Theorie und Praxis literarischer Wertung: Literaturwissenschaftliche und -didaktische Theorien und Verfahren 9783110867039, 9783110112054


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German Pages 407 [416] Year 1987

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
I. Einleitung
1.1. Interdisziplinäre Aspekte des Problems literarischer Wertung
1.2. Historische Voraussetzungen: Tendenzen literaturwissenschaftlicher und -didaktischer Wertungsdiskussion bis 1965
1.3. Zusammenhänge zwischen der Wissenschaftsreform der sechziger Jahre und den Veränderungen literaturwissenschaftlicher und -didaktischer Wertungskonzeptionen
1.4. Exkurs: Wissenschaft und Wertung
II. Literaturdidaktische Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre
1. Literarische Wertung als Gegenstand literaturdidaktischer Theoriebildung
2. Lernzielorientierte Konzeptionen der literarischen Wertungsdidaktik
3. Gegenstandsbezogene Konzeptionen literarischer Wertungsdidaktik
III. Theorien des literarischen Werts und der literarischen Wertung in der Literaturwissenschaft und Ästhetik
1. Methodische Überlegungen
2. Funktionale Wertungskonzeptionen
3. Zur Rezeption funktionaler Wertungskonzeptionen in gegenwärtigen Wertungsansätzen
4. Ideologiekritische Wertungskonzeptionen
5. Marxistische Wertungstheorien
6. Phänomenologische Wertungskonzeption: Ingarden
7. Objektbezogene Wertungstheorien
8. Darstellungsästhetisch begründete Theorien
9. Zusammenfassung
IV. Literarische Wertungstheorien als Voraussetzung literarischer Wertungspraxis
1. Verfahren literarischer Wertungspraxis
2. Probleme der Kanonbegründung
Tabelle: Theorien, Kriterien und Verfahren des literarischen Werts und der literarischen Wertung
Literaturverzeichnis
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Theorie und Praxis literarischer Wertung: Literaturwissenschaftliche und -didaktische Theorien und Verfahren
 9783110867039, 9783110112054

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Monika Schräder Theorie und Praxis literarischer Wertung

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker Begründet von

Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer Neue Folge Herausgegeben von

Stefan Sonderegger

89 (213)

w DE

G Walter de Gruyter • Berlin • New York 1987

Theorie und Praxis literarischer Wertung Literaturwissenschaftliche und -didaktische Theorien und Verfahren von

Monika Schräder

w DE

G Walter de Gruyter • Berlin • New York 1987

Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig — pH 7, neutral)

CIP- Kurifitelaufnähme

der Deutschen

Bibliothek

Schräder, Monika: Theorie und Praxis literarischer Wertung : literaturwiss. u. -didakt. Theorien u. Verfahren / von Monika Schräder. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1987. (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker ; N.F., 89 = 213) ISBN 3-11-011205-1 NE: GT

ISSN 0481-3596 © 1987 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem Wege (Fotokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin Printed in Germany

Meinem Mann

Vorwort

Die Untersuchung enthält eine Bestandsaufnahme literaturwissenschaftlicher und -didaktischer Wertungstheorien seit den sechziger Jahren, wobei allerdings auch die historischen Entwicklungen seit den Anfangen literarischer Wertdiskussion im 19. Jahrhundert (Scherer, Dilthey) berücksichtigt werden. Der Titel „Theorie und Praxis literarischer Wertung" deutet bereits an, worin sich die vorliegende Arbeit von bisherigen Forschungsbeiträgen unterscheidet. Anknüpfend an die werttheoretischen Reflexionen Scherers und Diltheys richtet sich die Fragestellung auf Zusammenhänge von ästhetischen, sozialen, kulturphilosophischen, pädagogischen und bildungspolitischen Aspekten literarischer Wertung. Durch die Verknüpfung literaturwissenschaftlicher und -didaktischer Reflexion sollen zugleich Theorie- und Anwendungsaspekte literarischer Wertung erörtert werden. Im Aufriß literaturwissenschaftlicher Wertungstheorien lassen sich ästhetische Grundlagen literarischer Wertbestimmungen verdeutlichen, mit der Darstellung literaturdidaktischer Diskussion praxisbezogene Konsequenzen literaturwissenschaftlicher Urteilsbildung aufzeigen. — Der Begriff der Praxis ist dabei im doppeltem Sinne gemeint: einerseits ist der auf Praxis zielende Diskurs wertungsdidaktischer Theoriebildung insgesamt thematisch, andererseits sollen aus dem Vergleich literaturwissenschaftlicher und -didaktischer Diskussion konkrete Verfahren literarischer Wertung abgeleitet und an einzelnen Textbeispielen erprobt werden. Diese in der bisherigen Wertungsdiskussion noch kaum erörterte Frage nach der praxisbezogenen Geltung wertungstheoretischer Konzeptionen erfordert ein bestimmtes Verfahren der Darstellung. Die einzelnen Theorien werden nicht deduktiv von einer einseitigen methodologischen Position her analysiert; die Vielfalt der unterschiedlichen Wertungskonzepte wird vielmehr als Ausdruck jeweils differenter Literatur- und Wertdeutungen verstanden und vergleichend auf die zugrundeliegenden methodologischen und ästhetischen Voraussetzungen hin untersucht. Eine zentrale Perspektive der vergleichenden Bestandsaufnahme ist die Frage nach Konstanten und Variablen literarischer Wertbestimmungen sowie nach den jeweils zugrundeliegenden Zielen, Verfahren und Kriterien literarischer Wertung.

VIII

Vorwort

Das Problem von Konstanz und Varianz literarischer Wertungen ist seit A. W. Schlegel und Dilthey eine innerhalb einzelner Wertungstheorien immer wieder erörterte Kernfrage. Es gibt jedoch bisher erst Ansätze, unterschiedliche Wertungstheorien vergleichend unter diesem Gesichtspunkt zu analysieren (Dilthey). In der Reflexion auf Konstanten literarischer Wertungen liegt ein wesentliches Forschungsinteresse der Ausführungen: denn angesichts der seit den sechziger Jahren erkennbaren Funktionalisierung von Literatur und Wert auf allgemeine Kommunikationszusammenhänge hin gilt es, Kriterien für die Differenzqualität von poetischer und nicht-poetischer Rede zu ermitteln. Eine in der bisherigen Forschung noch kaum gegebene systematische Analyse der jeweiligen Ziele, Verfahren und Kriterien der einzelnen Wertungstheorien soll die impliziten Begründungsebenen der verschiedenen Konzeptionen offen legen und ihre präskriptiven Voraussetzungen verdeutlichen; damit wird eine Grundlage geschaffen, von der her präskriptive Urteile gerechtfertigt werden können (vgl. Tabelle am Schluß des Buches; vgl. auch S. 214, Ch. W. Morris). In der vergleichenden Betrachtung zeigt sich, daß in der Vielzahl der Wertungstheorien komplementäre Bestimmungen von Literatur und Wert gegeben sind, so daß erst die Vielheit unterschiedlicher Wertungsmodelle ein relativ umfassendes Bild von Möglichkeiten literarischer Wertungspraxis entwerfen kann. So besteht eine wichtige These der Untersuchung in der Einsicht, daß jeweils andere Wertungstheorien und -verfahren entwickelt werden, je nachdem ob sog. hohe Literatur oder ob Unterhaltungs- und Gebrauchsliteratur, Zitaten- oder Collageliteratur Ausgangspunkt der Theoriebildung sind; es ergeben sich andere Verfahren und Kriterien literarischer Wertung, wenn Literatur als symbolische Repräsentation von Wirklichem oder als Kommunikationsvorgang bzw. als soziales Zeichen oder als fiktives Handeln definiert wird. Aus diesen Erkenntnissen wird die These einer notwendig je nach Textart variierenden Wertungspraxis abgeleitet, die im IV. Kapitel an einzelnen Textbeispielen verdeutlicht wird; so scheinbar selbstverständlich dieses Postulat einer differenzierten Wertungspraxis ist, es wurde in der bisherigen Wertungsdiskussion noch nicht ausgeführt. Bildungspolitisch scheint mir diese These einer je nach literarischer Form wechselnden Wertungspraxis wichtig und fruchtbar. Denn angesichts der im Zuge der Curriculumdiskussion vollzogenen Öffnung des Lektürekanons auf alle Textarten wird es erforderlich, Kriterien zu formulieren, mit denen begründet werden kann, warum Goethe, Novalis, Kafka einen anderen Bildungswert haben und mit anderen Wertungsverfahren zu bewerten sind als etwa Comics oder Unterhaltungsliteratur. Diese Fragen werden im IV. Kapitel erörtert.

Vorwort

IX

Dem skizzierten methodischen Verfahren liegt der Gedanke eines offenen, auf Vielfalt angelegten Theoriebegriffs zugrunde, wie er einige Wertungstheorien (Ingarden, Cervenka) bestimmt und in neueren philosophischen Theorien (Habermas, Lyotard) als adäquate Denkform gegenwärtiger Theoriebildung bezeichnet wird. An dieser Stelle möchte ich Herrn Professor Wilhelm Emrich herzlich danken, der die Entstehung der Arbeit mit Anteilnahme verfolgt und mir in Gesprächen vielfältige Anregungen vermittelt hat; danken möchte ich auch Herrn Professor Müller-Seidel, Herrn Professor Stokker und für seinen hilfreichen Rat Herrn Professor Helmut Kreuzer. Mein Dank gilt ferner der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die mir durch ein langjähriges Habilitationsstipendium die Arbeit ermöglicht hat, sowie Herrn Professor Sonderegger und Herrn Professor Wenzel für die Aufnahme der Untersuchung in die Reihe „Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker". München, im März 1987

Monika Schräder

Inhalt

Vorwort

VII

I. Einleitung 1.1.

1

Interdisziplinäre Aspekte des Problems literarischer Wertung Historische Voraussetzungen: Tendenzen literaturwissenschaftlicher und -didaktischer Wertungsdiskussion bis 1965 Zusammenhänge zwischen der Wissenschaftsreform der sechziger Jahre und den Veränderungen literaturwissenschaftlicher und -didaktischer Wertungskonzeptionen Exkurs: Wissenschaft und Wertung (Scherer, Dilthey)

21 28

II. Literaturdidaktische Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre

43

1.2. 1.3. 1.4.

1. 1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.5. 1.6.

2. 2.1. 2.1.1.

Literarische Wertung als Gegenstand literaturdidaktischer Theoriebildung Wissenschaftsreform und Wertungskonzeption Stellenwert der literarischen Wertung innerhalb der Literaturdidaktik Zur Reform traditioneller Didaktikkonzeptionen . . . . Robinsohns Konzept einer Revision von Bildungsinhalten als Legitimationsgrundlage neuerer Wertungsdidaktik Kritik an traditioneller Wertungstheorie und -didaktik Veränderte Auffassung von Inhalt und Aufgabe der Wertungsdidaktik Lernzielorientierte Konzeptionen der literarischen Wertungsdidaktik Pädagogischer Begründungsansatz Emanzipation / Mündigkeit

1 7

43 43 45 50 53 69 75

83 83 85

XII

2.1.2. 2.1.3. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.5.1. 2.5.2. 2.6. 2.7. 2.8. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5.

Inhalt

Kommunikation Kritische Rationalität Gesellschaftlicher Begründungsansatz Situationsbezogener Begründungsansatz Disziplinbezogener Begründungsansatz Exkurs: Systematische Ansätze lernzielorientierter Wertungsdidaktik Waldmann (1973/77) Schemme (1975) Ergebnisse Trivialliteratur als Modell der veränderten Wertungsdidaktik Kritische Stellungnahmen

87 91 101 107 111 116 116 120 124 127 131

Gegenstandsbezogene Konzeptionen literarischer Wertungsdidaktik 134 Sprachbezogener Ansatz 139 Handlungsbezogene Konzepte 141 Werk-Leser-bezogener Ansatz 144 Integrative Wertungskonzepte 148 Kritische Stellungnahme 156

III. Theorien des literarischen Werts und der literarischen Wertung in der Literaturwissenschaft und Ästhetik 159 1.

Methodische Überlegungen

159

2. 2.1. 2.1.1.

Funktionale Wertungskonzeptionen Russische Formalisten Sklovskij (1916), Entautomatisierung und Verfremdung als Kriterien des literarischen Werts Tynjanow (1924/27): Literarischer Wert und literarische Evolution Ergebnisse Prager Strukturalisten Mukarovsky (1967/70/73): Ästhetischer Wert und ästhetische Funktion Das Problem der „Gültigkeit" des ästhetischen Werts . Bedeutung der Werttheorie Mukafovskys innerhalb der gegenwärtigen Wertungsdiskussion

168 169

2.1.2. 2.1.3. 2.2. 2.2.1. 2.2.1.1. 2.2.1.2.

171 173 175 178 179 183 190

Inhalt

2.2.2. 2.2.2.1. 2.2.2.2. 2.2.2.2.1. 2.2.2.2.2. 2.2.2.2.3. 2.2.2.2.4. 2.3. 2.3.1. 2.3.2. 2.3.3. 2.3.4. 2.3.5. 2.4. 3. 3.1. 3.1.1. 3.1.1.1. 3.1.1.2. 3.1.1.3. 3.1.2. 4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 5. 5.1. 5.1.1.

Kunst- und Wertungstheorie bei Vodicka und Cervenka Vodicka: Ästhetischer Wert und literarische Evolution Cervenka: Literarische Bedeutung und literarischer Wert „Varietät" als literarischer Wert Typologie künstlerischer Ordnungsprinzipien als Grundlage der Wertbestimmung Begriff der Persönlichkeit und literarischer Wert . . . . Stellenwert der Bedeutungs- und Wertkonzeption Cervenkas Morris: Handlungstheorie und Werttheorie Sonderstellung des ästhetischen Werts Ästhetisches Zeichen und ästhetischer Wert Das ästhetische Werturteil Ästhetischer Wert und ästhetisches Verhalten Die Bedeutung der Werttheorie von Morris für die gegenwärtige Wertungsdiskussion Ergebnisse Zur Rezeption funktionaler Wertungskonzeptionen in gegenwärtigen Wertungsansätzen Zwischenstellung der Konstanzer Schule Der rezeptionsästhetische Wertungsansatz von H. R. Jauß Ästhetische Distanz und ästhetischer Wert Synchrone und diachrone Aspekte des ästhetischen Werts Stellenwert der Wertungsreflexion von H. R. Jauß . . W. Iser: Fiktionalität und ästhetischer Wert Ideologiekritische Wertungskonzeptionen Das Problem der Kriterien literarischer Wertung . . . . Künstlerische und funktionale Wertung Historizität und Modernität: Zur Begründung des objektiv ästhetischen Werts Stellenwert der ideologiekritischen Wertungskonzeptionen

XIII

192 192 197 199 201 204 206 208 211 212 213 214 216 218 220 221 221 223 224 226 227 231 232 235 239 240

Marxistische Wertungstheorien 242 Kunsttheorie und Werttheorie: Literatur als Widerspiegelung 243 Maßstäbe literarischer Wertung: das Typische, Allgemeine, der sozialistische Realismus 244

XIV

5.1.2. 5.1.3. 6. 6.1. 6.2. 6.3. 6.4. 6.5. 6.6. 7. 7.1. 7.2. 7.3.

Inhalt

Der „holistische" Anspruch der marxistischen Wertungstheorie 248 Ergebnisse 250 Phänomenologische Wertungskonzeption: Ingarden . . Wert- und Wertungstheorie als Theorie der „Konkretisation" von Kunst Künstlerische und ästhetische Werte Objektivität des ästhetischen Werts „Richtigkeit" von Werturteilen Ästhetischer Wert und ästhetisches Erlebnis Ergebnisse

251 252 254 257 259 261 265

Objektbezogene Wertungstheorien Literarische Wertung als Interpretation Wertbegriff und Literaturbegriff Der Stellenwert objektbezogener Wertungskonzeptionen

269 270 275

277

8.4.

Darstellungsästhetisch begründete Theorien H. E. Hass: Literarische Wertung als „kulturbildende Entscheidung" W. Emrich: Wertungstheorie als Theorie der Vermittlung von ästhetischer und historischer Wertung . . . . Das „Kontinuum der Reflexion" als Wertungskriterium Müller-Seidel: Konstanz und Variabilität als Problem literarischer Wertungstheorie Ergebnisse

9.

Zusammenfassung

303

8. 8.1. 8.2. 8.2.1. 8.3.

276

282 285 286 292 300

IV. Literarische Wertungstheorien als Voraussetzung literarischer Wertungspraxis 307 1. 1.1. 1.2. 1.2.1. 1.2.1.1.

Verfahren literarischer Wertungspraxis Am Kommunikations- und Funktionswert von Literatur orientierte Wertungsverfahren Am Kunstwert orientierte Wertungsverfahren Literarische Wertung als Einheit von poetologischer und methodologischer Reflexion Erlebnisbezogene Formen des Umgangs mit Literatur als Voraussetzung literarischer Wertung

309 311 326 330 334

Inhalt

XV

1.2.1.2. 1.2.1.3. 1.3.

Interpretation und Wertung 337 Text-Kontextbezogene Verfahren literarischer Wertung 341 Zusammenfassung 343

2. 2.1.

Probleme der Kanonbegründung Zielorientierte Begründungen von Aus wählen tscheidungen Themen- und motivbezogene Begründungen des literarischen Kanons (Geißler, 1982) Integratives Konzept der Kanonbegründung (MüllerMichaels, 1980) Kritik der Zielorientierung Kanonbildung und Wertreflexion Typologien zur Wertbestimmung literarischer Werke .

2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6.

347 348 351 352 353 356 359

Tabelle: Theorien, Kriterien und Verfahren des literarischen Werts und der literarischen Wertung

vor 363

Literaturverzeichnis

363

Register

383 383 388

Personenregister Sachregister

I. Einleitung

1.1. Interdisziplinäre Aspekte des Problems literarischer Wertung Die Reflexion auf Probleme der literarischen Wertung fordert eine Auseinandersetzung mit den „stillschweigend vollzogenen Urteilsbildungen" 1 der Literaturwissenschaft und beinhaltet die Frage nach Art und Geltung der Kriterien der Literarität. Seit Beginn der literaturwissenschaftlichen Wertungsdiskussion um 19202 wird literarische Wertung jedoch nicht allein als einzelwissenschaftliches oder poetologisches Problem erörtert. Literarische Wertung zielt bei Walzel 3 , Ermatinger 4 u. a. nicht nur auf Kriterien ästhetischer Qualifikation von Literatur, sondern wird zugleich im umfassenden Zusammenhang pädagogischer, geistesund kulturphilosophischer Reflexion diskutiert 5 . Wie bereits in den Anfängen literarischer Werttheorie bei Lotze 6 , Scherer 7 , Dilthey 8 sind Wertungsfragen innerhalb der Literaturwissenschaft von Beginn an auch auf Fragen des Zusammenhangs von Wissenschaft und Praxis, Literatur und Kulturtradition gerichtet. So sieht Ermatinger die Aufgabe literarischer Wertungsreflexion darin, „... das Einzelurteil ... als geschichtlich notwendige Äußerung des Zeitbewußtseins zu erkennen" 9 . — Oskar Walzel unterscheidet folgende Aspekte innerhalb der 1 2

3 4

5

6 7 8

9

W. Müller-Seidel, Probleme der literarischen Wertung. Stuttgart 2 1969, S. 3. Vgl. N. Mecklenburg (Hrsg.), Literarische Wertung. Texte zur Entwicklung der Wertungsdiskussion in der Literaturwissenschaft. Tübingen 1977, S. VII ff.; G. Pilz/ E. Kaiser (Hrsg.), Literarische Wertung und Wertungsdidaktik. Kronberg/Ts. 1976; I. Degenhardt (Hrsg.), Literarische Wertung. Stuttgart 1979, S. 1 4 9 — 1 6 9 . O. Walzel, Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters. Berlin 1923, S. 1 1 2 - 1 4 3 . E. Ermatinger, Vom Urteilen über Dichtwerke. In: Der getreue Eckart 6 (1928), S. 6 3 - 6 7 . Vgl. auch W. Benjamin, Frühe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik. In: W. Benjamin, Gesammelte Schriften, hrsg. v o n R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Bd. II.l, S. 1 2 - 1 6 . S. 3 5 - 3 9 Frankfurt/M. 1980. H. Lotze, Geschichte der Ästhetik in Deutschland. München 1868. W. Scherer, Poetik, hrsg. von G. Reiss. Tübingen 1977. W. Dilthey, Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik (1887). In: W. Dilthey, Gesammelte Schriften. Bd. V I Stuttgart/Göttingen 1958/1962, S. 103 ff. E. Ermatinger 1928, zit. nach N. Mecklenburg (Hrsg.) 1977, S. 5.

2

Einleitung

literaturwissenschaftlichen Wertungstheorie: den methodologischen, den poetologischen sowie geistesgeschichtliche, kulturpolitische und historische Gesichtspunkte. Wertungsreflexion ist nach Walzel zunächst auf die Frage gerichtet, „wie überhaupt ein Werturteil wissenschaftlich sich erbringen läßt" 10 ; sie betrifft ferner die Frage nach Kriterien ästhetischer Qualität, nach „begrifflich nachweisbaren Werturteilen über Kunstwerke" 1 1 und zielt zudem auf Zusammenhänge von Wissenschaft und Gesellschaft, Literatur und Praxis. Diese drei — methodologischen, poetologischen und funktionalen — Gesichtspunkte literaturwissenschaftlicher Wertungstheorie werden zunächst nicht im einzelnen differenziert, sondern bilden die implizite Voraussetzung wertungstheoretischer Reflexion. Degenhardt 12 , Lindner 13 u. a. haben die Geschichte der Wertungsdiskussion seit 1920 als Geschichte der Ausdifferenzierung der differenten — methodologischen, ästhetischen und funktionalen — Aspekte von Wertungsreflexion beschrieben. Die Genese der germanistischen Wertungsdiskussion wird bei Walzel, Ermatinger, Korff kulturpolitisch aus den zeitgeschichtlichen Bedingungen nach dem 1. Weltkrieg begründet. „Wir wissen heute alle, was der Weltkrieg bedeutet: nicht nur den Zusammenbruch politischer Fügungen ... und die Zerstörung wirtschaftlicher Werte, sondern vielmehr den Einsturz eines ganzen Kultursystems ... Sollen wir uns da, in einer tatsächlichen „Umwertung aller Werte", wundern, daß niemand sich mehr auskennt in dem, was wertvoll ist?" 14 ; „... man hat einfach den Maßstab verloren" 15 .

Im Gegenzug gegen eine positivistische Trennung von Wissenschaft und Werturteil wird die Aufgabe literaturwissenschaftlicher Wertungsreflexion darin gesehen, nach dem „Einsturz eines ganzen Kultursystems" 16 neue Maßstäbe literarischer Urteilsbildung zu formulieren, um die kulturbildende Funktion von Kunst und Wissenschaft zu bewahren. Wertungsreflexion ist somit von Anfang an vor allem als Möglichkeit verstanden, die kulturelle und bildungspolitische Aufgabe literaturwissenschaftlicher Forschung zu verdeutlichen und Wissenschaft aus ihrem Zusammenhang mit gesellschaftspolitischen Erfordernissen zu verstehen. Angesichts der durch Historismus und Kulturkrise gegebenen

10 11 12 13

14 15 16

O. Walzel 1923, zit. nach G. Pilz/E. Kaiser (Hrsg.) 1976, S. 29. Ders. a. a. O. S. 30. I. Degenhardt (Hrsg.) 1979. B. Lindner, Probleme der literarischen Wertung. In: Grundzüge der Literatur- und Sprachwissenschaft, Bd. 1 Literaturwissenschaft. München 3 1975, S. 444—458. E. Ermatinger, a. a. O. S. 6. Ders. a. a. O. S. 2. Ders. a. a. O. S. 6.

Interdisziplinäre Aspekte des Problems literarischer Wertung

3

„wilden Anarchie des Urteils" 17 zielt die „neue Wertung" im Sinn Ermatingers darauf, trotz aller „geschichtlichen Betrachtung" allgemeine Regeln zur Bewertung ,großer Kunstwerke' zurückzugewinnen, mit denen sich die Vielfalt individueller und historischer Urteile über Kunst systematisieren läßt 18 . Die kulturpolitische und pädagogische Fundierung der Wertungstheorie hat Tradition. Bereits Dilthey begründet die Reflexion auf Wertfragen aus der pädagogischen und humanen Verantwortung des Philologen. Die Auseinandersetzung mit Wertproblemen erscheint bei Dilthey als Voraussetzung, das Humboldtsche Humanitätsideal unter den Bedingungen von Historismus und Wissenschaft neu zu beleben und die lebenspraktische Funktion literaturtheoretischer Erkenntnis zu verdeutlichen 19 : „Sollen die mächtigen Triebe nicht verkümmern, welche nach Wahrhaftigkeit, Erfassung von K r a f t hinter aller Form ... hindrängen, dann muß das natürliche Verhältnis zwischen der Kunst, dem ästhetischen Raisonnement und einem debattierenden Publikum wieder hergestellt werden ..." 2 0 ; „Die unübersehbare Masse dichterischer Werke ... muß für die Zwecke des lebendigen Genusses, der historischen Kausalerkenntnis und der pädagogischen Praxis geordnet, dem Werte nach taxiert und für das Studium des Menschen ... ausgenutzt werden ,.." 2 '; „Der Aufbau einer solchen Wissenschaft würde auch eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für unser höheres Unterrichtswesen haben ..." 2 2 .

