Persönlichkeitszerstörung und Weltuntergang: Das Verhältnis von Wahnbildung und literarischer Imagination [Reprint 2012 ed.] 9783110932713, 9783484180451


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German Pages 295 [296] Year 1976

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
ERSTER TEIL: DIE REISE ANS ENDE DER WELT
I. Der Prozeß des Scheiterns
II. Urweltfabel und Eisblumenmetaphysik
III. Arktischer Präadamitismus
IV. Erneute Ausfahrt
V. Der Fels Eschaton
VI. Der Würfelwurf
VII. Erklärungsversuche
ZWEITER TEIL: PSYCHOSEMODELL UND TEXTSTRUKTUR
I. Tiefenpsychologische Annäherungen
II. Grundlagen der Interpretation
III. Psychologische Modelle der apokalyptischen Reise
IV. Ansätze zur Inventarisierung literarischer Apokalyptik
Schluß
Literaturverzeichnis
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Persönlichkeitszerstörung und Weltuntergang: Das Verhältnis von Wahnbildung und literarischer Imagination [Reprint 2012 ed.]
 9783110932713, 9783484180451

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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann, Friedrich Sengle und Klaus Ziegler

Band 50

Joachim Metzner

Persönlichkeitszerstörung und Weltuntergang Das Verhältnis von "Wahnbildung und literarischer Imagination

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1976

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Metzner, Joachim Persönlichkeitszerstörung und Weltuntergang : d. Verhältnis von Wahnbildung u literar. Imagination. - i . Aufl. - Tübingen : Niemeyer, 1976. (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. jo) ISBN 3-484-18045-5

ISBN

3-484-18045-5

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1976 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf photomedianisdiem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Printed in Germany.

Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG ERSTER T E I L : D I E REISE ANS E N D E DER W E L T I . D E R PROZESS DES SCHEITERNS

Die literarische Darstellung der Suche nach den Erdpolen als Ausdruck apokalyptischen Denkens und als Paradigma verfehlter Existenz.

a. Der bestrafte Shackleton 1. Georg Heyms >Tagebuch Shackletons< als Ausgangspunkt der Untersuchung. 2. Die Behandlung des Pol-Themas in Heyms Gesamtwerk. Literarische Anregungen. 3. Die Bedeutung von Shackletons Scheitern bei T. S. Eliot. 4. Die historischen Wurzeln des Themas: Der scheiternde Ulysses in Dantes >Divina Commedia< und Petrarcas Verzicht auf die Polsuche.

b. Polare Welten 1. Edgar Allan Poes Arthur Gordon P y m als Vorläufer von Heyms Shackleton. 2. Die Stellung von Jules Vernes Kapitän Hatteras zu Pym und Shackleton. 3. Das problemgeschichtliche Vorfeld: Zerstörung der Psyche als Strafe in Coleridges >Ancient Mariner Insel Felsenburgmonde amoureuxGlasarchitekturDon Juan< vor dem Hintergrund von Byrons Apokalyptik. 2. Byron als Vorbild Heyms.

68

b. Rekonstruktion der fossilen Welt

7$

1. Die Tradition des Präadamitenthemas von La Peyrere zu William Beckford, Nerval, Kubin und Heym. 2. Byrons Stellung in dieser Entwicklung: Die Verbindung des Präadamitismus mit der Katastrophentheorie Cuviers. IV.

ERNEUTE AUSFAHRT

84

Das Interesse an der scheiternden Polreise in der nachromantischen europäischen Literatur. Historische und textstrukturelle Zusammenhänge und Konstanten. a. Im Zeichen des Polarsterns Adelbert Chamissos Absage an die romantische Polarmystik.

84

b. Heroismus und Artistik

87

1. Die Polreise als Drogenerlebnis bei Baudelaire und De Quincey. 2. Der Pol als Ort der >Nouveaute diimique< und als Produkt der >Alchimie du verbe< bei Rimbaud. 3. Rimbauds Nachfolger: Kandinsky und Tzara. c. Der Weg zu den Hyperboreern 1. Relikte des esoterischen Pol-Verständnisses bei Mendts, M£li£s, Kubin und Max Ernst.

VI

96

2. Nietzsches Neuorientierung: Nordpolsuche und hyperboreisdie Existenz als gegensätzliche Ausdrucksformen einer präsentischen Eschatologie. 3. Die Dominanz des Scheiterns in Gottfried Benns Weiterführung dieses Gedankens. 4. Scheitern am Pol als Schicksal und Fest in Reinhard Goerings spätexpressionistischem Drama. j . Polsuche und völkische Treue in Benns Schriften nach 1930. d. Das Gesetz der Decapoda ι. Remythisierung der Arktis im russischen Symbolismus (Annenskij, Zamjatin, Sklovskij) und in der nachrevolutionären Literatur. 2. Pil'njaks Beschreibung der Polreise nach dem Muster grundlegender Regressionsvorgänge. V.

D E R FELS E S C H A T O N

Der nachromantische Mythos vom polaren Gottmenschen und seine Bedeutung für die psychologische Interpretierbarkeit literarischer Apokalyptik. 1. Das erste Auftreten des Themas bei Goethe. 2. Der Zusammenhang zwischen dem Tod Gottes am Pol und dem Weltuntergang in der Lyrik Leconte de Lisles. 3. Die Aufdeckung der Identität des gottgleichen Pol-Herrschers mit dem >letzten Menschen< der neuzeitlichen Apokalyptik im Werk Jules Laforgues. 4. Die Entschlüsselung des Mythos durch Benn: Das Sterben des Gottmenschen am Pol und der Untergang des Polreichs als Bewußtseinsverlust eines solipsistisdien Idis. 5. Die Darstellung der optimistischen Variante des Themas im Werk Dauthendeys: Der letzte Mensch am Pol als gottgleicher Erstling einer neuen Schöpfung. V I . D E R WÜRFELWURF

Mallarmes Übertragung der Polreise auf ein poetologisches und ontologisches Schema. 1. Die Stellung von Mallarmes >Un Coup de des< in der Tradition der Polreise-Dichtung. 2. Die unterschiedliche Bedeutung der Poleroberung als >Urtat< bei Mallarme, Verhaeren und Heym. 3. Destruktivität und Angst als Aspekte des Überstiegs vom ontologischen zum psychologischen Schema Mallarmes. 4. Die Zerstörung der Welt am Pol und ihre Folgen: Zerstörung der Zeit durch den Raum. 5. Der literarische Hintergrund dieser kategorialen Bestimmung des Weltuntergangs: Das Raum-Zeit-Verhältnis bei Novalis, Byron, Poe, Baudelaire, Amiel, Belyj und im deutschen Expressionismus. 6. Philosophische Verstehenshilfen für den von Mallarme beschriebenen Weltvernichtungsvorgang.

V I I . ERKLÄRUNGSVERSUCHE

139

Die Mangelhaftighkeit aller nichtpsychologischen Erklärungen der Identität des Vorgangs Polreise mit dem Geschehnis Weltuntergang. 1. Die Eigengesetzlichkeit der Themenverbindung Pol und Untergang. 2. Der paradigmatische Charakter der Reise ans Ende der Welt. 3. Textimmanente Verstehenshilfen: Die Bedeutungsschichten des Begriffs >Endeapokalyptisch< in der Literaturwissenschaft, von der sich leicht überzeugen kann, wer Untersuchungen zum deutschen Expressionismus, zum russischen Symbolismus, zur französischen Literatur der >Decadence< oder zur jüngeren englischen Romantik (die Reihe ließe sich verlängern) daraufhin überblickt, läßt den Schluß zu, daß das >Apokalyptische< in fast allen Epochen der neuzeitlichen Literatur einen nicht unbedeutenden Platz einnimmt. Kaum einmal jedoch leistet diese Bezeichnung eine echte Differenzierung, vielmehr dient sie einem Charakterisieren literarischer Erscheinungen, bei dem sich Intensität mit Unbestimmtheit verbindet. Die Ursache für Häufigkeit und Fragwürdigkeit der Begriffsverwendung läßt sich leicht finden: Apokalyptik ist seit der Begriff durch die Heraufkunft des neuzeitlichen Weltbildes aus den engen Grenzen religiöser Gerichtserwartung entlassen wurde — im weitesten Sinn Sprechen über die für unausweichlich gehaltene katastrophale Annullierung von etwas Bestehendem. Literarisiert erscheint sie als ein >Weltuntergangs Doch Welt kann vieles bedeuten. Nicht allein Kosmos, Erde oder Menschheit sind den Gesetzen der Apokalypse unterstellbar; der Untergang einer Rasse, einer Kultur, einer Epoche, einer Klasse kann ebenso beschrieben werden. Die Vernichtung braucht nicht einmal physisch gemeint zu sein: zum Gegenstand literarischer Apokalyptik kann auch das Zugrundegehen eines Werks, eines Ideensystems, einer Gedankenwelt gemacht werden. Sogar die Zerstörung einer Person ist, insofern diese als Trägerin einer eigenen Welt von Vorstellungen und Erfahrungen existiert, einer Weltkatastrophe gleichsetzbar. Welt ist schließlich auch das literarische Werk selbst. Wer schreibt, läßt Welten entstehen und vergehen. Zwar wird nur die Zerstörung einer Fiktion ins Belieben der Imaginationskraft gestellt, aber fiktiv ist jede Welt, wenn sie in der Literatur beschrieben und aufgrund dieser Beschreibung als Katastrophenfall deklariert wird. Ja, schon das Errichten einer fiktiven Welt bedeutet einen Akt der Zerstörung gegenüber der vorgegebenen Realität, weshalb, wie Jean Paul und Marcel Proust feststellten, der ästhetische Vorgang ι

grundsätzlich mehr dem Jüngsten Gericht denn dem ersten Schöpfungstag gleichzusetzen ist.1 Dieser Uferlosigkeit möglicher Inhalte steht eine bemerkenswerte formale Konstanz gegenüber. Gemeint ist die erstmals von Thomas Mann und Theodor W. Adorno beobachtete »psychologische Merkwürdigkeit«, »daß einer nachfiebert, was andere vorgefiebert haben«,2 daß es eine Art »seherische[s] Herkommen«3 gibt, welches, unabhängig davon, was im Einzelfall Welt heißt, die Kulissen ihres Untergangs bestimmt und dessen Ablauf regelt. Dies erleichtert werkimmanente Untersuchungen an entsprechenden Texten, macht sie aber zugleich ziemlich überflüssig. Für eine nach individual- und gesellschaftshistorischen Hintergründen und Ursachen fragende Betrachtungsweise hingegen stellt die Konstanz der Untergangtopik - die Beschränkung auf Weltbrand oder Überflutung, Erstarrung oder Verflachung, Auflösung oder Explosion, Zerstörung von außen oder inneren Schwund — eine entscheidende Barriere dar. So endet der Versuch, durch ein vergleichendes Analysieren von literarischen Texten, denen man aufgrund typologischer Besonderheiten das Attribut >apokalyptisch< zuerkannt hat, das >Apokalyptische< als qualitativen Begriff und verfügbare Kategorie einzugrenzen, in einem doppelten Dilemma: Die stoffliche Breite ist zu groß, die formale zu gering, um mit herkömmlichen literaturwissenschaftlichen Methoden eine Spezifizierung zu erreichen. Mehr Erfolg verspricht ein genaueres Eingehen auf die Prozeßhaftigkeit, die aller literarischen Beschäftigung mit katastrophalem Geschehen so selbstverständlich eigen ist, daß man sie leicht unbeachtet läßt. Alles Katastrophale hat seinen Ort innerhalb einer nur gedachten oder zum Ausdruck gebrachten Verlaufsstruktur. Könnte man beweisen, daß diese Reihung von Stationen allgemeine und formulierbare Gesetzmäßigkeiten aufweist, und könnte man deren Ursprung und Funktion darstellen, dann wäre es möglich, davon ausgehend eine allgemeine Theorie des Apokalyptischen in der Literatur zu formulieren. Dieses Experiment ist Gegenstand der Untersuchung. Von entscheidender Wichtigkeit ist dabei die Einschränkung des Stoffbereichs auf Texte, in denen sich katastrophales Untergehen in möglichst geschlossener Systematik zeigt. Diese Vorarbeit läßt eine bislang ganz

1

2

8

2

Jean Paul, Vorschule der Ästhetik. Sämtliche Ausgabe. I.Abteilung, Bd. X I , S. 2 7 ; vgl. S. 2 1 6 ; recherche du temps perdu, Bd. V I I I / 2 , S. 26. Thomas Mann, Doktor Faustus, S. 4 7 $ . - V g l . Doktor Faustus. In: Gesammelte Werke, Bd. X I , Mann, Doktor Faustus, S. 4 7 5 .

Werke. Historisch-kritische 1 8 7 . - Marcel Proust, A la Mann, Die Entstehung des S. 248.

unbeachtete literarische Tradition zutage treten: die Thematisierung der >Reise ans Ende der WeltReise ans Ende der Welt< aufgedeckt, um auf diese Weise die verschiedenen Möglichkeiten, katastrophales Geschehen in literarische Apokalyptik umzusetzen, an einem zentralen Beispiel zu demonstrieren. Ausgehend von dem im Rahmen dieser Arbeit besonders wichtigen und deshalb sehr detailliert untersuchten Prosawerk Georg Heyms, läßt sich die Entwicklung des Themas zurückverfolgen bis ans Ende des 17. Jahrhunderts. Ein umfangreicher Rezeptionsprozeß wird sichtbar, der mit Denis de Veiras' >L'Histoire des Sevarambes< beginnt und über Schnabels >Insel FelsenburgRime of the Ancient MarinerNarrative of Arthur Gordon PymUn Coup de des< zu Heyms imaginären Reiseberichten führt. Aus dieser Rezeptionsgeschichte treten strukturelle Konstanten hervor: der Verzicht auf die reale Welt; die Zerstörung der Persönlichkeit als Folge des Versuchs, das Unbekannte zu erreichen; die ersatzweise Entfaltung eines selbstgeschaffenen Utopie. In Detailuntersuchungen wird sodann der Beweis geführt, daß die Gesamtheit dieser Konstanten einen Prozeß des Scheiterns beschreibt, der, als Katastrophe auf der räumlichen Ebene, seine ideologiegeschichtlichen Wurzeln in der den Beginn der Neuzeit markierenden Auseinandersetzung um die Legitimität der >curiositasetat d'äme< besitzt. Am Schluß dieser literarischen Tradition steht ihre Selbstaufhebung in Thomas Manns Roman >Doktor Faustus< (1947). Hatte Theophile de Viau aus der Hadesfahrt die imaginäre Reise gemacht, so ist die »Niederfahrt« 11 für Manns Doktor Faustus nur mehr als ein vom »Erkenntniskitzel« 12 forcierter Gedankensprung ans Ende des Universums denkbar, wobei dieses Ende auch hier, da sich die Erde in irgendwelchen verlassenen Randbezirken befindet, das Zentrum der Welt ist. Doch dieser Mittelpunkt, dem Adrian Leverkühn sich gedanklich annähert, ist zugleich, gemäß der Theorie des »explodierenden Weltalls«, 13 Zentrum der ewigen Weltkatastrophe. Die Welt ist nichts Räumliches mehr, in dem dan sich reisend bewegen könnte, um in ihrem räumlichen ihr zeitliches Ende metaphorisch zu demonstrieren, sondern sie ist eine »Weltveranstaltung«14 mit apokalyptischem Ausgang, sie existiert nur als ein Prozeß des Scheiterns, als eine Reise an ihr eigenes Ende. Mit einer solchen Identifizierung von Welt und Untergang dürfte zugleich die letztmögliche Form literarischer Apokalyptik erreicht sein.

11 12 13 14

Mann, Mann, Mann, Mann,

Doktor Faustus, S. 355; vgl. S. 358. a.a.O., S. 357. a.a.O., S. 363. ebd.

ERSTER TEIL

DIE REISE ANS ENDE DER WELT

I. Der Prozeß des Scheiterns

a. Der bestrafte Shackleton i. Aus dem bislang noch wenig beachteten Prosawerk Georg Heyms treten einige Erzählungen durch Ähnlichkeit der Themenwahl und Gemeinsamkeit der Erzählstruktur als eigenständige Gruppe hervor. Es handelt sich um die in Heyms Novellenbuch >Der Dieb< publizierte Erzählung >Das Schiff< und um die nachgelassenen Prosatexte >Die BleistadtDie Südpolfahrer< und >Das Tagebuch ShackletonsDas Schiff < beginnt nach dem Muster des Abenteuerromans. Auf einem Korallenschiff bricht die Pest aus und vernichtet nach und nach die gesamte Mannschaft. Dem am längsten Uberlebenden aber wird vor seinem Tod alptraumartig die furchtbare Gewißheit zuteil, daß die Pest keine unpersönliche Naturmacht ist, sondern eine »alte Frau in einem schwarzen altmodischen Kleid«. 2 Der Boden der Wirklichkeit wird verlassen, und schließlich mündet die deliriöse Halluzination des Sterbenden in den Mythos ein. Das Totenschiff, das die Erinnerung an den >Fliegenden Holländer wachruft, erhebt sich aus dem schwarzen Meer. »Ein fahles Loch tat sich auf in den Wolken. Und das Schiff fuhr geradewegs hinein in die schreckliche Helle.« 3 Die Erzählung von der >Bleistadt< gestaltet den Dreischritt wirklich halluzinatorisch - mythisch wesentlich differenzierter. Menschen schleppen sich auf einer ziellosen Wanderung durch die arabische Wüste, sie suchen 1

2 8

Georg Heym, Tagebücher - Träume - Briefe. Dichtungen und Schriften, Bd. III, S . 2 J 3 . Heym, Das Schiff. In: Dichtungen und Schriften, Bd. II, S.62L Heym, a.a.O., S. 64.

11

»das letzte Geheimnis des schwarzen Kontinents«.4 Der Bericht setzt am Höhepunkt der halluzinatorischen Phase ein: Von Geräuschen und Bildern genarrt, von entsetzlichen Träumen geplagt, verlieren die Wanderer immer mehr das Bewußtsein. Erinnerungen verwischen sich, ihre Namen haben sie vergessen, die Sprache verfällt. Da treffen sie auf die Bleistadt. Aber sie ist von einem »unsichtbaren Wall von Zaubereien«5 umgeben, der undurchdringbar ist. Hier, an der Grenze zum mythischen Bereich, bricht der Text ab. Daß ein Fortgang möglich wäre, wird nur angedeutet. Der Text schließt mit dem Satz: »Sie hören einen Wagen rollen, sie sehen Pferde«. 6 Mehr hat Heym vom Geheimnis der Bleistadt nicht verraten. Man ist deshalb auf »Das Tagebuch Shackletons< angewiesen, um zu erfahren, was jenseits der schrecklichen Helle und des magischen Schutzwalls zu finden ist. In diesem Text legte Heym dem Thema Südpolexpedition, das audi Gegenstand des Fragments >Die Südpolfahrer< ist, eine literarische Vorlage zugrunde, die tatsächlichen Tagebuchberichte des Sir Ernest Shackleton. Heym muß sie gelesen haben. Seine Quelle war vermutlich der erste Band von Shackletons Werk >21 Meilen vom Südpol. Die Geschichte der historischen Südpol-Expedition iTagebuch< als Skorpion eingegangen zu sein scheint. (Die Datierung dieser Träume spricht f ü r eine Abfassungszeit des >Tagebuchs< gegen Ende des Jahres 1 9 1 1 ) . Ein reines Phantasieprodukt schließlich scheint die voluminöse Geheimformel des Jogi Tankah Pankah zu sein, mit der eine Veränderung des Bewußtseins, das »Golemisieren«, möglich sein soll:

Und doch hat H e y m in dieser Formel einen Sinn versteckt. In richtiger Reihenfolge gelesen bilden die Buchstaben einen verständlichen Satz: Om mani padme hum = Du Kleinod in der Lotosblüte - die alte buddhistische Gebets- und Beschwörungsformel. (Den Herausgebern der Werke Heyms scheint hier ein Lesefehler unterlaufen zu sein. 11 ) So vorbereitet nun zum eigentlichen Anliegen des Vorworts, der »Golemisierung« Shackletons und seiner Begleiter durch am Südpol wohnende 10 11

Heym, Dichtungen und Schriften, Bd. III, S. 189. Vgl. Heym, Das Tagebuch Shackletons, a.a.O., S. 126. [fehlerhafte Wiedergabe]

13

»übermenschliche Intelligenzen«.18 Wie Heym mit dem Golem-Thema in Berührung kam, ist nicht zu ermitteln. Der berühmte Roman Meyrinks ist ja vier Jahre später entstanden als das >TagebuchGolem< von Arthur Holitscher gelesen. Wahrscheinlicher ist, daß der aus kabbalistischer und okkulter Tradition stammende Golem schon in den Randzonen der neuromantischen Literatur auftauchte. Hanns Heinz Ewers, den Heym kannte,13 könnte ein Vermittler gewesen sein. Die wichtigste Funktion der Vorbemerkungen Hannawackers über das Golemisieren ist, dem Leser der >TagebuchTagebuch< setzt mit Beginn der halluzinatorischen Phase ein. An die Stelle der Außenwelt, die nur noch eine unbelebte Eiswüste ist, treten, »wie eine Art Gift von innen heraus, Scharen seltsamer Gedanken«, 14 die nicht mehr als normale Wunschphatasien verstanden werden können, sondern aus anderen seelischen Bereichen stammen, durch »plötzlich erwachte atavistische Instinkte« gesteuert werden. 15 Die fortschreitende Reduktion alles Organischen bleibt nicht auf die Umwelt beschränkt. Im gleichen Maß nimmt auch die psychische Energie der Wandernden ab. Es ist ihnen, als versänken sie in einem bodenlosen Schacht, und Shackleton fürchtet, nur als »lebendige Abstraktionen« würden sie schließlich den Pol erreichen.16 Der große Umschwung setzt ein mit der Entdeckung, daß plötzlich zum Pol hin die Kälte wieder abnimmt. Nach dem Durchdringen einer Nebelwand befindet sich die Expedition unverhofft in einem vegetationsreichen Gebiet; ein neues Land ist entdeckt, das Geheimnis des Südpols beginnt sich zu lüften. Die anfängliche Erwartung der Wanderer, am Pol eine vergessene Urlandschaft zu finden, erfüllt sich nicht. Statt dessen erblickt man, als der Nebel sich teilt, vom Rand eines riesigen Talkessels aus eine sonnenüberstrahlte Landschaft »und etwas, das wie gewaltige 12 13 14 15 le

14

Heym, a.a.O., S. 124. Vgl. Heym, Dichtungen und Schriften, Bd. III, S. 229. Heym, Das Tagebuch Shackletons, a.a.O., S. 1 3 3 . Heym, ebd. Heym, a.a.O., S. 134.

Städte aussieht, an glänzenden Strömen, getürmt, die Paradiese des Südpols [ . . .]«, 17 bevölkert von menschenähnlichen Wesen. An dieser Stelle geht das Halluzinatorische ins Mythische über; Heym bietet eine neue Variation des sehr alten Mythos vom Reich am Pol. Die diktatorische Phantasie hat dem historischen Scheitern zum Trotz die Entdeckung des wahrhaft Unerhörten in der Dichtung etabliert. 2. Heyms Interesse an der Erforschung der Erdpole hat schon recht früh eingesetzt. Am 13. August 1907 notiert er in seinem Tagebuch: Wie wäre es?: im Jahre 1907 bezwang der Mensdi die Erde unter seinen Fuß, indem er ihm dem Nordpol aufsetzte. Und: im selben Jahr bezwang der Mensch das Luftreich, indem er die Gewalt des Sturms zerbrach. Diese Taten in dem Buch der Menschheit verzeichnet, würden wohl das Jahrhundert über viele seiner Schwestern erhöhen. Nur daß die Möglichkeit, seine Träume in die Tat umzusetzen, heut viel schwerer ist, als sie's den Männern jener Tage war. 1 8

Hier ist eine Motivation des Interesses deutlich herauszuhören: die Begeisterung für echte Taten, die in das vielberedete Verlangen der frühexpressionistischen Generation nach Ausbruch aus der wilhelminischen Stagnation einmündete. Ein anderer, wesentlich nüchternerer Grund für die literarische Verarbeitung dieses Themas kam hinzu: In dem erwähnten Brief an Rowohlt preist Heym seine Expeditionserzählungen als »außerordentlich wirksame Themata« 19 an, was bei dem damals fieberhaften Endkampf um die letzten weißen Flecken der Landkarte — 1908 hatte Peary den Nordpol erreicht, im Winter 1 9 1 1 / 1 2 fand der Wettlauf Amundsens und Scotts zum Südpol statt - sicher richtig war. Ein Blick auf Heyms Gesamtwerk gibt wertvolle Hinweise für eine mögliche Interpretation, macht diese aber zunächst merklich schwieriger. Im Juni 1 9 1 1 , also während der Abfassung der Südpol-Texte, entstand das von einem Leichenzug handelnde Gedicht >BegräbnisDie Stadt der QualTagebuch Shackletons< einen Einfall Dantes aus dem vorletzten, dem Aufenthaltsort Luzifers im Mittelpunkt der Erde vorgelagerten Raum des neunten Höllenkreises. Nachdem Dante die Region des ewigen Eises durchschritten hat, trifft er zu seiner Überraschung auf die Seelen von Menschen, denen er soeben noch auf der Erdoberfläche begegnet war. Man erklärt ihm das Geheimnis: sappie die tosto che l'anima trade come fee' io, il corpo suo 1' e tolto da un demonio, die poscia il governa mentre che il tempo suo tutto sia volto. Ella ruina in si fatta cisterna; [...]»

Der hier beschriebene Vorgang ist nichts anderes als die Golemisierung, der Shackleton samt seinen Begleitern erliegt. Denn auch ihre Seelen bleiben in den Eisregionen zurück, »e in corpo par vivo ancor di sopa«.36 So gesehen, zieht Shackletons Reise zum Pol den Weg Dantes durch den zweiten und dritten Ring des neunten Kreises der Hölle nach und übersetzt ihn auf eine andere literarische Ebene. Der vierte und letzte Ring, die Wohnung des riesenhaften Satans, die vielleicht im Gedicht >Begräbnis< andeutungsweise erscheint, wird hier nicht betreten. Wir werden ihr aber andernorts wiederbegegnen. Hat sich durch diesen Vergleich der Eindruck verstärkt, es handle sich beim >Tagebuch Shackleton< um eine Hades- oder Höllenfahrt, so wird er durch ein weiteres Textzeugnis bestätigt und gleichzeitig korrigiert. In dem zwischen November 1909 und Januar 1910 entstandenen >Gesang der Toten< läßt Heym die Verstorbenen einem Neuankömmling oder einem lebenden Besucher berichten, daß »Südlands weite Auen«37 ihre Heimat seien. Sie beschreiben ihre einstige Suche nach diesem Land als eine Reise zum Südpol, vergleichbar der Ausfahrt Shackletons, Doch während der Beschreibung dieser Reise verändert sich allmählich die Szenerie. Nicht mehr von weiten Gefilden ist hier die Rede, sondern von einem Abgrund am Pol:

34 85 36 37

Heym, Dante, Dante, Heym,

a.a.O., S. 4 7 3 . - Dante, Inferno X X X I I , 19. Inferno X X X I I I , 1 2 9 - 1 3 3 . Inferno X X X I I I , i j 7 . Gesang der Toten. In: Dichtungen und Schriften, Bd. I, S. 7 1 6 .

17

Endlich kamen wir zum Rande. Brausend gähnte auf der Schlund. Welten kamen hier zustande, Frierend vor dem hohlen Grund. Jahre schien er sidi zu tiefen, Jahre in die Ewigkeit: Alte Götter drunten schliefen, Die geherrscht vor mancher Zeit. 38

Aber jenseits des Strudels zeichnet sich eines »neuen Weltalls Küste«3" ab; ein Land, das nicht mehr nur von Gestalten aus dem antiken Hades, sondern auch von solchen der germanischen Mythologie bevölkert ist. Man könnte meinen, Heym wolle in diesen Versen nur einen Reigen mythischer Bilder und Anspielungen vorführen, in dem der Chorgesang der Toten rauschend ausklingt. Aber die Gestalten sind nicht zufällig gewählt, und mit der Ineinanderschachtelung antiker und germanischer Mythologie wird ein bestimmter Zweck verfolgt. Denn während die antiken Anspielungen die Vorstellung des Totenreichs wachrufen, verschieben die germanischen den Akzent zum Eschatologischen hin. Die Toten treffen auf die Weltenesche Yggdrasil und sehen der Existenz aufs Äußerste gefährdet: Über Mimirs weisem Born Sahn w i r ihre Hoheit ragen, Doch am Fuß mit wildem Zorn Mäuse ihre Wurzeln nagen. 40

Die Szene ist eindeutig: Mit der Zerstörung der Weltenesche erreicht die germanische Götterdämmerung ihren Höhepunkt; sie zieht den Weltuntergang nach sich, mit dessen Beschreibung die Totenfahrt schließt: O, wie lang sie wohl noch stehet? Wenn sie einst im Sturze kracht, Muß das Weltall audi vergehen, Stürzen in die ew'ge N a d i t Und es steigt aus tiefem Traum auf der alten Götter Pracht. Braust heran des Chaos Macht, N e u erwacht. 41

Das Einmünden des Südpolberichts in eine ausgeprägt apokalyptische Bilderwelt scheint das Gedicht grundlegend vom >Tagebuch Shackletons< zu unterscheiden. Das Ergebnis stellt uns vor die Aufgabe, nach Gründen für die ungewöhnliche Zusammenstellung zu suchen und den Text des 38 38 40 41

18

Heym, Heym, Heym, Heym,

a.a.O., S. 7 3 1 . ebd. a.a.O., S. 7 3 2 . ebd.

Reisetagebuchs daraufhin zu überprüfen, ob ihm ein verborgenes, von außen her zu erschließendes apokalyptisches Schema zugrundeliegt. Nicht unerwähnt bleiben darf schließlich eine kleine, 1 9 1 1 entstandene >Skizze< aus den nachgelassenen Schriften Heyms. In der phantastischtraumhaften Diktion des Vorworts zum Shackleton-Tagebuch beschreibt Heym dort seine Gespräche mit einem »Wolkenwalfisch«42 aus dem »Schnee-Meer«43 des Himmels. Man unterhält sich »in der Furchi jorchu Sprache, die die Menschen mit den weißen Mausköpfen sprechen, dort oben in den unentdeckten Eispalmenhainen der Insel Boothia-Felix«. 44 Das bedrückende Totenland hat sich aufgelöst in ein heiter-bizarres Wolkengebilde. Seine Beziehung zum Pol wird nicht nur durch die Schneeund Eisassoziationen hergestellt; denn diese Insel Boothia-Felix, die ihren Namen wiederum einer mythologischen Anspielung verdankt - Bootes ist mit Arcturus identisch, dem Herrn des Himmelspols, als dessen Zeichen der Polarstern gilt - , existiert wirklich: sie ist der 1831 entdeckte Ort des magnetischen Nordpols am äußersten Ende von Kanada. Die antarktische Szenerie ist hier also an den nordpolaren Himmel projiziert. Die Bewohner des Traumlands sind kaum als Tote zu verstehen. Ihr groteskes Aussehen haben sie eher mit den Antipodenvölkern in den barocken Entdeckerromanen gemeinsam, und der Glückszustand, in dem sie sich offenbar befinden, läßt sie als Verwandte der Hyperboreer erscheine, jenes sagenhaften Volkse, das hinter der Wohnstätte des Boreas, also gleichsam jenseits von Eis und Nordpol wohnt. Heym hat hier ein Gegenbild gezeichnet zu seinen sonst so trostlosen Polreichen. Die Projizierung auf die Himmelsgeographie zeigt nicht nur an, daß die mit dem Bild der glücklichen Insel verbundene Hoffnung weitaus schwächer und irrealer ist als die das Bild vom gefährlichen Polreich suggerierende Angst. Sie schlägt auch eine Brücke vom Vorgang der Polexpedition zu dem der Himmelsreise, verknüpft das Polthema mit dem der Science-fiction. Heyms Werk läßt drei aufschlußreiche Berührungspunkte mit diesem Genre erkennen. Ein kleiner Prosatext, dessen Entstehung sich eng an die des >Tagebuchs< anschließt, berichtet von der Fahrt eines Liebespaares zu den »unzähligen goldenen Inseln der Planeten«.45 Wieder zeigt sich eine apokalyptische Implikation; die Fahrt findet nach dem Weltuntergang statt: »Die Welt ist fort. Sie ist versunken, vielleicht 42 43 44 45

Heym, Heym, Heym, Heym, S. 1 4 5 .

Skizzen. In: Diditungen Schriften, Bd. II, S. 1 5 7 . ebd. ebd. der Höhenmesser z e i g t e . . . In: Diditungen und Schriften, Bd. II,

19

hat sie ein Komet fortgerissen«. 48 Doch wie bei der Shackletonmannschaft schlägt auch hier die Hoffnungsvorstellung von »neuen Ländern, neuen Geheimnissen, über paradiesischen Küsten, jenseits der ewigen Nacht« 47 um in ein tödliches Erwachen. Der direkt auf das >Tagebuch< folgende >Besuch des Marsmenschen< zeigt die gleiche Enttäuschung weniger grausam. Dort hat H e y m das Reiseschema umgekehrt; der einsam wachende Astronom erwartet die A n k u n f t des ersten Wesens vom fernen Mars in der Hoffnung, jetzt werde die Weltgeschichte einen anderen Verlauf nehmen. N u r erscheint weder ein mauseköpfiger Boothier noch ein paradiesischer Ubermensch, sondern »sanft, groß und schwermütig, ein zweiter O t t o der Faule der Siegesallee«. 48 Das Geheimnisvolle löst sich in Banalität auf, die Auswegslosigkeit des banalen Weltzustands erneut dokumentierend. Dieses enttäuschende Ergebnis entwertet eine Haltung, die H e y m in einem Jugendgedicht vom Oktober 1904 mit Lob und Anerkennung bedacht hatte. >Der A l t e vom Berge< mit seinem »unerschütterlichen Glauben / A n das Ideal« 49 einer zu paradiesischen Verhältnissen führenden kosmischen Verbrüderung zwischen Menschen und Marsbewohnern ist mit dem Astronom des Prosatextes identisch. Hier hat die wahnwitzige H o f f nung noch Aussicht auf Belohnung. Wir können den »großen Tag, w o zwei Planeten sich verbrüdern«, 50 sogar recht genau bestimmen; es handelt sich um einen 11. Dezember. A n diesem T a g nämlich sollte der zukunftsträchtige Pakt zwischen Erde und Mars besiegelt werden nach dem Willen eines Buches, das H e y m offenbar als Anregung gedient hat: K u r d Lasswitz' einst hochberühmter Roman >Auf zwei Planeten< (1897), dessen Hauptperson ebenso wie der A l t e vom Berge ein Leben lang auf die A n k u n f t der kosmischen Brüder gewartet hat. Die Wahrscheinlichkeit, daß dieser Roman auf Heyms eigene Arbeit Einfluß hatte, ist deshalb so groß, weil er den Zusammenhang von Pol und Weltraumfahrt in ganz eigentümlicher Weise zum Gegenstand hat. Lasswitz läßt die Entdeckung der zur Erde abgestiegenen außer- und überirdischen Wesen durch eine Polarexpedition erfolgen - eine Verbindung, die H e y m offensichtlich auch deshalb zur Entfaltung gereizt hat, weil sie mehr als eine Kompilation zweier publikumswirksamer Themata sein will. Lasswitz hat den Pol mit Eigenschaften ausgestattet, die ihn zur einzig möglichen Kontaktstelle zwischen irdischem und außerirdischem Bereich machen. N u r dort können die fremden Wesen auf Grund ihrer 46 47 48 49 50

20

Heym, Heym, Heym, Heym, Heym,

ebd. a.a.O., S. 146. a.a.O., S. 14J. Der Alte vom Berge. In: Dichtungen und Schriften, Bd. I, S. 566. ebd.

besonderen physischen Natur landen; das heißt, nur dort herrschen Bindungen, die dem Ungeheuerlichen, dem schlechthin Neuen und Fremden seinen Einbruch in die diesseitigen Bezirke gestattet. Diese Eigenartigkeit aber ist doppelsinnig zu verstehen; der Leser muß, wie es einmal heißt, eine »Übertragung physikalischer Wertungen auf moralische«51 vornehmen. Dann vermag er am Pol eine Art metaphysisches Prinzip abzulesen: D e r P o l ist ein Unstetigkeitspunkt. Prinzipien gelten unter der Voraussetzung, daß die Bedingungen bestehen, f ü r die sie aufgestellt sind, v o r allem die Stetigkeit der R a u m - und Zeitbestimmung. A m Pol sind alle Bedingungen aufgehoben. H i e r gibt es keine Himmelsrichtungen. H i e r gibt es auch keine Tageszeit. H i e r gelten also entweder alle G r u n d s ä t z e zusammen oder gar keine. E s ist der vollständige Indifferenzpunkt aller Bestimmungen erreicht, das Ideal der Parteilosigkeit. 5 2

In diesem Sinn ist der Pol den Menschen ein Mahnmal, das sie erst recht verstehen, als die polaren Marsmenschen sich anschicken, sie wegen ihrer dem Neuen und Besseren abgeneigten Haltung zu vernichten. Mag diese philosophische Uberbauung des Trivialromans auch ungeschickt und verquält sein; mag ihre vordergründige Verbrüderungs- und Indifferenzideologie zumindest den Heym von 1 9 1 1 abgestoßen und zu seiner spöttischen Vision von Otto dem Faulen geführt haben. Die zerstörerische Macht der Polarwesen des Shackleton-Tagebuchs jedenfalls, die apokalyptische Implikation einer Begegnung mit ihnen hat er hier vorgefunden und in seinem Sinne wiederum für einen Gegenentwurf zu nutzen gewußt. 3. Die Analyse des literarisch-historischen Horizonts der Südpolfahrertexte verspricht Aufschlüsse über die merkwürdige Vorliebe Heyms für die geographischen Enden der Erde und deren Verbindung mit apokalyptischen Vorstellungen. Doch man würde wohl Mühe haben, einen solchen philologischen Aufwand für einen in Vergessenheit geratenen, kaum als besonders gelungen zu bezeichnenden expressionistischen Text wie das >Tagebuch Shackletons< zu rechtfertigen, stünde er in der literarischen Landschaft ganz vereinzelt da. Doch Heym war nicht der einzige Dichter seiner Generation, den der Expeditionsbericht des glücklosen Shackleton beschäftigt hat. Das verbürgt eine Notiz T. S. Eliots, derzufolge ein Abschnitt seines Poems >The Waste Land< (1922) angeregt worden ist durch die Lektüre von Shackletons antarktischen Reiseprotokollen.53 Und hier wird das Schicksal des Polsuchers in einem allusiven Verfahren mit solch fundamentalen und exemplarischen Verarbeitungen des literarischen Themas Reise in Beziehung gesetzt und dadurch mit kryptischen Sinnschichten 51 52 58

Kurd Lasswitz, Auf zwei Planeten, S. 7. Lasswitz, a.a.O., S. 7. T. S. Eliot, The Waste Land. In: Collected Poems, S. 8$. 21

angereichert, daß eine das individuelle und punktuelle Interesse am Stoff weit übersteigene Bedeutung des Themas und damit eine subtile Untersuchung gerechtfertigt erscheint. An den - vom historischen Shackleton als selbstverständlich hingenommenen - irritierenden psychischen Veränderungen auf dem Weg zum Pol, die Heym als Fixierungspunkt der polaren Novitäten dienten, setzt auch Eliots Interesse an. Das plötzliche und erschreckende Gefühl, nicht mehr allein zu sein, oder, von Heym her gesehen, unter Einfluß und Führung eines Unbekannten zu stehen, findet Eliot im neutestamentlichen Bericht vom Gang der zwei Jünger nach Emmaus figural vorgebildet. Doch nur der Weg nach Emmaus erscheint in >The Waste LandInferno< breiten Raum gegeben, sie wurde von Pound gestrichen. Aber die Erinnerung an diesen mißglückten Versuch des Ulysses, zu erfahren, was hinter den Säulen des Herkules ist, wirkt in der endgültigen Fassung nach. Der Tod des Phlebas, des Phöniziers, im vierten Teil von >Waste Land< beschrieben, ist dem Schicksal des Ulysses nachgestaltet: A current under sea Picked his bones in whispers. A s he rose and fell H e passed the stages of his age and youth Entering the whirlpool. 54

Das Bemühen um Erkenntnis wird bei Phlebas, der mit allen anderen Gestalten des Gedichts identisch ist, zum erfolglosen Bemühen um psychische Initation, der Mahlstrom zum Negativ eines Getauftwerdens. Und hinzu tritt das Scheitern jenes Gralssuchers, Fischer-Königs, um den das ganze Gedicht kreist. Er findet das pleromatische Symbol, die Vollendung nicht, seine Ausfahrt endet in der >Gefährlichen KapelleThe Narrative of Arthur Gordon Pym< (1838) heraus entwickelt worden. 72 73

Edgar Allan Poe, M S . Found in a Bottle. In: Complete Works, Bd. II, S. I J . Dante, Inferno X X V I , n j - 1 1 7 . - Vgl. Poe, Pinakidia. In: Complete Works, Bd. X I V , S . 4 3 . 2

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Diese Tatsache wurde bisher wohl deshalb übersehen, weil man es unterlassen hat, Heyms Werk auf Verbindungen zu Poe hin zu untersuchen, obwohl er bereits 191 ζ von Pinthus als »Inkarnation«,74 von Stadler als »Bruder«75 Poes bezeichnet worden ist. Ein Blick auf Heyms Lyrik schafft schon einige Sicherheit: Im südpolaren >Gesang der Toten< erscheint der Refrain aus Poes berühmtem Gedicht >The Raven< in direkter Übersetzung, ebenfalls refrainartig gebraucht und in Anführungszeichen gesetzt: »Nevermore«78 — »Niemals mehr«.77 In demselben Gedicht wird der brausende Wirbel am Pol eingeführt, der im >Tod der Liebenden< (November 1910) sogar seine originale Bezeichnung »Maelstrom«78 erhält (allerdings nur in der ersten Fassung des Gedichts; später hat Heym, wohl um die direkte literarische Anspielung zu vermeiden, das Wort wieder getilgt). Zu diesen punktuellen Übereinstimmungen tritt nun die Verwandtschaft des Shackleton-Tagebuchs und der Pym-Erzählung. Sie äußert sich deutlicher noch als in der Tagebuchform in der Rahmung durch einen fiktiven Herausgeber mit seinen vorgeblich wissenschaftlichen, geheimnisvolle Einzelheiten des Erzählten scheinbar aufklärenden Bemerkungen. Am wichtigsten jedoch sind einige direkte Ubereinstimmungen zwischen beiden Texten, die zudem an für die Interpretation entscheidender Stelle stehen: Heym gibt den vom echten Shackleton erwähnten Willensschwächen, die auch Eliots Aufmerksamkeit erregten, einen Anstrich des Seltsamen und Unheimlichen und löst am Ende das Rätsel mit dem Hinweis, die Expedition sei beim Auftreten dieser Erscheinungen in den Bannkreis eines »psychischen Walles«79 geraten. Die gleiche geheimnisvolle Einwirkung auf seinen Gemütszustand erfährt auch Pym, und zwar an der gleichen Stelle im Verlauf der letzten Annäherung an den Pol. Er notiert sich: »I felt a numbness of body and mind — a dreaminess of sensation«;80 »there came over me a sudden listlessness«.81 Das entspricht fast wörtlich den Erfahrungen des fiktiven Shackleton. Neben dieser psychischen Erscheinung, mit der die halluzinatorische Phase einsetzt, steht an deren Höhepunkt ein optisches Phänomen. Heyms Tagebuchautor berichtet: »Dann verschwand langsam das Blau des Himmels unter einer grauen 74

75 76 77 78

79 80 81

28

Kurt Pinthus, In memoriam Georg Heym. In: Heym, Dichtungen und Schriften, Bd. VI, S. 102. Ernst Stadler, >Der ewige Tag< (Rez.). In: Heym, a.a.O., S. 238. Poe, The Raven. In: Complete Works, Bd. V I I , S.97. Heym, Gesang der Toten, a.a.O., S. 717. Heym, Der Tod der Liebenden im Meer. In: Dichtungen und Schriften, Bd. I, S. i y i . Heym, Das Tagebuch Shaddetons, a.a.O., S. 132. Poe, Narrative of Arthur Gordon Pym. In: Complete Works, Bd. III, S. 240. Poe, a.a.O., S. 241.

Dunstschicht und die Berge, die uns als Markzeichen gedient hatten, versanken in das graue Einerlei der heraufziehenden Nebelwand«. 82 Pym bemerkt zu Beginn des letzten Abschnitts seiner Fahrt als ungewöhnliches Anzeichen: »A high range of light gray vapor appeared constantly in the southern horizon.« 83 Auch er gerät allmählich immer näher an diese Wand, von der es am Ende heißt: »The range of vapor to the southward had arisen prodigiously in the horizon [ . . . ] . The gigantic curtain ranged along the whole extent of the southern horizon.« 84 Schließlich spielt in beiden Tagebüchern das Stichwort Absturz eine zentrale Rolle. Shackleton bezeichnet mit ihm den Abstieg in die Tiefe des Polreiches,85 der den Wanderern ihren ersten Eindruck von den Paradiesen des Südpols als Illusion entlarvt. Eine ähnliche Veränderung ergibt sich für Pym, den ein tatsächlicher Absturz aus den zunächst für paradiesisch gehaltenen Regionen der polaren Insel Tsalal in eine chaotische Urweltlandschaft (sie taucht bei Shackleton in Form einer flüchtigen Erwartung auf) versetzt und den letzten Abschnitt seiner Reise einleitet. Beide Begebenheiten sind nach dem Muster eines sdiockartigen Desillusionierungsvorgangs gestaltet und stimmen überein bis auf einen wesentlichen Unterschied: In Poes Roman schließt der Sturz den Aufenthalt des Helden im Polarreich ab; bei Heym hingegen, der den letzten Akt der Reise Pyms, die Fahrt in den Strudel, nicht übernommen hat, leitet der Abstieg die Ereignisse im Polreich ein. Man könnte hier von einer Art Phasenverschieb u n g sprechen, die vielleicht mit einem zweiten Unterschied zusammenhängt. Pym charakterisiert nämlich die seinen Aufenthalt in Tsalal beendenden Ereignissen mit zwei dem Wortschatz der Apokalyptik entnommenen Redewendungen. Er hat das Gefühl, »that the whole foundations of the solid globe were suddenly rent asunder, and that the day of universal dissolution was at hand«. 86 Nach seiner vorläufigen Rettung hingegen schreibt er: »I felt a new being.«87 Heym hat diese Übertragung auf das apokalyptische Schema von Weltuntergang und Wiedergeburt ebensowenig in das >Tagebuch< übernommen wie seine eigene frühere Verbindung von Polreise und Weltuntergang im >Gesang der TotenTagebuchs< selbst, indem die Situation der Polsucher nach ihrer Golemsierung mit dem Warten auf das »Ende der Dinge« verglichen 82 84 88

Heym, a.a.O., S. 135. Poe, a.a.O., S. 241. Poe, a.a.O., S. 203.

