklung der Agglomerationsräume, in: Informationen zur Raumentwicklung, H. 7 / 8, 1998, S.  435–554. Burckhardt, Lucius: Landschaftsentwicklung und Gesellschaftsstruktur, in: Gröning, G. / Herlyn, U. (Hg.): Landschaftswahrnehmung und Landschaftserfahrung, München: Minerva 1990, S.  105–116. Freyer, Hans: Landschaft und Geschichte, in: Gröning, G. / Herlyn, U. (Hg.): Landschaftswahrnehmung und Landschaftserfahrung, München: Minerva 1990, S.  49–66. Gröning, Gert / Herlyn, Ulfert (Hg.): Landschaftswahrnehmung und Landschaftserfahrung. Texte zur Konzeption und Rezeption von Natur als Landschaft, München: Minerva 1990. Haber, Wolfgang: Kulturlandschaft zwischen Bild und Wirklichkeit, in: Die Zukunft der Kulturlandschaft zwischen Verlust, Bewahrung und Gestaltung. Forschungsund Sitzungsberichte der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Bd.  215, Hannover: Verlag der ARL 2001, S.  6–29. Hobsbawm, Eric: Europäische Revolutionen 1789–1848, Zürich: Kindler 1962. Jessel, Beate: Landschaft, in: Handwörterbuch der Raumordnung, hg. von der Akademie für Raumforschung und Landesplanung (ARL), 4., neu bearb.  Aufl., Hannover: ARL 2005, S.  579–586. Kauffmann, Wolf-Dietrich: Stadtlandschaft, in: Handwörterbuch der Raumforschung und Raumordnung, Hannover: Jänecke 1970, Sp. 3203–3207. Krysmanski, Renate: Die Nützlichkeit der Landschaft. Überlegungen zur Umweltplanung, Düsseldorf: Bertelsmann 1971. Lipp, Wolfgang: Stadtgärten, Gartenstädte, Großstadtgrün, in: ders.: Drama Kultur, Berlin: Duncker & Humblot 1994, S.  589–609.



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Passarge, Siegfried (Hg.): Stadtlandschaften der Erde, Hamburg: Friederichsen / de Gruyter 1930. Plinius der Jüngere: Briefe, ausgewählt u. übersetzt von M. Schuster, Stuttgart: Reclam 1977. Ritter, Joachim: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft [zuerst 1962], in: Gröning, G. / Herlyn, U. (Hg.): Landschaftswahrnehmung und Landschaftserfahrung, München: Minerva 1990, S.  7–21. Schelsky, Helmut: Freizeit und Landschaft [zuerst Vortrag auf dem 13. Mainauer Gespräch, April 1970], in: Gröning, G. / Herlyn, U. (Hg.): Landschaftswahrnehmung und Landschaftserfahrung, München: Minerva 1990, S.  117–130. Schwind, Martin: Kulturlandschaft als geformter Geist, in: ders.: Kulturlandschaft als geformter Geist. Drei Aufsätze über die Aufgaben der Kulturgeographie, Darmstadt: Wiss. Buchges. 1964, S.  1–26. Sieverts, Thomas: Zwischenstadt – zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land, Braunschweig / Wiesbaden: Vieweg 1997. Simmel, Georg: Philosophie der Landschaft [zuerst 1913], in: ders.: Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, hg. von M. Landmann u. M. Susman, Stuttgart: Koehler 1957, S.  141–152. Tönnies, Gerd: Gestaltung urbaner Kulturlandschaften. Vom Fachdiskurs zur Planungspraxis. Tagungsbericht, in: Nachrichten der ARL, Heft 4, 2007, S.  39–41.

Landbürger im Verein Perspektiven bürgerlicher Vergesellschaftung1 Von Georg Kamphausen In den demokratischen Ländern ist die Lehre von den Vereinigungen die Grundwissenschaft  (Alexis de Tocqueville)

Während man in den meisten sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts vom Ungenügen einer bloß bürgerlichen Organisation der sozialen Welt überzeugt war und mit dem Ende der bürgerlichen Gesellschaft rechnete, erscheint heute das Konzept der Bürgergesellschaft (civil society) als eine selbstverständliche Antwort auf die demokratische und soziale Frage des 21. Jahrhunderts. Diese neue Begeisterung für den Bürger nach dem über ihn verkündeten Ende ist eine Folge der Krise des modernen Sozial- und Wohlfahrtsstaates, die mit der Hoffnung einhergeht, dass an dessen Stelle der selbstverantwortliche Bürger trete. Die Stichworte sind bekannt, sie lauten: Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements und des Ehrenamtes, Einbindung der Öffentlichkeit in den politischen Entscheidungsprozess, Umbau des Sozialstaates, partnerschaftliche Zusammenarbeit aller gesellschaft­ lichen, politischen und wirtschaftlichen Akteure, Wohlfahrt durch Selbstgenügsamkeit, oder, wie Helmut Schelsky schon vor mehr als 30  Jahren forderte: Selbständigkeit statt Betreuung.2 Viele Skeptiker sind allerdings der Meinung, dass den heutigen Forderungen und Aufrufen nach einer Bürgergesellschaft der Adressat fehlt. Wer – wie die Theoretiker des „Dritten Weges“ – davon überzeugt ist, dass der Staat Sorge zu tragen habe, dass es den Bürgern immer besser gelinge, sich 1  Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um die überarbeitete Fassung meines an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth gehaltenen Habilitationsvortrages, dessen Stil ich weitgehend beibehalten habe. Der Beitrag beruht auf empirischen Belegen eines studentischen Forschungsprojektes, das auf freundliche Aufmerksamkeit seitens des „Jubilars“ gestoßen ist, dem ich an dieser Stelle für die gemeinsam verbrachte Zeit in einer uns immer fremder werdenden Institution danken möchte. Dass die heutige Vereinssoziologie zu sehr in „bürgerschaftlicher Rhetorik“ schwimmt und ihr eine mikrosoziologische Bodenhaftung gut täte, davon bin ich auch heute noch überzeugt. 2  Schelsky (1976).

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seiner Fürsorge und Obhut zu entziehen, muss sich die Frage gefallen lassen, ob denn der Staat ernsthaft an seiner eigenen Abwicklung interessiert sein kann. Spitze Zungen behaupten daher, das Konzept „bürgerschaftliches Engagement“ werde im politischen Verkehr nur auf dem Verschiebebahnhof für ungelöste oder nicht zu 1ösende Probleme bewegt, weil Deutschland – weder in der politischen Praxis noch in der politischen Theorie – eine Tradition und eine Kultur der Bürgergesellschaft entwickelt habe.3 I. Bürgertum als spezifische Vergesellschaftung Ein analytischer Begriff des Bürgertums, der mehr als nur eine oberflächliche Beschreibung von „Mittelschichten“ erstrebt, sondern spezifische Handlungseinheiten im Hinblick auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Interessen erfassen und mit diesen Handlungseinheiten Träger sozialer Ordnungen und historischen Wandels bestimmen will, muss die Vergesellschaftungsprozesse der Mittelschichten zum Bürgertum thematisieren. Man kann das Bürgertum daher nicht schon aufgrund der arbeitsteiligen Differenzierung der Sozialstruktur als gegeben annehmen.4 Politisch selbständig ist der Bürger allerdings nur, insofern er ökonomisch unabhängig ist, der Wirtschaftsbürger und der „citoyen“ stehen also in einem (wenn auch spannungsreichen) Verhältnis zueinander, das andererseits den Staatsbürger ausschließt. Der Staatsbürger, also der Bürger von Gnaden des Staates kann kein Bürger im modernen Wortsinne sein, und – das lässt sich am Beispiel Deutschlands zeigen – ist es auch nicht gewesen. Das Bürgertum ist eine historisch wandelbare Sozialform. Im Prozess der Verbürgerlichung können neue Schichten in das Bürgertum sozialisiert werden, durch Prozesse der Entbürgerlichung können einmal in das Bürgertum vergesellschaftete Gruppen aber auch wieder ausscheiden. Wenn wir zwischen bürgerlicher Gesellschaft, bürgerlicher Klasse, Bürgertum, Bourgeoisie, citoyen, citizen, Staatsbürger, Wirtschaftsbürger5, Bildungsbürger und dem Klein- oder Spießbürger unterscheiden, verweist dies (neben unterschiedlich geprägten historisch und kulturell variablen Motivreihen, Anreizen und „kulturellen Chancen“) auf die Tatsache, dass die Geschichte des europäischen Bürgertums keine national abgrenzbaren „Typen“ bürgerlicher Lebensweise und schon gar keine universalen Handlungsmuster hervorgebracht hat. Dennoch waren bestimmte Konstellationen der Herausbildung 3  Vgl. hierzu Kamphausen (2002); ferner insbesondere Ball (1991) sowie Plessner (1982). 4  Vgl. insbesondere Lepsius (1987), S.  81 ff. und Nipperdey (1972). 5  Vgl. insbesondere die vom angelsächsischen „Modellfall“ abweichende Typologisierung von Sombart (1913).



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des Wirtschaftsbürgers (des „Unternehmers“) günstiger als andere (darauf hat insbesondere Max Weber im Einleitungskapitel seiner „protestantischen Ethik“ hingewiesen). In komparativer Hinsicht ist eine Soziologie des Vereinswesens daher immer auch ein wesentlicher Bestandteil jenes Europäisierungsprozesses, dessen partikularer Universalismus zu ganz unterschied­ lichen Geschwindigkeiten der Herausbildung und „Formierung“ der bürgerlichen Gesellschaft, des Bürgertums und der Bürgerlichkeit geführt hat und nach unterschiedlichen Kernelementen bürgerlicher Selbstverortung (Bildung, wirtschaftliche und politische Selbständigkeit), abläuft. Eine der gegenwärtig interessantesten Fragen ist sicherlich, ob und inwieweit die Na­ tionalstaaten immer noch die maßgeblichen und einheitlichen Räume eines solchen „Verbürgerlichungsprozesses“ sein können. Die moderne Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Bürger, aber sie ist keine bürgerliche Gesellschaft mehr. Das Bürgertum hatte man in Deutschland nach 1945 nicht nur als Klasse verabschiedet, auch als geistiger Orien­ tierungsrahmen schien eine anachronistisch wirkende Bildungsbürgerlichkeit  ausgedient zu haben. Bürgerlichkeit war zu einem Unwort geworden, vor allem unter Intellektuellen. Das hat sich in den letzten Jahren grundlegend gewandelt, ja es hat sich geradezu eine Verkehrung der damaligen Situation ergeben. Heute bemängeln viele, dass es breiten Bevölkerungsteilen an bürgerlichen Verhaltensmaßstäben mangele.6 Jedenfalls wird dieser Appell an die Bürgerlichkeit zu einem Vehikel für Kulturkritik, wobei es heute nicht mehr um politische Utopien geht, sondern um die eher bescheiden wirkende Vermittlung von korrekten Umgangsformen. Die gegenwärtige Debatte über Bürgerlichkeit ist jedenfalls ein Kind unserer kulturellen Orien­tierungslosigkeit. Oder anders formuliert: die Bürgerlichkeit hat sich vom Bürgertum emanzipiert und dadurch den Bürger banalisiert. Bürgerlichkeit war vor allem ein Habitus mit Publikum. Dieses Publikum ist als Öffentlichkeit verloren gegangen, lebt aber in den Resten kultureller Sonderformen weiter. Unter den modernen Bedingungen des Individualismus verwenden wir Kultur vor allem als Distinktionsmedium. Der Kulturkampf wird zum Volkssport. Wir leben von der Distinktion als einer bigotten Form der gesellschaftlichen Anerkennung, die kein gemeinsames Medium mehr kennt, sondern nur den Vergleich ohne Vergleichsmaßstab. Genau aus diesem Grunde, so steht zu vermuten, finden die alten Geselligkeitsvereine heute keinen Nachwuchs mehr.

6  Vgl.

hierzu u. a. Nolte (2004).

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II. Der Bürger als Held und der Verein als Sekte Obwohl das Thema emotional mit gegensätzlichen Vorzeichen aufgeladen ist, ist eines unbestritten: wer nach der Bürgergesellschaft ruft, darf von den Vereinen nicht schweigen, weil die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft nicht zuletzt eine Geschichte des Vereinswesens ist. Aber leider ist in den Sozialwissenschaften von Institutionen und Strukturen, die zwischen den natürlichen Gemeinschaften wie der Familie auf der einen und dem Staat auf der anderen Seite bestehen, nur selten die Rede. Jenseits von Markt und Staat fehlt es an Theorien und Vorstellungen über jene intermediären Strukturen, deren institutionelle Gestalt und gesellschaftliche Funktion die Frage nach der Qualität der bürgerlichen Gesellschaft erst beantwortbar machen.7 Das war nicht immer so. In der Kunst der Vereinigung sahen Alexis de Tocqueville wie auch Max Weber nicht nur einen Schlüssel zum Verständnis der politischen Sonderstellung der USA gegenüber Europa, sondern ganz allgemein eine wesentliche Voraussetzung für die Entfaltung des demokratischen Prinzips. Beiden Klassikern der Soziologie ging es dabei nicht nur um die formalen Mitgliedschaftsregeln, in denen festgelegt wird, wer Bürger ist und wer nicht (Staatsbürgerschaft), sondern um die Bestimmung ­jener Qualitäten und Fähigkeiten, über die ein Bürger verfügen muss, damit  er als solcher gelten darf, also um die Frage „nach der Beeinflussung des menschlichen Gesamthabitus durch die verschiedenen Inhalte der Vereinstätigkeit“.8 Mit Tocqueville und im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen war sich Max Weber darüber klar, dass Individualismus und community in Amerika keine Gegensätze bezeichnen, weil hier das Gemeinwesen eben nicht als Organismus und der Staat nicht als eine Art größeres Individuum vorgestellt werden, sondern als „Dimension und praktisches Resultat des gesellschaftlichen Handelns von Individuen“.9 Gemeinschaften sind als Produkte gesellschaftlich handelnder Akteure, nicht aber als von individuellen Interessen unabhängige organische Einheiten zu begreifen. Die „Herausbildung von Persönlichkeiten“ beruht dementsprechend auf einer besonderen Form der Vergesellschaftung des Subjekts durch Selbstdisziplinierung einerseits und soziale Kontrolle (Auswahl) andererseits.10 erst kürzlich Müller-Jentsch (2008). hierzu und im Folgenden die Ausführungen Max Webers (1924) auf dem Ersten Deutschen Soziologentag in Frankfurt a. M. 1910. 9  Kallscheuer (1990). 10  Trotz seines wohlwollenden Urteils über die Bedeutung der „amerikanischen Religion“ für die politische Kultur konnte sich Max Weber jedoch für eine vertragstheoretische Konstruktion des Gemeinschaftsbegriffes nicht sonderlich erwärmen. Kein Schatten von Wahrscheinlichkeit spreche dafür, so meinte er, „daß die ökonomische ‚Vergesellschaftung‘ als solche entweder die Entwicklung innerlich freier 7  Hierzu 8  s.



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Mit dieser heroischen Interpretation des Puritanismus, die auf einer antihedonistischen, glücksverachtenden Grundentscheidung beruht11, folgte Max Weber wesentlich dem schottischen Geschichtsschreiber Thomas Carlyle, der sich mit Verbissenheit dem Thema Preußen widmete und die Puritaner in die Ahnengalerie der Heroen aufgenommen hatte.12 In seinem berühmten Vorlesungszyklus über das Heroische in der Geschichte aus dem Jahre 1840 hatte Carlyle den Puritanismus als „the last of our heroisms“ und als eine wesentliche Grundlage des bürgerlichen Selbstbewusstseins bezeichnet. Die ökonomisch aufsteigenden Mittelklassen, so Carlyle, ließen die puritanische Tyrannei nicht etwa über sich ergehen, sondern entwickelten in ihrer Verteidigung ein Heldentum, wie gerade bürgerliche Klassen als solche es selten vorher und schon gar nicht mehr nachher gekannt hätten.13 Carlyle wie auch Weber waren daher davon überzeugt, dass sich das Glücksempfinden und die Qualität des Menschentums umgekehrt proportional zueinander verhalten und dass nur der in der Neuzeit zu Ehren gekommene „Hund in der Sonne“ (Erhard Kästner) sich mit dem billigen Versprechen eines pursuit of happiness zufrieden geben könne.14 Webers Brief an Adolf Harnack15 macht deutlich, dass ihm der Zusammenhang zwischen Puritanismus und Imperialismus gerade am Beispiel Englands aufgegangen war und der Imperialismus eine Art Ersatz für die fehlende puritanische Askese zu bieten schien: So turmhoch Luther über allen Anderen steht, – das Luthertum ist für mich, ich leugne es nicht, in seinen historischen Erscheinungsformen der schrecklichste der Schrecken und selbst in der Idealform, in welcher es sich in Ihren Hoffnungen für Persönlichkeiten oder aber altruistischer Ideale in ihrem Schoße bergen müsse“; (1921, S.  61 f.); Das Kriterium der Legitimität wird bei Weber dabei so entschieden an die Formen der Herrschaft geknüpft, dass der ganze Bereich der genossenschaftlichen, bürgerlichen, „demokratischen“ Regierungsformen nahezu völlig außerhalb seines Gesichtskreises verbleibt. Vgl. hierzu Sternberger (1960), S.  82. 11  Bereits in seiner Freiburger Antrittsvorlesung hat Max Weber vor dem Hintergrund des kulturprotestantisch monopolisierten und pathosgeladenen Kulturbegriffes der neunziger Jahre auf diese Frage eine Antwort gegeben, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt: „Nicht das Wohlbefinden der Menschen, sondern diejenigen Eigenschaften möchten wir in ihnen emporzüchten, mit welchen wir die Empfindung verbinden, daß sie menschliche Größe und den Adel unserer Natur ausmachen.“ „Nicht Frieden und Menschenglück haben wir unseren Nachfahren mit auf den Weg zu geben, sondern den ewigen Kampf um die Erhaltung und Emporzüchtung unserer nationalen Art.  Und wir dürfen uns nicht der optimistischen Hoffnung hingeben, daß mit der höchstmöglichen Entfaltung wirtschaftlicher Kultur bei uns die Arbeit getan sei.“ Weber (1921), S.  63. 12  Vgl. Rosenberg (1985), S.  138. 13  Der große Einfluss Carlyles auf Weber ist unbestritten, aber kaum erforscht. 14  Hennis (1996), S.  87, Fn.  275. 15  Weber (1990), S.  32 f.