Die kultur- und bildungspolitische Aufgabe der Wertungsreflexion ist in der Geschichte der Wertungsdiskussion bis zur Gegenwart immer wieder betont worden. So bezeichnet Hass literarische Wertung als entscheidenden „stilbildenden Kulturentwurf' 2 3 , als „Organ der Wertsetzung dieser Kultur" 2 4 . Er sieht eine wesentliche Aufgabe der Wertungstheorie darin, im einzelnen Werturteil das „Wert- und Bildungsbewußtsein seiner Kulturgemeinschaft" 2 5 zum Ausdruck zu bringen. Auch für Müller-Seidel ist Wertung kein immanent literaturwissenschaftliches bzw. literaturtheoretisches Problem. Die Dignität des Wertungsproblems ergibt sich für Müller-Seidel vielmehr aus der Bezogenheit von Wissenschaft und Kunst auf ein „Jenseits der Wissenschaft" und ein

Ders. a. a. O. S. 4. Ders. a. a. O. " W. Dilthey, Die Einbildungskraft des Dichters 1887, a . a . O . S. 1 0 4 f f . 20 Ders. a . a . O . S. 106. 21 Ders. a . a . O . S. 107. 22 Ders. a . a . O . S. 109. 23 H. E. Hass, Das Problem der literarischen Wertung. Darmstadt 2 1970, S. 88. 24 Ders. a. a. O. S. 87. 25 Ders. a. a. O. 17 18

4

Einleitung

„Jenseits der Kunst" 2 6 : „Wertung in der Wissenschaft ist, zu Ende gedacht, nicht ablösbar vom Wert der Wissenschaft selbst. Das kann nur heißen: vom Wert, den sie für den Menschen besitzt" 27 . Von Beginn an gelten Probleme literarischer Wertung als Fragen, mit denen die Anwendbarkeit wissenschaftlicher Ergebnisse für gesellschaftliche und pädagogische Praxis thematisch wird. Dieser Zusammenhang von Wissenschaft und Bildung, Literatur und Leben soll die vorliegende Untersuchung zur literarischen Wertung vorrangig bestimmen. Die praxisbezogene Dimension literaturwissenschaftlicher Wertungsdiskussion ist bis in die sechziger Jahre zwar kaum explizit reflektiert worden 2 8 ; dennoch bildete sie eine selbstverständliche Voraussetzung wertungstheoretischer Reflexion. Das wird schon daraus deutlich, daß namhafte Germanisten wie Korff 2 9 , Hass 3 0 , Killy 31 , Müller-Seidel 32 u. a. immer wieder Beiträge zur Frage der didaktischen Bedeutung der Wertungstheorie geliefert haben. Es gibt bis in die sechziger Jahre keine selbständige fachdidaktische Wertungstheorie, von vereinzelten Ansätzen bei Schönbrunn 33 abgesehen. Vielmehr ist die Geschichte W. Müller-Seidel 21969, S. X X / X X I . Ders. a. a. O. S. X X ; vgl. Ders. a. a. O. S. 32: „Denn wenn der humane Sinn zum Wesen der Wissenschaft gehört, dann gilt es diesen „Sinn" in ihr selbst von den jeweils veränderten Voraussetzungen her zu entdecken..."; vgl. ferner W. MüllerSeidel, Wertung und Wissenschaft im Umgang mit Literatur, in: DU 1969, 21. H. 3. Wieder abgedruckt in: P. Gebhardt (Hrsg.) 1980, S. 2 2 3 - 2 6 8 . 2 8 Das liegt nicht zuletzt an der untergeordneten Stellung, die Wertungsfragen innerhalb der Literaturwissenschaft bis in die sechziger Jahre hatten; auf Grund des z. T. positivistisch bestimmten Wissenschaftsbegriffs wurden sie als Randprobleme bezeichnet, bzw. ganz und gar aus der wissenschaftlichen Fragestellung ausgeblendet; vgl. dazu z. B. H. Seidler, Zum Wertungsproblem in der Literaturwissenschaft. In: Ders. Beiträge zur methodologischen Grundlegung der Literaturwissenschaft. Österr. Akademie der Wiss. Phil. hist. Kl. Sitzungsberichte Bd. 262. Wien 1969, S. 5 - 3 1 ; N. Mecklenburg, Kritisches Interpretieren. München 1972; W. Müller-Seidel 1969 a. a. O.; Ders. 2 1969, a . a . O . *> H. A. Korff, Zivilisationspädagogik. In: Die Erziehung 1929, S. 3 0 1 - 3 0 8 . 3 0 H. E. Hass 21970, a . a . O . 31 W. Killy, Bildungsfragen. München 1971. 3 2 W. Müller-Seidel, Nur die Welt der Zwecke? Zur Diskussion über Curricula, Kollegstufe und Deutschunterricht. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 118, 1976, 22./23. 5.; Ders. W. Müller-Seidel, Bildung in der veränderten Welt. Festrede anläßlich der Rabanusfeier am 3. 2. 1980. Ders. Bildung — was ist das? Mutmaßungen über ein großes Wort. München 1985 Telemanuskript-Dienst. 3 3 Vgl. die Diskussion W. Schönbrunns mit H. A. K o r f f über Zielsetzungen des Literaturunterrichts; W. Schönbrunn, Die Not des Literaturunterrichts in der großstädtischen Schule, in: Die Erziehung 1929, S. 252 ff.; vgl. auch H. J . Frank, Dichtung, Sprache, Menschenbildung. Geschichte des Deutschunterrichts von den Anfangen bis 1945, 2 Bde, Bd. 2, S. 729 ff. München 1976. 26 27

Interdisziplinäre Aspekte des Problems literarischer Wertung

5

literaturwissenschaftlicher Wertungsdiskussion zugleich auch Grundlage für die wechselnden Ziel- und Normbegründungen des Literaturunterrichts. Die einzelnen Phasen 34 der Wertungsdiskussion — die historisch-kulturpolitische, die nationalsozialistische, die werkimmanente und die wissenschaftstheoretisch orientierte Phase — bestimmen auch die Entwicklung der Wertdiskussion um den Literaturunterricht. Mit der in den sechziger Jahren eingeleiteten Wissenschafts- und Bildungsreform 3 5 wird diese in den traditionellen Wertungstheorien vorausgesetzte Einheit von Wissenschaft und Bildung allerdings obsolet. Im Zuge der grundsätzlichen Revision traditioneller Wissenschaftskonzeptionen sind auch veränderte Bedingungen für die literaturwissenschaftlichen und -didaktischen Wertungstheorien gegeben. Seit Ende der sechziger Jahre gibt es innerhalb der Literaturdidaktik verstärkt Ansätze zur Begründung einer eigenständigen, von fachwissenschaftlicher Diskussion abgespaltenen Wertungsdidaktik 36 . Diese Verselbständigung didaktischer Wertungskonzeptionen kann als Ausdruck einer fortschreitenden wissenschaftlichen Arbeitsteilung 37 verstanden werden: praxisbezogene Aspekte werden im Rahmen der Wertungsdidaktik behandelt, während die literaturwissenschaftlichen Wertungstheorien seit den sechziger Jahren v o r allem methodologisch orientiert sind. Damit ist jedoch die von Beginn an im Wertungsproblem implizit

34

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37

Zur Phaseneinteilung vgl. N. Mecklenburg (Hrsg.), Literarische Wertung. Tübingen 1977, S. XVII ff.; Ders. (Hrsg.), Zur Didaktik der literarischen Wertung. München 1975, S. 11 ff. Vgl. S. J. Schmidt, Literaturwissenschaft als argumentierende Wissenschaft, München 1974; J. Kolbe (Hrsg.), Ansichten einer künftigen Germanistik, München 1969; Ders. (Hrsg.), Neue Ansichten einer künftigen Germanistik, München 1973; E. Lämmert, Germanistik — eine deutsche Wissenschaft, Frankfurt/M. 1967; S. P. Robinsohn, Erziehung als Wissenschaft, hrsg. von F. Braun, D. Glowka, H. Thomas, Stuttgart 1973 usw. Vgl. z. B. Pilz/Kaiser, Literarische Wertung und Wertungsdidaktik Kronberg/Ts. 1976; N. Mecklenburg (Hrsg.), Zur Didaktik der literarischen Wertung. Frankfurt/Berlin/ München 1975; G. Waldmann, Theorie und Didaktik der Trivialliteratur. München 1973, 2 1977. W. Schemme, Trivialliteratur und literarische Wertung. Stuttgart 1975; Literarische Wertung, in: R. Dithmar (Hrsg.), Literaturunterricht in der Diskussion, Teil II. Kronberg/Ts. 1974, S. 1 2 9 - 1 7 2 usw. In neuerer Zeit gibt es Tendenzen, nicht mehr im allgemeinen Sinn von literarischer Wertung zu sprechen, sondern diesen Begriff aufzusplittern, indem literaturwissenschaftliche, literaturdidaktische und literarische Wertung unterschieden werden; vgl. E. J. Krzywon, Literarische Wertung. Zur Revision eines literaturtheoretischen und literaturpraktischen Begriffs, in: sub platano. Festgabe für A. Beinlich. Emsdetten: Lechte 1981, S. 470—484; vgl. auch: W. Seifert, Günther Fetzer: Wertungsprobleme in der Trivialliteraturforschung. München 1980. In: IASL, hrsg. von W. Frühwald u.a. 9. Bd. (1984), S. 1 9 0 - 1 9 6 .

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Einleitung

vorausgesetzte Einheit methodologischer, poetologischer und didaktischer Fragestellung auseinandergebrochen. Durch die Isolierung beider Disziplinen wird die Literaturwissenschaft um ihre praxisbezogene Dimension und die Literaturdidaktik um ihre poetologische verkürzt — (wobei allerdings eine Arbeitsteilung hinsichtlich der verschiedenen Aufgabenbereiche angebracht ist). Die Auswirkungen einer sich zunehmend spezialisierenden Wertungsdiskussion sind vor allem im Bereich der Literaturdidaktik und des Literaturunterrichts deutlich. Curriculumentwicklung und Lernzieldiskussion 38 haben gezeigt, welche Konsequenzen sich ergeben, wenn Wertbegründung nicht von der Literatur, sondern einseitig von vorgegebenen pädagogischen Zielvorstellungen her geleistet wird: der Verzicht auf eine gegenstandsspezifische Grundlegung des Literaturunterrichts hat dazu geführt, daß dieses Fach zunehmend unter Legitimationsdruck geriet und formal anderen Fächern gleichgestellt wurde. Literarische Bildung wurde nicht mehr als Möglichkeit eines sinnorientierten Handelns verstanden, sondern als Qualifikation zu instrumenteilen Handeln im Rahmen jeweils vorausgesetzter Zielsetzungen. Klagen über den Substanzverlust des Literaturunterrichts, über mangelnde literarische Kenntnisse sind an der Tagesordnung. 39 Vor dem Hintergrund der wissenschaftsgeschichtlichen, gesellschaftsund bildungspolitischen und literaturtheoretischen Entwicklungen der sechziger Jahre stellt sich die Aufgabe, das problematisch gewordene Verhältnis von Literatur und Bildung, Wissenschaft und Praxis neu zu reflektieren und am Beispiel der Wertungsdiskussion Wege einer notwendig gewordenen Vermittlung aufzuzeigen. Wertungsprobleme sind deshalb im Spannungsfeld von Literaturwissenschaft und -didaktik zu erörtern. Dabei liegt die These zugrunde, daß literarische Wertung die praxisbezogene Geltung literaturwissenschaftlicher Urteilsbildung deutlich werden läßt und deshalb auch ein Problem der konzeptuellen Abhängigkeit von Fachwissenschaft und -didaktik ist. Die skizzierte Themenstellung bedeutet zugleich eine Einschränkung des Untersuchungsgegenstandes. Thema der Arbeit ist in erster Linie 38

39

Vgl. E. Bauer/J. Weber/P. Werbik, Technokratische Tendenzen in der Curriculumrevision des Faches Deutsch, in: Gesellschaft und Schule, 1971 H. 3/4, S. 5 7 - 8 2 ; W. Müller-Seidel, Nur die Welt der Zwecke? a. a. O.; A . C. Baumgärtner/M. Dahrendorf (Hrsg.), Wozu Literatur in der Schule? Braunschweig 1970; H. Christ/H. Holzschuh/ V. Merkelbach/W. Raitz/J. Stückrath, Hessische Rahmenrichtlinien Deutsch. Analyse und Dokumentation eines bildungspolitischen Konflikts. Düsseldorf 1974; R. Dithmar (Hrsg.), Literaturunterricht in der Diskussion, 2 Bde. Kronberg/Ts. 1973 und 1974; H. Brackert/W. Raitz (Hrsg.), Reform des Literaturunterrichts. Eine Zwischenbilanz. Frankfurt 1974 usw. Vgl. H. Mainusch (Hrsg.), Literatur im Unterricht. München 1979; L. Bredella, Einführung in die Literaturdidaktik. Stuttgart 1976.

Historische Voraussetzungen

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die durch die Wissenschafts- und Bildungsreform der sechziger Jahre ausgelöste Neuorientierung gegenwärtiger Wertungstheorie und -didaktik. Ausgehend von der Frage nach den wissenschaftsgeschichtlichen, bildungs- und gesellschaftspolitischen Gründen für die Verselbständigung wertungsdidaktischer Reflexion werden im II. Teil unterschiedliche Positionen der literaturdidaktischen Wertungsdiskussion seit Anfang der siebziger Jahre dargestellt und auf ihre jeweiligen literaturtheoretischen und didaktischen Voraussetzungen hin analysiert. Im III. Teil der Untersuchung geht es darum, aus dem Überblick über unterschiedliche literaturwissenschaftliche Wertungstheorien des 20. Jahrhunderts Begründungsmodelle für eine literaturtheoretische Fundierung der Wertungskonzeption zu verdeutlichen. Der Rückgriff auf literaturwissenschaftliche Wertungsansätze hat vor allem den Sinn, die in der gegenwärtigen Diskussion verlorengegangene Einheit von methodologischen, ästhetischen und funktionalen Aspekten der Wertungstheorie zurückzugewinnen und Möglichkeiten einer Vermittlung von Literatur und Leben, Wissenschaft und Praxis zu rekonstruieren. Im IV. Teil der Analysen wird versucht, die Ergebnisse didaktischer und literaturwissenschaftlicher Wertungsdiskussion für Fragen der Wertungspraxis fruchtbar werden zu lassen. Die Themenstellung impliziert eine bestimmte Konzeption literarischer Wertungsdidaktik. Es geht nicht primär um Fragen allgemeiner pädagogischer Normbegründung des Literaturunterrichts. Literarische Wertungsdidaktik wird vielmehr als Voraussetzung verstanden, Theorie und Praxis des Literaturunterrichts durch den Rekurs auf ihren eigentlichen Gegenstand, die Literatur, zu begründen. Literarische Wertungsdidaktik wird unter der Perspektive eines notwendigen Zusammenhangs von ästhetischer und pädagogischer 40 Fundierung des Literaturunterrichts erörtert. Es wird davon ausgegangen, daß der Bildungswert von Literatur wesentlich von dem her zu bestimmen ist, was Literatur ist und zu leisten vermag 41 . 1.2. Historische Voraussetzungen: Tendenzen literaturwissenschaftlicher und -didaktischer Wertungsdiskussion bis 1965 Bevor die neueren Wertungskonzeptionen seit Ende der sechziger Jahre dargestellt werden, sollen zunächst ihre historischen Voraussetzungen 40

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Vgl. auch W. Henze, Poetik und Didaktik. In: W W 13 (1963), H. 6, S. 354 ff.; L. Bredella, Ästhetische und funktionale Kategorien in der Literaturdidaktik, in: R. Dithmar, Literaturunterricht in der Diskussion. Bd. 2 a . a . O . , S. 129 — 145. Zum methodischen Stellenwert der Untersuchung vgl. das Kapitel über die bildungstheoretischen Begründungen der Wertungsdidaktik s. u.

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durch einen knappen Rückblick auf traditionelle Wertungstheorien verdeutlicht werden. 42 Traditionelle Wertungsansätze sind unter der Perspektive des zugrundeliegenden Literatur- und Wissenschaftsbegriffs und der jeweiligen Wertungskriterien zu analysieren. Es geht dabei um die Frage, inwiefern literaturwissenschaftliche Wertungstheorien zugleich Maßstab pädagogischer Entscheidungsfindung sein konnten und welche Probleme letztlich zur Ablösung didaktischer von literaturwissenschaftlichen Wertungstheorien geführt haben. An traditionellen Wertungskonzeptionen ist der unmittelbare Zusammenhang von literaturwissenschaftlichen und -didaktischen Wertbegründungen zu skizzieren. Die Entstehung literaturwissenschaftlicher Wertungsdiskussion um 1920 steht in engem Zusammenhang mit einer Revision traditioneller Poetik. Wertungsreflexion erscheint bei Walzel und Ermatinger als Versuch, nach der Auflösung der Normen traditioneller Poetik im Rahmen der Wissenschaft neue objektivierbare Kriterien der Urteilsbildung zu reflektieren 43 . Ermatinger fordert, Wertungsreflexion „auf theoretisch-methodische Grundsätze zu gründen" 44 , da Methodenreflexion als eine zentrale Möglichkeit angesehen wird, der „Anarchie des Urteils" zu begegnen und „subjektivistische Willkür, so weit es geht, einzuschränken" 45 . Dennoch wird Wertungsreflexion zu Beginn nicht im Rahmen methodologischer Reflexion, sondern im Rekurs auf das ästhetische Erlebnis gerechtfertigt. So betont Walzel, daß „begriffliche Erkenntnis, daß Wissenschaft nie an das Eigentliche des Kunstwerks und seiner Wirkung heranreiche" 46 . Das Problem einer Objektivierung von Wertungen wird nicht durch eine Analyse des Kunstcharakters zu

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Da die traditionelle Wertungsdiskussion bis 1965 in der vorliegenden Untersuchung nicht im einzelnen aufgearbeitet wird, sei auf folgende Textsammlungen und Forschungsberichte verwiesen: N. Mecklenburg (Hrsg.), Literarische Wertung, Tübingen 1977; G. Pilz/E. Kaiser, Literarische Wertung und Wertungsdidaktik, a.a.O.; I. Degenhardt (Hrsg.), Literarische Wertung. Stuttgart 1979. J. Schulte-Sasse, Literarische Wertung. Stuttgart 2 1976. R. von Heydebrand, Literarische Wertung. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Begr. v. P. Merker/W. Stammler, 2. Aufl. neu bearbeitet von W. Kohlschmidt und W. Mohr unter red. Mitarbeit von K . Kanzog Bd. 1 - 3 Berlin 1958; Bd. 4 hrsg. von K. Kanzog u. A. Masser, 1984, S. 8 2 8 - 8 7 1 . Das Manuskript der vorliegenden Untersuchung hat R. v. Heydebrand ab Ende 1985 vorgelegen. Vgl. O. Walzel, a. a. O.; vgl. E. Ermatinger, a. a. O. S. 2: „Was sich aber heute, als Verschiedenheit der Bewertung..., kundgibt, ist in Wahrheit Unsicherheit: man hat einfach den Maßstab verloren". E. Ermatinger, a. a. O. S. 4. Ders. a. a. O. S. 4. O. Walzel 1923, a.a.O. S. 30.

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lösen versucht. Nicht das, was „hohe Kunst" ist, steht zur Debatte. Die Frage, welche Literatur zum festen Kanonbestand zu zählen ist und welche nicht, gilt vielmehr durch „Autorität" und Konsens geregelt. So schreibt Ermatinger: „Auch die objektivste Literaturgeschichte wird Goethe auf zehnmal mehr Seiten besprechen als etwa Geibel, und der gerechteste Tageskritiker hütet sich davor, seine Leser zu langweilen, indem er den Tagesschund mit der gleichen Liebe und Ausdauer beschreibt wie das literarisch wertvolle — längst anerkannt wertvolle! — Stück von Shakespeare oder Kleist" 4 7 .

Literarische Wertung wird in den Anfangen literaturwissenschaftlicher Wertungsdiskussion nicht als Reflexion auf Kriterien der Literarität verstanden, — ein relativer Konsens über die Hierarchie literarischer Werke und Werte ist vielmehr ebenso als Grundlage von Wertungstheorie vorausgesetzt wie die Uberzeugung, daß die Erkenntnis literarischer Werte letztlich nur durch ästhetisches Werterleben und literarische Geschmacksbildung gelingen kann. Mit der methodischen Fundierung der Wertungskonzeption gilt vielmehr die Reflexion auf Gesetze des Zusammenhangs von Literatur und Geschichte, Kunst und Kultur als eigentliche Aufgabe der Wertungstheorie. Die Theorie literarischer Wertung zielt bei Walzel und Ermatinger darauf, angesichts von Historismus und Kulturkrise allgemeine Kriterien bereit zu stellen, mit denen die Bedeutung der Literatur in wechselnden zeitgeschichtlichen und kulturellen Zusammenhängen bewertet werden kann. Es geht darum, den „notwendigen Wechsel der Bewertung in verschiedenen Zeiten" 48 und in „demselben Zeitalter" 48 zu erklären. „Die Wertung des Kunstwerks hat deshalb das Auf und Ab der Kultur eines Volkes zu berücksichtigen" 49 . Bei Ermatinger ist die geschichts- und kulturphilosophische Reflexion der methodische Weg zur Bestimmung von verbindlichen Maßstäben literarischer Wertung. „Es gilt, dem Einzelurteil den Makel der Willkür und Ratlosigkeit dadurch zu nehmen, daß man es als geschichtlich notwendige Äußerung des Zeitbewußtseins zu erkennen gibt" 50 . Die Art des Verhältnisses von Kunst und Zeitbewußtsein erscheint bei Walzel und bei Ermatinger dabei als Maßstab der Wertung. Als Kriterien sind z. B. genannt: „größere oder geringere Fähigkeit, den Zeitgehalt auszudrücken" 51 , Lebensbedeutsamkeit, Kunst als „Gleichnis" von 47 48 4 50 51

E. Ermatinger, a. a. O. O. Walzel, a. a. O. S. 29. Ders. a. a. O. S. 28. E. Ermatinger, a. a. O. S. 5. O. Walzel, a. a. O. S. 28.

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„allgemeinen Lebensgesetzen" 52 . Aber diese Reflexion auf Zusammenhänge zwischen Kunst und Zeitgeschichte ist nicht im Sinn einer bloßen Historisierung von Literatur gemeint. Wertungstheorie wird auch als Versuch begriffen, jenes bereits von Dilthey 53 formulierte Grundproblem zu lösen, wie trotz der notwendig wechselnden Werturteile zugleich allgemeine Gesetzmäßigkeiten der Beurteilung von Kunst formuliert werden können. Vorausgesetzt wird dabei ein „Gemeinsames", „Allgemeinmenschliches", „über der Zeit Stehendes" 54 , das als Bedingung echter Kunst ihre zeitgeschichtliche und kulturelle Bedeutung erst ermöglicht. Der Weg zur Bestimmung dieser metahistorischen Kategorien ist in den Anfängen der Wertungsdiskussion unterschiedlich. Bei Walzel ist die in der Kunst verwirklichte Einheit von Gehalt und Gestalt Maßstab der Bewertung, bei Ermatinger sind es außerästhetische und kulturphilosophische Kategorien. Für Walzel erfordert die Frage nach dem literarischen Wert eine Analyse von Zusammenhängen zwischen den Gestaltwerten der Kunst und ihren Bezügen auf übergeordnete Zeitgehalte: „Es ist die schönste, aber auch die schwerste Aufgabe, die sich dem Erforscher der Kunst stellt, aus ihren Gestaltungen diese geheimsten Zeitgehalte herauszuschälen" 55 . Allerdings sind Urteile über das „Allgemeinmenschliche in der Kunst" 56 nach Walzel nicht durch wissenschaftliche Reflexion zu erbringen, sondern „allerletztes Ergebnis langer und mühsamer Kulturarbeit" 57 , die „größten Spürsinn" und ein „allerfeinstes Ohr" 58 erfordert. Für Ermatinger sind die Maßstäbe literarischer Wertung nur durch kultur- und geschichtsphilosophische Betrachtungen zu formulieren. Ausgehend von einer in Anlehnung an Troeltsch 59 entwickelten Kulturtheorie wird die Unterscheidung von ,technisch-mechanistischen' und ,weltanschaulich-religiösen' Zeitströmungen zur Basis literarischer Wertbestimmung 60 . Literarische Werke sind nach Ermatinger dann hochzuwerten, wenn sie „das geistige Leben, und zwar nicht in der Form des rechnenden und konstruierenden Verstandes, sondern als Echtheit des Seelischen, Wahrheit des Gemüts,

52 53 54 55 56 57 58 59 60

E. Ermatinger, a. a. O. S. 6. W. Dilthey, Gesammelte Schriften. Bd. V I a. a. O., S. 126. O. Walzel, a. a. O. S. 28. Ders. a. a. O. S. 29. Ders. a. a. O. S. 28. Ders. a. a. O. Ders. a. a. O. S. 29. E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme. Halle 1922. E. Ermatinger, a. a. O. S. 7 f.

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Tiefe des religiös-weltanschaulichen Erlebnisses" 61 zum Ausdruck bringen. In diesem Sinn wird Raabe, Stifter, Jean Paul ein größerer literarischer Wert zugeschrieben als Otto Ludwig und den „impressionistischen Kunsthandwerkern des Naturalismus" 62 , Barock und Grimmelshausen werden höher bewertet als Lessing und die Aufklärung 63 . Von Beginn an ist ein Dilemma der literaturwissenschaftlichen Wertungsdiskussion deutlich: einerseits wird das Problem literarischer Wertung als kulturpolitische Aufgabe verstanden, da es darum gehe, die praxisbezogene und humane Bedeutung literaturwissenschaftlicher Urteilsbildung nach dem Zusammenbruch traditioneller Wertsysteme 64 neu zu vergegenwärtigen. Andererseits ist literarische Wertung als eine Fragestellung gekennzeichnet, die sich mit den Mitteln wissenschaftlicher Methodik nicht ausreichend lösen läßt, sondern auf Geschmacksempfinden, literarische Bildung, bzw. philosophische, religiöse, kulturgeschichtliche Reflexion verwiesen bleibt 65 . In den Versuchen, den literarischen Wert im Rückgriff auf soziale, kulturelle, ethische Werte zu rechtfertigen, wird zwar die notwendige Verflochtenheit von ästhetischen, ethischen und kulturellen Kategorien vorausgesetzt, gleichzeitig aber deutet sich die Gefahr einer Ideologisierung 66 von Literatur und Literaturwissenschaft an, wie sie in der nationalsozialistischen Phase der Wertungsdiskussion unverkennbar vor allem bei Petersen 67 zu Tage tritt. Mit der Historisierung der Wertungskonzeption in den zwanziger und dreißiger Jahren wird die Frage der Vermittlung von ästhetischen 61 62 63 64

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Ders. a. a. O. S. 8. Ders. a. a. O. Ders. a. a. O. Vgl. auch H. Broch, Das Böse im Wertsystem der Kunst. In: H. Broch, Schriften zur Literatur 2, hrsg. von P . M . Lützeler. Frankfurt 7, S. 1 1 9 —156; auch Broch begründet die Notwendigkeit der Wertreflexion aus dem „Zusammenbruch des materiell-wirtschaftlichen Wertgebietes ... in Verbindung mit dem Zusammenbruch des umfassenden Gesamtwertsystems" (ebd. S. 121). Er fordert „... eine Neufixierung der Werte... jenen neuen geistigen Zusammenschluß, von dem aus erst eindeutig und rational wieder bestimmt werden kann, was Wert und Unwert ist" (ebd. S. 121). Als kulturelle Aufgabe ist Wertreflexion auch bei Broch auf den Zusammenhang von ästhetischen und ethischen Werten gerichtet, das „ästhetische Phänomen" erscheint als Resultat der „ethischen Konstitution der Zeit" (123). Vgl. auch M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materielle Wertethik, 1 9 1 3 ff., 4 1954; H. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft. 1899, 1926. Vgl. auch H. Broch, ebd. S. 121, S. 125 ff. Vgl. u.a. J. Schulte-Sasse, Autonomie als Wert, in: Literatur und Leser, hrsg. von G. Grimm. Stuttgart 1975, S. 1 0 1 — 1 1 8 . N.Mecklenburg, Kritisches Interpretieren. München 1972. Vgl. J. Petersen, Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. Berlin 1939.

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und funktionalen Wertbestimmungen zum offenen Problem, wie z. B. die Ansätze Berigers 68 und Pfeiffers 69 zeigen. Die literaturwissenschaftlichen Wertungsansätze der zwanziger und dreißiger Jahre finden in den pädagogischen Begründungen des Literaturunterrichts jener Zeit ihren Niederschlag. Die Vielfalt funktionaler, d. h. kulturphilosophischer, zeitgeschichtlicher, religiöser, nationaler Wertbestimmungen von Literatur spiegelt sich in der Vielfalt der unterschiedlichen Zielbegründungen des Literaturunterrichts 70 . Wie u. a. auch an den Lesebüchern dieser Zeit abzulesen ist, wird Literaturunterricht als Mittel kulturkundlicher Bildung, als Form nationaler Erziehung, als Lebenshilfe, als Vermittlung kulturellen Erbes, als Stilerziehung usw. verstanden 71 . Die Funktionalisierung der Wertungsreflexion führt jedoch Ende der zwanziger Jahre zu frühen Versuchen einer Verselbständigung der Wertungsdidaktik, wie der Literaturstreit zwischen Schönbrunn, Havenstein, Neumann und Korff belegt 72 . Angesichts der Historisierung von Literatur und Literaturunterricht fordert Schönbrunn 73 die Revision des traditionellen Kanonbestandes. Gegen bisherige, an der ästhetischen Qualität der Literatur orientierte Auswahlentscheidungen postuliert Schönbrunn eine funktionale, schülerorientierte Fundierung des Literaturunterrichts. Die innerhalb literaturwissenschaftlicher Wertungsansätze in Anlehnung an Dilthey geprägte Formel von der Dichtung als „Organ des Lebensverständnisses" läßt sich nach Schönbrunn nur durch eine Umorganisierung von Inhalt und Methode des Literaturunterrichts einlösen. Angesichts der kulturpädagogischen Aufgabe des 68

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L. Beriger, Die literarische Wertung. Ein Spektrum der Kritik. Halle 1938. Neben ästhetischen Werten wie Sprache, Gattung, Symbolik werden außerästhetische Werte wie Ethos, Weltanschauung, das Religiöse, das Nationale genannt. J. Pfeiffer, Umgang mit Dichtung. Leipzig 1936, " 1 9 6 7 , S. 4 1 - 6 7 . Vgl. die Vermischung v o n weltanschaulichen und ästhetischen Kategorien in den Wertungskriterien „echt/unecht", „ursprünglich/nicht-ursprünglich", „gestaltet-geredet"; (vgl. dazu auch Oppel, Kayser, Lockemann, Seidler). Vgl. H. J . Frank, a. a. O. Bd. 2; Th. Brüggemann, Grundideen der Literaturpädagogik von 1900 bis heute, Ratingen 1962, in: H. Müller-Michaels (Hrsg.), Literarische Bildung und Erziehung. Darmstadt 1976, S. 6 9 — 1 0 2 . Vgl. H. Helmers (Hrsg.), Die Diskussion um das deutsche Lesebuch. Darmstadt 1969; Ders. Geschichte des Lesebuchs in Grundzügen. Stuttgart 1970; W. Killy, Zur Geschichte des deutschen Lesebuchs (1966), in: W. Killy, Bildungsfragen, a . a . O . S. 6 3 - 8 8 . Vgl. H. J. Frank, a . a . O . S. 7 2 9 - 7 4 8 . W. Schönbrunn, Die Not des Literaturunterrichts in der großstädtischen Schule, a. a. O. Ders., Demokratisch-republikanische Erziehung, in: Monatsschrift für höhere Schulen 29. Jg. 1930, S. 5 3 7 - 5 4 9 . Ders., Kann moderne Dichtung in der Schule gelesen werden? in: Die Erziehung 1932, S. 335 — 349.