83 85 87

Poe, a.a.O., S. 238. Heym, a.a.O., S. 139. Poe, a.a.O., S. 230.

wird; 88 ähnlich spricht auch der Text der >Südpolfahrer< vom »jüngsten Tage«. 80 Am auffälligsten jedoch ist das Fehlen jener Gestalt in Heyms Südpolprosa, die in Poes Roman den Ubergang in den mythischen Bereich signalisiert. Pyms Bericht von der Fahrt in den südpolaren Katarakt bricht ab mit dem Satz: »But there arose in our pathway a shrouded human figure, very f a r larger in its proportions than any dweller among men. And the hue of the skin of the figure was of the perfect whiteness of the snow.« 90 Das Rätsel um diese Gestalt ist bis heute ungelöst. Wie Heym sie verstanden hat, ist jedoch durch einen Blick auf das dem >Tagebuch Shackletons< vorgelagerte Gedicht >Begräbnis< erschließbar. Wenn er den Μέγας bewußt am Südpol residieren läßt, dann wird er wohl nicht nur an Dantes >Inferno< gedacht haben. Dazu ist auch die Ähnlichkeit von Pyms Bericht und Dantes Beschreibung des letzten Rings im neunten Höllenkreis viel zu frappierend. Die nebelartige Wand richtet sich schon vor Dante auf, dem diese Erscheinungen »come quando una grossa nebbia spira« 91 rückblickend wie Fahnen vor Satans Thron vorkommen. Denn dieser erhebt sich hinter der Nebelwand, als eine undefinierbare, alles Menschenmaß übersteigende Riesengestalt inmitten des Eises: L o 'mperador del doloroso regno da mezzo il petto uscia fuor della ghiaccia; e piu con un gigante non fan con le sue braccia

Vielleicht hat sich auch Poe an diesen Versen orientiert. Fest steht immerhin, daß Dantes Hadesreise das literarische Modell seiner zum Themenkreis Polreise gehörenden Erzählung >A Descent into the Maelström< ( 1 8 4 1 ) abgegeben hat, da er den Wasserwirbel mit »the howling Phlegeton« 93 identifiziert und den Erzähler mit Zügen Dantes ausstattet.94 Das würde die fundamentale Bedeutung der >Divina Commedia< f ü r die Gesamtthematik noch erhöhen. 2. Das Tagebuch Pyms, dem die Polarreisen von >MS. Found in a Bottle< ( 1 8 3 3 ) und >A Descent into the Maelström< zur Seite zu stellen sind, entstand über sieben Jahrzehnte v o r der tatsächlichen Entdeckung 88 89 90 91 92 98 94



Heym, Das Tagebuch Shaddetons, a.a.O., S. 142. Heym, Die Südpolfahrer. In: Dichtungen und Schriften, Bd. II, S. 1 2 2 . Poe, a.a.O., S. 243. Dante, Inferno X X X I V , 3. Dante, Inferno X X X I V , 2 8 - 3 1 . Poe, A Descent into the Maelstrom. In: Complete Works, Bd. II, S. 2 3 1 . Vgl. Gerard M.Sweeney, Beauty and Truth. In: Poe Studies 6 ( 1 9 7 3 ) H . 1, S. 2 j f .

der Pole. Dennoch liegt diesen Geschichten das Wissen zugrunde, daß das Unerhörte und Unbekannte, die wahre terra incognita, am Pol nicht existiert. »Alas! the days of desolate islands are no more! [ . . . ] Wo, henceforward, to the Defoe who shall prate to us of undiscovered bournes [.. .].« 85 Insofern ist die Situation von 1838 identisch mit der von 1908, wo die Erstürmung der Pole nurmehr eine Sache der Zeit und der Ausdauer geworden war. Dantes Ulysses-Episode war ein echter Vorgriff auf die Zukunft gewesen, unternommen mit Hilfe der Imagination. Im Zeitalter Bacons hatte die Praxis die Stelle der Imagination eingenommen, indem man die ersten Entdeckungen unbekannter Länder als Garantie für weitere Möglichkeiten in dieser Richtung verstand, ja sogar eine Verpflichtung zum Weitersuchen daraus ableitete. Jetzt kehrt Poe wieder zur Imagination zurück, aber diese hat ihren versichernden Charakter vollkommen verloren. Sie erscheint als krankhafte Einbildungskraft und verdrängt die vernunftgemäße Erwartung. An die Stelle der aus der Praxis ableitbaren Theorie, des Schließens vom Bekannten auf das noch Unbekannte, tritt »a supposition apparently so wild«,96 eine verwilderte Hypothese, die traumhafte Gestalt annimmt. Die Suche nach dem Pol hat damit bei Poe wieder die Züge einer losgelösten und darum zum Untergang führenden, weder durch die Praxis noch durch eine initiatorische Gnade legitimierten >curiositas< bekommen. Als Petrarca die Gefahr des Selbstverlustes erkannte, die ihm bei der Besteigung des Mont Ventoux oder beim Forschen nach dem arktischen Thüle entgegentrat, rettete er sich auf den Weg nach innen, der ihm Selbsterkenntnis verhieß. Genau diese Abkehrbewegung macht auch Poe, nur begründet er sie nicht mehr mit der Übermächtigkeit des Weltaspekts, sondern mit dessen Verblassen zur Bedeutungslosigkeit. Arthur Gordon Pym beschreibt seinen Rückzug aus der realen Welt, seine Reise vollzieht sich - ebenso wie die des Shadkleton Heyms - im Sinne des augustinischen >ascensus< zum inneren Pol. Nur bringt dieser >ascensus< nicht Selbstvergewisserung, sondern die Ablösung des Realen durch das Halluzinatorische, das einem zum >spleen< veränderten petrarcischen Eingedenksein entspringt. Somit erweist sich der >spleen< als Folge der Verbindung von >memoria< und >curiositascuriositas< als Weltneugierde die zerstörerische Kraft der Welt gegen sich aufgerufen hatte, so führt sie jetzt zum Sichverlieren und Scheitern in den Bezirken der Seele. Bei Poe beginnt der als echter Geheimnisträger uninteressant gewordene Pol zum Ort der >Seelenlandschaft< zu werden — nicht expressiv verbis, aber doch schon spürbar in der Art der Schilderung, andeutungs95 98

Poe, Daniel Defoe (Rez.). In: Complete Works, Bd. VIII, S. 169. Poe, MS. Found in a Bottle, a.a.O., S. 14.

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weise auch in den Gedichten: Mit »Psyche«" wandert das lyrische Ich in >Ulalume< (1847) durch ein polares Chaos: These were days when my heart was volcanic A s the soriac rivers that roll A s the lavas that restlessly roll Their sulphurous currents down Yaanek In the ultimate climes of the pole That groan as they roll down Mount Yaanek In the realms of the boreal pole.® 8

Der antarktische Bezirk des Yaanek, der heute Mount Erebus heißt, wird zum >DreamlandKosmiker< A l f r e d Mombert und Theodor Däubler. b. Die Botschaft des Nordlichts ι . Zu den wichtigsten Anwendungsmöglichkeiten der Reisemetapher oder des literarischen Schemas der imaginären Reise gehört die Verdoppelung. Alternativen oder versteckte Zusammengehörigkeiten sollen auf diese Weise sichtbar gemacht werden. Fälle solcher A r t werden wir bei Rimbaud, Benn, H e y m und Pil'njak kennenlernen; auch Linggs >Nordpol und Südsee< läßt das Prinzip erkennen. Seine ausgeprägteste Entfaltung hat es jedoch in einem Zyklus von Alfred Momberts >Held der Erde< (1916) erreicht. Ein Seemann in tropischen Gewässern, »der ein paar Nächte ausruht auf dem Meer / v o n der furchtbaren Herrlichkeit des Lebens«, hält einsame Zwiesprache mit der ihm von weither kommenden Stimme dessen, der »die Einsamkeit des Poles« befährt. 38 Es ist die Stimme der Toten, die zu Einkehr und Weltverzicht, zur Vorbereitung auf die letzte Fahrt unter »des Poles Eis-Tuch« rät.3® Doch die Alternative wird, kaum aufgestellt, von Mombert nachdrücklich verworfen. Der Seemann, als echter Held der Erde, zieht die Ausfahrt zu neuen Taten vor, zum »Sieg- und RuhmhaftSein an Lebens Horizonten!« 40 Entscheidend für diese Hinwendung zur Erde ist der eschatologische Horizont, in den er seine Existenz gestellt sieht. Das Recht auf Leben und Glück, das er sich in der Gegenwart nimmt, ist unverwirkbar und wird auch durch den Tod nicht aufgehoben. Im Gegenteil: den im Totenland Lebenden wird die Verheißung zuteil, 37 38 39 40

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Rimbaud, a.a.O., S. 306. Alfred Mombert, Der Held der Erde. In: Dichtungen, Bd. 1, S. 441. Mombert, a.a.O., S. 442. Mombert, ebd.

daß auch ihnen eben jenes Recht in Bälde zukommen wird, dann nämlich, wenn am Pol der neue Weltenfrühling anbricht: K o m m t einst der große Frühling über die Welt, dann taut audi auf das Eis der Pole. Dann dann dann dann Dann dann

kommt ein Gluten über ihre Himmel, sprießen dort die zartesten Silber-Gräser, nisten dort die Schwalben, weiden dort die Rehe. locken dich hervor die Nachtigallen, erscheinst du wiedergeboren als Blume:

als die Blume des Poles: als holde Himmelsschlüssel-Blume. Mein Freund: dann lächelst du. 4 1

Offensichtlich wird hier mit Hilfe der Lebensphilosophie Rimbauds Absage an die endzeitlichen Polblüten ebenso unterlaufen wie das romantische Konzept einer flüchtigen Antizipation des Zukünftigen. Hier geht es um eine echt präsentische Eschatologie, die ihre Spannkraft nurmehr aus der Inkongruenz von individueller und kosmischer Geschichte gewinnt. Arkadien ist hier und heute schon, wenn das Individuum zu einer entsprechenden Selbstpreisgabe an das Prinzip Leben bereit und fähig ist. Das boreale Arkadien hingegen wird den Endpunkt einer Entwicklung signalisieren, die jene individuelle Entfaltung in kosmischen Ausmaßen wiederholt und darin selbst die Toten einbezieht. 2. Wie oft Mombert und Däubler als >Kosmiker< auch zusammen genannt werden mögen, ihre geschichtseschatologischen Konzeptionen sind diametral entgegengesetzt. Däubler gibt dem Bild der polaren Blumen einen neuen Sinn, indem er es mit der Idee des Nordlichts verbindet: E s flammt der E r d e Wunderglutenblume, A m Pole jetzt, in holdem Stolz empor. 4 2 W i r d einem Menschen Erleuchtung, so züngelt, sichtbar den Beschreitern ihrer Gletscher, eine Pfingstrose in die Polnadit. 4 8

Nicht umsonst wird die Pfingstrose gewählt, denn der Anbruch der Endzeit ist für Däubler eine pfingstliche Vergeistigung, für die das Nordlicht als »der tellurische Zeuge und Bürge«44 erscheint. Die Polrosen Hölderlins sind zur Metapher für das »meteorologische Signal einer sich selbst retten41 42 43 44

Mombert, a.a.O., S. 442t. Theodor Däubler, D a s Nordlicht. In: Dichtungen und Schriften, S. 668. Däubler, Gleichgewicht im Kosmos. In: Dichtungen und Schriften, S. 683. Eine Formulierung von C a r l Schmitt. - V g l . Friedhelm K e m p in: Däubler, Dichtungen und Schriften (Nachwort), S. 880.

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den Menschheit«45 geworden, das jedoch seinerseits von Däubler in einen arktischen Erlösungsmythos hineingearbeitet wurde. Der Pol ist für Däubler der Ort des reinen Geistes und damit das Ziel der »nordwärtsgerichteten Heimreise« einer geistlos gewordenen Menschheit. Indem sich dieser Geist in der kalten Strahlung des Nordlichts und im Eis der polaren Gletscher zu erkennen gibt, kommt es zu einer genauen Umkehrung der alten Vereisungslehre. Nicht mehr von einer Angst vor Erstarrung ist die Rede, sondern von einer alten, jetzt mit menschlicher Kraft einzulösenden Hoffnung auf das Eintreten dieses Zustands: »Wunsch der Nordmänner war: die Erde möge vereisen.«46 Der Pol ist Vorbild dieses Zustands und Garant: »Doch holde Hoffnung überstrahlt den Pol.«47 Däublers optimistische Gleichsetzung von Geist und Eis ist eine Antwort auf die seit der Jahrhundertwende in stetem Wachstum begriffenen Versuche kulturpessimistischer Gruppen, die Vereisungslehre mit lebensphilosophischen Vorstellungen zusammenzubringen. Das >Nordlicht< liest sich wie ein vorweggenommene Absage an die am Höhepunkt dieses Unternehmens stehende Behauptung Theodor Lessings, der >Untergang der Erde am Geist< (so der Titel seines Hauptwerks 1916) gehe einher mit der Vergletscherung des Planeten: Die Kälte nördlicher Länder wächst. Die Tundra, der Eisgürtel an den Polen, rüdct langsam weiter, die Erde mit neuer Eiszeit bedrohend, [ . . . ] So tritt vollends Bewußtsein und seine raumzeitliche Wirklichkeit aus dem Element heraus. 48

Doch hat Däubler, bei dem die Vereisungslehre natürlich - anders als bei den Kulturpessimisten — nur Grundlage der Metaphorik ist, bewußt keinen Gegensatz von Geist und Leben konstruiert. Die endzeitliche Reinigung des Geistes zu höchster Bewußtheit begreift vielmehr in sich das Leben in Fülle: »Dem Pol im Geist entgegen, wird Leben gedichtet.«49 Die so verstandene Verkettung von Geist und Leben nimmt den alten Wunsch der Polsucher nach Erkenntnis und Vollendung wieder auf. 3. Durch diese in der Tradition Proudhons stehende Vergeistigungseschatologie bekommt der betont als »Ruhepol« verstandene Nordpol eine besondere Funktion: er wird kathartische Instanz. Bei der Suche nach vergleichbaren Texten stößt man auf Adolf Knoblauchs Geschichte vom >DadaDer Jüngste Tag< er45 46 47 48 49

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Däubler, Däubler, Däubler, Theodor Däubler,

Die Selbstdeutung. In: Diditungen und Schriften, S. 526. Die beiden Gärten. In: Dichtungen und Sdiriften, S. 7 i o f . Das Nordlicht, a.a.O., S. 672. Lessing, Untergang der Erde am Geist, S. 140. Die beiden Gärten, a.a.O., S. 7 1 1 .

schienen. Dieser heute vergessene und von der Däubler-Forschung übersehene Text verdient Erwähnung - stellt er doch den Versuch dar, Däublers Polverständnis auf die damalige Lage der europäischen Situation zu beziehen: Immer auf dem Marsche nach Norden [ . . . ] wandeln die gleichmütig gereimten Hymnen Dadas, um endlich das Nordlicht anzubeten, die kalte Prophetie Europas zu empfangen. Dada verkündet die Zertrümmerung dieses Erdteils, und nach Niederlegung all seines Menschen- und Pflanzenwuchses den Triumph der Polarwüste über die verworfenen Reiche, den Sieg des Nordlichts!50 Aus den Greueln Europas schreitet Dadas neues Subjekt hervor, um durch die Eisstürze des Polarkreises und die kalte Herrlichkeit des Nordlichts das Absolutum der Kunst zu finden, die letzte demantharte Kristallisierung, die Reinigung der kulturbefleckten Menschheit. 51

Als Mittel zur polaren Katharsis tritt hier die Kunst auf den Plan. Der Gedanke, daß sie die Metamorphose zum Geist bewerkstelligen oder zumindest einleiten könne, ist zweifellos aus Däublers arktischer Erlösungslehre ableitbar; denn wenn die rettende Vereisung durch Menschenkraft zu bewerkstelligen ist, dann zuerst durch Poiesis: auf dem Weg zum Pol wird Leben gedichtet. Die historische Situation, die Knoblauchs Dada vorfindet, ist jedoch denkbar weit von diesem Ziel entfernt. Daher wird der Gedanke erwogen, ob man die notwendige rettende Entwicklung der Erde zum nordlichtstrahlenden Stern mit den Mitteln der Kunst nicht wenigstens präformieren kann. Als Möglichkeit bietet sich eine künstliche Vereisung durch Überkrustung des Erdballs mit Glas an, eine »Erdarchitektur des Glases«,52 das Uberwölben der Berge und Täler mit riesigen Glasdomen. Das aber entspricht genau der Forderung Scheerbarts, es solle »die Erdoberfläche umgewandelt werden - und zwar durch Glasarchitektur«. 53 Die Entsprechung ist sicher nicht zufällig. Die Diskussion um die >Glasarchitektur< (erschienen 1914) innerhalb des >SturmDas neue Leben. Architektonische Apokalypse< (erschienen 1897) als mögliche Weltkatastrophe ein. Von einer Umwertung der Theorie kann also keine Rede sein. Vielmehr stellt Scheerbart der Katastrophe seine Glasarchitektur als Rettungsmittel entgegen. Engel steigen - bemerkenswerterweise an den Polen - auf die tote Erde nieder und bescheren der Menschheit über den ganzen Erdball sich hinziehende Glaspaläste. Mit Elektrizität wird die Erde in einen neuen Stern verwandelt. »Erfüllung des geographischen Nordlichts«55 hat Däubler die Elektrizität genannt. In diesem Sinne kann man Scheerbarts architektonische Apokalypse als Weiterführung und Erfüllung von Däublers arktischer Erlösungslehre betrachten, wobei freilich das Angewiesensein auf die Mittel des Künstlichen eine Beschränkung der Utopie auf das künstliche Paradies bringt, dessen Beständigkeit, wie auch >Das neue Leben< zeigt, von sehr geringer Dauer sein kann. Scheerbarts elektrisch beheizte Glaspaläste inmitten einer arktisch gewordenen Umwelt sind die letzte Form des borealen Arkadiens vor dem Hintergrund der Vereisungstheorie. Die mit ihr mehr oder weniger fest verbundene literarische Tradition verweist immer wieder auf den Pol. Er wird dadurch zum Fluchtpunkt eines Entwicklungsdenkens, das sich im Wesentlichen des Modells der Weltzeitalter bedient. Der Topos vom Reich am Pol hat sich zu einer Trias entfaltet: Neben der von Menschenhand konstruierten und durch Eigengesetzlichkeit bestimmten, mit dem Anspruch auf zeitliche Erfüllung utopischer Projekte auftretenden polaren Gegenwelt steht das boreale Arkadien, entweder als Einkleidung einer >spes contra spem< oder als Ausdruck des Glaubens an eine religiös oder evolutionistisch begründbare kosmologische Gesetzmäßigkeit, bei der die Offenheit der Geschichte strenger Zwanghaftigkeit weicht. Das Gesetz kann aber auch in der Umkehrung des Geschichtsprozesses erscheinen, wenn sich der Blick allein auf ein boreales Arkadien der Urzeit richtet. Dann schafft der Aspekt des Zwangs die Voraussetzung für eine echt apokalyptische Geschichtsauffassung, wobei in der arktischen Gegenwart der frühere Untergang paradiesischer Welten für immer fixiert bleibt. Bei dieser dritten Erscheinungsweise des borealen Arkadiens setzt der Gedanke einer oasenhaften Aussparung an, der sich besonders eng mit dem literarischen Schema der imaginären Reise zum Pol verbinden kann; er erreicht in der nunmehr zu untersuchenden Vorstellung von der Existenz eines präadamitischen Urvolks ein Höchstmaß an Irrealität. Festzustellen ist schließlich eine Parallelität zwischen der im ersten Kapitel beschriebenen Reise des Individuums zum Pol und dem mythisch 55

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Däubler, Die Selbstdeutung, a.a.O., S. 534.

oder naturwissenschaftlich verstandenen Entwicklungsmodell. Ohne daß diese explizit erklärt werden müßte, scheint häufig das Scheitern am Pol dem katastrophalen Ende der Geschichte oder eines Geschichtsabschnitts zu entsprechen, wie umgekehrt die angebliche Verwirklichung oder die Entdeckung des idealen Gemeinwesens am Pol den glückhaften Ausgang der Geschichte repräsentiert. Wenn aber diese strukturellen Übereinstimmungen bestehen, dann gibt es nur eine denkbare individuelle Entsprechung für die Zwanghaftigkeit der geschichtlichen Entwicklung: die Aufhebung der Verfügungsgewalt über die eigene Persönlichkeit, wie sie für den scheiternden Shackleton und seine vielen literarischen Vorgänger kennzeichnend ist.

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III. Arktischer Präadamitismus

a. Der letzte Mensdi Die Entstehung und die Tradierung von Apokalyptik ist in ungewöhnlich hohem Maß an literarische Kommunikation gebunden. Das bekannteste Beispiel dafür ist sicher Jakob van Hoddis Gedicht >Weltende< (erschienen am I i . i. 1 9 1 1 im >DemokratNeopathetiker< Berlins nach der Jahrhundertwende greifbar machte und in einem schier unübersehbaren Wirkungsprozeß die Untergangs- und Welterneuerungsdichtung des deutschen Frühexpressionismus konstituieren half. Etwa zur gleichen Zeit spielte sich ein vergleichbarer Vorgang in den literarischen Kreisen um Alfred Kubin ab, dessen Apokalyptik aus vielfältigen Gesprächen heraus entstanden ist und zur Formierung einer regelrechten Schule der Untergangsphantastik geführt hat, die man von Kurt Martens' >Katastrophen< (1904) bis zu Otto Stoessls >Menschendämmerung< (1929) verfolgen kann. Einen speziellen Fall, der ebenfalls hier erwähnt werden muß, bildete schließlich der George-Kreis, der sich ausdrücklich als ein >heiliger Rest< im allgemeinen Zusammenbruch verstand. Solche eigentümliche apokalyptisch orientierte Kommunikation ist nicht auf das 20. Jahrhundert und nicht auf den deutschsprachigen Raum beschränkt. So moquierte sich Jean Paul zum Beispiel in der >Vorschule der Ästhetik< über das Aussetzen eines Preises für die schönste »Besingung von Sodoms Untergang«, 1 ein öffentlicher Vorgang, der die katastrophale Zerstörung als Modethema ausweist. Nervals Untergangsvisionen hingegen, die gerne als direkter Ausdruck eines desolaten Geisteszustands angesehen werden, sind teilweise Literarisierungen eines merkwürdigen Gesellschaftsspiels, das man um 1825 in gebildeten Kreisen pflegte. Nerval selbst erinnert sich in >Sylvie< daran, wie höhere Töchter während eines Festbanketts in wallenden Gewändern ein apokalyptisches Tableau dar1

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Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, S. 27.

stellten, in der Rolle von Engeln die verflossene Schönheit des Erdballs besangen und die Gründe seines Erkaltens darlegten.2 Die Entstehung des literarischen Topos Weltvereisung setzt die Adaption der Untergangstheorie auf dem Weg gesellschaftlicher Kommunikation voraus. Am folgenreichsten wurde dieser Prozeß im Fall Byrons, dessen Gedicht >Darkness< zu den wichtigsten Zeugnissen romantischer Apokalyptik gehört. Da es von seiner Anlage her eng mit dem thematischen Bereich der apokalyptischen Reise verbunden ist, können die Besonderheiten seiner Entstehung und Wirkung die Probleme dieses speziellen Bereichs klären helfen. Die apokalyptische Reise selbst, ja sogar der noch engere Bezirk der imaginären Reise zum Pol, scheint ja, gemessen an der Verbreitung des Themas, ein deutlicher Hinweis auf die Intensität dieser Kommunikation zu sein. i . Das Gedicht entstand 1 8 1 6 in der Villa Diodati am Genfer See, wohin sich die Dichterfreunde Byron, Shelley, Mary Wollstonecraft Shelley und M. G. Lewis zurückgezogen hatten. Ihren Berichten zufolge muß das Thema Untergang in allen möglichen Variationen zur Basis der Gespräche innerhalb der abgeschlossenen Gruppe gehört haben. Man besuchte im Juni 1816 das Haus Gibbons in Lausanne, um so den vierzigsten Jahrestag des Entstehens von Gibbons >Decline and Fall of the Roman Empire< (1776-88), dem Vorbild aller späteren Niedergangshistoriker, gebührend zu begehen. Ein Ausflug in die Gletscher des Mont Blanc regte zur Diskussion über die Weltuntergangstheorie von Buffon an, »that this earth which we inhabit will at some future period be changed into a mass of frost«, 3 wobei man, wie diese Notiz Shelleys zeigt, Buffon mit der Weltvereisungstheorie in Einklang sah. Man scheint aber auch — Levin L. Schücking vermutete es schon4 - über den 1806 anonym erschienenen Roman >The Last Man, or Omegarus and Syderia, a Romance in Futurity< gesprochen zu haben, denn die dort erkennbare Verbindung von geschichtlichem Niedergang und kosmischem Untergang durch Vereisung sowie die Stilisierung des Menschheitsschicksals im Sterben eines letzten Menschenpaares ist kennzeichnend auch für Byrons Gedicht, das aus dieser Gesprächsatmosphäre heraus entstand. Daß es Byron um mehr ging als um eine Illustration der Weltvereisungstheorie, zeigt der Tod der beiden letzten Menschen. Sie erkennen ihr Schicksal, suchen den Grund: 2 3

4

Nerval, Sylvie. In: Oeuvres, Bd. I, S. 608. Shelleys Brief an Thomas L . Peacock vom 24. Juli 1 8 1 6 . - In: The Complete Works of Percy Bysshe Shelley, S. 186. V g l . Levin L. Schücking, Englische Gedichte (Kommentar), S. 364.

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[ . . . ] then they lifted up Their eyes as it grew lighter, and beheld Each other's aspects - saw, and shriek'd, and died Even of their mutual hideousness they died, Unknowing who he was upon whose brow Famine had written Fiend. [ . . . ] *

Ichverschlossenheit und Feindlichkeit wird hier zur Ursache des Weltuntergangs, unwiderruflich, da die Einsicht zu spät kommt. Die >metaphysic of alienationmetaphysic of alienations In seinem Gedicht überwindet die Liebe den Tod, der als blinde Schicksalsmacht die Menschen vor sich her treibt. Das Entfremdungsproblem stellt sich Heym hier (noch) nicht. Eine Anklage könnte sich nur gegen das Weltgesetz richten; sie wäre sinnlos. De facto hat Heym damit wieder die Position jenes englischen Anonymus bezogen, dessen Roman er wohl kaum gekannt hat. Gleichwohl partizipierte er auf diesem Weg an einer für die literarische Apokalyptik bestimmend gewordenen Tradition, deren immense Ausmaße hier nur andeutungsweise umrissen werden können: In Mary Wollstonecraft Shelleys Roman >The Last Man< (1826) erkennen wir die späten Auswirkungen jener Gespräche mit Byron über das Schicksal der letzten Menschen. Dieses Buch wiederum hat bei Baudelaire den Plan für einen eigenen Roman über »les derniers hommes« wachgerufen.10 Wäre er ausgeführt worden, dann hätte mit ihm ein höchst seltsamer Rezeptionsprozeß seinen Höhepunkt gefunden; denn der englische Bericht vom Schicksal des Omegarus und der Syderia war nichts anderes als eine Übersetzung des zunächst recht unbekannten französischen Romans >Le dernier Homme< (I8OJ) von Grainville. Hält man sich zudem vor Augen, daß Grainvilles Buch nicht nur mehrfach plagiiert worden ist, 11 was auf hohes Publikumsinteresse am Thema schließen läßt und dessen Verbreitung steigerte, sondern auch bestimmenden Einfluß auf die Weltuntergangsgedichte Lamartines hatte (ζ. B. >Hymne de Tange de la terre apres la destruction du globeL'ImmortaliteDie ZweiflerDer letzte MenschTagebuch ShackletonsTagebuch Shackletons< die Erfahrung abgründigen Hasses tritt und wie die Erfahrung dieser Liebe im Augenblick des Sturzes abgelöst wird durch die mit dem Abstieg zum Pol beginnende, als katastrophal empfundene Zerstörung. Erfolgt hier Heyms nachträgliches Bekenntnis zu einer Metaphysik der Entfremdung? Das Entfremdungsproblem spielt sicher im >Tagebuch Shackletons< eine bedeutende Rolle. Doch es erscheint als Symptom, nicht als Ursache. Wie der Weltuntergang 1909 beschrieben wurde als das Werk anonymer Mächte, so jetzt Entfremdung und psychische Zerstörung. An die Stelle der >metaphysic of alienation< hat Heym die Beschreibung eines psychischen Prozesses gesetzt, dessen auslösende Faktoren er mythisch überhöhte, indem er ihnen die Gestalt seiner Südpolbewohner gab. Vor dem Hintergrund des Weltuntergangsgedichts von 1909 zeigt sich, daß auch Heyms Südpolfahrer zu den >letzten Menschen< der Apokalyptik zu rechnen sind. Im Reiseschema kehrt ja die Weltvereisung wieder als die arktische Landschaft, durch die der Weg zum Pol - dem >Jenseits< der Apokalyptik - führt. Demnach entsprechen sich bei Heym die düstre Beurteilung des Schicksals letzter Menschen und die Bevorzugung der imaginären Reise zum Pol als Sonderform der apokalyptischen Reise. Auch diese Entsprechung ist von Byron in aller Ausführlichkeit vorgebildet worden. An der Entfaltung des Themas Polreise im >Don Juan< (1819-1824) kann gezeigt werden, wie gerade in der Behandlung dieses Themas die Grundlagen des apokalyptischen Denkens Byrons zutage treten. 3. Im >Don Juan< erscheint die Polreise als »figure« für die gefahrenreiche und mühsame Eroberung einer kalten und abweisenden Frau: A n d your cold people are beyond all price, When once you have broken their confounded ice. But after all they are a North-West Passage Unto the glowing India of the soul;

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Heym, Der Höhenmesser zeigte . . . , a.a.O., S. 146.

A n d as the good ships sent upon that message H a v e not exactly ascertain'd the Pole (Though Parry's efforts look a lucky presage), Thus gentlemen may run upon a shoal; For if the Pole's not open, but all frost ( A chance still), 'tis a voyage or vessel lost. 13

Man ist versucht, in diesem - von den zwischen 1818 und 1827 ausgeführten Nordpolfahrten Sir William Parrys angeregten - Vergleich lediglich einen spontanen scherzhaften Einfall zu sehen. Doch dann wäre der gesamte >Don Juan< zur bloßen Geschichte eines Herzensbrechers degradiert, was zweifellos den Absichten Byrons zuwider liefe. Es geht in diesen Versen vielmehr darum zu zeigen, wie abenteuerlich und mit Verderben bedroht der Versuch ist, sich dem innersten Wesen eines Menschen zu nähern. Byrons Text bietet die direkte Vorstufe zur Verwendung des Pols beim Aufbau einer Seelenlandschaft im Sinne Poes oder Przybyszewskijs (vgl. S. 31 f.). Dabei steht die Arktis für den Status äußerster Ichbefangenheit, für das völlige Fehlen der Bereitschaft zur Kommunikation. Zudem schätzt Byron die Chancen für einen günstigen Ausgang des Unternehmens, für das Zustandekommen einer echten menschlichen Annäherung, offenbar gering ein. Denn die Existenz einer von den Eismassen des Pols nicht bedrohten Nord-West-Passage, die den begehrten Weg in die paradiesischen südlichen Zonen eröffnet, war zu Parrys Zeit nur noch eine vage Hoffnung. Die Notwendigkeit einer solchen extensiven Auslegung des PolreiseBildes erfährt wenig später im >Don Juan< selbst Bestätigung, indem Byron den Pol zum Zentrum der Eigenliebe deklariert: The new world would be nothing to the old, If some Columbus of the moral seas Would show mankind their souls' antipodes. What >antres vast and deserts idle< then Would be discover'd in the human soul! What icebergs in the hearts of mighty men With self-love in the centre as their pole! 1 4

Durch die andere historische Verankerung des Bildes erhält dieses Zentrum zugleich den Charakter eines verbotenen, von Abgründigem und Geheimgehaltenem erfüllten Orts. Wer hier mit Columbus verglichen werden soll, läßt sich unschwer erraten. Es gehört zu den Aufgaben des Dichters, die Existenz dieses Bezirks zu beweisen und ihn auszukundschaften. 13 14

Byron, Don Juan. In: Poetical Works, S. 8 1 3 . Byron, a.a.O., S. 832.

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Audi diese neuerliche Ausweitung des interpretatorisdien Rahmens entspricht den Intentionen Byrons. Denn angesichts des Hinweises auf den Dichter wird sich der Leser des >Don Juan< an eine frühere Bemerkung erinnern, in der Byron sein Werk »A versified Aurora Borealis o'er a waste and icy clime« bezeichnete.15 Darin steckt ein die zitierten Texte übergreifendes Verständnis der Polreise: Der gefahrvolle Versuch des einzelnen, das Eis zu überwinden, ist Folge des Zustande, in dem sich die Menschheit insgesamt befindet. Wir alle sind nach Byrons Meinung verdammt, zu wandern »on our freezing way«, 1 ® da am polaren Himmel »Love« und »Glory«, die beiden fundamentalen Formen menschlicher Anerkennung, als wärmende Sonnen fehlen. 17 In dieser Situation ist die Dichtung immerhin in der Lage, einem Nordlicht gleich die Dunkelheit zu erhellen, wenn sie audi eine Veränderung des Zustands, ein Abtauen des Eises, nicht herbeiführen kann. Ein Signal der Hoffnung, wie etwa bei Däubler, ist sie nicht. An dieser Stelle wird der Ubergang vom Polreise-Bild zur Apokalyptik sichtbar. >Alienation< ist der Grund für den arktischen Zustand, in dem sich die Erde befindet. Die in >Darkness< geschilderte äußere Zukunft der Welt ist mit dem inneren Zustand ihrer Bewohner identisch. Das heißt, der eigentliche Weltuntergang ist für Byron schon eingetreten; er hat sich im Innern der Menschen ereignet. Die Weltvereisung im Sinne Buffons ist nur noch notwendige Folge und Erfüllung, da Außen- und Innenwelt untrennbar verbunden sind. Die Reise zum Pol bekommt dadurch einen neuen Sinn. Sie verliert ihre Parallelität zum Weltuntergang, wird vielmehr zu einer Gegenbewegung. Der neue Columbus versucht, in jene Zonen vorzudringen, in denen die Ursache der Katastrophe zu suchen ist, und diese zu überwinden. Ohne Zweifel hängt diese besondere Akzentuierung zusammen mit der Identifikation von Polsudier und Dichter. Die Parallelisierung von individuellem Scheitern und Menschheitskatastrophe, wie sie in den Texten Poes und Heyms sichtbar wird und für die es noch eine Fülle weiterer Zeugnisse gibt, wird von Byron offenbar bewußt vermieden. Die Reise zum Pol ist der Versuch, die Zone des schon eingetretenen Untergangs gewaltsam zu durchbrechen, über das Zentrum der Entfremdung hinauszugelangen. Daß dieser Versuch gerade dem Dichter zugeschrieben wird, folgt aus Byrons Verständnis von der Dichtung: Mit ihr ist eine Möglichkeit gegeben, überindividuelle Einheit zu stiften, die Entfremdung aufzuheben. Damit ist zugleich eine wesentliche Verlagerung des alten >curiositasDon Juan< mit den Protagonisten seiner Versdramen zu vergleichen. Daß der tragische Held >Manfred< (1817) durchaus die Züge eines Columbus hat, der in verbotene Bezirke der Seele vordringen will und zugleich mit seiner Unfähigkeit zur Uberwindung absoluter Ich-Zentriertheit kämpft, ist unmittelbar einsichtig. Stellt man, auf diese Übereinstimmung gestützt, die Polsuche neben den im >Manfred< sich abzeichnenden Weg des Helden, dann stößt man auf einen überraschenden Sachverhalt: Dem Hinausdringen über die Zonen von »waste and icy clime« entspricht der Versuch Manfreds, in Verbindung zu treten mit der untergegangenen Welt der Präadamiten, jenen von Foigny am Südpol angesiedelten Urmenschen La Peyr^res, denen sich Manfred verwandt fühlt. Sein Scheitern und ihr einstiger Untergang stehen in geheimnisvollem Zusammenhang.18 Einen Schritt weiter noch ging Byron im >Cain< (1821). Auf einer Reise in die Vergangenheit läßt er Luzifer seinen Schützling einen Blick in die Welt der Präadamiten tun: Thou hast shown me wonders: thou hast shown me those Mighty pre-Adamites who walk'd the earth O f which ours is the wreck [ . . . ] 1 9

Kains Wanderung durch Räume und Zeiten verdient in noch größerem Maß als Shelleys >Queen Mab< die Bezeichnung apokalyptische Reise nicht nur durch die enge Bindung an das vorgegebene literarische Muster, die Himmelsreise der jüdischen Apokalyptik, sondern vor allem wegen der prononciert vorgetragenen Schilderung vom lange zurückliegenden Untergang der präadamitischen Welt. »By a most crushing and inexorable/Destruction and disorder of the elements«80 sei sie vergangen. Im >Manfred< wird der Vorgang noch krasser beschrieben: »The burning wreck of a demolish'd w o r l d , / A wandering hell in the eternal space.«81 Hier geht es offensichtlich um eine andere Katastrophe als die in >Dark18 19 20 81

Byron, Byron, Byron, Byron,

Manfred. In: Poetical Works, S. 3 9 1 , 403. Cain: A Mystery. In: Poetical Works, S. J 3 6 . a.a.O., S. 532. Manfred, a.a.O., S. 390. 75

ness< vorausgesetzte Weltvereisung. Folglich müssen zwei Arten von Apokalyptik bei Byron unterschieden werden. Als Verlängerung des »freezing way«, dem der zukünftige oder gegenwärtige Weltwinter korrespondiert, erscheint der Weg in die Vergangenheit, der durch einstige Untergänge hindurch geht und im Reich der Präadamiten enden soll. Für die erstgenannte Katastrophe konnte Byron die Erstarrungstheorie von Buffon in Anspruch nehmen. Audi bei der Schilderung des einstigen Untergangs hat er sich einer von der zeitgenössischen Naturwissenschaft bereitgestellten Idee bedient, die, inzwischen längst als falsch erkannt, zu Byrons Zeit eine Herausforderung an die Wissenschaft darstellte. Von früheren Kataklysmen kosmischen Ausmaßes war in der >Katastrophentheorie< Cuviers die Rede. Uber ihre Verwendung gibt eine Notiz zum Cain Auskunft: »The reader will perceive that the author has partly adopted in this poem the notion of Cuvier, that the world had been destroyed several times before the creation of man. [ . . . ] The assertion of Lucifer, that the pre-Adamite world was also peopled by rational beings much more intelligent than man, and proportionally powerful to the mammoth, etc., etc., is, of course, a poetical fiction to help him to make out his case.«22 Auf die theologischen Wurzeln des Präadamitismus sind wir schon zu sprechen gekommen. Seine Verbindung mit der imaginären Reise zum Pol läßt sich leicht erklären durch die von La Peyr^re selbst vorgeschlagene geographische Lokalisierung. Jetzt aber sehen wir uns mit einer Kontamination der theologischen Häresie und der modernen Untergangstheorie konfrontiert. Das legt eine grundsätzliche Besinnung auf die Rolle des Präadamitismus in der literarischen Apokalyptik nahe. Wir nutzen dabei die Gelegenheit, um an einem zweiten Beispiel zu demonstrieren, wie durch einen überaus komplizierten Rezeptionsprozeß beständige apokalyptische Kultur entsteht. 2. Wiederum beginnen wir bei Georg Heym, dessen sonderbare Polarwesen ja schon in Verdacht geraten sind, zu den Präadamiten zu gehören. Zwar wissen wir aus einem Brief Heyms an Rowohlt, daß er sich, mit dem typischen Interesse des Apokalyptikers für esoterisches Gedankengut, während der Entstehungszeit des >Tagebuchs Shackletons< »sehr viel mit entlegenen Gebieten der Litteratur und Geheimdrucken der kgl. Bibliothek« sowie »mit irgendwelchen arkanen Kulten« beschäftigt hat.23 Titel kennen wir jedoch nicht. Nicht unwahrscheinlich ist, daß er ein 1900 er-

22 23

Byron, Cain, a.a.O., S. J21. Brief Heyms an Ernst Rowohlt vom 7. 12. 1910. - In: Dichtungen und Schriften, B d . I I I , S. 228f.

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schienenes Standardwerk, Charles William Heckethornes Buch über >Geheime Gesellschaften, Geheimbünde und Geheimlehren< in Händen hatte. Dort hätte er vieles über die Präadamiten und andere seltsame Urvölker erfahren können. Sehr wahrscheinlich aber ist, daß Heym damals >Die andere Seite< Kubins gelesen hat, die ein Jahr vorher erschienen war. Dafür spricht eine Reihe von Übereinstimmungen in der Schilderung der jeweiligen Urmenschen, vor allem deren Fähigkeit, andere in psychische Abhängigkeit zu zwingen. Wenn es am Ende von Kubins Roman heißt: »Vielleicht waren die Blauäugigen die wirklichen Herren, die durch magische Kräfte eine leblose Paterapuppe galvanisierten und das Traumreich nach Gefallen schufen und vergehen ließen«,24 dann braucht man nur »galvanisieren« durch »golemisieren« ersetzen und man befindet sich in der Vorstellungswelt Heyms. Sogar der Grund für diese Umbenennung läßt sich erschließen. Golemisieren schien Heym eine passendere Bezeichnung für die Fähigkeit der Polwesen zu sein als das einem längst überholten technischen Entwicklungsstand zugehörige Galvanisieren. Die Kraft, um die es im Fall Shackletons geht, verhält sich — so schreibt der fiktive Herausgeber des >Tagebuchs< - zu den sonstigen Weisen psychischer Beeinflussung wie »die Froschschenkel Galvanis zu dem modernen telegraphischen Apparat, mit dem Tesla die extramundanen Wellen auffängt.« 25 Heym hat also den Präadamiten, die er — zumindest auch — aus Kubins Roman kannte, ihren Wohnort wieder dort zugewiesen, wo ihn La Peyr£re vermutet hatte: am Pol. Der Name des Urvolks allerdings taucht weder bei Heym auf noch bei Kubin — auch nicht bei Ehrenstein und somit in keinem der den Präadamitismus behandelnden Texte des 20. Jahrhunderts. Daß man ihn dennoch ohne Zögern einsetzen darf, ergibt sich aus Kubins Quelle. Die stoffliche Grundlage zu seinem Roman >Die andere Seite< war in diesem Fall Nervals > Aurelian 1910, also ein Jahr nach dem Erscheinen des Buchs, hat Kubins Frau eine deutsche Ubersetzung von Nervals berühmter Erzählung veröffentlicht, zu der ihr Mann selbst die Illustrationen schuf.26 Da diese Ubersetzung auf einer französischen Ausgabe fußt, die erst 1907 erschienen war, muß gerade während der Entstehungszeit des Romans eine intensive Beschäftigung Kubins mit Nerval stattgefunden haben. So ist zu erklären, warum die »habitants primitifs«, 27 denen Nerval auf einer in >Aurelia< geschilderten halluzinatorischen Reise im Innern der Erde 24

Alfred Kubin, Die andere Seite, S. 274. Heym, Das Tagebuch Shackletons, a.a.O., S. 124. 26 Nerval, Aurelia oder der Traum ein Leben. Deutsch von Hedwig Kubin. Mit $ 7 Zeichnungen von Alfred Kubin. 1 9 1 0 . 27 N e r v a l , Aurelia, a.a.O., S. 769.

25

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begegnet und die er als Präadamiten identifiziert, in vielen Einzelheiten den Blauäugigen Kubins gleichen. Bis auf die »Gärtchen«28 ums Haus, »jardinets menages«,29 entsprechen sich die Beschreibungen der beiden Traumstädte. Nerval aber führt als Quelle für dieses Thema La Peyrere an!30 Auch Nerval stellt einen Zusammenhang zwischen Präadamitismus und Apokalyptik her. Das Urvolk, dessen Entdeckung die Stationen der Wahnreise abschließt, besteht aus Uberlebenden eines früheren Weltuntergangs, einer Sintflut. 31 Dadurch bekommt das Thema einen ähnlichen Stellenwert wie in den Texten Byrons. Wichtig ist dessen historischer Hintergrund: La Peyr^res Behauptung, bei den vermuteten Bewohnern der Polargegend handele es sich um Präadamiten, verstieß nicht nur gegen das Erbsündendogma, sondern war auch ein Affront gegen die kirchliche Uberzeugung von der Universalität der in der Bibel berichteten Sintflut. Die theologische Diskussion des Präadamitismus konzentrierte sich, wie man der zornigen Auseinandersetzung in Zedlers Universallexikon (1741) entnehmen kann,32 zunehmend auf das Diluvianismus-Dogma, als die zu Beginn des 18. Jahrhunderts einsetzende Fossilienforschung die Historizität dieser Katastrophe, aber auch ihren partiellen und lokalen Charakter aufwies (1748 durch De Maillet). 33 Auf diese Weise geriet die Lehre La Peyr^res in den sich ausbreitenden naturwissenschaftlichen Streit, ob die Erdgeschichte eine Evolution darstelle oder die Aufeinanderfolge von in sich abgeschlossenen, durch totale Vernichtung beendeten Entwicklungen. Die zweite Auffassung stützte sich bekanntlich auf Cuviers >KatastrophentheorieVathek< (1786), die sich in England und Frankreich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts einer - gemessen an ihrem ausgefallenen Sujet - großen Beliebtheit erfreute und deren Auswirkungen zumindest auf das Werk von Nerval und Byron evident sind. Die Neugierde auf verbotenes Wissen treibt die Hauptpersonen dieses orientalisierenden Schauerromans aus der Zeit des >Gothic Revival· in den Herrschaftsbereich des Satans Eblis, wohin einst, gemäß der Lehre des Korans, die präadamitischen Sultane wegen ihrer Unbotmäßigkeit verdammt worden sind. In Anlehnung an die »Geschichte der MessingstadtMessingstadt< (die auch Georg Heym als Vorlage für seine Erzählung >Die Bleistadt< gedient hat) wirklich Tote sind, existieren die fluchbeladenen Präadamiten Beckfords in ewiger Agonie. Hier tritt zum ersten Mal in der Literaturgeschichte jener Status des lebendig Totseins auf, den die deutschen Expressionisten schließlich zur Existenzweise des Menschen schlechthin erklärt haben. Audi in den orientalischen Quellen, die Beckford verarbeitet hat, ist also die Vermischung von Präadamitismus und Strafverbüßung schon zu finden. Von Beckford konnte Byron sie zusammen mit dem Neugierdethema übernehmen, um sie in sein Geschichtsmodell einzufügen. Für Nerval hingegen wurde Beckfords Gestaltung des Unterreichsthemas von tragender Bedeutung. Zu fragen bleibt, ob audi Heym zu den Lesern des >Vathek< gehört hat. Beckford ist, obschon Gottfried Benn ihn den »Vater der ganzen nicht-didaktisdien und nicht erlösungssüchtigen Literatur« 35 genannt hat, in Deutschland ein Unbekannter geblieben. Doch die wenigen erkennbaren Anzeichen einer Rezeption konzentrieren sich im frühen Expressionismus. Neben Benn ist Carl Einstein als Leser zu nennen; ihm wurde der >Vathek< in der ersten modernen deutschen Ubersetzung bekannt, die Franz Blei 1907 herausgegeben hat. Wenn Einstein in einem 1910 veröffentlichten Aufsatz über >Vathek< den Verfasser einen »Vater der Heutigen«36 nennt und dabei vor allem an die zeitgenössische Tendenz 34

35

38

Vgl. William Beckford, Die Geschichte des Kalifen Vathek. Kommentare von Gisela Disdiner, S. i j 2 f . Gottfried Benn, W . H . Auden, Das Zeitalter der Angst. In: Gesammelte Werke, Bd. V I I , S. 1 8 3 1 . Carl Einstein, Z u Vathek. In: Anmerkungen, S. 7. Vgl. Reinhold Grimm, Vathek in Deutschland: Zwei Zwisdienfälle ohne Folgen? In: Revue de Litterature comparee 38 (1964), S. 1 3 1 .