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die Zukunftsentwicklung darstellt, ist es nur, für uns Deutsche, ein Gebilde, von dem ich nicht unbedingt sicher bin, wie viel Kraft zur Durchdringung des Lebens von ihm ausgehen könnte. Es ist eine innerlich schwierige und tragische Situation: Niemand von uns könnte selbst ‚Sekten‘-Mensch, Quäker, Baptist etc. sein, Jeder von uns muß die Überlegenheit des – im Grunde doch – Anstalts-Kirchentums, gemessen an nicht-ethischen und nicht-religiösen Werthen, auf den ersten Blick bemerken. Und die Zeit für ‚Sekten‘ oder ihnen etwas Wesensgleiches ist, vor allem historisch vorbei. Aber daß unsere Nation die Schule des harten Asketismus niemals, in keiner Form durchgemacht hat, ist, auf der anderen Seite der Quell alles Desjenigen, was ich an ihr (wie an mir selbst) hassenswerth finde, und vollends bei religiöser Wertung steht eben – darüber hilft mir nichts hinweg – der Durchschnitts-Sektenmensch der Amerikaner ebenso hoch über dem landeskirchlichen ‚Christen‘ bei uns, – wie, als religiöse Persönlichkeit, Luther über Calvin, Fox e tutti quanti steht.16

Aus seinem Leiden an Deutschland wurde Max Weber zu einem „idealtypischen Puritaner“, zu einem „puritan without god“ (Werner Stark). Während Max Weber die Eigenart freiwilliger Zusammenschlüsse in Amerika recht gut zu kennzeichnen vermochte, wusste er mit den kleinbürgerlichen Tendenzen, wie sie in den Vereinen seiner eigenen Gesellschaft zutage traten, allerdings weniger anzufangen, weshalb er anlässlich des ersten deutschen Soziologentages in Frankfurt eigens eine Untersuchung hierüber vorschlug.17 III. Arbeit am Begriff Max Weber zufolge ist der Urtypus alles Vereinswesens die Sekte18, die auf dem Prinzip der freiwilligen Mitgliedschaft „spezifisch qualifizierter Menschen“ beruht. Ähnlich wie religiöse Sekten übernehmen Vereine die Funktion, die persönliche Rechtschaffenheit ihrer Mitglieder Dritten gegenüber zu verbürgen. In qualitativer Hinsicht, so Weber, ist daher (Nord-) Amerika „das Vereinsland par excellence“, weil dort die Zugehörigkeit zu einem Verein für den Mittelstand direkt zur Legitimation als Gentleman gehört. An die Stelle der staatlichen Autorität und der Außenleitung des Menschen tritt die asketische Selbstdisziplinierung, also eine auf die Kontrolle des äußeren Verhaltens bedachte methodische Lebensführung. Vereine stellen also sozusagen das ethische Qualifikationsattest für den Bürger als Geschäftsmann aus, indem sie ihn befähigen, sich selbst ein Netz sozialer Verbindlichkeiten zu schaffen. Sie erzeugen Sozialkapital, indem sie soziales Vertrauen ermöglichen und stabilisieren. 16  Ebd. 17  Ein

Vorhaben, das er leider nicht realisieren konnte. (1924), S.  443 ff.

18  Weber



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Ganz anders in Deutschland. In quantitativer Hinsicht steht das Vereinswesen dem amerikanischen zwar in nichts nach. Aber zu einem Organisa­ tionsprinzip individueller Interessen konnte es schon deshalb nicht werden, weil es von Anfang an einem starken Staat gegenüberstand. So wurde in Deutschland die bürgerliche Gesellschaft mindestens ebenso stark von oben, vom Staat her geschaffen wie von unten, von den Bürgern her. Aus diesen besonderen Traditionen und Abhängigkeitsverhältnissen resultierte ein Vereinswesen, das eine „undifferenzierte, bäurisch-vegetative Gemütlichkeit, ohne die der Deutsche keine Gemeinschaft pflegen zu können glaubt“19 erzeugte und damit einen Persönlichkeitstypus prämiierte, der jeden Zugewinn an individuellen Freiheitsspielräumen als Gemeinschaftsverlust betrauerte. Auf dieses deutsche Unvermögen zur gesellschaftlichen Selbstorganisation spielt Weber jedenfalls an, wenn er sagt, der heutige Mensch sei ein Vereinsmensch „in einem fürchterlichen, nie geahnten Maß“.20 Etwas anderes kommt hinzu: Weil das Bindungs- und Bildungsprinzip bürgerlicher Gesellschaften ganz wesentlich aus Ideen besteht, ist die Frage entscheidend, in welchem Verhältnis Vereine, Verbindungen und Verbände zu den ihnen zugrunde liegenden Weltanschauungen stehen.21 Denn jeder Verein, gleich welcher Art auch immer, zieht geradezu wie ein Magnet weltanschauungsähnliche Inhalte an. Abgesehen von der Organisationsform eines gemeinschaftlich verfolgten Zieles ist es daher nicht unerheblich, welchen Ideen, Aufgaben und Interessen man sich in einem Verein widmet. „Ein Mensch, der … gewohnt ist, gewaltige Empfindungen aus seiner Brust durch seinen Kehlkopf herausströmen zu lassen, ohne irgendeine Beziehung zu seinem Handeln, ohne daß also die adäquate Abreaktion dieses … mächtigen Gefühls in entsprechend mächtigen Handlungen erfolgt – … das ist das Wesen der Gesangvereinskunst –, das wird ein Mensch, der, kurz gesagt, sehr leicht ein ‚guter Staatsbürger‘ wird, im passiven Sinne des Wortes. 19  Ebd. 20  Ebd.

21  Das Thema „Weltanschauung als Verein“ spielt heute eine zunehmend wichtige Rolle in der Pluralisierung religiöser Angebote und der damit einhergehenden Debatte über die „Fragwürdigkeit“ ihrer überlieferten staatskirchlich-volkskirchlichen Verfasstheit. Ganz beiseite gelassen ist hier der wichtige Gesichtspunkt eines „Strukturwandels der Öffentlichkeit“, der im Gefolge einer zunehmenden Refeudalisierung über intransparente Netzwerke zunehmend politisches Gewicht erhält. Mitgliedschaft als Exklusivitätsausweis und Exklusionsstrategie unliebsamer Dritter (Öffentlichkeit) ist insbesondere in jenen Institutionen, die sich bisher als Garant „kritischer Öffentlichkeit“ legitimierten (die „Universitäten“) zu einer gängigen Version der Verschleierung von Herrschaft geworden (Beispiel: Präsidialverfassungen); hier findet ein bislang kaum beachteter, tief greifender Eingriff in die Konstitutionsbedingungen funktionierender Öffentlichkeit statt; hierzu immer noch einschlägig Habermas (1990), S.  122 ff.

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Es ist kein Wunder, dass die Monarchen eine so große Vorliebe für derartige Veranstaltungen haben“. Daraus ergibt sich, dass „mit der quantitativen Verbreitung …. die qualitative Bedeutsamkeit des Vereinswesens nicht immer Hand in Hand“22 geht. Anders formuliert: nicht alle Vereine erzeugen Sozialkapital.23 Entscheidend ist vielmehr, in welchen gesellschaftlichen Bereichen das individuelle Interesse überhaupt zum Ausdruck gebracht werden kann. Um die mit dem Übergang der „alten“ zu den Vereinen „neuen Typs“ verbundenen Fragen präzisieren zu können, werde ich in drei Schritten vorgehen: Zunächst werde ich jene Unterscheidungskriterien benennen, die Max Weber zufolge eine „Arbeit am Begriff des Vereins“ überhaupt erst erlauben und dies mit einigen Hinweisen zu dem verwendeten Material und zur Methode verbinden. In einem zweiten Teil geht es neben dem Versuch einer Typologie des Vereinswesens um eine Beschreibung der strukturellen Eigenarten und Tendenzen, die für das gegenwärtige Vereinswesen charakteristisch sind. Daraus ergibt sich eine These, die ich im dritten Teil zu plausibilisieren hoffe. Sie lautet: In den letzten zwanzig Jahren ist neben das Geflecht eher standesorientierter Geselligkeitsvereine ein hoch differenziertes Mit- und Gegeneinander unterschiedlichster Freizeit- und Unterstützungsvereine getreten, die Produktion und Konsum von Dienstleistungen organisieren. Aus dem Geselligkeitsverein ist der Freizeitverein mit nur noch partieller Bindung geworden, der immer stärker den Charakter des Clubs annimmt.24 Dieser neue Vereinstypus kann als eine dem Individualisierungsprozess entsprechende Form der Vergesellschaftung begriffen werden, der auf den ersten Blick wie eine Strukturvariante des amerikanischen Modells aussieht. Die Auswirkungen dieses Wandels auf eine Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements sind aber eher gering. Die erste Aufgabe einer Soziologie des Vereinswesens besteht in einer Typologie.25 Wegen der Vielfalt der Vereine, die sich zudem nicht auf einheitliche Strukturprinzipien zurückführen lassen, bereitet jede Klassifizierung jedoch erhebliche Schwierigkeiten. Bei der großen Zahl von Vereinen, die man dem Vereinsregister entnehmen kann, konnte zum Beispiel nicht in 22  Weber

(1924), S.  442 ff. sind Freundschaftsbeziehungen wie auch sehr lose geknüpfte Netzwerke (die Vergesellschaftung nach dem „man-kennt-sich-Prinzip“) in der Lage, Sozialkapital (Aneignung von Machtressourcen) zu erzeugen; klassisch hier Granovetter (1973). 24  Hierzu weiterführend Jaeger (1994). 25  Sehr informative Beispiele in den Aufsätzen von Eric J. Hobsbawm (zur englischen middle class), Hartmut Kaelble (zum französischen und deutschen Bürgertum) und Marco Meriggi (zum italienischen und deutschen Bürgertum im Vergleich) in Kocka (1988). 23  Natürlich



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jedem Fall einwandfrei die Zuordnung zu der einen oder anderen Gruppe von Vereinen geklärt werden. Aus vielen Vereinsnamen ergibt sich nicht unmittelbar der Vereinszweck, zudem lassen sich heute viele Vereine – aus unterschiedlichsten (zumeist steuerrechtlichen) Gründen – nicht ins Vereinsregister eintragen. Wiederum andere, die sich haben eintragen lassen, existierten nur sehr kurze Zeit, beantragten aber keine Löschung. Die Statistik erlaubt daher nur recht grobe Trendaussagen. Wir haben uns deshalb dazu entschlossen, aus allen Vereinssparten jeweils zwei Vereine genauer unter die Lupe zu nehmen und mit ihren Vereinsvorständen mehrstündige Interviews durchgeführt. Eine mit großem Aufwand betriebene Fragebogenaktion führte bei einigen dieser Vereine allerdings zu einem Rücklauf, der einen Vergleich zwischen ihnen nicht erlaubt hätte. Unbefriedigend war aber letztlich auch die Zufälligkeit unserer Auswahl, die das Mit- und Gegeneinander von Vereinen, vor allem aber deren Beziehung zum kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Leben nicht ausreichend deutlich machen konnte. Aus diesem Grunde haben wir uns nach etwa einem Jahr dafür entschieden, den Bezugsraum unserer Vereinsstudie zu wechseln. Aus nahe liegenden Gründen wählten wir die stadtnahe Gemeinde Mistelbach, Sitz der Verwaltungsgemeinschaft Hummelgau.26 Bei aller gebotenen Selbstkritik waren wir davon überzeugt, dass sich die eingangs gestellte Frage nach der bürgerschaftlichen Qualität von Vereinen am Untersuchungsobjekt Dorf schon deshalb besser beantworten lässt, weil man hier alle Vereine, von ihren ersten Anfängen bis in die Gegenwart, die bestehenden wie auch die bereits aufgelösten mit einbeziehen kann. Nur so lässt sich zeigen, welche Rolle die Vereine zwischen den alteingesessenen Familien und Neubürgern auf der einen und den kommunalen (politischen) Eliten auf der anderen Seite heute spielen. Als Schnittpunkt unterschiedlicher sozialer Kreise sind Vereine immer auch ein Ausdruck der jeweiligen Zeit. Interessanterweise werden sie, auch und gerade in der Soziologie, immer noch eher als Repräsentanten der alten Ordnung denn als Motor des gesellschaftlichen Wandels angesehen. Erst in den letzten Jahren wird man der Tatsache gewahr, dass der Wandel des Vereinslebens nicht den Voraussagen entspricht, die noch in den 70er Jahren soziologisches Gemeingut waren. Das Bild, das sich heute bietet, ist daher wesentlich komplizierter und widersprüchlicher als man gemeinhin erwartet. 26  … und damaliger Wohnort des Verfassers. Mit dem hier gewählten Kunstbegriff des „Landbürgers“ ist natürlich nicht die historische Sozialform des „Ackerbürgers“ gemeint. Es geht hier um den von der Stadt auf das Land hinausgetragenen und dort Wurzelgrund findenden Prozess der „Verbürgerlichung“, der von herausragender Bedeutung für unsere Wertschätzung natur- wie stadtnaher Lebensräume und die damit einhergehende Verbürgerlichung des überlieferten Kultur / Natur-Gegensatzes ist.

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Wir fragen zunächst: In welche Richtung verändert sich das Vereinswesen und kann man dies an den Neugründungen ablesen? IV. Gestalt- und Funktionswandel freiwilliger Vereinigungen Rund sechzig Prozent aller Erwachsenen sind in Deutschland zahlende Mitglieder in mindestens einem Verein. Seit den 60er Jahren gibt es einen regelrechten Vereinsboom: die Zahl der eingetragenen Vereine auf dem früheren Bundesgebiet verdreifacht sich von 1950: 88.572 auf 1990: 285.000. Zwischen 1973 und 1988 hat sich die Zahl der Vereinsmitglieder mehr als verdoppelt. Die neuen Vereine haben einen deutlichen Schwerpunkt im Bereich Kultur und sie nehmen die Hürde zur staatlichen Alimentierung schneller als frühere Vereinsorganisationen. Das Engagement in Großorganisationen wie Kirchen, Gewerkschaften, Parteien und Wohlfahrtsverbänden nimmt zugunsten eines Engagements in kleinen Initiativen zwar ab, aber gleichzeitig hat sich zwischen 1970 und 1996 die Zahl der hauptamtlichen Mitarbeiter der freien Wohlfahrtspf1ege ebenfalls verdreifacht (von 382.000 auf 1,2 Millionen). Dieser Professionalisierungsschub ist in vielen Vereinen und Verbänden zu beobachten, die inzwischen eine stattliche Zahl von hauptamtlich Beschäftigten aufweisen. In der Demographie der Vereinsmitglieder sind dagegen auf den ersten Blick kaum Verschiebungen festzustellen. Sieht man von einem nicht unerheblichen Anstieg der Mitgliedschaft von Frauen einmal ab, ist das typische Vereinsmitglied immer noch männlich, mittleren Alters, berufstätig mit mittlerem Einkommen und lebt in einer Klein- oder Mittelstadt. Mit zunehmender Schulbildung nimmt die Attraktivität von Sportvereinen zu, die von Geselligkeitsvereinen ab. Der viel beschworene Individualisierungsprozess hinterlässt auch in den Vereinen seine Spuren. Das Geselligkeitsbedürfnis und die Geselligkeitsformen haben sich, nicht zuletzt durch die wachsende Bedeutung der Vergnügungs-, Freizeit- und Kommunikationsindustrie drastisch gewandelt. Hinter der steigenden Zahl der Eintragungen in das Vereinsregister steht eine allgemeine Vereinsmüdigkeit. Der Rückzug auf die Kleinfamilie und die Partikularisierung individueller Interessen haben zu dem paradoxen Sachverhalt geführt, dass der klassische Typus des Vereinsdeutschen sich im Aussterben befindet, obwohl – oder gerade weil – es immer mehr Vereine gibt. Das Mitglied besteht heute auf Leistungen, mit deren Hilfe sich z. B. ein Hobby leichter verwirklichen lässt. Der diesem Motivwechsel entsprechende Vereinstyp ist der Club. Bei den Vereinsgründungen der letzten Jahre sind die Clubs ganz eindeutig die Gewinner: Paintball Sportclub, Erster Kart Club, Bridge Club, Dart Club Hammerstadt, Computer Club Neudrossenfeld, Terrarienclub, Quarter Century Club, XR3-Club, Gemeinnütziger



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Golfclub Glückauf und viele andere mehr. Insbesondere im Bereich des Sports haben Vereine immer mehr die Funktion von Dienstleistungseinrichtungen übernommen. Neben einer stärkeren Professionalisierung und Kommerzialisierung hat die interne Differenzierung in den Sportvereinen erheblich zugenommen. Dies führt dazu, dass die Tischtennisspieler die Damen der Gymnastikabteilung nicht mehr kennen und die Feldhockeyabteilung eine ganz andere Klientel als die Fußballjugend bindet. Der Individualisierung der Interessen folgt die interne oder externe Differenzierung des Vereinswesens auf dem Fuße. Differenzierungsprozesse befördern und verstärken aber auch neue Elitebildungen. Wesentlich deutlicher als auf dem Lande hat die Strategie der Integration durch Abgrenzung in der Stadt zu einem Prozess geführt, den man als Re-Feudalisierung (neudeutsch: networking) bezeichnen könnte. Das gilt besonders für die alten und neuen bürgerlichen Vereine wie z. B. die Harmonie, die Bürgerressource, die Rotarier, den Lions-Club, Kiwanis oder die Schlaraffia (alles Vereine in Bayreuth Stadt), die ihre Mitglieder per Ballot wählen. Der Ausspruch Floyd Hunters „Fat Cats Keep in Touch“27 trifft aber auch für andere, clubförmig organisierte Lebensstilinteressierte zu, die sich nach dem „man-kennt-sich-Prinzip“ vergesellschaften. Obwohl sie oftmals die gleichen Ziele verfolgen – nämlich die nicht mehr selbstverständlichen Prinzipien bürgerlicher Kultur und Kultiviertheit zu einem Kriterium der Exklusivität zu erklären – sprechen sie eine jeweils unterscheidbare Klientel an. Weil es kein homogenes, meinungstragendes Publikum mehr gibt, nimmt die Bedeutung von Teilöffentlichkeiten, die durch die Massenmedien überlagert und geprägt werden, zu. Themenspezifisch organisierte Gruppen werden zu Trägern von Meinungen, die sich im Prozess der Kommunikation einig werden, in einer bestimmten Weise zu denken. Gleichzeitig aber wird auch eine andere Tendenz sichtbar: die der Refeudalisierung über Ämterhäufung in Vereinen: Die sozial aktiven Vereinsmitglieder nehmen sich gegenseitig in jeweils andere Vereine auf und stärken dadurch das Netz an sozialen Verbindlichkeiten, das in mancherlei Hinsicht undurchdringliche Züge annimmt. Die Clubs machen deutlich, dass die Ästhetisierung des Alltagslebens zu einer massenhaften Verbreitung erlebnisorientierter Lebensstile geführt hat. Obwohl der Verein den ganzen Menschen nicht mehr so eindeutig weltanschaulich in Beschlag nehmen kann wie früher, besteht die Attraktivität von Fan-Clubs gerade darin, eine glaubensartige Begeisterung, die sich auf die Superiorität eines bestimmten Sportvereins, die Treue zu einer bestimmten Automarke oder eines anderen Markenartikels beziehen kann, mit anderen 27  Hunter

(1953).