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Literaturunterrichts sei der Bestand an klassischer Literatur zu ergänzen durch Alltags- und Gebrauchstexte, durch Jugendliteratur, moderne Literatur und publizistische Texte. Die Literaturauswahl müsse durch einen unmittelbaren Bezug zur Lebenswirklichkeit bestimmt sein; ästhetische Betrachtungsweisen seien abzulösen durch kommunikative Redeübungen, durch soziologische und politische Analysen 74 . Die Vorschläge Schönbrunns wurden von vielen Germanisten — vor allem von Neumann 75 und Korff 76 — aufs heftigste befehdet. Der Bildungswert der Literatur für die individuelle Lebenspraxis lasse sich — so Neumann — nur im Rückgang auf den klassischen Kanonbestand begründen, da nur sog. hohe Literatur „das ideale Ziel (habe), Urformen des Daseins und Grundgestaltungen des Lebens aufzuzeigen" 77 . Die Frage nach der Funktion von Literatur für Bildungsprozesse ist nach Neumann und Korff keine Frage ihrer instrumentellen Verfügbarkeit, sondern ein Problem ihrer qualitativen Bedeutung für das „Daseinsverständnis" 78 . Diese gegensätzlichen Auffassungen — ästhetische vs. funktionale Fundierung des Literaturunterrichts — blieben unvermittelt. Die Versuche einer Verselbständigung wertungsdidaktischer Reflexion blieben Episode. Bis in die sechziger Jahre steht die Theorie literarästhetischer Bildung im Gesamtzusammenhang übergeordneter literaturwissenschaftlicher, pädagogischer und kulturphilosophischer Wertbegründung 79 . Ein grundsätzlich anderes Wertungsmodell bestimmt die Diskussion in den vierziger / fünfziger Jahren. Gegenüber den weitgehend geistesgeschichtlich und kulturpolitisch begründeten Wertungsansätzen der zwanziger und dreißiger Jahre ist die Wertungstheorie der werkimmanenten Schule (Kayser, Staiger, Wehrli, Seidler, Wutz u.a. 8 0 ) in ausdrücklicher Gegenbewegung gegen funktionale Wertungsansätze konzipiert: „Für die Literaturwissenschaft hatte diese äußerste Historisierung die bedenkliche Folge, daß das Gefühl für künstlerische Qualität verfiel

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Vgl. ebd. F. Neumann, Schule und Leben im Literaturunterricht, in: Die Erziehung 1929, S. 4 4 3 - 4 4 9 . H. A . K o r f f , Zivilisationspädagogik, a. a. O. F. Neumann, a. a. O. S. 448. Vgl. auch M. Zollinger, Literaturkritik im Unterricht (1928), in: N. Mecklenburg (Hrsg.), Zur Didaktik der literarischen Wertung, a . a . O . S. 34—42. Vgl. z. B. W. Flitner, Vom Kanon der literarischen Bildung, in: Flitner, Grund- und Zeitfragen der Erziehung und Bildung. 1954, S. 57—75; R. Minder, Dichter in der Gesellschaft. Darmstadt o. J.; Ders., Soziologie der deutschen und französischen Lesebücher (1953) in: H. Helmers, a . a . O . 1969. Siehe LVZ.

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und mit ihm das kritische Urteil", schreibt Vietor 194581. Nicht die Bedeutung der Literatur in Gesellschaft und Kultur ist Thema werkimmanenter Wertungsreflexion, sondern die Kategorien der Literarität selbst. Wertungsreflexion ist auf das „So-Sein des Gegenstandes" 82 gerichtet und betrifft Probleme einer Rangordnung künstlerisch wertvoller Werke bzw. einer Unterscheidung von Kunst und Nichtkunst. Die Frage nach Kriterien der Bewertung von Literatur wird durch eine Bestimmung jener Elemente zu beantworten versucht, die unverzichtbar zum Wesen guter Kunst hinzugehören. Werterkenntnis ist als Wesenserkenntnis von Literatur begriffen. „Unter Maßstäben der literarischen Wertung, so wird klar, hätte man sich allgemeine und apriorische Beschaffenheiten von Gedichten vorzustellen, die Bedingungen für den positiven Wert dichterischer Werke darstellten ... dazu muß das sachliche Wesen dichterischer Kunstwerke allererst geklärt sein" 83 . Die Fragen von T. S. Eliot „What is poetry" und „Is this a good poem" gelten als Grundfragen der Wertung 84 . Die angegebenen Kriterien sind zwar unterschiedlich; es werden genannt: Stimmigkeit, Einheit, Ganzheit, Spannungsfülle, Gefügtheit usw. 85 ; immer sind es jedoch Qualitäten, die die „ästhetischen Gegenständlichkeiten" der „Sache selbst" 86 bezeichnen. Zwar wird die Berechtigung funktionaler und historischer Wertung von W. Kayser nicht bestritten 87 . Aber die Bedeutung geschichtlicher Wertung für die Erkenntnis der Kunstwertigkeit wird geleugnet: „...das Sein der Dichtung aber wird dabei verfehlt. Zu dem Problem der künstlerischen Qualität und ihrer Wertung kann von daher kein Beitrag kommen" 88 . In der Reflexion auf das „Wesen" der Kunst bleiben Fragen der Beziehung zwischen Kunst und Lebenspraxis ausgeblendet, bzw. es wird eine „letztliche Identität von Ästhetischem und Allgemeinmenschlichem als selbstverständlich, keiner Reflexion bedürftig vorausgesetzt" 89 . In werkimmanenten Wertungskonzepten ist ein unmittelbarer Zusammenhang von Beschreiben, Interpretieren und Werten gege-

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K . Vietor, Deutsche Literaturgeschichte als Geistesgeschichte. Ein Rückblick. In: Publications of Modern Language Association 60, 1945. H. E. Hass, Das Problem der literarischen Wertung, a. a. O. S. 6. H. Wutz, Zur Theorie der literarischen Wertung. Tübingen 1957 zit. aus: H. Wutz, in: P. Gebhardt, Literaturkritik und literarische Wertung, a . a . O . S. 163—187, S. 171. T. S. Eliot, On Poetry and poets. 1957. Vgl. auch J . Schulte-Sasse, a . a . O . S. 3 9 f f . . H. Wutz, a . a . O . S. 175. W. Kayser, Literarische Wertung und Interpretation, zit. nach P. Gebhardt, a. a. O. S. 156 ff., S. 149 f. W. Kayser, a . a . O . S. 150. B. Lindner, Probleme der literarischen Wertung, a. a. O. S. 450.

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ben. Wertung gilt als Form der Interpretation: „Die Wertung liegt in der Interpretation beschlossen" 90 . Literarische Wertung wird somit als Form der Sprachanalyse, der Stil-, Motiv-, Gattungsanalyse, d. h. als „Gehalt-Gestalt"-Interpretation vollzogen. In diesem Bezug auf das „So-Sein des Gegenstandes" wird zugleich die pädagogische Bedeutung der Wertungstheorie gesehen: Wertungstheorie habe — so schreibt Seidler — die Aufgabe, „... die Leser zum wertvollen Buch hinzuführen, es ihnen zu deuten, zu erklären, nahe zu bringen" 91 . Literarische Wertung erscheint als Mittel literarischer Bildung und ästhetischer Erziehung 92 . Theorie und Praxis des Literaturunterrichts der fünfziger und sechziger Jahre sind z. T. in enger Anlehnung an Ziele und Verfahren der literaturwissenschaftlichen Wertungsdiskussion entwickelt; z. T. gibt es jedoch auch Tendenzen der Ablehnung eines einseitig ästhetisch begründeten Literaturunterrichts. Das Bild ist nicht einheitlich 93 . Stolte 94 betont z. B., daß der erzieherische Auftrag von Literatur nicht aus dem zu begründen sei, was Literatur „an und für sich selber sei" 95 , sondern im Rückgang auf ihre Bedeutung für die individuelle Lebenspraxis bestimmt werden müsse. Andererseits gibt es eine Reihe von Autoren wie Nentwig, K. Gerth, H. Helmers, Helmich, Seidemann 96 u. a., die das Ziel des Literaturunterrichts ganz im Sinn werkimmanenter Wertungskonzeption darin sehen, „dichterische Werte bewußt zu machen" und „dichterische Wertmaßstäbe gewinnen zu lassen" 97 . Werterziehung besteht nach Gerth in der „Hinführung zur Dichtung als Dichtung, und das bedeutet Hinführung zu ihrer Gestalt, zu den Formen, die die Dichtung als ästhetisches Gebilde von allen anderen Weisen sprachlicher Gestaltung unterscheiden" 98 . Auch die Auswahl der Lesestoffe und die Gestaltung von Lesebüchern 99 spiegeln Intentionen werkimmanenter Wertungsansätze. Litera90 91 92 93

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W. Kayser, a . a . O . S. 156. H. Seidler, a . a . O . S. 13. Vgl. H. Seidler, H. E. Hass, a. a. O. Vgl. O. Schober, Studienbuch Literaturdidaktik. Kronberg/Ts. 1977; H. Müller-Michaels, Positionen der Deutschdidaktik seit 1949. Kronberg/Ts. 1980. H. Stoite, Drei Aspekte des literaturkundlichen Unterrichts, in: Pädagogische Rundschau, Jg. 15 (1961), S. 9 2 - 1 0 0 . H. Stolte, a . a . O . S. 92. Vgl. LVZ. W. Seidemann, Der Deutschunterricht als innere Sprachbildung, hrsg. von P. Nentwig. Heidelberg 1959, S. 131. K . Gerth, Dichtung in der Volkschule, in: Die deutsche Schule, 54. Jg. (1962), S. 373; vgl. auch W. Henze, Poetik und Didaktik, a. a. O. Vgl. O. Schober, a . a . O . ; H. Helmers (Hrsg.), Die Diskussion um das deutsche Lesebuch, a . a . O . ; O. Schober, Lesebuch. In: K . Stocker (Hrsg.), Taschenlexikon der Literatur- und Sprachdidaktik. Kronberg/Ts. 1976, S. 2 1 4 ff.

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Einleitung

rische bzw. gattungsorientierte Lesebücher, in denen Texte nach den Gesichtspunkten literarischer Qualität und Repräsentanz ausgewählt sind, verdrängen zunehmend die kulturkundlichen, sachkundlichen, geistesgeschichtlichen und historisch-national orientierten Lesebücher der zwanziger und dreißiger Jahre. Vor allem in den methodischen Anleitungen zum Umgang mit Literatur sind die Anklänge an die werkimmanente Wertungspraxis deutlich: elementarisierende Sprachund Stilübungen, Gattungs- und Formanalysen, vergleichende Interpretationen haben bis heute ihren festen Platz in den Methodiken des Literaturunterrichts behalten. Mecklenburg betont noch 1975 die „Leistung der werkimmanenten Richtung für eine Wertungsdidaktik" 100 , weil sie es ermöglicht habe, „... durch ... Übertragung der literaturwissenschaftlichen Form- und Stilanalyse die Methodik der literarischen Wertung im Deutschunterricht gegenüber früheren Praktiken erheblich zu bereichern und zu verfeinern .,." 1 0 1 . Mit der Übernahme ,werkimmanenter' Konzeptionen in die Literaturpädagogik lebt jedoch um 1960 die alte Kontroverse um den Bildungsauftrag des Literaturunterrichts wieder auf 102 , die Ende der sechziger Jahre schließlich zur Verselbständigung der Wertungsdidaktik führt. Ausgelöst wird diese Auseinandersetzung durch die Frage nach der pädagogischen Begründbarkeit eines ästhetisch fundierten Literaturunterrichts. Sofern Überlegungen zum Zusammenhang von Kunst und Lebenswelt innerhalb werkimmanenter Konzeptionen ausgeblendet bleiben, entsteht für die Wertungsdidaktik die Schwierigkeit, pädagogische Maßstäbe für den Bildungswert von Literatur zu formulieren. Zwar betont W. Kayser mit Recht, daß innerhalb der Wertungsdidaktik pädagogische und ästhetische Gesichtspunkte zu vermitteln seien, da im Literaturunterricht neben der Dichtung „... immer zugleich oder vielleicht sogar zuerst der Aufnehmende mit seinen Möglichkeiten im Blickfeld steht" 103 . Dennoch sei die pädagogische Bedeutung von der Literatur selbst her zu begründen: „der funktionalen Betrachtungsweise wird die künstlerische übergeordnet" 104 . Werterziehung wird als „Erziehung zur künstlerischen Empfänglichkeit" 105 begriffen. Bei zahlreichen Literaturdidaktikern findet diese Auffassung ihren Niederschlag. So N. Mecklenburg (Hrsg.), Zur Didaktik der literarischen Wertung a . a . O . S. 14. Ders. a. a. O. ; vgl. auch R. Ulshöfer, Methodik des Deutschunterrichts, Stuttgart 1952 ff., 6 1 9 7 2 f f . ; E. Essen, Methodik des Deutschunterrichts. Heidelberg 3 1962. 102 Vgl. O. Schober, a. a. O. S. 35 ff; H. Heuermann/P. Hühn/B. Röttger, Literatur und Didaktik 1. Göttingen 1973; W. Henze, Poetik und Didaktik a . a . O . 103 w Kayser, Typoskript zit. nach W. Henze, Poetik und Didaktik a. a. O. S. 267. 104 Ders. a. a. O. S. 269. 105 Ders. a. a. O. S. 269.

100 101

Historische Voraussetzungen

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schreibt Helmich 1961: „Die meiste Dichtung hat keinen Zweck, auch keinen pädagogischen Zweck. Sie ist auch nur zu einem geringen Teil ... dem Verfahren einer intentionalen Erziehung einzufügen" 106 . Andererseits zeigt bereits diese Äußerung eine unaufhebbare Diskrepanz zwischen dem pädagogischen und dem gegenstandsbezogenen Bildungsauftrag des Unterrichts; die Frage, wie Literatur im konkreten Bildungsgeschehen pädagogisch wirksam werden kann, bleibt ein offenes Problem. Eine Durchsicht von Präambeln der Lehrpläne, von Lesebuchkommentaren und didaktischen Anleitungen zum Literaturunterricht bestätigt dieses Mißverhältnis; es findet sich eine Fülle von Leerformeln — Lebenshilfe, Daseinsdeutung, Idealbildung —, wenn es darum geht, den Bildungswert von Literatur zu bestimmen. Anläßlich einer Betrachtung von Lehrplänen stellt W. Killy 1961 fest: „Wenn man die — immer mißliche — generelle Charakterisierung wagt, so stehen in diesen Lehrplänen die .pädagogischen' Gesichtspunkte vor den von der Sache gebotenen, und häufig die .weltanschaulichen' vor denen der Qualität" 107 . In einem grundlegenden Aufsatz zum Verhältnis von Poetik und Didaktik in den fünfziger / sechziger Jahren vertritt Henze in ähnlicher Weise die Auffassung, daß die Trennung von ästhetischen und pädagogischen Kategorien zur dichtungsfremden Pädagogisierung und Funktionalisierung des Literaturunterrichts unter weltanschauliche, konfessionelle, außerästhetische Zwecksetzungen führe 108 . Während so von den Anhängern werkimmanenter Wertungsdidaktik Tendenzen der Ideologisierung des Literaturunterrichts bemängelt werden, beklagen die Gegner eine einseitige Formalisierung und Ästhetisierung des Unterrichts 109 . Die Gegensätze bleiben unvermittelt. Als das eigentliche Dilemma der sich an die literaturwissenschaftliche Wertungsdiskussion anschließenden Wertungsdidaktik sieht Henze den unaufhebbaren „Dualismus von künstlerischen und funktionalen Werten" 110 , und er fügt hinzu, daß es die Didaktik „... schwer haben (wird), den Dualismus ... zu bewältigen, solange die Literaturwissenschaft in ihrer Suche nach Maßstäben der literarischen Wertung das von Hass beschriebene Spektrum der Wesens- und Wertbestimmungen in einen ästhetischen 106

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W. Helmich, in: Handbuch des Deutschunterrichts im ersten bis zehnten Schuljahr, hrsg. von A . Beinlich. Emsdetten 2 1 9 6 1 , S. 90. W. Killy, Bildungs- und Halbbildungspläne, in: W. Killy, Bildungsfragen, a. a. O. S. 133. W. Henze, Poetik und Didaktik a. a. O. S. 282. Vgl. Henze, a . a . O . S. 266; H. Stolte, Drei Aspekte..., a . a . O . vgl. O. Schober, Studienbuch Literaturdidaktik, a. a. O. S. 41 ff. W. Henze, a . a . O . S. 282.

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Einleitung

und einen außerästhetischen Komplex zerlegen muß und die „Synthese" dieser Wertkriterien „nur theoretisch zu denken" ist" 111 . In Abgrenzung von einseitig objektbezogenen 112 Wertungskonzeptionen gibt es seit Mitte der sechziger Jahre Wertungsansätze, die auf die Vermittlung von ästhetischen und historischen Bezügen der Literatur gerichtet sind. Im Gegenzug gegen ,werkimmanente' Wertungstheorien wird Wertung bei Emrich, Hass, Lockemann, Müller-Seidel 113 nicht nur als Frage nach der Literarität begriffen, sondern als Problem des Zusammenhangs von Kunst und Geschichte, Literatur und Lebenswelt 114 . Wie Hass ausführt, ist „der literarischen Wertung weder die Grenze eines rein ästhetischen Urteils, noch die Grenze eine historisch relativierenden Urteils gezogen. Weder die Zeitlosigkeit noch die Geschichtlichkeit bestimmen allein die Wertung, sondern beide Momente der Dichtung, sich wechselseitig durchdringend, werden von der Wertung hineingenommen in den überwerklichen Bezug..." 1 1 5 .

Die Aufgabe der Wertungstheorie wird von den gen. Autoren übereinstimmend darin gesehen, „die historische Relativierbarkeit ästhetischer Maßstäbe in die Wesensbestimmung der Kunst ,.." 1 1 6 miteinzubeziehen. Im Unterschied zu den Wertungsansätzen der zwanziger und dreißiger Jahre sind die Wertungsmaßstäbe dabei nicht von den kulturellen, geistesgeschichtlichen, sozialen Kontextbedingungen der Kunst her formuliert, sondern im Rückgang auf die im ,So-Sein' der Kunst verwirklichte Einheit von ästhetischen und außerästhetischen Bezügen. Es ist die durch Literatur vollzogene Deutung und Umdeutung lebensweltlicher Realität, die bei Hass, Emrich, Müller-Seidel, Lockemann als Maßstab für den literarischen Wert angesehen wird. Die Wertungskriterien bezeichnen jeweils Kategorien, mit denen diese Umdeutungsprozesse bestimmt werden. Nach Hass ist es die im ästhetischen Schaffensprozeß geleistete Umsetzung ,übergeschichtlicher Geltungszusammenhänge' 117 in „jeweils zeithafte, geschichtliche Erscheinung" 118 , die den Wert von Literatur ausmacht. Für Emrich ist es das durch Kunst erzeugte Reflexionskontinuum, „durch das die jeweiligen begrenzten und eindeutigen historischen Gehalte und Formen erweitert, bereichert 111 112 113 114 115 116

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W. Henze, a. a. O. S. 282. Zu den werkimmanenten Wertungstheorien s.u. Vgl. LVZ. Zu den sog. mimetischen Wertungskonzeptionen s.u. H. E. Hass, Das Problem der literarischen Wertung, a . a . O . S. 88. W. Emrich, Das Problem der Wertung und Rangordnung literarischer Werke (1961), in: N. Mecklenburg, Literarische Wertung, a . a . O . S. 61. H. E. Hass, a. a. O. S. 76. H. E. Hass, a. a. O. S. 76.

Historische Voraussetzungen

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oder überschritten werden" 119 und durch das ein „umfassenderes Bild vom Wesen oder der Natur des Menschen und seiner Wirklichkeit" 120 deutlich wird. Nach Müller-Seidel besteht der Wert der Literatur in der Verwandlung alles geschichtlich Bedingten in ein Höheres, Wahres, Öffentliches, Menschliches, Ganzes 121 . In den genannten Wertungskonzeptionen ist die Analyse des ästhetischen Werts von Kunst zugleich Ausgangspunkt für die Bestimmung ihrer funktionalen Bedeutung in lebensweltlichen Zusammenhängen. Die Vermittlung von ästhetischen und historischen Bezügen der Kunst gelingt im Rekurs auf die Darstellungsleistung von Literatur. In der Teilhabe der Kunst an einem „übersubjektiven Wertganzen" 122 wird zugleich ihre ästhetische und ihre lebensweltliche Bedeutung gesehen. Mit dieser Orientierung am ,übergeschichtlichen' Sinn von Literatur bleibt allerdings die Frage offen, wie der ,übergeschichtliche' Wert in konkreten, historischen Situationen jeweils zu begründen ist; Probleme konkreter historischer bzw. gesellschaftlicher Wertung bleiben ungelöst; der Leserbezug ist nicht weiter konkretisiert. Die Grenzen zwischen ästhetischem und historischem Urteil sind in einem vorausgesetzten Konsens über die Geltung ,überwerklicher' Norm- und Wertsysteme aufgehoben. In den Präambeln der Lehrpläne finden die genannten Wertungskriterien — das Wahre, Gute, Schöne, Höhere — bis heute ihren Niederschlag; sie werden als Auswahlkategorien für Kanonentscheidungen zugrundegelegt und als Fundament für die Formulierung von Bildungszielen und Lernzielbestimmungen diskutiert 123 . Mit der Politisierung und Soziologisierung der Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre wird jedoch deutliche Kritik an traditionellen Wertbegründungen laut, die schließlich zur Verselbständigung wertungsdidaktischer Diskussion führte 124 .

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W. Emrich, Das Problem der Wertung und Rangordnung literarischer Werke, a. a. O. S. 61. Ders. a. a. O. S. 63. W. Müller-Seidel, Probleme der literarischen Wertung, a. a. O. H. E. Hass, a. a. O. Vgl. O. Beisbart, Möglichkeiten literaturdidaktischer Entscheidungen. Kritische Untersuchungen zum Problem der literarischen Wertung in der Literaturdidaktik. Frankfurt/M. 1975, S. 31 ff. A . Weber/E. J. K r z y w o n , Literarische Wertung, in: Lexikon zum Deutschunterricht, hrsg. v o n E. Nündel 1979 München, Wien, Baltimore. S. 2 5 4 - 2 6 3 . Vgl. H. G. Herrlitz, Lektürekanon und literarische Wertung, in: Der Deutschunterricht 1967. H. 1, S. 79 — 92; zit. aus: Literarische Bildung und Erziehung, hrsg. von H. Müller-Michaels, a . a . O . S. 2 4 3 - 2 6 1 ; vgl. auch Anm. 133.

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Einleitung

Trotz der Verschiedenheit der bisher skizzierten Wertungskonzeptionen sind bestimmte Grundannahmen bis Mitte der sechziger Jahre relativ konstant: es besteht relative Einigkeit darüber, was als Kunst zu gelten hat und was nicht. Trotz eines fortschreitenden Prozesses der Isolierung des Ästhetischen bleibt die Kunstnorm der antiken und der klassisch-romantischen Tradition bis in die sechziger Jahre Fundament der Wertungstheorien. Der Literaturbegriff ist werkästhetisch fundiert. Literatur wird verstanden als „anschauliche Darstellung eines universalen Sinnzusammenhangs von Mensch und Welt" 125 . Es besteht weitgehender Konsens über den lesenswerten Kanonbestand, über die Unterscheidung von höherer und minderwertiger Literatur, über eine Hierarchie literarischer Werke und Werte. Wertungstheorie wird als Frage der Rangordnung literarischer Werke verstanden. Dabei gilt nur die sog. hohe Literatur als Gegenstand literarischer Wertungstheorien126. Auf der Basis solcher Grundannahmen erscheinen die einzelnen Wertungskonzepte als Versuche, den jeweiligen Literaturbegriff und Kanonbestand von verschiedenen Perspektiven her — dem Werk, seiner Wirkung, seiner kulturbildenden Funktion, seiner lebenspraktischen Bedeutung — zu begründen. Die relative Konstanz des Literaturbegriffs spiegelt sich in der Geschichte literaturdidaktischer Kanondiskussion. Solange der Literaturbegriff durch die legitimatorische Kraft der Tradition geregelt ist, zeigt sich eine auffallige Kontinuität des literarischen Kanons. Zwar hat es immer wieder Veränderungen im Bestand kanonischer Lehrinhalte gegeben: entweder standen die Griechen oder das Mittelalter oder die klassisch-romantische Literatur oder volkskundliche Werke im Zentrum des Literaturunterrichts. Immer aber ist der Deutschunterricht durch die Absicht geprägt, „der Jugend Bleibendes zu überliefern und eine Tradition zu sichern" 127 . Noch 1954 entwirft W. Flitner 128 einen „Kanon literarischer Bildung", der darauf zielt, das zu bewahren und zu erhalten, „was inhaltlich von grundlegendem Wert ist" 129 . Die Kriterien eines solchen verbindlichen' Kanons tauchen immer wieder auf: Bewährtes gegen Modernes, Nationales gegen Weltliteratur, hohe Literatur gegen Gebrauchs- und Trivialliteratur130. J . Rüsen, Ästhetik und Geschichte. Geschichtstheoretische Untersuchungen zum Begründungszusammenhang von Kunst, Gesellschaft und Wissenschaft. Stuttgart 1976, S. 96. 126 Vgl. R. von Heydebrand 1984, a . a . O . ; J . Schulte-Sasse 1976, a . a . O . 127 H. J. Frank, Dichtung, Sprache, Menschenbildung. Bd. 2 a. a. O. S. 739. 128 w Flitner, Grund- und Zeitfragen der Erziehung und Bildung. 1954, S. 57—75. 129 Ders. a. a. O. S. 59. 130 Vgl. H. Brackert, Literarischer K a n o n und Kanon-Revision, in: H. Brackert/W. Raitz (Hrsg.), Reform des Literaturunterrichts a . a . O . S. 135. 125

Wissenschaftsreform und Wertungskonzeptionen

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Die bis in die sechziger Jahre währende Tradition literarischer Kanonbildung deutet darauf hin, daß Literatur als selbstverständliches Bildungsgut galt: sei es, daß eine einfache Identität von ästhetischem und pädagogischem Interesse angenommen wurde, wie Sanner 131 dies noch 1969 voraussetzt, oder daß kulturpolitische und bildungspolitische Konzepte zugleich als Rahmenbedingungen ästhetischer Erziehung verstanden wurden, wie bei Walzel, Ermatinger, Hass u. a. Zwar hat es in der Geschichte des Literaturunterrichts kaum einen nur literarisch begründeten Kanon gegeben. Es sind weitgehend historische, nationale, kulturpolitische, pädagogische und gesellschaftliche Gesichtspunkte, mit denen Kanonentscheidungen gerechtfertigt wurden — Literatur wurde als Kulturkunde, Sachkunde, Medium der Nationalerziehung, der politischen Bildung, der Denkschulung, der Stilbildung usw. verstanden 132 . Dennoch stand der Eigenwert von Literatur außer Frage. In der Tradition seit der Antike galt Literatur neben Grammatik, Rhetorik, Philosophie als unverzichtbarer Bestandteil menschlicher Bildung, wie immer diese Bildungsfunktion auch gedeutet wurde.