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zur autonomen Imagination denkt, dann gilt diese Verwandtschaftsbeziehung in besonderer Weise für Heym. Die Möglichkeit einer Rezeption ist nicht von der Hand zu weisen, wenn man bedenkt, wie grundlegend die inhaltlichen Übereinstimmungen zwischen >Vathek< und dem >Tagebuch Shackletons< sind. 3. Die Konsistenz der literarischen Tradition läßt ein zentrales Unterscheidungskriterium um so deutlicher hervortreten: die sich widersprechenden Urteile über das Wesen der Urmenschen. Während Heym ihre Destruktivität hervorhebt, spricht Nerval von »une famille primitive et celeste«,37 »souvenir d'un paradis perdu«.38 Paradiesisch kamen sie schon Foigny vor, trotz oder gerade wegen ihrer destruktiven Handlungen. Schnabel sagte ihnen, obgleich sie ausgestorben waren, eine verheerende Einwirkung auf die Bewohner Felsenburgs nach. Das wiederum nähert seiner Beschreibung der Byrons an, da auch Manfred sich in seinem Scheitern unter ihrer Führung weiß. Mehr noch erinnert Kains Drang nach »knowledge«, 39 der ihn und Manfred für Byron zu Symbolfiguren überheblicher Wißbegierde macht, an entsprechende Tendenzen in Schnabels Roman. Für diese Diskrepanzen und Gruppierungen gibt es historische Gründe, die zugleich auf die frühesten Wurzeln der Themenverbindung von Präadamitismus und Apokalyptik verweisen. Noch in Heyms >Tagebudi Shackletons< sind die letzten Spuren eines Mythologems zu finden, das zum ersten Mal im sogenannten äthiopischen Henochbuch (entstanden im 2. und 1. Jahrhundert v. Chr.), einem wichtigen Dokument der jüdischen Apokalyptik, auftaudht. Dort nämlich wird der Genesis-Bericht, dem zufolge die biblische Sintflut nicht zuletzt eine Strafe für die verbotene Vereinigung von Engeln und Menschentöchtern gewesen ist, einer für die Apokalyptik typischen >relecture< unterzogen und die Lehre formuliert, die Sintflut habe zwar die aus der verbotenen Tat hervorgegangenen Riesen getötet, nicht aber deren Wirksamkeit verhindern können: Obgleich die Sintflut die Kinder, die diesen Verbindungen entsprossen sind, vernichtet hat, suchen deren Geister noch immer als Dämonen die Erde heim und erweisen sich als Quelle jeglichen Obels. 40

Byron, der seine apokalyptischen Motive weitgehend aus dem Henochbuch bezogen hat 41 und den Stoff in seinem Versdrama >Heaven and

37 38 39 40 41

80

Nerval, Aurelia, a.a.O., S. 770. Nerval, ebd. Byron, Cain, a.a.O., S. 534. Text nach: Η . H. Rowley, Apokalyptik, S. 50. Vgl. Byron, Heaven and Earth. In: Poetical Works, S. J32.

Earth< neu gestaltete, konnte hier die Anregung finden, seine Urmenschen mit einer bösen Wirkmacht Für die Gegenwart auszustatten. In >Manfred< und >Cain< erfolgte die Übertragung dieser Besonderheit auf die Präadamiten; der ursprüngliche Zusammenhang von Präadamitenlehre und Sintflutdogma bot Anlaß zu einer solchen Verschmelzung genug. Den Anlaß zu einer zweiten Uberschneidung bildete ebenfalls eine Episode der Genesis, die Vertreibung des Brudermörders Kain, die mit dem Hinweis schließt, Kain habe »östlich von Eden« eine Familie gegründet (Gen. 4,16). Die Anhänger La Peyr^res nutzten diese paradoxe Aussage und behaupteten, Kain könne nur eine Präadamitin zur Frau genommen haben.42 Mit der Gestalt des Kain trat die ganze Fülle esoterischer Lehren, die sie zum Gegenstand haben, in den Bereich des Präadamitismus. Vorrang genoß dabei eine kabbalistische Uberlieferung, nach der es den Nachkommen Kains aufgrund der vom Stammvater ererbten hohen geistigen Kraft gelungen sei, in unterirdischen Kavernen die Sintflut zu überdauern. In der mit der Kabbalistik vertrauten romantischen Literatur ist der Gedanke wiederholt zu finden. Beiläufig und versteckt bei Novalis, der Heinrich von Ofterdingen die Möglichkeit eines plötzlichen Auftauchens der Kainskinder aus ihrem »unterirdischen seltsamen Reiche«43 erwägen läßt: Wie, dachte er bei sich selbst, wäre es möglich, daß unter unsern Füßen eine eigene Welt in einem ungeheuern Leben sich bewegte? daß unerhörte Geburten in den Festen der Erde ihr Wesen trieben, die das innere Feuer des dunklen Schoßes zu riesenmäßigen und geistesgewaltigen Gestalten auftriebe? Könnten dereinst diese schauerlichen Fremden, von der eindringenden Kälte hervorgetrieben, unter uns erscheinen [ . . . ] ? 44

Die Verwandtschaft mit dem von Ehrenstein erwähnten »seltsamen Geschlecht« ist übrigens unverkennbar. Breite Darstellung erlangte diese Überlieferung bei Nerval. Sie gehört zum Grundbestand seiner Weltanschauung und ist bevorzugter Inhalt seiner Wahnerlebnisse. Die Nachfahren dieser Kainiten bilden nach seiner Lehre »nations proscrites«;45 diese hausen an einem Ort, der uns inzwischen nur zu gut bekannt ist: »bannis aux confins de la terre«46 - sie sind in die Polarregionen verbannt. Mitunter verlassen sie ihren Ort, um - so Nerval - unter den nach verbotenem Wissen gierenden Bösen »les lejons funestes de leurs sciences«47 42

Vgl. Bayle, Examen de quelques difficultez des Preadamites. In: Dictionnaire historique et critique, Bd. I, S. 7 1 7 - 7 2 0 . 43 Novalis, Heinrich von Ofterdingen, a.a.O., S. 2 5 3 . 44 Novalis, a.a.O., S. 2 5 3 ^ 45 Nerval, Aur&ia, a.a.O., S. 768. 46 Nerval, a.a.O., S. 7 7 7 . 47 N e r v a l , a.a.O., S. 779. 81

zu verbreiten und die Menschen zu erschrecken. Verwechselung oder bewußte Vermischung von Kainiten und Präadamiten war bei dieser Ähnlichkeit der Überlieferungen, besonders der zentralen Rolle der SintflutApokalyptik, leicht möglich, vor allem dann, wenn das genaue Wissen um den Traditionszusammenhang verloren ging. Aus diesen beiden dem ursprünglichen Präadamitismus angegliederten esoterischen Lehren stammen die besonderen Eigenschaften, die den polaren Urvölkern in der Literatur zugeschrieben werden, wenn sie eine gefährliche Instanz darstellen sollen: ihr dämonischer und zerstörerischer Einfluß, den sie vor allem bei Heym ausüben, und ihr verbotenes, verderbliche Neugierde reizendes Wassen, das schon bei Schnabel eine wichtige Rolle spielt. Unverkennbar kehren hier die beiden ausgeprägtesten Konstanten der imaginären Reise zum Pol wieder: das Phänomen der mit dem Scheitern des Helden verbundenen psychischen Beeinflussung und Persönlichkeitsveränderung und das Problem der >curiositas< samt ihrer Legitimität. Man kann aus den Ergebnissen dieses Kapitels einige wichtige typologische Erkenntnisse ableiten. Durch seine Berufung auf die Katastrophentheorie Cuviers hat Byron die Präadamitenlehre zum Pendant apokalyptischer Prognostik gemacht. Das gestattet die Vermutung, daß der apokalyptische Aspekt dieser Lehre insgesamt ein wesentliches Movens für ihre literarische Rezeption und Weiterentwicklung ist. Durch sie gelingt es, zwei Weltuntergänge zu unterscheiden und gleichzeitig deren innere Zusammengehörigkeit sichtbar zu machen. Dabei fällt auf, daß dem zukünftigen oder — nach romantischer Auffassung — präsentischen Untergang die Weltvereisung zugeordnet wird, während der Untergang der präadamitischen ebenso wie der kainitischen Völker mit der Sintflut und dergleichen Kataklysmata verbunden ist. Überträgt man die Verdoppelung der Katastrophe auf das Reiseschema, dann entspricht dem Weg zum Pol die Vereisung, die, wenn man das allgemeinste romantische Verständnis zugrunde legt, für einen Prozeß wachsenden Entfremdetseins steht. Neu ist nun, daß der Versuch, das Eis zu durchbrechen auf eine bessere Urwelt hin, gleichsam gebunden ist an die Rüdkkehr in einen weiteren Untergang. Die Texte der apokalyptischen Reisen kleiden diesen Schritt selten in kataklysmatische Bilder. Sie setzen an deren Stelle lieber den Umwandlungsprozeß, den die Uberlebenden der einstigen Katastrophe mitgemacht haben und den nun jeder zu wiederholen gezwungen ist, der in ihren Bereich eindringt. Schon die jüdische Apokalyptik verstand diesen Prozeß als Trennung von Leib und Seele; noch Shackletons Golemisierung nimmt dieses Verständnis auf. Das Ergebnis führt die im letzten Kapitel gewonnenen Einsichten weiter: Durch die Einführung eines existierenden oder wenigstens weiterwirkenden Urvolks wird aus 82

dem Weg ins boreale Arkadien ein Rückweg. Aus dieser Richtungsänderung folgt der die psychische Existenz gefährdende und zugleich apokalyptische Charakter des Unternehmens. Apokalyptisches Weltgeschick und psychische Zerstörung bilden eine unauflösbare Einheit. Byron scheute sich nicht, ihr eine Begründung zu geben, indem er den Begriff Entfremdung ins Spiel brachte. Seine Polreise-Texte fassen ihn anthropologisch, fast soziologisch, und geben ihm durchaus Anspruch auf eine nicht auf den Geltungsbereich romantischer Philosophie beschränkte Relevanz. Zu klären ist, ob er eine psychologische Dimension hat und dadurch helfen könnte, den in der apokalyptischen Reise verborgenen psychischen Prozeß in einen erweiterten Begründungszusammenhang zu stellen. Die Texte Byrons scheinen diese Möglichkeit durchaus zuzulassen. Folge man Viebrocks Interpretation des >ManfredSalas y Gomez< (1829) er zu dieser Zeit kennenlernte und mit Verve ablehnte.1 Die Ablehnung wird verständlich, wenn man Chamissos Dichtung neben die thematisch gleichartigen Entdeckergedichte Heyms, also >Columbus< und >Der Fliegende Holländer^ und neben die Polreiseerzählungen stellt. Die Moral, die Chamisso aus dem Scheitern der Südlandreise zog und die zur Schulbuchweisheit wurde, mußte Heym unerträglich scheinen. Die tieferen Gründe dieses Dissenses werden sichtbar, wenn man Chamissos Weg nach Salas y Gomez verfolgt. Dieser Weg wäre nicht denkbar gewesen ohne das ausgeprägte romantische Interesse an allem, was mit den Erdpolen zusammenhängt. Es manifestierte sich in England bei Coleridge, Shelley und Byron, in Deutschland bei fast allen Vertretern der Romantik von Novalis bis Eichendorff, der seine 1835 erschienene >Meerfahrt< in der Zeit der alten Polfahrerromane spielen läßt und »das unbekannte große Südland, das damals alle Abenteurer suchten«,2 ebenso in Erinnerung bringt wie die verhängnisvolle Vogeltötung, die von Schnabel und Coleridge her bekannt ist. Auch die romantische Malerei leistet ihren Beitrag: Caspar David Friedrich ließ sich 1822 vom Expeditionsbericht des Nordpolforschers Parry zu einem Bild anregen, das die Tragödie eines bei der Polsuche gescheiterten Schiffs 1

2

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Heyms Gedicht >VorhölleDie Insel der Ersdilaffung< eine Absage an >Salas y Gomez< sein. Vgl. Brief Heyms vom 3. 8 . 1 9 1 1 . - In: Dichtungen und Schriften, Bd. V I , S. j n f . Joseph von Eichendorff, Eine Meerfahrt. In: Werke, S. 1 2 7 1 .

>Ho£fnung< zeigt.3 Auf der Suche nach einer Begründung für dieses Interesse stößt man auf die Bemerkung Ricarda Huchs: »Die naturphilosophisch-romantische Lehre, daß das Leben ein Oscillieren zwischen zwei Polen sei, ist buchstäblich auf die zwischen den geographischen Polen schwankende Wanderlust und Sehnsucht der Romantiker anzuwenden.«4 Diese Anwendung vollzog auf seine Art jedoch bereits Goethe, der die romantische Poesie als ein Geschöpf des Nordpols feierte (s.u. S. n j ) , während Jean Paul noch einen Schritt weiter ging und die Romantiker selbst mit dem Pol verglich. Im Vorwort zu seinem >Komet< (1820) bezeichnete er sie als Männer, die den »Polarländern gleichen, die so zauberisch alle südliche Farbengluth und üppige Gestalten=Aussaat oben in einem kalten Himmel ohne Wärme von oben oder unten durch bloßen Nordschein vorzeigen«.5 Die kritischen Untertöne in diesem Satz werden deutlicher hörbar, wenn man ihm Jean Pauls Charakteristik des Ottomar in der >Unsichtbaren Loge< (1793) zur Seite stellt. Über diesen durchaus schon romantischen Charakter schrieb er: »Ottomars Seele aber war ein Polarland, das sengende lange Tage, lange Eis=Nädite, Orkane, Eis=Berge und Tempische Thäler=Flüsse durchstrichen.«8 Jene lebendige Fülle, die mit der gleichzeitigen Erstarrtheit einhergeht und mit ihr einen buchstäblich polaren Charakter konstituiert, wird bei Ottomar noch als integraler Teil des Selbst verstanden, später hingegen von Jean Paul als eine nordlichtartige Aura, bloßer Schein entlarvt. Diese Sätze illustrieren treffend die Entwicklung des Verhältnisses zur romantischen Existenz bei Chamisso. Am Anfang seines Weges stand das Bemühen um ein wahrhaft und buchstäblich polorientiertes Leben. Deshalb bildete er 1803/04 mit Gleichgesinnten den berühmten >NordsternbundPolarstern< nannte. Die Namengebung ging, wie der daran beteiligte Varnhagen von Ense berichtet, von einem »Geheimnißbild« Baaders aus, in dem die romantische Wissenschaft dem Nordpol, die Poesie dem Südpol zugeordnet war. 7 Vermutlich handelte es sich um das >Pythagoräische Quadrat in der Natur und in den Weltgegenden< (1798), das A. W. Schlegel in Berlin bekannt gemacht hatte. Der Polarstern sollte also zum Leitstern eines auf romantische Wissenschaft aufgebauten Denkens werden. 3

1 5 β 7

Vgl. Johannes Klein, Hölderlin, Caspar David Friedrich, Eidiendorff. In: D U 7, H. 2, S. 3 i f . Ricarda Hudi, Die Romantik, S. 383. Jean Paul, Der Komet, S. 8. Jean Paul, Die unsichtbare Loge, S. 249. Varnhagen von Ense, Denkwürdigkeiten. In: Ausgewählte Schriften, Bd. I, S. 264.

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Schon 1806 schlägt sich das Ereignis in Chamissos literarischer Arbeit nieder. >Adelberts Fabel·, ein autobiographisch ausgerichtetes Märchen in der Nachfolge des >Heinrich von OfterdingenSalas y Gomez«. Doch sie ist, ein Jahrzehnt nach der Reise entstanden, eine Absage an den Geist von >Adelberts Fabel·. Der am öden Felsen im Südmeer Gescheiterte ist eine romantische Gestalt, der sich das Streben ins Unendliche als Selbstbetrug erwiesen hat. Ihre grausam enttäuschten Träume sind mit denen des Columbus und des Shackleton Heyms identisch: hier wie dort die Hoffnung auf die Entdeckung eines Reichs voll Kostbarkeiten: »Ich sah bereits im Geiste noch vor mir/Gehäuft die Schätze der gesamten Welt.« 10 Hier wie bei Shackleton die Katastrophe. Die Desillusionierung des Ausbruchs ist 1829 so aktuell wie 1 9 1 1 . Aber das Einverstandenwerden mit dem selbstverschuldeten Schicksal, das Chamisso dann an seinem gecheiterten Helden demonstriert, das zur schließlichen Aussöhnung mit der zürnenden himmlischen Macht führende Gedulderlernen mußte Heym zum Ärgernis werden. Unerträglich war für ihn die Vorstellung, das Existierenmüssen unter Verlust des Zeitgefühls, in einer leeren Ewigkeit, sei nur eine Art zeitlicher Sündenstrafe. Daher setzt er gegen das Purgatorium seine >VorhölleInsel der ErschlaffungQuain< (1869) den Untergang Henochias schaut, sondern der Dichter selbst; die Vision ist ein apokalyptischer Angsttraum: Bien au-delä des Jours, des Ans multiples, D u vertige des Temps dont la fuite est sans treve, Qui me hante, depuis les songes oublies. J'errais, seul, sur la Terre. E t la Terre etait nue. L'ancien gemissement de ce qui fut vivant, L e sanglot de la Mer et le räle du Vent S'etaient tus a jamais sous l'immobile nue. le

Worum geht es bei diesen sterbenden Göttern auf arktischen Felsen? Hat Leconte de Lisle hier seine Variante des zu wachsender Beliebtheit gelangenden Götterdämmerung-Stoffes - zwei Jahre vor der Abfassung von >Le Dernier Dieu< war Elemir Bourges' >Le Crepuscule des Dieux< erschienen - schaffen wollen? Wird auch der Wagnerismus nicht ohne Ein7 8 9 10

Leconte de V g l . Irving Leconte de Leconte de

Lisle, L e dernier dieu. In: Poemes tragiques, S. 150. Putter, L a derniere illusion de Leconte de Lisle, S. 25. Lisle, a.a.O., S. 150. Lisle, a.a.O., S. 149. ll

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fluß auf die Konzipierung des Bildes gewesen sein, so soll es doch etwas anderes zum Ausdruck bringen als die welterlösend versinkende Walhalla. Einmal nennt Leconte de Lisle den sterbenden Gott beim Namen: Es ist Amor, der aber weder den sterbenden großen Pan noch den gekreuzigten Dionysos - für beide beginnt sich die Literatur um 1880 verstärkt zu interessieren - vertreten soll, sondern der als Personifikation der lebenerhaltenden menschlichen Kräfte gedacht ist und mit seinem Tod diese als illusionär erweist. Der Weltuntergang ist eine Funktion von Amors Tod: »la fin du monde arrivera avec la fin de l'amour.« 11 Die Auflösung der zwischenmenschlichen Beziehungen führt die Welt in ihre Vereisung und läßt das Individuum in einer Situation zurück, die, wie >Le Dernier Dieu< zeigt, der des letzten lebenden Menschen entspricht. 3. 1879 beschäftigte sich Jules Laforgue mit zwei Werken, deren Faszinationskraft für seine eigene Dichtung bestimmend werden sollte; es waren die >Po£mes barbares< von Leconte de Lisle und Eduard von Hartmanns >Philosophie des Unbewußten< (1869) in der Übersetzung von Nolen. 12 In Hartmanns Buch, das er sein Leben lang als seine Bibel verehrte, konnte Laforgue die Szenerie von >Paysage polaires< wiederfinden im Rahmen einer philosophisch-psychologischen Gesamtdeutung des Weltprozesses, die ihm die Endzeitklagen und -ängste Leconte de Lisles als bestätigende Symptome erscheinen lassen mußte. Hartmann sprach vom Eintritt eines »Abkühlungsprocesses«,13 der mit der Bewußtseinsentwicklung der Menschheit einhergehe bis zu dem Zeitpunkt, da die Erde »einst vollständig erstarren«14 werde. Wieder mußte der hohe Norden als Präfiguration des Zukünftigen herhalten: Allen relativ noch so berechtigten Hoffnungen blühender Menschheitsentwicklung und winkender Weltverbesserung gegenüber hält uns das Aussterben der grönländischen Eskimos, welche familienweise erfroren in ihren Schneehütten gefunden wurden, gleichsam als ein beständiges >memento mori< für die Menschheit das dereinstige Lebensbild der letzten Menschen in dem alsdann wärmsten Lande der Erde vor. 1 5

Der forciert sachliche Ton der Prognose, der dem - im Grunde ja denkbar geringen — Anspruch der Theorie auf Wissenschaftlichkeit gerecht werden sollte, bewirkte bei Laforgue die Abkehr von Leconte de Lisles Mythisierung des Endzustandes. Der letzte Mensch werde sich nicht mehr mit der 11 12

13 14 15

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Putter, a.a.O., S. 2 j . Vgl. Pascal Pia. L a vie de Jules Laforgue. In: Laforgue, Poesies completes, S. i 4 f . Eduard von Hartmann, Philosophie des Unbewußten, Bd. III, S. 82. Hartmann, a.a.O., S. 89. Hartmann, a.a.O., S. 90.

nostalgischen Beschwörung von »antiques chim^res« beschäftigen; eine neue Haltung sei von ihm zu fordern: »Et r^signe d'avance ä ses lois ^cessaires / Tu marqueras en paix, l'äme ivre d'absolu, / Les derniers battements de ce bloc vermoulu.« 16 Der traurig-entsdilossene Blick nach vorn, von Nietzsche diagnostiziert und später als fatale, die Katastrophe nicht mildernde, sondern überhaupt erst provozierende Schein- und Fehlhaltung erwiesen, audi hier wird er mit Beifall bedacht. Der Mensch, an den Laforgue sich mit seiner Prognose richtet, wandert durch eine Polwüste, deren Beschreibung dem Leser fast bis zur Ermüdung in immer wiederkehrenden Formen vorgehalten wird: Alors grelottant, formidable, la Terre A u lieu des tapis d'or que lui faisaient les bl£s N e montrant tour έ tour que steppes desoles A l'infini, n'etant qu'un desert polaire Sentira tout έ coup dans la nuit solitaire Les frissons de la mort secouer ses reins geles

Es ist zwar äußerlich den letzten Menschen der biologischen Niedergangstheorien gleich, ein Kümmerling, »l'homme des vieilles races«,18 der im Sinne von Hartmanns Theorie zugleich zum total vergeistigten Skelett, zum >Bewußtseinstier< (so nante ihn später Klages) geworden ist, aber er wird von Laforgue gezielt zu einer Symbolfigur gemacht: »le Dernier«. Die Umformung ist für den deutschen Leser nichts Unbekanntes; er kennt sie aus Nietzsches >Zarathustra< (1883), der seiner Gemeinde den gleichen Letzten angekündigt und im voraus beschrieben hat: »Seht! Ich zeige euch den letzten Menschen.«.19 Bei Nietzsche wie bei Laforgue zeigt sich mit der Konzipierung dieser endzeitlichen Kollektivfigur ein Wendepunkt in der Geschichte der literarischen Beschreibung des Endzustandes der Menschheit. Ein neuer Mythos kündigt sich an, der die Stelle der sterbenden Götter Leconte de Lisles einnimmt. Seine Entstehung hat besondere Voraussetzungen, die sich aus Andeutungen Laforgues erschließen lassen. Das Gedicht >Reve< umschreibt die Entstehungssituation: »Je ne puis m'endormir; je songe [ . . . ] . / Si ce Globe endormi gelait subitement? / Si rien ne s'iveillait demain! Oh! quel grand reve!« 20 Aus dem träumerischen Nachdenken entfaltet sich die Zwangsvorstellung von der Vereisung des Erdballs während des Schlafs. Dann wäre er, der einsam Wachende, 16 17 18 19 20

Laforgue, L'Esperance. In: Poesies completes, S. 4 2 3 . Laforgue, a.a.O., S. 422. Laforgue, Enfer. In: Poesies completes, S. 460. Nietzsche, Also sprach Zarathustra. In: Werke in drei Bänden, Bd. II, S. 284. Laforgue, a.a.O., S. 4 5 4 .

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gleichsam der einzige und letzte Zeuge dieses Geschehens. Die eigene Situation der Isoliertheit verschmilzt mit der alptraumhaften Vorstellung vom Weltende; Laforgue selbst tritt dabei als der letzte Mensch hervor. Wir brauchen nur zum Gedicht >Le Dernier Dieu< zurückzukehren, um ein ähnliches Beispiel für die Entstehungssituation zu finden. Dort bezeichnete sich ja Leconte de Lisle als letzten auf der Erde umherirrenden Menschen. Im Traum hat er sich so gesehen, aber dieser Traum wird von ihm nicht als Zufallsprodukt angesehen, sondern als zwanghaftes Resultat einer persönlichen Situation, die ihm nicht einmal mehr Möglichkeit zur Klage als letzter Stufe des Sichmitteilenkönnens läßt: »L'immuable reve/ Qui me hante, depuis les songes oub^s.« Die Entwicklung von der Niedergangstheorie zur stilisierten literarischen Figur scheint demnach nicht unwesentlich gesteuert zu werden durch einen besonderen psychischen Erfahrungsmodus. Nur wer ihn genau kennt, kann hinter den Sinn des Motivs kommen. Dessen breite Entfaltung im Zeitalter Byrons und seine Weiterführung bis zu Heym (vgl. S. 7of.) zeigt, daß man hier ein zentrales Problem der literarischen Apokalyptik vor sich hat. Seine Lösung wird wiederum dadurch erleichtert, daß sich die Gestalt des letzten Menschen in Beziehung setzen läßt zur Vorstellung vom Reich am Pol, und zwar schon bei Laforgue selbst. Die bei Leconte de Lisle anzutreffende Duplizität der Endzeitperson letzter Mensch und letzter Gott - wird in den zitierten Gedichten Laforgues aufgelöst. Doch der letzte Gott, den er als antike Chimäre ablehnt, taucht in seinem Gedicht >L'Ile< (veröffentlicht 1888) in anderer Gestalt wieder auf als ein zum absoluten Herrscher gesteigerter Nachfolger des romantischen Arcturus und des Runoia. Sein Reich ist die Insel, die den Nordpol bildet: C'est l'ile; Eden entoure d'eau de tous c o t e s ! . . . J e viens de galoper avec mon Astarte Α l'aube des mers; on fait sedier nos cavales. Des veuves de Titans delacent nos sandales, Eventent nos tresses rousses, et je reprends Mon Sceptre tout ecaille d'emaux effarants! 2 1

Aber ganz plötzlich unterbricht der göttliche Herrscher die Beschreibung seines Paradieses — »Ah! non, c'est pas cela, mon lie, ma douce i l e . . . « — und enthüllt seine wahre Situation: Mon ile pale est au Pole, mais au dernier Des Poles, inconnu des plus fols bleiniers! Les Icebergs entrechoques, s'avanjant pales Dans les brumes ainsi que d'albes cathedrales 21

Laforgue, L'ile. In: Poesies completes, S. 2 j j .

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M'ont cerne sur un bloc; et c'est lä que, tres-seul, J e fleuris, doux lys de la zone des linceuls, A v e c ma mie! 22

Alles war nur Einbildung, ausgesponnen von einem desolaten Ich! Die apokalyptische Polrose als Hoffnungssymbol wird abgelöst durch die schneefarbene Totenblume, diese Desillusionierung sollte die Romantik treffen. Kathedralen, sichtbarer Ausdruck einer Präsenz des Göttlichen, entpuppen sich als Eisberge und enthüllen damit die Wertlosigkeit sämtlicher metaphysischer Rückversicherungen. Gerade dieses Bild wird später (1931) Henri Michaux wieder aufnehmen, um die Eisberge als »religionslose Kathedralen«, als polare Götterfiguren des Nirwana und als Leuchtfeuer der Hoffnungslosigkeit zu feiern: Icebergs, sans garde-fou, sans ceinture, oü de vieux cormorans abattus et les ämes des matelots morts recemment viennent s'accouder aux nuits enchanteresses de l'hyperboreal. Icebergs, Icebergs, cathedrales sans religion de l'hiver eternel, enrobes dans la calotte glaciaire de la planete Terre. Combien hauts, combien purs sont tes bords enfantes par le froid. 2 3

Die von Laforgue schockartig enthüllte trostlose Wahrheit wird ihm zur neuen Voraussetzung, von der das Dichten auszugehen hat. Die mythische Zauberkraft, die Michaux dem Pol zuschreibt, besteht in dessen Fähigkeit, dem Nichts Gestaltungen zu verleihen, die zum Gegenstand hymnischen Preisens werden können. - Man erinnert sich angesichts dieser Kathedralen wieder an jene Glasdome, mit denen Däubler die Arktisierung des Erdballs künstlich vorwegnehmen und die Sdheerbart der untergehenden Menschheit bereitstellen wollte. Hinter beiden Utopien stand die Absicht, die aus der Entdeckung des Polkönigs bei Laforgue hervorgehende Trostlosigkeit mit den Mitteln der Kunst aufzufangen, das eingebildete Paradies durch seine künstliche innerweltliche Realisierung vor dem Untergang zu bewahren. Man erinnert sich aber audi an den Fischer-König Eliots, der statt des überirdischen Gralstempels die ruinöse gefährliche Kapelle< antrifft. Hier gelingt weder die Regenerierung des utopischen Hoffens durch einen Austausch des Materials zu ihrer Verwirklichung, noch wird der Trost durch ein Anerkennen des Unausweichlichen für rechtens gehalten. Eliot insistiert auf die Gefährlichkeit, die noch den Trümmern der zerstörten, zerflossenen falschen Einbildung innewohnt und will zur Analyse jener Haltung aufrufen, die zum Scheitern der Erwartungen geführt hat. 22 23

Laforgue, ebd. Henri Michaux, Icebergs. In: L a nuit remue, S. 93.

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Das Bekenntnis des Polkönigs in Laforgues Gedicht bezeichnet genau jene Umschlagstelle von hochgespannter Erwartung herrlicher Paradiese und enttäuschtem Konstatierenmüssen der fatalen Wirklichkeit, die im Verlauf der Polreiseberichte Poes und Heyms zu bemerken ist. Doch werden bei Laforgue eigentlich nicht die Erwartungen eines Ichs getäuscht, sondern jenes Ich, das sich anderenorts als letztes Ich zu erkennen gibt, erweist selbst seine Behauptung, im Besitz absoluter herrscherlicher und schöpferischer Macht und damit ein neuer und letzter Gott zu sein, als Trug. Goethes Riesenkind, mit dessen Geburt am Pol die Herrschaft der Poesie beginnen sollte, hat sich zu einem Monstrum entwickelt, dessen Einbildungskraft die neue Wirklichkeit nicht zu schaffen vermag. In dieser Depravierung der Romantik steckt ohne Zweifel audi schon eine vorwegnehmende Kritik an den Herrschergestalten des Fin de Si£cle, bis hin zu Georges Algabal. Aber die greographische Lage dieses arktischen Gartens Eden verweist neben der Unterreichsthematik eben auch auf die Reiche am Pol, die in der Dichtung immer wieder gegründet wurden, von Schnabel bis Brjusov. Etwas von Gründen für die Brüchigkeit dieser Reiche wird erkennbar und — was hier noch wichtiger ist - der Berührungspunkt der gefährdeten oder untergehenden Neuschöpfung mit der Kollektivfigur des letzten Menschen, der sich zum letzten Gott erhebt. 4. Die von Thomas Mann als psychologische Merkwürdigkeit verzeichnete Begrenztheit des apokalyptischen Formen- und Bilderkanons24 ist nicht nur, wie Mann meinte, auf die überaus dichte Uberlieferungssphäre der apokalyptischen Literatur zurückzuführen. Einen weiteren Grund bildet die merkwürdige Tatsache, daß jede Katastrophentheorie einen solchen genau umrissenen Kanon aus sich entläßt. So sind es gerade die Vertreter der Weltvereisungstheorie, die, ohne voneinander zu wissen, regelmäßig zum Bild der Polinsel greifen. Benn kannte Laforgues Werk auf keinen Fall, und dennoch machte er sein >letztes Ich< zum Herrn einer Insel »am Ende der Welt«,25 über der »der Mitternachtssonne brandiges Mal« 29 leuchtet. Hier hat sich die imaginierte Herrlichkeit bereits als »tote Halluzination« zu erkennen gegeben. »Hier ist die letzte Rose, die Eis- und Edenrose«, »hier ist einheitliche Farbengebung unter Eis und Schweigen«.27 Indem Benn das >letzte Ich> zum Träger dieser Schöpfung bestimmt, hat er mit aller Deutlichkeit den Zusammenhang von Bewußtseinsverlust 24 25 26 27

Thomas Mann, Doktor Faustus, S. 4 7 5 . Benn, Das letzte Ich. In: Gesammelte Werke, Bd. V , S. 1 2 6 7 . Benn, a.a.O., S. 1268. Benn, ebd.

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und Untergang herausgestellt, wobei dieser Verlust, genau wie bei Laforgue, nicht eine introvertierte Aufgabe bedeutet, sondern das Ergebnis höchster Uberanstrengung ist. Insofern bildet die Insel am Pol ein Gegenstück zu Ithaka, das Odysseus schlafend erreichte und zu dem Rönne fliehen wollte nach dem mißglückten Versuch, den Norden zu zerstören.28 Die Absicht, das »rosenschößige« Ithaka mit Hilfe des Bewußtseins am Pol zu konstruieren, endet mit einer Eisrose - das alte Motiv der arktischen Blüten, der pfingstlichen Polrosen, dessen sich Hölderlin, Novalis, Baader, Rimbaud, Laforgue, Mombert und Däubler bedienten, um ihre eschatologische Position zu konkretisieren, kommt bei Benn noch einmal zu voller Entfaltung, nachdem, wie Northrop Frye hervorgehoben hat, gerade die Rose von Dante bis zur Romantik immer stärker den Charakter einer archetypischen Metapher der Apokalyptik gewonnen hatte.29 Was dem >letzten Ich< nicht gelungen ist, das werden seine Nachfolger schaffen. Die neuen Völker, von denen Benn im Zusammenhang von Scotts Untergang sprach, bewußtlose Kollektive, werden mit schlafwandlerischer Sicherheit den Pol mit Rosen bepflanzen, das arktische Ithaka ins Leben rufen. Damit hat Benn das Bild vom letzten Felsen um eine wesentliche Nuance bereichert. 5. Wie dieses Bild aussehen müßte, wenn es einer optimistischen Zukunftsperspektive dient, könnte am ehesten seine Verwendung im Zeitraum zwischen dem sich verdüsternden Symbolismus Laforgues und dem resignierenden Expressionismus Benns, also durch die Erneuerungsbewegungen der Jahrhundertwende zeigen. Tatsächlich gibt es dafür ein Beispiel: In Dauthendeys Frühwerk tritt an die Stelle der senilen Göttergestalten ein Titan: A u f dem schwarzen Fels ein Mann, ein Titan. Nackt, breit die Beine gestemmt gegen die rasende Luftflut, und breitgepreßt die nackte, rote Brust. Reißt dunkelsdiarfe Blöcke los, schleudert, wildgesdiwollen die Muskeln, die schwarzen Blöcke donnerladiend nach der silberweißen Sonnenscheibe.30

Diese jugendstilhafte Gestalt, die durchaus dem Ideal jenes Menschentyps nahekommt, dem Benn später die Fähigkeit zur polaren Existenz zusprechen wird, hat Dauthendey im Tagebuch einer Nordlandreise (1893/ 94) beschrieben und als >Gesicht der Einsamkeit bezeichnet. Das visionsartige Erlebnis an der winterlichen Nordmeerküste kehrt in modifizierter Form wieder im >Festlichen JahrbuchPan< erschien. Geschildert wird dort eine Wanderung an den nördlichen 28 29 30

Vgl. Benn, Ithaka. In: Gesammelte Werke, Bd. V I , S. 1 4 7 8 L Northrop Frye, Analyse der Literaturkritik, S. 146. M a x Dauthendey, Frühe Prosa, S. 230.

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Rand der Welt, die jedoch gleichzeitig Bild sein soll für einen Abstieg in den »Schacht der tieferlebten Dinge« 81 und für ein psychisches Sterben. Der völligen Entleerung der Außenwelt und dem Schwinden des Bewußtseins folgt jedoch eine Wiedergeburt: Doch glaube mir, du stirbst in jenem fremden Lande, denn dich verschlingt die große Stille dort, Und jene Stille ist es auch, die dich mit mächtigen Augen wiederum gebiert. Dann aber bist du Bruder jener Erde, Geschwister sind dir Wolken und die Berge. Sie sind dir Sänger auch und schöne sanfte Frauen; die Stille in den Klippen schafft dich sehend. 32

Der Vorgang ist die genaue Umkehrung der Geschehnisse in Laforgues Insel-Gedicht. Die Fähigkeit, Leben und Fülle zu sehen, wo nur Stille und Kargheit herrschen, geht dem Pol-König Laforgues verloren, hier wird sie erworben. Entsprechend erfährt auch der Mythos vom polaren Gottmenschen, mit dem Dauthendey das >Festliche Jahrbuch< ausklingen läßt und der die Tagebuchnotiz ausgestaltend aufnimmt, eine neue Formulierung: N o d i eine Klippe ist der letzte Stein im Meer, es wohnen keine Menschen da, nur Möwen nisten.

[Η Sie sagen es, auf diesem letzten Stein wird einst der letzte Mensch geboren, Und seine Seele steht im tiefen Himmel, und seine Seele liegt im tiefen Meer, Und festlich gehen Wolken und die Sonnen und alle Wellen in ihm auf und nieder. Ich hatte mich auf einem öden Stein geglaubt und wurde es gewahrt, es lebt noch um den letzten Stein ein Fest. 33

Liest man die Tagebuchnotiz als einen Kommentar zu dieser Stelle, dann wird Dauthendeys Konzeption deutlich. Letzter Mensch und letzter Gott sind identisch, aber gerade aus dieser Identität folgt die Verwandlung des letzten Menschen in den Erstling einer neuen Schöpfung. Die Dichotomie von altem und neuem Menschen gemäß dem neutestamentlichen Menschenbild, jene Leerstelle der Geschichte, an der sich die apokalyptische Katastrophe ansiedeln kann, wird dadurch überwunden. Deshalb fehlt hier auch der Ruf nach Veränderung, nach gewaltsamem Abbruch des Äon, den der Expressionismus mit seiner Erwartung des >homo novus< verbinden wird. Der neue Mensch soll nicht aus den Wehen einer untergehenden Welt geboren werden, sondern er wird fernab aller geschichtli31

32 33

Dauthendey, Festliches Jahrbuch. In: Gesammelte Gedichte und kleinere Versdichtungen, S. j 6 j . Dauthendey, a.a.O., S. 568. Dauthendey, a.a.O., S. 569.

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dien Wirren, am entrückten nördlichsten Punkt der Welt, in festlichem Einklang mit der Schöpfung erscheinen. Dennoch ist eine Dissonanz nicht zu übersehen. Die Tagebuchbeschreibung des Titanen atmet zwar nicht gerade den Geist der Revolte, stellt seine anmaßende Verfügungsgewalt aber doch in ein spürbares Spannungsverhältnis zu einer durch die Sonne symbolisierten Instanz. Dieses Menschenbild ist eindeutig dem Denken Nietzsches verpflichtet. Aus dessen Alternative Ubermensch - letzter Mensch wird im Verlauf von Dauthendeys Werk eine Einheit; damit einher geht der Abbau aller in der Titanengestalt angelegten Autonomie- und Protestzüge zugunsten einer monistischen Allverwobenheit. Blickt man hingegen auf die vor der Nordlandreise entstandenen Arbeiten, dann sieht man den Grund für die zeitweilige Annäherung an Nietzsche. In der 1893 erschienen >SündflutPhallus< wird das Thema der >Rache der Natur< in fast frühexpressionistischer Art schon zum umfassenden Weltuntergang ausgebaut.) Die Apokalypse, die sonst mit dem Schicksal der polaren Existenz verknüpft ist, hat also auch in Dauthendeys Vorstellungsrahmen ihren festen Platz. Erst durch die Aufhebung aller Widersprüche in monistische Festlichkeit gelingt es ihm, sie zu eliminieren. Katastrophaler Untergang und festliche Widergeburt vollziehen sich im gleichen mythischen Bild. Die Ich-Perspektive, die Laforgue in den 34

Dauthendey, Sündflut. Sangdichtung. In: Gesammelte Gedichte und kleinere Versdichtungen, S. 9of.

125

Vorgang eingeführt hat, scheint aufgegeben. Doch der plötzliche Wechsel vom objektivierenden »Sie sagen es« zum Gewahrwerden der eigenen Situation, der sich am Ende des >Festlichen Jahrbuchs< abzeichnet, legt eine Identifikation dieses Ichs, das zum nördlichen Rand der Welt gewandert ist, mit dem endzeitlichen letzten Menschen nahe. Der zeitliche Abstand schrumpft zusammen, die existentielle Bedeutung, das >pro me< der mythologischen Aussage wird aufgedeckt. Damit scheinen die Eschata wieder auf jene präsentische und individuelle Erfahrungsebene gehoben zu werden, die schon bei Laforgue maßgebend für die Interpretation war. Dauthendey selbst gibt für die Richtigkeit dieser Vermutung den Beweis. In seinem Gedichtband >Reliquien< (1897/99) erwächst der Eindruck, der letzte Mensch zu sein, aus der Entfremdung von der Natur und dem Fehlen jeglicher Kommunikation. Gleichzeitig aber wird die nicht auflösbare Ambivalenz dieses Zustands betont. Wer als einziger Mensch auf der Welt lebt, wird zum Schöpfer dieser Welt: Bin allein. Bin der einzige Mensch, der lebt. Der einzige, den die Welt geboren. Bin allein. Bin der einzige Gott, der lebt. Gott, der diese Welt geboren.35

6. Noch einmal erscheint das Bild des im geographischen >extremum ultimum< gelegene Götterfelsens in der Dichtung: Spitteier führt ihn im >01ympischen Frühling< (1900-1905) als den »Felsen Eschaton« ein, dadurch jeden Zweifel über den Sinn des Motivs beseitigend. Ebenso eindeutig sind die übrigen Lokalitäten - der »See Nirwana«, in den der Fels hineinragt, und das »Land Meon«, das man von seinem Gipfel aus mehr erahnen als erblicken kann. Auf ihrer Reise durch die Welten lagern sich Spittelers Olympier auf diesem Kap und sind so tief ergriffen von der Situation, daß sie dort das Ende der Welt erwarten wollen. Hier auf dem Felsen Eschaton, da laßt midi sitzen Und nach dem Lande Meon Aug und Ohren spitzen. Wer weiß, ob heute nicht vielleicht der Hahn noch kräht? Die Welt ist alt, und der Erlöser ist schon spät.38

Nur mit Mühe gelingt es ihrem Führer, sie vor dem trostlosen Schicksal der Götter bei Leconte de Lisle zu bewahren und sie zur Weiterreise zu bewegen mit dem Hinweis, durch das Verweilen auf dem Felsen begäben 35

se

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Dauthendey, Reliquien. In: Gesammelte Gedichte und kleinere Versdiditungen, S. io6f. Carl Spitteier, Olympischer Frühling. Gesammelte Werke, Bd. II, S. 91.

sie sich der Möglichkeit, handelnd in die Weltgeschichte einzugreifen. Der Felsen ist also nur für den richtigen Platz, der die Hoffnung auf Veränderung der realen Gegebenheiten fahren gelassen hat und seine Zeit mit dem Ausbilde auf die Gestaltungen des Nichtseienden verbringt. Wieder wird die utopische Dimension angesprochen und mit der Bewußtseinsproblematik verknüpft. Sollte Spitteier das symbolistische Verständnis der Reisen zum letzten Gestade gekannt haben, dann schwingt hier sicherlich eine Kritik an diesem Verständnis mit.

I2

7

VI. Der Würfelwurf

ι. 1895 veröffentlichte Mallarme im deutschen >Pan< den Originaltext eines vom Schiffsuntergang handelnden Sonetts, dessen Einzelheiten enge Verbindungen zu Poes polaren Landschaften aufweisen. 1 Da ist von einem Ort »de basalte et de laves«2 die Rede gleich dem des >PsycheUn Coup de herstellende Bezeichnung dieses Traums: »ce songe polaire« ! 33 Der Würfelwurf stellt den Versuch dar, diesen Traum von seiner Flüchtigkeit zu befreien und so an die Stelle der vorübergehenden Tilgung der Objektwelt eine echte Unendlichkeit zu setzen. Die Urtat soll erreichen, »que l'Infini est enfin fixe«.Si Wer aber die als Ideal erhoffte totale Weltlosigkeit, das absolute Nichts als fixierte Unendlichkeit bezeichnet, gebraucht ein Paradox, das schon etwas verrät vom wahren Charakter dessen, was hier erreicht worden ist. Mit aller Deutlichkeit hat Mallarmi nähere Aussagen darüber gemacht in einem Gedicht, welches die Struktur der Polreise auf das herkömmliche Bild vom Sterben des Schwans (veröffentlicht i88j) überträgt. Der Augenblick, der Agonie, der das Ende der Zeit herbeiführt, bringt nicht den erwarteten Eintritt des Nichts, sondern mit dem Verschwinden der gezeitigten Objektwelt, des »Schmachs der Erde«, bricht als ein neuer Schrecken der von der Zeit losgelöste, chaotische Raum herein: Tout son cole secouera cette blanche agonie Par l'espace inflig£e έ l'oiseau qui le nie, Mais non l'horreur du sol oü le plumage est pris. ss

Der Versuch, die weltlose Zeitlichkeit des Traums zu übersteigen auf absolute Zeitlosigkeit hin, endet mit dem Einbruch des enttemporalisierten Raums als einer fixierten Unendlichkeit. Dieses »infliger« ist identisch mit der »irr£cusable intervention du surnaturel« beim Sprachgeschehen. Die angsteinflößende Macht, die auf das Objekt am Ende der Weltvernichtung zukommt, hat einen Namen erhalten. Daß sie nicht einfach >Nichts< heißt, ist wichtig genug, wenn man bedenkt, wie leichten Herzens die moderne Poetik sich dieses Begriffs bedient und dabei übersieht, daß sie mit einer pseudomystischen, unqualifizierten Größe operiert. Zumindest bei Mallarm£ ist das Nichts kategorial bestimmbar geworden. j . Nur bei ihm? Auch bei Poe ist das Nichts ein räumliches Phänomen. Wie anders wäre seine Bemerkung zu verstehen, das Bewußtsein der »intemporal soul« 3 ' erfasse nach der Vernichtung der körperlichen Existenz durch Verwesung nicht mehr das zeitliche Sein, sondern dessen Gegenteil, den Raum: »The consciousness [ . . . ] of mere locality had, in great measure, usurpated its position.«37 Oder noch deutlicher: »The idea of 33 34 35 36 87

Mallarmd, a.a.O., S. 436. Mallarme, a.a.O., S. 442. Mallarme, Poesies, a.a.O., S. 68. Poe, The Colloquy of Monos and Una, a.a.O., S. 2 1 0 . Poe, a.a.O., S. 2 1 1 .