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zu teilen. Neben den partiellen Weltanschauungen auf Zeit, wie sie in den Fußball-Fanclubs anzutreffen sind, sind viele Clubs nichts anderes als Bühnen für die eigene Selbstdarstellung und dienen als Kontaktbörse oder Laufsteg. Konsum- und Freizeitverhalten sollen stilbildend wirken und einen sozialen Gruppenzusammenhang bilden, der die individuellen Freiheitsräume nicht beschränkt. Der entscheidende Unterschied zu Vereinen wie der Harmonie, in die man hineinballotiert wird, besteht einzig in der weitestgehenden Demokratisierung der Zugangschancen. Diese geht im Porsche-Club so weit, dass man über keinen Porsche verfügen muss, um Mitglied werden zu können. Selbstverständlich wird in solchen Vereinen regelmäßig die Konsumfähigkeit zum Ausweis der Teilhabe an den Vereinsprinzipien. In dieser Gemengelage stellt sich die Frage, welche gesellschaftliche Bedeutung denn nun eigentlich den Vereinen zukommt und: welche Rolle sie bei der Selektion sozial aktiver Persönlichkeiten spielen? V. Die Vergesellschaftung des Individualisierungsprozesses Vereine sind zunächst ein städtisches Phänomen, getragen von Oberschicht, Intellektuellen und dem aufstrebenden Bürgertum, das in ihnen Anerkennung und Selbstbestätigung sucht und den Adel imitiert. Auf dem Land ist das Vereinswesen städtischer Import, es sind vor allem Pfarrer, Lehrer, Bürgermeister, Ratschreiber, städtische Zuzügler, die sich des Instruments des Vereins bedienen, um die Bevölkerung an den Segnungen des Fortschritts und der Kultur teilhaben zu lassen. Erst mit erheblicher Verspätung werden auch die Dörfer von der Welle der Vereinsgründungen erfasst. In ihnen findet jener Prozess der kulturellen Verbürgerlichung seinen Abschluss, in dem sich schließlich der deutsche Nationalstaat als Kulturstaat flächendeckend etablieren kann. Während die Gesellschaft Harmonie als klassischer Verein der Aufklärungszeit bereits 1803 gegründet wird, entstehen Geselligkeitsvereine im Hummelgau erst in den 80er und 90er Jahren. Dann aber schießen sie wie Pilze aus dem Boden: 1891 der Verein Eintracht, Creez; 1893, die Gemütlichkeit zu Lenz im Hummelgau; 1896 Eintracht in Pettendorf; 1902, Eintracht Gubitzmoos; 1906 Erheiterung in Creez. In Mistelbach der Verein Einigkeit von 1885. Hierselbst, so heißt es im Gründungsprotokoll, „vereinigten sich mehrere gleichgesinnte Jünglinge, welche Sinn und Empfänglichkeit für gemeinnützige Zwecke und für die Veredlung des Geistes haben und nach jeglicher Richtung Einigkeit unter sich zu halten wünschen …“. Und an anderer Stelle: „In die Vorstandschaft sind Männer zu wählen, welche hierzu die erforderliche Intelligenz besitzen“. Wie auch immer man damals die Intelligenz bemaß, in der Vorstandschaft waren nur wohlhabende Bauern zu finden. Landwirtschaftliche Unterstützungsvereine wie die Molkereigenossenschaft, der Viehversicherungs-



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verein, der Dampfdreschverein und die Zuchtstiergenossenschaft bestanden bereits vorher, zielten aber nicht auf den geselligen Austausch. Dieser wurde erst zu einem beständigen Element des Dorflebens mit der Gründung des Männergesangvereins von 1888 (Bauernverein) sowie des Arbeitergesangverein von 1905. Beide Vereine, streng voneinander getrennt, repräsentieren die beiden sozialmoralischen Milieus der Jahrhundertwende und werden, auf der Seite der Arbeiterschaft, durch den Arbeiterverein, den Sportverein und die SPD ergänzt. Der Arbeitergesangverein wurde in den frühen dreißiger Jahren aufgelöst und durch einen gemischten Chor ersetzt, der nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls kein Interesse mehr fand, wogegen der Bauerngesangverein kontinuierlich weiter bestand. Gerade am Beispiel der Gesangvereine, deren Liedgut weitgehend identisch war, lässt sich der Beitrag zur kulturellen Formierung der Nation verfolgen. Was der Kulturprotestantismus in den Städten war der Gesangverein im Dorf. Ein durchgängiges Motiv der frühen ländlichen Vereinsbewegung war dabei die Betonung des Eigenwertes und der nationalen Bedeutung dörflich traditionaler Lebensordnung gegenüber den „verderbten“ Lebensstilen der Stadt. Die Vereine auf dem Land übernehmen daher eine zweifache Funktion. Einerseits entziehen sie den Einzelnen der dörflichen Gemeinschaft in ihrer früheren Form, indem sie ihm die größere Wirklichkeit der Stadt, des Marktes und der Nation vermitteln. Andererseits aber erhalten sie bei steigender Heterogenität im Dorf und zunehmender Außenverflechtung den Zusammenhalt unter den Dorfgenossen. Es ist diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die den Vereinen auf dem Land ihre Bedeutung gibt. Vieles hat sich in den Jahren seit Kriegsende geändert. Während noch in den zwanziger Jahren die beiden unterschiedlichen sozialmoralischen Mi­ lieus fest in Vereine eingebunden waren, finden inzwischen auch auf dem Dorf Vereine mit einem ausgeprägten Dienstleistungscharakter, die auf regelmäßige Teilnahme nicht angewiesen sind und mit dem bildungsbürger­ lichen Idealen wenig zu tun haben, die größte Zustimmung: der Mazda Club, der 1. FCN Fanclub, der mit dem Bayern München Fanclub in nahezu harmonischer Koexistenz lebt und der Wanderverein, der Volksläufe und Marathon-Wanderungen als eher kommerzielle Events organisiert. Zahlreich sind inzwischen die Spezialabteilungen für alle nur erdenklichen Sportarten im Turn- und Sportverein. Als Bundespräsident Heuss 1950 beim ersten Deutschen Turnfest der Nachkriegszeit ironisch anmerkte, es gebe „keinen proletarisch-marxistischen Klimmzug und keinen bürgerlich-kapitalistischen Handstand“, brachte er eine Tendenz zum Ausdruck, die in Mistelbach einen realen Niederschlag darin fand, dass nach der Auflösung des Arbeitergesangvereins einige seiner aktivsten Mitglieder in den ehemaligen Bauernverein eintraten (viele neue Lieder lernten sie dort allerdings nicht kennen). Ebenso aufschlussreich ist die Aufnahme und Integration der Vertriebenen

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in das Dorf über die bestehenden Vereine. In die bestehenden Strukturen des sozialdemokratisch geprägten Sportvereins wollten und konnten sich die zumeist katholischen Neubürger nicht einordnen. So gründeten sie eine eigene Abteilung und spielten Handball. Nach kurzer Zeit waren die Handballer genauso gemischt wie dies nun im Männergesangverein der Fall war. Bald darauf löste sich die Handballabteilung auf, weil die nachrückende Jugend doch lieber Fußball spielen wollte. Wie in den kirchlichen Gemeinden hat sich innerhalb der Vereine der Unterschied zwischen der Rand- und der Kerngemeinde, also zwischen Vorstandschaft und Mitgliedern verstärkt. Wahrend man sich früher um ein Vorstandsamt geschlagen hat und der Vorsitz mit mehreren Fässern Freibier abgegolten wurde, ist heute kaum jemand mehr bereit, ein Vereinsamt zu übernehmen. Die Beteiligungsbereitschaft sinkt, weil die Erwartungen und damit das Kritikpotential steigen. Die nachlassende Bereitschaft der Vereinsbasis, freiwillige Dienste zu verrichten, muss wiederum vermehrt durch bezahltes Personal ausgeglichen werden, wenn die Mitglieder von Freizeitvereinen schon die Mitarbeit bei Aufgaben verweigern, die als unmittelbare Vorbedingung für die Erfüllung des Vereinszweckes vonnöten sind, wie z. B. das Herrichten der Tennisplätze. Die dadurch steigenden Mitgliedsbeiträge verärgern die einheimische Klientel, sind aber, da sie oft geringer sind als die in der Stadt zu entrichtenden Beiträge, für Auswärtige interessant, was wiederum zu einer Öffnung des Vereins führt, der von vielen älteren Mitgliedern eher kritisch gesehen wird (man könnte geradezu von einer ungeplanten „Globalisierung“ im Sinne einer „Westorientierung“ sprechen). Kurzum, es gibt einen Trend, der freiwilligen Mitarbeit auszuweichen und anfallende Dienste nicht mehr ehrenamtlich zu organisieren. Mitglieder und Klienten werden anspruchsvoller, dafür wird die Zahlungsmoral schlechter. Die zunehmende Verstädterung des dörflichen Vereinswesens, die man auch als einen Angleichungsprozess hinsichtlich der Vielfalt vereinsmäßig organisierten Angebote beschreiben kann, ist nicht zuletzt darauf zurück zu führen, dass die Gemeinden in ihrer Mehrzahl zu Wohn- und Schlaforten einer städtischen Bevölkerung geworden sind. Viele Neubürger sehen daher gar keinen Anlass mehr, sich über die Vereine in das Dorf zu integrieren, vor allem dann nicht, wenn das städtische Angebot vielfältiger und professioneller organisiert erscheint. In den Neubaugebieten ist daher die Teilnahme am Vereinsleben signifikant geringer als in den alten Siedlungsgebieten. Ein eher subtiler Grund für dieses scheinbare Desinteresse besteht in der Tatsache, dass die Alteingesessenen von ihren Neubürgern etwas erwarten, was kaum jemand heute zu geben bereit ist: um akzeptiert und integriert zu werden verlangt das Dorf (zumindest in den alten Vereinen) eben nicht nur das Opfer ihres Geldes, sondern vor allem das Opfer ihres Dünkels.



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Eine paradoxe Wirkung hat die Ökonomisierung des Vereinslebens. Die Notwendigkeit, Geld für das eigene Vereinsleben auftreiben zu müssen, sei es für Sportgeräte, Noten, den Dirigenten oder den Zeugwart, hat auf der einen Seite zu einer stärkeren Kommunalisierung der Vereine, insbesondere der Sportvereine geführt, auf der anderen Seite einen gemeindlichen Veranstaltungsmarathon eröffnet, der aus Weinfesten, Schupfenfesten, Konzerten, Kirchweihen, Basaren und der Erfindung von Traditionen wie dem OwendaFest28 oder vielen Osterbräuchen, besteht. Nicht nur im Hummelgau gibt es zwischen Mai und Oktober kein Wochenende, an dem nicht in einem der Dörfer eine Festivität stattfindet, die zumeist von Vereinen organisiert wird. Gefordert ist hier weniger die Sozialaktivität der Vereinsmitglieder, als vielmehr ihre Konsumaktivität.29 VI. Pluralisierung, Individualisierung und Refeudalisierung Obwohl sie nur mehr partikulare Größen sind, gelten Vereine immer noch als Symbol des dörflichen Soziallebens. Die These von der Bedeutung des Vereins als Stimmenreservoir und Machtpotential in der Gemeindepolitik wird heute zwar eher kritisch gesehen, gänzlich machtlos sind sie allerdings auch nicht. Darauf verweist allein die Tatsache, dass jeder der Mistelbacher Gemeinderäte im Durchschnitt Mitglied in sieben Vereinen ist, wobei es ein Gemeinderat auf eine Mitgliedschaft in nicht weniger als zwölf Vereinen bringt. Schaut man genauer hin, so wird allerdings bald deutlich, dass die Vereinsmitgliedschaft, wenn sie über die alten „Ekelschranken“, die das eigene soziale Milieu zieht, hinausgehen, zumeist passiv ist. Dies entspricht der immer noch vorherrschenden Auffassung, dass die Dorfpolitik keine Politik im modernen Wortsinne ist. Für die meisten Dorfbewohner, aber auch für die von uns befragten Gemeinderäte ist es einfach selbstverständlich, dass Kommunalpolitik etwas mit Verwandtschaft30 und Vereinen zu tun hat.31 Dass Kommunalpolitik etwas mit Politik zu tun hat, ist den wenigsten 28  „Owenda“:

die letzte „Kehre“ bei der Aberntung eines Feldes. Oberfranken geht es dabei vor allem um den Bratwurst- und Biergenuss. 30  Ganz ähnliche Strukturen entwickeln sich in all jenen ehemals staatlichen Einrichtungen, die man in eine gewisse Autonomie entlässt (aber nicht dem Wettbewerb eines Marktes anvertraut, der in der Regel gar nicht existiert). Der (kapitalismus-, markt- und wettbewerbskritische) Laie spricht dann sehr gerne von „Amerikanisierung“, kundige „Thebaner“ ziehen eher den Vergleich mit italienischen Verhältnissen vor. 31  Das ist eine Konstante im deutschen Verständnis von „Politik“. Ausführlich hat dies bereits Benita Luckmann (1970) in ihrem „Kleinstadt-Klassiker“ (über die Stadt Bretten) beschrieben: „Die Gemeinderäte selbst sind Mitglieder verschiedener Vereine und Interessenverbände. Durchschnittlich gehören sie fünf Vereinen an. Es gibt aber auch solche, die Mitglieder in elf Vereinen … sind“ (S.  172). Zitat eines Ge29  In

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selbstverständlich. Die Selektionsleistung zumindest jener Vereine, die dem eigenen Sozialmilieu entsprechen (was heute oft mit der Parteimitgliedschaft identifiziert wird) für den politischen Raum, ist daher unbestritten. Sie ist aber mehr eine Erwartung und eine Hoffnung, denn eine Tatsache. Die Unsicherheit der Lokalpolitiker über die gesellschaftliche Bedeutsamkeit der Vereine führt zu einer Unterscheidung zwischen wirklich wichtigen (Sportverein, Gesangsverein, Feuerwehr) und weniger wichtigen Vereinen (Clubs), selbst wenn die Mitgliederzahl der neuen Clubs die der alten Vereine längst übersteigt. Dies wiederum führt zu einer ambivalenten Haltung: Einerseits ist dem Kommunalpolitiker klar, dass er aus Vereinsämtern nicht mehr das gewohnte gesellschaftliche Ansehen zieht, andererseits ist er immer noch fest davon überzeugt, dass Vereinsmitglieder sozial aktive und damit auch gemeindepolitisch wichtige Personen sind. Hinzu kommt, dass die im Zuge der Verwaltungsreform in den siebziger Jahren entstandene Maßstabsvergrößerung der kommunalpolitischen Einheiten, also die Tatsache, dass die Verwaltungsgemeinschaften immer größer werden, dazu geführt hat, dass örtliche Vereine als Wählerreservoir und informeller Treffpunkt für Kommunalpolitiker zunehmend uninteressant werden. Das Idealbild kommunaler Politik: ideologiefrei, bürgernah, harmonisch, rein sachlich und integrationsfördernd zu sein, verbindet sich aus nahe liegenden Gründen daher nur mit Erwartungen und Hoffnungen, die sich an die alten Milieuvereine richten, wobei die Vereine neueren Typus entweder als privatistisches Beiwerk oder, wenn sie in Gestalt einer Bürgerbewegung daherkommen, als Bedrohung des eigenen Selbstverständnisses gesehen werden. Es liegt daher nicht nur an der Ortsgröße, dass die Parteipolitisierung der Gemeinderäte wächst. Auch in Mistelbach ist es inzwischen üblich, vor der eigentlichen Gemeinderatssitzung Fraktionssitzungen abzuhalten. Auf der anderen Seite ist das Desinteresse des Bürgers an der Lokalpolitik nur ein Teil des allgemeinen Desinteresses an den Lokalgruppen. Nicht zuletzt die wachsende überlokale Verflechtung der Gemeinden hat dazu geführt, dass die sozial Aktiven heute nicht mehr gleichzeitig auch kommunalpolitisch aktiv und interessiert sind. Insbesondere die alten Vereine vermögen kaum mehr als Selektionsinstrument für den politischen Raum zu wirken. Das Dorf wird in seinen Vereinen nicht mehr als Einheit, sondern als Vielheit sichtbar.

meinderates in Bretten (das man auch in Mistelbach genau so hörte): „Um in der Politik was zu werden, muß man sich zuerst die Sporen in einem anderen Gebiet öffentlicher Tätigkeit gewinnen  …“ (ebd.).