1.3. Zusammenhänge zwischen der Wissenschaftsreform der sechziger Jahre und den Veränderungen literaturwissenschaftlicher und -didaktischer Wertungskonzeptionen Die auf dem Hintergrund der Wissenschafts- und Bildungsreform der sechziger Jahre entwickelten literaturwissenschaftlichen und -didaktischen Wertungstheorien sind von veränderten literaturtheoretischen und gesellschaftspolitischen Prämissen geprägt. Durch die wissenschaftsgeschichtlichen und literaturtheoretischen Entwicklungen der sechziger und siebziger Jahre wird die legitimatorische Kraft literarischer Tradition offen in Frage gestellt 133 . Die Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre ist durch eine programmatische Abkehr 131

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Vgl. R. Sanner, Literarische Bildung im Spannungsfeld von Fachwissenschaft und Fachdidaktik, in: Sprachpädagogik-Literaturpädagogik, hrsg. W. L. Höffe. Frankfurt 1969, S. 133-142. Vgl. H. J . Frank, a . a . O . Vgl. J . Schulte-Sasse, a.a.O.; R. v. Heydebrand, a.a.O.; J . Vogt, Literaturdidaktik. Düsseldorf 1972; H. Heuermann/P. Hühn/B. Röttger, Literatur und Didaktik. Göttingen 1973; H. Ide (Hrsg.), Bestandsaufnahme Deutschunterricht. Ein Fach in der Krise. Stuttgart 1970; M. Dahrendorf, Literaturdidaktik im Umbruch. Düsseldorf 1975; R. Dithmar (Hrsg.), Literaturunterricht in der Diskussion, a.a.O.; K. Stocker, Literaturdidaktik, in: K . Stocker, Taschenlexikon der Literatur- und Sprachdidaktik. Kronberg/Ts. 1976, S. 244 - 264.

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Einleitung

von grundlegenden Voraussetzungen traditioneller Wertungstheorien gekennzeichnet: mit der Veränderung des Literaturbegriffs zum Textbegriff ist die klassisch-romantische Kunstnorm aufgehoben, die autonomie- und werkästhetische Fundierung des Literaturbegriffs wird aufgelöst, die Grenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst werden nivelliert und damit das kulturelle Erbe in Frage gestellt, der literarische Wertbegriff wandelt sich 134 . Seit der Entwicklung des Literaturbegriffs zum Textbegriff gibt es keinen selbstverständlichen Konsens mehr über das, was als Literatur zu gelten hat. Bereits 1966 stellt Müller-Seidel in seinem Buch .Probleme der literarischen Wertung' fest: „Wir sind unvermögend zu definieren, was Dichtung ist" 135 . Ebenso konstatiert Iser 1969: „Die Literaturwissenschaft besitzt heute noch keine den verwandten Wissenschaften vergleichbare Theorie. Sie auszubilden ist ein Gegenstand der Forschung, denn erst eine Theorie der Literatur wird Feststellungen darüber erlauben, welches spezifische Erkenntnismedium der literarische Text verkörpert" 136 . Ausgangspunkt fast aller wertungstheoretischen Reflexionen seit Ende der sechziger Jahre ist die Frage nach Zusammenhängen zwischen Wissenschaft und Wertung, Literatur und Methodologie. Mit der Wende zur wissenschaftstheoretischen Fundierung von Wertungsreflexion gewinnen die literaturwissenschaftlichen und -didaktischen Wertungstheorien einen gegenüber der Tradition veränderten Stellenwert: Wertung wird nicht mehr „objektbezogen" als Form einer „Beurteilung ... vom Gegenstand her" 137 verstanden. Ebensowenig geht es darum, einen vorausgesetzten Literaturbegriff auf seinen Wert in bestimmten historischen, kulturellen, gesellschaftlichen Zusammenhängen zu reflektieren. Seit der Kritik am traditionellen Literaturbegriff hat sich der Aufgabenbereich der Wertung von der Literatur auf die Bedingungen literarischer Rezeption und Urteilsbildung verschoben. Zentrales Problem neuerer Wertungstheorie ist die Frage nach den methodischen Bedingungen literarischer Urteilsbildung und den jeweils daraus resultierenden Kriterien literarischer Wertung: „Neuere wissenschaftstheoretisch orientierte Arbeiten zur literarischen Wertung versuchen gegenwärtig ... über eine wissenschaftliche Selbstreflexion das praktisch normative Fundament der Literaturwissenschaft ... offen zu legen, um auf dieser Basis ...

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Vgl. R. v. Heydebrand, a. a. O.; J . Schulte-Sasse, a. a. O. W. Müller-Seidel, Probleme der literarischen Wertung, a. a. O. S. 40. W. Iser, Überlegungen zu einem literaturwissenschaftlichen Studienmodell, in: J. Kolbe (Hrsg.), Ansichten einer künftigen Germanistik. München 5 1 9 7 1 , S. 202. W. Müller-Seidel, Probleme der literarischen Wertung, a . a . O . S. 13.

Wissenschaftsreform und Wertungskonzeptionen

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inhaltliche und methodische Prinzipien für eine kritische Praxis aufstellen zu können" 138 . Neuere Wertungstheorie wird somit einerseits im Zusammenhang mit den wissenschaftstheoretischen Grundlagen des jeweiligen Methodenkonzepts diskutiert. Wertungstheorie erscheint andererseits als Theorie der Kriterien literarischer Urteilsbildung, als Frage nach Zusammenhängen zwischen Wertforschung und literaturkritischer Praxis 139 . Beiden Fragerichtungen ist gemeinsam, daß Geltung und Wert der Literatur nicht mehr selbstverständlich vorausgesetzt werden, sondern im wissenschaftlichen Diskurs allererst zu legitimieren sind. Mit der Verknüpfung von Wissenschaft und Wertung wird die Theorie literarischer Wertung als ,Metatheorie' aufgefaßt, in der je nach Gegenstand und Methode unterschiedliche Möglichkeiten aufgewiesen werden, Texte als ästhetische Gebilde zu qualifizieren. Wertungstheorie entwirft somit gleichsam den Rahmen, innerhalb dessen die einzelnen Wertungskriterien in ihrem methodischen Stellenwert deutlich werden können und von dem her eine konkrete Wertungspraxis begründet werden kann. „Damit Fragen des literarischen Werturteils ... überhaupt erst sinnvoll angegangen werden können, bedarf es zunächst einmal einer ... hinreichend generalisierbaren Vorstellung v o m Objektbereich Literatur ... und darauf aufbauend — v o n den Zielen und Methoden literaturwissenschaftlicher Analysetätigkeit schlechthin" 140 .

Diese konstitutive Differenz zwischen Theorie und Praxis der Wertung ist implizit auch in den Wertungsansätzen seit Beginn der literaturwissenschaftlichen Wertungsdiskussion gegeben. Sie wird z. B. deutlich in der Abgrenzung literaturwissenschaftlicher Wertungstheorie von einer auf konkrete Urteilskriterien angewiesenen Literaturkritik: „Das gebildete Lesepublikum erwartet vom Literaturkenner ein sicheres Werturteil über Literaturwerke. Es übersieht dabei nur zu sehr den Unterschied zwischen Literaturwissenschaft und Literaturkritik" 141 . Gerade weil wissenschaftliche Wertungsreflexion notwendig immer methodologisch und historisch bedingt ist, kann sie — wie Müller-Seidel ausführt — keinen konkreten Anweisungscharakter haben. Nicht ein „Katalog der 138

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N. Mecklenburg (Hrsg.), Literarische Wertung, a . a . O . , S. X X / X X I ; vgl. auch B. Lenz/B. Schulte-Middelich (Hrsg.), Beschreiben, Interpretieren, Werten. München 1982. Vgl. N. Mecklenburg (Hrsg.), Literarische Wertung, a. a. O. S. X X X V I I ; vgl. auch R. v. Heydebrand, a . a . O . ; Lenz/Schulte-Middelich (Hrsg.), a . a . O . R. Kroepsch, Linguistik und Literaturwissenschaft im Spannungsfeld zwischen Evaluation und Deskription, in: B. Lenz/B. Schulte-Middelich (Hrsg.), a . a . O . S. 182— 213, S. 196/197. H. Seidler, a . a . O . S. 12.

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Einleitung

Wertungskriterien, den manche so gern schwarz auf weiß nach Hause tragen möchten" 142 , kann Gegenstand einer wissenschaftlichen Wertungstheorie sein: „Wo sich die Wissenschaft mit Wertungen einläßt, indem sie das Schema von Richtig und Falsch zur Basis des Urteils erklärt, da ist es um sie als Wissenschaft geschehen" 143 . Mit der primär methodologischen Begründung von Wertungstheorie hat sich die Differenz zwischen Theorie und Praxis literarischer Wertung jedoch verschärft: Die jeweils entworfenen Regeln literarischer Urteilsbildung sind nicht mehr nur in bezug auf den Gegenstand (Literatur) hin gerechtfertigt und als unterschiedliche Möglichkeiten der Bewertung von Literatur gekennzeichnet; vielmehr wird die einzelwissenschaftlich begründete Methodenreflexion selbst zur Voraussetzung, von der her Urteile über Literatur legitimiert werden, so daß die Vielfalt von Methodenkonzepten zugleich eine Vielfalt von Wertungsmodellen und -kriterien zur Folge hat 144 . Innerhalb der neueren Wertungsdiskussion sind Probleme literarischer Wertung in metatheoretischer und objekttheoretischer Hinsicht Gegenstand der Reflexion. Die metatheoretische Dimension von Wertungsfragen zielt auf Zusammenhänge zwischen Evaluation und Methode 145 , auf Fragen der Legitimierbarkeit methodischer Konzeptionen, auf sprachanalytische Untersuchungen zum Gebrauch normativer Sätze, auf die Analyse regulativer Kategorien der Textanalyse und -beschreibung usw. In objektbezogener Hinsicht wird Wertung als Form der Textverarbeitung begriffen und wird je nach zugrundeliegender methodischer Konzeption unterschiedlich realisiert — als Sprach- bzw. Zeichenanalyse, als Leser- bzw. Rezeptionsanalyse, als Textanalyse, als Funktions- und Rezeptionsgeschichte, als Ideologiekritik 146 . Objektbezogene Wertung richtet sich auf die im Werk gegebenen Wertungen, zielt auf Werthaltungen von Lesern, thematisiert Fragen der Rezeptions-, Wirkungs- und Geschmacksgeschichte, deckt Zusammenhänge zwischen Wertungen und sozio-historischen Kontextbedingungen auf.

W. Müller-Seidel, Probleme der literarischen Wertung, a. a. O. S. 37. W. Müller-Seidel, a. a. O. S. 37. 144 Vgl. auch R. Kroepsch, a . a . O . S. 1 7 9 f f . 145 Vgl. B. Lenz/B. Schulte-Middelich, a. a. O. 146 Vgl v Heydebrand, Literarische Weitung, a. a. O.; G. Wienold, Semiotik der Literatur. Frankfurt 1972; M. Weitz, The Philosophy of Criticism, in: Proceedings of the Third International Congress of Aesthetics, Torino 1957, S. 2 0 7 — 2 1 6 ; N. Mecklenburg (Hrsg.), Literarische Wertung, a . a . O . ; R. Brütting/B. Zimmermann (Hrsg.), Theorie, Literatur, Praxis. Frankfurt 1975; S. J. Schmidt, Literaturwissenschaft als argumentierende Wissenschaft, a. a. O. usw. 142

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Wissenschaftsreform und Wertungskonzeptionen

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In Anschluß an M. Weber 147 lassen sich innerhalb gegenwärtiger Wertungsdiskussion zwei Typen von Wertungsverfahren unterscheiden: die „rein empirisch und kausal zurechnende" Bestandsaufnahme historisch gegebener Werturteile und die wertinterpretierende Analyse faktisch gegebener Werturteile 148 . Die ästhetisch wertende Betrachtung wird dabei — wie bei M. Weber — als inadäquater Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion ausgeblendet, weil sie sich als Form des Verstehens logischer Beschreibung entziehe. So bestimmt M. Waldmann als eigentliche Aufgabe literaturwissenschaftlicher und -didaktischer Wertungstheorie, daß es „vor allem darum geht, ausweisbare und operationalisierbare Verfahren zur Analyse faktischen Wertens zu entwikkeln" 149 . Die Wissenschafts- und Bildungsreform der sechziger Jahre hat zugleich auch weitreichende Veränderungen innerhalb der didaktischen Theorie- und Wertungsdiskussion ausgelöst. Sie betreffen alle Ebenen didaktischer Entscheidungsfindung — Theoriekonzeptionen, Kanonfragen, Zielbegründungen, Methodenprobleme, Inhaltsbestimmungen, Auswahlgesichtspunkte 150 . In Reflexionen zur Kanonbegründung stellt Brackert 1974 fest, daß sich seit der Bildungs- und Wissenschaftsreform „mehr und Fundamentaleres geändert (hat) als in den 150 Jahren zuvor" 151 . Deutlichstes Anzeichen ist die Abkehr vom traditionellen Literaturbegriff und Kanongedanken: „Ein Kanon, also ein relativ geschlossenes, vollständiges Bild gemeinsamen literarischen Besitzes, der für alle eine verpflichtende Gültigkeit hat, ist heute ... aus gesellschaftspolitischen wie literaturimmanenten Gründen nicht mehr zu begründen" 152 . Es ist jedoch nicht nur der Verzicht auf einen „allseitig anerkannten und bejahten Kanon" 153 , der im Sinn Brackerts den Bruch mit der Tradition anzeigt. Schwerwiegender noch ist die Abkehr von einem uralten Topos der Kunsttheorie. So zielt die Kritik an traditionelMax Weber, Der Sinn der Wertfreiheit der Sozialwissenschaften, in: Soziologie, Weltgeschichtliche Analysen, Politik, hrsg. von J . Winckelmann. Stuttgart 2 1956. 148 M. Weber, a . a . O . S. 291. 149 G. Waldmann, Theorie und Didaktik der Trivialliteratur. München 1973, 2 1977, S. 125. 150 Yg[ Anm. 133; vgl. G. Waldmann, a . a . O . ; W. Schemme, Trivialliteratur und literarische Wertung. Stuttgart 1975; M. Nutz, Die affirmative Urteilsfähigkeit. Zur Kritik der Wertungsdidaktik. (1972), in: R. Dithmar, Literaturunterricht in der Diskussion. Bd. 2 a . a . O . , S. 1 4 7 - 1 5 9 ; N. Hopster, Literarische Wertung und Didaktik (1973), in: R. Dithmar, a . a . O . S. 1 6 1 - 1 7 2 ; N.Mecklenburg (Hrsg.), Zur Didaktik der literarischen Wertung, a. a. O. 151 H. Brackert, Literarischer Kanon und Kanonrevision, a . a . O . S. 134. 152 H. Brackert, a.a. .O. S. 152. 153 Ders. a . a . O . S. 140. 147

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Einleitung

len Kanon- und Wertungskonzepten vor allem gegen die die gesamte europäische Tradition bestimmende Auffassung, Literatur sei ein Bildungswert an sich, ein unverwechselbares Medium der Erkenntnis von Wahrheit und der Realisierung humaner Existenz: „Sollte sich hinter dem Kanonargument die unkritische Annahme verbergen, daß bestimmte literarische Stoffe von selbst ... bildend seien, so hätten wir allen Anlaß, diesen Begriff schleunigst wieder aus unserem didaktischen Vokabular zu streichen" 154 . Wertungs- und Kanonkritik sind Bestandteil eines Prozesses, in dem die Uberzeugung von der bildenden Kraft des kulturellen Erbes aufgelöst wird. Die Jahrhunderte währende Stellung des Ästhetischen als eines Sonderbereichs im Gesamtzusammenhang von Gesellschaft, Wissenschaft und Praxis wird negiert: „... es existiert kaum mehr die Bereitschaft, die Tatsache, daß es eine literarische Überlieferungstradition gibt, auch als einen pädagogischen Anspruch zu akzeptieren. Die Forderung, daß man bestimmte Werke eben kennen müsse, wird mit Recht als bildungsbürgerliche Residualforderung zurückgewiesen" 155. Mit der Auflösung eines konsensfahigen Literaturbegriffs und Kanonbestandes stellt sich das Problem der Wertungsdidaktik auf neue Weise. Es geht nicht mehr primär darum, die Bildungsfunktion eines vorgegebenen Literaturbestandes zu ermitteln und mögliche Funktionen der Literatur für Praxis und Erziehung zu bestimmen. Die Aufgabe wird nicht länger darin gesehen, einen „Grundbestand des literarisch Wertvollen und daher der Tradierung Würdigen zu sichern" 156 . Mit den Veränderungen der literaturtheoretischen Voraussetzungen ist das poetologische Bezugssystem, von dem her die Didaktik ihre Kriterien der Kanonbildung erschließen könnte, selbst erst zu legitimieren 157 . Wertungsdidaktik steht vor dem Problem, „die spezifischen Bedingungen des Gegenstandsbereiches Literatur" 158 allererst formulieren zu müssen. Mit der Revision des traditionellen Literatur- und Kanonbegriffs wird die Frage nach Kriterien der Legitimation von Kanonent-

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H. G. Herrlitz, Lektüre-Kanon und literarische Wertung, a . a . O . S. 260/261. H. Brackert, a . a . O . S. 152. Ders. a. a. O. Vgl. dazu H. Becker, Bildungsforschung und Bildungsplanung. 2 1 9 7 1 , S. 16 ff. „Eine vergangene Welt konnte bestimmte Unterrichtsstoffe vermitteln, weil sie so überliefert waren. Tradition und Autorität stellten in einer stabilen Welt legitime Auswahlkriterien bereit. Wer aus der riesigen Fülle heutigen Wissens für eine im Wandel begriffene, auf rationale Daseinsbewältigung angewiesene Gesellschaft die angemessenen Lehrstoffe auswählen will, muß bekennen, daß wir dafür noch keine wissenschaftlich legitimierten Kriterien haben ...". H. Brackert, a . a . O . S. 153.

Wissenschaftsreform und Wertungskonzeptionen

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Scheidungen zum ersten Mal in der Geschichte didaktischer Wertungsdiskussion in expliziter Weise Gegenstand der Wertungsdidaktik: „Ein Normengefüge, das uns literarisch Wertvolles von Wertlosem oder minder Wertvollem unterscheiden ließe, existiert nicht mehr" 159 . Gegenüber der traditionellen Wertungsdiskussion haben Wertungsfragen innerhalb der Didaktik seit Beginn der siebziger Jahre einen veränderten Stellenwert: Sie werden nicht mehr primär unter der Perspektive der „Transformation gegenstandsbezogener Erkenntnisse in die Reflexion möglicher Anwendung" thematisiert 160 , sondern als Grundsatzprobleme behandelt, die im Rahmen von Gesellschafts- und Bildungspolitik, Theoriediskussion und Praxisbezug zu erörtern sind. Dabei werden Wertungsfragen nicht mehr nur als Probleme literarischer Urteilsbildung verstanden, sondern im übergeordneten Zusammenhang der „Grundlegung einer Literaturdidaktik als Wissenschaft" 161 reflektiert. Wertungsreflexion ist innerhalb der gegenwärtigen didaktischen Wertungsdiskussion deshalb eng verknüpft mit dem jeweiligen Didaktikbegriff, der Lernzieldiskussion, der Methodologie von Textrezeption usw. Die vorliegende Untersuchung wird die skizzierten Entwicklungen der didaktischen Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre verdeutlichen und die veränderten Legitimationsstrategien der Wertungsdidaktik aufzeigen. Dabei wird zu fragen sein, in welcher Weise die methodologische, gesellschafts- und bildungspolitische Orientierung von Wertungsfragen zugleich normative Gesichtspunkte freisetzen kann, mit denen der Bildungswert von Literatur begründbar ist. Ehe die Tendenzen neuerer didaktischer Wertungsdiskussion sowie die Zusammenhänge von Wissenschafts- und Wertungsreflexion im einzelnen aufgezeigt werden, sollen zunächst grundlegende Neuerungen der gegenwärtigen Wertungsdidaktik zusammenfassend genannt werden: 1. Die frühere selbstverständliche Beschränkung der Schullektüre auf kanonische Literatur wird seit der Erweiterung des Literaturbegriffs zum Textbegriff aufgehoben. Das Gegenstandsfeld des Literaturunterrichts wird ergänzt durch Gebrauchsprosa, Sachliteratur, Trivialliteratur, Jugendliteratur. Fiktionale und nicht-fiktionale Textsorten sind als gleichberechtigter Unterrichtsgegenstand anerkannt. 159 160

161

Ders. a . a . O . S. 152. L. Bredella, Ästhetische und funktionale Kategorien in der Literaturdidaktik (1972), zit. aus R. Dithmar (Hrsg.), Literaturunterricht in der Diskussion. Bd. 2, a. a. O. S. 144. Vgl. O. Beisbart, Möglichkeiten literaturdidaktischer Entscheidungen, a. a. O. S. 7 ff.; N. Hopster, Literarische Wertung und Didaktik, in: R. Dithmar, a. a. O. S. 161 —172, insb. S. 161.

28

Einleitung

2. Ältere Wertungsdidaktik wird als Konsequenz einer Wertungstheorie gedeutet, welche Wertung wesentlich literaturbezogen als Frage nach „objektiv ... feststellbaren textualen Qualitätsdifferenzen" 162 thematisierte. In neueren Ansätzen wird Wertung nicht mehr primär als Frage nach der literarischen Qualität von Texten aufgefaßt; vielmehr gelten vor allem „Wirkungs-, Funktions- und Bildungsanalysen" 163 als Gegenstand von Wertung. Damit verschiebt sich der Objektbereich der Wertung von der Literatur auf Fragen der Literaturrezeption und Lesesituation. Literarische Wertung wird als Teilgebiet unterschiedlicher Methoden wie Rezeptionsforschung, Leserforschung, Sozialtheorie, Marktforschung begriffen. 164 3. Traditionelle Formen wertenden Umgangs mit Literatur — wie Verstehen und Erleben — werden durch rational objektivierbare Methoden abgelöst: kommunikationstheoretische Textanalysen, Ideologiekritik, Leser- und Bedürfnisanalysen, Sprachanalysen usw. 4. Mit der Verschiebung des Objektbereichs der Wertung von der Literatur auf methodologisch orientierte Formen der Textverarbeitung werden Kanonprobleme als letztlich nicht lösbar offen gelassen. Es wird davon ausgegangen, daß Kanonfragen nur auf „mittlerer Abstraktionsebene" lösbar, d. h. nur im Rekurs auf konkrete Lernsituationen und Lernzielzusammenhänge zu entscheiden sind 165 . Kanonprobleme werden bei Ivo, Brackert, Dahrendorf, Herrlitz 166 als Entscheidungen „relativer Zweckmäßigkeit" definiert: „Deshalb dürfen und müssen wir m. E. von der Vorstellung Abschied nehmen, daß es der Deutschunterricht mit dem Kanonproblem zu tun habe. Zu lösen ist vielmehr die Aufgabe, die literarische Überlieferung innerhalb gezielter, problemorientierter Lehrgänge zur Wirkung zu bringen, so daß sich die postulierte ,absolute Rangordnung' wiederum erst als eine Ordnung relativer Zweckmäßigkeit zu bewähren hätte ..," 1 6 7 . 1.4. Exkurs: Wissenschaft und Wertung Es ist deutlich geworden, daß Wissenschafts- und Methodenreflexion seit Ende der sechziger Jahre als Legitimationsgrundlage literaturwis162

163 164

165

167

M. Dahrendorf, Schule, Fach und politisch-sozialer Kontext als Bedingungsfelder des Literaturunterrichts, in: F. J. Payrhuber/A. Weber (Hrsg.), Literaturunterricht heute — warum und wie? Freiburg 1978, S. 83. M. Dahrendorf, Schule, Fach ... a.a.O. Vgl. M. Dahrendorf, Literaturdidaktik im Umbruch. Düsseldorf 1975; J. Vogt, Literaturdidaktik. Düsseldorf 1972; vgl. auch v. Heydebrand a.a.O. Vgl. H. G. Herrlitz, a. a. O.; H. Brackert, a. a. O. Vgl. LVZ. H. G. Herrlitz, a. a. O. S. 259/260.

Exkurs: Wissenschaft und Wertung

29

senschaftlicher und -didaktischer Wertungstheorien gelten. Zwar ist die Wertungsdiskussion bereits seit Walzel 168 durch Methodenreflexion bestimmt, dennoch wird der Zusammenhang von Wissenschaft und Wertung bis in die sechziger Jahre nicht explizit thematisch. Das Verhältnis von Wissenschaft und Wertung, Literatur und Methode wird erst bei W. Müller-Seidel 169 zum ausdrücklichen Thema der Wertungsreflexion. „Es liegt am Gegenstand, daß man sich auf Methodenreflexion verwiesen sieht" 170 , konstatiert Müller-Seidel 1969. Im Vergleich der Wertungstheorien von den Anfangen bis zur Gegenwart werden jedoch unterschiedliche Wissenschafts- und Methodenbegriffe deutlich 171 . In einem knappen Exkurs sei deshalb auf das Verhältnis von Wissenschaft und Wertung eingegangen, weil damit erst die Voraussetzungen gegenwärtiger „wissenschaftstheoretisch" 172 begründeter Wertungstheorie und -didaktik vergegenwärtigt werden können. Als Grundlage für das Wissenschaftsverständnis der Wertungskonzeptionen bis in die sechziger Jahre nennt Müller-Seidel die durch Schleiermacher und Dilthey begründete Tradition der Hermeneutik 173 . In Anlehnung an das hermeneutische Wissenschaftsverständnis ist auch die Wertungskonzeption Müller-Seidels durch die These bestimmt, daß eine grundsätzliche Differenz zwischen Gegenstand und Methode vorauszusetzen ist: „Jedes Verstehen ist bezogen auf ein Gegenüber, das von seinen eigenen Intentionen her verstanden werden soll... Darin beruht die dienende Funktion, die ein Merkmal der philologischen Wissenschaften ist und bleiben soll" 174 . So ist die Methodenreflexion innerhalb der Wertungskonzeption Müller-Seidels sogleich durch das „Bedenken" eingeschränkt, „daß man solche Reflexionen als die Sache im eigentlichen Sinn betreibt — aber ohne die Sache selbst". Wertungsreflexion ist von Walzel bis Müller-Seidel ,objektbezogen' als eine Form der „Beurteilung ... vom Gegenstand her begriffen" 175 . Die Wissenschaftlichkeit von Wertungsreflexion zielt in diesem Sinn darauf, 168

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Vgl. Anm. 10; vgl. auch O. Walzel, Künstlerische Absicht, in: G R M , Jg. 8, 1920, S. 3 2 1 - 3 3 1 . W. Müller-Seidel, Probleme der literarischen Wertung, a . a . O . ; Ders., Wertung und Wissenschaft im Umgang mit Literatur (1969), in: P. Gebhardt, Literaturkritik und literarische Wertung, a . a . O . S. 2 2 3 - 2 6 8 . W. Müller-Seidel, Probleme der literarischen Wertung, a. a. O. S. XIV. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Wertung vgl. auch H. Albert/E. Topitsch (Hrsg.), Werturteilsstreit. Darmstadt 2 1 9 7 9 (1971). Vgl. H. Ivo, Zur Wissenschaftlichkeit der Didaktik der deutschen Sprache und Literatur. Frankfurt 1977, insb. S. 128 ff. W. Müller-Seidel, Probleme der literarischen Wertung, a. a. O. S. X V . W. Müller-Seidel, a . a . O . S. 14/15. Ders. a. a. O. S. 13.