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entity was becoming merged in that of place.«38 Nicht zu vergessen auch Baudelaire, der der Aufhebung des Zeitbewußtseins im weltvergessenden halluzinatorischen Erleben nicht, wie man gern sagt, eine >leere Ewigkeit< folgen läßt, sondern dafür die Bestimmung gefunden hat: »profondeur de l'espace, all^gorie de la profondeur du temps«38 - wobei man der Ubersetzung Baudelaires Allegorie-Verständnis zugrundelegen muß: Raum ist hier entfremdete, verdinglichte Zeit, die Leiche der Zeit. Und schließlich ist an Byron zu erinnern, der in seinem >Cain< Luzifer die im Weltuntergang zerstörte Zeit mit dem Raum auf eine Ebene stellen läßt.40 Die geistige Herkunft aller dieser Gewährsleute legt die Vermutung nahe, daß wir es bis zu Mallarm^ hin mit dem konsequent weitergeführten romantischen Nachdenken über die Dialektik von Raum und Zeit zu tun haben. Schon in der Romantik sind die Gewichte von Freiheit und Zwang eindeutig verteilt worden, wie der Satz des Novalis zeigt: »Raum ist beharrliche Zeit, Zeit ist fließender, variabler Raum.« 41 Lorenz Oken Schloß sich diesen Spekulationen an (vor allem in seinem >Lehrbuch der Naturphilosophie^ 1809). Über ihn kam Amiel mit dem Gedanken in Berührung und entwarf seine um Ausdehnung und Zusammenbruch im punktuellen Zentrum kreisende Philosophie. Darin treten die in der Romantik vorherrschenden positiven Aspekte der Zeit-Raum-Veränderung immer mehr zurück. Der reine Raum wird schließlich als die das zeitliche Sein bedrohende verschwörerische Macht empfunden, der man nur beikommen kann, indem man sich selber in diesen Raum hinein auflöst. 42 Eine ausweglose Situation der Wahl zwischen Überwältigung und Selbstaufgabe. Aus den gleichen Quellen schöpfend hat später Belyj sein ganzes apokalyptisches System auf der Vorstellung aufgebaut, wenn die Zeit = 0 geworden sei, explodiere diese 0 zum riesigen zeitlosen Raum totaler Stagnation, der mit der Körperlichkeit des zerstörten Subjekts identisch ist.43 Gedanken solcher Art lassen sich weit in unser Jahrhundert hinein verfolgen. Auch hier wird der dramatische Gipfel- und Endpunkt im Expressionismus erreicht; etwa bei Ehrenstein, der sein Erleben der Gegenwart als eines permanenten Jüngsten Tages mit der Umwandlung von Zeit in Raum begründet - »Wer säuft die Zeit? / Wer speit den Raum?« 44 38 39 40 41 42

43 44

Poe, ebd. Baudelaire, Les paradis artificiels, a.a.O., S. 580. Byron, Cain, a.a.O., S. 5 3 1 . Novalis, Das allgemeine Brouillon. In: Schriften, Bd. III, S. 4 2 7 f . Vgl. Henri-Frederic Amiel, Grains de mil, S. 160. - Georges Poulet, Metamorphosen des Kreises, S. 2 5 5 - 2 6 6 . Vgl. Andrej Belyj, Petersburg, S. 2 5 2 - 2 5 7 . Albert Ehrenstein, Der ewige Raum. In: Gedichte und Prosa, S. 2 3 7 .

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- und dies am Bild der Uhr illustriert: ihre Zeiger machen kreisende Bewegungen, produzieren eine räumlich-geometrische Figur und beweisen ihm gerade dadurch, daß die Zeit in Wahrheit aufgehört hat. »Im Kreis die Weltuhr läuft — Sie steht.«45 Aus der fortschreitenden ist eine beharrlich-räumliche, eine Tubutsch-Zeit geworden. 6. Die Erkenntnisse, die sich aus dieser Interpretation der Mallarm^Texte für den Gesamtbereich der literarischen Polreise ableiten lassen, betreffen sämtliche Abschnitte des von Mallarme beschriebenen Prozesses. In der Urtat seines Maitre erscheint zugespitzt das prometheische Aufbegehren, mit dem die Polreise von ihren Anfängen her verbunden ist, nur daß die Macht, die niedergerungen werden soll, hier Zufall heißt. Kaum bedarf es des Hinweises, daß in »les des« eine alte Götterbezeichnung steckt, um zu erkennen, welcher Instanz hier der Zufall gleichgesetzt wird. Diese Tat beendet nicht einen Rückzug von der Welt, sondern ein Zerstörungswerk. Das Subjekt erscheint in der Rolle des Weltzerstörers, ist Initiator einer Apokalypse und nicht, wie in vielen anderen Polreisetexten beobachtet, deren Opfer. Zudem mündet die Reise nicht etwa, wie in Heyms >Gesang der TotenUn Coup de desDada-Manifest< von 1918. Dort wird der Anspruch des Dadaismus, jenseits dieser Welt der Logik auf die Wahrheit gestoßen zu sein, mit dem Satz illustriert: Widerspruch und Einheit der Polsterne in einem einzigen Wurf können Wahrheit sein.46

Damit hat Tzara implizit den Würfelwurf des Maltre bei Mallarme mit dem zugleich destruktiven und schöpferischen Tun des Dadaisten gleichgesetzt; ja er behauptet sogar, dem Dadaisten gelänge, was bei Mallarme zum Scheitern verurteilt ist. Bezieht man nun, von dieser programmatischen Erklärung geleitet, Tzaras Gedichttext auf den von Mallarmd beschriebenen Prozeß, dann erscheint die nach selbständigen Ordnungsprinzipien gefügte polare Welt aus Farben, Strahlen und Lichtkaskaden als Einlösung dieses Anspruchs. Und doch wird das schöpferische Unternehmen in den letzten Zeilen des Gedichts stark relativiert. Die Formulierung >Die Abgründe toben/Herr meine Geometrie< ist ohne Zweifel einem verbreiteten Hilferuf der alttestamentlichen Psalmen nachgestaltet (vgl. ζ. B. Ps. 6 9 , 1 4 - 1 7 ) . Das heißt, diese boreale Welt ist in Gefahr unterzugehen, und die Zuflucht zur Geometrie erscheint als die einzige Rettungsmöglichkeit. Dieses Resultat ist völlig identisch mit den Ergebnissen, die in der Analyse der Texte M a i l a n d s erbracht worden sind. Die Möglichkeit eines Gelingens der schöpferischen Urtat nach der Zerstörung des Bestehenden wird von Tzara bejaht. Sein Problem ist die Beständigkeit der neuen Wirklichkeit. Was auf sie folgt, ist identisch mit dem, was bei Mallarn^ direkt dem Scheitern der Urtat folgt. Doch während Mallarme im geometrischen Raum etwas Defizientes und eine Gefahr sieht, versteht ihn Tzara offenbar als ein Prinzip, das zur Sicherung der borealen Welt dienen kann. Schließlich scheint das Gedicht audi die Ursache des Untergangs der neuen Wirklichkeit zu nennen. Das Chaos begehrt auf, wenn die >Frage nach dem Wie< gestellt wird, wenn man sich nicht mehr mit dem bloßen Anschauen der artifiziellen Schöpfung begnügt. Die Konsequenzen dieser Analyse sind im Augenblick noch nicht überschaubar. Es darf jedoch an das Urteil Hazards erinnert werden, der den am Pol entstehenden neuen Welten »Geometrismus« als Hauptmerkmal zugesprochen hat. Es wurde gezeigt, wie dieser Geometrismus auch in der weiteren literarischen Tradition bestimmend bleibt, von Schnabels >Insel 48

Tristan Tzara, Dada-Manifest. In: Richard Huelsenbeck (Hrsg.), Dada, S. 53.

137

Felsenburg< bis zu Brjusovs >Reich des SüdkreuzesSimplicissimus< ein Nordpol-Gedicht von Edgar Steiger, einem Redaktionsautor der Zeitschrift: Selbsterkenntnis Ich bin der Pol, das heißt der Punkt, In dem das Denken untertunkt; Der alten Weltenesche Wipfel, Der Erdenachse letzter Zipfel, Mit dem der Mensch, der auf mir steht, Sich langsam um sieht selber dreht; Ein mathematischer Begriff, U m den seit je der Südwind pfiff, U n d drum ein Horizont gespannt, D r i n Ost und Westen unbekannt, U n d wo, wenn du didi umgeguckt, Der Norden auf den K o p f dir spuckt; Ein Garnichts ohne Raum und Zeit; Ein Sprungbrett für die Ewigkeit; Ein Erdfleck ohne Zeit und Raum, Ein Widerspruch, ein Trug, ein Traum, Mit ew'gem Schnee und Eis bedeckt U n d schon zum zweiten Mal entdeckt!

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Wer jetzo recht hat von den beiden, Der Cook mit seiner Fahnenstange, Der Peary mit dem großen Maul. Zerbrecht euch nur den K o p f noch lange! Ich sage nichts. Ich bin zu faul. 1

Mehr als die nicht ungewöhnliche spöttische Distanzierung von einem der meistdiskutierten Tagesereignisse überrascht den heutigen Leser die Auswahl der näheren Bestimmungen, die der Pol hier erhält. Sie decken sich weitgehend mit dem, was in der Literatur der letzten dreihundert Jahre über den Pol gesagt worden ist: er sei der Punkt, der das Denken verwirrt; der seine Rolle in kosmogonisch-apokalyptischen Vorstellungen spielt; der mathematische Abstraktion und lebendige Realität zugleich ist; an dem Koordinaten und Kategorien ihre Gültigkeit verlieren; an dem das Nichts greifbar wird; an dem sich Diesseits und Jenseits berühren; ein Punkt schließlich, dessen Bestimmung die geistigen Kräfte des Menschen ebenso überfordert wie sein Erreichen die physischen. Gerade wenn diese Verse - was anzunehmen ist - nicht auf einer Kenntnis des literarhistorischen Spektrums beruhen, stecken sie das Feld der theoretisch möglichen Assoziationen ab und verweisen auf eine Kohärenz der verschiedenen Bedeutungen. Im September 1909 veröffentlichte Karl Kraus in seiner >Fackel< eine kritische Betrachtung >Die Entdeckung des Nordpolscuriositas< in unverminderter Intensität auf. Die Ausfahrt zum Pol, die tatsächliche wohlgemerkt, erscheint ihm als das »Paradigma aller Begehrlichkeit«,* die sich auf jenen Punkt konzentriert, der »Ultima Thüle der Neugier« und »Ersatz für das verlorene Paradies« zugleich sei.3 Von diesen Erwartungen her muß jede Polentdeckung ein Scheitern sein. Einmal erreicht, ist ja der Pol nur »etwas, das ärmer ist als das Nichts, eine Krüdke der Erfüllung und eine Schranke der Vorstellung.«4 Die Neugierde ist, da sie sich die Stiefel der Fortschrittsbesessenheit angezogen hat, für Kraus ein Synonym der Geistlosigkeit. Sie wächst im 1 2 3 4

Edgar Steiger, Selbsterkenntnis. In: Simplicissimus, 3 1 . Mai 1909, S. j . Karl Kraus, Die Entdeckung des Nordpols. In: Die diinesisdie Mauer, S. 264. Kraus, ebd. Kraus, a.a.O., S. 26j.

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gleichen Maß, in dem sidi die Entfernung der Poleroberer zum vermeintlichen Ziel verringert. Dieser gegenläufigen Bewegung gibt Kraus, die traditionsreiche Gleichung von Eis und Geist benutzend, apokalyptische Ausmaße: Denn die Dummheit war es, die den Nordpol erreidit hatte, und sieghaft flatterte ihr Banner als Zeichen, daß ihr die Welt gehört. Die Eisfelder des des Geistes aber begannen zu wachsen und rückten immer weiter und dehnten sidi, bis sie die ganze Erde bedeckten. Wir starben, die wir dachten.5

Die Neugierde hat in diesem Aufsatz einen zweifachen Bezug zum Weltuntergang. Sie wird über die Vereisungsmetapher mit ihm gleichgesetzt, zugleich aber ist davon die Rede, daß sie, indem sie den letzten großen Schritt wagt, den apokalyptischen Gegenschlag der erzürnten Natur herausfordert. Auch darin ohne sein Wissen einer langen Tradition verpflichtet, sieht Kraus »Erdbeben, Springfluten, Taifune, sintflutartige Regen« und andere Vorläufer des endgültigen Untergangs als Strafe für die Neugierde auf die Menschheit zukommen." Rezeptionsgeschichtlich ist die Konstanz solcher Themenkombinationen nicht hinreichend erklärbar. Kraus hat sie nicht übernommen, und ihr Auftauchen im deutschen Expressionismus ist nicht auf seine Wirkung zurückzuführen. Im Gegenteil, die direkte literarische Rezeption seines Aufsatzes hat gerade den entscheidenden Aspekt nicht berücksichtigt. Hermann Broch notierte in einer frühen Skizze zur Ästhetik: Nicht ein Stil will enden, eine Zivilisation schickt sich dazu an. Was Karl Kraus sehend aus Lokalberichten kündet, wird auch dem K u r z sichtigen in großzügiger Einfachheit vorgeführt. Diese weiße Zivilisation hat eine geographische Mission gehabt und die erfüllt sich nun: seit zweitausend Jahren rationalisiert sich diese Kultur ohne sich zu vertiefen, um ihrer geographischen Mission zu genügen und nun ist es geglückt: das Zeitalter des Verkehrs hat die Pole »entdeckt« und Cook und Peary und Shakleton und Amundsen mußten kommen, mußten den Abschluß bewerkstelligen. — Es bleibt nichts mehr. 7

Ein kulturmorphologisches Modell im Sinne Spenglers ist hier an die Stelle des Katastrophenparadigmas getreten. Die Frage, warum dessen Geschichte mit dieser Verschiebung nicht ihr Ende gefunden hat, warum es also letztlich eine zeitunabhängige Konstanz bestimmter thematischer Assoziationen gibt, ist noch nicht befriedigend beantwortet worden. Die wichtigsten Erklärungsversuche sollen zunächst vorgestellt werden. 5

Kraus, a.a.O., S. 274. ® Kraus, a.a.O., S. 2 7 3 . 7 Hermann Broch, Notizen zu einer systematischen Ästhetik. In: Die unbekannte Größe und frühe Schriften, S. 234.

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2. Setzen wir bei der Konstante >curiositas< an. Daß sich das Problem der menschlichen Wißbegierde assoziativ dem Thema Polentdeckung verbindet und umgekehrt, liegt nahe. Doch was sich als Konstante vom Jahr der Nordpoleroberung bis in die Entstehungszeit der >Divina Commedia< zurückverfolgen läßt, ist die spezielle Verbindung der Neugierde mit der Autoritätsnegation und dem Scheitern, das sich auch dann offenbart, wenn die Entdeckung des Neuen gelungen ist. Eine historische Kette über einen solchen Zeitraum zu konstruieren, wäre unsinnig. Guten Gewissens hingegen kann man auf unseren Spezialfall Blumenbergs Resümee zum Prozeß der theoretischen Neugierde übertragen: Die Überschreitung der Säulen des Herkules, die Durchbrechung des >Nec plus ultra< am Beginn der Neuzeit, wollte einzig und einmalig die Grenzen zu einer noch unbekannten Wirklichkeit öffnen. Aber w a r die dort gemeinte >terra incognita< der endlich zu beherrschenden N a t u r das letzte Reservat des Unbekannten? War Francis Bacons Auslegung der >curiositas< als einer räumlichen oder räumlich metaphorisierbaren Antriebsstruktur die einzig mögliche? Es sollte sich herausstellen, daß das Unbekannte, Unerschlossene nodi andere Orientierungssysteme und und damit andere Möglichkeiten der Grenzüberschreitung zuließ. Der A n f a n g der Neuzeit erwies sich als wiederholbares, wenigstens imitierbares Paradigma. 8

Doch diese Erklärung erweist sich bei genauerem Nachlesen wieder als fragwürdig. Blumenberg versteht unter Paradigma ausschließlich die formale Konstruktion der Reisemetapher, die mit gänzlich divergierenden Inhalten aufgefüllt werden kann. Die Geschichte unseres literarischen Themas handelte dann lediglich von der »Umbesetzung formaler Stellengefüge«.9 Schon was Petrarca schrieb, sei »wie ein Ritual, dessen sinngebende Vorstellungen und Rechtfertigungen längst verlorengegangen sind, und das als eine fixierte Prozeßfolge mit dem Recht der freien und neuen Sinnausstattung weiter vollzogen werden kann.« 10 Gegenüber dieser Einengung des Paradigmatischen sind erhebliche Zweifel anzumelden unter Berufung auf Blumenberg selbst. In der erweiteren Neufassung seiner Untersuchung beschließt er die Reihe von vermeintlichen Wiederholungen oder Imitationen des alten Paradigmas mit dem Hinweis auf Sigmund Freuds Verständnis der Neugierde - dort >Wißtrieb< genannt - als eines Resultats gescheiterter Sublimierung libidinöser Strebungen. Blumenberg notiert zwei Aspekte der Neugierde-Theorie Freuds: »Die Neugierde ist eine Ausflucht aus dem Mißlingen der Reife«; 1 1 die Psychoanalyse beschäftigt sich mit dem »Ursprung des Zu8 9 10 11

Blumenberg, Blumenberg, Blumenberg, Blumenberg,

142

Der Prozeß der theoretischen Neugierde, S. 2 $ γ ί . a.a.O., S. 144. ebd. a.a.O., S. 2 7 1 .

sammenhanges von Mißbegierde und Autoritätsnegation«. 12 Um Protest und Scheitern geht es also und somit um jene beiden Faktoren, die das alte Paradigma, wie es bei Dante formuliert ist, inhaltlich bestimmt haben. Von einer rein formalen Imitation wird man darum bei Freud nicht sprechen dürfen, und Blumenberg meint deshalb, hier sei »noch etwas von dem alten Konflikt [ . . . ] erneuert«.13 Doch schließt sich — wie es diese Formulierung nahelegt - mit Freuds Definition des Wißtriebs im Sinne der alten >curiositas< nur ein historischer Kreis oder ist in ihr, die ja den Anspruch auf Gegenwartsgültigkeit erhebt, nicht vielleicht eine Möglichkeit angelegt, zu einer die historischen Einzelfälle übergreifenden inhaltlichen Erklärung zu kommen? Mögliche Hilfestellungen seitens der Psychoanalyse müssen besonders in jenen literarischen Bereichen überprüft werden, in denen, historisch fernab der alten Diskussion um die Legitimität der Neuzeit, die Neugierde unter dem Aspekt von Protest gegen Autorität und Scheitern gesehen wird. Das aber ist im Themenfeld von Poleroberung und apokalyptischer Reise unbedingt der Fall. 3. Wenden wir uns nun dem Vorgang zu, der aus dem Pol einen Ort apokalyptischer Katastrophen macht. Der Verbindung von Polreise und Weltuntergang mag, äußerlich betrachtet, ein ganz simples Wechselspiel zugrunde liegen. Die Einkleidung des zeitlichen Verlaufs zum Ende hin in das Bild des räumlichen Wegs bietet eine interessante Variationsmöglichkeit. Voll zur Geltung kommt die räumlich-zeitliche Doppelbedeutung des Wortes Ende bei Rimbaud. Man beobachte nur, wie aus der in der >Alchimie du Verbe< geschilderten Reise »aux confins du monde«14 in den >Illuminations< das Weltende wird: Les sentiers sont apres. Les monticules se couvrent de genets. L'air est immobile. Que les oiseaux et les sources sont loin! Ce ne peut etre que la fin du monde, en avanjant. 15

Ohne Zweifel hatte Riviere recht, wenn er die apokalyptische Krise der Welt als den geheimen, in der Raumbeschreibung versteckten Zielpunkt solcher Beschreibungen ansah.1® Jedoch zeigt das Beispiel auch schon, daß die Raum-Zeit-Verkehrung allein nicht zur Erklärung ausreicht. Der Mensch, der sich am Rande der Welt befindet, hat den Eindruck einer totalen Entstrukturiertheit des Raums. Rimbaud beschreibt keinen eigentlich leeren Raum, sondern dieser 12 19 14 15 19

Blumenberg, a.a.O., S. 272. Blumenberg, a.a.O., S. 271. Rimbaud, Une Saison en enfer, a.a.O., S. 233. Rimbaud, Illuminations, a.a.O., S. 2 J 7 . Jacques Riviere, Rimbaud. In: Interpretationen 8, S. i82f.

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ist nur von allem Benennbaren entleert. Insofern stellt der Text eine Grundform der apokalyptischen Reise vor: Im Fortschreiten schwinden die Grundlagen des Lebens - ein Geschehen, für dessen Illustration sich die Zustände in der Arktis anbieten. Demgegenüber besitzen die PolTexte Rimbauds mit ihrer Evokation des Adynatons und Mallarmes Beschreibung des am Ende hereinbrechenden Raums schon weit größere Kompliziertheit. 4. Daß Rimbaud dieses Land am Ende der Welt, das sich nach Auskunft der >Illuminations< an jedem beliebigen Ort dem Betrachter plötzlich auftun kann, mitunter »la Cimmerie« 17 nennt, könnte den Leser über die antike Vorstellung vom Rand der Welt hinaus daran erinnern, daß ebendiese Bezeichnung Goethe einer Anschauung der Welt im Sinne von Holbachs Natursystem gegeben hat. Als »kimmerisch« muß eine Welt bezeichnet werden, in welcher - da die Materie alles und ihr Wohlgeordnetheit nur jederzeit widerrufbare Betrachtungsweise des Menschen ist »die Erde mit allen ihren Gebilden, der Himmel mit allen seinen Gestirnen verschwand«.18 Ein solcher totaler Abstraktionsprozeß mache die Welt zur »Arktis«, meinte Ernst Bloch, das kimmerische Land neuzeitlich lokalisierend,19 und er sah dieses weltlose Polarland gegen als Ergebnis aller wesentlichen nachromantischen Entwürfe der Naturphilosophie. Rimbauds Dichtung zeigt zum einen, daß dieses Umdenken nicht auf den naturphilosophischen Bereich beschränkt ist; zum andern aber, daß dem wissenschaftlichen Abstraktionsprozeß eine individuelle Weise der Welterfahrung entspricht, der sich assoziativ das Bild der Arktis als Äquivalent des erfahrenen, mitunter auch pathisch erlebten Endzustands der Welt aufdrängt. Weiterhin verstärkt sich der schon bei den Untersuchungen zu Mallarm£ gewonnene Eindruck, daß der neuzeitlichen Apokalyptik eine konkret aufweisbare philosophische Tradition zur Seite geht, ja daß sogar die Vermittlung apokalyptischen Denkens über das Polthema neben der kosmologisch-naturwissenschaftlichen auch eine philosophisch-erkenntnistheoretische Wurzel hat. — Solche durch eine Änderung der Welt-Anschauung hervorgerufeneen Endzustände der Entstrukturiertheit in Wort und Bild zu fassen, hat in der Nachfolge Rimbauds besonders der Surrealismus unternommen. Wie kaum anders zu erwarten, begegnet einem auch bei ihm das Arktis-Motiv: Ldonore Fini, hervorgetreten mit Illustrationen zu Poes Erzählungen, Nervals >Aurelia< und der Johannes-Apokalypse,

17 18

19

Rimbaud, Une Saison en enfer, a.a.O., S. 2 3 3 . Goethe, Dichtung und Wahrheit. Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, Bd. X , S. 5 3 7 L Ernst Blodi, Tübinger Einleitung in die Philosophie, Bd. II, S. 80.

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nannte eines ihrer wichtigsten Bilder >Le Bout du Monde< (1944). 20 Es zeigt das zum Spiegel erstarrte Eismeer, aus dem neben einigen undefinierbar gewordenen Dingfragmenten nur noch der eigene Kopf gorgonenhaft aufragt. 5. Neben der räumlich-zeitlichen Verkehrbarkeit des Begriffs Weltende und dem Anreiz, den das Polarland als metaphorisches Äquivalent eines als Denkmöglichkeit erkannten oder erfahrenen Reduktionsprozesses bietet, scheint eine mythologische Erinnerung als weitere Begegnungshilfe der beiden Themenbereiche zu dienen. Nicht erst Poe und Heym haben das nordpolare Thule-Niflheim mit den apokalyptischen Vorstellungen der nordischen Mythologie in Zusammenhang gebracht; schon Herder meinte doppelsinnig, Thüle sei ein »Ausgang der Welt in Erhabenheit«.21 Und so behauptete denn Bloch im >Prinzip Hoffnung< zur literarischen Verwendung dieser Mythologie: »nordwärts utopisiert sich ein Todeszauber geographisch, der eine ganze Weltvernichtung in sich einschließt«; südwärts hingegen utopisiere sich »Lebensfülle geographisch.«22 Einen solchen Dualismus jedoch, der für die Interpretation der Polreise-Texte ideale Unterscheidungskriterien böte, hat es in Wirklichkeit in der utopisdien Literatur nie gegeben. Schon die Vertreter des Präadamitismus ließen ihre Helden das arkadische Volk gleichermaßen in Grönland wie auf der >terra australis< finden. Ohne Zögern verlegte Poe den Mahlstrom von der Küste Norwegens an den Südpol, umgekehrt ließ Heym die Weltenesche, die in die nordische Apokalyptik hehört, am Südpol wachsen. Ebenso widerlegte Benn das Diktum Blochs, indem er die antiken Hyperboreer, bekanntlich Inbegriff der Lebensfülle, im Schatten Yggdrasils ansiedelte. Immerhin aber führt die Aufdeckung der vielfältigen mythologischen Anspielungen zu einer zwar nicht geographisch, wohl aber thematisch durchführbaren Unterscheidung: Der Pol kann, von den nordischen Niflheim- und Fimbulwinterideen her, zum Ausgangspunkt des allgemeinen Kältetodes und zum gegenwärtigen Bild dieses Zustandes werden. Der Pol kann aber audi Ort einer arkadischen Welt sein, deren Beschreibung um ihrer Zerstörung willen erfolgt. Zwei grundsätzliche Typen apokalyptischer Vorgänge scheinen sich in dieser Unterscheidung zu zeigen. Als allgemein gültiges Klassifikationsschema oder gar als Interpretationsbasis ist sie nidit geeignet.

20

21 22

L^onore Fini, Le Bout du Monde. In: Patrick Waldberg (Hrsg.), Der Surrealismus, N r . 69. V g l . Bloch, Das Prinzip Hoffnung, S. 9 1 4 . Bloch, ebd.

Mi

Diese wenigen Hinweise sollten zeigen, wo Ansätze für eine immanente Erklärung des Zusammenhangs von Pol und Weltuntergang gegeben sind. Sie lassen jedoch Fragen von entscheidender Wichtigkeit offen, die sidi besonders aus dem ersten Kapitel der Arbeit ergeben. So läßt sich zwar die scheiternde Polreise als Bild katastrophaler Geschichtsprozesse verstehen, doch will dies nicht recht zu der erwiesenen thematischen Dominanz des individuellen Scheiterns passen. Die größte Suggestionskraft des Polreise-Themas lag ja von Anfang an bei der Einzelgestalt des scheiternden Wanderers, zudem noch bei dessen psychischer Situation — angefangen schon bei der »Tollheit« des Ulysses, der psychischen Zerstörtheit des Alten Seemanns, der Willenslähmung von Chamissos Helden, über die geistige Verwirrung Pyms, Hatteras und Shackletons, bis hin zum Erinnerungsverlust der Gestalten PiFnjaks. Erst in zweiter Linie und oft bis zur Unkenntlichkeit verborgen nimmt dieses Scheitern apokalyptische Züge an, wobei dieser Übergang höchst unterschiedliche Funktionen hat: Der Weltuntergang kann als subjektive Erfahrung des Scheiternden bei seinem Weg zum Pol (ζ. B. bei Poe) oder als bewußt vorgenommene Parallelisierung mit dem Einzelschicksal (ζ. B. bei Verne) auftreten, er kann aber auch beide Funktionen zugleich haben (ζ. B. bei Benn); er kann weiterhin als Begleiterscheinung eines psychischen Zerstörungsgeschehens auftreten und dabei die reale Welt betreifen (ζ. B. bei Baudelaire), oder er richtet sich gegen eine vom Scheiternden selbst errichtete Welt (ζ. B. bei Laforgue); schließlich kann er nicht nur, individuelles Scheitern signalisierend, erlitten werden, sondern, wie sich bei Mallarm^ zeigt, ein vom Idi in seinem Sdieitern gesetzter Akt sein. Schwieriger noch steht es mit dem Problem der Neugierde und der Tabuverletzung samt Strafe und Sühne, das ja direkt mit den Ursachen des Scheiterns zusammenhängt. Das bezieht sich zum einen auf die Einzelgestalt, zum andern aber ebenso auf jene am Pol etablierten Gesellschaften, die wegen ihres Protests oder wegen der Mißachtung von Frageverboten zerstört werden. 6. Mehr zufällig zu dieser Überlegenheit angeregt, aber mit erstaunlicher Treffsicherheit, hat Mehring die imaginären Reisen bei Coleridge, Poe und Baudelaire als Beispiele verstanden für die »Reihen verhängnisvoller Schiffbrüche, in denen das abendländische Denken immer wieder absäuft«. 23 Dieses Denken richte sich auf den konstruierten, hypothetisch erschlossenen und in der Realität gesuchten Pol »Erkenntnis und Wissen«, 24 werde aber regelmäßig vom »Magnetpol der Schönheit« 25 irritiert und 23 24 25

Walter Mehring, Die verlorene Bibliothek, S. 102. Mehring, ebd. Mehring, ebd.

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zum Scheitern gezwungen. Trotz der glänzenden Einsicht, daß das Erkenntnis-Problem generell im Hintergrund des Polreise-Themas steht, hat diese Interpretation mehrere Mängel: Sie verkürzt das Scheitern zum ästhetischen Problem, und sie übersieht, daß dieses Scheitern Folge einer Verbotsübertretung, nicht nur eines Versagens oder Ungenügens der Ratio ist. Daher bleibt auch unklar, wie der Schiffbruch am Magnetpol Schönheit Ausdruck eines apokalyptischen Geschehens sein könnte. An die Stelle dieser partikularen Erklärungsversuche soll nun ein neuer methodischer Ansatz treten. Er stützt sich auf den aufgewiesenen Zusammenhang der imaginären Reise zum Pol mit den drei Faktoren Weltuntergang, psychische Zerstörung und individuelles oder kollektives Scheitern. Deren gemeinsames Auftreten macht das Thema Polreise exemplarisch interessant, und man kann davon ausgehen, daß durch eine möglichst bündige Klärung dieses Spezialfalls das Fundament gelegt werden kann für eine umfassende Theorie der literarischen Apokalyptik.

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ZWEITER TEIL

PSYCHOSEMODELL UND TEXTSTRUKTUR

I. Tiefenpsychologische Annäherungen

a. Das Land der Befehle Die Affinität des Pol-Themas zur Apokalyptik ist stark genug, die apokalyptische Reise zum Pol als eine der Form und der Substanz nach eigenständige literarische Sonderentwicklung erkennbar zu machen. Die naheliegende Vermutung, daß diese Affinität von der gleichzeitigen Vorliebe dieser Literatur für die Darstellung ungewöhnlicher psychischer Phänomene her zu erklären ist, führt zu der Kontrollfrage, ob umgekehrt die mit solchen Phänomenen beschäftigten Wissenschaften, vorab die Psychoanalyse, auf vergleichbare Zusammenhänge im außerliterarischen Raum gestoßen sind. Als Antwort kann auf den berühmten Fall >Renee< verwiesen werden, dessen autobiographische Beschreibung Marguerite Sechehaye unter dem Titel >Tagebuch einer Schizophrenen< veröffentlicht hat. Bei diesem klassischen und repräsentativen Fall einer psychotischen Entwicklung tritt an entscheidenden Stellen die Assoziation des Polaren auf und gibt durch ihre Lokalisierung und ihre wechselnde Form funktionale Zusammenhänge zu erkennen. Schon die erinnernde Suche nach den frühesten Anzeichen einer die Psychose einleitenden Derealisation läßt R e ^ e an ihr einstiges Interesse für einen Sturm denken, von dem sie glaubte, daß er »vom Nordpol käme« und von dort eine geheime Botschaft für sie mitbringe.1 Als diese erste Phase eines partiellen Verlustes der Realität durch das Auftreten unerhörter Angstzustände abgelöst wird, enthüllt sich Renee die Sprache des Windes: »Endlich verstand ich die Bedeutung dieser Botschaft: der eisige Wind vom Nordpol wollte die Erde aufbrechen, sie in die Luft jagen. Oder vielleicht war es auch ein Vorzeichen dafür, daß die Erde zerbersten werde.« 2 Innere Zerstörung, Auflösung der Ichstrukturen, wird hier zu einem Beeinflussungsgeschehen umgedeutet, und so bedarf das wahnhafte Denken eines Orts, von dem aus bei der projizierenden Vertauschung innerer und äußerer Vorgänge die Angriffe auf die Welt er1 2

Marguerite Sechehaye, Tagebuch einer Schizophrenen, S. 20. Sechehaye, a.a.O., S. 22.

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folgen. Der Pol wird so zum geheimen Zentrum zerstörerischer Kräfte und erlangt Verwendung beim Ausbau eines umfassenden Verfolgungswahnsystems. Der auf das eigene Individuum gerichteten Angst vor dem Verfolger entspricht auf der Weltebene die Bedrohung durch den Pol, die schon deutlich apokalyptische Züge trägt. Man wird daher eine erste Erklärung für den Zusammenhang von Pol und Apokalypse sowie für die überaus bedeutsame Vorstellung einer invasorischen Weltvernichtung vom Pol her über die Untersuchung der Projektions- und Verfolgungswahnmechanismen versuchen können. Renee nennt diesen arktischen Bereich, der in wachsendem Maß Einfluß auf ihre und der Welt Existenz bekommt, »Land der Erleuchtung« und »Land der Befehle«,8 was genau dem im literarischen Text auftretenden Zusammenhang von Erkenntnis und Zwang als Ziel und Folge der Polreise entspricht. Allmählich tritt sie selbst die Reise ins Polarland an und gibt detaillierte Beschreibungen von den »Steppen des Nordpols«, deren grenzenlose Weite einerseits »reglos, versteinert, kristallisiert«, als ein »mineralischer« Bereich gleich den symbolistischen Unterreichen erscheint, andererseits aber als die auf »geometrische« Formen reduzierte tatsächliche Umgebung beschrieben wird. 4 Eine Ambivalenz, die man in literarischen Texten häufig studieren konnte und deren Auflösung im Verlauf der literarischen Entwicklung zu zwei verschiedenen Typen von Polreichen geführt hat. Während der mineralische Zustand den Eindruck der Endgültigkeit macht, strahlt die geometrisierte Welt auf Renä eine immense Spannung aus, und ihre Angst wächst, daß »alles in einer grauenvollen Explosion in die Luft spränge«.5 Das arktische Land ist also von derselben Gefahr bedroht wie vorher die reale Welt, was die unerkannte Identität beider Bereiche enthüllt. Das einzige Wesen, das außer Rene in dieser Situation noch existiert, ist »Mama«, doch indem Rene inmitten des polaren Chaos zu ihr flüchtet, verändert sich dieses Wesen zu einer Gestalt, von der uns Arthur Gordon Pym schon berichtet hat: »Aber ich sah nur eine Statue oder eine Gestalt aus Eis, die mir zulächelte. Und dieses Lächeln, das weiße Zähne aufscheinen ließ, setzte mich in Schrecken.«6 Am Höhepunkt der psychotischen Entwicklung tritt die befürchtete Katastrophe ein. Die geometrisierte Welt stürzt zusammen, Renee bleibt allein in der arktischen Wüste zurück. »Ein mineralisches grenzenloses Land von unendlicher Trostlosigkeit erstreckte sich vor mir. Und eine Wand aus Eis trennte midi von allen Leuten.«7 Es bleibt ihr als Rettungs3 5 7

Sediehaye, a.a.O., S. 44. Sechehaye, a.a.O., S. 32. Sediehaye, a.a.O., S. 102.

4 9

Sediehaye, a.a.O., S. 3 i f . Sediehaye, a.a.O., S. 37.

IJ1

möglichkeit nur die Flucht nach vorn, hin zu jener geliebten und zugleich Schrecken verbreitenden Gestalt, um bei ihr durch eine Rückkehr in den Mutterleib den Übergang von der Arktis in ein »verbotenes, schuldiges Paradies« zu finden.8 Tatsächlich gelingt ihr in wohnhafter Weise diese Rückkehr in jene bessere Welt, die auch das Ziel so vieler literarischer Polreisen bildet. Sie ist gebunden an einen Akt massiver Regression, setzt die Erfahrung des Weltuntergangs voraus und bleibt behaftet mit Tabuund Schuldproblemen. Damit bestätigt dieser letzte Akt des psychotischen Dramas, was schon die inhaltliche Analyse vieler Polreiche vermuten ließ: daß die geographische Utopie, wenn sie über den Weg zum Pol erreicht werden soll, zwar vielleicht Ort der Rettung, nicht aber der wirklichen Befreiung ist. Angesichts dieser weitgehenden Übereinstimmungen von Psychoseverlauf und literarischer Struktur wäre es begrüßenswert, wenn zur Interpretation der literarischen Texte psychoanalytische Erklärungen herangezogen werden könnten. Leider hat Marguerite Sechehaye.einen klärenden Hinweis zum Auftreten des Pol-Motivs nicht gegeben. Doch existieren seitens der Tiefenpsychologie einige andere bemerkenswerte Stellungnahmen zum polaren Themenkreis, die sich zwar nicht direkt auf psychotische Prozesse beziehen, aber doch die Möglichkeiten einer Interpretation verbessern helfen. b. Der Pol als Archetyp i. An erster Stelle muß auf C. G. Jung eingegangen werden. Eine Frau gab ihm ihren Traum zu Protokoll, sie habe sich an den Pol versetzt gefühlt und dort das Herannahen eines raumschiffartigen Gebildes erlebt, welches mit Männern in silberweißen Gewändern besetzt war. Dieser Traum, der einerseits science-fictionhaft anmutet, aber doch eine bis in romantische Bereiche zurückverfolgbare Grundsituation — Einbruch des Jenseitigen, Übermenschlichen am Pol - zeigt, erhält von Jung folgende Deutung: »Es handelt sich offenbar um eine Grenzsituation, wie der Ausdruck >am Rande der Welt< zeigt. Jenseits ist der kosmische Raum mit seinen Planeten und Sonnen oder das Totenland oder das Unbewußte.«9 Da das Unbewußte hier zudem konkret personifiziert erscheint, ist es für Jung näher bestimmbar als der >AnimusPersönlichkeitsdissoziation< zu überwinden. Der Versuch endet, nach Jungs Meinung, sehr oft mit der Zerstörung der geistigen Existenz, indem das Unbewußte das Ich überflutet. Sicher hätte Benn diese Analyse begrüßt. Der Weg zum Pol, um die heilende Konfrontation mit dem Unbewußten, vielleicht sogar mit dem >kollektiv Unbewußten< zu wagen: das entspricht der Absicht Pameelens, entspricht auch Benns Überlegungen zur Entwicklung des Menschheitskollektivs. Die Invasion des Bewußtseins, die Jung hier als ein Mißlingen aller seelischen Harmonisierungsbestrebungen versteht, ist für Benn vorgezeichneter Ausgang der Geschichte und wünschenswertes Erlebnis des einzelnen. — Eine umfassende tiefenpsychologische Erklärungsmöglichkeit zeichnet sich ab: Die imaginäre Reise zum Pol als Ausdruck einer Persönlichkeitsveränderung, das Geschehen am Pol als Abbild einer Konfrontation des Bewußtseins mit dem (kollektiv) Unbewußten, das die Gestalt fremder, archaischer, gefährlicher Wesen annimmt, die Tilgung des Bewußtseins als Folge des Konflikts - man überprüfe an Heyms >Tagebuch ShadkletonsSelbst< aber in der Terminologie Jungs die Vereinigung aller psychischen Instanzen, also des bewußten Ichs und der Schichten des Unbewußten, darstellt, ist der Pol hier eine positive Instanz, zeigt Rettung an aus eben jenen Gefährdungen, die im Fall des zitierten Traums den Besucher am Pol erst erwarteten. Man muß der Versuchung widerstehen, diese beiden tiefenpsychologischen Deutungen direkt auf literarische Texte zu übertragen. Denn bei Lichte besehen vermag Jung zwar ein Gespür zu vermitteln für die Hintergründigkeit des Phänomens, aber eine echte Erklärung gibt er nicht. Hier wird die Polreise viel zu einfach als Ausdruck eines innerpsychischen Kräftespiels verstanden, außerpsychische Realität erhält keinerlei Beachtung. Deshalb können wesentliche Konstituenten des Vorgangs nicht geklärt werden. 3. Den gleichen Vorbehalt muß man auch gegenüber Versuchen anmelden, das jungianische Interpretationsschema auf die literarische Polreise zu übertragen. Das gilt besonders von Maud Bodkins Gleichsetzung des >Ancient Marinen mit einem »rebirth-pattern«.12 Die von Bodkin aufgestellte Behauptung, Bewegungen zum Pol hin symbolisierten ebenso wie die zum Mittelpunkt der Erde regelmäßig Desintegration und Tod, muß sich überdies den Vorwurf der gerade auf literarischem Gebiet fragwürdigen Generalisierung gefallen lassen. Dieser Vorwurf trifft alle bisherigen tiefenpsychologischen Annäherungen an unser Thema. Denn was ist davon zu halten, wenn Marie Bonaparte, ohne Belege zu geben, behauptet, die Eroberung des Pols sei »für Edgar Poe ebenso wie für viele andere Menschen von jener tiefen, auf die Mutter bezogenen Symbolik umgeben« gewesen, die sie aus dem »Arthur Gordon Pym< herausgelesen hat? 13 Es ist möglich, daß Bodkins jungianische wie Bonapartes freudianische Erklärungen auf einen bestimmten Bezugstext zutreffen. Ihre Verallgemeinerung ist ebenso unmöglich wie die der genannten nichtpsychologischen Interpretationen. c. Weltvereisungsangst und thalassale Regression Die Vereisung der Welt, meist als ein unaufhaltsames Sichausbreiten der Arktis beschrieben und daher in engem Zusammenhang mit dem PolThema stehend, ist die wichtigste zu literarischer Gestaltung gelangte Form der Apokalypse. Mit dem Zustandekommen des Interesses an einem 11

12 13

1

Jung, Mysterium Coniunctionis. In: Gesammelte Werke, Bd. X I V / i , S. 224 Anm. 486. Maud Bodkin, Archetypal Patterns in Poetry, S. 54fr. Marie Bonaparte, Edgar Poe, Bd. II, S. 178.