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VII. Fazit Ich komme zum Schluss und frage: Was folgt aus alledem? Die Entwicklung des Vereinswesens weg vom kollektiv-verbindlichen und öffentlich unmittelbar sichtbaren Stammverein hin zu individualisierten und spezialisierten Hobby- und Freizeitvereinen ist nicht nur in der Stadt, sondern auch im Dorf zu beobachten. Daraus ergibt sich der Satz: Je mehr Vereine, desto heterogener die Sozialstruktur. Vereinsdichte ist daher ein Ausdruck der Individualisierung. Es entstehen vermehrt clubförmig organisierte Vereine, die nur ganz selten, gleichsam nur an der Rändern, einen Bezug zur gesellschaftlichen Umwelt herstellen. Die moralische Klage, die sich mit dieser Diagnose verbindet, ist allerdings völlig unbegründet. Zu vermuten ist eher, dass es sich bei diesem Vorgang nicht um einen einlinig verlaufenden Prozess des permanenten Strukturabbaus handelt, sondern um den viel komplexeren Vorgang einer Strukturverschiebung unter Beibehaltung wesentlicher Baubestandteile. Der Vereinsboom der letzten Jahre macht deutlich, dass ein großes Interesse und auch ein großes Potential vorhanden ist, eigene Interessen zu organisieren. Der „fürchterliche Vereinsdeutsche“, den Max Weber beschrieb, befindet sich auf dem Rückzug. Damit hat sich der erste Teil seiner Hoffnung auf eine Veränderung des Vereinswesens erfüllt. Ob es nun auch gelingt, das vorfindbare Engagement in Bereiche zu lenken, die vom Staat, den Kirchen und den Wohlfahrtsverbänden besetzt gehalten werden, ist allerdings eine offene Frage. Literatur Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz [zuerst 1919], Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991. Granovetter, Mark S.: The Strength of Weak Ties, in: American Journal of Sociology 78, Heft 6, 1973, S.  1360–1380. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft [zuerst 1962], Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990. Hennis, Wilhelm: Max Webers Wissenschaft vom Menschen. Neue Studien zur Biographie des Werks, Tübingen: Mohr 1996. Hobsbawm, Eric J.: Die englische middle class 1780–1920, in: Kocka, J. (Hg.): Bürgertum im 19.  Jahrhundert, Bd.  1, München: dtv 1988, S.  79–106. Hunter, Floyd: Community Power Structure. A Study of Decision Makers, Chapel Hill: The University of North Carolina Press 1953. Jaeger, Friedrich: Bürgerlichkeit. Deutsche und amerikanische Philosophien einer Lebensform zu Beginn des 20.  Jahrhunderts, in: Tenfelde, K. / Wehler, H.-U.

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Die Begehung der Kontinuität: Kultursoziologische Anmerkungen zu „Kaffee und Kuchen“ in Oberfranken Von Elísio Macamo I. Einleitung „… [F]aßlich …“, schreibt Tenbruck1, „wird uns Kultur ja erst dort, wo Menschen zusammenleben. Die Gesellschaft ist der Ort, wo die Kulturfähigkeit des Menschen verwirklicht, seine Kulturbedürftigkeit befriedigt wird, anders eine Gesellschaft auch nicht bestehen könnte. Weil und insofern der Mensch Kulturwesen ist, müssen soziale Beziehungen auch immer Kultur werden, also für das individuelle und soziale Handeln Bedeutungen entwickeln, die es tragen. Ihre unverwechselbare Eigenart in Wirtschaft, Gesellschaft, Sitte, Religion und Recht, die in den tragenden Ideen und Werten einer Gesellschaft den Charakter eines Weltbildes annimmt, gehört denn auch zum uralten Wissen der Völker voneinander und von sich selbst“. Die Frage, wofür dieser Beitrag eine Antwort zu sein versucht, bezieht sich auf die Kontinuität gesellschaftlichen Lebens. Dabei wird in Anlehnung an der Tatsache der Kulturbedürftigkeit des Menschen die These vertreten, dass sich die Aufgabe der Soziologie nicht darin erschöpft, das soziale Handeln in allen seinen Facetten zu beschreiben und analysieren. Vielmehr fängt die soziologische Arbeit erst dann an, wenn diese Kulturbedürftigkeit darauf hin untersucht wird, wie sie dazu beiträgt, dass Handlungsmuster entstehen, die Vertrautheit mit der Welt erzeugen. Diese These geht mit der Annahme einher, dass Kulturbedürftigkeit Gemeinschaft voraussetzt, die wiederum dauerhafte normative und kulturelle Rahmen impliziert, die mit dem Begriff der Tradition bezeichnet werden können.2 Der Beitrag thematisiert dementsprechend die Rolle der Tradition in der Sicherung des gesellschaftlichen Lebens und gibt zu bedenken, dass der Begriff der Tradition nicht nur für so genannte traditionelle Gesellschaften relevant ist, sondern auch für solche, die für modern gehalten werden. Tatsächlich zielt der Beitrag darauf ab, Tradition zum Fundament der modernen Gesellschaft zu 1  Tenbruck 2  Vgl.

(1996), S.  53. Morris (1996), S.  224.

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erklären. Damit soll die Annahme relativiert werden, wonach die Erforschung afrikanischer sozialer Phänomene grundsätzlich anders zu gestalten sei und immer in Bezug auf die Dimensionen der Tradition. Der Beitrag plädiert für die Relevanz dieses Begriffes auch für die Erforschung euro­ päischer sozialer Phänomene. Es darf angenommen werden, dass die Kulturbedürftigkeit des Menschen auf die Grundstrukturen des Alltags hinweist. Dieser besteht aus Handlungen, die unsere Welt bestätigen, stellt die Brücke zwischen gestern und morgen her, die aus disparaten Erlebnissen mehr oder weniger Erfahrung macht. Der Alltag ist der Ort, in dem die Kontinuität der Welt nicht nur hervorgebracht wird, sondern auch, und vor allem, gefeiert wird.3 Die Begründung dieser Einsicht bildet das Hauptanliegen dieses Beitrags, der sich zum einen an Afrika-Forscher richtet, die afrikanische Alltagsphänomene nicht immer richtig ausgelegt haben, weil sie sich im Beobachteten zu sehr auf das spezifisch Afrikanische konzentrierten. Zum anderen aber richtet sich der Beitrag an die allgemeine Soziologie, die im gewissen Bruch mit der Tradition von Klassikern wie Max Weber und Emile Durkheim – die in ihrer Arbeit an der Grundlegung des Faches Wert darauf legten, von anderen Gesellschaften und Epochen zu lernen – es begrifflich und theoretisch darauf anzulegen scheint, nach dem Spezifischen statt nach dem Allgemeinen des menschlichen Kulturlebens zu suchen. Forscher täten gut daran, nicht nur soziale Phänomene zu beschreiben, sondern sie auch darauf hin zu untersuchen, welche zugrunde liegenden Prozesse erkennbar werden. Letztlich sind es solche Prozesse, die Forschern erlauben soziale Phänomene einzuordnen und kompetent darüber zu sprechen. Um diese These zu belegen, wagt der Verfasser – der sich bislang der Afrikaforschung gewidmet hat – ein soziales Phänomen zu analysieren, das er in seiner Wahlheimat Oberfranken beobachtet hat. Es handelt sich um „Kaffee und Kuchen“, ein Ausdruck, von dem behauptet wird, dass er in andere Sprachen nicht übersetzbar sei. „Kaffee und Kuchen“ ist viel mehr als nur das Getränk und der Kuchen. Jeder, der Zeuge davon war, wie die Sonntagsplanung einer oberfränkischen Familie peinlich genau auf diesen Augenblick zugeschnitten wird, weiß, wovon ich rede. Gleich am frühen Morgen freuen sich alle darauf. Der Sonntagsbraten im gutbürgerlichen Lokal ist nur eine kleine Ablenkung, die man schnell hinter sich bringt und die man um Punkt 12.30, d. h. gleich nach dem Mittagessen, das man sich schon für 11.30 vornimmt, mit dem 3  Diese Einsicht rechtfertigt die Verwendung des Begriffes „Begehung“ im Titel dieses Beitrages, den der Verfasser der Ethnologin Tabea Häberlein zu verdanken hat.



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schnell eingeleiteten Spaziergang im Wald bei irgendeinem Wildgehege zu verdrängen versucht. Man geht in den Wald und sieht wie die Bäume, die Rehe und anderen eilenden Spaziergänger vorbeirauschen und jeder Außenstehende, der genau hinguckt, kann erkennen, wie sich alle auf „Kaffee und Kuchen“ freuen. Sie riechen den brühenden Kaffee schon im Wald, die Kinder überlegen schon, welche Formen sie mit der Sahnesprühdose auf ihren Teller sprühen werden, sie streiten sich auch mit den Eltern und Großeltern schon darüber, wer die Sahnesprühdose als erster bekommt; die Erwachsenen müssen sich bereits im Wald entscheiden, ob sie mit einem trockenen Kuchen – also, Streuselkuchen, Zwetschgenkuchen, usw. – oder mit einer Torte – Schwarzwälderkirsch, Käsesahne, Himbeere, usw. – anfangen. „Kaffee und Kuchen“ bilden eine Institution, die auf Vergesellschaftungsprozesse hinweist, deren Erforschung und Beschreibung eine willige Aufgabe der Soziologie bilden. Die Erläuterung der Bedingungen für die Kontinuität dieser Vergesellschaftungsprozesse gehört zur Kernaufgabe der Kultursoziologie. II. Kultursoziologische Überlegungen Essen schmeckt Soziologen als Forschungsthema nicht besonders. Die Klassiker, allen voran Durkheim und Herbert Spencer haben das Essen immer im Zusammenhang mit religiösen Handlungen betrachtet. Marx und Engels haben es als Ausdruck von struktureller Entbehrung betrachtet. Weber und Simmel haben versucht, mehr daraus zu machen. Weber, z. B. richtete seinen Blick auf die Tischgemeinschaft und leitete daraus interessante Erkenntnisse über die Beschaffenheit der Öffentlichkeit und des Staates ab. Simmel erkannte im Essen Disziplinierungsprozesse, da das gemeinsame Essen nach der Zähmung der individuellen Zeitrechnung und Organisation verlangte. In letzter Zeit ist es vor allem Stephen Mennell gewesen4, der sich sehr intensiv mit dem Thema „Essen“ in der Soziologie befasste. Auch Ethnologen befassen sich mit dem Thema, beispielsweise Jack Goody5 oder Claude Meillassoux6, wobei man ähnliche Motive bei ihnen feststellt, d. h. religiöse Bezüge und strukturelle Entbehrung. Eine interessante Ausnahme bildet der kleine, aber feine und tiefsinnige Aufsatz über das widerlich klingende einfache Mahl der Kel Eweg Tuareg, das von Gerd Spittler7 detailreich beschrieben worden ist. Erhellend dabei ist nicht nur die 4  Mennell

(1987); Mennell / Murcott / van Otterloo (1992). (1982; 1998). 6  Meillassoux (1978). 7  Spittler (1993). 5  Goody

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gelobte Einfachheit des Essens der Tuareg, sondern die Hinweise, die wir dadurch über die Elemente der sozialen Organisation der Tuareg bekommen, die zur Konstruktion von Geschmack beitragen, und die uns allen Bescheidenheit bei der Betrachtung von anderen sozialen Gruppen nahe legen. Hier soll „Kaffee und Kuchen“ darauf hin untersucht werden, wie sie als Institution helfen kann, eine Gesellschaft zu entschlüsseln. Die Ausführungen speisen sich insbesondere aus Überlegungen von Max Weber, wonach das Alltägliche und das Außeralltägliche zwei Wirklichkeitsbereiche bilden, die sich gegenseitig bedingen, und dadurch den Gegenstand der Soziologie offenbaren. Das Außeralltägliche oder das Charisma wurde von Weber als Ort verstanden, an dem schöpferische Kräfte auf eine Art und Weise wirksam wurden, die dem gesellschaftlichen Leben Sinn und Bedeutung verliehen. Davon ausgehend stellte sich Weber gesellschaftliche Wirklichkeit als Veralltäglichung (Routinisierung) des Charismas vor. Er gab zu bedenken, dass der Sinn, nach dem Soziologen im sozialen Handeln suchen sollten, seinen Ursprung im Außeralltäglichen habe. Deswegen betonte Weber die Veralltäglichung des Charismas als wichtiges Element der Bildung von sozialen Beziehungen, d. h. auf Dauer gestellte Rahmen für soziales Handeln. Der ehemalige Bayreuther Soziologe Winfried Gebhardt hat an den Ideen von Weber weitergearbeitet, sie auf Feste und Feiern bezogen und daraus die These abgeleitet, dass Feste und Feiern eine unmittelbare Beziehung zum Außeralltäglichen haben und gleichzeitig Versuche darstellen, das Außeralltägliche für den Alltag zu zähmen.8 Feste und Feiern bringen den Sinn des Lebens zum Ausdruck und stiften Gemeinschaft und Gesellschaft. Das Fest, so schreibt Gebhardt, hilft den Alltag zu bewältigen, indem es ihn aufhebt9 – das ist z. B. der Fall bei großen politischen Ereignissen wie dem Tag der deutschen Einheit – während die Feier alltägliche Wirklichkeit in ihrer Bedeutung für den einzelnen und die Gesamtheit der Feiernden bewusst macht10 – so z. B. der Geburtstag. Und er schlussfolgert: „Feste und Feiern sind zwei soziale Mechanismen, in denen sich die grundsätzliche Dialektik, die … die Einheit der menschlichen Lebensführung ebenso wie den Bestand sozialer Ordnungen erst ermöglicht, verkörpert“.11 Hinter „Kaffee und Kuchen“ stehen Vergesellschaftungsprozesse, die dafür sorgen, dass Menschen das Gefühl haben, dass sie sich in vertrauten 8  Gebhardt

(1987). S.  53. 10  Ebd., S.  63. 11  Ebd., S.  53. 9  Ebd.,



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Welten bewegen. „Kaffee und Kuchen“ ist in diesem Sinne eine Fassade, denn dahinter verbergen sich Dinge, die uns auf die Konstitutionsbedingungen des oberfränkischen Alltags hinweisen. Was beim „Kaffee und Kuchen“ passiert, hat seine tiefe soziologische Bedeutung in den Einsichten, die uns Einblicke in die Struktur des oberfränkischen Alltags gewähren. III. Die Institution „Kaffee und Kuchen“ Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Interviewmaterial, das 2006 gesammelt wurde. Es handelt sich dabei um fünf fokussierte Interviews12 mit aus Oberfranken stammenden Sekretärinnen der Universität Bayreuth im Alter zwischen 35 und 60. Die Auswertung der Interviewprotokolle beschränkt sich darauf, aus den Aussagen Aspekte herauszuarbeiten, die „Kaffee und Kuchen“ als Institution typologisch darstellen. Die Anwendung des Institutionsbegriffes erfolgt in Anlehnung an Gehlens Hinweis darauf, dass es sich dabei um Habitualisierungen und Stabilisierungen des Handelns handelt.13 Die zugrunde gelegte Typologie umfasst drei Rahmungen, nämlich Anlässe, Einrichtung und Handlungserwartungen. Mit der Rahmung „Anlässe“ wird auf die gesellschaftlichen Situationen hingewiesen, in denen „Kaffee und Kuchen“ relevant werden. Es wird dabei unterstellt, dass die Relevanz sowohl profan als auch sakral14 sein kann. Die sakrale Relevanz beschreibt die tiefere Bedeutung der Institution. Die profane Relevanz dagegen weist darauf hin, dass eine mit transzendentem Sinn ausgestattete Handlung Teil der Alltagsroutine geworden ist. Die Rahmung „Einrichtung“ beschreibt den Kontext, in dem die Institution „Kaffee und Kuchen“ eingebettet ist. Dieser Kontext besteht aus der materiellen Struktur sowie aus den sozialen Bezügen, die die Institution „Kaffee und Kuchen“ einrahmen. Die materielle Struktur umfasst alle wirt12  Die Interviews wurden von einer studentischen Hilfskraft, Stefanie Bauer, durchgeführt und zeitnah transkribiert. Entschlüsselung der hier verwandten Transkriptionssymbole: Y Interviewführer (.) Pause bis zu einer Sekunde – (2) Anzahl der Sekunden, die eine Pause dauert. Nein laut (in Relation zur üblichen Lautstärke des Sprechers / der Sprecherin. °nee° sehr leise. Nei::n Dehnung, die Häufigkeit vom : entspricht der Länge der Dehnung. ( ) Unverständliche Äußerungen, die Länge der Klammer entspricht etwa der Dauer der unverständlichen Äußerung. @nein@ lachend gesprochen. Diese Transkriptionsrichtlinien stammen aus Bohnsack u. a. (2001), S.  363–364. 13  Gehlen (1956), S.  79. 14  Vgl. Durkheim (1981).