30

Einleitung

die Vielfalt methodischer Zugänge zum literarischen Werk als verschiedene Möglichkeiten zu begreifen, der Intentionalität des Kunstwerks näher zu kommen. Dennoch wird davon ausgegangen, daß das „eigene Gesetz" 1 7 6 der Kunst als Maßstab der Wertung jedem methodischen Zugriff vorgeordnet ist. „Ein Kunstwerk ist von vielen Weltanschauungen her zu beurteilen ... Dennoch wird es von keiner dieser Weltanschauungen erreicht ..., weil die Erkenntnis seines Werts vom Gestalteten abhängt — nicht von Weltanschauungen, Konfessionen oder Ideologien" 1 7 7 . Methodenreflexion hat somit bei Müller-Seidel einerseits die Funktion, „indirekte Voraussetzungen" des Literaturbegriffs zu „direkten" 1 7 8 auszuformulieren; sie zielt andererseits darauf, die prinzipielle Relativität jeder Methode gegenüber dem ,So-Sein' des Gegenstandes offenzulegen und damit die Vorgegebenheit der Literatur gegenüber ihrer methodischen Erschließung zu verdeutlichen. Diese im hermeneutischen Wissenschaftsverständnis begründete Differenz von Gegenstand und Methode wird mit der sog. wissenschaftstheoretischen Wende der literaturwissenschaftlichen Wertungsdiskussion aufgegeben. Seit der Auflösung der Normen klassisch-romantischer Ästhetik und Poetik kann Wertungstheorie im Sinn von Mecklenburg, Schulte-Sasse, Waldmann, S. J . Schmidt, Schulte-Middelich 179 nicht mehr von einem allgemeinen Konsens über den Literatur- und Wertbegriff ausgehen, sondern hat ihn in „methodologischer Selbstreflexion" allererst zu begründen. Innerhalb der wissenschaftstheoretisch orientierten Wertungstheorie ist nicht mehr der Gegenstand — die Literatur — Legitimationsgrundlage der Wertungstheorie; vielmehr wird die Reflexion auf die methodologischen Bedingungen des Literaturbegriffs zur Voraussetzung, um „ . . . inhaltliche und methodische Prinzipien für eine kritische Praxis aufstellen zu können" 1 8 0 . Nach Schulte-Middelich u. a. sind Wertungsprobleme seit den Veränderungen des Literatur- zum Textbegriff wesentlich „aus der Sicht unterschiedlicher Methoden" zu thematisieren 181 . „... Wertungsverfahren dürfen nicht allein, vielleicht nicht einmal primär, objektbezogen betrachtet werden, sondern Wertung hat immer etwas mit den erkenntnisleitenden Interessen ... dieser Methoden und des sie applizierenden Subjekts zu tun. Insofern aber ist eine Analyse entsprechender Verfahren ohne eine Untersuchung ihrer

Ders. a . a . O . S. 13. Ders. a . a . O . S. 13. 178 Ders. a . a . O . S. 26f. 179 Vgl. L V Z . 180 Vgl. N . Mecklenburg (Hrsg.), Literarische Wertung, a. a. O. S. X X I . 181 Vgl. B. Lenz/B. Schulte-Middelich, a. a. O. 176

177

Exkurs: Wissenschaft und Wertung

31

wissenschaftstheoretischen Fundierung nicht denkbar" 182 . Mit der primär methodologischen Fundierung von Wertungstheorie sind die Kriterien des Wissenschaftsbegriffs zugleich als Maßstab für die Gegenstandsbestimmung gesetzt. Die unterschiedlichen Auffassungen über den Zusammenhang von Wissenschaft und Wertung sind nicht erst in der gegenwärtigen Wertungsdiskussion erkennbar. Da die Wertproblematik seit Beginn werttheoretischer Reflexion im 19. Jahrhundert aufs engste mit der Herausbildung der Literaturwissenschaft als Wissenschaft 183 verknüpft ist, bilden die unterschiedlichen Wissenschaftskonzeptionen von Beginn an die Grundlage divergierender Wertansätze. Am Beispiel von Scherer und Dilthey seien knapp verschiedene Wertkonzepte verdeutlicht, die trotz veränderter wissenschaftsgeschichtlicher Bedingungen bis in die Gegenwart wirksam sind. In der 1888 posthum veröffentlichten Poetik Scherers ist das Modell einer Werttheorie gegeben, in der die Frage nach dem literarischen Wert als Problem der „Methodik der Forschung über poetische Erscheinungen" 184 erörtert wird. Scherers Poetik und Werttheorie sind ein Beispiel dafür, wie sich traditionelle Auffassungen von Poetik unter dem Einfluß eines neuen, aus der Naturwissenschaft entlehnten Wissenschaftsbegriffs der Germanistik zu verändern beginnen. Galten Ästhetik und Literaturtheorie in der Frühzeit der Germanistik als unwissenschaftliche Disziplinen, die auf Grund ihrer „speculativen Richtung stark außer Contact gekommen (sind) mit der Literaturgeschichte, mit der Philologie" 185 , so stellt die Poetik Scherers nach den Worten Diltheys den Versuch dar, „die alte Aufgabe der Poetik mit den neuen Mitteln unserer Zeit (der Wissenschaft) besser (zu) lösen" 186 . Die Verfahren zur Objektivierung der poetologischen Fragestellung sind bei Scherer aus den Methoden der Philologie und Geschichtsschreibung entlehnt: exakte Beschreibung und historische Betrachtung gelten als Vorausset-

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Dies. a . a . O . S. 13; vgl. v. Heydebrand, Literarische Wertung, a . a . O . S. 829; „Wer den Zeichencharakter der Sprache berücksichtigt, sieht den literarischen Text nicht mehr als objektives Gebilde, sondern als eine dynamische Gestalt, die in sozial und individuell bestimmten Selektions- und Verständigungsverhandlungen erst hervorgebracht und aufgenommen wird". Vgl. W. Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. VI, a. a. O. S. 201 „Auch das Verfahren...muß sich in der modernen Poetik ändern...die heutige Poetik...muß den entscheidenden Schritt tun, eine moderne Wissenschaft zu werden...". W. Scherer, Poetik, hrsg. von G. Reiss. Tübingen 1977, S. 52. Ders. S. 47. W. Dilthey, Wilhelm Scherer zum persönlichen Gedächtnis, in: W. Scherer, Poetik, a . a . O . S. 241.

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Einleitung

zung für den Entwurf einer „exakten Poetik" 187 . Scherer versteht Poetik und Werttheorie nicht als Philosophie der Kunst, sondern als „Methodik der Forschung über poetische Erscheinungen". Poetik und Werttheorie können im Sinn Scherers nur dann Gegenstand wissenschaftlicher Forschung sein, wenn sie den Kriterien wissenschaftlicher Darstellung — Objektivität, Exaktheit, Unparteilichkeit 188 — genügen. Die methodische Fundierung von Poetik und Werttheorie bedeutet zugleich eine notwendige Veränderung der Inhalte der traditionellen Poetik. Das Ziel der traditionellen Poetik bestand nach Scherer darin, die „wahre Poesie zu suchen" 189 . Diese Aufgabe bezeichnet er als unlösbar, weil die Poetik „keine festen Maßstäbe gefunden (hat) zur Scheidung zwischen Gut und Schlecht ..." 19 °. Eine wissenschaftlich zu legitimierende Werttheorie zielt im Sinn Scherers darauf, ontologische und metaphysische Deutungen von Kunst durch objektivierbare, rationale Verfahren abzulösen. Gegenstand einer methodisch zu begründenden Werttheorie sind für Scherer nicht Fragen nach der poetischen Qualität von Kunst, sondern objektivierbare Einzelaspekte ihrer funktionalen Bedeutung in soziohistorischen Zusammenhängen. Voraussetzung für die Bestimmung der Werthaftigkeit von Kunst ist bei Scherer der Begriff der Poesie als einer Ware. Fragen des Werts werden daher fast ausschließlich in Kategorien der Ökonomie diskutiert. Der literarische Wert wird als „Tausch- und Gebrauchswert" verstanden und von den Gesetzen von Angebot und Nachfrage her als Produkt von Verwertungsprozessen beschrieben: „Die Poesie ist also schon in alter Zeit eine Art von Ware. Ihr Wert regelt sich nach Angebot und Nachfrage" 191 . Maßstab der Wertbestimmung ist nicht das „Wesen" der Kunst, sondern ihr „Zweck" in ökonomischen und gesellschaftlichen Verwendungszusammenhängen. Werttheorie erscheint als eine Theorie des literarischen Lebens und als Lehre vom Erfolg 192 . Durch diesen Versuch einer wissenschaftlichen Grundlegung der Poetik beginnen sich zugleich poetologische Kategorien in einzelwissenschaftliche Beschreibungsverfahren aufzulösen. Inhalte der Werttheorie sind Fragen der Produktion, Distribution, Konsumption und Tradierung von Literatur, d. h. entstehungsgeschichtliche Untersuchun-

187 188 189 150 191 192

W. Scherer, Poetik, a.a.O. S. 29ff. W. Scherer, a. a. O. S. 47. Ders. a. a. O. S. 48. Ders. a. a. O. S. 48. Ders. a. a. O. S. 85. Ders. a. a. O. S. 90.

Exkurs: Wissenschaft und Wertung

33

gen, Marktanalysen, Leserforschung, Geschmacksgeschichte, Sprachanalysen 193 . Trotz auffalliger Analogien zwischen der Werttheorie Scherers und gegenwärtigen Wertungsansätzen ist die Werttheorie Scherers durch eine grundsätzlich andere Prämisse geprägt. Wie Gervinus 194 geht auch Scherer davon aus, daß ein selbstverständlicher Konsens über das, was als gute bzw. schlechte Literatur zu gelten hat, als Grundlage aller Werttheorie vorausgesetzt werden muß 195 . Sofern solcher Konsens jedoch wesentlich Ergebnis eines gebildeten Geschmacks sei, könne er nicht Gegenstand einer wissenschaftlichen Werttheorie sein. Eine methodologisch begründete Werttheorie hat im Sinn Scherers allein die Aufgabe, Phänomene der Geltung von Literatur in historischen und gesellschaftlichen Verwendungszusammenhängen zu untersuchen 196 . Diltheys Poetik ist etwa im gleichen Zeitraum entstanden (1887) 197 . Zwar gibt es in Diltheys Abhandlung „Bausteine für eine Poetik" keine selbständigen Kapitel über den literarischen Wert. Dennoch wird die Reflexion auf Möglichkeiten der Wertbegründung zur Voraussetzung für den Entwurf einer „neuen Poetik". Die Frage nach „einer Wertbestimmung der Dichtungen aus einem möglichst sicheren Maßstab" 198 wird als „Grundfrage" 199 der Poetik bezeichnet. Wie bei Scherer steht die Werttheorie bei Dilthey im Zusammenhang mit dem Versuch einer wissenschaftlichen Grundlegung der Poetik: „Auch das Verfahren ... muß sich in der modernen Poetik ändern ... die heutige Poetik muß den entscheidenden Schritt tun, eine moderne Wissenschaft zu werden" 200 . Die Aufgabe einer „heutigen Poetik" sieht Dilthey darin, „die Probleme, welche jene Zeit ästhetischer Spekulation bearbeitete, in den Zusammenhang der modernen Erfahrungswissenschaft zu stellen ... 193

194

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198 199 200

Die Frage der Beziehung des Kunstwerks zum Publikum und zu den Bedingungen der Produktion ist bei Scherer ein zentraler Bestandteil seiner Poetik und Werttheorie, vgl. die Kapitel „Dichter und Publikum", S. 54 — 136; vgl. auch die Einleitung G. Reiss' in Scherers Poetik: „Germanistik im Kaiserreich. Wilhelm Scherers Poetik als wissenschaftsgeschichtliches Dokument". Vgl. G. G. Gervinus, Ästhetische und historische Beurteilung, in: P. Gebhardt (Hrsg.), Literaturkritik und literarische Wertung, a. a. O. S. 69. W. Scherer, a. a. O. Ders. a. a. O. S. 85 „Die Poesie, oder besser gesagt, das poetische Product, ist heut eine Ware wie eine andere, und die nationalökonomischen Gesetze des Preises und Umsatzes haben auch auf das poetische Product...ihre Anwendung". W. Dilthey, Bausteine für eine Poetik, in: W. Dilthey, Gesammelte Schriften Bd. VI, a. a. O. W. Dilthey, a . a . O . S. 108. Ders. a. a. O. S. 108. Ders. a . a . O . S. 201.

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Einleitung

den Ertrag der technischen Poetik in ein wissenschaftliches Verhältnis zu dem der ästhetischen Speculation zu setzen" 201 . Das Ziel einer wissenschaftlich zu begründenden Poetik und Werttheorie besteht nach Dilthey darin, den durch die Tradition überlieferten Begriff von Literatur aus den literarhistorischen und wissenschaftsgeschichtlichen Bedingungen der Zeit jeweils zu reformulieren und damit den Rahmen für Wertbestimmungen aufzuzeigen. Wertreflexion ist bei Dilthey in einem vielfachen Begründungszusammenhang entwickelt — poetologische, pädagogische, psychologische und methodologische Aspekte sind unmittelbar verknüpft. Aus der pädagogischen Bedeutung der Wertreflexion ergibt sich für Dilthey zugleich die Verpflichtung, die „Poetik so zu gestalten, daß sie zur Verwertung befähigt wird" 2 0 2 . Im Versuch einer wissenschaftlichen Grundlegung der Poetik geht Dilthey von der These aus, daß die „Stellung des Erkennens dem Erkannten" 2 0 3 gerecht werden muß. Wertreflexion steht im Zusammenhang mit dem Bemühen um eine Definition dessen, was Kunst ist, und einer Analyse jener „Elemente und Gesetze, auf deren Grundlage sich Dichtungen aufbauen" 204 . Die Werttheorie wird im Rahmen einer Kunsttheorie entwickelt; dabei wird nicht die methodische Begriffsbildung als Bezugsrahmen wissenschaftlicher Theoriebildung gesetzt, sondern die ästhetische Erfahrung vom Eigenwert der Literatur. Das Wort „Wert" ist bei Dilthey in Analogie gebraucht mit den Ausdrücken „wesenhaftes Merkmal der Poesie" 2 0 5 , „Gesetze des Schönen", „Regeln" der Poesie — Ausdrücke, die darauf hindeuten, daß Wertprobleme als Probleme der qualitativen, „wesenhaften" Beschaffenheit von Kunst erörtert werden. Methodenreflexion zielt bei Dilthey darauf, die im ästhetischen Erlebnis erfahrene Einheit und Ganzheit literarischer Werke begrifflich zu bestimmen und damit eine „innere Erklärung eines geistig-geschichtlichen Ganzen nach kausaler Methode" 2 0 6 zu ermöglichen. Die Maßstäbe einer wissenschaftlichen Poetik und Werttheorie sind nach Dilthey am Begriff der Kunst als einer „inkommensurablen Tatsächlichkeit" 207 zu orientieren. Werttheorie ist im Sinne Diltheys weder Ders. a. a. O. S. 123. Ders. a. a. O. S. 125. 2 0 3 Ders. a. a. O. S. 219. 2 0 4 Ders. a. a. O. S. 107. 2°s Ders. a . a . O . S. 131. 2 0 6 Ders. a. a. O. S. 125. 207 Trotz der Forderung wissenschaftlicher „Kausalerklärung" wird jede Formulierung von Wertmaßstäben als letztlich unzureichend angesehen, weil „ein dichterisches Werk jederzeit mehr (enthält), als in einem allgemeinen Satz ausgedrückt werden 201

202

Exkurs: Wissenschaft und Wertung

35

empirisch noch funktional zu fundieren. Wie seine Auseinandersetzung mit der Ästhetik Fechners 208 und der Psychologie Lotzes 209 zeigt, lehnt Dilthey den einseitigen Rückgriff auf experimentelle Methoden, die in Anlehnung an naturwissenschaftliche Verfahren entwickelt wurden, ab. „Der selbständige Wert der Dichtung ... kann nach jener äußeren empirischen Methode niemals aufgezeigt werden. Wollte der Geist sich seine eigenen Schöpfungen nur als ein objektiv Empirisches gegenüberstellen und nach der äußeren naturwissenschaftlichen Methode analysieren: dann träte eine Selbstentfremdung des Geistes seinen eigenen Schöpfungen gegenüber ein" 210 .

Ebensowenig wird die „metaphysische Methode" 211 der Romantiker (Schleiermacher, Schlegel) als zureichend für eine wissenschaftlich legitimierbare Wertbestimmung angesehen; auch die seit Aristoteles gegebene Tradition der Regelpoetik wird nicht als hinreichende Basis für Wertbestimmung anerkannt. Das Problem einer „Wertbestimmung aus einem möglichst sicheren Maßstab" 212 erfordert nach Dilthey vielmehr die Verknüpfung von poetologischer und methodologischer bzw. psychologischer Reflexion. Psychologie, Geistesgeschichte und „technische Poetik" werden als Bezugsdisziplinen von Kunst- und Werttheorie genannt. Dabei hat die historische bzw. geistesgeschichtliche Reflexion zunächst die Aufgabe, die in der Tradition der Poetik gegebenen Modelle der Kunst- und Wertdeutung als Voraussetzung einer wissenschaftlich zu begründenden Poetik zu systematisieren, damit sie dann aus dem Licht „moderner Erfahrungswissenschaft" (der Psychologie) erneuert werden können. Grundlage der Kunst- und Werttheorie Diltheys ist so ein aus der geschichtlichen Bestandsaufnahme der Poetik gewonnener Begriff der Literatur: In Anknüpfung an produktionsästhetische Kunsttheorien von Young, Shaftesbury, Goethe, Schiller wird Literatur von der Aktivität dichterischer Einbildungskraft her definiert 213 . Die produktionsästhetische Deutung der Literatur ist für Dilthey die Basis einer erfahrungswissenschaftlich zu verifizierenden Werttheorie. Literatur wird verstanden als eine durch die Einbildungskraft des Dichters vollzogene Veränderung realer Wirklichkeit in erlebte und erfühlte Bildzusammenhänge.

208 209 2,0 211 212 213

kann" (Dilthey, a. a. O. S. 206). Dilthey betont eine „notwendige Unbestimmtheit" der Prinzipien und den „Mangel...einer Meßbarkeit ihrer Wertabstufung" (ebd. S. 202). W. Dilthey, a . a . O . S. 1 5 f f . , 1 8 8 f f . , Bd. V, S. 3 5 6 f . W. Dilthey, a . a . O . S. 9 0 f . , 1 1 6 usw.; Bd. V, 8 2 f , 3 5 6 f . Ders. a . a . O . S. 125/126. Ders. a . a . O . S. 123. Ders. a. a. O. S. 108. Ders. a . a . O . S. 1 1 9 f f .

36

Einleitung „Die kernhafte Idealität des Kunstwerks liegt in dieser Symbolisierung eines ergreifenden inneren Zustands durch Außenbilder, in dieser Belebung äußerer Wirklichkeit durch einen hineingesehenen inneren Zustand" 2 1 4 .

Die psychologische Beschreibung jener Prozesse, mit denen der Dichter reale Gegebenheiten in ästhetische verwandelt, ist nach Dilthey Inhalt einer wissenschaftlichen Kunst- und Werttheorie: „Unser Gegensatz zur bisherigen Poetik ist immer klarer geworden. Wir verwarfen jeden allgemeingültigen Begriff des Schönen, aber in der Natur des Menschen fanden wir einen Vorgang des Bildens" 215 . Als wissenschaftliche Verfahrensweisen werden vorgeschlagen: biographische Analysen, historische Quellenkunde, Analysen literarischer Selbstzeugnisse und Lebensäußerungen von Dichtern: „... Verallgemeinerung durch Vergleichung, Herstellen von Reihen ... psychologisches Studium" 216 . Durch die Verknüpfung von psychologischer und geistesgeschichtlicher Betrachtung grenzt sich Dilthey von empirischer und experimenteller Psychologie ab; er versteht Psychologie als „inhaltliche Psychologie" 217 , die auf „innere Erklärung eines geistig-geschichtlichen Ganzen" 218 und auf „Kausalerklärung" zielt. Die psychologische Fundierung von Kunst- und Werttheorie kann in diesem Zusammenhang nicht im einzelnen ausgeführt werden. Festzuhalten ist die These, daß die dichterische Einbildungskraft als gesteigerte und verdichtete Form alltäglicher Lebenserfahrungen verstanden wird. Aus der näheren Analyse solcher Vorgänge seelischen Erlebens, in denen Wirkliches gesteigert und zum ästhetischen Gebilde verdichtet wird, werden einzelne Kriterien der Wertbestimmung von Literatur abgeleitet. So nennt Dilthey als Prinzipien künstlerischer Metamorphose des Wirklichen: Synthese, Symbolisierung, Spannung, Steigerung, Aussonderung des Zufälligen, Wiederholung, Verdichtung, Analogie, Verallgemeinerung, Idealisierung. Die Tätigkeit dichterischer Umdeutung des Lebens beschreibt Dilthey als Unterscheiden, Ineinssetzen, Assoziieren, Reproduzieren, Aussondern, Verschmelzen. Mit diesen Prinzipien poetischer Umwandlung des Wirklichen sind nach Dilthey jene allgemeingültigen Gesetze formuliert, die trotz aller geschichtlichen Variabilität der Kunst als konstante Wesensmerkmale und Wertbestimmungen erhalten bleiben: „Aus der Analysis der menschlichen Natur ergeben sich Gesetze, welche unabhängig vom Wechsel der Zeit den ästhetischen

2,4 215 216 217 218

Ders. Ders. Ders. Ders. Ders.

a. a. O. S. 100. a. a. O. S. 198. a. a. O. S. 127. Gesammelte Schriften, Bd. VIII a . a . O . S. 15. Gesammelte Schriften, Bd. V I a . a . O . S. 157; vgl. auch S. 189/190.

Exkurs: Wissenschaft und Wertung

37

Eindruck wie das dichterische Schaffen bestimmen". Die „Beschreibung der Organisation des Dichters" wird aber nur als die eine Aufgabe von Poetik und Werttheorie gesehen: durch den Aufweis von Prozessen des Bildens dichterischer Einbildungskraft werden Prinzipien formulierbar, mit denen Kunst als Einheit und ästhetischer Wirkzusammenhang beschreibbar wird. Die andere zentrale Frage der Poetik ist auf die Zusammenhänge zwischen den Prinzipien dichterischer Produktivität und den jeweils gewählten Darstellungsmitteln, Formen, Motiven gerichtet. Dilthey nennt diesen Teil der Poetik „technische Poetik" 219 und bezieht sowohl die traditionellen Disziplinen der Rhetorik, Stilistik, Grammatik als Grundlage ein als auch neuere ästhetische Theorien poetischer Technik von Spielhagen, Otto Ludwig, G. Freytag, sowie psychologische Untersuchungen zu Raum-, Zeit- und Wahrnehmungsformen (Fechner, Lotze) 220 . Die technische Poetik zielt auf eine Elementarlehre poetischer Strukturgesetze, die nicht nur beschrieben, sondern aus den Prozessen dichterischer Einbildungskraft erklärt werden sollen. Poetik und Wertreflexion sind — wie Dilthey es nennt — durch ,Zweiseitigkeit' bestimmt: nur in dieser doppelten Beziehung auf die durch die dichterische Produktivität gestiftete Einheit der Kunst einerseits und auf die „einzelnen Elemente und Gesetze ..., auf deren Grundlage sich Dichtungen aufbauen" 221 andererseits, sind Wertfragen nach Dilthey lösbar. Wertprobleme sind im Rahmen einer Theorie der Kunst als „geistig-geschichtlichem Ganzen" und auf der Basis einer Elementarlehre poetischer Darstellungsmittel zu begründen, sie betreffen die Kunst als Ganzes und als Teil: „Hier hat die große Regel des natürlichen ästhetischen Systems ihren Platz: in der Einheit einer reichen Mannigfaltigkeit ist die erste Bedingung des ästhetischen Eindrucks gegeben ... Die erste Regel bezog sich ... auf die sinnlichen Eindrücke und deren Einheit ... Dann differenzieren sich die Bestimmungen näher nach dem Verhältnis des Gegenstandes zu der Natur des Mittels, in welchem er sich darstellt ... Dann werden mit den Regeln einer geschichtlich bedingten Technik die ewigen Kunstgesetze entworfen" 2 2 2 .

Methodisch gesehen erfordert diese doppelte Aufgabe von Kunst- und Werttheorie einen Wechsel der Analyseverfahren. Eine wissenschaftlich legitimierbare Poetik ist für Dilthey nur im Wechsel von „induktiver" und „deduktiver" Methode, von Verstehen und Erklären begründbar. Dieses Wissenschaftsverständnis wird realisiert im Konzept der Herme-

219 220 221 222

Ders. Ders. Ders. Ders.

a.a.O. a.a.O. a. a. O. a. a. O.

S. 2 2 8 f f . S. 2 2 8 f f . S. 107. 277/278.

38

Einleitung

neutik als Einheit von Verstehen, Auslegen, Beschreiben. Im Verstehen, das auch als Induktion beschrieben ist, sieht Dilthey die Möglichkeit gegeben, das Kunstwerk nicht nur als „Haufen wirkungskräftiger Eigenschaften" 223 , sondern als Einheit aufzufassen. Durch die deduktive Methode des Erklärens wird die Struktur des Ganzen auf seine einzelnen Elemente hin beschreibbar. Die hermeneutische Grundlegung der Werttheorie hat auch den Sinn, über das Verstehen einzelner Werke hinaus deren sozio-historische und geistesgeschichtliche Bedingungen zu erklären und damit Gründe für den Wandel von Literaturbegriffen und Werturteilen zu formulieren. So wird die Vielzahl von Literaturauffassungen und Werturteilen als notwendiger Ausdruck sich verändernder historischer Konstellationen und Bewußtseinslagen gedeutet. Die Variabilität von literarischen Formen und Urteilen erscheint als Konsequenz dynamischer, je nach historischem Kontext variierender Beziehungen zwischen Kunst und Wirklichkeit. „Denn die dichterische Form ... ist ... durch die Koordination von Lebenstatsachen und Lebensvorstellungen bedingt, welche den Charakter eines Zeitalters ausmachen. Das Weltverhältnis entscheidet, welche Lebensvorstellungen das Gefühl emporhebt sowie in welcher Richtung es sie zu poetischen Bestandteilen und Beziehungen ausbildet" 224 .