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solchen fatalen Ausgang der Menschheitsgeschichte hat sich auch die Psychoanalyse beschäftigt. Der Gedanke an frühere und zukünftige Vereisungskatastrophen taucht auf in dem >Versuch einer GenitaltheorieGenitaltheorie< wegen eines »visionary sansculottism« in Amerika gepriesen und von Norman O. Brown zur Interpretation von >Finnegans Wake< herangezogen.16) Ferenczi ging davon aus, daß die strenge Parallelität von Phylogenese und Ontogenese, die er in der biologischen Entwicklung gegeben sah, audi für die Entwicklung der psychischen Strukturen des Menschen Geltung habe, daß mithin die psychische Entwicklung der Menschheit von ihrer biologischen gesteuert worden sei und sich dieser Vorgang im Einzelmenschen wiederhole. Die biologische Entwicklung wiederum sah Ferenczi durch zwei historische Urereignisse gravierend beeinflußt: durch die Entstehung des Festlandes und die Eiszeiten. Die biologischen Folgen: erzwungenes Auftreten von Landlebewesen und notwendige Anpassung an katastrophale klimatische Bedingungen. Die Folgen für die Genese des psychischen Apparates: erzwungene Aufgabe des autistischen Existierens und notwendige Entstehung eines >WirklichkeitssinnesWärmetod< in das Arsenal der Kulturpessimisten von Hartmann bis Spengler einging und deren literarische Auswirkungen sich sogar in unserem Jahrhundert noch von Gustav Sack bis Günter Eich verfolgen lassen. An diese Ausweitung dachte Freud sicherlich nicht, als er den Entropiebegriff zur Weiterentwicklung des im 7. Kapitel der >Traumdeutung< konzipierten energetischen Modells des psychischen Apparates einführte. Aber mit seiner Berufung auf Helmholtz als wissenschaftlichen Gewährsmann hat er sich eben doch einem Physiker verschrieben, der die zukünftige Katastrophe in schwärzesten Farben malte: »dann muß vollständiger Stillstand aller Naturprozesse von jeder nur möglichen Art eintreten.«32 Wenn es Freud audi, wie zuletzt Ricoeur gezeigt hat, von Anfang an 30

31 32

Vgl. Freud, Aus der Geschichte einer infantilen Neurose. In: Gesammelte Werke, Bd. X I I , S. I J I . - Freud, Die endliche und die unendliche Analyse. In: Gesammelte Werke, Bd. X V I , S. 8γί. - Vgl. David Rapaport, Die Theorie der Psychoanalyse, S. 15; 98f. Rudolf Clausius, Abhandlungen über die mechanische Wärmetheorie, S. 323. Z. n. Joachim Schumacher, Die Angst vor dem Chaos, S. 1 1 7 . 159

darauf ankam, die physikalischen Termini als »eine bloße Transkription der Psychologie in eine überkommene Sprache«,33 als »Bildersprache«34 zu verstehen, so ist doch der Weg vom Bild zur Realität dann nicht mehr weit, wenn das psychoanalytische Modell zur Grundlage einer Kulturtheorie oder Geschichtsphilosophie gemacht wird. Wieweit in Freuds Werk trotz aller Abgrenzung solche Grenzüberschreitungen vorkommen, mag offen bleiben. Immerhin stimmt nachdenklich, daß er sich 1932 gegen den Vorwurf, seine Todestrieblehre trage mythologische Züge, mit dem Argument verteidigt hat, daß audi die Naturwissenschaft »auf eine solche Art von Mythologie« 35 hinauslaufe. In der Rezeption seiner Ideen jedenfalls ist die Gleichstellung von extrapoliertem physikalischem Lehrsatz und psychoanalytischem Modell im Rahmen metapsychologischer Kulturtheorien kräftig betrieben worden. Entropie der psychischen Energetik im Weltganzen wurde eine Lieblingsvorstellung von Benn — das »kortikale Verblühen der Welten«, das sich nach den Regeln der Wärmelehre abspiele.36 Er hätte sich wiederum auf Ferenczi berufen können, in dessen »Genitaltheorie« audi dieser Sündenfall der Psychoanalyse geschehen ist. Ferenczi führte das Anwachsen der Entropie in der Welt zurück auf den Sieg eines universellen Todestriebs.37 Als Ergebnis dieser Überlegung folgte die Einsicht: »in der Wirklichkeit scheint das Leben immer katastrophal enden zu müssen.«38 Hier ist Psychoanalyse endgültig Apokalyptik geworden. Dabei zeigt sich noch nebenbei, daß der Entropiesatz, der eigentlich vom Wärmetod handelt, ebensogut zum Fahrplan der Weltvereisung dienen kann. Der gleiche Mechanimus wird sichtbar hinter den verschiedenen Theorien, die offenbar nur zu seiner Mystifikation und zum Beweis seiner vorgeblichen universalen Gültigkeit dienen. 3. Freud wußte, daß der psychoanalytischen Theorienbildung aus dieser Richtung Gefahren drohen. Schon 1 9 1 1 konstatierte er überrascht eine »Ähnlichkeit« zwischen der von ihm entwickelten Theorie der Psychose und einem apokalyptischen Wahnsystem und sah sich deshalb zu der selbstkritischen Frage gezwungen, »ob in der Theorie mehr Wahn enthalten ist, als ich möchte«.3® Es handelt sich um den durch Freuds Analyse 38 34 35 38

37 38 39

Paul Ricoeur, Die Interpretation, S. 93. Freud, Jenseits des Lustprinzips. In: Gesammelte Werke, Bd. X I I I , S. 6 j . Freud, Warum Krieg? In: Gesammelte Werke, Bd. X V I , S. 22. Benn, Lebensweg eines Intellektualisten. In: Gesammelte Werke, Bd. V I I I , S. i 9 o 8 f . Ferenczi, Versudi einer Genitaltheorie, S. 126. Ferenczi, a.a.O., S. 128. Freud, Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia. In: Gesammelte Werke, Bd. V I I I , S. 3 1 5 .

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hodiberühmt gewordenen und bis heute in der tiefenpsychologischen Literatur meistbesprochenen >Fall SchreberFall Ren£e< - auf dem autobiographischen Bericht eines Psychoseverlaufs basiert. Ihre eigentliche Bedeutsamkeit erhält die B e m e r k u n g Freuds f ü r uns jedoch erst dadurch, d a ß sich in Schrebers Wahnsystem genau jene naturwissenschaftliche Katastrophentheorie findet, die in die apokalyptische Literatur ebenso E i n l a ß f a n d w i e in Ferenczis >GenitaltheorieManfred< und im >Cain< gegeben hat. D a s ist keineswegs ein Z u f a l l . D e n n z w e i der sehr seltenen Hinweise, die Schreber z u seinem wissenschaftlichen und literarischen Bildungshorizont gibt, rücken e x a k t diese beiden Bereiche der A p o k a l y p t i k in den V o r d e r g r u n d : Schreber sieht in seiner Eiszeitlehre einen Wahrheitsbeweis f ü r die »Vorstellung C u v i e r ' s v o n periodisch aufeinander gefolgten Weltkatastrophen«, 4 1 u n d er verweist wiederholt auf Ubereinstimmungen mit B y r o n s >Manfredjenseits des Eispols< dem Existieren nach dem W e l t u n t e r g a n g gleichkommt: 40 41 42

Daniel Paul Schreber, Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, S. 52. Schreber, a.a.O., S. 53. Sdireber, a.a.O., S. 2of. - Vgl. Freud, a.a.O., S. 280. 161

Das Los, eine >Hyperboräerin< zu werden, erschien mir als ein Hinweis darauf, daß für die Erde ein der allgemeinen Vereisung nahekommender Wärmeverlust entweder schon eingetreten sei oder bevorstehe; es war auch sonst davon die Rede gewesen, daß die Sonne sich in Jupitersentfernung zurüdegezogen habe.4®

Daß in Schrebers Wahnsystem gerade für den letzten Abschnitt der geschichtlichen Entwicklung das mythische Polvolk zitiert wird, ist ebenso frappierend wie die vorausgegangene Strukturierung der psychotischen Angst durch den Verweis auf die Katastrophentheorie. Diese doppelte Verbindung zu Gestaltungsmitteln der literarischen Apokalyptik gestattet es, die psychoanalytischen Deutungsversuche mit literarischen Texten in Beziehung zu bringen - allerdings unter einem doppelten Vorbehalt: Weder darf der literarische Text mit einem Psychoseprodukt gleichgesetzt noch darf die von Freud bestätigte gefährliche Nähe der psychoanalytischen Theorie zu diesem Produkt übersehen werden. Andererseits ist durch diese Nähe erst eine edite Chance gegeben, die Tiefenpsychologie wirksam in den Dienst der Textinterpretation zu stellen. Literarischer Text, Wahnsystem und psychoanalytische Theorie müssen so aufeinander bezogen werden, daß ohne eine Vermischung die gemeinsamen Strukturen transparent werden. Dieser Ansatz muß aber zugleich den Forderungen gerecht werden, die gegenüber jeder legitimen Anwendung der Tiefenpsychologie auf literarische Texte erhoben worden sind. Der Lösung beider Aufgaben widmet sich das nächste Kapitel.

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Sdireber, a.a.O., S. 135

II. Grundlagen der Interpretation

a. Endopoetisches Interpretieren Jeder Versuch einer Neubegegnung von Tiefenpsychologie und Literaturwissenschaft muß sich den Argumenten stellen, die zu jenem vielbesprochenen, im Kern bis heute noch nicht widerrufenen Verdikt der Literaturwissenschaft gegenüber der Tiefenpsychologie gleich welcher Richtung oder Schule geführt haben. Es gibt jedoch Anzeichen dafür, daß diese Argumente nicht mehr eine so unüberwindliche Hürde darstellen, als welche sie noch 1968 Jost Hermand angesehen hat. 1 Unverkennbar haben sich in den letzten Jahren die Fronten zwischen beiden Wissenschaftsbereichen gelockert. Einige der wichtigsten Ursachen dafür seien in gebotener Kürze umrissen: Eine wesentliche Voraussetzung für die Ablehnung tiefenpsychologischer Beschäftigung mit der Literatur war die Uberzeugung, das erlebende Eindringen in die Kompositionsgeheimnisse des sprachlichen Kunstwerks< sei das einzige legitime Erkenntnisinteresse der Literaturwissenschaft. An ihre Stelle ist eine Vielfalt der Fragestellungen getreten, die sogar die tiefenpsychologische Analyse von Dichterbiographien wieder interessant gemacht hat. Im Zuge der Hermeneutikdiskussion ist es zu einer Besinnung auf den hermeneutischen Wert der Psychoanalyse gekommen. Das führte wiederum zu der Überlegung, ob nicht gerade Elemente der psychoanalytischen Theorie und mehr noch ihrer Verfahrenstechnik die Grundlegung einer literarischen Hermeneutik erleichtern könnten. In ähnlicher Weise hat die Forderung nach einer verstärkten Empirisierung der Literaturwissenschaft zu der Einsicht geführt, daß diese am ehesten über die Neukonstitution einer umfassenden Literaturpsychologie zu erreichen sei, deren methodologischen Anforderungen die Psychoanalyse — gerade wegen der Sonderrolle, die sie im Kanon der psychologischen Disziplinen spielt - am weitesten entgegenkommt. 1

Jost Hermand, Synthetisches Interpretieren, S 80-97.

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Seitens der Psychologie hat man seit längerem kritisch vermerkt, daß die jedem >Psychologismus< und >Psychiatrismus< abholden Literaturwissenschaftler sich nicht sdieuen, zentrale Begriffe der Tiefenpsychologie, vorab den des Unbewußten, Undefiniert in ihren Begriffsapparat einzufügen. Die Forderung nach einer entsprechenden Bereinigung konnte nicht ungehört bleiben, nachdem der Beweis erbracht worden war, daß fatale Fehlinterpretationen die Folge soldier Vernachlässigungen waren. Die breite literaturwissenschaftliche Methodendiskussion der letzten Jahre brachte es mit sich, daß endlich auch die methodische Entwicklung der angelsächsischen Literaturkritik hierzulande gebührende Beachtung fand. Dabei konnte man schlecht übersehen, daß vor allem die amerikanische Literaturkritik seit dem Ersten Weltkrieg sich in einer fast ununterbrochenen produktiven Auseinandersetzung mit den verschiedenen tiefenpsychologischen Richtungen befunden hat; noch weniger konnte man die unbestreitbar vorhandenen Ergebnisse unbeachtet lassen. (Ähnliches gilt für die modifizierte Anwendung der Psychoanalyse in der Literturkritik Sartes.) Schließlich hat man (erst) neuerdings zur Kenntnis genommen, daß die psychoanalytische Theorienbildung auch auf dem Gebiet der Literaturpsychologie nicht bei der Position Freuds im Jahre 1930 stehengeblieben ist und daß deshalb eine erneute Überprüfung der alten literaturwissenschaftlichen Bedenken, die sich fast ausschließlich auf diese Position beziehen, nützlich sein könnte. Eine solche Überprüfung hat sich vor allem mit drei Vorwürfen zu beschäftigen: Die Psychoanalyse degradiere den Dichter zum Neurotiker, der in die Phantasiewelt seiner Dichtung regrediere, um auf diese Weise Triebverzichte zu kompensieren; künstlerisches Schaffen sei demnach ein vom Unbewußten gesteuerter, durch individuelle Konflikte mit der Realität bedingter Vorgang mit pathologischen Zügen. Entsprechend entwerte die Psychoanalyse das literarische Werk, sehe in ihm lediglich ein Symptomenbündel und interessiere sich nicht für das formale Gerüst und die sprachliche Form, bei deren Erforschung sie auch keinerlei Hilfe leisten könne. Die Psychoanalyse und die Tiefenpsychologie insgesamt übersehe die Bedeutung der Umwelt für die Literatur, ihre Interpretation sei wesensmäßig unsoziologisch und ahistorisch. Das erste Argument kann als überholt gelten, seit Ernst Kris mit seiner Formel von der im schöpferischen Prozeß tätigen bewußten R e gression im Dienste des Ichs< der psychoanalytischen Kreativitätstheorie eine gänzlich neue Wendung gegeben hat.2 Schöpferisches Handeln diene 2

V g l . Ernst Kris, Probleme der Ästhetik. In: Psyche 24 (1970), S. 876.

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nicht der Triebregelung durch Sublimierung, sondern der Festigung von Idi-Instanzen. Dadurch gewinnt der Begriff der Regression eine wesentlich erweiterte Bedeutung, und Fürstenau hat ihn deshalb durch den der >Offenheit< ersetzt. Künstlerische Tätigkeit sei gekennzeichnet durch eine »Offenheit gegenüber dem Unbewußten«.8 Günter Ammon schließlich hat diese Offenheit als eine durchaus aktive Einstellung des Künstlers nach allen Seiten — nicht nur dem Unbewußten — hin definiert und spricht heute, die traditionelle Neurosenthese weit hinter sich lassend, vom »schöpferischen ad-gredi«.4 Man wird in dieser Richtung der tiefenpsychologischen Theorienbildung zumindest eine Ergänzung der klassischen Position Freuds sehen und deshalb fragen müssen, wie weit in einem literarischen Text der »Ausdruck einer erweiterten Ich-Autonomie«5 - oder aber deren Zusammenbruch — erkennbar wird. Der zweite Vorwurf gilt in abgeschwächter Form bis heute. Seitens der Psychologie, auf die er sich genauso bezieht wie auf die Tiefenpsychologie, hat schon in den dreißiger Jahren Albert Wellek gefordert, man müsse die Dichter-Biographie ablösen durch ein »ergozentrisches« Bemühen um das literarische Produkt.® Wenn es gelänge, dafür geeignete Methoden zu entwickeln, dann könne die Psychologie zur Überwindung des literaturwissenschaftlich hypostasierten Dualismus von Inhalt und Form beitragen. Doch dieser Vorschlag blieb ebenso folgenlos wie die 1968 von Kurt Robert Eissler ausgesprochene Forderung nach einer »endopoetischen« Annäherung der Tiefenpsychologie an die Literatur. 7 Einzig Peter Dettmering hat einen in diese Richtung gehenden Versuch unternommen, indem er literarische Gestalten psychoanalytisch deutete und nicht mehr ihre Erfinder. 8 Aber auch er geht über die übliche Inhaltsanalyse nicht hinaus. Nur daß - um ein Beispiel zu nennen - die üblichen Inzestwünsche und Kastrationsängste jetzt nicht mehr Richard Wagner, sondern den Personen seiner Werke zugeschrieben werden.® So scheint das neueste Resümee Norbert Groebens, daß die Entwicklung »formaler Analysen« zur Unter-

3

4 5 9

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8 9

P. Fürstenau, >Sublimierung< in affirmativer und negativ-kritischer Anwendung. In: Jb. d. Psychoanalyse, Bd. I V , 1967, S. 80. Günter Ammon, Gruppendynamik der Aggression, S. 88-90. Ammon, a.a.O., S. 92. Albert Wellek, Die Struktur der modernen Lyrik. (Rez.) In: Witz, Lyrik, Spradie, S. 100. K . R . Eissler, The Relation of Explaining and Understanding in Psychoanalysis. In: Psa. Study of the Child 23 (1968), S. 1 4 1 - 1 7 7 . Peter Dettmering, Dichtung und Psychoanalyse, S. ji. Dettmering, a.a.O., S. 188; 200.

suchung von Werkstrukturen seitens der Psychoanalyse noch ausstehe,10 berechtigt zu sein. Der tiefere Grund dafür ist unschwer zu erkennen. Der Primat der ätiologischen Fragestellung in allen tiefenpsychologischen Schulen scheint eine reine Strukturanalyse zu verbieten. Gegenüber den Forderungen nach einer formalen Analyse »muß die psychoanalytische Konzeption darauf beharren, daß eine Werkinterpretation ohne Bezug auf die Werkgenese und damit die persönliche Einbettung nicht möglicht ist«.11 Doch muß beachtet werden, daß diese Ablehnung wesentlich an ein bestimmtes Vorverständnis von Interpretation gebunden ist. Unerörtert bleibt in der Tiefenpsychologie wie in der Literaturwissenschaft die Möglichkeit, eine ohne den Anspruch auf totales und widerspruchsfreies Erklären auskommende Textanalyse zu erstellen, welche die am Beginn jeder Interpretation stehende Frage nach offenbaren oder versteckten inhaltlichen Zusammenhängen und formalen Strukturen mit Hilfe der Tiefenpsychologie besser zu beantworten sucht. Zögernde Ansätze zu einem solchen Unternehmen wurden in der Regel übersehen oder gerieten in Vergessenheit. Zu erinnern ist an die Uberzeugung Kenneth Burkes, jede übliche Textanalyse könne nur ein starres Bauschema erheben, der Einsatz von Psychologie und Tiefenpsychologie jedoch mache den Text als ein lebendiges Geschehen und die Regeln dieses Geschehens beschreibbar: Ich halte dafür, daß die Strukturuntersuchung dem Werk besser gerecht wird, wenn man nach der Funktion der Struktur fragt ( so wie Aussagen über die Verteilung der Spieler auf einem Fußballfeld die Sachlage besser erfassen, wenn man die Beschreibung auf die T a k t i k und das Ziel des Spiels gründet, anstatt diese Zwecke außer acht zu lassen). 12

Die Methode, die Burke mit diesem Vergleich umreißen wollte, hat zur Voraussetzung, daß »Dichtung als symbolische Handlung« 13 verstanden wird, das heißt, daß es irgendwie geartete, von Burke nur sehr unscharf beschriebene Entsprechungen zwischen psychischen Vorgängen und dem strategischen System eines Texts gibt. Genauer faßbar ist deshalb der in die gleiche Richtung zielende Vorschlag Frederic J. Hoffmans, »Literatur im Hinblick auf die verbalen und metaphorischen Äquivalente der Psyche und ihres Verhaltens zu betrach10 11 12 13

Norbert Groeben, Literaturpsychologie, S. 1 1 3 ; 127. Groeben, a.a.O., S. 110. Kenneth Burke, Dichtung als symbolische Handlung, S. 75. Burke, ebd.

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ten und zu analysieren«.14 Bei strikter Ablehnung der die Subtilität des literarischen Werks mißachtenden traditionellen psychoanalytischen Literaturbetrachtung forderte er, die Komplexität literarischer Werke als Resultat symbolischer Handlungen zu erklären, die auf einer hohen Ebene linguistischer Artikuliertheit und Subtilität jene grundsätzlichen Spannungen, Gleichgewichte, Unausgeglichenheiten, Verdrängungen und Kompensationen psychischer Energien zum Ausdruck bringen und widerspiegeln, die in einem System wie dem von Freud entworfenen liegen. 15

Problematisch ist dieser Entwurf einer endopoetischen Psychoanalyse aus zwei Gründen: Zum einen zeigen die Ausdrücke Äquivalent und Widerspiegelung, wie unkompliziert und eindimensional sich Hoffmann das Verhältnis von psychischem Geschehen und literarischem Produkt vorstellte. Lassen sich, so muß man fragen, alle literarischen Texte mit Hilfe eines energetischen Regelsystems beschreiben? Zum andern bleibt trotz der Grundsätzlich neuen Blickrichtung die Frage nach dem symbolisch Handelnden, also nach dem Dichter, weiterhin im Vordergrund. Müßte man hier nicht konsequenter sein und - jedenfalls zunächst und im Interesse eines sorgfältigen schrittweisen methodischen Vorgehens - die Vorstellung vom Text als einem Produkt ganz zurückstellen? Daß zumindest die zweite Schwierigkeit nicht unüberwindlich ist, zeigt die Tatsache, daß die Psychoanalyse sogar bei der klinischen Arbeit psychische Strukturen diagnostizieren kann, ohne lebensgeschichtliche Daten zu benutzen. Da dies vor allem von den Objektbeziehungen eines Ichs gilt, hat Janine Chasseguet-Smirgel den Versuch unternommen, die Komplexität eines literarischen Texts - Robbe-Grillets Drehbuch zu l e t z tes Jahr in Marienbad< — ausschließlich durch die Analyse der Objektbeziehungen der handelnden Personen psychoanalytisch zu entschlüsseln.18 Dieser wirklich endopoetische Versuch konnte nur gelingen, weil ein ganz bestimmtes, dem Text adäquates psychoanalytisches Verstehensmodell gesucht und gefunden wurde, und weil dieses Modell direkt in den Text hineinverlegt, also auf jegliche Widerspiegelungstheorie verzichtet werden konnte. Die Methode von Chasseguet-Smirgel ist nur an einem einzigen Text exemplifiziert worden; sie hat ihre vorläufigen Grenzen dort, wo man von handelnden Personen nicht mehr sprechen kann - wie eben in der literarischen Apokalyptik. Daher ist auch Versuchen Beachtung zu schen14

15 16

Frederic J . Hoffmann, Psychologie und Literatur. In: J . Strelka, W . Hinderer (Hrsg.), Amerikanische Literaturtheorien, S. 247. Hoffmann, a.a.O., S. 248. Janine Chasseguet-Smirgel, Letztes Jahr in Marienbad. In: Psyche 24 (1970), S. 8 0 1 - 8 2 6 .

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ken, die das vom Hoffmann aufgewiesene Äquivalenz-Verhältnis genauer zu fassen versuchen. Hier hat Ph. Withim einen entscheidenden Fortschritt erzielt. Er versteht die fiktive Realität eines literarischen Werks als »Repräsentation einer psychischen Struktur«. 17 In Weiterführung dieses Ansatzes spricht Groeben von der »Funktionsanalogie« zwischen einem psychischen Prozeß und einem literarischen Text und schlägt vor, mit ihrer Hilfe »das Verhältnis von literarischer Produktion und Produkt« näher zu bestimmen.18 Doch eröffnet die Repräsentanz-Theorie Withims weit interessantere Anwendungsmöglichkeiten. Da alles psychologische Sprechen über intrapsychische Vorgänge sich notwendig allgemeiner Verstehensmodelle bedienen muß, wird die Untersuchung von Funktionsanalogien in der Praxis den Nachweis führen müssen, daß zwischen bestimmten literarischen Strukturen und bestimmten psychologischen Modellen Korrespondenzen bestehen. Die Möglichkeit, jeden Text zu einem einzigen synthetischen Strukturmodell - etwa dem von David Rapaport formulierten - in Beziehung zu setzen, sollte man gar nicht erst erwägen, da sofort der alte Vorwurf unzulässiger Generalisierung erhoben würde. Vielmehr sollte man ernst machen mit Freuds Stellungnahme zum Modellgebrauch: »In der Psychologie können wir nur mit Hilfe von Vergleichen beschreiben. Das ist nichts Besonderes, es ist auch anderwärts so. Aber wir müssen diese Vergleiche auch immer wieder wechseln, keiner hält uns lange genug aus.«19 Geht man, nach den Erfahrungen Chasseguet-Smirgels, davon aus, daß die individuelle Eigenart eines Textes über die Wahl des anzuwendenden Modells entscheidet, dann zeichnet sich als mögliches Ziel einer so verstandenen psychologischen Textanalyse eine gänzlich neue Art der Beschreibung von Textstrukturen und die Aufstellung entsprechender Typologien ab. Natürlich muß man nach dem Nutzen eines solchen Unternehmens fragen. Ist hier nicht C. G. Jungs selbstbeschränkendes Bekenntnis, die Tiefenpsychologie könne nur »Terminologie und Vergleichmaterial« zur Deutung von literarischen Werken beitragen,20 zu wiederholen? Wer so argumentiert, übersieht, daß mit der Einführung tiefenpsychologischer Modelle in einen Text die Ebene werkimmanenten Paraphrasierens verlassen wird. Das Modell erst ermöglicht die Einsicht in eine literarische Struktur, die sonst nicht exakt beschreibbar, vielleicht nicht einmal erkennbar geworden wäre. Dies gilt besonders für den weiten Bereich hermetisch verschlüsselter Dichtung, zu dem die Apokalyptik weitgehend 17

19 20

Ph. Withim, The Psydiodynamics of Literature. In: Psychoanalytic Review 18 1969/70, S. 583. Groeben, a.a.O., S. 96f. Freud, Die Frage der Laienanalyse. In: Gesammelte Werke, Bd. X I V , S. 2 2 2 . Jung, Psychologie und Dichtung. In: Gesammelte Werke, Bd. X V , S. 1 1 1 .

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zählt. Die Typologisierung hingegen vermag, gerade weil sie nicht normativ vorgegeben, sondern von der individuellen Textgestalt her entfaltet wird, die innere Zusammengehörigkeit von Texten bei immenser äußerer Verschiedenheit zu zeigen und kann schließlich zur Formulierung einer Art tiefenpsychologischer Gattungstheorie führen. Betont werden muß, daß die Ergebnisse solcher Untersuchungen verweisenden Charakter haben. Für alle hinter den psychologischen Modellen stehenden psychischen Strukturen und Prozesse gibt es psychologische und soziologische Begründungen. Aber gerade jener oben beschriebene dritte Hauptvorwurf gegen die tiefenpsychologische Literaturtheorie, sie spreche unsoziologisch und ahistorisch über die Entstehungsbedingungen eines literarischen Werks, wird sich am ehesten dadurch beiseite räumen lassen, daß man mit der genauen tiefenpsychologischen Beschreibung literarischer Strukturen eine breite und sichere, d. h. textgerechte Basis schafft, von der aus die Frage nach dem Warum neu gestellt werden kann. Die vorliegende Arbeit versucht, diese neue Weise der Textanalyse im thematischen Bereich der imaginären Reise zum Pol und der aus ihr entwickelten Form der apokalyptischen Reise anzuwenden. Die Hoffnung, daß gerade dieser Bereich dem methodischen Vorgehen entgegenkommt, scheint nicht unberechtigt, wenn man an die mit Nachdruck betonte Nähe dieses Themenkreises zu bestimmten psychischen Prozessen denkt. Dabei kann durch die Beschränkung auf formale Analysen unter Zuhilfenahme von Modellen die fatale Vermischung mit der tiefenpsychologischen Theorienbildung vermieden werden. Ausschlaggebend für den Erfolg des Unternehmens ist jedoch zunächst die präzise Bestimmung von inhaltlichen Kriterien, die über die Auswahl der tiefenpsychologischen Verstehensmodelle, d. h. über die Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit eines Modells entscheiden. b. Psychose und Apokalyptik i . Bei seinem Versuch, eine gattungstheoretische Bestimmung und eine Typologie der phantastischen Literatur zu entwerten, ist Tzvetan Todorov zu der Einsicht gelangt, daß es überraschend genaue »Entsprechungen« gibt zwischen bestimmten »Themen-Netzen« des Phantastischen »und den Kategorien, von denen man Gebrauch machen muß, will man die Welt des Drogenberauschten, des Psychotikers oder die eines Kleinkindes beschreiben«.21 Damit hat Todorov einen ersten Beweis für die Richtigkeit 21

Tzvetan Todorov, Einführung in die phantastische Literatur, S. 108. - Wenn nicht anders vermerkt, wird im folgenden der Begriff Psychose synonym mit dem herkömmlichen Begriff Schizophrenie gebraucht.

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der oben beschriebenen Repräsentationstheorie erbracht. Statt aber, wie deren Vertreter, vom Produkt auf den Produzenten zu schließen, interessierten ihn allein die aus der »Analogie«22 erwachsenden Möglichkeiten, »das Funktionieren des literarischen Mechanismus zu beschreiben«23 und somit der Tiefenpsychologie semiotische Dienste abzugewinnen. Das entspricht genau unseren eigenen methodischen Absichten. Todorov hat aber nicht nur bewiesen, daß bei der Beschränkung auf den beschreibenden Vergleich von literarischen Mechanismen und tiefenpsychologischen Modellen eine Integration der Tiefenpsychologie als einer Wissenschaft der Strukturen in einen streng literaturwissenschaftlichen Ansatz möglich ist. Er hat auch die Notwendigkeit und Möglichkeit exakter Zuordnungen gezeigt und dabei den Blick auf einen Bereich der Tiefenpsychologie gelenkt, der bei den bisherigen Annäherungen an die Literatur fast keine Rolle spielte: die Psychosetheorie. Die Gründe für diesen Mangel sind naheliegend. Das psychoanalytische Verständnis des künstlerischen Schaffensprozesses war von Anfang an der Neurosetheorie verpflichtet, und der Tiefenpsychologie galt ebenso wie der Literaturwissenschaft als Schreckbild des >Psychiatrismus< Lombrosos berühmt-berüchtigtes und epochemachendes Buch über >Genie und Wahnsinn (1864, deutsch 1887), in dem eine epileptoide Degenerationspsychose als Tribut für kreative Höhenflüge galt. Auch das zögernd aufkommende Interesse für Werkinhalte verschaffte der Psychosetheorie kaum Beachtung. Sartres Forderung an die Literaturpsychologie, sie solle auch auf psychotische Elemente eines Werks achten und dabei »den individuellen und konkreten Gehalt der Psychose zu verstehen« suchen,24 wurde praktisch nur von den Studien Karl Jaspers' über die Schizophrenie bei Hölderlin, Strindberg und van Gogh erfüllt 25 und von den Untersuchungen Leo Navratils zum Verhältnis von Literatur und bildender Kunst zur Schizophrenie, die zur Objektivation einiger »Formkonstanten«2® psychotischer Produktion geführt haben. Neben diesem Bemühen, »den prozeßhaften Einfluß der Psychose auf die literarischen Verarbeitungsversuche eines zugleich als krank und wahnhaft erfahrenen Zustandes zu studieren«,57 steht heute die Absicht, den Motivationen und Regeln jener »ästhetischen Verarbeitung und Darstel22 23 24 25 26 27

Todorov, a.a.O., S. 130. Todorov, a.a.O., S. 1 3 4 . Jean Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 704. Vgl. Karl Jaspers, Strindberg und van Gogh, S. 1 7 8 - 1 9 6 . Leo Navratil, Über Schizophrenie, S. 26; 51 f. Peter Gorsen, Literatur und Psychose. In: Ästhetik und Kommunikation N r . 9, 1 9 7 2 , S. 44.

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lung der Psychose in der neueren Literatur«88 auf die Spur zu kommen, die im surrealistischen Programm einer >kritischen Paranoia< ebenso sichtbar wird wie in den minuziösen Beschreibungen psychotischer Defizienz, die sich ζ. B. im Werk Becketts finden. In beiden Fällen ist das Ergebnis eine Ästhetik des Pathologischen, die sich berufen muß auf nachweisliche (>naive< oder >sentimentalischePsychiatrismus< ausgesetzt ist. Hier ist namentlich die Arbeit Gotthard Wunbergs über das Werk des frühen Hofmannsthal zu erwähnen, da schon ihr Titel (>Schizophrenie als dichterische StrukturWeltuntergangserlebnis< um einen überaus komplizierten Vorgang handele, der sich sämtlichen bekannten Erklärungsversuchen letztlich entziehe.*2 Diese Unvermögen hat auf der einen Seite einer recht metaphysischen Ausdeutung Vorschub geleistet, die besonders von Jaspers herausgestellt wurde: Man sagt, die Erschütterung des Ich spiegele sich im Weltuntergangserlebnis der Schizophrenen. Das ist jedoch kein zureichendes Verständnis. Das Weltuntergangserlebnis ist seinem Gehalt nach ein tiefes religiöses Erlebnis - von einer durch die Jahrtausende gehenden symbolischen Wahrheit für die E x i stenz des Menschen - und ist als solches und nicht nur als verkehrtes psychologisches und psychopathologisches Phänomen zu verstehen. 33

Auf der anderen Seite beschränkte man sich vorsichtig auf subtile phänomenologische Erhebungen, so daß man schon seit Wetzeis diesbezüglicher Arbeit genauen Einblick in das Regulatorium und die Typologie solcher Weltuntergangserlebnisse hat.34 Als allgemein anerkannt dürfte der Satz gelten: »Die körperlichen und seelischen Erschütterungen des Ich spiegeln sich als Weltuntergangskatastrophen wieder.« 35 Der Meinung, es handele sich hierbei um intrapsychische Vorgänge, steht eine Erklärung gegenüber, die der Katastrophe eine Störung oder Zerstörung der Ich-Welt-Beziehungen zugrunde liegen sieht. Dabei sind wieder alternative Betrachtensweisen möglich. Dem Weltuntergangserlebnis könnte der Zusammenbruch des Rapports von Ich und Außenwelt korrespondieren; es könnte aber audi Ausdruck eines »letzten efforts« 39 sein, »ultimo sforzo della personalita naufragante«, 37 mit dem sich der Erlebende vor der Welt zu retten versucht. Sehr weitgehende Ubereinstimmung herrscht jedoch, wie 31 32 33 34

35

38 37

Vgl. W . Schulte, R . T ö l l e , Psychiatrie, S. 1 6 1 . Vgl. Kurt Kolle, Psychiatrie, S. 174. Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, S. 90. A . Wetzel, Das Weltuntergangserlebnis in der Schizophrenie. In: Z s f N e u r 78 (1922), S. 4 0 3 - 4 2 8 . A l f r e d Storch, Das archaisch-primitive Erleben und Denken der Schizoprenen, S. 68. Ludwig Binswanger, Schizophrenie, S. 256. Bruno Callieri, Contributo alio studio psicopatologico dell'esperienza schizofrenica di fine del mondo. In: Ardiivio di psicologia 1 9 5 5 , S. 3 8 1 .

172

Joseph Gabel unter Heranziehung der einschlägigen psychiatrischen Untersuchungen nachgewiesen hat, darüber, daß das >Weltende-Syndrom< als die >Grundstörung< der Psychosen zu gelten hat und deren unterscheidendes Kriterium ist.38 Das tiefenpsychologische Nachdenken über diese apokalyptische Phase< setzte ein mit Freuds Schreber-Arbeit. Der Kernsatz dieser Untersuchung, in dem das grundlegende psychoanalytische Verstehensmodell mit den Ergebnissen der psychiatrischen Phänomenbeschreibungen verbunden wird, lautet: A u f dem Boden unserer Auffassungen von Libidobesetzung wird uns [ . . . ] die Erklärung dieser Katastrophen nicht schwer. Der Kranke hat den Personen seiner Umgebung und der Außenwelt überhaupt die Libidobesetzung entzogen, die ihnen bisher zugewendet w a r [ . . . ] . Der Weltuntergang ist die Projektion dieser innerlichen Katastrophe; seine subjektive Welt ist untergegangen, seitdem er ihr seine Liebe entzogen hat. 39

Das Weltuntergangserlebnis Schrebers bot Freud die willkommene Möglichkeit, Libidobewegung und Projektionsmechanismus als zwei grundlegende Elemente seiner Theorie im Zusammenhang darzustellen. Die verschiedensten Weiterführungen dieser Theorie nahmen deshalb auf die Fallstudie Bezug und bemühten sich notgedrungen, auch ihre Betrachtungsweisen am Weltuntergangserlebnis zu exemplifizieren. Am weitesten ist dabei C. G. Jung gegangen, den seine erweiterte Auffassung der Libido im Sinne einer allgemeinen und ambivalenten Lebensenergie und von der Projektion als einer Reproduktion archetypischer Konstanten zur folgenden Erklärung veranlaßten: Die Phantasie vom Weltbrande, überhaupt vom katastrophalen Weltende, ist nicht anderes als eine mythologische Projektion eines eigenen, individuellen Willens zum Tode. 40

Wie Jungs Hauptwerk >Symbole der Wandlung< zeigt, soll diese Erklärung nicht allein für das psychotische Weltuntergangserlebnis Geltung haben, sondern für das gesamte apokalyptische Denken, in welcher Form und mit welcher Intention es auch immer auftreten mag - also auch in der Form literarischer Apokalyptik. Dieser weitgesteckte Anspruch, dem Jung selbst mit der Interpretation eines zeitgenössischen Weltuntergangsromans des Science-fiction-Autors Fred Hoyle gerecht zu werden versuchte,41 hat seine Wirkung auf die Lite38 39 40 41

Joseph Gabel, Ideologie und Schizophrenie, S. 1 8 3 ^ Freud, Psychoanalytische Bemerkungen, a.a.O., S. 307. Jung, Wandlungen und Symbole der Libido, S. 4 1 1 . Jung, Ein moderner Mythus, S. 1 3 8 - 1 4 3 . - Über: Fred Hoyle, The Black Cloud. London 1 9 5 7 . 173

raturwissenschaft nidit verfehlt. Einer der wenigen Versuche, den »poetischen Mechanismus«42 moderner Untergangsliteratur darzustellen, leitet seine Arbeitshypothese direkt aus der Psychosetheorie Jungs ab: Es ist jeweils dichtete Welt, ist, ein Reich, ein Reich des

die Welt des Diditers, die zugrunde geht, und zwar eine erdie von vornherein gezeichnet und zum Untergang bestimmt das geschaffen ist, um zu vergehen, eine Welt des Verfalls und Untergangs. 43

Die Grenzen dieses Versuchs von Hellmut Petriconi fallen mit denen der Tiefenpsychologie Jungs zusammen. Zudem behält die klassische literaturwissenschaftliche Grundsatzkritik an der tiefenpsychologischen Interpretationsmethode hier ihre Gültigkeit. Werkanalyse und Psychoanalyse erhellen sich nicht gegenseitig, sondern vermischen sich. Das tiefenpsychologische Verständnis der Psychose geht als Metatheorie in die Literaturwissenschaft ein. Dies gilt ebenso für Robert Mühlhers Versuch, die sogenannte Mythologie des NihilismusAnti-Psychiatrie< entworfene Phänomenologie der Erfahrung. 50 Dort nämlich zeigt sich unsere Behauptung, die Psychose bilde das Modell der apokalyptischen Reise, in der Umkehrung. Laing ist der Meinung, die Psychose lasse sich nur dann adäquat verstehen, wenn man in ihr eine »Entdeckungsreise« sieht51 - eine Idee, die auf Bateson 48

Manfred Pohlen, Schizophrene Psychosen, S I J . ' Jacob A . A r l o w , Charles Brenner, Z u r Psychopathologie der Psychosen. In: Psyche 23 (1969), S. 4 1 2 . 50 Ronald D . Laing, Phänomenologie der Erfahrung, S. 1 1 7 und passim. 51 Laing, a.a.O., S. 106.

4

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zurückgeht.52 In den Namen und den Modellen, die Tiefenpsychologie und Psychiatrie diesem Phänomen gegeben haben, findet Laing nur eine »Ubersetzung« für etwas, das er die »älteste Reise der Welt«53, ein »Schreiten ins >inTagebuch ShackletonsTraumdeutung< den »Entstehungsmechanismus« der Psychose erklären kann, das Traummodell also in ein umfassenderes Psychosemodell integriert werden muß.65 Deshalb spricht man heute, diese Prävalenz betonend, in der Psychoseforschung vom »psychotische[n] Charakter des Traums«66 und versteht den Vorgang des Einschlafens als ein formales und ungefährliches »Modell eines Weltuntergangs«.67 Der in Freuds und Jungs Erklärung des Weltuntergangserlebnisses vorherrschende Eindruck des Rückzugs und des Verzichts auf Leben und Welt hat zu der voreiligen Identifizierung von Traum und Psychose beigetragen. Man sah den Psychotiker in einen >Autismus< verfallen und setzte dies dem Weg in die Außenweltlosigkeit des Traums gleich. Erst Minkowskis Kritik am Autismus-Begriff machte deutlich, daß Psychotischwerden höchstens mit einer noch an der Tageswirklichkeit orientierten »Träumerei« verglichen, ja daß es als ein höchst aktives Sichverhalten 81 68 63 84 85

66 87 88

Georges Poulet, Metamorphosen des Kreises, S. 230. Poulet, a.a.O., S. 2 2 3 . Freud, Die Traumdeutung, S. 92. Freud, Neue Folgen der Vorlesungen. In: Gesammelte Werke, Bd. X V , S. 1 5 . Freud, Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen. In: Gesammelte Werke, Bd. I, S. j n f . - Vgl. Freud, Die Traumdeutung, S. 97. Pohlen, Schizophrene Psydiosen, S. 1 7 . Pohlen, a.a.O., S. 5 1 . Eugene Minkowski, Die gelebte Zeit, Bd. I, S. 81 f. J

77

der Wirklichkeit gegenüber gewertet werden kann.*8 Besser als die Vorstellung vom Einschlafen paßt diese Betrachtungsweise auf unsere literarischen Texte. Schließlich segeln die Schiffe Poes nicht zufällig unter der Flagge >DiscoverySalon von 1859* seinen für die gesamte moderne Poetologie repräsentativen Imaginationsbegriff direkt mit der literarischen Apokalyptik verbunden. Danach ist die Arbeit der Einbildungskraft mit der des apokalyptischen Denkens identisch: Elle decompose toute la creation, et, avec les materiaux amasses et disposes suivant des regies dont on ne peut trouver l'origine que dans le plus profond de l'äme, eile cree un monde nouveau, eile produit la sensation du neuf. ee

Nun stimmt nach allgemeinem Urteil bei Baudelaire die Imagination mit dem Traum überein.70 Dieser Satz gilt jedoch nur, wenn man sich Baudelaires - an Poe orientierten - sehr diffizilen Traumbegriff zu eigen macht. Der Traum, der hier gemeint ist, hat nur wenig gemeinsam mit einem hypnagogischen Zustand, ist vielmehr »ein erzeugendes, nicht wahrnehmendes Vermögen, das keineswegs wirr und beliebig verfährt, sondern exakt und planvoll.« 71 In jenem Kapitel der >Künstlichen Paradieseheiligen Rest< der Menschheit bilden (i Petr 2, j). Die Vermutung Fry es, daß die apokalyptische Neuschöpfung nicht mehr aus echter Natur, sondern aus einem starr angeordneten - gleichsam mineralisierten oder versteinerten - Menschengefüge bestehe, das als Verkörperung eines kollektiven Ichs zu gelten hat, 31 erfährt hier Bestätigung. Die endgültige äußere Erscheinungsform des Vorgangs jedoch, eine mortifizierte Prachtwelt, läßt darauf schließen, daß dieses Eschatonbild nichts Utopisches hat. Alles Menschliche ist in tote Materie verwandelt worden im Dienst des Schöpfers - nicht umgekehrt. (Dieser Punkt verdient Aufmerksamkeit auch im Hinblick auf den ideologischen Gehalt der Apokalyptik. Das Ergebnis der tiefenpsychologischen Strukturanalyse, daß die Neue Schöpfung die Materialisation eines egozentrischen Ichs ist, widerlegt Ernst Blochs Interpretation des apokalyptischen Endzustandes. Bloch ist beim Studium der biblischen Apokalyptik zu dem Schluß gekommen, ihre Identifizierung von Mensch und Materie sei Höhepunkt des »wachsenden Menscheneinsatzes«32 in den religiösen Utopien. Das Neue Jerusalem sei ein »meta-physisches Eschatonbild«.33 Erbaut aus »freiem Volk auf freiem Grund«,34 löse es die Behauptung ein, aus Steinen könnten Kinder erwachsen.35 Hier hat Bloch - ähnlich wie bei seiner Interpretation der französischen Polromane (vgl. S. 4of.) - den Unterschied zwischen eschatologischer Utopie und apokalyptischer Endzeitfixierung nicht erkannt. Gleichwohl ist seine Einsicht in die apokalyptische Identität von Mensch und Welt eine wertvolle Bestätigung der auf der Basis von Fryes Theorie gewonnenen Ergebnisse.) 3. Es läßt sich beweisen, daß die Vorstellung von den lebendigen Steinen< eine Dominante auch der modernen literarischen Apokalyptik ist. Beginnen wir wieder bei unseren Polreise-Texten: Marie Bonaparte hat zuerst entdeckt, daß bei der Beschreibung der Insel Tsalal in Poes Südpolreise-Roman Anthropomorphismen eine wichtige Rolle spielen. Dieses aus unbekannter Materie bestehende Polreich ist nichts anderes als ein überdimensionaler menschlicher Körper, den Bonaparte, getreu ihrem psychoanalytischen Ansatz, so deutete: »Demnach wäre die Forschungsreise der beiden Brüder (d. i. Pym und Peters) durch das schwarze Eingeweide der Insel, die schon Bachläufe mit Blutadern enthielt, eine Mutterleibsphantasie nach dem intestinalen, analen Schema.«39 Das Faktum ist richtig 31 32 33 34 35 36

Frye, a.a.O., S. 150. Bloch, Atheismus im Christentum, S. 302. Bloch, ebd. Bloch, a.a.O., S. 303. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, S. 1 3 3 2 . Bonaparte, Edgar Poe, Bd. II, S. 1 9 7 . 189

erkannt, nur die Interpretation ist fragwürdig. Dafür, daß Tsalal eher als ein Negativbild der Neuen Schöpfung im Sinne der biblischen Apokalyptik und mithin als eine buchstäbliche Verkörperung eines kollektiven Ichs im Sinne Fryes verstanden werden muß, spricht die von Poe in seinem Roman bewußt vollzogene, von der Poe-Forschung jedoch weitgehend unberücksichtigte Auseinandersetzung mit eben jener biblischen Apokalyptik. Sidney Kaplans Hinweis, daß die Einwohner von Tsalal ein verballhorntes Hebräisch sprechen,37 gehört hierher, mehr noch die schon erwähnte Verformung des >Mene-Tekel-Upharsim< zum Vogelruf und die Hypothese, daß die rätselhafte weiße Gestalt, der >HochbetagteMS. Found in a Bottle< in den Mund gelegt hat, als dieser die merkwürdige Beschaffenheit jenes Totenschiffs, auf dem er dem Südpol zutreibt, in Worte zu fassen versucht. Offensichtlich handelt es sich auch bei diesem Schiff um einen erstarrten menschlichen Körper, um eine apokalyptische Welt inmitten des uferlosen Polarmeers - ein erstaunliches Beispiel metaphorischer Identifikation. Wenn man das erkannt hat, dann zeigt sich der versteckte apokalyptische Sinn der Erzählung. Denn das Schiff versinkt im südpolaren Katarakt 37

38

Sidney Kaplan, The Narrative of Arthur Gordon Pym.

S. XVIIf.

(Introduction),

Kaplan, a.a.O., S. X X I I . Bonaparte, a.a.O., S. 206. 4 ® Poe, MS. Found in a Bottle. In: Complete Works, Bd. II, S. 1 1 . 39

190

mitsamt seiner Besatzung, die, wie der Erzähler bemerkt,41 vom gleichen Geist durchdrungen ist wie das geheimnisvolle Material. Noch ein drittes Mal finden sich die lebendigen Steine< der Apokalypse in Poes Werk: Das >House of Usher< ist identisch mit seinem Besitzer; die Textbelege dafür hat Ε. A. Robinson zusammengetragen.42 Mit der psychischen Zerstörung eines Ichs, Roderick Usher genannt, geht die Auflösung der Materie einher. Die Anlage der Erzählung läßt den Eindruck entstehen, das Schicksal des Ichs sei von dem seines Hauses abhängig, Usher sei ein Produkt seiner Welt.43 Doch welche Richtung die Kausalität in Wirklichkeit hat, kann aus der philosophischen Weiterführung des Identitätsgedankens in >Eureka< erschlossen werden. Das Haus Usher ist ein Bild des Kosmos, den Gott aus sich entläßt, ohne seine völlige Identität mit ihm zu schmälern. »God - the Material and spiritual God - now exists solely in the diffused Matter and Spirit of the Universe.«44 Also ist Usher der Gott seines Universums; ein Gott der Apokalypse überdies, wenn Arno Schmidts Vermutung stimmt, daß sich im Eigennamen eine Anspielung auf die kryptische Selbstbezeichnung Gottes im Alten Testament — >Jeheje ascher jeheje< — findet.45 Nur zu oft hat die traumhaft-halluzinatorische Atmosphäre dieser Erzählung Poes dazu geführt, sie als schlechthin irreal zu charakterisieren. Aber wer zu dem Ergebnis kommt: »Roderick, seine Schwester, sein Schloß waren nur Spukgestalten«,4' der verwechselt das absolut schöpferische Ich, das hier eine Welt aus sich heraus entläßt, sich in dieser Welt buchstäblich verkörpert und deshalb mit ihr vergeht, und das Ich des Erzählers. Ein unvoreingeonmmener Leser würde, wenn er vom literarischen Thema der lebendigen Steine< hört, vermutlich weniger an die Apokalypse denken als vielmehr an die Kunst und Literatur des beginnenden 20. Jahrhunderts; konkret: an die organismischen Spielereien des Jugendstils und die Dynamisierung des Unbelebten im Frühexpressionismus. Doch hat man mit dieser Assoziation den Bereich des Apokalyptischen keineswegs verlassen; schließlich gehört ja gerade der Weltuntergang zu den bevorzugtesten Themen dieser Epochen. Im Detail kann man die Zusammenhänge in Kubins Werk studieren. Die enge Verbindung zu Poe, dessen Illustrator er war, die stilistische Vorläuferschaft zum Expressionismus und die Absage an die Traumwelten des Jugendstils, die mit dem 41 42 43 44 45 48

Poe, a.a.O., S. 13. E.A.Robinson, Ordnung und Sentience, S. 55-60. Vgl. Robinson, a.a.O., S. 60. Poe, Eureka. In: Complete Works, Bd. X V I , S. 3 1 3 . Arno Sdimidt, Der Fall Ascher. In: Der Triton mit dem Sonnenschirm, S. 426. Franz H.Link, Edgar Allan Poe, S. 195.