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schaftlichen Elemente, die die praktischen Handlungen ermöglichen. Die sozialen Bezüge beruhen auf den Sinnzuweisungen, die Gegenstände im Kontext des Gebrauchs erfahren. Schließlich beschreibt die Rahmung „Handlungserwartungen“ eine Reihe von handlungstheoretischen Aspekten der Institution „Kaffee und Kuchen“, nämlich ihren routinierten Charakter, die zugrunde liegenden Absichten, die einbegriffenen Verpflichtungen, Rationalisierungsprozesse und die Möglichkeit der Bestimmung persönlicher Situationen. Entsprechend der Vermutung, dass „Kaffee und Kuchen“ nur eine Fassade darstellt, wurden die Fragen in Bezug auf das Geburtstagsfest gestellt. In diesem Beitrag wird nicht näher auf die Geschichte des Geburtstagsfestes eingegangen. Es lässt sich dennoch soviel sagen, dass es sich um einen Brauch handelt, der ursprünglich von höheren Schichten praktiziert wurde und allmählich durchgesickert ist und nach „unten“ weitergereicht wurde. Von soziologischer Bedeutung ist dabei der Hinweis, dass bestimmte Bedingungen geschaffen werden mussten, damit sich der Brauch „unten“ bewähren konnte. Die wichtigste Bedingung war dabei die moderne Autorität, die viel stärker auf die Zähmung der individuellen Zeitrechnung angewiesen war als andere Herrschaftsformen vorher, mit allen möglichen Begleiterscheinungen wie Disziplin, Regelmäßigkeit, Volkszählung, Arbeitszeit, usw. Die Institution „Kaffee und Kuchen“ weist in diesem Sinne auf die Vergesellschaftung und Verselbständigung dieses Brauches hin. 1. Anlässe

Der erste Rahmen ist der Anlass. Die Besonderheit von „Kaffee und Kuchen“ kommt genau darin zum Ausdruck, dass sie die Funktion hat, wiederkehrende gemeinschaftsstiftende Ereignisse zu markieren. Diese können im Allgemeinen Geburtstage, Jubiläen aller Art, religiöse Übergangsriten wie Konfirmation, Firmung und Taufe, feierliche Abschlüsse besonderer Aktivitäten wie Hausbau, Sportsaison oder eben die Verabschiedung verdienstvoller Kollegen, usw. sein. Hier geht es nicht unmittelbar um den Genuss des Kaffees und des Kuchens, auch wenn Wert darauf gelegt wird, dass zu diesen Anlässen und vor allem im inneren familiären Kontext entweder die Oma ihre berühmte Torte bereitstellt oder derjenige, der im Mittelpunkt der Feier steht, seine Lieblingstorte oder seinen Lieblingskuchen bekommt. Vielmehr geht es um das Beisammensein. Kaffee und Kuchen werden dabei als Einheit wahrgenommen. Diese Einheit kennzeichnet die Art und Weise, wie Gemeinschaft und Gemeinschaftssinn hervorgebracht werden. An dieser Stelle gewinnt die Institution „Kaffee und Kuchen“ ihre sakrale Bedeutung, indem sie den transzendentalen Sinn zum Ausdruck bringt, der der Feier innewohnt. Ein Interviewzitat belegt diese Vermutung:



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Meine Mutter is sechsundachzig. Die feiert jeden Geburtstag. °Un° meine Tante wird acht- is achtundachzig; des sind drei Schwestern (.) und die feiern, äh die sind bald also ä (.) die eine Tante is achtundachtzig, meine Mutter wird jetzt siebenundachtzig und meine Patin, is auch ne Schwester von den beiden is fünfundachtzig. (.) Und die wird da wird jedes Jahr gefeiert. Die lassen sich das nicht äh einreden dass sie jetzt mal endlich sich diesen Stress nicht mehr antun solln. Äh (.) meine Mutter wohnt auf’m Dorf, da kommt es (gar) von jedm da kommt das so halbe Dorf schon zum gratulieren da des schon früh los. Da muss dann also meine Nichte wohnt im Haus, die müssen dann schon so Kaff- belegte Brote machen, Weißbrote, Schwarzbrote, alles mögliche; da kommen dann die Nachbarn zum gratulieren und wenn jetzt das dann zeitlich an dem Tag nich so mit dem Kaffee klappt, dass die alle untergebracht werdn können, dann kommt die Familie, an dem Tag und am nächsten Tag werden ham’mer dann die Nachbarinnen eingeladen; da kommen die Leute so(.) aus der Nachbarschaft zum Kaffee, also es is noch Torte und Kuchen und so Zeug übrich; da wird das also noch äh (.) ganz anders gehandhabt.

Die Gründe für das Feiern können natürlich auch profan sein: Weil meine Tante sacht kann ja heuer das letzte Mal sein (un) wir müss’n alle noch mal zusammen kommen. (.) Und meine Mutter macht’s glaub ich weil meine Tante des so macht aus Gewohnheit; die würd’s gerne abschaffen aber (.) Tante Anna macht das, also macht ses auch

Natürlich gibt es Variationen, die milieuspezifisch sind. Manche bemühen sich darum, feine Unterschiede zu bewahren. Man ersetzt den Kaffee und Kuchen durch andere Speisen und Getränke. Diese aber sind rituell betrachtet Kaffee und Kuchen mit anderem Namen: ä Bekannter der Sushis macht, hat mer als Geburtstagsgeschenk, hat er mer ne große Platte Shushis mitgebracht, selbst gemachtes

Außerhalb besonderer Anlässe wird natürlich Kaffee getrunken und Kuchen gegessen. Junge Mütter treffen sich zum Kaffeekränzchen, Rentner verabreden sich zu Kaffee und Kuchen in irgendeinem Café, die Familie besucht Großeltern im Altenheim, das natürlich immer mit einer Cafeteria ausgestattet ist und eine Auswahl an Torten und trockenen Kuchen anzubieten hat. Dieser banalisierte Einsatz von Kaffee und Kuchen weist allerdings auf die weitere Veralltäglichung hin und schmälert die rituelle Bedeutung keineswegs. 2. Einrichtung

Zur Institution „Kaffee und Kuchen“ gehört eine Infrastruktur, die ich als Einrichtung bezeichnen möchte. Damit meine ich alles, was strukturell benötigt wird, damit es „Kaffee und Kuchen“ geben kann. Die Porzellanindustrie setzt über 4 Milliarden Euro pro Jahr um und dies hat sich trotz Finanzkrise und den Schwierigkeiten von Rosenthal in den letzten Jahren sogar

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verbessert. In Oberfranken sind deutschlandweit die Hälfte aller Beschäftigten in diesem Sektor, d. h. um die 15.000, und die Hälfte aller bedeutenden Unternehmer dieses Bereiches zu finden.15 Die Konkurrenz aus dem Osten macht dem Zweig hier in Oberfranken zu schaffen, aber die Lust am Kaffeetrinken und Kuchenessen hat sie nicht gemindert. Die Einrichtung hat aber auch eine soziale Komponente und die besteht aus der Bedeutung, die dazugehörige Gegenstände besitzen. Das Kaffeeservice ist hierbei interessant. Deutschland ist u. E. eines der wenigen Länder, die ein blühendes Geschäft daraus gemacht haben, Kaffeeservice mit der Garantie herzustellen, dass sie noch in 50 Jahren in der gleichen Ausführung bestellbar sein würden. Junge Mädchen bekommen im zarten vorpubertären Alter ihre erste Tasse, Untertassen, eine Kaffeekanne oder Kuchenteller von Villeroy Boch, Walküre oder Rosenthal. Gf: Ich hab speziell, ich hab ä Rosenthal-Service ja. (.) in der Regel und auch ä sehr schönes altes Rosenthal-Service noch, so ro(mantisch) in Gold, das ma auch nicht mal mit der Maschine spülen, kann weil sonst das ganze Gold abgeht das wird dann schon an solchen Tagen mal hervorgeholt. Y:  /  / Mmmh /  /  Ist das so eins, das man, wo man (ein Stück nach dem anderen bekommt, so nach und nach – zur Firmung,           )? Gf: Ja ich hab ma’s schon, ich hab ma das scho im Ganzen mal gekauft, aber ich hab bin sowieso so’n Geschirrfan ich hab schon immer mehrere Service zur Auswahl.

Es ist dann Aufgabe dieser Mädchen, das Service bis zur Vollständigkeit zu vermehren und sie haben bis zur Heirat Zeit dafür. Hierfür bekommen sie die freundliche Unterstützung der ganzen Verwandtschaft, bei der es sich rasch „rumspricht“, um welche Servicemarke es sich handelt. Bei jedem biographisch bedeutungsvollen Anlass – Geburtstag, Konfirmation oder Firmung, Hochzeit – bekommen sie Milchbecher, Kaffeekannen usw. geschenkt. Wenn sie dann selbst ihre Haushalte führen, zaubern sie dieses Service zu besonderen Anlässen hervor. Nicht selten erben sie das Kaffeeservice der Oma, das in der Institution natürlich einen besonderen Platz einnimmt. Diese Kaffeeservice gewinnen ihre besondere Stellung auch dadurch, dass sie beim Kaffee und Kuchen Gesprächsgegenstand sind. Man bewundert sie zum tausendsten Mal, man entdeckt immer neue winzige Details an den kunstvollen Ausführungen der Blumenmuster, man erinnert sich an die Oma oder daran, als eine Tasse zerbrach und ersetzt werden musste, usw. Naja (…) ma wird nich das nehmen, das ma jeden Tag so mal schnell rauszieht und in der Küche stehn hat da nimmt man schon (.) ä bisschen besseres Service. 15  Die Daten über den volkswirtschaftlichen Stellenwert dieser Industrie stammen aus einem Dokument des Bundestages (Drucksache 16 / 13274).



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Für den Alltagsgebrauch gibt es Kaffeeservice von herkömmlichen Marken, die sich besonders dadurch auszeichnen, dass sie eben keine Langzeitbestellgarantie besitzen. 3. Handlungserwartungen

Die dritte Rahmung besteht aus Handlungserwartungen und es ist vielleicht sogar der wichtigste Rahmen. Die Handlungserwartungen schlagen sich im Alltag darin nieder, dass sie einen Drehbuchcharakter haben, Absichten beinhalten, Verpflichtungen implizieren, Rationalisierungen und Schicksale beschreiben. Drehbücher finden sich in Rollenerwartungen. Jeder hat beispielsweise seinen Lieblingskuchen. Die Rolle der einen besteht dementsprechend darin, bei ihren Geburtstagen ihre Lieblingskuchen essen zu wollen – und das müssen sie auch wollen – während andere, vor allem Frauen – d. h. Mutter, Oma, Schwiegermutter, Frau oder Freundin – diesen Kuchen zu backen haben. Bei meiner Tochter is so, dass sie sich meist irgendwas wünscht, was sie dann kriegt u:nd noch ne Überraschung irgendwie dazu die mer halt im Laufe des Jahres oder (.) so eingefallen is wo ich mir, wo sie mal gesagt hat das hätt se gern und dann besorg ich’s halt zum Geburtstag.

Drehbücher implizieren spezielle Formen des Wissens, die sich in Besitz von wenigen befinden. Rezepte sind hierzu ein gutes Beispiel, denn nicht alle können einen Kuchen so backen wie eine bestimmte Frau ihn bäckt. Wo es Kaffee und Kuchen gibt, gibt es auch Geheimrezepte. da gibt’s ä so ä Schokoladenkuchenrezept und das wird is sehr begehrt und das muss ich dann immer mitbringen. Wenn Kuchen mitgebracht werden soll, muss der Schokoladenkuchen mitgebracht werden. aber net nur zum Geburtstag auch zu @andern Gelegenheiten@ der Käsekuchen meiner Mutter (..) Des is auch keine Torte, aber des ist tatsächlich ein überliefertes Rezept, äh das ich auch nur @mit Androhung von Gewalt raus geb@ weil’s ä richtig guter Kuchen is, der is aber auch ä weng schwier-, nee schwierig net, aber ich mach ihn net oft weil er manchmal nicht gelingt. @(…)@ ungewöhnlich °anders°

Oder: Jaja, u:nd (.) also die sind (.) na ja man muss halt alles reintun was auf dem Rezept steht wenn Butter steht kann man nich Magarine nehm weil sonst kriecht man das den Geschmack nun des alles net hin also des is schon ne (.) teure Angelegenheit aber da macht er immer zwei Stolln, die gehn in unsern Herd rein (veranschaulicht mit Händen, was sie meint) ne, so auf’s Blech zwei hinternander. (atmet tiefer ein) und des macht er also (.) da lecht er sich die Sachn die er vorher und des muss die richtige Temperatur ham und (.) also wahnsinn. Des des is also wirklich, des macht er so perfekt und ich hab auch schon einigen Kolle-

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ginnen das Rezept gegeben und die ham gesagt nee also danke, ich hab mer das durchgelesen, zu viel Arbeit. Weil das kostet schon Zeit

Absichten stellen eine besondere Form der Handlungserwartungen dar. Man muss zum Beispiel einen Geburtstag feiern wollen. Hierzu gehört ein Spinnennetz aus Verpflichtungen und Gewohnheiten, die dem Alltag einen Wiedererkennungswert verleihen. Diese werden zwar nicht strikt eingehalten, aber sie haben sich als Orientierungsmuster bewährt. Aus dieser Perspektive spiegelt der Geburtstag das feine Gewebe der Gemeinschaft wider. Eine Geburtstagsvorbereitung fängt gleich am Tag nach dem Geburtstag an. Die Familienmitglieder stellen das Geburtstagskind – nur in Deutschland wird meines Wissens diese Bezeichnung verwendet – unter sofortige Beobachtung. Jede Sehnsucht oder Wunschäußerung wird im Laufe des Jahres individuell protokolliert – und die Kinder lernen schnell, solche Wünsche nebenbei, aber strategisch, zu äußern – und vier Wochen vor dem Geburtstag werden solche Wunschäußerungen Gegenstand eifriger und geheimnisvoller Beratungen innerhalb der Familie. Man berät darüber, was dem Geburtstagskind geschenkt werden soll. bei nem Bekannten der hat sich zum Beispiel ganz explizit ne Espressomaschine gewünscht, dann ham’mer halt alle z’samm gelecht und die Espressomaschine gekauft, die war dann sauteuer aber genug Leute z’samm °sind°( ) Schwierig is es bei den Geschwistern (.) vor allem bei meinem großen Bruder, der sich alles selber kaufen kann, in besserer Ausführung als ich das kö- machen könnte (stöhn) da is immer sehr schwierig. Sehr schwierig. da hört ma schon hin, da weiß man schon, aber wenn Leute in nem gewissen Alter sin brauchen se eigentlich wenich, und (.) ja, was überlegt man sich dann. Das is sin Kulturfan, der geht gern ins äh Konzert (.) oder ins Theater. Dann schenkt man dem vielleicht nen Gutschein auch von der Theaterkasse irgend so was. Oder (atmet tiefer ein) äh ja wir gehen gern ins Schloss Thiergarten, dass ma da mal Brunchgutschein oder so nen Gutschein schenkt für (.) äh DinnerBuffet, das is dann schön, da gehen mer dann gemeinsam noch hin und ham’mer nen schönen Abend, irgend so was, (würd ich da) schenk ich in meim Freundeskreis meist. (.) Denn (..) man kann ja keine äh Sachen für die Wo:hnung mehr mitbringen, die ham ja alles voll stehen. Also mir tut damit auch keiner mehr einen Gefallen, muss ich ehrlich sagen. Oder wenn’s Damen sind, wo man weiß na ja, die die pflegen sich, da kann ma mal ein Gutschein äh von ner Kos- von ner Parfümerie oder so schenken; das sin dann noch Sachen (..) die mir dann persönlich auch am liebsten sind, wenn man mir so was schenkt.

Wenn man Geburtstag hat, erwartet man auch, dass sich viele melden, um einem zu gratulieren: ich hab schon also mein Mann hat ja als- vor mir (als- Geburts-) also jetzt im (Monat) ich hab ja im (Monat) also er hat ja und so und da hab ich auch gesagt



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also die hat noch net ang’rufn. Da überlegt mer scho da sag ich (.) also komisch wieso hat di:e noch net ang’rufn ne? Und dann, bis zum Abend oder am nächsten Tag hat a noch jemand ang’rufn die warn irgendwie verreist und so und da (..) da achtet man schon ä weng drauf ne (des) mer sagt also (.) freu ich mich schon wenn der oder die anruft und so und (.) weil mer ja dann auch wieder anruft ne? Aber wenn derjenige oder die- aber nee des sin dann wirklich sehr, sehr gute Bekannte die dann anrufen und die eben nicht in Bayreuth wohnen? Ja jetzt is es so, dass ich äh (.) ich hab ja jetz schon immer fast in den Semesterferien achtzehnter (Monat) ist ja praktisch schon fast ne? Und dann mach ich das so dann bring ich anschließend hab ich dann noch immer Kuchen mitgebracht und so ne? Aber bei uns (.) also der Professor X der (..) äh (.) der feiert so sein Geburtstag net. Ich hab ihm zum Fünfzig- äh zum Fünfzigsten damals hab ich ihm noch Wein und so (atmet tief ein) aus Südtirol ham wir ihm dann was mitgebracht (.) äh (.) und aber (.)ä- der feiert des net und der Herr X auch net. Und dann (.) dann passt mer sich einfach an uns so. Dann bring ich halt meinen Kolleginnen, die gratulieren mir dann, des wissen die schon, und die sin auch dann ne? die das wissen (.) dann bring ich den n Kuchen mit ne (.) oder wir trinken n Schluck Sekt. Aber so hier direkt (.) intern (.) feiern wir des net weil des einfach (.) die andern feiern des net und ich ich kann auch ohne (.) auskommen, ich mu- brauch das also nich unbedingt. Des is halt verschieden (.) wie mer das (.) feiert. Aber je je jünger man ist, find ich, um so (..) umso turbulenter feiert man natürlich. Und dann hat mer Einladungen und so des is is eigentlich so und wenn man (.) Kinder hat, is is ja logisch dass die dann Kindergeburtstag feiern und so aber nachdem ich ja (.) kein Kind hatte (.) und habe und so dann (.) is das eben alles unterg’gangen

Oder eine Postkarte zu bekommen: mein früherer Sch- Vorgänger vom Herrn X, Professor ( ) der schickt mir auch je:des Jahr noch ne Geburtstagskarte obwohl er schon ach mehr als fünfzehn Jahre nich mehr in Bayreuth is freu ich mich immer drüber. Sind schöne Sachen.