Die Verknüpfung von „induktiven" und „deduktiven" Verfahren zielt mithin darauf, literarische Urteilsprozesse als Einheit von individuellem Verstehen und historischer Analyse, von Erlebnis und Erklärung zu begründen. In den differenten Wertkonzepten Scherers und Diltheys werden unterschiedliche Möglichkeiten der Theoriebildung deutlich, wie sie in der literaturwissenschaftlichen Wertungsdiskussion trotz veränderter wissenschaftsgeschichtlicher Voraussetzungen bis zur Gegenwart wirksam sind, wobei die Wertungsdiskussion in Deutschland von den Anfängen bis in die sechziger Jahre allerdings vorwiegend in Anlehnung an den geisteswissenschaftlich fundierten Wissenschaftsbegriff Diltheys entwickelt wurde. Ohne in diesem Zusammenhang auf eine Kritik 225 Scherers und Diltheys einzugehen, seien einige bei Scherer und Dilthey gegebene 223 224 225

Ders. a. a. O. S. 265. Ders. a. a. O. S. 233. Zur Kritik Scherers vgl. z. B. G. Reiss, a. a. O.; die Kritik am Wissenschaftsbegriff und Psychologiebegriff Diltheys hat eine lange Tradition (Husserl, Rickert) und reicht bis in die gegenwärtige Wissenschaftsdiskussion (Habermas, Apel, Gadamer, Rorty, Foucault). Der methodologische Stellenwert der Psychologie ist bei Dilthey weitgehend ungeklärt. Es bleibt unklar, wie empirisch-analytische Methoden in Beziehung

Exkurs: Wissenschaft und Wertung

39

Voraussetzungen literaturwissenschaftlicher Wertdiskussion zusammenfassend noch einmal genannt: Die Genese der Wertreflexion im 19. Jahrhundert steht in engem Zusammenhang mit der Herausbildung der Literaturwissenschaft als Wissenschaft. Wissenschaftsgedanke und Wertproblematik sind von Beginn an aufs engste verknüpft. Die Wertdiskussion ist Teil jenes Versuchs, die Fragestellungen traditioneller Poetik mit den Mitteln moderner Wissenschaft auf neue Weise zu beantworten. Sowohl Scherer wie Dilthey gehen davon aus, daß die Bestimmung von Kunst und Literatur nicht mehr im Rahmen philosophischer oder ,metaphysischer' Ästhetik zu leisten ist. In Abgrenzung zur traditionellen Poetik zielt Wertreflexion bei Scherer und Dilthey darauf, wissenschaftlich überprüfbare Kriterien der Deutung und Wertbestimmung von Kunst zu formulieren. Es geht beiden Autoren darum, Kategorien des Literatur- und Wertbegriffs zu entwickeln, die mit den Mitteln methodischer Analyse intersubjektiv nachvollziehbar sind. Die Verfahren sind jedoch unterschiedlich, das Verhältnis von Wissenschaft und Wertung wird jeweils unterschiedlich begründet. Bei Scherer sind die Parameter des Wissenschaftskonzepts — Genauigkeit, Überprüfbarkeit — zugleich Voraussetzung der Wertbestimmung. Aus der wissenschaftlichen Grundlegung der Werttheorie resultiert die inhaltliche Bestimmung des Gegenstandsbereichs von Wertreflexion: es sind vor allem solche Aspekte der Literatur — Sprache, Verwendung, Rezeption, Tradierung — Ausgangspunkt von Wertbestimmung, die operationalisierbar sind. Bei Scherer ist der literarische Wert als Kategorie ökonomischer und gesellschaftlicher Verwendungszusammenhänge thematisch. Wert wird vor allem als Gebrauchs- und Tauschwert begriffen. Nach Dilthey sind Fragen des Werts nur im Rahmen einer Theorie der Kunst lösbar, d. h. das Wissenschaftsverständnis ist an der spezifischen Struktur des Gegenstandes orientiert. Es liegt die These zugrunde, daß die „Stellung des Erkennens dem Erkannten" gerecht werden muß. So ist Wertreflexion nach Dilthey nicht einseitig auf der Grundlage einer methodischen Position legitimierbar, sondern erfordert eine Begründung, die nur im Zusammenhang mit dem ästhetischen Erlebnis und zu setzen sind mit Sinnverstehen. In der methodischen Konzeption psychologischer Analyse sind Begriffe vorausgesetzt, die selbst nicht weiter expliziert werden: so geht Dilthey davon aus, daß es einen Zusammenhang des Seelenlebens gibt, der als Grundlage dichterischen Schaffens zugleich die Einheit der Kunst ermöglicht; er setzt voraus, daß eine harmonische Zusammensetzung der Seelenkräfte die Bedingung für die Ganzheit und Einheit künstlerischer Gestaltung ist; im Begriff des Erlebens ist eine selbstverständliche Korrespondenz von Innen und Außen, Subjekt und Objekt gedacht.

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Einleitung

der ästhetischen Erfahrung geleistet werden kann. Die wesentliche Aufgabe von Poetik und Werttheorie wird bei Dilthey darin gesehen, die im konkreten ästhetischen Erlebnis erfahrene Bedeutung von Kunst mit den Mitteln methodischer (psychologischer, geistesgeschichtlicher, historischer) Analyse zu interpretieren und zu erklären. Mit einer solchen Fragestellung zielt Dilthey explizit darauf, die grundsätzliche Differenz zwischen dem Wissenschaftsbegriff der Naturwissenschaft und dem der Geisteswissenschaft festzuhalten 226 . Wissenschaftliche Grundlegung von Poetik und Werttheorie kann im Sinn Diltheys nicht heißen, den Gegenstand nach den Parametern exakter naturwissenschaftlicher Forschung zu analysieren; sie hat vielmehr gegenstandsadäquate Verfahren des Verstehens und Auslegens von Literatur zugrundezulegen. Den unterschiedlichen Werttheorien liegen differente Wertbegriffe zugrunde, wie sie die Entwicklung 2 2 7 der Wertdiskussion im 19. Jahrhundert bestimmen. So wird der literarische Wert einerseits als ökonomische Kategorie der Verwendung und Geltung von Literatur, d. h. als Gebrauchs- und Tauschwert verstanden (Scherer), andererseits als Kategorie des Seins und der substantiellen Qualität von Literatur gedeutet (Dilthey). Die Werttheorien Scherers und Diltheys sind jedoch nicht allein durch verschiedene Wissenschafts- und Wertbegriffe bestimmt; es liegt jeweils auch ein unterschiedliches pädagogisches Konzept zugrunde. Scherers und Diltheys Werttheorien sind didaktisch motiviert 2 2 8 : Werttheorie ist jeweils auch als Möglichkeit der „Erziehung des Volkes" verstanden. Während die pädagogische Bedeutung literarischer Werttheorie es nach Scherer jedoch erfordert, Zusammenhänge zwischen Kunst und Publikum aufzuklären und Wirkung, Rezeption und Funktion der Literatur in jeweiligen Verwendungszusammenhängen zu untersuchen, läßt sich die pädagogische Aufgabe im Sinn Diltheys nur dadurch erfüllen, daß die Konstitutionsprinzipien des Gegenstandes (der Literatur) dem Leser verständlich gemacht werden. Diese Divergenz von funktionaler und gegenstandsbezogener Begründung der Didaktik kehrt in veränderter Form in der gegenwärtigen Wertungsdidaktik wieder: Schemme 2 2 9 sieht die gegenwärtige Wertungsdidaktik durch 226 227

228

229

Vgl. H. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 1899, 1926. Vgl. H. G . Gadamer, Das ontologische Problem des Wertes, in: H. G . Gadamer, Kleine Schriften IV. Variationen. Tübingen 1977, S. 2 0 5 - 2 1 7 . Zur didaktischen Intention der Poetik und Werttheorie Scherers vgl. G . Reiss, a. a. O.; zur pädagogischen Grundlegung der Poetik und Werttheorie Diltheys vgl. Gesammelte Schriften, Bd. VI, S. 107 ff. W. Schemme, Trivialliteratur und literarische Wertung, Stuttgart 1975, S. 8 ff.

Exkurs: Wissenschaft und Wertung

41

das Gegeneinander von „fachwissenschaftlicher Versachlichung" und „politischer Pädagogisierung" 230 bestimmt. Anknüpfend an die von Scherer und Dilthey begründete Tradition der Wertdiskussion sollen Wertungsfragen im Folgenden im Zusammenhang ästhetischer, kultureller und pädagogischer Reflexion erörtert werden. In den nächsten Abschnitten werden zunächst die didaktischen Wertungspositionen verdeutlicht und damit zugleich interkulturelle und praxisbezogene Aspekte literarischer Wertungstheorien aufgewiesen. Darüberhinaus lassen sich am Beispiel der Wertungsdidaktik exemplarisch die wissenschaftsgeschichtlichen und bildungspolitischen Hintergründe der neueren veränderten Wertungskonzeptionen skizzieren.

230

W. Schemme, Curriculumprobleme des Literaturunterrichts, in: B. Sowinski (Hrsg.), Fachdidaktik Deutsch. Köln/Wien 1975, S. 218.

II. Literaturdidaktische Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre

1. Literarische Wertung als Gegenstand literaturdidaktischer Theoriebildung 1.1. Wissenschaftsreform und Wertungskonzeption Die eigenständige Entwicklung der literaturdidaktischen Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre wird als ausdrückliche Reaktion auf die wissenschaftsgeschichtlichen, gesellschafts- und bildungspolitischen Veränderungen der sechziger Jahre verstanden 1 . Wertungsdidaktik steht im Zusammenhang mit jenem durch die Wissenschafts- und Bildungsreform der sechziger Jahre ausgelösten Versuch, die Fachdidaktik als selbständige Disziplin gegenüber der Fachwissenschaft zu begründen. Das Postulat einer Verwissenschaftlichung von Fach- und Wertungsdidaktik wird mit dem Argument gerechtfertigt, daß nur die „Überwindung der klassischen Intuitionsgesellschaft" 2 bildungs- und gesellschaftspolitische Innovationsprozesse ermöglichen kann. Die sozioökonomischen und bildungspolitischen Voraussetzungen für die geforderte Wissenschafts- und Bildungsreform sind inzwischen vielfaltig beschrieben worden 3 : Explosion und Spezialisierung des Wissensstoffes, neue Begabungs- und Lerntheorien (Behaviorismus, kybernetische und 1

2

3

Vgl. z. B. N. Hopster, Literarische Wertung und Didaktik, in: R. Dithmar (Hrsg.), Literaturunterricht in der Diskussion Bd. II, a . a . O . S. 161 — 172; M. Nutz, Die affirmative Urteilsfähigkeit. Zur Kritik der Wertungsdidaktik, in: R. Dithmar (Hrsg.), a. a. O. S. 147 — 159; G. Waldmann, Theorie und Didaktik der Trivialliteratur, a. a. O.; W. Schemme, Trivialliteratur und literarische Wertung a. a. O.; H. Ide (Hrsg.), Bestandsaufnahme Deutschunterricht. Stuttgart 1970 usw. H. Stachowiak (Hrsg.), Werte, Ziele und Methoden der Bildungsplanung. Paderborn 1977, S. 15. Vgl. S. B. Robinsohn, Erziehung als Wissenschaft, hrsg. von F. Braun, D. Glowka, H. Thomas. Stuttgart 1973; P. Heintel, Modellbildung in der Fachdidaktik. Klagenfurt 1978.

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Literaturdidaktische Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre

informationstheoretische Lerntheorien), Demokratisierung von Bildung und Erziehung, Vergesellschaftung der Erziehungsprozesse, „Komplexität des zivilisatorischen Überlebens" 4 usw. Historisch gesehen ist die neuere literaturdidaktische Wertungsdiskussion das Ergebnis jener 1962 durch den Pädagogischen Hochschultag in Trier eingeleiteten Wende von der Methodik zur Didaktik. Mit der These vom „Primat der Didaktik" 5 gegenüber der Methodik erscheint die Bedeutung der Didaktik gegenüber der Tradition erweitert und gewandelt: Didaktik wird nicht länger „auf ... Methodenlehre im Dienst der Fachwissenschaft" 6 reduziert, sondern als Theorie verstanden, der es um die „Begründung der Inhalte ..., die Kriterien für die Auswahl, die Ermittlung der Struktur der Gegenstände" 7 geht. Angesichts einer ständig erforderten Anpassung von Lehr- und Bildungsplänen an veränderte Wissens- und Gesellschaftsbedingungen wird die Fachdidaktik zunehmend als Instanz verstanden, durch die früher vorausgesetzte Normen innerhalb von Kultur und Wissenschaft unter der Perspektive sich wandelnder sozio-kultureller Anforderungen jeweils neu zu rechtfertigen sind. Mit diesem Programm einer Abkehr vom Begriff der Didaktik als „Rezeptologie" 8 werden Probleme der Wert- und Normfindung integraler Bestandteil didaktischer Theoriebildung. Literarische Wertung hat damit einen gegenüber der Tradition gewandelten Stellenwert. Fast alle neueren didaktischen Wertungsansätze gehen von einer grundsätzlichen Kritik an traditionellen Literaturund Wertungskonzepten aus 9 . Wertungsdidaktik ist seit den siebziger Jahren bei Schemme, Waldmann, Nutz, Hopster, Mecklenburg u.a. 1 0 nicht mehr allein auf Fragen der Kanonbildung und der Vermittlung literarischer Werte im Unterricht gerichtet; sie wird vielmehr im Zusammenhang wissenschaftskritischer, methodologischer, literaturtheoretischer und praxisbezogener Überlegungen entwickelt. Literarische Wertungsdidaktik beinhaltet nach Beisbart eine grundsätzliche Reflexion auf das „heute mögliche Verständnis von einer Wissenschaft Litera-

4 5 6 7 8

9 10

P. Heintel, Modellbildung in der Fachdidaktik, a. a. O. S. 28. Vgl. H. Müller-Michaels, Positionen der Deutschdidaktik seit 1949, S. 43 ff. O. Beisbart, Möglichkeiten literaturdidaktischer Entscheidungen, a. a. O. S. 9. H. Müller-Michaels, Positionen der Deutschdidaktik seit 1949, a. a. O. S. 44. H. Helmers, Der moderne Deutschunterricht und seine Theorie. Von der Rezeptologie zur kritischen Diagnostik. In: W. L. Höffe (Hrsg.), Sprachpädagogik, Literaturpädagogik. Frankfurt 1969, S. 6 ff. vgl. H. Ivo, Zur Wissenschaftlichkeit der Didaktik der deutschen Sprache, a . a . O . ; K . Stocker, Literaturdidaktik, a . a . O . Vgl. unten. Vgl. LVZ.

Stellenwert der literarischen Wertung innerhalb der Literaturdidaktik;

45

turdidaktik" 11 ; sie ist nach Hopster 12 als Begründungsdisziplin der Literaturdidaktik zu verstehen. Mit dieser Verknüpfung von Theorie- und Wertungsdiskussion umgreift die Wertungsreflexion alle Bereiche der Theorie und Praxis des Literaturunterrichts: sie betrifft Fragen der Theoriebildung, der Kanondiskussion, der Lernzielbegründung, der Methodologie literarischen Verstehens und der literarischen Urteilsbildung. Seit Robinsohn sind wissenschaftsorientierte, praxisbezogene und wertorientierte Fragestellungen in einem so engen „Implikationszusammenhang" 13 gesehen, daß Wertbegründung neben der Reflexion auf den Gegenstand — die Literatur — zugleich die Analyse jener gesellschafts- und bildungspolitischen Normsysteme und der jeweiligen Methodenkonzepte voraussetzt, von denen her Wertungsdidaktik jeweils legitimiert wird. Im Problem literarischer Wertung ist die Kernfrage der Literaturdidaktik nach Möglichkeiten der Vermittlung von adäquater Gegenstandserkenntnis und pädagogischem Bildungsauftrag thematisch. In seinen Reflexionen zur Kanonbegründung bestimmt Brackert die Aufgabe literarischer Wertungsdidaktik wie folgt: „Primär geht es ... darum ..., Fragestellungen zu entwickeln, in denen das Allgemeine und das Konkrete, das bildungspolitisch Relevante und das dem literarischen Materialbereich Adäquate in ihrer dialektischen Dimension zusammengedacht werden" 14 . Mit der Verknüpfung von Theorie- und Wertungskonzeption ergeben sich unterschiedliche Ebenen wertungsdidaktischer Reflexion und damit verschiedene Aufgabenstellungen. Es sind zunächst die impliziten Voraussetzungen des veränderten Theorie- bzw. Didaktikbegriffs als Rahmenbedingungen für die Entwicklung der Wertungsdidaktik zu verdeutlichen, ferner sind Tendenzen und Legitimationsstrategien unterschiedlicher Wertungsansätze zu erhellen und einzelne Modelle der Kanon- und Zielbegründung und der Methoden literarischer Wertung aufzuzeigen. 1.2. Stellenwert der literarischen Wertung innerhalb der Literaturdidaktik Ein Überblick über die Rolle der Wertungsdidaktik innerhalb der Literaturdidaktik zeigt allerdings eine eigentümliche Paradoxie. Zwar 11 12 13 14

O. Beisbart, Möglichkeiten literaturdidaktischer Entscheidungen, a . a . O . N. Hopster, Literarische Wertung und Didaktik, a. a. O. S. B. Robinsohn, a . a . O . S. 113. H. Brackert, Literarischer Kanon und Kanonrevision, a . a . O . S. 154.

46

Literaturdidaktische Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre

werden Zusammenhänge zwischen didaktischer Theoriebildung und Wertungsreflexion implizit überall vorausgesetzt, explizit aber kaum thematisiert. So wird von Beisbart, Mecklenburg, Schemme, Nutz ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die Legitimationszusammenhänge didaktischer Entscheidungsfindung eigentlicher Gegenstand von Wertungsreflexion sind. Dennoch gibt es nur Ansätze, Literaturdidaktik durch den Entwurf einer Wertungsdidaktik zu begründen, in der Maßstäbe für die Theorie und Praxis des Literaturunterrichts, für Fragen der Zielentscheidung, der Auswahl, der Methodologie literarischer Urteilsbildung offen gelegt werden. Die Ursachen für diese .heikle' Stellung der Wertungsdidaktik sind vielfaltig. Sie sind nicht zuletzt im erfahrungs- und sozialwissenschaftlich fundierten Wissenschaftsbegriff der neueren Didaktikkonzeptionen selbst begründet. So stellt Ivo 15 in einer Übersicht über die Wertungsansätze der Literaturdidaktik fest, daß die metatheoretischen Erörterungen von Entscheidungs- und Wertproblemen „vorwiegend auf Einschätzungen beruhen und weniger auf empirisch gesicherten Forschungsergebnissen" 16 . Aus einem Wissenschaftsverständnis, das durch Kriterien der empirischen Überprüfbarkeit, Objektivierbarkeit und Operationalisierbarkeit der Inhalte und Ergebnisse geprägt ist, fallen Wertbegründungsversuche heraus; die „Entscheidung, bestimmte Basisannahmen in die wissenschaftliche Arbeit einzuführen, wird selbst als problematisch erfahren" 17 , schreibt Ivo anläßlich einer Analyse der Wissenschaftlichkeit von Didaktik. Innerhalb der Wertbegründungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre sind von Ivo 18 in Anlehnung an Robinsohn unterschiedliche Positionen differenziert worden: a) dezisionistische Position: Fragen der Entscheidungsfindung und Wertbegründung gelten als ,vorwissenschaftlicher' Entscheidungsakt, der sich rationaler Legitimation entziehe. Normen und Werte werden als von verschiedenen Instanzen (Grundgesetz, Verfassung, Bildungsund Lehrpläne) vollzogene Setzungen anerkannt. Wertungsfragen werden dann nur im Rahmen von Wenn-Dann-Argumentationen reflektiert; d. h. sie zielen auf Möglichkeiten, vorgegebene Wertvorstellungen in Unterrichtspraxis umzusetzen. b) normsetzende Position: Erziehung und Unterricht werden zwar als Veränderung von Praxis in Richtung auf wünschbare Normen 15

16 17 18

H. Ivo, Zur Wissenschaftlichkeit der Didaktik der deutschen Sprache und Literatur, a. a. O. Ders. a . a . O . S. 133. Ders. a. a. O. S. 130. Ders. a . a . O . S. 1 2 8 f f . : „Wertorientierte Fragerichtung".

Stellenwert der literarischen Wertung innerhalb der Literaturdidaktik

47

definiert. Die Frage der Normbegründung wird jedoch nur auf „mittlerer Abstraktionsebene" erörtert; d. h. Werte und Normen werden ,auf niedrigem Niveau' als Lernziele formuliert, die durch Lernzielkontrollen überprüfbar sind. c) legitimatorische Position: Werte und Wertungen werden als Voraussetzung didaktischer Theoriebildung anerkannt und als wissenschaftlich begründbar angesehen. Die legitimatorische Position wird vor allem in sozialwissenschaftlich und ideologiekritisch orientierten Wertungskonzepten deutlich (z.B. Bremer Kollektiv) 1 9 . Das Problem der Begründung von Wertungen wird im Rekurs auf „Methoden und Kategorien einer konsistenten Geschichts- und Gesellschaftstheorie" 2 0 bzw. im Rahmen einzelwissenschaftlicher Methodologie als lösbar betrachtet. d) diskursorientierte Position: Wertentscheidungen werden als Basisannahmen vorausgesetzt. Ihr Geltungsanspruch wird durch verschiedene Verfahren zu legitimieren versucht: durch historische Ableitung, ideologiekritische Analyse, sozialwissenschaftliche Untersuchungen usw. Zwar wird davon ausgegangen, daß die Begründung der Wertungen durch Diskurs nicht zu leisten ist; dennoch gilt der Diskurs in Anlehnung an Habermas als Voraussetzung für die Entwicklung von Wertbegründungsverfahren, mit denen Kriterien für die Einschätzung und Präferierbarkeit von Werten formulierbar sind 21 . Im diskursorientierten Wertbegründungsansatz soll die Vielfalt möglicher Wertsetzungen und ihre Bedeutung für den Unterricht aufgewiesen, nicht aber selbst Werte gesetzt werden, weil „Wissenschaft ... nun einmal nicht in der Lage (ist), Ziele, Normen oder Werte zu setzen" 2 2 . Innerhalb der gegenwärtigen Wertbegründungsdiskussion werden werttheoretische Legitimationen mithin durch verschiedene Instanzen zu leisten versucht: durch den Rückgang auf Entscheidungsträger (a), im Rekurs auf einzelwissenschaftliche Methodologie (c), auf Empirie (b) oder auf diskursorientierte Formen der Konsensfindung (d). Der Stellenwert literarischer Wertung innerhalb der Literaturdidaktik läßt deutlich werden, daß Wertungsreflexion in allen Ansätzen nicht als normsetzende Instanz, sondern als Verfahren der Analyse und Kritik 19

20 21

22

Vgl. z. B. Bremer Kollektiv, Grundriß einer Didaktik und Methodik des Deutschunterrichts in der Sekundarstufe I und II. Stuttgart 1974. Bremer Kollektiv, a. a. .O. S. 4. Vgl. H. Ivo, a. a. O. S. 133 ff.; J. Habermas, Erkenntnis und Interesse. Frankfurt 1973; N. Mecklenburg/H. Müller, Erkenntnisinteresse und Literaturwissenschaft. Stuttgart 1974. F. von Cube, Deutsche Bildungspolitik zwischen Traditionalismus und Reformismus. In: H. Stachowiak (Hrsg.), a. a. O. S. 46.

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Literaturdidaktische Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre

gegebener Wertsetzungen verstanden ist. Es ist vor allem dieser Begriff der Wertung als Verfahren der „Analyse faktischen Wertens" 23 , der die didaktische Theorie- und Wertungsdiskussion bestimmt. Ausgehend von der weitgehend akzeptierten Deutung der Fachdidaktik als „Theorie optimaler Organisation von Lehr- und Lernprozessen unter Wahrung der Interessen des zu belehrenden Subjekts, des zu vermittelnden Objekts und des zu erreichenden Zieles" 24 sind Wertungen vor allem in der Weise Gegenstand der Theorie- und Wertungsreflexion, wie sie „im Selbstverständnis des Faches Unterricht tatsächlich bestimmen" 25 , wie sie „empirisch antreffbar sind" 26 und die faktisch gegebenen Werteinstellungen betreffen. Als Analyse faktischen Wertens zielt didaktische Wertungsreflexion auf die Optimierung von Methoden und Prozessen der Wertvermittlung. In solchem operationalen Begriff der Wertungsdidaktik bleiben präskriptive Probleme der Werterziehung ausgeblendet. Damit ergibt sich jedoch die Gefahr, daß Werterziehung nur noch als Prozeß der Qualifizierung für gesetzte Normen und Werte beschreibbar ist 27 . Spätestens seit Mitte der siebziger Jahre gibt es innerhalb der bildungstheoretisch und kritisch orientierten Didaktik Versuche, die präskriptive Dimension der Wertungsdidaktik zurückzugewinnen. So betont Müller-Michaels, daß Didaktik zwar eine „normsetzende Handlungswissenschaft" 28 sei, daß es jedoch kaum Überlegungen zur normierenden Funktion didaktischer Entscheidungsplanung gebe. Ausgehend von einer grundlegenden Kritik an einseitig analytisch bestimmten Wertungskonzepten heben Müller-Michaels (1972), Baumgärtner (1978), Bredeila (1975/76), Weber (1978), Beisbart (1975) 29 auf den eigentümlichen Wissenschaftscharakter der Didaktik ab: als auf Praxis bezogene Handlungswissenschaft könne Didaktik sich nicht nur auf die Analyse und Kritik von Tatsachen beschränken; sie setze jeweils bereits Wertentscheidungen voraus, die es zu verdeutlichen und zu begründen 23 24

25 26 27

28

29

G. Waldmann, Theorie und Didaktik der Trivialliteratur, a. a. O. K . Stocker, Fachdidaktik in der Lehrerausbildung. — Das Beispiel Deutschdidaktik. In: Ders. und J. Timmermann, Fachdidaktik in Universität und Schule. Fachdidaktische Studien 10. München 1974, S. 37. H. Ivo, a . a . O . S. 41. Ders. a. a. O. Vgl. H. Lenk, Wertanalyse, Handlungserklärungen und Methodologisches zur Normenproblematik in der Bildungsplanung. In: H. Stachowiak (Hrsg.), a. a. O. S. 81—97; D. Suhr, Philosophisch-operationale Überlegungen zur Wert- und Normfindung in Bildung und Wissenschaft. In: H. Stachowiak (Hrsg.), a . a . O . S. 99 —115. H. Müller-Michaels, Literaturdidaktik als normsetzende Handlungswissenschaft. In: J. Vogt (Hrsg.), Literaturdidaktik. Aussichten und Aufgaben. Düsseldorf 1972. Vgl. LVZ.

Stellenwert der literarischen Wertung innerhalb der Literaturdidaktik

49

gelte. Wertungsdidaktik wird bei Beisbart, Bredeila, Krzywon, Baumgärtner ausdrücklich mit dem Ziel entwickelt, implizite und vorausgesetzte Normen und Werte in direkte umzuformulieren und damit Kriterien für eine .inhaltliche' Begründung literatur- und wertungsdidaktischer Entscheidungsfindung zu gewinnen. E s wird gefordert, nicht in der „Immanenz der einzelwissenschaftlichen Reflexion (zu) verharren, sondern ... den Blick auf die normativen Voraussetzungen der Wissenschaften offen (zu) halten" 3 0 und damit Kriterien der Begründung von Werturteilen abzuleiten. Eine Darstellung der Tendenzen neuerer Wertungsdidaktik setzt somit zunächst eine Auseinandersetzung mit dem Wissenschaftsbegriff der Didaktik bzw. der Literaturdidaktik voraus. Zwar kann in diesem Zusammenhang nicht im einzelnen auf die weitverzweigte Theoriediskussion um die Begründung der Literaturdidaktik eingegangen werden 31 . Angesichts der Vielzahl literaturdidaktischer Theoriekonzepte scheint die Reflexion auf zugrundeliegende Kategorien des Wissenschaftsbegriffs zunächst überhaupt fruchtlos. Trotz der unterschied30

31

J . Derbolav, Versuch einer wissenschaftstheoretischen Grundlegung der Didaktik. In: D . C. Kochan (Hrsg.), Allgemeine Didaktik, Fachdidaktik, Fachwissenschaft. Darmstadt 1972, S. 42. Vgl. dazu z . B . K . Stocker, Literaturdidaktik. a . a . O . ; Heuermann et al., Literatur und Didaktik. Göttingen 1973; J . Vogt, Literaturdidaktik. Düsseldorf 1972; H. Ide (Hrsg.), Bestandsaufnahme Deutschunterricht, a. a. O.; Ders. (Hrsg.), Tendenzen der Literaturdidaktik. Sonderband der Zeitschrift „Diskussion Deutsch". Frankfurt 1974; M. Dahrendorf, Literaturdidaktik im Umbruch. Düsseldorf 1975; F. J . Payrhuber/ A. Weber (Hrsg.), Literaturunterricht heute — warum und wie? Freiburg 1978 usw. Als „Wissenschaft v o m Literaturunterricht und damit Teil der umfassenden Theorie der Bildungsinhalte" (Stocker 1976, a. a. .O.) wird Literaturdidaktik als Disziplin zwischen Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften und den Fachwissenschaften verstanden. J e nachdem, welche Bezugsdisziplin vorrangig Grundlage der fachdidaktischen Theoriebildung ist, ergeben sich unterschiedliche Begriffe von Literaturdidaktik. S o wird Fachdidaktik als Unterrichtswissenschaft verstanden, in der — in Anlehnung an die Berliner lerntheoretische Schule — vorrangig Fragen von Lernen und Unterricht thematisiert werden, oder Literaturdidaktik ist als Vermittlungswissenschaft gedeutet (Rezeptologie), die in enger Anlehnung an fachwissenschaftliche Methodologie entwickelt wird, oder Literaturdidaktik wird als Integrationswissenschaft aufgefaßt, in der sowohl die Bezüge des Faches zu den Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften wie zu den Fachwissenschaften in die didaktische Theoriebildung einbezogen sind. Neben diesen drei Deutungen, von denen die dritte die Diskussion weitgehend bestimmt, gibt es einen vierten Begriff der Fachdidaktik — den Begriff der Fachdidaktik als Reflexionswissenschaft (Derbolav, Heintel u. a.), in dem es um Fragen der wissenschaftstheoretischen Grundlegung geht (vgl. Ivo 1977, a . a . O . , vgl. auch L. Bredeila, Einführung in die Literaturdidaktik. Stuttgart 1976); vgl. K . Stocker (1976), a. a. O. S. 247: „ E i n e einheitliche Theorie der Literaturdidaktik etwa im Sinne einer „monistischen" Didaktik-Konzeption ist ebensowenig zu erwarten wie ein etwaiger Methodenmonismus der Literaturwissenschaft".