191

Untergang der Stadt Perle (auch) gemeint war, machen besonders sein literarisches Werk zum wichtigen historischen Schnittpunkt — und stellen nebenbei die Verbindung zum speziellen Thema der apokalyptischen Reise wieder her. Jene Stadt auf der >anderen Seite< ist nicht nur von der Einwohnerschaft her - sie besteht aus Prädestinierten, einem >RestTarnung< der apokalyptischen Neuen Welt durchschaut, deren Reduktionismus erkannt. Im Bericht des Arthur Gordon Pym vom Reich am Pol bleibt die Herkunft des Prinzips aus der traditionellen Apokalyptik sichtbar; >M. S. Found in a Bottle< zeigt den Transfer in einen neuen mythologischen Bereich; in der Erzählung vom >House of Usher< ist die Begründung des Prinzips versteckt. Sie zeigt sich schon in der Verengung der Körperwelt-Metapher auf die Schädelwelt des Hauses Usher. Die lebendigen Steine werden dadurch zu »mat£riaux imaginaires du cerveau« - eine Formel, die Baudelaire sich auch De Quinceys Schriften exzerpierte, weil sie das Bauprinzip der Künstlichen Paradiese exakt beschreibt.50 Hier ist der historische Ort einer den Raum der literarischen Apokalyptik weit übersteigenden poetologischen Entwicklung, die der Identität von Ich und Kosmos stilistisch dadurch gerecht zu werden versucht, daß sie, wie Arno Schmidt formuliert, den »Schädel als behaarte Kapsel des inneren Planetariums« mit der äußeren Welt ineins setzt.51 Ein typisches Beispiel dafür ist Bedc47 48 48 50 51

Ernst Jünger, Die Staubdämonen. In: Werke, Bd. V I I I , S. 494. Kubin, Die andere Seite, S. 187. Kubin, a.a.O., S. 69. Baudelaire, U n mangeur d'opium. In: Oeuvres completes, S. 584. Schmidt, Berechnungen II. In: Rosen und Porree, S. 305.

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etts Roman >Murphy< (1938), in dem die erzählte Welt als der mit dem geschlossenen ästhetischen Binnenraum eines Textes identische Bewußtseinsraum eines einzigen Ichs erscheint - dem Ich des Helden, nicht, wie Marianne Kesting unterstellt,52 des Erzählers. Murphys Geist stellte sich selbst als eine große hohle Kugel vor, die hermetisch vom äußeren Universum abgeschlossen war. Dies bedeutete keine Verarmung, da er nichts ausschloß, was er nicht selbst enthielt. 53

Es ist, daran läßt Beckett nicht den geringsten Zweifel, eine psychotische Welt, die hier nach romantheoretischen Prämissen erstellt wird. Die lebendigen Steine< der Apokalypse sind also nur ein mögliches Ergebnis dieses Manövers. Schmidts literarische Gewährsleute zeigen, daß die Analyse der apokalyptischen Reise, ja sogar der imaginären Reise zum Pol, für das Verständnis der poetologischen Überlegungen unerläßlich bleibt. Schließlich beruft er sich auf Poes >Arthur Gordon PymInsel FelsenburgPetersburg< eine herausragende Stellung ein, da in ihm sämtliche Bauprinzipien der apokalyptischen Welt zu einer Einheit verschmolzen sind und so deren vom Autor intuitiv erkannte Einheit transparent wird. Jenes Petersburg, das der Künstler Latschinow inmitten des polaren >Nebellandes< Pil'njaks in der Erinnerung entstehen und mit ihr vergehen läßt als eine in ihrem Wesen durchschaute apokalyptische Schöpfung, wird von Pil'njaks Vorbild Belyj zur total geometrisierten Schöpfung des absoluten Ichs Peters des Großen deklariert, deren Existenz nur durch die ständige Anwesenheit dieses Ichs gesichert ist und von den zurückgedrängten archaischen Elementen unablässig mit dem Untergang bedroht wird. Belyj führt eine Idee Puskins weiter, nach der die planimetrische Schöpfung aus Stein - das »Netz paralleler Prospekte«, das »System von Quadraten und Würfeln«5* - nur so lange existiert, wie der berühmte >Eherne Reiter< nachts seinen Sockel verläßt und durch die Straßen jagt. Andernfalls steigen die Wasser der Newa und überlassen die Stadt dem uralten Sumpf. Diese Stadt ist weder ein Teil der Welt noch ihr Abbild; sie ist die Welt selbst, da ihre Prospekte »die ganze Kugeloberfläche des Planeten umspannten«57 und sich dieses Netz schließlich »über alle Abgründe des Weltalls dehnte«.58 Und doch ist diese 53

53 55 57

Marianne Kesting, Zur Theorie des modernen Romans. In: Entdeckung und Destruktion, S. 35. 54 Samuel Beckett, Murphy, S. 64. Schmidt, a.a.O., S. 297. 58 Schmidt, a.a.O., S. 299. Belyj, Petersburg, S. 25. 58 Belyj, a.a.O., S. 24 Belyj, a.a.O., S. 2 j .

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Welt nichts anderes als der riesenhafte Kopf eines einzigen Wesens, in dem alle Personen des Romans sich wiederfinden und das sich unablässig aufbläht, bis ein Endzustand der Stagnation erreicht ist. Dann zerplatzt es: »Alles stürzt zusammen.«59 Der treffende Satz, daß Petersburg das eigentliche Subjekt des Romans sei, gilt in einem viel prägnanteren Sinn, als Volker Klotz ihn gemeint hat.60 Es handelt sich nicht um das personifizierte Stadtungeheuer des Futurismus, sondern um die apokalyptische Stadt als identifikatorische Kollektivfigur. Das Paradigma dafür hat offensichtlich Poe geliefert. Doch während bei ihm die pulsierende Abfolge zentrifugaler und zentripetaler kosmischer Bewegung erst in der Übertragung auf die psychischen Prozesse des Usher-Ichs katastrophale Formen annahm, wird hier die Identität von Kosmos und Psyche und damit der wahre Charakter der apokalyptischen Schöpfung als einer >Torricellischen LeereEherne ReiterProjektionSchonung< von den Anforderungen der Lebensnotwendigkeit freigehalten wird und das dem Ich nicht unzugänglich ist, aber ihm nur lose anhängt«.® Hier treten unübersehbar genetische Aspekte in das ökonomische Modell ein, das dadurch Züge einer gedanklichen Konzeption erhält, die wiederum auf das apokalyptische Denken verweist. Denn im Grunde liefert Freud hier nichts anderes als ein tiefenpsychologisches Pendant zur apokalyptischen Geschichtsauffassung, die auf eine Phantasiewelt des Goldenen Zeitalters eine Welt des Schreckens folgen läßt, nach deren Untergang eine Neue Schöpfung erstellt wird, die mit den besonderen Bedürfnissen ihrer Bewohner übereinstimmt, autoplastisch ist und Züge des Ursprünglichen wieder hervortreten läßt. Beispiele für die »Regression in eine befriedigendere reale Vorzeit« 10 braucht man im Bereich der modernen literarischen Apokalyptik nicht lange zu suchen, gilt doch für die gesamte Moderne der Satz Walter Benjamins, daß sie mit merkwürdiger Vorliebe die Urgeschichte zitiert. 11 Die Freud, a.a.O., S. 309. Freud, a.a.O., S. 308. - Vgl. Sdireber, Denkwürdigkeiten, S. 85. 8 Freud, Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose. In: Gesammelte Werke, Bd. X , S.365. • Freud, a.a.O., S. 367. 10 Freud, ebd. 1 1 Walter Benjamin, Paris, die Hauptstadt des X I X . Jahrhunderts. In: Illuminationen, S. 196. 8

7

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deutlichste Übereinstimmung mit den Merkmalen des psychotischen Weltaufbaus zeigen sicherlich jene Endstationen der apokalyptischen Reise, in deren Aussehen sich das ganze Alte mit dem ganz Anderen, Unerhörten seltsam vermischt, wie etwa in Heyms Südpolarreichen. Weiterhin ist an die vielfältigen literarischen Versuche zu denken, die Themenkreise Pol und Urwelt in irgendeinen von Katastrophen und Umschwüngen gekennzeichneten Zusammenhang zu bringen, wie sich das bei Shelley, Byron, Nerval, Leconte de Lisle oder — ebenso flach wie überdeutlich — bei Lingg zeigt. Die Logik der Psychose bestimmt die Erzählstruktur der Urweltfabelei. Freuds Verlaufsmodell der Psychose bietet eine tragfähige Alternative zu Jungs Archetypenlehre. Der Gedanke einer via Regression erreichbaren >Schonung< diesseits des Realitätsprinzips ist kommensurabler als die Annahme eines Archetypenbereichs, der von sich aus die Herrschaft über das Bewußtsein übernimmt. Wertvoller noch ist Freuds libidoökonomische Erklärung des die zweite Phase der Psychose bestimmenden Größenwahns. Bei Freuds Gewährsmann Schreber treten die Folgen dieser Verabsolutierung des Ichs für das Selbstverständnis und das Weltverhältnis klar hervor. Nach seinem Weltuntergangserlebnis hielt sich Schreber zunächst »für den einzigen noch übrig gebliebenen wirklichen Menschen«.12 Mit dem Eintritt des Größenwahns gab er dieser Tatsache eine neue Deutung: Er sah sich als den Erlöser der Welt, verantwortlich für die »Erschaffung einer neuen Menschen weit«, betraut mit gottgleichen Aufgaben und ausgestattet mit entsprechenden Fähigkeiten — sogar der des Gebärens (woraus sich seine Selbstbezeichnung >Hyperboräerin< erklärt). 13 Beide Positionen sind uns aus der literarischen Apokalyptik wohlbekannt. Da steht jener >letzte MenschDonatoa< (1806/07) Einzug in die deutsche Literatur hielt und dort bis zu Karl Wolfskehls Gedicht >Menschendämmerung< (1927) immer wieder auftaucht, der aber schon von Byron und Laforgue stilisiert und typisiert worden ist zu einer Figur der Selbsterfahrung. Auf der anderen Seite steht der neronische Schöpfer neuer Welten, der uns als der Ubermensch Dauthendeys, der Patera Kubins, der Polkönig Laforgues bekannt ist, der uns aber auch - nicht zu vergessen — in Gestalt des Altvaters der Insel Felsenburg entgegentritt. Denn daß auch bei der Errichtung dieses Reichs am Pol der Größenwahn eine Rolle spielte, davon hat schon der psychologisch geschulte Karl Philipp Moritz 12 13

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Schreber, Denkwürdigkeiten, S. 71 Schreber, a.a.O., S. 114.

gewußt, der seinen Anton Reiser die Gründung Felsenburgs so nacherleben läßt: Die Erzählung von der Insel Felsenburg tat auf Anton eine sehr starke Wirkung; denn nun gingen eine Zeitlang seine Ideen auf nichts Geringeres, als einmal eine große Rolle in der Welt zu spielen und erst einen kleinen, denn immer größern Zirkel von Menschen um sich her zu ziehen, von welchen er der Mittelpunkt wäre: dies erstreckte sidi immer weiter, und seine ausschweifende Einbildungskraft ließ ihn endlich sogar Tiere, Pflanzen und leblose Kreaturen, kurz, alles, was ihn umgab, mit in die Sphäre seines D a seins hineinziehen, und alles mußte sich um ihn, als den einzigen Mittelpunkt, umherbewegen, bis ihm schwindelte. 14

Freuds Theorie des Psychoseverlaufs macht den Zusammenhang sichtbar, der zwischen beiden apokalyptischen Gestalten besteht, und macht verstehbar, warum sie oft — beispielhaft im Werk Laforgues — in unmittelbarer Nachbarschaft auftreten. Und diese Theorie faltet eine Einheit auseinander, die zwischen beiden Figuren in der neuzeitlichen Apokalyptik unter Zuhilfenahme des Pols als jenes Punktes, an dem sich die den beiden Verlaufsphasen entsprechenden Sphären berühren, hergestellt worden ist. Gottfried Benn hat, indem er nicht den >letzten Menschenletzte Ich< zum Schöpfer einer Polarwelt bestellte, die zudem noch »tote Halluzination« ist (vgl. S. 122), die Apokalyptik diesem tiefenpsychologischen Psychosemodell idealtypisch angeglichen. Wenn sich Größenwahn, gemäß der Libidotheorie, definieren läßt als ein Weltwerden des Ichs durch Zurücknahme aller libidinösen Objektbesetzungen, dann erhält audi die typische Ausprägung der apokalyptischen Neuen Schöpfung, die Welt aus lebendigen Steinenheiligen Restgrößenwahnsinnig< gewordene Ich. Ein entscheidender Aspekt fehlt in der Betrachtung Freuds. Für ihn stellt der Aufbau einer Wahnwelt den Selbstrettungsversuch des von Zerstörung bedrohten Ichs dar. Uber das mögliche Scheitern dieses Versuchs und dessen Erscheinungsform macht er keine Angaben, da sich im Fall Schreber eine allmähliche Angleichung der Wahnwelt an die Realität vollzog. 16 Anders steht es im Bereich der Apokalyptik. Z w a r endet die 14 15 16

K a r l Philipp Moritz, Anton Reiser, S. 24. Frye, Analyse der Literaturkritik, S. 143. Vgl. Freud, Psychoanalytische Bemerkungen, a.a.O., S. 306.

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biblische Apokalypse mit dem hoffnungsfrohen Ausblick auf die Neue Schöpfung; in der modernen literarischen Apokalyptik hingegen liegt das Gewicht der Aussage auf der Katastrophe der im Größenwahn erstellten Welt. Das gilt - wieder auf die imaginären Polreiche bezogen von der Angst vor der Vernichtung Felsenburgs bis zur tatsächlichen Vernichtung des Polreichs bei Brjusov, vom Zerfließen des Eisblumenarkadiens und dem Zerfall der >nouveaute< in ein »chaos polaire«, vom Ubergang des paradiesischen Tsalal in einen Trümmerhaufen und von der Desillusionierung der Hoffnung Shackletons auf ein Siidpolparadies. Diese >Weltuntergänge< müssen vom Verlust der realen Welt durch Libidoentzug sorgsam unterschieden werden. Ihre Ursachen, von Jung durch die Invasion der Mana-Archetypen erklärt, lassen sich im Zuge der Weiterentwicklung der Psychosetheorie Freuds erkennen. 3. Die energetisch-ökonomischen Umschichtungen stehen im Dienst einer den Psychosen eigentümlichen psychischen Abwehrarbeit, die Freud als den »paranoischen Medianismus« beschrieben hat. 17 Versucht man auch diesen Mechanismus auf die nicht nur für den speziellen Fall Schreber gültigen Faktoren zu konzentrieren, dann erhält man ein drittes Anschauungsmodell der Psychosetheorie, das nunmehr die Elemente des Konflikts und der versuchten Konfliktbewältigung in den Vordergrund rückt. Ausschlaggebend für den Eintritt einer Psychose ist, gemäß der psychoanalytischen Grundkonzeption, die Fixierung eines Triebs oder Triebanteils im Bereich frühkindlicher Stadien der Libidoentwicklung. Wenn es im Verlauf der Lebensgeschichte durch irgendwelche Umstände zu einem plötzlichen Erstarken der »psychischen Abkömmlinge jener primär zurückgebliebenen Triebe« 18 kommt, dann werden diese Strebungen zunächst verdrängt. Dazu tritt der Versuch, die Folgen dieser Verdrängungsarbeit durch sublimierende Wahnbildungen aufzuheben. Die eigentliche Psychose setzt ein, wenn der Verdrängungsversuch mißlingt, wenn eine »Wiederkehr des Verdrängten« 1 ' eintritt. Da es, wie schon bemerkt, die typische Eigenschaft des psychotischen Denkens ist, intrapsychische Vorgänge nach außen zu projizieren, äußert sich auch diese Rückkehr in Form einer Bedrohung der Persönlichkeit von außen, also im Verfolgungswahn. Die Reaktion darauf ist schließlich eine erneute Verdrängung, die jedoch, ein letzter Selbstrettungsversuch, nicht allein den Verfolger, sondern alles nicht zum Ich Gehörende umfaßt. So kommt es, daß »sich der Sieg der Verdrängung durch die Uberzeugung ausdrückt, die Welt sei untergegangen und das Selbst allein übriggeblieben«.20 In 17 19

Freud, a.a.O., S. 295. Freud, a.a.O., S. 205.

200

18 20

Freud, a.a.O., S. 304. Freud, a.a.O., S. 310.

diesem funktionalen Zusammenhang stehen die libidoökonomischen Umschichtungen. Jetzt ist es dem von den Zwängen der Realität befreiten, zum Größenwahn gelangten Ich möglich, sich eine Welt zu schaffen, die ihm ein Arrangement mit den Verdrängungsinhalten ermöglicht und die ihm daher als Paradies erscheinen muß. Bleibt noch zu erwähnen, daß durch den Sieg der Verdrängung eine Situation in der Libidoverteilung eingetreten ist, die jener der frühesten kindlichen Entwicklungsstadien entspricht, während welcher die Disposition zur späteren Katastrophe erfolgte. Daher kann das Verdrängungsgeschehen auch als Regression beschrieben werden, mit deren Hilfe die gesamte fatale Entwicklung rückgängig gemacht werden soll. Dieser Eindruck war besonders deutlich im beschriebenen Fall Ren£e, in dem die Regression nach dem Untergang der zur Arktis gewordenen Welt bis zum Zeitpunkt der Geburt zurückreichte. Literarische Texte sind grundsätzlich nicht auf irgendeinen Mechanismus adaptierbar, sie bleiben mehrdeutig, sind — tiefenpsychologisch gesprochen - überdeterminiert. Zwei Aspekte des »paranoischen Mechanismus« lassen sich jedoch mit Erfolg auf die Struktur apokalyptischer Texte beziehen: die Verdrängungsarbeit und die Auswirkung der Verdrängungsinhalte auf das Aussehen der apokalyptischen Neuschöpfung. Schon die biblische Apokalyptik wurde nicht müde, vor den Gefahren der zu erwartenden >Wiederkehr des Verdrängten< zu warnen. Es war, wie man zum Beispiel im 20. Kapitel der Johannes-Apokalypse nachlesen kann, ein fester Bestandteil ihres starren Geschichtsbildes, daß in der Endzeit, nachdem die Unterdrückung des Tiers aus dem Chaos und der unzüchtigen Babylon gelungen und ein tausendjähriges Friedensreich angebrochen ist, das schon überwunden geglaubte Böse in Gestalt des Gog aus Magog, des Beliar, Satan oder Antichrist einen letzten schrecklichen Ansturm unternehmen werde, der erst mit dem Weltuntergang sein Ende findet. Die Abfolge von partieller und totaler Verdrängung ist klar zu erkennen. Sie hat sich im apokalyptischen Denken aller Schattierungen bis heute durchgehalten, welche historischen Einkleidungen man audi immer dem Friedensreich und seiner bösen Gegenmacht gegeben hat. Die Unzuchtsphantasien, mit denen das zu unterdrückende Böse hier umgeben wird, zeigen auch schon, welcher Art die Triebregungen zu sein scheinen. Es geht um die Verdrängung von Sexualität. Mit welchem Erfolg sie in der biblischen Apokalyptik durchgeführt wurde, hat C. G. Jung aufgezeigt (vgl. S. 187). Auf gleichgelagerte Probleme sind wir allein im engen thematischen Bereich der imaginären Reise zum Pol schon mehrfach gestoßen. Sie verbinden sich normalerweise mit dem Präadamitismus, oder, besser gesagt, mit dem Urvolkthema, dessen Funktion deshalb auf der Grund201

läge des »paranoischen Mechanismus« einer genaueren Analyse unterzogen werden soll. Die Bestandsaufnahme im ersten Teil der Arbeit hat unter anderem gezeigt, daß zwischen der Existenz eines Urvolks und der Gegenwart in der Regel ein Untergang liegt und daß dieses Urvolk mit idealen oder aber mit extrem negativen Zügen ausgestattet wird. Das erste Ergebnis fordert - gemäß der Parallelität des apokalyptischen Geschichtsbildes und des Phasenmodells Freuds - seine Zuordnung zur >PhantasieweltSchonung< erklären. Ihre Entdeckung im Verlauf der apokalyptischen Reise signalisiert dann den Punkt, an dem die dritte Phase des paranoischen Prozesses, der Aufbau der neuen Realität, beginnt. Demnach dürfte es nur gute Präadamiten geben, Konkretionen der utopischen Wunschwelt. Daß die literarische Tradition sie aber wesentlich problematischer darstellt, liegt offensichtlich daran, daß sie gemäß dem »paranoischen Mechanismus« — Träger von Verdrängungsinhalten sein können. >Rückkehr des Goldenen Zeitalters< und Wiederkehr des Verdrängten< gehen hier höchst seltsame Verbindungen ein: So stellt sich uns das Südpolreich Foignys dar als eine Welt, in der die Verdrängung der Sexualität überflüssig geworden ist, da die Bewohner Hermaphroditen sind, ihrer also nicht mehr bedürfen. Man kann in dieser Beschreibung natürlich eine Wiederbelebung der alten utopischen, auch in der Theologie der Aufklärungszeit noch diskutierten Vorstellung vom Androgyn als dem Symbol der Vollkommenheit und Ganzheit sehen. Zieht man jedoch die merkwürdigen Verhaltensweisen dieser Wesen in Betracht, dann wird man eher sagen müssen, die Utopie werde hier nach Bedürfnissen verformt, die von der Notwendigkeit des Verdrängens bestimmt sind. Dies trifft sich mit einem Forschungsergebnis der Psychoanalyse, nach dem im psychotischen Regressionszustand der Mythos von der Androgynie zitiert wird, um Vollkommenheit zu suggerieren, wo der Sieg der Verdrängung vollzogen ist.21 Die Konzeption der >Insel Felsenburg< zeigt, welche kulturpsychologisch und ideologiegeschichtlich bedeutsamen Veränderungen sich seit den Reisen Jacques Sadeurs ergeben haben. Bei Schnabel ist das Urvolk nicht mehr Verwalter der Abwehrmedianismen, sondern Träger der Verdrängungsinhalte, gegen deren Wiederkehr die apokalyptische Neuschöpfung des omnipotenten Altvaters mit aller Macht zu kämpfen hat. Läßt man sich, durch die Nebentöne in einigen Episoden des Romans hellhörig 21

Pohlen, Schizophrene Psydiosen, S. 54.

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geworden, einmal auf eine triebpsychologische Interpretation des Werdegangs dieser Neuschöpfung ein, dann zeigen sich deutlich die Strukturen des Verdrängungsmodells. Die Phase des von Freud beschriebenen partiellen Verdrängungsgeschehens spielt sich in dem durch das Schiffsbrüchigenschemas vorgegebenen internen personalen Rahmen ab. Sie findet ihren Höhepunkt in der Vernichtung des großen Widersadlers des Altvaters, des Franzosen Lemelie, der als Repräsentant aller phallischen Triebregungen vorgestellt wird; 22 sie hat ihre Fortsetzung in der Vernichtung jener resistenten Menschenaffen, denen abstruse sexuelle Verfehlungen nachgesagt werden.23 Daß die Verdrängung des phallischen Bereichs auf Felsenburg total ist, wird auch dadurch nicht bezweifelbar, daß der Altvater als Erzeuger eines großen Geschlechts hervortritt. Denn zumindest rudimentär erscheint das Ideal endzeitlicher Ungeschlechtlichkeit in dem Umstand, daß der Erstgeborene Felsenburgs einer Josephsehe entstammt.24 In der Folgezeit bleibt auf Felsenburg nur am Leben, wer »den allergrössten Eckel« an der Vermischung mit dem weiblichen Geschlecht« empfindet.25 Eine Rückkehr des Verdrängten kann jetzt, gemäß dem Modell des »paranoischen Mechanismus«, nur noch von außen drohen, da mit der Verdrängung die Projektion einhergeht. Nichts anderes als ein Ausdrude dieses Verfolgungswahns ist die ständige Angst vor dem vom Pol her drohenden präadamitischen Chaos, dessen sexuelle Akzentuierung bei der Beschreibung Kleinfelsenburgs deutlich hervortritt. 2 · Von einem Sieg der Verdrängung müßte man wiederum bei Poes >Arthur Gordon Pym< sprechen, wenn man mit der Psychoanalyse dem Text eine vom Verfasser intendierte Symbolstruktur zuerkennt. Festzuhalten ist jedoch, daß in der Oberflächenstruktur des Romans von Sexualität überhaupt keine Rede mehr ist. Die Glieder des großen Körpers Tsalal verdrängen vielmehr alles, was mit der Farbe Weiß in Zusammenhang steht, und sterben bei ihrem personifizierten Auftauchen am Ende des Romans. Vergleicht man die Texte Poes und Schnabels unter diesem Aspekt, dann verhalten sie sich wie der manifeste Trauminhalt zum latenten Traumgedanken. Die »Textverschiedenheit von Trauminhalt und Traumgedanken« entsteht durch die Symbolbildung und durch eine typische >Verschiebung< :27 Träger der Verdrängungsinhalte ist nicht mehr das Urvolk, sondern die von ihm zu unterscheidende anonyme Instanz am 22 23 24 25 28 27

Vgl. Schnabel, Insel Felsenburg, Bd. I, S. 209-218. Vgl. Schnabel, a.a.O., S. 269; $98f. Vgl. Schnabel, a.a.O., S. 2 2 2 - 2 2 5 . Vgl. Schnabel, a.a.O., Bd. III, S. 320; Bd. IV, S. 558. Vgl. Schnabel, a.a.O., Bd. I, S. 602. Freud, Die Traumdeutung, S. 257.

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Pol. Dieser Schritt dürfte mit der eindeutigen Umwertung des Reichs am Pol zusammenhängen. Dessen arkadisch-utopische Züge schwinden in einem schrittweisen Desillusionierungsprozeß, der schließlich zum apokalyptischen Vorgang wird. Die von der Insel Felsenburg abgewehrte Katastrophe wird auf Tsalal andeutungsweise Realität. Bei Byron erlangt die seit Beginn der literarischen Tradition im Thema mitschwingende Erkenntnis-Komponente Primat. Sie bildet den Verdrängungsinhalt, dessen Träger hier die Präadamiten sind, die, um sie eindeutig von der überkommenen Vorstellung loszulösen, zum Kainiten gemacht werden. Die Trennung beider Gruppen hingegen, die bei Nerval zu beobachten ist, dient anscheinend dazu, die Gefahr einer Uberlagerung der erhofften Rückkehr des Goldenen Zeitalters durch die Wiederkehr des Verdrängten aus der Welt zu schaffen. Stellt man dieser Entwicklung Heym gegenüber, so zeigt sich, daß die aus den verschiedenen Stellungen des Urvolkthemas im »paranoischen Mechanismus« resultierenden Lösungsmöglichkeiten hier wie in einem Hohlspiegel zusammengeschmolzen werden: das Urvolk ist Träger des Verdrängungsinhalts, der nur aus seinem Verhalten erschlossen werden kann; indem es zugleich das Reich am Pol und die zerstörerische Instanz bildet, wird der Versuch, sich mit dem Verdrängten zu arrangieren und im Bereich der >Schonung< eine apokalyptische Welt existieren zu lassen, unmöglich gemacht. Ohne Ubertreibung wird man sagen können, daß dadurch der Text Heyms zum Abbild eines Psychoseverlaufs wird, dessen Geradlinigkeit nicht einmal mehr die im »paranoischen Mechanismus« zum Ausdruck kommenden Konfliktstrategien und Rettungsversuche zuläßt. 4. Zu klären bleibt das Verhältnis von Sexualitäts- und Erkenntnisproblematik. Die Textsituation läßt eigentlich nur den Schluß zu, daß im Verlauf der literarischen Entwicklung der apokalyptischen Reise eine audi material dem Psychoseverlauf entsprechende Vorgangsstruktur mit neuen Inhalten gefüllt wurde, so daß schließlich lediglich der formale Mechanismus des Psychosemodells dem Textgefüge entspricht, es sei denn, man sieht - ganz im Sinne traditioneller psychoanalytischer Interpretationsmethodik - im Drang nach verbotener Erkenntnis nur die Einkleidung des den Psychoseverlauf bestimmenden sexuellen Konflikts. Doch läßt sich eine Alternative zu beiden Lösungen formulieren, durch die das Verhältnis von Text und Modell wesentlich differenzierter bestimmt wird. Auf den Fall Schreber bezugnehmend hat Jacques Lacan eine neue Deutung der Anschauungsmodelle Freuds gegeben: »nous nous emploierons ä. montrer une structure, qui s'avdra semblable au proems meme de la 204

psychose.«28 Kern dieser Neubesinnung ist die Hypothese, daß der konkret benannte Verdrängungsinhalt der Psychose kein reales Objekt oder Signifikat sei, sondern ein Signifikant, und daß er deshalb verstanden werden müsse »als Moment einer Struktur, welches sich zwar unmittelbar innerhalb der Entwicklung manifestiert, dessen Funktion aber diese Entwicklung transzendiert und sie organisiert«.29 In diesem Sinn ist das Phallische, das nach Freud in der Psychose der Verdrängung unterliegt, kein sexuelles Signifikat, sondern es ist für Lacan ein »Signifikant des Begehrens schlechthin«,30 dessen Etablierung im sexuellen Bereich nicht darüber hinweggtäuschen darf, daß Begierde auf Grund einer dem Begriff innewohnenden Dialektik immer auch »le dέsir de savoir« 31 ist — >curiositasdiff£rencecuriositaserklären< sind.«5 Die Krise wird deshalb als >Subjektsprung< verstanden, womit die Inkohärenz der Entwicklung möglichst deutlich zum Ausdruck gebracht werden soll. Der einzelne psychische Zustand ist »kein Glied einer Kette, keine Ziffer in einer Reihe, sondern gegenüber dem Vorher eine Wandlung zu einem Nachher, eine >revolutioSprungsSprung< von einem >Zeitwirbel< sprechen, als einer Erscheinung entstrukturierter Zeitlichkeit, in die das Subjekt gerät.7 Diese von Heidegger stammende existentialontologische Kategorie hat ihren Einfluß auf die Psychosetheorien behalten, audi nachdem man den Aspekt der >Zeitigung< von ihr abgelöst und sie zu einer bloßen Metapher für existentielle Entstrukturierungsphänomene gemacht hat. Im Kulenkampffs psychiatrischer Krisenlehre< hat dieser Versuch einer phänomenologischen Modellbildung seinen Höhepunkt erreicht. Kulenkampff geht aus von dem Grundsatz: »Die Krise saugt uns an, sie hat den Charakter eines Strudels.«8 Sie läßt jedoch, trotz ihrer nötigenden Kraft, ein begrenztes Steuerungsvermögen zu. Normalerweise modifizieren die menschlichen Intentionen, die zu Recht hinter der Krise neue 4 5 β 7

8

Vgl. Dieter Wyss, Die tiefenpsydiologischen Schulen, S. 3 0 9 ^ Wyss, a.a.O., S. 309. Eckart Wiesenhütter, Grundbegriffe der Tiefenpsychologie, S. 147. Vgl. Gabel, Ideologie und Schizophrenie, S. 2 1 2 Anm. 88. - Binswanger, Schizophrenie, S. 3 3 3 f . Caspar Kulenkampff, Zum Problem der abnormen Krise in der Psychiatrie. In: E. Straus, J . Zutt (Hrsg.), Die Wahnwelten, S. 278.

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Horizonte vermuten, den Weg in die Krise; dies wird als Wandlungsmöglichkeit begriffen und entsprechend angegangen. »Das uns Zwingende zeigt sich so in die das Mögliche realisierende Handlung des Menschen von vornherein eingebettet.«9 Wandlung ist jedoch nur dann möglich, wenn die Freiheit zur Entscheidung in der Krise gewahrt bleibt. In der Psychose wird diese Verbindung von Möglichkeit und Notwendigkeit aufgelöst: »Der Horizont der Möglichkeiten engt sich offenbar derart ein, daß denkbare Alternativen von vornherein entfallen.« 10 Daraus ergibt sich eine unüberwindliche Schwierigkeit: Der Zwang zur Krise kann nicht mehr aufgefangen werden durch die Wahl einer aus der Krise erwachsenden Möglichkeit, und so muß der Weg in die Krise zum Versuch werden, das Unmögliche zu realisieren: »Die Dynamik dieser abnormen, defizienten Krisenform [ist] dadurch gekennzeichnet, daß sich hier ein Zwang zum Unmöglichen aufrichtet.« 11 Das Resultat: ein »existentielles Dilemma zwischen Zwang zum Unmöglichen und Unerzwingbarkeit des Unmöglichen«.12 Daran müssen die Strukturen der Welt zerbrechen; es taucht »angesichts des Zwanges zum unmöglichen Wirklichen notwendig der Wahn als das mögliche Unwirkliche auf«. 13 Zweifellos ist dieser Weg aus der Krise eine Sackgasse. Aber er ist die einzige Möglichkeit, die Kontinuität der Existenz zu wahren, die für Kulenkampff — im Gegensatz zu Weizsäcker - absolut notwendig ist. Diesen Weg in die Krise kann man als einen Prozeß sehen, dessen außen sichtbare »Kristallisationspunkte« die Konstruktion eines Verstehensmodells zulassen: Immer muß es eine »Achillesferse« geben, deren Verletzung gas Geschehen in Gang setzt - ganz wie die traumatisch bedingte Disponiertheit und deren Akutalisierung bei Freud. Daraus ergibt sich ein »lawinenartig sich verstärkender Widerstreit mit der Wirklichkeit«, auf den ein »sogartiger Eintritt« in die Krise folgt. Bei der Psychose kommt es nun, auf Grund der Unfähigkeit zu einer Steuerung, zu einem »antinomischen Dilemma«, aus dem ein »Zwang zum Unmöglichen« resultiert. Diesem Zwang kann nur Genüge getan werden durch eine »Metamorphose der anthropologischen Strukturen«, die ihren Niederschlag in der Wahnbildung findet.14 2. Ohne Zweifel ist das Ergebnis dieser Krisenlehre deckungsgleich mit zentralen programmatischen Äußerungen der literarischen Moderne von Poe bis zum deutschen Frühexpressionismus. Deren Ästhetik, die von der Notwendigkeit zeugt, »bewußtlos den Wunsch des Uberlebens in die Schi9 11 18

Kulenkampff, a.a.O., S. 279. Kulenkampff, a.a.O., S. 282. Kulenkampff, a.a.O., S. 283.

10 12 14

Kulenkampff, a.a.O., S. 281. Kulenkampff, ebd. Kulenkampff, a.a.O., S. 286.

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märe des nie gekannten Dinges« zu werfen, 15 orientiert sich somit am Modell der Psychose und gewinnt durch den hier eingeführten Aspekt des Zwanghaften, der in der phänomenologischen Methode von allem Mechanistischen, Psychopathischen gereinigt ist, eine neue Verständnisebene. Was im Programm als Revolution ausgegeben wird, als »Dreimal Trotzdem« der Desillusionierten, als das Erzwingen des Neuen, das ist eben kein Zeichen einer noch vorhandenen »Gesundheit«, wie Heym meinte,19 ist nicht mehr der Racheakt, den Poe im Artistischen für möglich hielt; 17 vielmehr zeigt sich im Aufbau der Gegenwelt die Entkleidung des Zwangs nach dem Wegfall der Freiheit zur Realisierung des Daseinsentwurfs in der Krise. Der Mahlstrom am Pol ist die perfekte Illustration des >Strudels< im anthropologischen Krisenmodell und des fundamentalontologischen >ZeitwirbelsKristallisationspunkte< hin zu untersuchen. Ist, so könnte man fragen, jene mythenhafte Gestalt von abnormen Ausmaßen, die sich im Strudel am Südpol aufrichtet, wirklich der Tod als die letzte und einzige Möglichkeit, das ganz Andere zu erreichen? Oder ist in dieser Gestalt, mit Adorno zu sprechen, »der Begriff des Neuen aufgerichtet« in Form einer Personifikation? 18 Die Antwort, die man vom Krisenmodell her geben kann, zeigt, daß es unter Umständen eine anscheinend unaufhebbare Trennung von Signifikat und Signifikant rüdegängig zu machen vermag. Eine solche Trennung scheint am Ende von Poes Roman vorzuliegen, da - wie man aus den textimmanenten Interpretationsversuchen schließen muß - eine klare Aussage darüber, was die vielzitierte Pol-Gestalt, die doch eindeutig Zeichencharakter hat, bedeutet, offenbar nicht möglich ist. Erinnern wir uns noch einmal an das Ende von Pyms Bericht: A n d now we rushed into the embraces of the cataract, where a chasm threw itself open to receive us. But there arose in our pathway a shrouded human figure, very far larger in its proportions than any dweller among men. 19

Vergleichen wir ihn nun mit der Beschreibung der entsprechenden Phase des Krisenmodells: Es richtet sich nun im ansaugenden Strudel des kritischen Verwandlungsvorganges ein Z w a n g besonderer, abnormer A r t auf. 20 15 16 17 18 19 20

Adorno, Minima Moralia, S. 3 2 1 . Heym, Eine Fratze. In: Dichtungen und Schriften, Bd. II, S. 174. Vgl. Poe, Arthur Gordon Pym, a.a.O., S. 2 4 5 . Adorno, a.a.O., S. 3 1 6 . Poe, Arthur Gordon Pym, a.a.O., S. 242. KulenkampfF, a.a.O., S. 282.

226

Vom Modell her ist aus dem Vergleich zu schließen, daß es sich hier um eine allegorische - d. h. eine abstrakte Idee versinnbildlichende - Figur des Zwangs zum Unmöglichen handelt, die das literarische Pendant eines Psychoseverlaufs abschließt. Poes eigene theoretische Äußerungen kommen dieser Vermutung entgegen. Unsere Unterscheidung von Oberflädie und der — im Vergleich mit dem Modell sichtbar werdenden — Tiefenstruktur deckt sich mit Poes Unterscheidung von »upper-current« und »under-current« des Texts. 21 Während normalerweise »the suggest meaning runs through the obvious one in a very profound under-current«, durchbricht die Allegorie die Trennwand förmlich von unten her.22 Diesen die Fiktion zerstörenden Durchbruch jedoch lehnt Poe ab. Stattdessen bietet er, wie im vorliegenden Fall, eine weitgehend destruierte Allegorie, indem er eine Figur so zeichnet, daß sie als direkter Ausdruck von under-current meaning erscheint, ohne daß deren Inhalt jedoch formulierbar wäre. Zu zitieren ist nun Poes eindringliche Beschreibung des >Imp of the PerverseArthur Gordon Pym< aufweist: But out of this our cloud upon the precipice's edge, there grows into palpability, a shape, far more terrible than any genius, or any demon of a tale, and yet it is but a thought [ . . . ] , 2 3

Die Gestalt ist greifbar und doch nur ein Gedanke, sie wäre eine Allegorie, wenn der Gedanke ausgesprochen würde. Aber statt der Definition kommt nur die Beschreibung eines Gefühls; die Gestalt verkörpert »the idea of [ . . . ] sensations«.24 Poe formuliert hier sein Prinzip der zerstörten Allegorie an einem der Pol-Gestalt entsprechenden Beispiel. Ihre Rekonstruktion wird möglich, wenn man das phänomenologische Modell dem Text unterlegt und auf diese Weise eine Hilfskonstruktion schafft für die Tiefenstruktur, deren Vorhandensein nur durch die von ihr ausgelösten Sensationen signalisiert wird. Ausgehend von dieser Interpretation läßt sich die Entwicklung des literarischen Themas Pol-Gestalt neu beschreiben. Poe hat sie gänzlich aus den mythologischen Zusammenhängen herausgenommen, aus denen sie 21

22

23 24

Vgl. Poe, The Philosophy of Composition. In: Complete Works, Bd. X I V , S. 2 0 7 ^ Vgl. Poe, Hawthorne's >Twice-Told TalesPolar Ancient< der alten Sagen wurde ja im >Rime of the Ancient Mariner< zu einer Instanz, deren Wirkweise sich zwar sehr klar erläutern läßt, ohne daß man jedoch letztlich sagen kann, wer oder was denn nun >The Spirit from the southpole< ist. Diese Dunkelheit wird bei Poe zur intendierten Rätselhaftigkeit, wobei im Unterschied zu Coleridge kein Zweifel besteht, daß mit der Aufdeckung des Rätsels das Textverständnis steht und fällt. Den entscheidenden Schritt weiter ist Baudelaire gegangen, der bei der Beschreibung der psychotischen Krise De Quinceys jenes Bild benutzte, das nur von Poe her richtig zu verstehen ist: L'impuissance se dressa, terrible, infranchissable, comme les glaces du pöle

[...]»

Durch die Auflösung der verkürzten Allegorie in eine Verbindung von Personifikation und Vergleich wird Eindeutigkeit hergestellt. Wenn hier schon statt des Zwangs dessen Gegenstück, die Unfreiheit zu handeln und zu entscheiden, erscheint, dann zeigt sich darin, daß Baudelaire zu ebenjener Interpretation der Allegorie Poes kam, die durch das Krisenmodell wahrscheinlich geworden ist. Geradezu programmatisch mutet in diesem Rahmen die Polreise-Fabel Chamissos an. Audi deren Held begegnet ja einer allegorischen PolGestalt, die jedoch das genaue Gegenteil der Α Ν Α Γ Κ Η verkörpert, die Fähigkeit des ΘΕΛΕΙΝ, die als ein unverdientes Geschenk aus der im arktischen Bild ausgedrückten Existenzkrise heraushilft. Unabhängig von der historischen Verankerung des Texts wird man sagen dürfen, daß Chamisso hier eine eben nur im Märchen mögliche Alternative zu dem im Krisenmodell beschriebenen Vorgang des Scheiterns und der Veränderung der anthropologischen Strukturen aufgestellt hat. Nirgendwo wird die im Krisenmodell aufgeführte Persönlichkeitsveränderung eindeutiger beschrieben als im Golemisiertwerden der Polsucher Heyms. Demnach müssen die Polbewohner im >Tagebuch Shackletons< für den im Modell genannten Zwang stehen. Vergleicht man sie mit Heyms direktem Bezugstext, dem Roman Poes, dann wird deutlich, daß bei Heym die Ebene hochreflektierten Allegorisierens verlassen worden ist. Uberblickt man die gesamte Entwicklung, so könnte man von einer Remythisierung sprechen. Eigentlich müßte die sehr ausgefallene Einkleidung des abstrakten Prinzips Zwang, die Vermischung mit dem Urvolkthema, jegliches undercurrent meaning neuerlich verrätsein. Durch einen ungewöhnlichen Kunstgriff bewirkt Heym jedoch das Gegenteil: In die 25

228

Baudelaire, Les Paradis artificiels, a.a.O., S. 600.

Erzählstruktur wird eine psychologische Interpretation integriert, die genau der des Krisenmodells entspricht. Das kommt in Andeutungen des Tagebuchschreibers zum Ausdruck, mehr noch im fiktiven Herausgeberbericht, der den Leser auf die Wichtigkeit dieser Andeutungen hinweist. Diese Uberformung der Mythologie durch die Psychologie gibt dem Text eine vollständige Parallelität zum Modell. Um so eindeutiger läßt sich die Funktion der Mythisierung benennen. Sie dient dazu, den Eindruck der Unausweichlichkeit wachzurufen, und verringert die Möglichkeit zur Distanzierung. Die unterschiedliche Abweichung der einzelnen Texte von der Faktorenfolge im Modell macht weitere Aspekte einer narrativen Syntax der Reise ans Ende der Welt erkennbar. So erscheint bei Poe die genaue Umkehrung der Abfolge von unmöglichem Wirklichen und möglichem Unwirklichen. Man könnte sagen, daß im >Arthur Gordon Pym< angesichts der Unmöglichkeit des möglichen Unwirklichen der Zwang zum unmöglichen Wirklichen als einzige Alternative gilt. Offenbar referiert der literarische Text das Modell vom Resultat des Prozesses aus. Diesen retrospektiven Akzent unterstreicht die Ablösung der Erzählstruktur durch die Allegorie. Der Umkehrung bei Poe steht eine Identifikation bei Heym gegenüber. Im >Tagebuch Shackletons< fallen das mögliche Unwirkliche und die Figur des Zwangs zusammen. Verwies die Umkehrung auf eine größere Distanziertheit des Texts zu dem im Modell zum Ausdruck gebrachten Prozeß, so spricht die Identifikation eher für einen Mangel an Distanz, der in enger Beziehung steht zu der durch die Verbindung von Mythisierung und Psychologisierung hervorgerufenen Vergeblichkeitsattitüde. 3. Untersucht man vom Krisenmodell aus die literarische Apokalyptik, dann treten vornehmlich die Texte Rimbauds in den Vordergrund, von denen bisher fast gar nicht die Rede war. Das bestätigt die zu Beginn aufgestellte Behauptung, die Leistungen der verschiedenen Psychosemodelle seien weitgehend komplementär, d. h. die einzelnen Modelle erfaßten unterschiedliche Realisationsmöglichkeiten des gleichen literarischen Themas und machten, da sie alle in der Psychose den einen Bezugspunkt haben, die Einheit des literarischen Bereichs deutlich. Die Beziehung der um das Stichwort Pol organisierten Texte Rimbauds zum phänomenologischen Krisenmodell ist hochkompliziert. Zunächst stellt man fast, daß das mögliche Unwirkliche in Form einer konsistenten Wahnwelt überhaupt nicht auftaucht. An ihre Stelle rückt das aus divergierenden akustischen und optischen Phänomenen bestehende »chaos polaire« (vgl. S. 93). Wir haben es hier offenbar mit dem Zustand einer Welt nach dem Untergang zu tun, doch handelt es sich nicht - im Gegen229

satz zur Chaos-Schilderung im >Arthur Gordon PymApres le Deluge< entsteht aus dem polaren Chaos eine Ordnung, die der plattesten Zivilisation (vgl. S. 92). Daraus läßt sich nur ein einziger Schluß ziehen: Rimbaud sieht in der wirklichen Welt, insofern sie Zivilisation ist, das mögliche Unwirkliche, den Wahn. Dann aber ist audi mit der Destruktion der wirklichen Welt zum »chaos polaire« der Zusammenbruch einer Wahnwelt gemeint, die jedoch nicht auf dem Weg zum Pol erstellt wurde, sondern diesem Weg schon vorgegeben war. So ist der Prozeß, den das Krisenmodell beschreibt, bei Rimbaud der Zivilisationsprozeß. Nachdem im Mahlstrom der Geschichte der Versuch gescheitert ist, das unmögliche Wirkliche zu erreichen, trat an seine Stelle die Zivilisation als das mögliche Unwirkliche. Die tatsächliche Eroberung des Pols ist Kennzeichen und Höhepunkt des Prozesses. Die literarische Reise zum Pol hingegen beschreibt den Versuch einer individuellen zweiten Ausfahrt, die das Krisenmodell auf den Kopf stellt. Die Ablehnung des möglichen Unwirklichen, dessen immer wiederkehrender Untergang beschlossene Sache ist, erzwingt die neuerliche Suche nach dem unmöglichen Wirklichen. An dieser Stelle trifft sich Rimbaud wieder mit Poe. Doch nicht eine Allegorie des Zwangs beschließt den Weg, sondern aus dem polaren Chaos entsteht etwas tatsächlich Neues, das in zwei Aggregatzuständen der Fiktionalität erscheint: als das absolute und abstrakte Wortkunstwerk der >Alchimie du Verbe< oder sinnenfälliger als »fleurs arctiques«. Jetzt läßt sich der Unterschied von utopisch-eschatologischer und apokalyptischer Position noch einmal genauer bestimmen. Das unmögliche Wirkliche steht für die Utopie, die bei Rimbaud nicht verwirklicht, aber doch versprachlicht wird durch Adynaton oder literarische Abstraktion. Gleiches gilt für Kandinsky und Tzara. Wird, wie bei den Romantikern, die Versprachlichung als Garant der Verwirklichung verstanden, dann tritt die Utopie ins esdiatologische Spannungsfeld ein. Demgegenüber steht das mögliche Unwirkliche für die Apokalypse, die damit eindeutig als eine Folge des Scheiterns an der Utopie gekennzeichnet wäre. Daß sie eine am jeweiligen Inhalt der Utopie ausgerichtete Ersatzlösung im Krisengeschehen ist, macht gerade der Themenkreis Pol deutlich. Das 26 27

Poe, Arthur Gordon Pym, a.a.O., S. 23of. Conrad, Die beginnende Schizophrenie, S. 1 1 5 .