Ein wichtiger Aspekt bei der Rationalisierung ist die Hervorhebung bestimmter Geburtstage wie z. B. des sogenannten „runden Geburtstags“: Das einzige Mal wo das nicht feiern was mit der Zahl zu tun hatte, das war mei vierzigster Geburtstag, den wollt ich bewusst nicht feiern und bin mit ner Freundin ins Wellness-Hotel gefahrn @(..)@ (atmet auf)

Es gibt nichts Schlimmeres im Katalog der Handlungserwartungen als die Gefahr der Kollision des eigenen Geburtstags mit anderen feierlichen Anlässen, was uns darauf hinweist, wie Geburtstage zum Anlass genommen werden können, das Schicksal eines Individuums zu beschreiben. Wie das nachfolgende Zitat belegt, wann man Geburtstag hat, ist von tragender Bedeutung für die Selbstwahrnehmung einer Person: da ich kurz nach Weihnachten hab, bin ich immer beschissen worden @(.)@ weils zu Weihnachten hieß, gibt net so viel, is ja bald Geburtstag und zum Geburts-

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tag hieß, gibt net so viel, war ja grad Weihnachten @(.)@ das is, ja (.) das is aber vorbei.

Aus dieser zugegebenermaßen knappen Darstellung der Institution „Kaffee und Kuchen“ sollte die Einsicht hervorgegangen sein, dass wir mit einer sozialen Einrichtung zu tun haben, die von Menschen hervorgebracht wird. Gleichzeitig jedoch dient diese soziale Einrichtung den Menschen als Rahmen für ihr soziales Handeln. Die Institution „Kaffee und Kuchen“ geht aus dem Handeln der Menschen hervor, aber die Bedingung dafür ist vor allem die Bedeutung, die die Einrichtung selbst für die Menschen hat. Die Menschen in Oberfranken feiern ihren Geburtstag nicht deswegen, weil sie Kaffee trinken und Kuchen essen wollen. Wie sie jedoch Kaffee trinken und Kuchen essen deutet auf Sinnstiftungen hin, die kulturell getragen sind. Die Institution „Kaffee und Kuchen“ vergesellschaftet diese kulturell bedingte Sinnstiftung. Sie sorgt dafür, dass der Alltag als Alltag, d. h. als Raum der Routine und der Vertrautheit mit der Welt erkannt wird. Die Vergesellschaftungsprozesse, die in der Institution „Kaffee und Kuchen“ sichtbar werden, sind Hinweise auf die Art und Weise, wie Kontinuität im gesellschaftlichen Leben hergestellt und gewährleistet wird. IV. Die Begehung der Kontinuität Die spezialisierte akademische Welt legt Wert darauf, Autorität nur solchen Stimmen zuzusprechen, die ihre Aussagen empirisch begründen können. Es ist daher zunehmend schwieriger geworden, sozialwissenschaftliche Forschung so zu betreiben, dass man auf soziale Phänomene Aufmerksamkeit richtet ohne Rücksicht auf kulturelle Grenzen zu nehmen. Es gilt die unausgesprochene Regel, wonach europäische soziale Phänomene am besten von Europäern erforscht werden können und afrikanische von Afrika-Wissenschaftlern. Dabei wird die Annahme gemacht, dass Aussagen über europäische soziale Phänomene universelle Geltung beanspruchen dürfen, wohingegen Aussagen über nicht-europäische soziale Phänomene von lokaler Gültigkeit seien. Diese Sichtweise hat die Kommuni­kation zwischen systematischen Fächern und Regionalwissenschaften erschwert. Langsam ändert sich dieser Umstand, wobei der zu durchlaufende Weg noch sehr weit ist. In der Ethnologie wird der Blick nach innen gefördert, d. h. der Blick des Nicht-Europäers auf Europa, wenn auch dies zaghaft und nicht immer mit der gebotenen Ernsthaftigkeit geschieht. In den 90er Jahren sorgte diesbezüglich eine Promotion eines kamerunischen Ethnologen für Furore, die sich mit der Beziehung der Deutschen zu ihren Hunden befass-



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te und dabei zu dem Schluss kam, dass die Zuneigung der Deutschen auf die moderne Einsamkeit zurückzuführen sei.16 Die Versuchung ist sehr groß, hier Forschung mit den gleichen problematischen Absichten zu betreiben, die die Afrika-Forschung in den letzten Jahrhunderten geplagt haben, nämlich die Lust am Exotischen. Der Blick nach innen sollte jedoch mehr bedeuten. Er erschöpft sich nicht in der Suche nach Dingen, die Afrikanern beispielsweise erlauben würden, Deutschland und die Deutschen so zu beschreiben, wie manche europäische Afrika-Forscher Afrika beschrieben haben. Darüber hinaus gilt es in erster Linie das soziologische Interesse zu verfolgen um anhand lokaler Alltagsphänomene Hinweise auf die Beschaffenheit der sozialen Welt zu erhalten. Hoffentlich leistet dieser Blick auf die Institution „Kaffee und Kuchen“ einen Beitrag in diesem Sinne. Es ging hier nicht darum, eine uns vertraute Wirklichkeit effektvoll und erheiternd zu verfremden. Auch ging es nicht darum, den Beweis herbeizuführen, dass auch die Deutschen komische Dinge verrichten, die allen sichtbar sind, die genau hingucken. Vielmehr ging es darum, mit der Beobachtung und mit dem Versuch einer Beschreibung dieser Dinge die Aufmerksamkeit auf ein schwieriges Problem der soziologischen Forschung zu lenken, das in der Bestimmung der Beziehung von Tradition und Moderne besteht. Die Ausführungen haben gezeigt, dass Tradition in Europa lebendig ist, wobei ihre Funktion darin besteht, Kontinuität zu gewährleisten. „Kaffee und Kuchen“ ist eine Institution, die uns auf kleine Routinen des Alltags hinweist, die das Gewebe der Gemeinschaft spinnen. Sie bringt den in der Kulturbedürftigkeit des Menschen enthaltenen Gemeinschaftssinn zum Ausdruck, in dem sie ihn vergesellschaftet. Auf diese Art und Weise trägt sie dazu bei, dass soziales Handeln in einer berechenbaren und vertrauten Welt stattfindet. In der Institution „Kaffee und Kuchen“ feiert Oberfranken die Kontinuität. Literatur Bohnsack, Ralf / Nentwig-Gesemann, Iris / Nohl, Arnd-Michael: Einleitung. Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis, in: dies. (Hg.): Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis – Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Opladen: Leske+Budrich 2001, S.  9–24. Durkheim, Emile: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981. 16  Es handelt sich um die Promotion von Flavien Ndonko mit dem Titel: Hunde in Deutschland. Ein Beitrag zum Verstehen deutscher Mentalität (s. hierzu Schnabel 1999).

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Elísio Macamo

Gebhardt, Winfried: Fest, Feier und Alltag – Über die gesellschaftliche Wirklichkeit des Menschen und ihre Deutung, Frankfurt a. M.: Peter Lang 1987. Gehlen, Arnold: Urmensch und Spätkultur, Bonn: Athenäum Verlag 1956. Goody, Jack: Cooking, Cuisine and Class, Cambridge: Cambridge University Press 1982. – Food and Love, London: Verso 1998. Meillassoux, Claude: Die wilden Früchte der Frau, Frankfurt a. M.: Syndikat 1978. Mennel, Stephen: All Manners of Food – Eating and Taste in England and France from the Middle Ages to the Present, Oxford: Basil Blackwell 1987. Mennel, Stephen / Murcott, Anne / van Otterloo, Anneke H. (Hg.): The Sociology of Food – Eating, Diet and Culture, London: Sage Publications 1992. Morris, Paul: Community Beyond Tradition, in: Heelas, P. / Lash, S. / Morris, P. (Hg.): Detraditionalization – Critical Reflections on Authority and Identity, Oxford: Blackwell Publishers 1996, S.  223–249. Schnabel, Ulrich: Das Wilde Germanistan – Wie ausländische Ethnologen versuchen, das deutsche Wesen zu ergründen, in: Die Zeit, 30. Oktober 1999. Spittler, Gerd: Lob des einfachen Mahles – Afrikanische und europäische Eßkulturen im Vergleich, in: Wierlacher, A. / Neumann, G. / Teuteberg, H. J. (Hg.): Kulturthema Essen. Ansichten und Problemfelder, Berlin: Akademie Verlag 1993, S.  193–210. Tenbruck, Friedrich H.: Perspektiven der Kultursoziologie – Gesammelte Aufsätze, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996.

Andere Quellen Drucksache 16 / 13274 – Antwort der Bundesregierung auf die Frage zur Lage der Porzellanindustrie in Oberfranken. Deutscher Bundestag 02.06.2009.

IV. Persönliches

Soziologie und Kultur Worte zum Übergang Von Eckart Pankoke Vorbemerkung der Herausgeber: Die folgenden „Worte zum Übergang“ wurden anlässlich der Feier zur Verabschiedung von Arnold Zingerle an der Universität Bayreuth am 28. Juni 2007 von seinem Freund und Kollegen Eckart Pankoke gesprochen, der zwei Wochen danach völlig unerwartet verstarb. Mit geringfügigen Kürzungen und Änderungen geben wir diesen Text wieder, der neben einer persönlichen Würdigung von Arnold Zingerle auch Hinweise auf die Kultursoziologie in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts enthält und zugleich auch eine Erinnerung an die Persönlichkeit Eckart Pankokes darstellt. Lieber Arnold, Dir als einem heute besonders zu feiernden Mitbürger aus „alpenländischer Gesellschaft“1 wird die Bildwelt des Bergsteigens gut vertraut sein; auch Deine Wege auf den Spuren von Max Webers „Wissenschaft als Beruf“2 gewinnen heute besondere Passhöhe: wer als Wanderer einen Bergpass erreicht, für den geht es noch lange nicht bergab. Pässe werden zum Ausgangspunkt, um – im Rundblick auf die vielgestaltige Pracht der Bergwelt – aufzubrechen zu nun freieren Wegen. Dies Glück des Wanderns gilt auch für das Glück des Lernens und die Kunst des Lebens. Nach langer Dienstfahrt auf schwierigen Höhenwegen der Forschung darfst Du nun innehalten, durchatmen und dankbar um Dich blicken im festlichen Kreis all derer, die mit Dir gingen und denen Du immer wieder auf neuen Wegen mit festem Schritt wegweisend vorangingst. Das gilt gewiss zunächst für Deine Familie, Deine liebe Frau Margret, Eure vier Kinder und sechs Enkelkinder in wachsender Großfamilie. Wer 1  Vgl.

2  Max

Günther (1930), sowie Zingerle (1983). Weber (1919).

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Dich näher kennt, weiß, was dieses Glück für Dich bedeutet in der Praxis des Lebens. Aber auch für Deine soziologische Theorie von „guter Gesellschaft“ findest Du in Deiner Familie Halt und Hintergrund, um zu wissen, was „gut“ ist. Nun aber will ich mich in kollegialer „Fachbruderschaft“ beschränken auf die eher institutionelle und intellektuelle Würdigung unseres Kollegen Professor Arnold Zingerle als Forscher und Lehrer. Ihm verdanken wir eine „Soziologie der Kultur“ und zugleich eine neue „Kultur der Soziologie“, die selbstbewusst den interdisziplinären Brückenschlag sucht zu den ganz anderen Sprachwelten von Geschichte, Naturforschung, Kunst und Religion. Die von den Wissenschaftlern mit Dir geteilte „harte Arbeit des Begriffs“ findet ihren Kontrapunkt in der Magie der Worte, hier vertreten durch den Lyriker Peter Nim, dessen radikale Sprachkunst Deinen Weg begleitet. Wenn Du in dieser festlichen Runde weiter um Dich blickst, siehst Du Dich in der Mitte eines weiten Panoramas sozial- und geisteswissenschaftlicher Forschungslandschaften, die Du Dir selbst erwandert hast. Dabei hattest Du immer gutes Geleit durch Deine hier versammelten Studenten, Mitarbeiter und kollegialen Mitstreiter. Viele gehen längst ihre eigenen Wege, konnten dabei aber entscheidend von Dir erst auf gute Spur gebracht werden. Auch ich hatte das Glück, dass sich immer wieder unsere Wege der Forschung kreuzten. Dies begann, als Du in turbulenten Zeiten universitären Aufbruchs zunächst als wissenschaftliche Hilfskraft zu uns ins Ruhrgebiet kamst – an den soziologischen Gründungslehrstuhl der neuen Ruhruniversität Bochum. Eigentlich war dieser Lehrstuhl des griechischen Soziologen Johannes Papalekas ausgerichtet auf den Strukturwandel im industriellen Ballungsraum. Aber uns wurde bald bewusst, dass der Strukturwandel nur zu steuern und zu verantworten ist, wenn wir Soziologen darauf vorbereitet sind, zu achten auf das den strukturellen Wandel spiegelnde und zugleich bewegende kulturelle Handeln. So ist alles „Veranstalten“ rückzubinden an die Handlungsbasis, die mit ihrer Verbindung von Stabilität und Dynamik nur „Institutionen“ bieten können.3 Hier geht es nicht nur ums Funktionieren von „Systemen“, sondern auch um ein kommunikatives Aktivieren des uns tragenden und treibenden „Sinns“. Die theoretischen Fragen nach dem Sinn von Gesellschaft gewinnen an Tiefe durch die von Arnold Zingerle vorangetriebene kultursoziologische Grundlagenforschung. Für Kultur aber wird man erst sensibel, wenn man im ‚Fremden‘ das ‚Andere‘ erkennt und gerade dann im Anderen auch sich selbst. So erleben 3  Vgl.

Lipp (1968).



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wir es im Migrationskontext: „Alle sind Ausländer – auch wir selbst!“. Wie der Grieche Johannes Papalekas, der Österreicher Wolfgang Lipp, so war auch Arnold Zingerle in Bochum zunächst ein „Fremder“, nicht nur als Südtiroler. Seine Familiengeschichte weist zudem zurück auf Vorfahren aus den Niederlanden und aus dem dolomitenladinischen Sprachraum. Zu schöpferischer Kulturbegegnung kam es gewiss auch bei der eigenen Familiengründung mit der durch seine Frau Margret eingebrachten Kunst philologischer Interpretation und den inneren Kräften ihres westfälisch-sauerländischen Katholizismus. Seiner Offenheit für interkulturelles Begegnen verdankt der Südtiroler Arnold Zingerle jenen „fremden Blick“, von dem Georg Simmel in seinem Aufsatz „Der Fremde“ sagt, dass gerade inter-kulturelle Spannung den Systemzwang struktureller Grenzen durch Sinnkonstruktionen kultureller Reflexivität verfremdet und überschreitet. Offen für die Wahrheit des Anderen – diese schöne Formel aus Helmut Schelskys Essay „Ist Dauerreflexion institutionalisierbar?“ realisierte Arnold Zingerle schon früh in der für ihn bewegenden Begegnung mit globaler Kulturspannung. Diese fand er jedoch kaum in der den Kulturmenschen Arnold Zingerle wohl eher langweilenden (damaligen) Wiener Soziologie, welche die aufregende Qualität sozialer Dynamik quantitativ kleinarbeiten zu müssen glaubte. Angeregt durch seinen Studienfreund Wolfgang Lipp und den in Wien studierenden Münsteraner Bernhard Schäfers kam dann der Befreiungsschlag durch Aufbruch nach Münster in Westfalen. Hier eröffneten sich interdisziplinäre Diskurse zu Grenzfragen von Soziologie und Philosophie, zu Ethnologie und Anthropologie, zur Phänomenologie der kulturellen Sinnkonstruktion – oder auch zur Theologie, welche die Immanenz des Sinns unter den Himmel des Heils stellte. Zum Geheimtipp wurde die damals in Wien eher fremde Welt des SozialAnthropologen Arnold Gehlen. In Münster wurden Gehlens Impulse übersetzt in eine Soziologie der Institution. Der akademische Lehrer dazu war Soziologe Helmut Schelsky. Aber auch der als Privatdozent zuerst in Münster lehrende Niklas Luhmann gilt als heimlicher Schüler Arnold Gehlens. Neben der Frankfurter Schule und ihrer systemkritischen „Dialektik der Aufklärung“ konnte die Münsteraner Schule einer soziologischen Institutionenlehre den Boden bereiten für eine neue kultursoziologische Reflexivität, was dann in Bielefeld weiter ausgebaut wurde in Richtung auf eine systemtheoretisch rationalisierte und reflektierte „Abklärung der Aufklärung“. Diese „Theorie-Schmieden“ prägten viele der hier und heute um Arnold Zingerle versammelten Kollegen. Deren „Sammlung“ wurde zur „Sendung“ eines kulturell reflektierten institutionellen Denkens, das bald auch „Schule

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machte“, wie das morgige Symposium zur „Soziologie und Kultur“ unter Bayreuther Federführung zeigen wird. Es wurde bereits deutlich: Arnold Zingerle wird man kaum gerecht, würde man ihn nur auf der schmalen Spur zünftiger Soziologen verorten. Sein Weg bewegte sich in weiteren Horizonten. Das intellektuelle Klima der Universität Münster öffnete ihm die Grenzen zu benachbarten Fächern und ihren Kulturen. Wichtig war ihm hier nicht zuletzt, dass ihn Schelsky dazu ermunterte, sich gründlich mit Max Weber auseinanderzusetzen, der so zu seinem eigentlichen soziologischen Lehrer wurde. Von ihm lernte er insbesondere, dass man das Profil einer sozialen Kultur nur dann „in Reine steigern“ kann, wenn man die eigene Welt im Kontrastbild ganz anderer Zeiten und Welten spiegelt. So kontrastierte Max Weber die ihn faszinierende europäische Rationalität mit den ganz anderen Sinnwelten asiatischer Hochkulturen. Auf dieser Spur wollte Arnold Zingerle weiterarbeiten. Aber er wollte es sich dabei nicht leicht und seicht machen, sondern in die Tiefe gehen, um von dort den steileren Aufstieg zu wählen. Dazu fand er in Münster in dem Sinologen Tilemann Grimm seinen Lehrer für ein interkulturelles Kulturverständnis. Voraussetzung dazu aber war Einarbeitung in die extrem fremde Sprachwelt Chinas. Allerdings erforderten Sprachstudium und Soziologiestudium zusammen besondere Kraftakte der geteilten Konzentration. Das musste sich schon deshalb schwierig gestalten, weil wir Soziologen „Nachtmenschen“ sind, die spät noch arbeiten, dafür morgens länger schlafen, – während das Sprachenlernen die frische Morgenstunde nutzen muss. So waren die chinesischen Sprachübungen in Münster auf sieben Uhr morgens angesetzt, und Arnold musste dafür immer schon um vier Uhr hell wach sein, um das frisch Gelernte noch frisch präsentieren zu können. Aber Südtiroler sind auf ihren Höhenwegen zäh und zielstrebig. Dafür schenkt dann die Höhe Weitblick und Durchblick. Das sollte sich auch bewähren beim Kulturvergleich in Zingerles viel beachteter soziologisch-sinologischer Dissertation „Max Weber und China“. Diese und die durch die Wissenschaftliche Buchgesellschaft schnell verbreitete Studie „Max Webers historische Soziologie“ festigten schon früh seinen guten Ruf als Soziologe mit sensiblem Sinn für kulturelle Grenzen und Schwellen. Die von Arnold Zingerle in kritischem Austausch, doch in grundsätz­ lichem Zusammenklang mit anderen Soziologen seiner Generation wieder entdeckte und innovativ bereicherte „Soziologie der Kultur“ hatte bald auch institutionelle Konsequenzen: es ist vor allem das Verdienst von Wolfgang Lipp, dass er – unterstützt von der Münsteraner Schule und ihren Biele­ felder und Bochumer Ablegern sowie vom Tübinger Kreis um Friedrich H. Tenbruck – diesen Zusammenklang auf Dauer stellte durch die Gründung