50

Literaturdidaktische Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger j ä h r e

liehen Theorieansätze innerhalb der Literaturdidaktik sind jedoch konzeptuelle Voraussetzungen erkennbar, die den divergierenden Theorieauffassungen gemeinsam sind: die Kritik am traditionellen Wissenschaftsverständnis der Didaktik, die Forderung einer Verwissenschaftlichung und Vergesellschaftung von Erziehung und Bildung, die Rationalisierung didaktischer Entscheidungsplanung durch die Orientierung an gesetzten Zielvorstellungen. Mit der Analyse dieser grundlegenden Voraussetzungen der verschiedenen didaktischen Theorieansätze können zugleich die Rahmenbedingungen für ein verändertes Verständnis von Inhalten und Methoden der Wertungsdidaktik verdeutlicht werden. Mit der Reflexion auf das veränderte Wissenschaftsverständnis werden jene Zusammenhänge zwischen Theorie- und Wertungsdiskussion erkennbar, die die Revision traditioneller Wertungsansätze ausgelöst haben. Bevor deshalb auf die Analyse der wertungsdidaktischen Konzepte im einzelnen eingegangen wird, sollen zunächst Elemente der Wissenschaftskritik und Gründe für die Reform traditioneller Didaktikkonzeptionen dargestellt werden.

1.3. Zur Reform traditioneller Didaktikkonzeptionen In seinem grundlegenden, die Curriculumdiskussion auslösenden Aufsatz „Bildungsreform als Revision des Curriculum" 3 2 (1969/71) zeigt Robinsohn im einzelnen auf, daß die Voraussetzungen traditioneller geisteswissenschaftlich und bildungstheoretisch fundierter Didaktik durch die gesellschaftspolitischen, technologischen und wirtschaftlichen Entwicklungen seit den fünfziger Jahren überholt seien 33 . Bereits 1954 konstatiert er: „Die Bildungspläne der deutschen Höheren Schule sind den Umwälzungen nicht nachgekommen, die in den letzten fünfzig Jahren den Zustand und das Bewußtsein der Gesellschaft und des Staates verändert haben; sie haben die Prägungen weithin festgehalten, die aus vergangenen geistigen, wirtschaftlichen und politischen Verfassungen stammen" 3 4 . Als solche ,Prägungen' geisteswissenschaftlicher Didaktik werden genannt: 1) ein Bildungssystem, das an den Bildungsinteressen einer Klasse orientiert sei, sowie 2) eine relativ stabile Gesell32

33

34

S. B. Robinsohn, Bildungsreform als Revision des Curriculum 1967/71. In: S. B. Robinsohn, Erziehung als Wissenschaft, hrsg. von F. Braun/D. Glowka/H. Thomas. Stuttgart 1973, S. 1 1 0 - 1 8 1 . Vgl. auch W. Killy, Bildungsfragen a. a. O.; R. Minder, Soziologie der deutschen und französischen Lesebücher (1953). In: H. Helmers (Hrsg.), Die Diskussion um das deutsche Lesebuch. Darmstadt 1969. S. B. Robinsohn, a. a. O. S. 99.

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Zur Reform traditioneller Didaktikkonzeptionen

schaft, die keinerlei rasche Veränderungen und Anpassungsleistungen der Schule notwendig werden ließ. Mit der fortschreitenden Entwicklung von Technik und Wissenschaft, der Spezialisierung und Explosion von Wissen, dem verstärkten sozialen Wandel, der Nivellierung der „Unterscheidung zwischen Gebildeten und Nicht-Gebildeten" 3 5 , der zunehmenden Ökonomisierung der Lebensbereiche sind im Sinn Robinsohns Bedingungen gegeben, die eine „systematische Revision" des Wissenschafts- und Bildungsbegriffs erforderlich werden, lassen, um eine „Anpassung der Bildungsinhalte an die Aufgabe der Welt von heute und morgen" 3 6 zu ermöglichen. In einer vergleichenden Bestandsaufnahme amerikanischer, englischer, schwedischer und bundesrepublikanischer Reformbemühungen in den sechziger Jahren unterscheidet Robinsohn verschiedene Ansätze zu einer Neukonzeption des Wissenschafts- und Bildungsbegriffs: 3 7 a) den „ökonomisch-statistischen" 38 Ansatz, der in der Forderung einer größeren Effizienz und Funktionalität des Bildungswesens begründet ist und vor allem in amerikanischen und schweizerischen Modellen der Bildungsplanung verwirklicht sei. Gerechtfertigt wird das Postulat ökonomischer Bildungsplanung aus der Einsicht in die zunehmende Verflechtung wirtschaftlicher, technischer, wissenschaftlicher und kultureller Lebensbereiche. Nach Robinsohn erscheint es sinnvoll, das wirtschaftliche Prinzip von Nutzenkalkulation und Effektivitätssteigerung auch als Prinzip der Lehrplankonstruktion einzubeziehen. Dabei gelten die in Beruf und Gesellschaft geforderten Qualifikationen als Maßstab effektiver Lehrplangestaltung und Bildungsplanung. Seit der Ablösung des Bildungsbegriffs durch den Begriff der Qualifikation wird Bildung als Faktor allgemeiner gesellschaftlicher Produktionsund Arbeitsprozesse verstanden. Durch die Verwendung des Qualifikationsbegriffs wird Bildung als eine auf bestimmte Anforderungssituationen hin orientierte Verhaltensdisposition definiert. b) Als weiteres Element des neueren Didaktikbegriffs nennt Robinsohn die „sozialpolitische Forderung" 3 9 einer Demokratisierung des Bildungswesens, bzw. das Postulat der „Bildung als Bürgerrecht" (Dahrendorf) 4 0 : Anstoß dieses sozialpolitischen Ansatzes ist der Anspruch, die verfassungsmäßig garantierte Chancengleichheit zum Maßstab für 35 36 37 38 39 40

Ders. a. a. O. Ders. a. a. O. S. 129. Ders. a . a . O . S. 123 ff. Ders. a . a . O . S. 123. Ders. a . a . O . S. 127f. R. Dahrendorf, Bildung S. 1 6 - 2 0 .

ist Bürgerrecht.

Die „Zeit"-Bücher.

Hamburg

1965,

52

Literatuididaktische Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre

die Konstruktion der Lehrpläne werden zu lassen. Unter dem Gesichtspunkt der Demokratisierung sollen Bildungsinhalte nicht mehr nach den Vorstellungen einer bestimmten bürgerlichen Gesellschaftsschicht formuliert werden; vielmehr soll der in der Verfassung „garantierte Anspruch des jungen Menschen auf eine seiner Begabung entsprechende Erziehung und Ausbildung" Maßstab für Curriculumkonstruktion sein. Ziel demokratischer Bildungsplanung müsse es sein, die Inhalte des Unterrichts so auszuwählen, daß individuelle und soziale Barrieren abgebaut werden und der Vielfalt sozialer Ansprüche und individueller Qualifikationen Rechnung getragen werde. c) Eng verknüpft mit den Postulaten der Demokratisierung und Effektivitätssteigerung von Bildungsplanung ist die Forderung nach Objektivierung und Rationalisierung der Unterrichtsinhalte 41 . Angesichts der in Amerika in den fünfziger Jahren entwickelten behavioristischen, informationstheoretischen und kybernetischen Lerntheorien wird eine stärkere Rationalisierung der Bildungsinhalte als unverzichtbare Voraussetzung einer effektiven Bildungsplanung angesehen. Erziehungs- und Lernprogramme sind nach Robinsohn nur dann den Erfordernissen des sozialen Wandels anzupassen, wenn die Prinzipien technischer und organisatorischer Innovationen zugleich auch Maßstab der Lehrplankonstruktion werden. Operationalisierbarkeit und Objektivierbarkeit gelten als entscheidende Kriterien der Lehrplangestaltung. d) Diesen weitgehend formal organisatorischen Prinzipien der Bildungsplanung stellt Robinsohn einen vierten Ansatz entgegen, der als Grundlage aller anderen Ansätze gedacht ist: die Reform von den Inhalten her 42 . Nur mit der Reform der Inhalte ist im Sinn Robinsohns ein solides Fundament gegeben, um die gesellschafts- und bildungspolitischen Erfordernisse einer Anpassung der Lehrpläne an veränderte Bedingungen von Wissenschaft und Gesellschaft zu verwirklichen. Die Notwendigkeit dieser Reform wird durch die Diagnose der gesellschaftlichen Situation der Zeit — der ökonomisch bedingten Umwertung von Inhalten und Fächerhierarchien, der Spezialisierung, der Wissensexplosion und der Demokratisierung von Bildung und Erziehung — erklärt. Das von Robinsohn entwickelte Konzept einer Reform der Inhalte bildet die Grundlage für die Theorie- und Wertungsdiskussion der Didaktik seit Ende der sechziger Jahre. Mit einem knappen Aufriß 41

42

S. B. Robinsohn, a. a. O. S. 129; zur bildungspolitischen Reformdiskussion vgl. z. B. auch: J . Derbolav, Grundlagen und Probleme der Bildungspolitik. München 1977; H. Stachowiak (Hrsg.), a. a. O. S. B. Robinsohn, a . a . O . S. 129.

Revision von Bildungsinhalten und Wertungsdidaktik

53

der wesentlichen Gesichtspunkte zur Reform der Inhalte können jene Voraussetzungen des gegenwärtigen Wissenschafts- und Didaktikbegriffs verdeutlicht werden, die den differenten Theoriekonzepten als gemeinsame Basisannahmen zugrunde liegen und die damit Legitimationsgrundlage der Wertungsdiskussion sind.

1.4. Robinsohns Konzept einer Revision von Bildungsinhalten als Legitimationsgrundlage neuerer Wertungsdidaktik Die Kritik an wesentlichen Prämissen der geisteswissenschaftlich orientierten Pädagogik und Didaktik bildet die Voraussetzung für die von Robinsohn geforderte „Revision des Curriculum". Die Kritik richtet sich in erster Linie gegen das ,Autonomie'-Prinzip der traditionellen Pädagogik. Damit wird gegen einen Begriff von Didaktik polemisiert, demzufolge Didaktik „nichts anderes (sei) als die Transformation oberster vorpädagogischer Sinn-Normen über das menschliche Leben, über die Stellung des Menschen in der Welt ... in Erziehungs- und Bildungsziele, aus denen dann Unterrichtsinhalte hergeleitet werden" 43 . Robinsohn versteht sein Konzept zur Bildungsreform als Reaktion auf „das zunehmende Versagen" einer erziehungswissenschaftlichen Tradition, die „ihre Wurzeln in den idealistischen Bildungsvorstellungen und in der .Deutschen Bewegung' hat" 44 . Es ist sein Ziel, die „Reduktion" 45 des didaktischen Problemhorizontes aufzubrechen, da es nicht mehr genüge „von einem vorgefundenen Kanon von Wissensgebieten und Wissenschaften ... (auszugehen) und zur Formulierung der ihnen immanenten Bildungsziele dadurch zu gelangen ..., daß ... Gehalte der vorgegebenen Inhalte identifiziert und die Bedingungen ihrer Transposition in den Erziehungs- und Unterrichtsvorgang ... (geklärt werden)" 46 . Diese „Reduktion der Didaktik" sieht Robinsohn als Ursache für das zunehmende Versagen der Bildungs- und Lehrpläne angesichts der sich verändernden sozio-kulturellen Bedingungen. Aus mehrfachen Gründen könne ein solches reduktionistisches Konzept der Didaktik die erforderliche „Anpassung der Bildungsinhalte an die Aufgabe der Welt von heute und morgen" 47 nicht leisten: a) Der zugrundeliegende Bildungsbegriff ist nach Robinsohn demokratiefeindlich. Der pädagogiH. Blankertz, Theorien und Modelle der Didaktik. München 1972, S. 19. S. B. Robinsohn, a. a. O. S. 146. 45 Ders. a . a . O . S. 1 4 7 f . ^ Ders. a . a . O . S. 147. 47 Ders. a . a . O . S. 129. 43 44

54

Literaturdidaktische Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre

sehe Grundsatz des Comenius „omnes omnia docendi" könne solange nicht erfüllt werden, als die Bildungsziele und -inhalte durch einen bereits sanktionierten Kanon vorausgesetzt und nicht in rationalem Diskurs begründet werden, b) Durch die Methode hermeneutischer Identifizierung von Inhalten seien Auswahl und Begründung von Bildungsinhalten letztlich „purer Intuition" 4 8 überlassen bzw. einer Elite von „moralisch und politisch Führenden" 4 9 überantwortet, c) In der Selbstbeschränkung auf vorgefundene Inhalte bleibe die Didaktik in „schierem Dezisionismus" 5 0 befangen. Eng verknüpft mit der Kritik an der Selbstbeschränkung der Didaktik ist die kritische Auseinandersetzung mit dem „organologischen" Theoriebegriff geisteswissenschaftlicher Didaktik, den Robinsohn vor allem in. der pädagogischen Kategorialforschung' von Litt, Spranger, Derbolav, Klafki verwirklicht sieht 51 . Das wesentliche Kennzeichen organologischen Denkens besteht nach Robinsohn darin, Bildungsinhalte in ,intuitiver' Weise „objektivistisch rein von der Sache aus" 5 2 zu begründen und die Substanz von Inhalten und Kulturtraditionen als Maßstab für die Formulierung von Bildungszielen anzusetzen. Diese Reduktion auf einen sanktionierten Kanonbestand, auf ein kulturelles Erbe, reicht im Sinne Robinsohns jedoch nicht aus, Erziehung als „pragmatische Ausrüstung für Bedürfnisse realer Existenz" 53 zu verwirklichen. Zwar wird die Kulturtradition als wichtiger Faktor der Bildung anerkannt; es wird gefordert, „pädagogisches Denken in unmittelbaren Kontakt mit Kulturtradition zu halten" 54 . Die Methode hermeneutischer Identifizierung von Bildungsinhalten wird jedoch als unzureichendes Mittel zur Identifizierung von Bildungszielen und -inhalten bezeichnet, weil unklar bleibe, „in welcher Kompetenz die inhaltliche Operationsgrundlage für jene Kategorien festgestellt wird" 5 5 . Organo-

48 49

50 51 52 53 54

55

Ders. a. a. O. S. 149. Ders. a . a . O . S. 152, wie Robinsohn in Anlehnung an H. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. Frankfurt 1963, S. 112 — 115 ausgeführt. Ders. a . a . O . S. 166. Ders. a . a . O . S. 147ff. Ders. a. a. O. S. 149. Ders. a . a . O . S. 133. Ders. a. a. O. S. 150; in Auseinandersetzung mit Flitner (a. a. O. S. 150) bezeichnet er Flitner als einen Pädagogen, dem es „... um Begegnung mit geistigen Ursprüngen (gehe), die lebendig zu erhalten sind, weil sie der Bemeisterung unserer gegenwärtigen Situation dienen . . . " (150); die Notwendigkeit geisteswissenschaftlicher Theoriebildung in der Didaktik wird an keiner Stelle bezweifelt, nur fordert Robinsohn eine Verknüpfung von geistes- und naturwissenschaftlichen Methoden in der Bildungsplanung. Ders. a. a. O. S. 148.

Revision von Bildungsinhalten und Wertungsdidaktik

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logisches Denken widerspricht im Sinne Robinsohns den Anforderungen an einen Didaktikbegriff, der durch Objektivierbarkeit und Rationalisierbarkeit der Inhalte konstituiert sein müsse. Die Kritik am organologischen Wissenschaftsverständnis traditioneller Didaktikkonzeptionen schließt zugleich die Kritik am geisteswissenschaftlich fundierten Bildungsbegriff ein. Angesichts veränderter soziokultureller und wissenschaftsgeschichtlicher Bedingungen wird der humanistische Bildungsbegriff vor allem deshalb problematisiert, weil Bildung „objektivistisch" und „substantialistisch" von den Bildungsgegenständen her definiert werde, so daß die „Identifizierung grundlegender geistiger Gehalte" 5 6 der ausschließliche Gegenstand traditioneller Bildungsplanung sei. Solche objektivistische Bestimmung des Bildungsbegriffs reduziert Bildung nach Robinsohn auf „Leistungswissen" 57 , ohne daß der Aspekt des „Verfügungswissens" und damit die Fähigkeit, die „Erfahrung der Lebenswirklichkeit helfend zu begleiten" 58 zureichend berücksichtigt wäre. Zudem seien die Kategorien des traditionellen Bildungsbegriffs — Humanität, Wahrheit, Freiheit, Autonomie, Selbstbestimmung — nicht operationalisierbar, da keine rationalisierbaren Wege zur Erreichung dieser Ziele formuliert werden könnten. Im Verzicht auf eine Reflexion von Zusammenhängen zwischen der Substanz der Bildungsgehalte und der durch sie zu erreichenden Kompetenzen und .Verhaltensdispositionen' verfehle der geisteswissenschaftlich geprägte Bildungsbegriff die sozialanthropologische Komponente aller Bildung. Damit werde die „Diskrepanz ... zwischen Bildungsbedürfnissen und -erwartungen einerseits und den im Grunde unangetasteten Bildungshierarchien andererseits" 59 unaufhebbar. Diese Kritik am geisteswissenschaftlichen Bildungs- und Wissenschaftsbegriff zielt bei Robinsohn jedoch noch keineswegs auf eine grundsätzliche Ablehnung traditioneller Bildungsinhalte, sondern vielmehr auf ihre fach- und sozialwissenschaftliche Grundlegung. Es geht Robinsohn darum, hermeneutische und fach- bzw. sozialwissenschaftliche Verfahren der Identifizierung von Bildungsinhalten zu vermitteln, damit nicht allein die Frage nach der „Substanz" von Bildungsgegenständen, sondern zugleich deren „Leistung für Weltverstehen" Kriterium didaktischer Entscheidungsplanung werden kann. Vor dem Hintergrund dieser in groben Punkten zusammengefaßten Kritik am Wissenschafts- und Bildungsbegriff der geisteswissenschaft56 57 58 59

Ders. Ders. Ders. Ders.

a.a.O. a.a.O. a.a.O. a.a.O.

S. S. S. S.

150. 132f. 133. 152.

56

Literaturdidaktische Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre

liehen Didaktik werden die Gesichtspunkte zur Reform von Bildungsplanung und -inhalten im einzelnen konkretisiert. 1. Angesichts zunehmender Verflechtung kultureller Traditionen mit gesellschaftspolitischen, wirtschaftlichen und wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklungen ist die Didaktik nicht mehr aus einer „isolierten Fachprovinz" 60 zu begründen, wie u. a. Schemme in Anlehnung an Robinsohn betont. Das Prinzip der Autonomie der Didaktik wird durch einen Wissenschafts- und Bildungsbegriff abgelöst, demzufolge Fragen der Bildung als „molare Probleme" verstanden sind. Bildungsplanung ist demnach nur im Kontext sämtlicher — gesellschaftspolitischer, ökonomischer, sozial- und fachwissenschaftlicher — Bezugsbereiche bildungspolitischer Entscheidungsfindung zu leisten. Fragen der Bildungsplanung, Lehrplanorganisation, Unterrichtskonzeption werden als interdisziplinär 603 zu lösende Aufgaben betrachtet. Curriculare Didaktik wird als „policy science" gedeutet, die von der wissenschaftstheoretischen Reflexion zur methodologischen Legitimation, von der Inhalts- und Zielbestimmung zur empirischen Analyse pädagogischer Praxis alle Aspekte traditioneller und neuerer Didaktik „in engem Implikationszusammenhang" 61 zusammenschließt: „Als policy science verbindet wissenschaftliche Curriculumarbeit Reflexion und Interpretation kultureller Traditionen, sozial- und verhaltenswissenschaftliche Teiltheorien, empirische Evidenzen und Entscheidungsmodelle so, daß praktische Operationen realisierbar werden" 62 . In diesem holistischen Konzept ist die Frage der Identifizierung von Bildungsinhalten nicht allein von den Bildungsgegenständen her zu beantworten, sondern nur durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit aller an der Bildungsplanung beteiligten Instanzen — Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Wissenschaften — zu lösen. 2. Das Ziel holistischer Didaktikkonzeption ist es, traditionelle Bildungsplanung aus „pädagogischem oder politischem Dezisionismus heraus in Formen eines rationalen gesellschaftlichen Konsens" 63 zu heben und an Stelle „gesetzter Lehrinhalte" 64 Verfahren der Legitimierung von Bildungsinhalten zu entwickeln. Curriculare Didaktik versteht sich als ein Versuch, „inhaltliche Curriculumentscheidungen ... auf ausgesprochene und akzeptable Kriterien" 65 zu gründen. Den Unter60

W. Schemme, Trivialliteratur und literarische Wertung, a. a. O. S. 10. > Vgl. Robinsohn, a . a . O . S. 167. 61 Robinsohn, a . a . O . S. 113. 62 Ders. a . a . O . S. 113. 63 Ders. a . a . O . S. 153. 64 Ders. a . a . O . S. 115. 65 Ders. a. a. O. S. 166.

6fk

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schied zwischen geisteswissenschaftlichem und curricularem Wissenschaftsverständnis kennzeichnet Robinsohn als Unterschied zwischen „Intuition" und „Rationalität" 6 6 . Die Curriculumtheorie zielt auf eine „wissenschaftlich gelenkte Rationalisierung bildungspolitischer Entscheidungen" 6 7 . Die Aufgabe der Didaktik wird darin gesehen, Methoden und Kriterien zu entwickeln, mit denen die „Auswahl und Priorität der Bildungsinhalte durch rationale Begründungen und objektive Erkenntnisse" 68 legitimierbar wird. Die Rationalisierung und Objektivierung didaktischer Theoriebildung wird auf verschiedene Weise angestrebt: durch die Forderung nach einer Abkehr von Stoffplänen zugunsten von lernzielorientierten Curricula; durch die eindeutige Identifizierung jener Instanzen, die die Bildungsziele und -inhalte formulieren und durch die Konstruktion operationalisierbarer methodischer Verfahren 69 . Die Lernzielorientierung soll einen Legitimationszusammenhang garantieren, durch den die Ubereinstimmung von Zielen, Inhalten, Methoden und Ergebnissen kontrollierbar wird. Das schließt zugleich eine Rationalisierung der Mittelwahl ein. Darüberhinaus ermöglicht die Lernzielorientierung es im Sinn Robinsohns, Lerninhalte in Prozessen öffentlicher Entscheidungsfindung aus den jeweilig herrschenden Maßstäben gesellschaftlichen Bewußtseins jeweils zu revidieren. Die Auswahl von Inhalten ist demnach nicht im Sinn organologischen Denkens im Rekurs auf einen pädagogisch und kulturell sanktionierten Kanon zu leisten, sondern durch ständige Kontrolle jenes „Konsenses, der in dem normativen Anspruch geltender Bildungspläne impliziert ist" 70 . Durch die Lernzielorientierung ist Bildungstheorie als „Systemfunktion" begriffen. Damit gelten nicht mehr allein kulturelle Traditionen als Maßstab für die Auswahl von Inhalten, sondern vor allem jene Entscheidungs- und Planungsprozesse, in denen die Funktion der Inhalte für gesellschaftliche Kommunikationssysteme ermittelt wird. Seit der Auflösung des Autonomieprinzips der Pädagogik wird Bildungsplanung zum Produkt öffentlicher Entscheidungsfindung, wobei jene Instanzen Legitimationsgrundlage der Bildungsinhalte sind, durch die die „Anforderungen gegenwärtiger und zukünftiger Existenz" 71 formuliert werden. Als solche Instanzen, die die Kriterien für die Auswahl von Inhalten vorgeben, nennt Robinsohn: Wissenschaft („die Bedeutung

Ders. Ders. 8 Ders. 69 Ders. 70 Ders. 71 Ders. 66

67

a.a.O. a. a. O. a. a. O. a.a.O. a. a. O. a.a.O.

S. S. S. S. S. S.

145ff. 147. 166. 166ff. 166. 136.

58

Literaturdidaktische Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre

eines Gegenstandes im Gefüge der Wissenschaft" 7 2 ), Gesellschaft („die Funktion eines Gegenstandes in spezifischen gesellschaftlichen Verwendungssituationen" 7 3 ), Kultur („die Leistung eines Gegenstandes für Weltverstehen, d. h. für die Orientierung innerhalb einer Kultur und für die Interpretation ihrer Phänomene" 7 4 ). Mit den genannten Instanzen wird die angestrebte Revision der Bildungsinhalte konkret. Der Rekurs auf Wissenschaft zielt auf eine Objektivierung der Bildungsinhalte, weil „vorrangig" durch das „Universum der Fachwissenschaften ... die Beobachtung und Interpretation der Wirklichkeit ... systematisch unternommen wird, und weil durch ihre Methoden und Resultate der Mensch diese Wirklichkeit zu bewältigen unternimmt" 7 5 . Fachwissenschaftliche Methodologie wird zur Basis für die Identifizierung von Bildungsinhalten. „Fachwissenschaftliche Relevanz" und „Verwendung solcher Qualifikationen in bestimmten Situationen des persönlichen und öffentlichen Lebens" 7 6 gelten innerhalb des Curriculumansatzes als entscheidende Kriterien der Auswahl von Inhalten. Lerninhalte werden mithin wesentlich aus der Perspektive unterschiedlicher fachwissenschaftlicher Methodologien thematisch. Dabei dienen neben den Fachwissenschaften auch die anthropologischen Wissenschaften wie Erziehungswissenschaft, Sozialwissenschaft, Psychologie usw. als Grundlage didaktischer Entscheidungsfindung. Die Verwissenschaftlichung schließt die Atomisierung von Bildungsinhalten in eine Vielzahl einzelwissenschaftlicher Beschreibungsmöglichkeiten ein 77 . Damit kann ein inzwischen immer wieder beklagter Verlust kultureller Traditionen verknüpft sein. Verwissenschaftlichung bedeutet zugleich, daß die Maßstäbe des jeweiligen Wissenschaftsbegriffs — wie z. B. kritische Rationalität, Operationalisierbarkeit, Transparenz — zum Kriterium für die Auswahl der Inhalte werden, so daß vor allem solche Inhalte Gegenstand der Lehrpläne sind, die den Anforderungen der Operationalisierung genügen. Beispiele aus der Deutschdidaktik sind

72 73 74 75 76 77

Ders. a . a . O . S. 169. Ders. a . a . O . S. 169/170. Ders. a . a . O . S. 169. Ders. a . a . O . S. 168. Ders. a . a . O . S. 172. Robinsohn weist selbst auf die Gefahren einer Verwissenschaftlichung von Bildungsplanung hin ( a . a . O . S. 151): Bildungsinhalte werden atomisiert und rekonstruieren nurmehr jene partiale Weise der Wirklichkeitsdarstellung, wie sie von den Fachwissenschaften geleistet wird, wobei vorwissenschaftliche, empathetische Zugänge zu den Bildungsgegenständen ausgespart bleiben. Um dieser Gefahr zu entgehen, fordert Robinsohn eine Vermittlung von hermeneutischer und methodologischer Erschließung von Bildungsinhalten.