230

mögliche aber unwirkliche Pendant zur Abstraktion ist die geometrisierte Welt, das Pendant zum Adynaton Polblüte das boreale Arkadien. Hält man die Texte von Novalis und Fourier nebeneinander, dann kann man abschätzen, wie schmal aber tief die Kluft zwischen beiden Positionen ist. Will man den Prozeß verfolgen, der vom Scheitern an der Utopie zur Apokalypse führt, muß man nachlesen, wie Benn aus der »Eis- und Edenrose« die südpolare Rosenzucht nachgeschichtlicher Zivilisationen entwickelt hat. 4. Das phänomenologische Krisenmodell kommt den Erwägungen Lacans auf halbem Weg entgegen. Der Begriff >difference< dürfte der wertenden Formel vom unmöglichen Wirklichen entsprechen. Demnach umschriebe das Modell hier eine Sonderform allgemeiner existentieller Entwicklungsstrukturen. Die Art dieser Umschreibung macht eine Anwendung der Psychosetheorie auf kulturhistorische Vorgänge möglich, ohne daß es zu der befürchteten Pathologisierung der Geschichte kommen muß. Im kritischen Wandlungsprozeß offenbart sich als Zwang, was Lacan Begierde nennt. Der Augenblick der Offenbarung ist bei allen scheiternden Ausfahrten von Dantes Ulysses-Episode bis zu Heyms Shackleton-Bericht zu lokalisieren. Es ging in jedem Fall darum, den »Horizont der Möglichkeiten« abzutasten - in der äußeren oder in der inneren Welt. Die für die Anwendbarkeit des Psychosemodells ausschlaggebende Verengtheit dieses Horizonts ist eine Konstante bei allen apokalyptischen Reisen, in deren Hintergrund der geschichtliche Prozeß der Neugierde steht. Versucht man ihn vom Krisenmodell her zu beschreiben, dann zeigt sich das Scheitern des Ulysses als Folge der noch nicht hergestellten Verbindung von Möglichkeit und Notwendigkeit, der noch vorhandenen Beschränktheit des Horizonts. Dem im Zeitalter der Entdeckungen vorherrschenden Eindruck einer Unbegrenztheit der Möglichkeiten folgt mit der wachsenden Überzeugung, alles Wissenswerte sei schon entdeckt, die spätestens von Poe formulierte Einengung der Möglichkeiten zur Notwendigkeit, den Drang nach Erkenntnis auf dem einzig noch offenen Weg, nämlich dem zum Pol, zu befriedigen. Die Beschreibung des Pols als eines aller vernünftigen Erwartung widersprechenden Orts trägt der Defizienz dieses krisenhaften Entdeckungsversuchs Rechnung, dem Zwang zum Unmöglichen. Zugleich wird der Horizont der Möglichkeiten nach einer neuen Richtung hin erweitert, indem der Weg nach innen als denkbare Alternative behauptet wird. Doch schon die Beschreibung dieser >voyages metaphysiques< durch Rimbaud macht deutlich, daß man statt von Alternative einzig von einer Wiederholung der Horizontverengung sprechen kann. Audi die Begierde nach innerer Erfahrung erweist sich als Zwang zum Unmöglichen und endet im Scheitern. 231

Gänzlich außer Betracht geblieben ist bisher die Ursache des im Krisenmodell beschriebenen Prozesses, also der »Widerstreit mit der Wirklichkeit«. Die Formulierung ist zu weit gefaßt, als daß sie gewinnbringend eingesetzt werden könnte. Daß jeder psychotische Prozeß einen Konflikt voraussetzt, dürfte klar sein. Was aber ist unter Wirklichkeit zu verstehen? Ist sie gleichzusetzen mit der objektiven Außenwelt, oder muß man sie vorsichtiger als das Nicht-Ich bezeichnen? In welchem Verhältnis steht sie zu psychischen Instanzen und zum Wahn, der doch auch eine Wirklichkeit besitzt? Haben nicht gerade die Texte Rimbauds gezeigt, daß der Widerstreit mit einer wahnhaften Wirklichkeit in die Krise führt? Nimmt man zu diesen Fragen die schon früher geäußerte Kritik an Psychosetheorien hinzu, die ein Konfliktmodell unter Ausschluß des Faktors Wirklichkeit zu konstruieren versuchen (vgl. S. 184^), dann bietet sich als nächster methodischer Schritt die Suche nach theoretischen Positionen an, die durch eine exakte Bestimmung des Faktors Wirklichkeit und seiner Funktion für den Psychoseverlauf die bisher vorgeführten Modelle ergänzen und uns auf diese Weise an die Frage nach den Bedingungen für apokalyptisches Denken heranzuführen vermögen. Dieser Weg entspricht dem Verlauf der Forschungsgeschichte. f. Die Zerstörung der falschen Realität 1. Noch einmal ist anzusetzen bei Freuds ursprünglichem Modell der Libidoökonomie: »Wir erinnern uns daran, daß die meisten Fälle von Paranoia ein Stück Größenwahn zeigen, und daß der Größenwahn für sich allein eine Paranoia konstituieren kann. Daraus wollen wir schließen, daß die freigewordene Libido bei der Paranoia zum Ich geschlagen, zur Ichvergrößerung verwendet wird.« 28 Melanie Kleins Kritik an diesem Modell bezog sich auf die Reihenfolge seiner Faktoren und auf die starke Betonung der Vorstellung von Rückzug und Verlust. Eine erneute Diskussion wird nötig, wenn man, von Freuds Begriff der Ich-Vergrößerung ausgehend, das Problem der Ich-Grenzen ins Spiel bringt. Schon 1919 hat Viktor Tausk die Vermutung geäußert, in der Psychose komme es zu einem durch die Regression auf frühkindliche Entwicklungsstadien bedingten Schwund der Grenzen zwischen Ich und Nicht-Ich.29 Während sich dies noch mit der Konzeption Freuds in Ubereinstimmung bringen ließ, ging die Psychosetheorie Paul Federns eindeutig von einer Ablehnung der Freudschen These vom Realitätsverlust aus. Federn kam zu dem Ergebnis, »daß die Schizophrenie nicht mit einem Verlust der inneren Realität, 28 29

Freud, Psychoanalytische Bemerkungen, a.a.O., S. 309. Vgl. Freeman, Cameron, McGhie, Studie zur chronischen Schizophrenie, S. 4 2 f.

232

sondern mit der Entstehung einer falschen Realität infolge des Zusammenbruchs der Ichgrenzen beginnt«.30 Der für die Psychose typische Vorgang, daß das Ich Welt wird, wäre also nicht als Aufhebung der Welt durch das Ich, sondern als Auflösung des Ichs in die Welt zu deuten. »Außen- und Innenwelt verschmelzen, bis das Ich selbst in seinen Kernfunktionen von Libido entblößt ist und zusammenbricht«.31 Dieses Hereinbrechen der Welt in das Ich ist der Weltuntergang. Bei genauerem Hinsehen entdeckt man auch in diesem Modell zwei Phasen: die Entstehung der falschen Realität, in der sich das Ich einzurichten versucht, und der Zusammenbruch dieses Status', wenn der IchKern der nachdrängenden Welt nicht mehr standzuhalten vermag. Der Weltuntergang bezieht sich also auf eine Eigenwelt, die nicht am Ende eines zur Psychose hinführenden Prozesses steht, nicht nach einer Phase der Derealisation entsteht wie die >Neue Schöpfung< nach dem Zusammenbruch der alten, sondern die durch langsame, vielleicht unmerkliche Umstrukturierung der Realität zustande gekommen ist. Es liegt nahe, diesen Vorgang im Sinne der phänomenologischen Gestaltanalyse als Entstrukturierung anzusprechen. Das heißt, die neue Welt des Wahns muß notwendig in ihrer Substanz die alte sein, auch wenn sie mit dem Anspruch der Einzigartigkeit auftritt. Was wie eine megalomanische >creatio ex nihilo< aussieht, ist im Grunde nur die »Entbindung von Gestaltqualtäten unter der Wirkung determinierender Tendenzen der Persönlichkeit.«32 Schon vom Phasenmodell Freuds her war eine klare Unterscheidung zu folgern zwischen einem Weltverlust, der libidoökonomisch verstanden werden kann, und einer Weltkatastrophe, die beim Zusammenbruch der Eigenwelt entsteht. Ebenso wird man jetzt zwischen einem Weltverfall im Sinne des »apokalyptischen Gestaltverfalls« 33 und einer möglichen Zerstörung der >falschen Realität< zu unterscheiden haben. Beides könnte sich in Form einer apokalyptischen Katastrophe darstellen. Was das erstgenannte Ereignis betrifft, hat besonders die Daseinsanalyse versucht, ein zwischen Tiefenpsychologie und Psychatrie vermittelndes Verstehensmodell zu entwerfen, das die Auflösung der Ich-Grenzen mit einer Auflösung der kategorialen Ordnungsfunktionen des Ichs in Verbindung bringt. Der fatale Zuwachs an Welt für das Ich ist dann Ausdruck für jenen »Verfall der Zeitgestalt«, den Ludwig Binswanger in den Mittel30 31 32 33

Z. n. Freeman, Cameron, McGhie, a.a.O., S. 45. Pohlen, Schizophrene Psychosen, S. 149. Conrad, Die beginnende Schizophrenie, S. 1 1 3 . Conrad, a.a.O., S. I I J . 233

punkt seiner Psychosetheorie gestellt hat.34 »Verweltlichung des Selbst« heißt »Zeitleere«,35 »ungeheure Schrumpfung der Zeitstruktur«. 3 ' Dadurch aber muß es, wie Kulenkampff später gefolgert hat, »zu einer Art Festbannung« des Ichs »im physiognomischen Raum« kommen.37 Weltuntergang in diesem Sinne heißt Verfallen an die Welt, die so erfahren wird, als sei sie nicht mehr durch die Zeit strukturiert. Die Passivität des Ichs kommt in dieser Konzeption so stark zum Ausdruck, daß der Gedanke einer echten Wahnbildung - die ja ein Konstituens von Freuds Psychosenmodell ist — sich anscheinend verbietet. Und dodi ist auch unter den gegebenen Voraussetzungen der Versuche einer Neuordnung der Welt denkbar. Da lediglich der Raum eine Grundlage hierfür bietet, kann sich auf ihn allein die Neuordnung erstrecken. Das aber läßt eine einzige Möglichkeit zu: Es kommt zur »Geometrisierung der Welt«.38 Sie ist eine Notlösung, in der die Verwirklichung der utopischen neuen Welt steckenbleibt. Die symmetrische Ordnung ist nur eine Etappe auf dem Weg zum Loskommen von der Übermacht der Welt über ihre geometrische >Nivellierung< oder >Gleichschaltung< bis zum völligen Nichts, zum Nirwana, aus dem Welt und Leben neu und besser aufgebaut werden sollen.89

Das geometrische Muster ist eine der neuen >GestaltqualitätenIlluminations< mit der Metro durch Paris zum Pol fahren kann. Ebenso handelt es sich bei den in Baudelaires >Paradis artificiels< vorgeführten Polreisen um Unternehmungen innerhalb der Metropolen, und das Ich ist sich dieser Tatsache auch bewußt. Hier geht es ohne Zweifel um Darstellungen wachsenden Fixiertseins an den physiognomischen Raum Stadt, dessen Entstrukturierung ebenso als Chaotisierung der Elemente wie als ewige Vereisung beschrieben werden kann. Wenn Rimbaud den gleichen Vorgang andernorts als Reise ins polare Totenland 34 35 39 37 38 39

Binswanger, Schizophrenie, S. 258. Binswanger, a.a.O., S. 2of. Binswanger, a.a.O., S. 429. Kulenkampff, Entbergung, Entgrenzung, Überwältigung, a.a.O., S. 2 1 2 . Binswanger, a.a.O., S. 249. Binswanger, ebd.

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deklariert, dann setzt er lediglich an die Stelle des phänomenologischen ein mythologisches Muster. Der Umstand könnte zu der Frage führen, ob durch diese Übersetzung nicht die Anwendungsbereiche der beiden entsprechenden Modelle, des daseinsanalytischen und des libidoökonomischen, abgesteckt sind. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die Parallelisierung zu betrachten, die Heym unter dem Stichwort >Expedition< zwischen der Polreise Shackletons und dem Gang durch die Großstadt vorgenommen hat (vgl. S. 90). Jetzt zeigt sich der Sinn dieser kleinen Skizze. Der Überwältigung durch den Stadt-Raum korrespondiert der Eindruck wachsender Geometrisierung, die schließlich Totalität erlangt und die Katastrophe ahnen läßt. Dabei ist eine sehr wichtige Abweichung vom Psychose-Schema zu beobachten: Der Geometrismus der Großstadt erscheint nicht als verfehlter Versuch einer Weltbewältigung, er ist vielmehr schon vorgegeben, die moderne Großstadt ist ja ein weitgehend geometrisiertes Gebilde. Thematisiert wird diese Verwirrung im Stadt-Roman Belyjs. Indem das Ich des Stadtbegründers mit dem egokosmischen Ich, das die Personen des Romans bilden, gleichgesetzt wird, gelingt es, das wie jede Metropole des 19. Jahrhunderts völlig quadratisierte Petersburg als Produkt eines in der Gegenwart des Romans erfolgenden letzten Weltbewältigungsversuchs erscheinen zu lassen. Die kühne Konstruktion zeigt Belyjs Wissen darum, daß der modernen Apokalypse die Wahnbildung vorgegeben sein kann. Der Vorgang erinnert auch an die bei Rimbaud beobachtete Umkehrung des Psychose-Modells. Eindeutiger sind die Verhältnisse bei den nach Art des Neuen Jerusalems der traditionellen Apokalyptik gestalteten Polreichen. Während diese Reiche von Foigny bis Schnabel als echte Neuschöpfungen ausgegeben wurden, weshalb sie sich so gut den von Jung und Frye erstellten Strukturanalysen fügten, bemühen sich die modernen Behandlungen des Themas um eine den Ergebnissen der Gestaltanalyse nahekommende Darstellung. So hat schon Petriconi nachweisen können, daß die apokalyptische Stadt in Kubins Roman, obgleich angeblich ein reines Phantasieprodukt, eindeutig die Züge der realen Stadt Salzburg trägt.40 Ebenso ist die absolut geometrisierte und symmetrisierte Sternenstadt in Brjusovs Polreich-Erzählung nicht nur eine fiktive Megalopolis, sondern das Petersburg der Zeit. Seine wichtigste Leistung entfaltet das kategoriale Psychose-Modell jedoch bei der Anwendung auf Mallarm£s >Un Coup de desUn Coup de d£s< die Vernichtung. Der Erweiterung des Krisenmodells durch die kategoriale Betrachtungsweise entspricht bei Mallarmö das Auftauchen des WürfelwurfProblems im Interferenzraum von Poetologie und Erkenntnislehre. Hier ist von jenem Weltzerfall die Rede, der schließlich nur den Raum als falsche Realität zurückläßt und der initiiert wird durch den zum Stillstand der Zeit führenden Würfelwurf. Die nicht vernichtete, sondern lediglich zum Stillstand gebrachte, d. h. als Bewußtseins- und Erkenntniskategorie unverfügbar gewordene Zeit wandelt sich in Raum; dessen Geometrisierung, also die Wahnbildung, versagt sich Mallarme. Tristan Tzara hat sie in seinem Hilferuf »seigneur ma geometrie« (vgl. S. 96) angedeutet. Dies hängt vermutlich damit zusammen, daß es bei Mallarm^ nicht um einen Verlust der temporalen Dimensionierung der Welt geht, sondern um einen bewußt destruktiven Akt des Subjekts. Er richtet sich gegen die Welt, wobei deren Charakter unklar bleibt. Wir könnten es auch hier mit einer Art Vorgegebenheit des Wahns zu tun haben. Die Weltvernichtung wäre dann eben deshalb tendiert, weil diese Welt die Züge einer falschen Realität trägt, weil in ihr die Zeitstruktur geschrumpft ist. Dann wäre das Ziel der in >Un Coup de des< geschilderten Urtat, den Stillstand der Zeit zu beenden durch eine Aufhebung der Zeit. Ihr Mißlingen führt zur Wiederherstellung der Zustände, die vor Beginn des Unternehmens geherrscht haben. Jene Herrschaft des ewig Gleichen, die zu beklagen sidh die europäische Literatur spätestens seit Byron zu einer ihrer Hauptaufgaben erkoren hat, würde, wenn unsere Interpretation stimmt, im Hintergrund dieses Weltvernichtungsversuchs stehen und daher wahrscheinlich einen wichtigen Grund für die Parallelität von literarischer Struktur und Psychosemodell bilden. 236

3· Nicht erst mit dieser letzten Überlegung ist verstärkt das problematische Verhältnis von echter und falscher Realität in den Vordergrund gerückt. Dem Versuch, durch eine zur Selbstzerstörung führende Tilgung der Welt die Aufhebung der falschen Realität zu erreichen, steht deren ständige Bedrohung durch die Wirklichkeit gegenüber. Eine Ahnung von diesem schwer beschreibbaren Sachverhalt hatte schon C. G. Jung. Da in Jungs Psychosemodell die Wirklichkeit keinen Platz hat, ist eine Bedrohung durch sie ausgeschlossen; zerstörerisch einwirken können auf das Subjekt und seinen Bewußtseinsstatus immer nur Inhalte des (kollektiv) Unbewußten. Ganz am Rande kommt auch folgende mögliche Erklärung apokalyptischen Erlebens in den Blick: Der furchterregende Aspekt einer apokalyptischen Weltlage würde sich damit in jene persönliche egozentrische Angst verwandeln, die jeder empfindet, der einen heimlichen Größenwahn hätschelt, nämlich die Befürchtung, daß die gewähnte Größe beim Zusammenstoß mit der Wirklichkeit eine Niederlage erleiden könnte. Die Tragödie der Welt würde zur Komödie eines kleinen Gernegroß. Man weiß ja zur Genüge, daß dergleichen Scherze nur allzuoft vorkommen. 41

Jung kennt also einen Weltuntergang durch Kollision der falschen, subjektiven Wirklichkeit - nichts anderes ist ja der durch das Instabilwerden der Ich-Grenzen hervorgerufene Größenwahn — mit der objektiven Wirklichkeit, wenn er ihn auch herunterspielt, um den Anspruch seiner eigenen Konzeption zu wahren. Ergänzt man dieses Kollisionsmodell durch die kategoriale Betrachtungsweise, dann müßte man vom Einbruch der temporalisierten Wirklichkeit in eine verräumlichte, bestenfalls durch Geometrisierung strukturierte, stagnierende Bewußtseinswelt als der eigentlichen apokalyptischen Katastrophe sprechen. Diese Beschreibung entspricht exakt der Psychosetheorie, die Joseph Gabel, gestützt auf Arieti und Minkowski, in Auseinandersetzung mit allen ihm vorliegenden Entwürfen, formuliert hat. Im Unterschied zu Freud und in Nachbarschaft zu dessen psychoanalytischen Kritikern sieht Gabel in der apokalyptischen Katastrophe nicht den Endpunkt eines innerpsychischen Prozesses, sondern den Zusammenstoß der geschichtlichen, dialektisch sich verändernden Wirklichkeit mit einem Bewußtsein, das zum Austausch mit dieser Wirklichkeit unfähig geworden ist. Entsprechend lautet Gabeis Kritik an dem in Freuds Schreber-Aufsatz vorgetragenen Modell: Diese Deutung trägt dem dramatischen Charakter des Phänomens nur ungenügend Rechnung. Das Wesentliche ist also nicht ein immer weiteres Zurückziehen in eine eigene Welt, sondern im Gegenteil der Einbruch des >EreignisGeschichte und Klassenbewußtseins< (1923) eine Untersuchung über die bürgerlichen ökonomischen Krisentheorien, die deren Katastrophendenken zu erklären versucht durch die Unfähigkeit zu einem dialektischen, d. h. über ein Erfassen der »unmittelbar gegebenen Dingformen« 8 hinausgehenden Verständnis neu auftretender Situationen. Daraus folgt: Das unleugbare Faktum des Verändertseins spiegelt sidi für die Bewußtseinsformen der Unmittelbarkeit als Katastrophe, als plötzlicher, von außen kommender, Vermittlungen ausschließender jäher Wechsel.9

In dieser Formel steckt zweifellos eine Ubereinstimmung mit Gabeis Modell des apokalyptischen Erlebens, die - bezieht man den von Lukacs ins Spiel gebrachten Projektionsmechanismus mit ein — auch auf die tiefenpsychologischen Erklärungsversuche ausdehnbar ist. Falsches Bewußtsein im Sinne Gabeis zeigt sich jedoch nicht nur im verdinglichenden Blick des bürgerlichen Krisentheoretikers auf den Geschichtsprozeß. Es muß aufgrund der ökonomischen Bedingungen auch beim Arbeiter entstehen. Die Verselbständigung des Arbeitsprozesses, die 5

Gabel, a.a.O., S. 2 j 6 . Gabel, a.a.O., S. 1 2 0 L 7 Vgl. Gabel, Formen der Entfremdung, S. 48, Anm. 12. 8 Georg Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein, S. 169. • Lukacs, ebd. 9

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den Arbeiter sich als einen von der eigenen Persönlichkeit abgetrennten Teil einer Maschinerie empfinden läßt, 10 führt zu einer phänomenologisch erfaßbaren Veränderung des Bewußtseins: Das kontemplative Verhalten einem medianisch-gesetzmäßigen Prozeß gegenüber, der sidi unabhängig vom Bewußtsein, unbeeinflußbar von einer mensdilidien Tätigkeit abspielt, sidi also als fertiges, geschlossenes System offenbart, verwandelt audi die Grundkategorien des unmittelbaren Verhaltens der Menschen zur Welt: es bringt Raum und Zeit auf eine Nenner, nivelliert die Zeit auf das N i v e a u des Raumes. 1 1 Die Zeit verliert damit ihren qualitativen, veränderlichen, flußartigen C h a rakter: sie erstarrt zu einem genau umgrenzten, qualitativ meßbaren, von quantitativ meßbaren >Dingen< (den verdinglichten, mechanisch objektivierten, von der menschlichen Gesamtpersönlichkeit genau abgetrennten >Leistungen< des Arbeiters) erfüllten Kontinuum: zu einem Raum. 1 2

Demnach zeigt für Lukacs das dem Arbeiter oktroyierte Verhalten dem unüberschaubaren Produktionsprozeß gegenüber wesentliche Gemeinsamkeiten mit der »nicht stets auf die Totalität des Entwicklungsprozesses bezogene[n] Betrachtung« des bürgerlichen Krisentheoretikers, welche »Gerade die wichtigsten Wendepunkte der Geschichte in sinnlose Katastrophen verwandeln muß«.13 Es kehrt folglich »am Ende des >kritischen< Zuendedenkens der Wirklichkeit dieselbe Unmittelbarkeit, der der gewöhnliche Mensch der bürgerlichen Gesellschaft im Alltagsleben gegenüberstand, auf den Begriff gebracht, aber dennoch bloß unmittelbar wieder«.14 Anders ausgedrückt: Benennbare Basisbedingungen und gesellschaftliche Situationen vermögen ein verdinglichtes und verdinglichendes Bewußtsein und damit ein Weltverhalten zu erzeugen, das dem enttemporalisierenden, verräumlichenden, nivellierenden und die Welt so zum Einsturz bringenden Verhalten in der Psychose entspricht; der Versuch, im Einvernehmen mit diesen Bedingungen und Situationen eine Theorie der Geschichte zu entwerfen, führt zu einem Katastrophendenken, das wiederum mit dem apokalyptischen Erlebnismodus der Psychose vorausgesetzt, daß man ihn existentialanalytisch interpretiert - in Einklang steht. Die Konzeption Gabeis — die hier stellvertretend für das Denken der französischen Gruppe >Arguments< steht - ist in jüngster Zeit von zwei gegensätzlichen Positionen her kritisiert worden. Erhoben wurde besonders der Vorwurf, eine Synthese aus Daseinsanalyse und marxistischen Theoremen reiche nicht aus zur Konstituierung einer politischen Psycho10 12 14

11 Lukacs, a.a.O., S. y y f . Lukacs, a.a.O., S. 1 0 1 . 1S Lukacs, ebd. Lukacs, a.a.O., S. 170 Anm. Lukäcs, ebd. - Vgl. Lukics, a.a.O., S. 1 1 0 .

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logie.15 Diese Kritik ist für uns irrelevant, da die hier allein interessierende Übereinstimmung des Psychosemodells mit den Ergebnissen einer sozio-ökonomischen Bewußtseinsanalyse nicht in Frage gestellt worden ist. Schwerer wiegt der Einwand Leo Navratils, die Annahme einer Kollision von falschem Bewußtsein und Wirklichkeit sei falsch. 1 · Navratil selbst sieht in der Psychose zunächst eine Trennung von »Ichanteilen«, speziell ein Auseinanderfallen von individuellem und sozialem Ich auf Kosten des letzteren.17 Dem kann man aus der Sicht der oben aufgeführten Ich-Modelle nur zustimmen und ergänzen, daß diese - im literarischen Text als Kampf zwischen Personengruppen dargestellte — Spaltung offenbar dann nötig wird, wenn die sozialen Ichanteile dem Gesamt-Ich gefährlich zu werden beginnen. Die Konsequenzen dieser Spaltung hat Navratil nicht diskutiert; sie beweisen die Richtigkeit der Konzeption Gabeis. Denn mit der Abspaltung der sozialen Ichanteile begibt sich das Ich der Möglichkeit, auf seine Umwelt einzuwirken. Die Folge ist: »Das Ich, das nicht mehr dialektisch auf seine Umwelt wirkt, wird von ihr zermalmt; die >Welt< (eigentlich die Gesellschaft) erscheint dann wie eine übernatürliche Gewalt.« 18 Man braucht nur wieder an das >Tagebuch Shackletons< zu denken, um diese Abfolge von Spaltungsversuch und Zerstörung sich vorstellen zu können. Vielleicht, um diesen Folgerungen zu begegnen, ersetzt Navratil in einem zweiten Durchgang seiner theoretischen Überlegungen die Ich-Instanzen in seinem Modell durch die Vorstellung von einem in Dissoziation befindlichen Verbund einer Noo- und einer Thymopsyche - dem individuellen Ich entsprechend - und einer Mythopsyche.19 Wer aber in dieser Weise das soziale Ich mit dem »Bereich [ . . . ] der Archetypen« gleichsetzt,20 der hat den Faktor Wirklichkeit eliminiert. Diese Topik führt zum geschlossenen Regelsystem der Psychosetheorie Jungs. Tatsächlich ist denn auch der Weltuntergang für Navratil weder die Folge eines Verlusts an äußerer Realität im Sinne Freuds noch eines Konflikts mit dieser Realität im Sinne Gabeis, er spielt sich vielmehr im Bereich des Mythopsychischen ab. 21 Für uns zeigt diese aus der Ablehnung der Position Gabeis erwachsende Rückkehr zu Jung, daß man 15

18 17 18 19 20 21

Vgl. Klaus Horn, Ideologie und Schizophrenie. (Rez.) In: Das Argument 10 (1968), H. 1/2, S. 139. - Martin Blankenburg, Vom Sinn der Frakturen. In: Ästhetik und Kommunikation 2 (1971), H. 3, S. 77-80. Navratil, Über Schizophrenie, S. 1 1 - 2 2 . Navratil, a.a.O., S. 61. Gabel, Ideologie und Schizophrenie, S. 244. Navratil, a.a.O., S. 116f. Navratil, a.a.O., S. 116. Navratil, a.a.O., S. 119.

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sich schließlich zwischen diesen beiden grundlegenden Alternativen entscheiden muß. Wir entscheiden uns für die Auffassung Gabeis. Hier liegt ein theoretischer Entwurf vor, dessen Integrationsfähigkeit im Hinblick auf jene tiefenpsychologischen Psychosemodelle, deren Korrelation mit literarischen Strukturen feststeht, sich verbindet mit einer Offenheit zu sozio-ökonomischer Gesellschaftsanalyse. Das allein ist entscheidend. Es hat den Anschein, also könne so, auf dem Umweg über eine Textanalyse mit Hilfe individualpsychologischer Konzeptionen, der Schritt getan werden hin zu einer soziologisch fundierten Theorie der Produktion literarischer Apokalyptik. Dies kann unsere Aufgabe hier nicht sein. Wohl aber ist eine Vorarbeit zu leisten, die innerhalb unserer methodischen Möglichkeiten bleibt. Man kann sie am besten als Pragmatisierung der idealtypischen Modellvorstellungen bezeichnen. Ein erster Ansatz für diese Pragmatisierung läßt sich schon aus dem Vergleich des Kollisionsmodells mit den Untersuchungsergebnissen von Lukacs gewinnen. Man darf nicht, wie Gabel es getan hat, aus diesen Ergebnissen schließen, alle Erscheinungsformen des verdinglichenden Bewußtseins stünden im gleichen Verhältnis zum Psychosemodell. Vielmehr kam es Lukacs gerade darauf an, den Unterschied zwischen den Opfern einer Bewußtseinsdeformation und denen, die sich in ihr einrichten, sichtbar zu machen.22 Zumindest auf diese Unterscheidung hin wird man auch die literarischen Texte, die sich mit der Katastrophe der verdinglichten Welt befassen, überprüfen müssen. Dabei zeigt sich jedoch sehr bald, daß das Spektrum möglicher Haltungen wesentlich differenzierter ist, als die Dichotomie bei Lukacs vermuten läßt. Durch eine Auswertung dieses Spektrums wird es möglich, eine literatursoziologisch relevante und das Apokalyptische stärker auf den Begriff bringende Systematik der literarischen Apokalyptik zu errichten. b. Möglichkeiten der literarischen Realisierung des Psychosemodells i. Anzuknüpfen ist an das Resultat des letzten Kapitels: daß die beiden das Kollosionsmodell konstituierenden Faktoren Erstarrung oder Nivellierung und Invasion für die thematische Verbindung von Pol und Untergang im literarischen Text ausschlaggebende Bedeutung besitzen. Wenn sich die eingangs aufgestellte These bewahrheiten soll, daß in dieser Themenverbindung die Grundstruktur der Apokalyptik überhaupt zutage trete, dann müßte die genannte Faktorenkonstellation in sämtlichen Bereichen der apokalyptischen Literatur eindeutig dominieren. Dies ist tat22

Lukacs, a.a.O., S. i 6 j f . 2

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sächlich der Fall, ungeachtet der historischen Unterschiedenheit und der vielfältigen Intentionen, die hinter den Texten stehen. Die ursprüngliche Apokalyptik bevorzugte die Einbruchssymbolik. Dabei konnten an die Stelle der aus mythologischen Bezirken stammenden Sintflut speziellere Drohbilder treten: Heuschrecken und andere Plagen überfallen die Erde, brennende Sonnen, Sternmassen oder Hagel stürzen vom Himmel, apokalyptische Heere brechen ein, Feuerwalzen überrollen die Erde, Monstren entsteigen den Meeren oder Abgründen. Dem steht die moderne Untergangsliteratur in nichts nach. Je nach Interessenlage wird wiederum auf elementare Überflutungsgefahren oder drohende Himmelskörper hingewiesen. Im elementaren Bereich ist audi der zerstörerische >Aufstand der Natur< angesiedelt, während bei einer Personalierung der Invasionsmacht aus den apokalyptischen Reitern die Endzeithorden des Geschichtspessimismus werden, Spenglers Vandalenheere oder die vielbeschworene >Gelbe GefahrFrage, ob die Erde veralte, physikalische erwogen< (1754), deren Erscheinen das Geburtsdatum der neuzeitlichen Untergangsspekulation bezeichnet, sieht in klarer Übereinstimmung mit dem von Benn notierten Bericht für die Erde in »der Aufhebung der nützlichen Einteilung des festen Landes in Täler und Höhen die besorgliche Ursache ihres bevorstehenden Verderbens«.24 Zu der Nivellierung tritt die weitere Besorgnis eines einstigen Stillstands der Erd23 24

Benn, Urgesidit. In: Werke in acht Bänden, Bd. V , S. 1 2 7 9 . Kant, Die Frage, ob die Erde veralte, physikalisch erworgen. In: Frühschriften, Bd. I, S. 29.

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umdrehung25 und schließlich die Prognose einer allgemeinen Erstarrung, welche nach Kants Meinung die Verläßlichkeit der in der JohannesApokalypse zitierten göttlichen Verfügung, »daß hinfort keine Zeit mehr sein soll« (Apk 10, 6), bestätigen werden.26 Es ist sicher kein Zufall, daß genau dieses Bibelzitat wiederkehrt in der für die literarische Apokalyptik so wichtigen Begründung der Entropie- und Weltvereisungslehre bei Eduard von Hartmann. 27 Wenn in der expressionistischen Untergangsdichtung später die Vorstellung des Weltwinters mit der Erfahrung der Zeitleere in Verbindung gebracht wird, dann zeigt sich darin die apokalyptische Erstarrungskatastrophe als Folge eines Temporalisationsverfalls, der in entsprechender Weise schon in den naturwissenschaftlichen Theorien thematisiert wurde. Ob diese Erstarrung nun Wärmetod oder Kältetod genannt wird, ist im Grunde gleichgültig. Auch die Erstarrung kann ohne Schwierigkeiten aus dem elementaren in den menschlichen Bereich übertragen werden. Schon Kant überlegte, ob man nicht die anwachsende Stagnation im Reich der Natur mit einer bedenklichen Entwicklung der Gemütsverfassung und der Sitten in Beziehung setzen müsse.28 Wie diese Überlegung sich bis weit ins 20. Jahrhundert durchhielt, hat Joachim Schumacher nachgewiesen.29 Aus Kältetod wird äußerliche physiognomische Erstarrung der Menschheit oder innerlicher >WerteschwundPetersburg< erreicht. Doch das Schema beschränkt sich auf jene Literatur, deren Verfasser sich bewußt waren, daß sie Manifestationen 25 26 27 28 29

Kant, Das Ende aller Dinge. In: Werke, Bd. V I , S. 1 8 2 - 1 8 4 . Kant, ebd. Hartmann, Philosophie des Unbewußten, Bd. II, S. 401. Kant, Die Frage, ob die Erde veralte, a.a.O., S. 32f. Schumacher, Die Angst vor dem Chaos, S. 119.

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psychischer Prozesse beschreiben. Die explodierende oder zusammenbrechende Welt steht für ein Ich. Die Texte bieten lediglich die Innenansicht eines Vorgangs. So wird in Belyjs Roman die Explosion der Ich-Welt sogar begründet mit einer zugleich beschriebenen Entstrukturierung und Geometrisierung der Außenwelt, während das Kataklysma mit einer vielfältigen Invasionsmetaphorik in Verbindung gesetzt wird. Die Explosion folgt der Erstarrung, das Kataklysma der Invasion. Formal gesehen besteht das Apokalyptische eines literarischen Texts also lediglich im Zusammenspiel von zwei Faktoren, die sich zudem offenbar gegenseitig bedingen und in einem Folgeverhältnis zueinander zu stehen scheinen. So jedenfalls zeigt es das Grundmuster der apokalyptischen Reise: Auf dem Weg zum Pol wird die Welt bis zum Maximum nivelliert, dann erst kommt es zum Zusammenstoß mit dem Inkommensurablen. Man fragt sich, wie trotz der Erhebbarkeit eines so einfachen generellen Schemas die fast unüberschaubare Vielfalt apokalyptischer Gestaltungsformen zustande kommen kann. Die Antwort ist präzise zu geben und lautet: Es gibt in dieser generellen Formel zwei Variablen, die über die konkrete Textgestalt entscheiden. Zum einen existiert die Freiheit der Wahl in bezug auf das Gewand, in dem die Faktoren erscheinen, zum andern eine Variierbarkeit dessen, was Lukacs und Gabel die Bewußtseinsformen der Unmittelbarkeit nennen; wir sagen vorsichtiger: eine Variierbarkeit der Position, die im Text der Faktorenkonstellation gegenüber bezogen wird. Eine ausführliche theoretische Untersuchung hat Todorov in seiner Poetik solchen Variablen gewidmet, die von ihm im Anschluß an die Literaturtheorie Puillons >Register< und >Vision< genannt werden.30 In ihrer bewußten Anwendung besteht die Literarisierung der Apokalyptik. Sie verweist auf den historischen Ort eines Texts. 2. Bevor das Ergebnis konkretisiert wird, ist anzumerken, daß man sich mit dieser Betrachtungsweise mehreren Versuchen zur Entwicklung einer strukturalistischen Interpretationstheorie genähert hat. Wichtigster Grund für diese durchaus nicht um modischer Trends willen forcierte Annäherung sind materiale Übereinstimmungen unseres Untersuchungsergebnisses im Bereich der literarischen Apokalyptik mit den Resultaten von Claude Levi-Strauss' Mythenanalyse, auf denen die meisten strukturalistischen Interpretationstheorien aufbauen. Eine solche Übereinstimmung besteht vor allem zwischen der soeben aufgewiesenen Faktorenkonstellation und dem von L£vi-Strauss an der Mythologie entwickelten kategorialen Schema der Dialektik von Kultur und Natur. Diese Dialekso

Todorov, Poetik. In: F . W a h l (Hrsg.), Einführung in den Strukturalismus, S. 1 1 4 - 1 3 1 .

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tik kann nach L£vi-Strauss grundsätzlich durch zwei opponierende Formen fehlender Vermittlung aufgehoben werden; »durch Ubermaß: totale Vereinigung« oder »durch Mangel: totale Trennung«. 31 Die untersuchten Mythen realisieren diese beiden Möglichkeiten durch die Beschreibungstypen »verbrannte Welt« oder »verfaulte Welt« und bedienen sich dabei genau jenes Bildmaterials, das man in der Apokalyptik bis auf den heutigen Tag finden kann: katastrophaler Einbruch kosmischer oder archaischer Gewalten auf der einen, Verfinsterungs- oder Nivellierungskatastrophen auf der anderen Seite.32 Wie man sieht, stellen wir, wenn wir von Bewußtseinsformen der Unmittelbarkeit sprechen, das, was ί έ ν ϊ Strauss Formen fehlender Vermittlung nennt, lediglich in einen Begründungszusammenhang und überschreiten damit die Ebene des strukturalistisdien Paradigmas. Um die trotz der engen Rahmenbedingungen existierende Mythenvielfalt klären zu können, hat L^vi-Strauss den in der Syntaxtheorie beheimateten Begriff Transformation in die Mythenanalyse eingeführt. 33 Von hier aus wurde er in die strukturalistischen Bemühungen um die Gesetzmäßigkeiten des literarischen Diskurses übernommen. Heute steht die Hypothese zur Diskussion: Einzelne literarisdie Texte könnten dann als Realisation von im Modell angelegten Möglichkeiten aufgefaßt werden; die unterschiedlichen Realisationen könnten als Transformation der das Modell konstituierenden Relationen betrachtet werden. 31

Im Bereich der literarischen Apokalyptik könnten also alle Texte, die von Untergängen durch Invasion handeln, als Transformationen des Kollisionsmodells gelten; das gleiche gilt für alle apokalyptischen Reisen — Schnabels >Insel Felsenburg< und Heyms >Tagebuch Shackletons< wären als Produkte unterschiedlicher Transformationen anzusehen. Die den gegenwärtigen Stand der Sprachwissenschaft kennzeichnende verstärkte Betonung des semantischen Aspekts der Transformation ist auch auf die strukturalistischen Interpretationsverfahren nicht ohne Einfluß geblieben. So versteht Julia Kristeva, die hier eine besonders exponierte Meinung vertritt, den literarischen Text als Manifestation eines oder mehrerer semiotischer Codes. Die Variabilität dieser Manifestation dem Strukturmodell gegenüber komme zustande durch unterschiedliche transformationelle Beziehungen zwischen dem Text und seinem sozio31 32 33 34

Claude Levi-Strauss, Mythologica I, S. 379. I^vi-Strauss, a.a.O., S. 377. L£vi-Strauss, a.a.O., S. 195. Helga Gallas, Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. In: H . L. Arnold (Hrsg.) Grundzüge der Literatur- und Sprachwissenschaft, Bd. I, S. 375L 2JI

kulturellen Hintergrund. 35 Von diesem Trasformationsbegriff her ließen sich in der literarischen Apokalyptik die divergierenden Einkleidungen der Faktoren eines Psychosemodells im literarischen Text gesetzmäßig verstehen, ohne daß ihre historische Bedingtheit und damit ihr historischer Zeichenwert einfach unter den Tisch fällt. Man sollte jedoch überlegen, ob der Begriff Transformation bei seiner Anwendung im literaturwissenschaftlichen Bereich nicht überstrapaziert worden ist. Adäquater scheint das Beschreibungsverfahren von Greimas zu sein. Das Verhältnis von Modell und Text wird hier im Sinne eines Enkodierungsverfahrens gedeutet: »Die Nachricht ist die unter historisch gegebenen Bedingungen realisierte Manifestierung« eines »Universums«, in dem sich neben einer generellen narrativen Struktur »Organisationsprinzipien« erkennen lassen, die wiederum als ein »allgemeines Modell« dieses Universums angesprochen werden können.36 Berücksichtigt man, daß mit Universum eine abgrenzbare literarische Gesamtheit, ein »Genre« gemeint ist,37 dann lassen sich in dieser Definition die wichtigsten Aspekte unserer methodischen Überlegungen wiederfinden. So wurde der Beweis geführt, daß die Verbindung der Themen Untergang und Pol eine - vielleicht sogar die entscheidende — generelle narrative Struktur des literarischen Genres Apokalyptik aufdeckt und daß dieser Struktur die Prinzipien, nach denen die Psydiose organisiert ist, entsprechen. Es käme jetzt wiederum nur darauf an, über einen Variablenkatalog die historischen Bedingungen der einzelnen Manifestationen aufzudecken. An einem wesentlichen Unterschied gegenüber Greimas muß jedoch festgehalten w e r den: Nirgendwo steht geschrieben, daß die Organisationsprinzipien eines Universums nur die Konstruktion eines einzigen Modells zulassen. Vielmehr ist in der Pluralität der Modelle und der Möglichkeit ihrer Kontrastierung, wie sie an einzelnen Beispielen vorgeführt wurde, die eigentliche Voraussetzung zu einer umfassenden Interpretation gegeben. Wenn man sich schließlich auf ein Modell beschränkt, dann muß es, wie das kategoriale Kollisionsmodell, diese Pluralität integrieren können. Man kann sagen, daß die Tendenzen, die zur mehr semantischen Orientierung der strukturalistischen Interpretationsverfahren geführt haben, auf halbem Weg stecken geblieben sind. Wer die historisch gegebenen Bedingungen einer Nachricht sucht, der fragt schon nicht mehr nur nach der Bedeutung von Faktoren und Relationen, sondern nach den jeweiligen Besonderheiten in der Art und Weise ihrer Benutzung. Damit 35

36 37

Julia Kristeva, Probleme der Textstrukturierung. In: Tel Quel (Hrsg.), Die Demaskierung der bürgerlichen Kulturideologie, S. 149. Greimas, Zur Interpretationstheorie der mythischen Erzählung, a.a.O., S. 120. Greimas, a.a.O., S. 108.