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der Sektion „Kultursoziologie“ innerhalb der DGS4. So zählte Arnold ­Zingerle zusammen mit Justin Stagl, Johannes Weiß, Alois Hahn, Carlo Mongardini, Karl-Siegbert Rehberg, Hartmann Tyrell und mir selbst zu den – damals noch jungen – Gründungsvätern der Sektion „Kultursoziologie“ in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Längst wird die Sektion getragen von einer neuen Generation jüngerer Kultursoziologen. Darunter befinden sich direkte oder indirekte Schüler und Mitarbeiter von Arnold Zingerle, die nun dazu beitragen, dass ein reiches wissenschaftliches Erbe weiter wächst. Ich möchte mich nun den besonderen Profilen und Akzenten zuwenden, die wir im Spannungsfeld von Soziologie und Kultur der strengen Produktivität von Arnold Zingerle verdanken. Es war mehr als nur ‚symbolische Ortsbezogenheit‘, dass Arnold Zingerle 1990 einlud zu einer für die moderne Kultursoziologie richtungweisenden Tagung in seine Südtiroler Bergwelt nach Seis am Schlern, dem Todesort von Wilhelm Dilthey, dessen Konzeption der „Geisteswissenschaft“ der modernen Kultursoziologie den Grund bereitete. Der Höhenblick des Bergsteigers ist auch ein Symbol für den Kultursoziologen Arnold Zingerle. Dem Bergsteiger schenkt erst der hart erkämpfte Gipfel jenen überwältigenden Weit- und Höhenblick, der uns die ganze Bergwelt in ihrer Vielgestaltigkeit vor Augen führt. So geht es auch dem Soziologen mit der sozialen Welt, die erst aus der Vogelschau großer Theorie in der gespannten Vielfältigkeit ihrer sozialen Gestaltungen und kulturellen Sinnkonstruktionen deutlich wird. Bei einer so aufgefassten Kultursoziologie dürfen wir uns berufen auf die verstehende Soziologie Max Webers, der die „Kulturbedeutung“ sozialer Wirklichkeit darin erkannte, dass in jeder Sozialgestalt deren tragender und treibender Sinngehalt zu verstehen ist, – und zugleich praktisch der bindende Sinn in aktiven und kreativen Prozessen sozialer Formgebung entwickelt werden muss. Kultursoziologen sind auch insofern Wanderer zwischen Welten, zwischen Sinn und Form des Sozialen. Arnold Zingerles Forschungen sind Zeugnis solcher Wanderschaft, die immer bewusst an Grenzen geht, aber zugleich „Schwellen“ und „Brücken“ freilegt, wo Kulturen sich begegnen. Grenzen und damit ambivalente Sinnwelten werden freigelegt nicht nur durch die Wissenschaft, sondern auch durch große Kunst. So war die Ambivalenz von Kultur im Zeitalter der Inividualisierung einer der leitenden Aspekte der unter dem Titel „Pilgerfahrt ins Ich“ erschienenen empirischen Studie über das Bayreuther Wagner-Publikum5. 4  s. das programmatische Schwerpunktheft „Kultursoziologie“ der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, hg. von Wolfgang Lipp / Friedrich H. Tenbruck (1979). 5  Es handelt sich um die bisher einzige Studie zu diesem Gegenstand. Der Titel verweist auf eine überraschende Seite der Ergebnisse dieser zusammen mit Winfried

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Die Begegnung zwischen sprachlich, ethnisch, national usf. verschiedenen Kulturen, die integrierende Vermittlung zwischen ihnen, das Interkulturelle ist für Arnold Zingerle kein Einschmelzen aller Differenzen zum globalen „Melting-Pot“. So wusste der Südtiroler, dass die – nicht im politischen Sinn misszuverstehende, vielmehr fruchtbare – Spannung der sich hier treffenden Kulturen der Deutschen und Italiener nur zu halten war, wenn beide Kulturen ihre Profile wechselseitig schärfen. Für ihn wurde daher die kommunikative Kultur des „Übersetzens“ Thema nicht nur theoretischer Grundsatzforschung6, sondern präsentiert sich in vorbildlicher Praxis in dem von ihm mitbegründeten deutsch-italienischen SoziologieJahrbuch „Annali di Sociologia“, das die deutschen und italienischen Texte wechselseitig übersetzt, zugleich aber neben der Übersetzung immer auch das sprachliche Original mitdruckt, um den Prozess des Übersetzens als einer zwischen den Sprachkulturen ablaufenden Tätigkeit transparent zu halten und so auch in der Wissenschaftskommunikation die oft vernachlässigten Standards guter Übersetzung hochzuhalten, ja zu prägen. Es versteht sich von selbst, dass die „Annali“ unter dem kontinuierlichen Einfluss von Arnold Zingerle zu einem Forum wichtiger kultursoziologischer Debatten wurden. Nicht zufällig handelte es sich dabei implizit oder explizit – wie an den Themen mancher Schwerpunkthefte ablesbar – um die soziologische Reflexion struktureller Grenzen und kultureller Schwellen: z. B. um „Migrationsprozesse in Deutschland und Italien“,7 um „Borderline: die Sozialwissenschaften zwischen Grenzziehung und Grenzüberschreitung“,8 um „Prozesse der Inklusion und Exklusion: Identität und Ausgrenzung“.9 Schon der von Arnold Zingerle besorgte Band zum Thema „Soziologie der Ehre“ wie der zum gleichen Thema nachfolgende Band der SuhrkampReihe stw10 hatte zunächst archaische Muster sozialer und kultureller Schließung behandelt, sich darüber hinaus jedoch mit den Mutationen der gesellschaftlichen Moralcodes in den Umbrüchen der Moderne auseinandergesetzt. Diese Umbrüche sind auch der primäre Bezugsrahmen für ein weiteres kultursoziologisches Arbeitsgebiet von Arnold Zingerle: „Charisma“ bei Max Weber und über Weber hinaus.11 Gebhardt durchgeführten Untersuchung über die Bayreuther Festspiele, ihre besondere, „auratische“ Stellung, ihr Sozialprofil und ihren institutionellen Wandel. s. Zingerle / Gebhardt (1998). 6  s. Zingerle / Cappai (2003). 7  Hettlage (1994). Ich selbst hatte Gelegenheit, zu diesem Band den Beitrag „Grenzen und Netze. Zur Steuerung von Migrationsprozessen“ beizusteuern. 8  Giordano (1998 / 99). 9  Bohn / Hahn (2002 / 03). 10  Zingerle (1991), Vogt / Zingerle (1994). 11  s. Gebhardt / Zingerle / Ebertz (1993); Zingerle (1993); Zingerle (1996).



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Die interdisziplinäre Öffnung der Soziologie für Grenzfragen der Geistes-, Religions- und Sozialwissenschaften war ferner das Anliegen Arnold Zingerles auch als Leiter der Soziologie-Sektion der Görres-Gesellschaft in den ­Jahren 1988–2003. Naturgemäß standen hier religionssoziologische Themen im Mittelpunkt, doch zieht sich das wechselseitige Verhältnis von religiösem und kulturellem Wandel wie ein roter Faden durch die Sektionsprogramme, so auch im wiederholten Zusammenwirken mit der von Wolfgang Brückner (Würzburg) geleiteten Sektion für Volkskunde. Statt weiterer Einzelheiten dürfte an dieser Stelle das Thema von Interesse sein, mit dem Arnold Zingerle zuletzt den Stab der Sektionsleitung an seinen Nachfolger, Hubert Knoblauch (Berlin), übergeben hat: die Veränderungen im Verhältnis von kulturellen Werten und Tod in der Gegenwartsgesellschaft. Der lange Zeit weithin akzeptierten, von Philippe Ariès und anderen vorgetragenen These von der „Todesverdrängung“ der modernen Gesellschaft konnte mit der Buchpublikation, die aus der Sektionsarbeit zum Thema hervorging12, entschieden widersprochen werden, u. a. auch durch die Einbeziehung empirischer Untersuchungen zur neuen Praxis der Sterbebegleitung im Hospizwesen, die im deutschsprachigen Bereich hier zum ersten Mal vorgestellt wurden und auf eine neue kulturell-soziale Einbettung des Sterbens schließen lassen. Hinter Themenstellungen wie der Thanatosoziologie der Gegenwart oder den Wandlungen der „Ehre“-Moralität steht als eines der zentralen Erkenntnismotive der Kultursoziologie von Arnold Zingerle die Frage, aus welchen Sinnressourcen gesellschaftliche Moralität heute leben kann und wie sie es schafft, ihre Werte in Handlungsrealität zu übertragen. Von hier aus erschließen sich weitere Gegenstände seiner Beobachtung und seines Denkens, so die Rolle personaler Identität in Simmels Eudämonismuskritik13, die identitätsstiftende Funktion der Tischgemeinschaft14 oder – nicht zuletzt – das Phänomen und die Problematik der Höflichkeit. Sie ist für ihn „Wertbegriff einer Kultur der Differenz“. Erplädiert dafür, im Rückblick auf die moralischen Verwüstungen, welche die Diktaturen des 20. Jahrhunderts hinterlassen haben – und die nach wie vor anhaltende Anstrengungen erfordern, die „zivilgesellschaftliche“ Moralität der Demokratien erneut zu befestigen – auf die kulturelle Ressource der Höflichkeit als kontrollierte Balance von Nähe und Distanz zurückzugreifen, insofern sie zugleich die für die Moderne fundamentale Anerkennung des Anderen einschließt.15 Grundlegende Probleme der Gegenwart durchleuchtet die Kultursoziologie Arnold Zingerles schließlich dadurch, dass sie im Sinne funktionaler 12  Knoblauch / Zingerle

(2005). Zingerle (1997b). 14  Zingerle (1997a). 15  (Anm. der Herausgeber) s. dazu neuerdings Zingerle (2010). 13  Dazu:

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Differenzierung sonst trennscharf abgegrenzte Dimensionen sozialer Wirklichkeit aufeinander bezieht, also Struktur und Kultur, System und Lebenswelt, Kultur und Zivilisation.16 Dies wird besonders deutlich in seiner Analyse der durch neue Speichermedien und elektronischen Zugriff eröffneten künstlichen Welten. Das Phänomen des „Hypertexts“, das kommunikationstechnisch Vermarktung und beliebigen Konsum der Ware „Wissen“ extrem steigert, konfrontiert uns mit der unersetzlichen sozialen Kommunikationsleistung des „kulturellen Gedächtnisses“.17 Die entgrenzten Textmassen der kommunikationstechnischen Zivilisation können sozial und kulturell relevant nur werden, wenn sie ihren lebensweltlichen Kontext finden im Horizont relativ dauerhafter kultureller Sinnkonstruktion – was eben „Kultur“ auch im Sinne der Fähigkeit voraussetzt, Wesentliches und Vorrangiges von Bedeutungslosem und Nachrangigem zu unterscheiden. Die kultursoziologisch reflektierten Spannungen zwischen den Sachzwängen funktionaler Zonen und dem „kulturellen Gedächtnis“ sozialer Räume gewinnen aktuelle Bedeutung im Blick auf die Kultur (oder sprechen wir lieber plural von „den Kulturen“) Europas. Im neuen Europa findet Arnold Zingerle immer deutlicher die Herausforderung für sein kulturelles Forschungsinteresse wie für sein institutionelles Engagement.18 Lassen Sie mich deshalb schließen mit einem Beispiel dafür, wie Arnold Zingerle seine Theorie des kulturellen Gedächtnisses auf das Praxisfeld „Europa“ anwendet:19 in seinem Aufsatz „Das kulturelle Gedächtnis des Euro“20 bezieht er sich auf die Euro-Münzen, die Bestandteil unseres Alltags sind. Er geht von der Möglichkeit aus, dass mit der bildhaften Ausgestaltung der zirkulierenden Münzen den Europäern symbolische Anhaltspunkte für die Identifikation mit Europa buchstäblich „in die Hand gegeben“ werden, wobei er die grundsätzliche Spannung von struktureller Funktion und kultureller Bedeutung im Auge behält. Wie jede Medaille, so hat auch der Euro zwei Seiten: „Zahl“ und „Zeichen“. Das gilt auch für die Euro-Münzen: garantiert werden soll mit ihnen zunächst eine die alten Grenzen nationaler Märkte aufhebende „harte Währung“ des neuen Europa als Wirtschafts-Union. Zugleich symbolisieren sie jedoch, dass Strukturen wirtschaftlicher Einheit erst lebendig werden durch Kulturen europäischer 16  Insbesondere zur theoretischen Erfassung des Verhältnisses Kultur-Zivilisation s. Zingerle (2005b). 17  Zingerle (2005a). 18  Was begonnen hatte mit den frühen deutsch-italienischen Brückenschlägen des Südtirolers, weitete sich in den neunziger Jahren mit einem Georgien-Engagement aus bis in die eurasischen Grenzräume der europäischen Einigung. 19  Zur grundsätzlichen Bedeutung der Theorie des „kulturellen Gedächtnisses“ für Europa s. Zingerle (2006b). 20  Zingerle (2006a).



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Vielfalt, deren reiche Traditionen die Euro-Münzen auf ihrer anderen Seite abbilden. Schauen wir nur auf das schöne italienische 1-Euro-Stück! Während die entsprechende deutsche Münze mit dem Bundesadler bloß an die gute alte DM erinnert, setzt die italienische Münze mit der von Leonardo gestalteten Humanitas auf jenes kulturelle Erbe, das als „kulturelles Gedächtnis“ der Zukunft Europas die Richtung weist. So verdanken wir der Kultursoziologie auch ein neues Verhältnis zum Geld. Dann werden wir den Euro nicht als Scheide-Münze handeln, sondern als Glücks-Taler. Ich zitiere dazu aus der Schlusspassage des Aufsatzes von Arnold Zingerle. Der Aspekt des Euro, der – würde man an ihm das Identitätsproblem der Europäer weiter verfolgen – „am meisten faszinieren könnte, ist“, so Zingerle, vielleicht eine innere Verwandtschaft zwischen einerseits dem Wesen des Symbols, dieses Kernelements jeder Kultur, dessen Stärke in der Balance zwischen Vieldeutigkeit und Festgelegtheit liegt, und andererseits der Eigenart Europas selbst, deren Stärke und Wert nicht die reduzierende Einheitlichkeit ist, sondern die in der Einheit sich realisierende Vielfalt.“21 Literatur Bohn, Cornelia / Hahn, Alois (Hg.): Prozesse der Inklusion und Exklusion: Identität und Ausgrenzung / Processi di inclusione ed esclusione:identità ed emarginazione, Schwerpunktheft Annali di Sociologia / Soziologisches Jahrbuch 16, Milano: Franco Angeli / Berlin: Duncker & Humblot 2002 / 03. Gebhardt, Winfried / Zingerle, Arnold / Ebertz, Michael (Hg.): Charisma. Theorie – Religion – Politik, Berlin: de Gruyter 1993. Giordano, Christian (Hg.): Borderline: die Sozialwissenschaften zwischen Grenzziehung und Grenzüberschreitung / Borderline: le scienze sociali tra confini e sconfinamenti, Schwerpunktheft Annali di Sociologia / Soziologisches Jahrbuch 14, Milano: Franco Angeli / Berlin: Duncker & Humblot 1998 / 99. Günther, Adolf: Die Alpenländische Gesellschaft als sozialer und politischer, wirtschaftlicher und kultureller Lebenskreis, Jena: Fischer 1930. Hettlage, Robert (Hg.): Migrationsprobleme in Deutschland und Italien zwischen offenen Räumen und neuen Grenzen / Problemi migratori in Germania e in Italia tra spazi senza frontiere e nuovi confini, Schwerpunktheft Annali di Sociologia / Soziologisches Jahrbuch 10, Milano: Franco Angeli / Berlin: Duncker & Humblot 1994. Knoblauch, Hubert / Zingerle, Arnold (Hg.): Thanatosoziologie. Tod, Hospiz und die Institutionalisierung des Sterbens, Berlin: Duncker & Humblot 2005. 21 

Ebd., S.  52.

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Lipp, Wolfgang: Institution und Veranstaltung. Zur Anthropologie der sozialen Dynamik, Berlin: Duncker & Humblot 1968. Lipp, Wolfgang / Tenbruck, Friedrich H. (Hg.): Schwerpunktheft Kultursoziologie, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 31, Heft 3, 1979. Pankoke, Eckart: Grenzen und Netze. Zur Steuerung von Migrationsprozessen, in: Hettlage, R (Hg.): Migrationsprobleme in Deutschland und Italien zwischen offenen Räumen und neuen Grenzen, Annali di Sociologia / Soziologisches Jahrbuch 10, 1994, S.  137–169. Vogt, Ludgera / Zingerle, Arnold (Hg.): Ehre. Archaische Momente in der Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994. Weber, Max: Wissenschaft als Beruf, in: ders.: Geistige Arbeit als Beruf. Vorträge vor dem Freistudentischen Bund. Erster Vortrag, München / Leipzig: Duncker & Humblot 1919, S.  3–37. Zingerle, Arnold: Gesellschaft, Kultur und Natur in den Alpen. Eine Erinnerung an Adolf Günthers Buch „Die alpenländische Gesellschaft“, in: Sociologia Internationalis 21, 1983, S.  93–103. – (Hg.): Soziologie der Ehre / Sociologia dell’onore, Schwerpunktheft Annali di Sociologia / Soziologisches Jahrbuch 7 / II, Milano: Franco Angeli / Berlin: Duncker  & Humblot 1991. – (Hg.): Charisma. Dynamiken des Ursprungs und der Veralltäglichung / Carisma. Dinamiche dell’origine e della quotidianizzazione, Schwerpunktheft Annali di Sociologia / Soziologisches Jahrbuch 9 / II, Milano: Franco Angeli / Berlin: Duncker  & Humblot 1993. – Institution des Außeralltäglichen. Das Konzil aus der Sicht soziologischer Charisma-Theorie, in: Kaufmann, F.-X. / ders. (Hg.): Vatikanum II und Modernisierung, Paderborn u. a.: Schöningh 1996, S.  189–208. – Identitätsbildung bei Tische. Theoretische Vorüberlegungen aus kultursoziologischer Sicht, in: Teuteberg, H.-J. / Neumann, G. / Wierlacher, A. (Hg.): Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven, Berlin: Akademie 1997a, S. 69–86. – Zwischen den Niederungen des Eudämonismus und der „Feierlichkeit des Lebens“: Georg Simmel über das Glück, in: Bellebaum, A. / Barheier, K. (Hg.): Glücksvorstellungen. Ein Rückgriff in die Geschichte der Soziologie, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997b, S.  131–148. – Der Hypertext – kultursoziologisch betrachtet, in: Drepper, T. / Göbel, A. / Nokielski, H. (Hg.): Sozialer Wandel und kulturelle Innovation. Historische und systematische Perspektiven. Festschrift für Eckart Pankoke, Duncker & Humblot, Berlin 2005a, S.  113–136. – „Kultur und Zivilisation“ – ein deutscher Sonderweg im internationalen Diskurs der Soziologie?, in: Schäfers, B. / Stagl, J. (Hg.): Kultur und Religion, Institutionen und Charisma im Zivilisationsprozess. Festschrift für Wolfgang Lipp, Konstanz: Hartung-Gorre 2005b, S.  133–149.



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– Das kulturelle Gedächtnis des EURO. In: Pankoke, E. / Quenzel, G. (Hg.): Praktische Künste. Deutungsmuster und Wissensformen kulturellen Handelns, Essen: Klartext 2006a, S.  41–54. – Das kulturelle Gedächtnis Europas, in: Hettlage, R. / Müller, H.-P. (Hg.): Die europäische Gesellschaft, Konstanz: UVK 2006b, S.  87–108. – Höflichkeit als Wertbegriff einer Kultur der Differenz, in: Cappai, G. / Shimada, S. / Straub, J. (Hg.): Interpretative Sozialforschung und Kulturanalyse. Hermeneutik und die komparative Analyse kulturellen Handelns, Bielefeld: transcript 2010 (im Druck). Zingerle, Arnold / Cappai, Gabriele (Hg.): Sozialwissenschaftliches Übersetzen als interkulturelle Hermeneutik. Il tradurre nelle scienze sociali come ermeneutica interculturale, Dt.-ital., Milano: Franco Angeli / Berlin: Duncker & Humblot 2003. Zingerle, Arnold / Gebhardt, Winfried: Pilgerfahrt ins Ich. Die Bayreuther RichardWagner-Festspiele und ihr Publikum. Eine kultursoziologische Studie, Konstanz: UVK 1998.

Zwillingsschwärmer Arnold Zingerle zum Fünfundsechzigsten Von Peter Nim Vorbemerkung der Herausgeber: Da Peter Nims Begleitschreiben zu dem hier abgedruckten Gedicht eine Reihe aufschlussreicher und für das Verständnis des Gedichts unentbehrlicher Informationen enthält, geben wir die entsprechende Passage ungekürzt wieder. … Leichtfüßiger Sprachgebrauch und Anstrengung des Begriffs kommen im Deutschen kaum zueinander. Oder nur sehr künstlich, wie aus Resten collagiert, aber dann wirds schwierig – und so ist der Beitrag, den ich Dir schicke. Das Gedicht „Zwillingsschwärmer“ aus den Achtzigern, bisher unveröffentlicht. Der von und mit Robert Marteau unternommene Versuch einer Übersetzung ins Französische ist allerdings 1994 unter dem Titel „Hölderlin chez Holterling“ in der Zeitschrift PO&SIE No.  69 erschienen. Die Vorbemerkung für französische Leser fasse ich gleich für deutsche zusammen. Zitierte Namen und Wendungen sind Souvenirs vom Hölderlinturm, den ich 1986 nach zwanzig Jahren wieder einmal besuchte. Weiß mans noch, ohne vom Fach zu sein? Er stand weiter am Neckar, aber hieß inzwischen Rundel. Die Schildchen zum Hölderlinturm gab es auch nicht mehr. Weiß mans noch, dass der Dichter, betreut von dem Handwerker Zimmer und seiner Familie, die zweite „Hälfte des Lebens“ dort verbracht hat? Rundel klingt nicht unsympathisch, aber bezeichnet nur das Gebäude. Grimms Deutsches Wörterbuch führt Goethe für den Terminus an, Hofrat Goethe. Das Museum im Rundel war unbesucht, die Fremdheit des Dichters oben dokumentiert. So mit der offiziellen Nachricht vom Tode eines gewissen Holterling im Jahre 1843. Weiß mans noch, ohne vom Fach zu sein, daß sein Werk erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg entdeckt zu werden begann, dank der Forschungen des Philologen Norbert von Hellingrath? Vielleicht steht an einer Tür in der Nachbarschaft, wenn man vom Rundel aus auf den Tübinger Schloßberg geht, noch immer Flaschnermeister Sinner zu lesen  …

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Peter Nim



„türkbringer“

sehr erfreut holterling eine mark eintritt zweiter stuhl im rundel

„wohin sie wollen“

auf holzpferdchen zu einer innren conversation sagen herr hofrat der zimmer ist schreiner

„bitte setzen“

bloß setzen sie sich lieber zwischen die stühle stehen sie sich leer

„um gottes willen“

auf holterling nicht besucher nach draußen was haben sie denn außer gelben chrysanthemen

„schon übersetzt“

ein strenger winter ist der tanzmeister aus italien ein strenger sommer

„alle zwei tage“

wie bestellt und nicht abgeholt eine karaffe wein die zu boden poltert o du dürftige

„rezeptverordnung“



Zwillingsschwärmer – Arnold Zingerle zum Fünfundsechzigsten

sie heißen nicht zufällig hellingrath haben sie einen groschen bei verdun fallen gehört

„aus der vitrine“

gnädige handwerksleut vierzig jahr an der wand lang sagen herr hofrat hätten ihn kaum einen tag

„liebreich umsorgt“

nur reinste reime werden holterling anerkannt die reinste asche

„das deutsche gewand“

unter den treppen auf der neckarinsel da stehen im kreis die landstreicher

„beim frühschoppen“

zum umstürzen abgezählt gläser im vorgarten solche schritte tun sie was rauscherot

„findet sich verloren“

ein lieblicher kirchhof die stadt dem markt zu füßen das beste einflußreich stocherkähne unter wasser

„preussisch blau“

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Peter Nim

nicht daß sie sich dazulegen sagen herr hofrat warum die taschen voll ehrenkäsig

„für voll zu nehmen“

frühling und herbst sehen sie auch insgesamt ausgaben entsetzen und ist kein sandperück darob zu weinen vergäß ihr apfelschimmer

„friedrichsruh“

doch endet so der rundgang beileibe heuriger der kaiser naht der mutter nachbarschaftlich

„flaschnermeister sinner“

in aller mund nie junger mann jetzt umdrehen bitte und holterling mit ihnen so ists gut einmal nicht zum durchliegen

„kommt eins zum anderen“

es grüßt die jahreszeit der mensch hat nichts zu klagen er kostet sie einszehn (anno ;§_()

„ihr stehkaffee“

Zu den Autoren Horst Baier, Dr. med., em. Ordinarius für Soziologie an der Universität Konstanz; Mitherausgeber der Max Weber-Gesamtausgabe. Auswahl aus seinen Schriften: Kultur contra Zivilisation im Krieg der Geister – mit Blick auf Max Weber, in: B. Schäfers  /  J. Stagl (Hg.): Kultur und Religion, Festschrift für Wolfgang Lipp, Konstanz 2005, S. 59–82; Götzendämmerung der soziologischen Systeme. Mit Hegel und Marx, Nietzsche und Max Weber gegen Niklas Luhmann, in: K. Gloy / W. Neuser / P. Reisinger (Hg.): Systemtheorie, Bonn 1994, S.  91–128; Gesundheit als Staatsziel, Wirtschaftsnutzen oder Biopolitik, in: O. Seewald / H. Schoefer (Hg.): Zum Wert unserer Gesundheit: der Arzt zwischen Rationierung und Rationalisierung, Baden-Baden 2008, S. 111–126. Gabriele Cappai, Dr. phil., Professor für empirische Methoden an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth. Forschungsschwerpunkte: Theorie, Methodologie und Methodik empirischer Sozialforschung, Kulturtheorie, Migrationssoziologie. Kontakt: [email protected] Enrique Gavilán, Dr. Historie, Profesor Titular an der Universität Valladolid (Spanien). Forschungsschwerpunkte: Theorie der Historie; Theater und Geschichte, Darstellung der Vergangenheit auf der Bühne; Richard Wagner. Letzte Bücher: Otra historia del tiempo. La música y la redención del pasado, Madrid 2008; ‚Escúchame con atención‘. Liturgia del relato en Wagner, Valencia 2007; El combate del centauro. Sociedad, juego y subversión en los carteles de Manuel Sierra, Valladolid 2007. Winfried Gebhardt, geb. 1954, ist Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz. Seine Arbeitsgebiete liegen in den Bereichen der Jugend-, Religions- und Kultursoziologie. Robert Hettlage, Dr. rer. pol. Dr. phil. o. Prof. em. Lehrstuhl für Soziologie a.  d. Universität Regensburg (1980–2008). Forschungsschwerpunkte: Wirtschafts-, Kultur-, Familien-, Migrationssoziologie, Europäische Integration, Soziologische Theorie. Neuere Veröffentlichungen: Identitäten in der modernen Welt (zus. mit. L. Vogt), Wiesbaden 2000; Verleugnen, vertuschen, verdrehen. Leben in der Lügengesellschaft, Konstanz 2003; Glück hat viele Gesichter (zus. mit A. Bellebaum), Wies­ baden 2010.

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Zu den Autoren

Georg Kamphausen, Dr. rer. soc., Professor für Soziologie an der Universität Bayreuth. Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Religionssoziologie, Literatursoziologie, Europastudien, transatlantische Beziehungen. Neuere Veröffentlichungen: Die Erfindung Amerikas in der Kulturkritik der Generation von 1890, Weilerswist 2002; „Nationalökonomie“: Akademisches Fach und wissenschaftlicher Denkstil im späten 19. und frühen 20.  Jahrhundert, in: Nicolas Berg (Hg.): Kapitalismus-Debatten um 1900, Leipzig 2009; Die märchenhafte Gewissheit der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Assoziationen im Umfeld einer Soziologie der Transzendenz, in: Archiv für Kulturgeschichte, H.  1, 2009. Kontakt: [email protected] Wolfgang Lipp, Dr. rer. soc., Dr. habil., em. o. Prof. an der Universität Würzburg. Forschungsschwerpunkte: Kultursoziologie, Institutionenlehre. Auswahl aus seinen Schriften: (Hg. zus. mit F. H. Tenbruck) Kultursoziologie. Schwerpunktheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1979; Stigma und Charisma. Über soziales Grenzverhalten, Berlin 1985; Drama Kultur, Berlin 1994. Elísio Macamo, Dr. phil., Assistenzprofessor mit Tenure Track für African Studies an der Universität Basel. Forschungsschwerpunkte: Risiken, Krisen und Katastrophen, Politische Soziologie der portugiesischsprachigen Länder Afrikas, Religionssoziologie Afrikas. Kontakt: [email protected] Carlo Mongardini, Prof. Dr., Lehrstuhl für Politikwissenschaft an der Universität Rom I („La Sapienza“). Begründer des Europäischen Amalfi-Preises für Soziologie und Sozialwissenschaften. Auswahl aus seinen Schriften: Ideologia e società, Rom 1969; Saggio sul gioco, Mailand 1989; Economia come ideologia, Mailand 1997; Capitalismo e politica nell’era della globalizzazione, Mailand 2007. Peter Nim (geb. 1943) lebt in der Basse Normandie (Distr. Orne) und schreibt in deutscher Sprache. Aphorismen: Post aus dem Vorgebirge, Köln 1985; experimentelle Texte: Litanien, Paris 1984, Eine Fahrt nach Finnland, Hanau und Mortagne 1998; u.a. Gedichtbände, dt. und frz.: Essor, Saint-Pierre-la Vieille 1998, Le moment est un sol accidenté, Saint-Pierre-la-Vieille 2009, Jahr und Tag. 136 Haiku, Sampzon 2009; dt.: Haiku-Paare. Mit einem Nachwort von Walter Gebhard, Aachen 2007 (Lyrik-Taschenbuch Rimbaud, Bd.  60). Eckart Pankoke (†), Prof. Dr., war am Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Duisburg-Essen. Mitbegründer der Sektion Kultursoziologie und langjähriger Sprecher der Sektion Sozialpolitik der DGS. Auswahl aus seinen Schriften: Sociale Bewegung – Sociale Frage – Sociale Politik, Stuttgart 1970; (Hg.) Gesellschaftslehre, Frankfurt a. M. 1991; (zus. mit K. Gabriel und H. Heller) Ökumene und Gemeinde, Opladen 2002; (Hg., mit G. Quenzel), Praktische Künste, Essen 2006.



Zu den Autoren

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Pedro Piedras Monroy, Dr. Geschichtswissenschaft und Geographie, Universität Santiago de Compostela. Forschungsschwerpunkte: Philosophie und Theorie der Geschichte, Indien Studien, Postkoloniale Studien. Wichtigste Publikationen: Genealogie der Geschichte (Zus. mit J.  C. Bermejo Barrera), Max Weber und die Krise der Sozialwissenschaften, Max Weber und Indien (Alle drei auf Spanisch). Kontakt: [email protected] Karl-Siegbert Rehberg, Prof. Dr. phil., Inhaber des Lehrstuhles für Soziologische Theorie, Theoriegeschichte und Kultursoziologie an der Technischen Universität Dresden. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie (bes. Institutionenanalyse), Geschichte der Soziologie und Kultursoziologie (bes. Künste in der DDR und Museumsforschung). Wichtigste Publikationen zum Thema: Kultur versus Gesellschaft? Anmerkungen zu einer Streitfrage in der deutschen Soziologie, in: Friedhelm Neidhardt, M. Rainer Lepsius und Johannes Weiß (Hg.): Kultur und Gesellschaft. René König zum 80.  Geburtstag. Sonderheft 27 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Opladen: Westdeutscher Vlg. 1986, S. 92–115; Kultur. In: Hans Joas (Hg.): Lehrbuch der Soziologie. Frankfurt a. M. / New York: Campus 2001, S. 63–92; Der unverzichtbare Kulturbegriff. in: Dirk Baecker / Matthias Kettner / Dirk Rustemeyer (Hg.): Über Kultur. Theorie und Praxis der Kulturreflexion. Bielefeld. transcript 2008, S. 29–43. Bernhard Schäfers, geb. 1939 in Münster / Westf., o. Univ.-Prof. em., zuletzt (1983–2007) Institutsleiter für Soziologie an der Universität Karlsruhe (TH), zuvor (1971–1977) Universität Koblenz-Landau und Universität Göttingen. Forschungsschwerpunkte: Sozialstruktur Deutschlands; Architektur-, Stadt- und ­Regionalsoziologie; Jugendsoziologie; Soziologie der Gruppe. Letzte Buchveröffentlichungen: Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland, 8. verb. Aufl. Stuttgart 2004; Architektursoziologie. Grundlagen – Epochen – Themen, 2.  Aufl. Wiesbaden 2006; Stadtsoziologie. Stadtentwicklung und Theorien –, Grundlagen und Praxisfelder, Wiesbaden 2006; Hg., zs. mit Justin Stagl, Kultur und Religion, Institutionen und Charisma im Zivilisationsprozess. Festschrift für Wolfgang Lipp, Konstanz 2005. Justin Stagl, em. o. Univ.-Prof., FB Politikwissenschaft und Soziologie, Abt. Kultursoziologie der Universität Salzburg (A-5020 Salzburg, Rudolfskai 42). Neuere Publikation: Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens 1550–1800, Wien / Köln / Weimar (Böhlau) 2002. Hartmann Tyrell, apl. Prof. Dr. i. R., Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie; Forschungsschwerpunkte: Gesellschaftstheorie, Geschichte der Soziologie, Familiensoziologie, Religionssoziologie. Publikation: Soziale und gesellschaftliche Differenzierung: Aufsätze zur soziolo­ gischen Theorie, hg. v. Bettina Heintz, André Kieserling, Stefan Nacke u. René Unkelbach, Wiesbaden 2008. Kontakt: [email protected]

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Zu den Autoren

Johannes Weiß, Dr. phil., Prof. em. für Soziologische Theorie und Philosophie der Sozialwissenschaften an der Universität Kassel. Buchveröffentlichungen u.a.: Weber and the Marxist World, 1986 / Neuausgabe 1998; Handeln und handeln lassen. Über Stellvertretung 1998; (Hg.) Die Jemeinigkeit des Mitseins. Die Daseinsanalytik Martin Heideggers und die Kritik der soziologischen Vernunft 2001.