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aber verlagert man das strukturalistisdie Verfahren in den Bereich der Pragmatik, deren Aufgabe ja, allgemein gesprochen, das Studium der Zeichenverwendung durch den Zeichenbenutzer ist. Eine weitere Veränderung betrifft die Herkunft der Modelle. Alle strukturalistischen Modellbildungen vollziehen sich grundsätzlich deduktiv, während wir Modelle an den Text herantragen, die zu seinen inhaltlichen Konstituentien in einer referentiellen Abhängigkeit stehen. Dadurch entziehen wir uns dem kürzlich von Stanislaw Lern in seiner Auseinandersetzung mit Todorov geäußerten Vorwurf, daß sich die Strukturalisten »mit rein deduktiven, Konflikte nicht abbildenden Modellen begnügen. Da ihnen die benutzte Begriffsapparatur dies nicht gestattet, sind sie unfähig, Konflikte kategoriellen Typs zu bemerken, auch wenn diese das Wesen gewisser literarischer Gattungen ausmachen.«38 Zu diesen Gattungen, die Lemleider nicht benannt hat, gehört die Apokalyptik sicher an erster Stelle. Die Anwendung der aus der Psychosetheorie stammenden Modelle, die alle den Konfliktbegriff implizieren, besonders aber die Anwendung des kategorialen Kollisionsmodells scheint im Augenblick die einzige Möglichkeit zu bieten, der berechtigten Forderung Lems entgegenzukommen, nachdem die — übrigens ja ebenfalls durch die Begegnung mit der Psychosetheorie zustande gekommenen -Versuche Lacans, den Konfliktbegriff in eine strukturalistische Betrachtungsweise zu integrieren, nur sehr unspezifische Ergebnisse gebracht haben. 3. Wir untersuchen nun den Vorgang der Literarisierung der mit Hilfe des Kollisionsmodells herausgearbeiteten Faktorenkonstellation exemplarisch am Werk Ehrensteins, da es sich wegen seiner zentralen Stellung in der Entwicklung der literarischen Apokalyptik und wegen seines thematischen Beziehungsreichtums, der bei der Analyse des Grundmusters Polreise aufgedeckt worden ist, dafür besonders eignet. In Ehrensteins Texten dominiert der Faktor Stagnation. Er wird, wie die berühmte Erzählung >Tubutsch< ( 1 9 1 1 ) zeigt, demonstriert im Modus der Selbsterfahrung, also in - vom Modell her gesehen - idealtypischer Weise: »Um mich, in mir herrscht die Leere, die Öde, ich bin ausgehölt und weiß nicht wovon.« 3 ® Sprachlich realisiert wird dieser Faktor durch eine Bildlichkeit, welche die Situation als Enttemporalisierung und Verräumlichung der Welt erscheinen läßt. Es geht um einen Zustand, da »die Zeit zu gerinnen begann und die Ewigkeit zu kreisen schien«.40 Die Wahl fällt also auf eine kategoriale Einkleidung. Die Zeit gerinnt zu einer 38

39 40

Stanislaw Lern, Tzvetan Todorovs Theorie des Phantastischen. In: R. A . Zondergeld (Hrsg.), Phaicon, Bd. I, S. 96. Ehrenstein, Tubutsch. In: Gedichte und Prosa, S. 277. Ehrenstein, a.a.O., S. 289.

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Masse, oder es bildet sich jener Zeitwirbel, den auch die Daseinsanalyse in ihr bildreiches Vokabular aufgenommen hat und der den alten Mahlstrom kategorial bestimmt. Das Verbildlichen des Phänomens kann aber auf einer zweiten Stufe erfolgen durch Mythisierung. Dann erscheint die Umwandlung von Zeit in Raum als ein Vorgang von dieser A r t : »Wer säuft die Zeit? / W e r speit den Raum?« 4 1 Und schließlich kann auf einer dritten Stufe im Prozeß der Metaphorisierung die Wahl auf eine sprachliche Realisation der Stagnationserfahrung fallen, die den Schritt zur Apokalyptik hin tut: »So schneit auf mich die tote Zeit.« 42 Der Satz zeigt den Ubergang von der Erfahrung der Zeitleere zum Bild des Weltwinters — literarische Apokalyptik in statu nascendi! Erwartungsgemäß erscheint der Faktor Invasion, mit dem die einzig mögliche Veränderung der Situation signalisiert wird. Der Gedanke an einen Einbruch in das stagnierende System tritt zunächst in unprätentiöser sprachlicher Einkleidung auf: »Oft in der Nacht fahr ich auf. Was ist? Nichts, nichts! Will denn niemand bei mir einbrechen? Alles ist vorausberechnet.«43 Im gleichen Text schon kommt es wieder zu einer sprachlichen Steigerung, vergleichbar der Mythisierung. Die invasorische Instanz wird in überdimensionaler Bildlichkeit vorgestellt: Ich leb immer in der Erwartung eines Ungeheuers, das da kommen soll, eintreten - einbrechen soll bei mir. Ein Orang-Utan etwa, ein Auerhahn mit glühenden Augen oder am besten ein wütender Stier. Dann aber fällt mir ein, daß der ja gar nicht durdi die Tür könnt, und ich lasse meine übergroßen Hoffnungen sinken . . ·44 Wie von hier aus wiederum der Weg zur Apokalyptik beschritten werden kann, zeigt ein Vergleich mit jener Beschreibung des >seltsamen Geschlechts< in der Erzählung >WudandermeerRenee< näherten sich ihm weitgehend an. Ein Hauptgrund für die vielbeklagte Verwechslung von Krankheitsgeschichte und literarischen Produkten dürfte darin zu suchen sein, daß man - wie ζ. B. Gabel — nicht auf die Abweichungen von diesem Modus achtet. Eine besonders typische Variante finden wir bei Ehrenstein. Die Erfahrung der Stagnation wird nicht durch die Erfahrung der Invasion abgelöst, sondern durch die betont als irreal und aussichtslos hingestellte Hoffnung auf ein solches Ereignis. Diese Modifikation des in seiner generellen Bedeutung durch die Psychosetheorie festgelegten und im Vorgang der Literarisierung mit einer signifikanten Einkleidung versehenen Faktors eröffnet den Zugang zu einer pragmatischen Untersuchung der individuellen und historischen Voraussetzungen, der Intention und der gesellschaftlichen Funktion des literarischen Texts. Zum Vergleich eignen sich besonders die einschlägigen Texte von Karl Kraus, dessen zeitliche, örtliche und thematische Nachbarschaft zu Ehrenstein dazu geführt hat, daß man in der Literaturgeschichtsschreibung eine tiefe Ubereinstimmung im Verhältnis zur Mitwelt konstatieren zu können glaubte.46 Beide werden als die gleichgeordneten Protokollanten des österreichischen Apokalypserls< angesehen. Doch diese Übereinstimmung existiert nur, insofern den Texten beider Autoren das gleiche Modell zugrunde liegt, d. h. insofern auch Kraus den Untergang als Einbruch des 48

Vgl. Otto Basil, Ritter Johann des Todes. In: Wort in der Zeit, 1962, H. 2, s.7f.

Inkommensurablen in ein enttemporalisiertes System versteht. Die Literarisierung jedoch nimmt einen sehr unterschiedlichen Verlauf. Die Beschreibung von »Totleben«47 und »Leichenstarre der Lebendigkeit«48 läßt sich bei Kraus nirgendwo auch nur andeutungsweise mit dem Modus der Selbsterfahrung zusammenbringen. Vielmehr wird eine Position zum Ausdruck gebracht, die man am besten mit einem von Kraus häufig zitierten Schiller-Vers umreißen kann: Unter Larven die einzige fühlende Brust. Kraus personalisierte den Faktor Stagnation, indem er unentwegt zahllose hypnagogische Gestalten, schattenhafte Wesen, Larven und Lemuren am Leser vorbeiziehen läßt. Er hat mit dieser Darstellungstechnik wesentlich beigetragen zur Konstituierung eines neuen apokalyptischen Bildbereichs. (Die traditionelle Klage über den untergangsreifen Zustand der Welt kennt ihn nicht; seine historischen Wurzeln sind in Schillers >Räubern< zu finden, da in Franz Moors Traum vom Weltgericht erstmals die larvenhaften von den wirklichen Menschen geschieden werden [V. Akt, ι. Szene]. Von dort dürfte ihn Kraus übernommen haben.) Es wird jedoch auch die Möglichkeit wahrgenommen, die personalisierende Beschreibung des stagnierenden Systems in den elementaren Bereich zu überführen. Ein treffendes Beispiel bietet der Aufsatz über die Entdeckung des Nordpols. Die Uberzeugung, daß die Entwirklichung des Menschen zum Schemen ihren Grund einzig in einem umfassenden Erstarren des Geistes habe, läßt, gesteuert durch das Pol-Thema, das Bild eines arktischen Weltuntergangs entstehen, das uns schon im ersten Teil der Arbeit interessiert hat: Die Eisfelder des Geistes aber begannen zu wachsen und rückten immer weiter und dehnten sich, bis sie die ganze Erde bedeckten. 49

Man könnte sagen, hier werde nicht mehr die Entwicklung der personalen Hülle, sondern ihrer elementaren Substanz verbildlicht. Ehrenstein hingegen ist zu der gleichen Literarisierung der Stagnation als Weltwinter auf einem gänzlich anderen Weg, der kategorialen Betrachtungsweise, gekommen. Dem Weltwinter steht die invasorische Vorstellung vom apokalyptischen Heer gegenüber: Einstens rast ein Landsturm brausend, alle Menschheit zu bestreiten, durch ein schauderndes Jahrtausend. 50

47 48 49 50

Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, S. 680. Kraus, a.a.O., S. 496. Kraus, Die Entdeckung des Nordpols, a.a.O., S. 274. Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, a.a.O., S. 725

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Sie muß eindeutig als Weiterentwicklung eines Elementarbildes verstanden werden. Denn die Natur ist bei Kraus grundsätzlich die Instanz, die in das von Menschen errichtete geistlose Zivilisationssystem einbrechen wird und dieses Werk schon begonnen hat. So heißt es in einem >Apokalypse< betitelten offenen Brief an das Publikum der >Fackel< (1908): Eine kosmische Unzufriedenheit gibt sich allenthalben kund, Sommerschnee und Winterhitze demonstrieren gegen den Materialismus [ . . . ] Aber unsereins nimmt ein Erdbeben als Protest gegen die Sicherheit dieser Ordnung ohneweiteres hin und zweifelt keinen Augenblick an der Möglichkeit, daß ein Übermaß an menschlicher Dummheit die Elemente empören könnte. [ . . . ] Wir halten bei der apokalyptischen 666... Die mißhandelte Urnatur grollt

[· · - F Der nächste Schritt ist die Suche nach einem personalen Träger der Elementargewalt, um die Invasion auf gleiche Ebene mit der im Menschentyp sich manifestierenden Stagnation stellen zu können. Und so tritt für die Natur der »Chinesenträum« ein, für den Aufstand der Elemente der bevorstehende »BarbarenangrifF auf die Bollwerke unserer Kultur«. 52 Bezeichnenderweise ist der Literarisierungsvorgang mit diese Überführung in den geschichtlichen Raum noch nicht abgeschlossen. In dem Aufsatz >Die chinesische Mauer< (1909) wird der Barbarensturm mit einer Kompilation aller invasorischen Bilder der Johannes-Apokalypse (Apk 9, 3.8. 19.16) zusammengebracht: Und das Chaos sei willkommen - denn die Ordnung hat versagt! Eine gelbe Hoffnung färbt den Horizont im Osten, und alle Glocken läuten Sturm. Und überall ein Gewimmel. >Aus dem Rauche des Schlundes kamen Heuschrecken über die Erde und ihnen ward Macht gegeben, wie die Skorpionen auf Erden Macht haben . . . Und hatten Haare wie Weiberhaare, und ihre Zähne waren wie die der L ö w e n . . . und ihre Schwänze waren den Schlangen gleich und hatten Häupter und mit diesen schadeten s i e . . . und die Zahl des Heerzuges der Reiterei war zweihundert Millionen. Ich hörte ihre Z a h l . . .Die letzten Tage der Menschheit (endgültige Fassung 1920/21) Chinesen und apokalyptische Reiter ausgewechselt werden gegen ein Invasionsheer von Marsmenschen: Wir sind denn entschlossen, euern Planeten mit sämtlichen Fronten auszujäten [...] 51 82 53

Kraus, Apokalypse. In: Untergang der Welt durch schwarze Magie, S. 1 2 - 1 5 . Kraus, a.a.O., S. 16. Kraus, Die chinesische Mauer, S. 291 f.

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U n d damit doch auf eurer nodi hoffenden Erde nun endlich der endliche Endsieg mal werde, und damit sich dagegen kein Widerspruch regt, haben wir sie erfolgreich mit Bomben belegt! 5 1

Man kann in den Texten von Kraus nichts von Ehrensteins Hoffnung auf das Unmögliche finden, auch kein Betroffensein vom Invasorischen. Statt Selbsterfahrung und Hoffnung wird - offiziell - eine Haltung strenger Distanz sichtbar. Damit erweitert sich das Spektrum der möglichen Positionen gegenüber der generellen Faktorenkonstellation. Nicht ein Beteiligter spricht, sondern ein Beobachter: »Aber ein satanischer Trieb verlockt midi, die Entwicklung der Dinge hier abzuwarten und auszuharren, bis der große Tag des Zornes kommt und die tausend Jahre vollendet sind.«55 Doch schon die Sprache verrät, wie skeptisch man diese Distanz betrachten muß. Nicht umsonst hat Walter Benjamin festgestellt, in diesen Schriften spreche ein »Uberläufer« ins Lager der Invasionsgewalt.58 Daraus wird eine weitere mögliche Position ableitbar: die Identifikation mit dem Zerstörer. 4. Der Versuch, einen allgemeinen Katalog der Literarisierungsmöglichkeiten des Faktors Invasion anzulegen, kann sich auf das Ergebnis der exemplarischen Analysen stützen. Aus ihnen ergaben sich schon drei der wichtigsten Positionen, die der mit Gabel als Einbruch der Daseinswirklichkeit in die nichtaxiologische Eigenwelt des verdinglichten und verdinglichenden Bewußtseins zu verstehenden Katastrophe gegenüber bezogen werden können: Hoffnung auf das Ereignis, Distanz zu ihm und Identifikation mit der es verursachenden Instanz. Auch eine umfassende Untersuchung der literarischen Apokalyptik kann de facto nur eine einzige weitere Position zutage fördern: die Angst vor der Katastrophe, die ja das Negativ der Hoffnung ist und sich mit ihr zu einer janusköpfigen Erwartung verbinden kann, die an den Texten Mallarmes abzulesen war. Die Angst vor dem für unausweichlich gehaltenen invasorischen Ereignis zu vermitteln, dürfte die eindringlichste Textintention im Rahmen der Apokalyptik sein. Exakt als konkrete Erfahrung beschrieben wird sie fast ausschließlich in den Texten der apokalyptischen Reise. So heißt es sehr anschaulich in Heyms >Tagebuch Shackletonsc »in den Augen der anderen sehe ich jenes schreckliche bleierne Licht des Grauens, wie es der Vogel hat, den eine Kobra zum Erstarren brachte.«57 Es setzt ein, wenn die Fähigkeit zu wollen und damit zu einer Veränderung der Situation 54 55 56 57

Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, S. 7 6 6 - 7 6 9 . Kraus, Apokalypse, a.a.O., S. 22. Benjamin, K a r l Kraus. In: Illuminationen, S. 380. Heym, Das Tagebuch Shackletons, a.a.O., S. i4of.

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erlischt. Die gleiche Angst tritt in Poes Texten auf, wenn der Sog des polaren Katarakts übermächtig wird. Unausweichlichkeit läßt Angst entstehen, und diese Unausweichlichkeit, die hier in der literarischen Form des Golemisiertwerdens und des Ertrinkens erscheint, prägt auch das apokalyptische Geschichtsbild. Schon die biblische Apokalyptik sah das Ende des Äons herannahen wie einen vom Berg herabstürzenden Felsen, dessen Bahn niemand verändern kann (Dan 2, 28-45). ebenso starren Bahnen kommt auch in der Neuzeit das Unheil daher, sei es als Himmelskörper, dessen Lauf so irregulär wie unveränderbar ist, sei es als unaufhaltsamer Völkersturm. Die Unausweichlichkeit entsteht immer dann, wenn eine kosmisch-elementare oder eine geschichtliche Möglichkeit zur Notwendigkeit erhoben wird. Ein typischer Fall für diese Verwechslung aus dem Elementarbereich findet sich in Nervals >Au^liaQuel malheur! Toutes ces femmes, tous ces enfants, vont se trouver mouilles!.. .< Puis, je me dis: >Mais c'est plus encore! c'est le veritable dέluge qui commences 58

Diese angstvolle Besessenheit vom Möglichen ist, wie Minkowski richtig erkannte, als die ursprünglichste Bewußtseinsform der Unmittelbarkeit anzusehen.59 Welche Rolle sie im literarischen Kommunikationsprozeß spielt, hat Leo Löwenthal in seiner Studie über die moderne Untergangsprophetie angedeutet und ihr zugleich eine psychologische Erklärung gegeben. Es geht um »unbewußte regressive Tendenzen. Die Erklärung alltäglicher Mißhelligkeiten in den Termini von unheimlichen Weltkatastrophen belebt und verstärkt die Restbestände kindlicher Ängste.«60 Von dieser Erklärung her lassen sich Überlegungen zur Funktion der Angst vor dem Unvermeidlichen anstellen. Die regressive Verwechslung von Möglichkeit und Notwendigkeit kann in der Unfähigkeit begründet sein, ein unverhofft auftretendes Ereignis in die eigene, enttemporalisierte Bewußtseinswelt so einzufügen, daß es nicht als Katastrophe erscheint. Man sollte aber, wenn man die Position der Angst am konkreten Fall studiert, mit dem Urteil Unfähigkeit vorsichtig sein. Denn durchaus denkbar ist, daß jenes rettungslose Ausgeliefertsein an zerstörerische Gewalten für den, der es beklagt, lediglich Entschuldigungsfunktion besitzt: »Das heißt, daß das Unbewußte die drohende Apokalypse, die ein Antrieb für Aktionen hätte sein sollen, den echten sozialen Gefahren real zu begegnen, in sich 58 Nerval, A u ^ l i a , a.a.O., S. 30. 59 60

Minkowski, Die gelebte Zeit, Bd. II, S. 80. Leo Löwenthal, Lügenpropheten. In: Th. W . Adorno, M . Horkheimer, Der autoritäre Charakter, Bd. I, S. 30. 259

schon als einen, die unerträgliche Spannung >lösenden< Ausweg empfindet.«®1 Von hier ist es nur ein kurzer Weg zur Position der Hoffnung auf das invasorische Ereignis. Zu unterscheiden gilt es zwischen der von Nietzsche treffend beschriebene Hoffnung auf Weltvernichtung, die aus der Unfähigkeit zur Bewältigung persönlicher Krisen resultiert,"2 und jener Hoffnung auf das Unwahrscheinliche, die in den Texten Ehrensteins so prägnant hervortrat. Dies vor allem hebt die moderne literarische Apokalyptik in der Nachfolge Byrons, Poes und Baudelaires von sämtlichem vergleichbaren Untergangsdenken ab: daß die Notwendigkeit des Zusammenpralls mit dem Neuen, der Daseinswirklichkeit, gesehen wird, daß man aber trotz der ständigen Ankündigung dieser Katastrophe keineswegs an ihre Realisierung glaubt. Die eigentliche Katastrophe ist die Unwahrscheinlichkeit, ja die Unmöglichkeit der Katastrophe. Nichts vermag das besser zu zeigen als die Umarbeitung des Themas Polreise zur apokalyptischen Reise: Die mörderische Kollision mit dem Inkommensurablen findet nur jenseits der Schwelle des Tatsächlichen statt; die Wahl obskurer literarischer Einkleidungen, etwa des Präadamitenstoffs, unterstreicht diese Überzeugung. Sie dürfte gegründet sein auf den Glauben an die Totalität des Bestehenden, an die absolute Stabilität des verdinglichten Bewußtseins. Die Suche nach einem Ausweg aus diesem Dilemma führt zur Identifikation mit der dem Bewußtsein gegenüberstehenden wirkmächtigen Instanz. Besonders am Schicksal der Helden Byrons wird deutlich, wie der Versuch einer Identifikation als letzter Ausweg erscheint und fehlschlägt. Nietzsche hingegen deklariert ihr Gelingen. »Wir sind Hyperboreer« heißt: Wir stehen auf der Seite jener Mächte, die mit der Dialektik der Wirklichkeit konform gehen, den geschichtlichen Wandel tragen, während die anderen, die Nordpolfahrer, in der nivellierten Welt des falschen Bewußtseins umherirren. Benn hat diesen Identifikationsprozeß später konkretisiert. Indem er in den braunen Bataillonen Nietzsches Hyperboreer wiederzuerkennen glaubte, stellte er sich auf die Seite einer wahrlich invasorischen Instanz. Das Überlaufen zum Angreifer kann, wie das Beispiel Karl Kraus gezeigt hat, durchaus eine rationale Entscheidung sein. Und doch ist, wenn man sich auch verbaliter leichthin für das Chaos und gegen die Ordnung, für die Natur und gegen die Stagnation des Fortschritts erklärt, kaum vorstellbar, daß sich gerade Kraus wirklich mit den personifizierten Gegenkräften, den Barbaren, identifiziert haben könnte. Sein Chinesentraum 61

Löwenthal, a.a.O., S. 3 1 .

62

Nietzsche, Morgenröte. In: Werke in drei Bänden, Bd. I, S. 1190.

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war wohl auch ein Alptraum für ihn, vor dem er sich schließlich in die Proklamation eigener Distanziertheit flüchtete. Geht man, gemäß der Beschreibung des Konfliktverlaufs in der Psychosetheorie, davon aus, daß der Einbruch der Wirklichkeit in die Bewußtseinswelt auch eine Wiederkehr des Verdrängten ist, dann besteht zumindest die Möglichkeit, daß die Identifikation mit dem Angreifer grundsätzlich der Versuch eines Arrangements mit jenen Mächten sein soll, die ansonsten Verfolgungsangst auslösen. Ein solches Arrangement bedeutet den fatalen letzten Ausweg aus der Krise. Fatal deshalb, weil er mit dem Verzicht auf die eigene Position und dem Verlust der Ich-Atonomie verbunden sein kann. Nicht umsonst nannte Freuds Gewährsmann Schreber diesen Zustand, durch den er sich um den Preis einer erzwungenen Metamorphose seiner personalen Strukturen aus der Stagnation retten wollte, hyperboreisch. Daher sollte jeder Text der literarischen Apokalyptik, in dem eine identifikatorische Position dem Faktor Invasion gegenüber bezogen wird, daraufhin überprüft werden, ob sie nicht einer verborgenen Angst vor der Veränderung begegnen soll und mit dem Identitätsproblem in Verbindung zu bringen ist. Das gilt besonders für die literarischen Nachfolger des fiktiven Shackleton, dem dieses Arrangement nicht gelang, für die zum Ansturm auf das Bestehende antretenden positiven Helden des Expressionismus. Man fragt sich, wie neben derart stark verquickten und aufeinander bezogenen Positionen die Möglichkeit einer echten Distanzierung gegeben sein soll. Tatsächlich gibt es keine Apokalyptik, die sich auf das leidenschaftslose Berichterstatten beschränkte. Man kann sogar sagen, daß das Engagement in der einen oder der anderen Richtung um so intensiver ist, je lauter Distanziertheit proklamiert wird. Dies zeigen im 20. Jahrhundert die Texte von Karl Kraus ebenso wie die von Stefan George, dem zweiten großen Untergangspropheten der Zeit. Die Haltung des >Siedlers auf dem Berg< ist repräsentativ für weite Bereiche der modernen Apokalyptik: Ablehnung jeglicher Teilnahme am endzeitlichen Konflikt kann die Sympathie für jene, die das Bestehende zum Einsturz bringen, um das >Neue Reich< zu errichten, nicht überdecken.63 Klar durchschaut und ins Grundsätzliche gehoben hat Thomas Mann diese Doppelbödigkeit, indem er sie an Adrian Leverkühn demonstrierte. Dieser letzte in einer langen Reihe von >testesRegistersFülle der Gesichte< hervorgerufen werden kann: durch eine Staffelung 64

Mann, Doktor Faustus, S. 404. - Vgl. Mann, Die Entstehung des Doktor Faustus, a.a.O., S. 249.

262

der Literarisierungsmöglidikeiten innerhalb eines oder mehrerer Texte. Einen Beleg dafür, daß dieses Prinzip in der literarischen Apokalyptik durchgehend beibehalten wird, bietet die vollkommene diesbezügliche Ubereinstimmung von sonst gänzlich verschiedenen Autoren wie Kraus und Belyj. Geht man davon aus, daß es sich bei dem sprachlichen Register des Faktors Invasion um verschiedene Produkte von Bewußtseinsformen der Unmittelbarkeit handelt, dann kann die Funktion diesers Literarisierungen näher bestimmt werden. Die Beschreibung des Einbruchs einer Elementargewalt dürfte die Grundform jeglicher Apokalyptik sein. Nichts kommt ihrem Unausweichlichkeitsdenken mehr entgegen als die Vorstellung einer tellurischen Katastrophe und nichts bestätigt nachdrücklicher die Inkommensurabilität, die das Kataklysma zur einzigen Lösung werden läßt. Der geschichtliche, von Menschen gemachte Prozeß wird den Naturgesetzen unterstellt. Dabei kann diese Bedeutung des Elementaren unterschiedlichen Strategien dienen. Sie kann auf einer entsprechenden Erfahrung beruhen, kann aber auch eine bewußt gewählte Einkleidung sein mit der Funktion, mangelnde Bereitschaft zur Bewußtseinsänderung und zur Rezeption zu verdedien. Diese Entschuldigung kann schließlich zur Täuschung werden, die darauf angelegt ist, anderen Unausweichlichkeit und Inkommensurabilität zu suggerieren, um ihr Verhalten zu steuern. Durch Kosmisierung werden die Funktionen der Elementarisierung noch verstärkt. Die Grenze zwischen den beiden kollidierenden Wirklichkeitssphären verläuft, wenn an die Stelle der großen Flut der nahende Himmelskörper tritt, tatsächlich zwischen der eigenen und der fremden Welt. Das Elementare kann im Zuge der Literarisierung zur Metapher geschichtlicher Instanzen werden, ohne daß diese konkret benannt werden. Zahlreiche Beispiele für dieses Verfahren bietet der Expressionismus und in dessen Rahmen wiederum besonders das Werk Heyms. Wie im Bild des Weltwinters die Erstarrung gesellschaftlicher Strukturen zum Ausdruck kommt, so verweisen drohende Sonnen und Kometen auf das Herannahen von Ereignissen, deren >Bewandtnischarakter< (Binswanger) offenbar ist, die aber keine historische Gestalt annehmen. Wieder ist es die Defizienz des unmittelbaren Denkens, die lediglich zu einer diffusen Erwartungshaltung zu führen vermag. Schließlich kann das Elementare nach dem Prinzip der Staffelung neben die geschichtliche Instanz treten. Im allgemeinen dürfte dieses Nebeneinander dem Hinweis dienen, wie die traditionelle Erwartung zeit- und situationsgerecht zu modifizieren sei. Oft genug jedoch weist die Modifikation eine genau umgekehrte Tendenz auf. Da Apokalyptik in größerem Maß als andere Literatur auf Wirkung angelegt ist, kann sie das 263

emotionale Kraftfeld des Elementarbildes auf die neu erscheinende Instanz übertragen. Ja, sie kann das Nebeneinander sogar dazu benutzen, die Unausweichlichkeit und Nichtrezipierbarkeit des Invasorischen, die sich im Elementarbild niederschlägt, der geschichtlichen Instanz zuzuschreiben. So gibt es eine generelle Tendenz zur Elementarisierung historischer Ereignisse und der sie verursachenden Gewalten. Die russische Literatur der Revolutionszeit, vor allem das Werk Zamjatins (vgl. S. io8f.), bietet typische Beispiele. Diese allgemeine Tendenz bestätigt Lukacs' Überzeugung, daß auf dem Weg von der elementaren Krisenerfahrung zur Konstruktion eines Geschichtsprozesses nicht unbedingt der Bannkreis des falschen Bewußtseins verlassen wird. Daher kann man kaum erwarten, daß die auf diesem Weg stattfindende Personalisierung oder Personifikation des Invasorischen eine grundlegende Alternative zur Elementarisierung bietet. Zwar zeigt Personalisierung im Prinzip das richtige Wissen darum an, daß jene Gewalt, die da in die Eigenwelt des Bewußtseins einbrechen will oder einbricht, vom Menschen ins Werk gesetzt ist, daß es sich - psychoanalytisch gesprochen - bei der Kollision immer um eine Wiederkehr verdrängter Wirklichkeit handelt. Die Unmittelbarkeit des defizienten Denkens führt jedoch zu einer Fixierung. Die nicht akzeptierte Wirklichkeit wird an eine mit fremden Zügen ausgestattete Person oder Gruppe gebunden. So entstehen, je nach der Haltung zum Kollisionsgeschehen, die literarischen Gestalten des teuflischen Zerstörers und seiner Horden oder des messianisdien Wundertäters und seiner Scharen. Entsprechend der Kosmisierung gibt es auch hier eine Intensitätsform: Die häufige Teriomorphisierung der invasorisdien Instanz zeigt, wie der Versuch, dem Bedrohlichen eine Gestalt zu verleihen, im subhumanen Bereich steckenbleiben kann. Damit ist die zweite Ebene der Modifikation erreicht. Die Mythisierung und die Archaisierung des Elementaren und Personalen sind eng verwandt, unterscheiden sich aber doch merklich in ihrer Funktion. Bekommt die invasorische Instanz eine mythische Gestalt, dann wird ihr damit das Attribut der Uberzeitlichkeit verliehen. Sie nimmt also genau jenes Aussehen an, das ihrer wahren Bedeutung als Trägerin der in der Geschichte sich vollziehenden Veränderung gänzlich widerspricht. In diesem Fall dürfte das Temporalisationsdefizit sein Maximum erreicht haben. Zugleich wird mit der Mythisierung die Grenze zum Irrationalen überschritten. Geschieht dies bewußt, dann soll dadurch die Fragwürdigkeit der Angst oder der Hoffnung auf eine Kollision hervorgehoben werden. Die Archaisierung hingegen zielt eine mehr oder minder unbestimmte Frühzeit an, hebt also statt auf Ungeschichtlichkeit mehr auf Vorgeschichtlichkeit des Invasorisdien ab. Das Manko an Temporalisation wird hier 264

auf inadäquate Weise ausgeglichen. Die archaische Gestalt dient in der Regel dem Eindruck, das Unerhörte, Fremde und Unvertraute entpuppe sich als etwas sehr Altes, das aber, im Gegensatz zum Mythischen, durchaus noch im Horizont der Erfahrung liegt. Daß es sich, gemäß der Psychosetheorie, bei jeder Kollision um eine Wiederkehr handelt, wird richtig erkannt. Nur deren Wertung fällt unterschiedlich aus. Das Archaische kann auf die Erwartung oder Uberzeugung verweisen, daß in der Kollision Verlorengegangenes wiedererlangt wird, daß also zum Beispiel, im Sinne der romantischen Auffassung, die archaische Vorvergangenheit des Goldenen Zeitalters zurückkehrt. Ebenso kann die Erscheinungsform aber auch von der großen Enttäuschung getragen sein, daß nichts wirklich Neues erscheint, sondern die bisher vermiedene Auseinandersetzung mit Abgelegtem, Beiseitegeschobenem unabweisbar wird. Die Suche nach einem Beispiel für Archaisierung der personifizierten invasorischen Instanz führt zurück in den thematischen Kernbereich der Untersuchung. Denn natürlich ist die Verbindung des Präadamitenstoffs mit der apokalyptischen Reise ein besonders prägnantes und kompliziertes Ergebnis einer solchen Literarisierung. Die beiden letztgenannten Alternativen treten klar hervor, wenn man die Bearbeitungen des Stoffs bei Nerval und Heym vergleicht. Stellt man ihnen Ehrensteins Verweis auf das >seltsame Geschlecht< gegenüber, dann wird deutlich, daß die Verfremdung der Gestalt des Invasorischen ins beinahe Groteske nicht zum Zweck einer heiteren Auflösung der bedrückenden Erwartung vorgenommen wird. Vielmehr wird durch die Verfremdung der Eindruck der Unwahrscheinlichkeit einer Kollision immens verstärkt, ohne daß ihre Notwendigkeit widerrufen würde. Das die Logik des apokalyptischen Denkens bestimmende Gesetz der Verwechslung von Möglichkeit und Notwendigkeit ist hier auf spezielle Weise bewußt zum Einsatz gebracht. Zu überlegen wäre, wo überall in der literarischen Apokalyptik eine solche Irrealisierung des für unabdingbar Erachteten mit Hilfe von Verfremdung der traditionellen sprachlichen Gestalt vorgenommen wird. Es hat den Anschein, als seien die Untergangstexte des dem Expressionismus folgenden Dadaismus nach diesem Prinzip geformt. Es war das Ziel dieses Kapitels zu zeigen, wie, ausgehend von einem Modell der Psychose, die Gestaltungsformen der literarischen Apokalyptik inventarisiert werden können. Es mag deutlich geworden sein, daß durch eine solche Untersuchung des Literarisierungsverfahrens auf seine systemimmanenten Bedingungen hin die Grundlage und eine wichtige Kontrolle geschaffen wird für die externe, die individuellen und sozio-kulturellen Bedingungen einbeziehende Analyse von Texten dieses ungewöhnlichen 265

literarischen Genres. Statt vager Ausblicke auf diese weitere Aufgabe soll jedoch zuletzt der Ausgangspunkt des ganzen Unternehmens, Heyms >Tagebuch Shackletons Tagebuch ShackletonsReise ans Ende der Welt< deckt jede Beschreibung dieser Art andere Insertionsstellen im Text auf. Aus einem Text wie dem > Tagebuch Shackletons< kann man auf diese Weise eine fast vollständige Typologie des Apokalyptischen entwickeln und dem Begriff dadurch einen präzisen Inhalt geben. Ein Schema soll den Vorgang an unserem Ausgangstext noch einmal abschließend erläutern: Insertionsstelle im Text:

Beschreibung durch das Modell:

Korrespondierendes apokalyptisches Thema:

Shackleton dringt in die Arktis ein.

Rücknahme aller Libidobesetzungen.

Untergang der realen Welt.

Shackleton erleidet einen Willensverlust.

Verschiebung des Zwangs zum unmöglichen Wirklichen auf das mögliche Unwirkliche.

Verschiebung vom utopischen auf den apokalyptischen Erfahrungsmodus.

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Shackleton will seine Gefährten ermorden.

Abspaltung von introjizierten und zu IchTeilen gewordenen Elementen der Außenwelt.

Aktive Vernichtung der realen Welt.

Shackleton sieht sich in seiner Erwartung getäuscht, ein fossiles Arkadien gefunden zu haben.

Scheitern des Versuchs regressiver Wiederherstellung konfliktfreier Zustände.

Zerstörung der früheren Welt.

Shackleton sieht sich in seiner Erwartung getäuscht, ein irdisches Paradies gefunden zu haben.

Scheitern des Arrangements mit dem Verdrängten.

Zerstörung der neuen Schöpfung.

Shackletons Persönlichkeit wird vernichtet.

Kollision mit der inkommensurablen Wirklichkeit.

Untergang der enttemporalisierten Welt.

Im letzten Kapitel wurde gezeigt, wie die Möglichkeiten einer Literarisierung der letzgenannten Katastrophe inventarisiert werden können. Eine Ausweitung dieses Verfahrens auf die fünf übrigen Themenkreise würde zu einer Systemtheorie der literarischen Apokalyptik führen.

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Adorno, Th. W. 2, i j j f , 226 Amiel, F. 134 Amraon, G. 165 Amundsen, R. 97, 104 Annenskij, I. F. 109 Arieti, S. 237 Arlow, J . 175, 213 Augustinus 2$f, 31 Baader, F. v. 61, 86, 123 Bacon, F. 26, 45^ 1 1 0 , 142 Balint, M. 155 Balzac, H . de 88 Basil, Ο. 25 j Bateson, G. 4, 176 Baudelaire, Ch. 3, 7 1 , 88f, 1 1 3 , 116, 129, 132, 134, 146, i f 3 , i78f, 213, 260 Bayle, P. j f , 41, 49, 81 Beckett, S. 1 7 1 , 193, 21 j Beckford, W. 79 Belyj, A. 3, m , 134, 193t, 221 - 223, 23 J. Benjamin, W. 89, 197, 258 Benn, G. 3, 62, 79, 102 - 108, 1 1 3 ^ i 2 2 f , i 4 j f , 1 J 3 , 158, i6o{, 179, 199, 231, 240, 248 Besanyon, A. i j j Bibel und Apokryphen Genesis 8of Psalmen 137 Daniel 45, 190, 259 Sacharja 188 Petrusbriefe 189 Apokalypse 7, 144, 186 - 190, 201, 248f, 255, 257, 262 Henodi 80 Baruch 55 Binswanger, L. 172, 224, 233^ 263

Blankenburg, M. 246 Blei, F. 79 Bloch, E. 4 1 , 144t, 185, 1 Blumenberg, H. 6, 26, i42f Bodkin, Μ. 154 Bölsche, W. 156 Bonaparte, M. 38, 154, Bourges, Ε. 1 1 7 Brjusov, V. 3, 46 - 48, 108, 138, 200 235 Brodi, H. 141 Brown, N . O. 155 Brunner, H . 44 Buffon, G.-L. 3, 69 Burke, K . 166, 217 Butor, M. 33 Byron, G. 3, 37, 55, 69 - 83, 103 134, 161, 198, 204f, 221, 260 Callieri, B. 172 CernyäSevskij, N . G. 47 Chamisso, A. v. 3, 84 - 87, 1 1 4 , 129, 146, 228 Chasseguet-Smirgel, J . i67f Clausius, R. 159 Coleridge, S. Τ. 3, 35 - 39, i i 2 f , 146, 154, 208, 228, 240 Columbus 26, 51, 73f Conrad, K . 22j, 230, 233 Cooper, D. i 7 j f Cooper, J . F. 42 Crowcroft, A. 208, 21 j Cuvier, G. L. 4, 82, 161 D a c q ^ , E. io6f, 1 j6f Däubler, Th. 3, 62 - 67, 95, 103, 123, 187 Dante i6f, 2 2 - 2 7 , 3 0 - 3 2 , 39, 108, 123, 142, 2 3 1 , 239f Dauthendey, M. 123 - 126, 198, 240 283

De Quincey, Th. 89 - 91, 1 1 3 , 179 Dettmering, P. i 6 j Dostoevskij, F. M. 47 Dühring, E. 104 Ehrenstein, A. 49^ i34f, 253 - 256, 260, 265 Eich, G. 159 Eidiendorff, J . v. 4 j , 84 Einstein, C. 79 Eissler, K . R. 165 Eliot, T. S. 21 - 23, 1 2 1 , 214 Emrich, W. 249 Ferenczi, S. 4, 155 - 160, 180, 212, 217, 221 Fini, L. I44f Flammarion, C. 7/ Foigny, G. de 40 - 42, 58, 75, 190, 202, 23$ Fourier, Ch. 4, 55 - 59, 156, 231, 240 Freeman, Th. 2o8f 212, 232, 233 Freud, S. i42f, 1 5 j , 1 5 8 - 1 6 2 , 164, 168, i / i f , 173, 177, 195 - 202, 223, 232f, 237f, 24Ο, 242f Friedrich, C. D. 84f Friedrich, H. 130, 178 Frye, N . 123, i88f, 199, 220, 23$ Fürstenau, P. 165 Gabel, J . 4, 173, 224, 237 - 247, 250, 2J5 Gagne, E. 77 Gallas, H. 251 George, St. 68, 103, t o j f , 122, 128, 249, 261 Gibbon, E. 69 Gilbert, Cl. 40 Goering, R. 104, 107 Goethe, J . W. 1 1 5 , 144 Gorsen, Ρ ιγο, ιγι Gove, P. Β. 40 Graber, G. Η. i j 6 , 181 Graniville, J.-B. de 71 Greimas, A. J . 217, 252 Grimm, R. 79 Groeben, N . i 6 j f , 168 Guthke, K . S. 173 Haas, R. 42 Hamburger, M. 213, 214 Hartmann, Ε. v. u 8 f , 159, 249 284

Hazard, P. 42, 137 Hegel, G. W. F. 136 Heidegger, M. 224 Helmholtz, H. 159 Hemsterhuis, F. 4, J 3 f , 59 Herder, J . G. 145 Hermand, J . 163 Herschel, F. W. 56 Heym, G. 3, 1 1 - 34, 37t, 40, 49, 51 53, 70-72, 77I, 80, 82, 84, 87, 95, i o i f , 130, 138, i 4 j f , 153, ι j 8 , 176, 182 - 184, 186, 204, 206, 208, 219, 226 - 229, 231, 235, 238f, 258, 263, 267 - 269 Hocke, G. R. 7 Hoddis, J . van 68 Hölderlin, F. 6of, 63, 187 Hörbiger, Η. 4, 157 Hoffmann, F. J . 166 - 168 Hofmannsthal, Η. v. 1 7 1 , 213 Holbach, P.-H. de 144 Horn, Κ. 246 House, Η. 3jf Huch, R. 8jf Ibsen, H. 214 Jaspers, K. 170, 172 Jauss, H. R. 7 Jean Paul i f , 68, 85, 238f Jünger, E. 192 Jung, C. G. 4, 152 - 154, 168, 1 7 3 ^ 180 - 188, i94f, 198, 235, 237, 242 Kandinsky, W. 94 - 96, 222, 230 Kant, I. j, 136, 248f Kaplan, S. 4 1 9 0 Resting, Μ. 193 Killy, W. 216 Klages, L. 1 1 9 Klein, J . 8} Klein, M. 4, 2 0 8 - 2 1 3 , 2 i 6 f , 221 Klemm, W. i03f Klotz, V. 194, 22if Knoblauch, A. 64 - 67 Kraus, K . j , i4of, 2J5 - 258, 26of Krauss, W. 41 Kris, Ε. i64f Kristeva, J . 25if Kubin, A. 3, 48 - 50, 68, 77t, 98, 176, 184, 192, 208, 235 Kulenkampff, C. 224 - 226, 234

Lacan, J . 204f, 208, 2 3 1 , 244 Laforgue, J . 3, 90, 1 1 9 - 1 2 1 , 1 2 3 ^ 129, 138, 146, i98f Laing, R . D. 4, 175f Lamartine, A. de 71 La Peyrere, I. de 3, 48f, 78f, 80, 145 Laplace, P. S. de 54 Lasswitz, Κ . 3of, 240 Leconte de Lisle, Ch. 3, 1 1 6 - 1 1 8 ,

Novalis 3, 59, 70, 81, 8 6 , 1 1 5 , 1 1 9 , 1 3 4 , 1 5 3 , 2 3 1 , 240 Nunberg, H . 209, 2 1 1

126, 198, 240 Leibniz, G. W. 136 Lem, St. 253 Lenau, N . 71 Lesconvel, P. de 40 Lessing, Th. 64 Levi-Strauss, C. 2 j o f Lewis, M. G. 69 Lingg, H . 51 - y3, 1 1 6 , 198 Link, F. H . 191 Lissauer, E. 51 Löwenthal, L. 259f Lombroso, C. 170 Lukacs, G. j , 244^ 247, 250, 264

Paltock, R . 40 Parry, W. E. 73, 84 Paxton, J . 47 Petrarca 31, 99, 142, 240 Petriconi, H. 174, 235 Pil'njak, B. 3, 62, 108 - 1 1 4 , 146, 193 Pindar 24, 100, 103 Pinthus, K . 28 Poe, Ε. A. 3, 27 - 38, 40 - 45, 56, 73, 87» 9° f > 97> I l 6 > ΐ 3 2 - Σ 3 4 , i3 8 » i 4 j f , 1 5 1 , 154, 178, i 8 2 f , 189 - 193, 203^ 208, 2 1 3 - 218, 226 - 229, 243, 249. 259 Pohlen, M. 175, 202, 233 Poppenberg, F. 48 Pouillon, J . 250 Poulet, G. 134, 177 Praz, M. 98 Proust, M. if Przybyszewski, St. 32, 73 Puskin, A. S. 193 Putter, I. 117, 1 1 8

Mach, Ε. 214 Mähl, H . - J . S3 Mallarme, S. 3, 96, 128 - 138, 188, 2 3 j f . 243 Mann, Th. 2, 8, 7 1 , 122, i $ 6 f , i6xi Martens, K . 68 Martin, D. 176 Mehring, W. 146t Melies, P. 97 Mendes, C. 98 Metzner, J . 196 Midiaux, H . 1 2 1 Minkowski, E. 177, 237, 259 Moldenhauer, J . 2i4f Mombert, A . 6if, 123, 187, 249 Moritz, Κ . Ph. i98f Mühlher, R . 174 Musil, R . 214 Navratil, L. 170, 246f Nerval, G. de 3, 59, 68f, 77f, 8of, 1 5 3 , 176, 198, 204, 208, 220, 259 Neubert, F. 78 Nietzsche, F. 3, 99 - 1 0 1 , 103, 1 0 5 ^ 1 1 5 , i 2 j , 1 6 1 , 260

Obrucev, V. 108 OehlenscMäger, A. 42 ötinger, F. Ch. Oken, L. 134

Queneau, R . 71 Rank, O. 180 Rapaport, D. 159, 168 Retif de la Bretonne 40 Ricoeur, P. i j 9 f Rimbaud, A . 3, 61, 63, 9 i f , 1 1 3 , 1 1 6 , 129, 1 4 3 ^ 153, 157, 179, 2 1 3 , 229, _234f Riviere, J . 143f Robbe-Grillet, A. 167 Robinson, Ε. A. 191 Rowley, Η . Η . 8o Sartre, J . P. 170 Scheerbart, P. 65f Schellin, F. W. j8 285

Schiller, F. 2 j 6 Schiwy, G. 207 Schlegel, A. W. 85 Sdimähling, W. ji Schmidt, A. 42, 191 - 193 Schmitt, C. 63 Schnabel, J . G. 3, 42 - 46, 138f, 187, 190, 202f, 2l8f Sdireber, D. P. 4, 16if, 197, 198, 209 2 1 1 , 2 j j , 261 Schubert, G. H . 59 Schücking, L. L. 69 Schumacher, J . i j 9 , 249 Scott, R. 97, i04f Sechehaye, M. 150 - 152, i 7 i f , 2o6f Seneca 32 Shackleton, Ε. H. i 2 f , 104 Shelley, M. 69, 71 Shelley, P. 37, J4f, 69, 75, 198 Sklovskij, V. 109 Sokel, W. H . /6 Sonnenberg, F. v. 198 Soumet, A. 7/ Spengler, O. 1 4 1 , 159, 248 Spitteier, C. 126t Stadler, E. 28 Steiger, E. I39f Stifter, A. 70 Stoessl, O. 68 Storch, A. 772 Suvin, D. 108 Sweeney, G. M. 30

286

Theophile de Viau γί Tillyard, Ε. M. 35 Todorov, T. 169t, 1 7 1 Tortel, J . 7 Trockij, L. 109 Tzara, T. 94 - 96, i$6f, 230, 236 Valery, P. 213 Varnhagen von Ense, Κ . A. 85 Verhaeren, E. i29f Verne, J . 33f, 97, 1 1 2 , 146 Veiras, D. 3, 40 - 42 Viebrock, H. 83 Wagner, R. I J 6, 165 Warren, A. 3J Waelder, R. 213, 216 Weber, S. T. 20j Weizsäcker, V. v. 224 Wellek, A. 165 Werfel, F. 70 Wetzel, Α. 172 Wiesenhütter, Ε. 224 Wilbur, R. 176 Withim, Ph. 168 Wolfskehl, K. 198 Wyss, D. 224 Wunberg, G. 171 Yeats, W. B. 2 i 3 f Zamjatin, E. 3, 109, 1 1 1 , 264 Zedier, J . H. 78 Zutt, J . 223