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etwa die Aufnahme von linguistischen, texttheoretischen und strukturalen Methoden zur Textklassifizierung und -beschreibung. Neben den Wissenschaften sind gesellschaftliche Verwendungssituationen zentrales Kriterium für die Auswahl der Inhalte. Ausgehend vom Begriff der Erziehung als „Ausstattung zur Bewältigung von Lebenssituationen" 78 werden Bildungsinhalte unter der Perspektive ihrer Funktion für Erfordernisse des privaten und öffentlichen Lebens gewählt. Der herrschende Konsens über „Anforderungen gegenwärtiger und zukünftiger Existenz" 79 gilt als Maßstab für Curriculumplanung. Die sozialanthropologische Fundierung des Bildungsbegriffs setzt ein gegenüber der Tradition grundsätzlich verändertes Bildungskonzept voraus: Mit dem Begriff der Bildung als sozialem Qualifikationsprozeß wird Bildung nicht allein aus der „Substanz bildender Gehalte" begründet, sondern zugleich aus der nach „Relevanz- und Adäquanzkriterien" 80 ermittelten Funktion der Bildungsinhalte für gesellschaftliche Verwendungssituationen. Die Kategorie der Verwendungssituation wird zum Maßstab der Zielplanung. Zentrale Frage didaktischer Entscheidungsplanung ist die „Frage nach der Substanz, deren Beantwortung eben nur aus einer Kompetenz heraus erfolgen kann, die in den Wissensgebieten und Lebens-, also auch Berufsbereichen selbst liegt" 8 1 . In solcher Funktionalisierung der Bildung auf Prozesse gesellschaftlicher Anforderungen ist Bildung zweckrational bestimmt; sie wird zur Kategorie instrumentaler ufid strategischer Rationalität. Bildungsinhalte sind vor allem aus der Perspektive ihrer ,Leistung' für soziale Handlungsfähigkeit Gegenstand von Bildungsplanung. „Die Erkenntnis, daß an Gehalten einer Kultur gebildet wird, kann nicht bedeuten, daß wir die Kriterien unserer Auswahl nicht vom Bildungsziel, das ein Ziel des Verhaltens ist, ableiten dürfen" 8 2 . Als Verfahren für eine funktionsadäquate Auswahl von Bildungsinhalten werden u. a. Expertenbefragung, Marktanalysen, empirische Untersuchungen vorgeschlagen 8 3 . Die soziale Orientierung der Bildungsinhalte bedeutet zugleich, daß Curriculumplanung an die jeweiligen Voraussetzungen sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden gebunden ist. Mit der Veränderung der „globalen Maßstäbe gesellschaftlichen Bewußtseins" sind im Sinne der Curriculumplaner immer auch

78 79 80 81 82 83

Ders. Ders. Ders. Ders. Ders. Ders.

a.a.O. a.a.O. a.a.O. a.a.O. a.a.O. a.a.O.

S. S. S. S. S. S.

167. 136. 173. 149. 151. 172ff.

60

Literaturdidaktische Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre

zugleich Inhalte und Ziele des Curriculum zu ändern. Das Prinzip der dynamischen Anpassung an wechselnde Erfordernisse der Gesellschaft wird als notwendiges Element in die Bildungsplanung einbezogen; die Fähigkeit zur Veränderung erscheint als Qualifikationsmerkmal des gebildeten Menschen: „Kulturmündigkeit heißt Mündigkeit in einer Kultur, nicht für eine Kultur" 84 . Neben Wissenschaft und Gesellschaft gilt die Erfahrungswirklichkeit des Schülers als weitere zentrale Legitimationsgrundlage von Bildungsplanung. Die Orientierung des Curriculum an den Instanzen von Wissenschaft, Gesellschaft, privaten und öffentlichen Verwendungssituationen zielt programmatisch auf eine Funktionalisierung der Bildung auf die von den verschiedenen Bereichen geforderten Qualifikationen. Mit der Festlegung von Instanzen, durch die Inhalte und Ziele der Bildung definiert werden, ist Bildung nicht mehr im Sinne der idealistischen Tradition als eine Kategorie gefaßt, die im Rahmen der innerhalb der Pädagogik/ Philosophie entwickelten Begriffe von Individualität, Selbstbestimmung, Wahrheit, Freiheit usw. zu definieren ist. Das curriculare Bildungskonzept versteht sich als konsequente Reaktion auf die „Vorstellung von unserer Epoche als einer, die (— auf Grund wissenschaftlicher und technologischer Revolution —) im Begriff ist, aus der Tradition herauszutreten" 85 . Bildung wird nicht „objektivistisch" von Kulturinhalten her verstanden, sie gilt nicht allein als Form der ,Erbeaneignung'. „Die tradierte Kultur, gleichsam als objektivierter Geist, ist dieses pädagogische Kriterium nicht" 86 . Unter der Perspektive, daß Lernprozesse Strategien zur Bewältigung von Lebenssituationen freisetzen sollen, hat die Substanz überlieferter kanonischer Lehrinhalte ihre selbstverständliche Geltung verloren. Das Verhältnis zur Uberlieferung — wie zu vorgegebenen Bildungsinhalten überhaupt — ist wesentlich durch die Frage nach der Funktion kultureller Tradition für konkrete gesellschaftliche Verwendungssituationen bestimmt. Bildung wird bei Robinsohn als ein Prozeß individueller und sozialer Verhaltensbildung (Qualifikation) aufgefaßt. Gegenüber dem „traditionellen idealistischen Bildungsbegriff' 8 7 prägt Robinsohn den Begriff des „technologischen Humanismus" 88 , mit dem Bildung als

84 85

86 87 88

Ders. a . a . O . S. 151. Ders. a. a. O. S. 134; vgl. auch W. Oelmüller (Hrsg.), Materialien zur Normendiskussion, 3 Bde. Paderborn 1978/79. Ders. a . a . O . S. 151. Ders. a. a. O. S. 140. Ders. a. a. O. S. 142.

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Ausbildung von Strategien individueller und sozialer Handlungskompetenzen beschrieben wird. Mit der Einbeziehung von erfahrungswissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen und empirischen Methoden wird Bildung als „empirisch überprüfbarer Vorgang" 8 9 gedeutet. „Strukturelles Grundmuster der modernen Erziehungstheorien ist der operationalisierte und kontrollierte Prozeß..." 9 0 . In der Wissenschafts- und Bildungskritik Robinsohns sind konzeptuelle Voraussetzungen didaktischer Theoriebildung in den siebziger Jahren vorentworfen 9 1 . Dazu gehören a) die gesellschaftspolitische Grundlegung des Wissenschafts- und Erziehungsbegriffs, b) die Demokratisierung und Rationalisierung von Erziehungsprozessen, c) die Abkehr von Stoffplänen zugunsten von Lernzielkatalogen und die damit verbundene Kritik am objektivistischen' Erziehungsbegriff traditioneller Didaktik. Ferner gelten d) Verwissenschaftlichung und Vergesellschaftung als Postulate didaktischer Theoriebildung. Fachwissenschaftliche Methodologie erscheint als das Instrumentarium, durch das Bildungsinhalte formuliert und interpretiert werden. Sozialwissenschaftliche Methoden und Daten dienen als Grundlage für die Beschreibung der Bildung als eines Sozialisationsprozesses. Zudem werden die Maßstäbe des zugrundeliegenden Wissenschaftsbegriffs — (Rationalität, Operationalisierbarkeit, empirische Überprüfbarkeit) — und die Normen des gesellschaftlichen Kommunikationszusammenhangs — (Mündigkeit, Emanzipation, Demokratiefahigkeit, Autonomie) — als Kriterien für die Auswahl von Bildungsinhalten gesetzt. Lerninhalte werden unter dem Gesichtspunkt definiert, inwieweit sie den Erfordernissen der Operationalisierbarkeit, empirischen Überprüfbarkeit, Rationalität 89 90

91

Ders. a . a . O . S. 170. E. Becker/G. Jungblut, Strategien der Bildungsproduktion. Eine Untersuchung über Bildungsökonomie, Curriculumentwicklung und Didaktik im Rahmen systemkonformer Qualifikationsplanung. Frankfurt 1972, 2 1974, S. 15; vgl. ferner T. Rülcker, Bildung, Gesellschaft, Wissenschaft. Eine Einführung in Grundbegriffe, Perspektiven und Grenzen der deutschen Curriculumdiskussion. Heidelberg 1976 (mit einem ausführlichen Literaturverzeichnis zur Curriculumdiskussion); E. K ö n i g , Theorie der Erziehungswissenschaften, 3 Bde. München 1975/78 (insb. Bd. 2); J . Habermas, Stichworte zur geistigen Situation der Zeit, 2 Bde. Frankfurt 2 1979; H. L . Meyer (Hrsg.), Curriculumrevision — Möglichkeiten und Grenzen. München 1971. A u f die weitverzweigte Curriculumdiskussion in den siebziger Jahren kann in diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen werden; vgl. Anm. 90; vgl. R. Künzli (Hrsg.), Curriculumentwicklung — Begründung und Legitimation. München 1975; K . F r e y (Hrsg.), Curriculum-Handbuch. München, Zürich 1975, 3 Bde; J . Zimmer (Hrsg.), Curriculumentwicklung im Vorschulbereich, 2 Bde. München 1973; zur Kritik der Curriculumdiskussion vgl. E . K ö n i g , Theorie der Erziehungswissenschaften, a . a . O . ; P. Heintel, Modellbildung in der Fachdidaktik. Klagenfurt 1978; H. Stachowiak (Hrsg.), Werte, Ziele und Methoden der Bildungsplanung, a. a. O. usw.

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Literaturdidaktische Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre

einem literatur- zum leserzentrierten Literaturunterricht gekennzeichnet 103 . e) Ausgehend vom Begriff der Literatur als gesellschaftlich bedingter Sprachverwendung wird literarische Wertung von Schemme, Waldmann, Ivo als Gesellschaftsanalyse bzw. als Interessen- und Bedürfnisanalyse entwickelt. Wertungskompetenz erscheint in diesem Sinne als Form von Sozialkompetenz bzw. individueller und sozialer Handlungsfähigkeit (Vergesellschaftung) m . f) Grundlage für die Entwicklung von Kriterien und Verfahren literarischer Wertung ist die fachwissenschaftliche Methodologie. Die wertungsdidaktischen Ansätze sind danach zu unterscheiden, welche einzelwissenschaftlichen Beschreibungsverfahren jeweils zugrundegelegt werden; so werden wertungsdidaktische Positionen in Anlehnung an semiotische, rezeptionsästhetische, texttheoretische, ideologiekritische und soziologische Methoden entwickelt (Verwissenschaftlichung). g) Mit der Verwissenschaftlichung der Wertungsdidaktik werden die Maßstäbe des jeweils zugrundeliegenden Wissenschafts- und Gesellschaftskonzepts als Kriterien literarischer Wertung vorausgesetzt. Die Richtziele des Erziehungsprozesses — Erziehung zur Demokratie, Mündigkeit, Kommunikationsfähigkeit usw. — gelten als Kriterien, nach denen der Wert von Literatur für Schüler beurteilt wird. Literatur wird dann hochgewertet, wenn sie geeignet ist, die jeweiligen Zielvorgaben zu erfüllen. Ferner ergeben sich aus den im Wissenschaftsbegriff der Didaktik gesetzten Postulaten der Rationalität, Operationalisierbarkeit und empirischen Überprüfbarkeit auch inhaltliche Bestimmungselemente wertungsdidaktischer Diskussion. Der Wertungsvorgang wird als operationalisierbarer Prozeß der Normenanalyse und -kritik entwickelt. Ausgehend vom Begriff der Literatur als Zeichen/Kommunikation wird Wertungsdidaktik auf einen objektivierbaren Textbegriff bezogen; mit der Funktionalisierung des literarischen Werts auf die Erwartungen/ Bedürfnisse von Lesern ist Wertung zudem als prinzipiell empirisch überprüfbarer Vorgang gedeutet. Der Weg zur Rationalisierung von Wertungsdidaktik ist fast überall ähnlich: es geht nicht um den Entwurf einer Theorie des literarischen 103

104

M. Dahrendorf, Literaturdidaktik im Umbruch. Düsseldorf 1975 vgl. a . a . O . S. 293: „Die kopernikanische Wende im literaturdidaktischen Denken besagt, daß sich die Didaktik ihre Ziel- und Auswahlentscheidungen nicht von einem vorhandenen und von der Literaturwissenschaft beschriebenen System Literatur vorschreiben läßt, sondern von den Bedürfnissen der Schüler und von ihren jetzigen und späteren Lebenssituationen her argumentiert". Vgl. W. Schemme, a . a . O . ; G. Waldmann, a . a . O . ; M. Nutz, a . a . O .

Revision von Bildungsinhalten und Wertungsdidaktik

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Werts, sondern um eine Analyse jener Kommunikationszusammenhänge, innerhalb deren Werte formuliert und Kanonentscheidungen getroffen werden, d. h. um eine Theorie der „Wertgeltung": „Wir durchschauen nachträglich die ideologische Herkunft aller historischen Lehrund Lektürepläne. A b e r eine solche Ideologisierung ist nicht dadurch zu vermeiden, daß wir uns nun der Ideologie eines didaktischen Ästhetizismus ergeben, sondern nur dadurch, daß wir die Relativität aller unserer didaktischen Entscheidungen sachlich zu begründen lernen" 105 .

h) Mit der Deutung literarischer Wertung als „Teilsystem" gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse wird Wertungsdidaktik als eine interdisziplinär zu lösende Aufgabe verstanden, die die Zusammenarbeit von Literaturwissenschaftlern, Soziologen, Pädagogen, Lernpsychologen, Politologen, Philosophen 106 erfordert. Trotz dieser weitgehend gemeinsamen Voraussetzungen didaktischer Wertungsdiskussion seit Anfang der siebziger Jahre gibt es eine Fülle unterschiedlicher wertungsdidaktischer Ansätze. Das liegt einerseits an der weitverzweigten didaktischen Theoriediskussion selbst, die neben lerntheoretischen und kontroversen curricularen Theorieansätzen auch geisteswissenschaftlich und bildungstheoretisch orientierte Theoriemodelle einschließt 107 . Während in Robinsohns holistischer Theoriekonzeption hermeneutische und zielorientierte Verfahren didaktischer Entscheidungsfindung noch ausdrücklich vermittelt sind, ist die fortlaufende Diskussion durch eine zunehmende Ausdifferenzierung der bei Robinsohn zusammengefaßten — normativen, empirisch-positivistischen, konzeptuellen, hermeneutischen, situationsorientierten — Verfahren der Bildungsplanung gekennzeichnet. Als Hauptströmungen wertungsdidaktischer Theoriebildung lassen sich zielorientierte und gegenstandsorientierte Ansätze unterscheiden. Neben diesen aus den Zusammenhängen zwischen Theorie- und Wertungsdiskussion resultierenden Unterschieden sind die einzelnen wertungsdidaktischen Ansätze ferner danach voneinander abzugrenzen, welche Bezugsbereiche — Text, Leser, Produktions- und Rezeptionsbedingungen — in den Vordergrund treten, welche methodische Konzeption dem Literatur- und Wertungsbegriff jeweils zugrundegelegt und wie Wertung im Rahmen der Anforderungen von Erziehung, Wissenschaft und Gesellschaft bestimmt wird. Zudem zeigt der Überblick über die Entwicklung der Wertungsdiskussion seit Anfang der siebziger Jahre bis zur Gegenwart deutliche 105 106 107

H. G. Herrlitz, a. a. O. S. 260. Vgl. W. Schemme, a. a. O. S. 10. Vgl. E. König, a . a . O . ; H. Ivo 1977, a . a . O . ; H. Blankertz, Theorien und Modelle der Didaktik. München 1972; O. Schober 1977, a . a . O .

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Literaturdidaktische Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre

Veränderungen: die frühen Wertungsansätze am Anfang der siebziger Jahre stehen ganz im Zeichen einer Hinwendung zu neuen Formen des Literaturunterrichts: Literaturunterricht wird zum Sprachunterricht, Sozialkundeunterricht, Kommunikationstraining, zur politischen Erziehung umgedeutet 108 . Dabei werden Trivialliteratur und Gebrauchsliteratur zum Modellfall für eine funktionalistische und rezeptionsorientierte Wertungskonzeption, die wesentlich auf Gesellschafts- und Kommunikationstraining zielt. — Seit Mitte der siebziger Jahre spiegeln sich veränderte Tendenzen der Curriculumdiskussion in der Wertungsdidaktik: durch die Entwicklung vom geschlossenen zum offenen Curriculum wird die lineare Beziehung zwischen Theorie- und Entscheidungsprozessen aufgegeben und die Bedeutung von situativen, empirischen und schülerbezogenen Aspekten verstärkt als Grundlage wertungsdidaktischer Entscheidung einbezogen 109 . Es mehren sich Ansätze einer empirischen Fundierung der Wertungsdidaktik durch Leserforschung, Interessen- und Bedürfnisanalysen, Marktforschung 110 . Gleichzeitig sind seit Mitte der siebziger Jahre verstärkt Tendenzen einer Rückkehr zu traditionellen Inhalten und Formen des Literaturunterrichts erkennbar 111 . Zentrale Grundsätze der ersten Reformbemühungen werden kritisch beleuchtet oder heftig befehdet. Im Zuge der sog. Tendenzwende wird die einseitig politische und gesellschaftliche Orientierung des Literaturunterrichts kritisiert, der ungeschichtliche Begriff der Literatur als „Kommunikation" bemängelt, die enge Bindung des Literatur- und Wertungsbegriffs an einzelwissenschaftliche Methodologie problematisiert, der Verlust kultureller Traditionen beklagt und die Ausblendung der naiven, vorwissenschaftlichen Zugangs-

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109

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H. Ide, Bestandsaufnahme Deutschunterricht, a. a. O.; Ders. (Hrsg.), Tendenzen der Literaturdidaktik, a. a. O.; K . Behr et al., Grundkurs f ü r Deutschlehrer: Sprachliche Kommunikation. Weinheim/Basel 3 1975; K . H. Fingerhut (Hrsg.), Deutschdidaktik und Gesellschaftstheorie. Paderborn 1977; J. Förster, Ästhetische Erkenntnis im kritischen Deutschunterricht. Paderborn 1977; J. Vogt, Literaturdidaktik, a . a . O . Zum „offenen Curriculum" vgl. A . Garlichs et al., Didaktik offener Curricula. Weinheim/Basel 1974; H. Moser, Offene Curricula. In: Zeitschrift f ü r Pädagogik, 1973, H. 3; W. Klafki et al. (Hrsg.), Probleme der Curriculumentwicklung. Stuttgart 1972; Deutscher Bildungsrat: Empfehlungen der Bildungskommission: Zur Förderung praxisnaher Curriculumentwicklung. Stuttgart 2 1974; D. Lenzen (Hrsg.), Curriculumentwicklung f ü r die Kollegstufe. Frankfurt 1975. Vgl. J. Grzesik, Interaktions- und Leistungstypen im Literaturunterricht. Opladen 1982; vgl. K . Stocker, Leserforschung, DFG-Projekt; H. Ivo, 1977 a . a . O . A . C. Baumgärtner/M. Dahrendorf (Hrsg.), Zurück zum Literaturunterricht. Braunschweig 2 1979; H. Mainusch (Hrsg.), Literatur im Unterricht. München 1979; F. J. Payrhuber/A. Weber (Hrsg.), Literaturunterricht heute — warum und wie? Freiburg 1978.

Revision von Bildungsinhalten und Wertungsdidaktik

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weisen zur Literatur als unzulässige ,Domestizierung' der Literatur gekennzeichnet 112 . Bredeila (1975), Baumgärtner (1978), Weber (1978), Geißler (1982) u.a. fordern, Literatur nicht mehr nur „im Hinblick auf ihre Verwendungszusammenhänge zum Gegenstand von Unterricht" 113 zu machen, sondern den Bildungswert „der Sache selbst" 114 in den Vordergrund zu rücken. Die Diskussion um eine Revision des Literaturunterrichts ist inzwischen so weit fortgeschritten, daß die Frage nach einem gegenstandbezogenen, sinnorientierten Literaturunterricht wieder zentrales Thema wertungsdidaktischer Reflexion geworden ist. Dennoch stellt Geißler in einem Überblick über neuere Tendenzen der Literatur- und Wertungsdidaktik mit Recht eine „Diskrepanz ... von Wollen und Verwirklichung" 115 fest und bemerkt zugleich den Grund: „Die technokratischen Lösungen haben die substantiellen Innovationen umgebogen oder aufgezehrt" 116 . Geißler betont, daß die veränderten Denkformen der Literaturdidaktik so tiefgreifende Wirkungen gehabt haben, daß sie als „Sachzwänge" auch noch die Reformbestrebungen bestimmen. Er weist darauf hin, daß „an die Stelle eines sich auf Sachen und Probleme einlassenden Denkens ... mehr und mehr ein operationales Denken getreten (ist), das den formalistischen Organisationstrategien entspricht, wie sie im wirtschaftlich-administrativen Bereich gang und gäbe sind" 117 . Auch Baumgärtner konstatiert am Beispiel der Kanondiskussion noch immer eine stärkere Vorliebe für Lernzielkataloge als für einen verpflichtenden Kanonbestand: „Die Lage ist heute zweifellos die, daß die Ablehnung eines in welchem Rahmen auch immer verpflichtenden Textkanons als Grundlage des Literaturunterrichts entschieden weiter verbreitet ist als die Forderung nach ihm ,.." 118 . Ferner sind wesentliche Voraussetzungen der früheren Reformbemühungen wie z. B. die Erweiterung des Literaturbegriffs zum Textbegriff, die soziale Fundierung des Literaturbegriffs, das Postulat nach „rationalen Methoden im Umgang mit Literatur" 119 , die Lernzielorientierung des Litera-

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116 117 118 119

Vgl. Anm. 111. Hessische Rahmenrichtlinien. Deutsch. Frankfurt. S. 46. A. C. .Baumgärtner, Streitpunkte. In: A. C. Baumgärtner/M. Dahrendorf (Hrsg.), a.a.O. S. 21. R. Geißler, Wider den technokratischen Reform-Formalismus. In: A. C. Baumgärtner/ M. Dahrendorf (Hrsg.), a. a. O. S. 48. Ders. a.a.O. S. 48. Ders. a.a.O. S. 48. A. C. Baumgartner, in: A. C. Baumgartner/M. Dahrendorf (Hrsg.), a.a.O. S. 15. A. C. Baumgärtner/M. Dahrendorf (Hrsg.), Wozu Literatur in der Schule? Braunschweig 1970, S. 65.

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Literaturdidaktische Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre

turunterrichts, die einzelwissenschaftliche Orientierung der Wertungsdidaktik usw. auch in gegenwärtigen Wertungsansätzen beibehalten. Insgesamt zeigt die geschichtliche Entwicklung der wertungsdidaktischen Diskussion eine Vielzahl von Positionen, deren Voraussetzungen nicht immer deutlich thematisiert sind. Das alte „Gegeneinander zweier Schulen" 120 , der Gegensatz von „literarästhetischen" und „leseerzieherischen" Positionen, wie er noch die Anfange der Wertungsdidaktik bestimmte, ist z. T. nivelliert, z. T. sind Tendenzen integrativer Wertungsdidaktik erkennbar, in der die unterschiedlichen Ansätze als verschiedene Akzentuierungen literarischer Rezeption einbezogen sind. Innerhalb der wertungsdidaktischen Diskussion gibt es nur wenige Untersuchungen, in denen ein „systematisches Bemühen" 121 um Fragen literarischer Wertung deutlich wird. Es sind dies die Arbeiten von Schemme (1975), Waldmann (1973) und Beisbart (1975) 122 . Dabei ist es bezeichnend, daß zwei dieser Untersuchungen — die von Schemme und Waldmann — an der Trivialliteratur orientiert sind. Trivialliteratur wird als der Typus von Literatur dargestellt, an dem das veränderte Wertungskonzept exemplarisch für alle Textsorten zu entwickeln ist. Neben diesen ausführlichen Untersuchungen gibt es eine Fülle von Einzelaufsätzen zu Fragen der Wertungsdidaktik, in denen jeweils einzelne Probleme theoretischer Grundlegung (Nutz, Henze, Mecklenburg, Hopster, Pilz/Kaiser, Baumgärtner, Bredella, Krzywon, Weber 123 ) oder der Methoden literarischer Wertung (Fingerhut, Krzywon, Baumgärtner, Dahrendorf 124 ) oder der Kanonbildung (Müller-Michaels, Herrlitz, Brackert, Geißler 125 ) behandelt werden. Insgesamt ist festzustellen, daß die Fragen der theoretischen Grundlegung von Wertungsdidaktik bisher einen weitaus größeren Raum einnehmen als Probleme konkreter Wertungspraxis in der Schule oder Fragen der Methoden literarischer Urteilsbildung. Es fehlt bisher ein systematischer Überblick über Entwicklungen und Positionen der wertungsdidaktischen Diskussion. Ohne die Klärung der veränderten Bedingungen der wertungsdidaktischen Theorie seit Anfang der siebziger Jahre läßt sich eine Rückkehr zu gegenstandsbezogenen Formen des Literaturunterrichts jenseits bloßen Traditionalismus jedoch kaum sinnvoll begründen. Die berechtigte Forderung eines

120 121 122 123 124 125

A. C. Baumgärtner, a. a. O. S. 64. W. Schemme, Trivialliteratur und literarische Wertung, a.a.O. S. 100. Vgl. LVZ. Vgl. LVZ. Vgl. LVZ. Vgl. LVZ.

Kritik an traditioneller Wertungstheorie und -didaktik

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„Zurück zum Literaturunterricht" kann erst aus der kritischen Aufarbeitung jener Prämissen, die zur Auflösung literarischer Überlieferungszusammenhänge geführt haben, legitimiert werden. Deshalb sollen zunächst Grundzüge der wertungsdidaktischen Reflexion seit Beginn der siebziger Jahre verdeutlicht und Legitimationszusammenhänge zwischen Theorie und Praxis der Wertung aufgewiesen werden; ferner ist auf die seit Mitte der siebziger Jahre einsetzende Kritik an funktionellen Wertungsansätzen einzugehen und die .Tendenzwende' „Zurück zum Literaturunterricht" zu charakterisieren.

1.5. Kritik an traditioneller Wertungstheorie und -didaktik Voraussetzung für die Neukonzeption der Wertungsdidaktik ist die in Anlehnung an die literaturwissenschaftliche Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre entwickelte Kritik an traditionellen Wertungskonzepten, am traditionellen Literatur- und Wertbegriff und an wesentlichen Voraussetzungen klassisch-romantischer Literaturtheorie 126 . Die Reformbemühungen innerhalb der Wertungsdidaktik spiegeln in analoger Weise die Kritik der Curriculumtheoretiker an der Reduktion der geisteswissenschaftlichen Didaktik auf einen vorgegebenen Kanon von Inhalten, Normen und Wertentscheidungen. Das Argument der curricularen Didaktik gegen die Autonomie der Erziehungswissenschaft, gegen die Selbstbeschränkung auf einen vorgegebenen Kanon von Wissen und Werten wird in vollem Umfang in der Kritik an den geisteswissenschaftlich orientierten Wertungsansätzen deutlich. Gegenüber „Spekulation und Idealismus der traditionellen Literaturpädagogik" 127 sollen Fragen der Auswahl, der Kanonbildung, der Wertung und literarischen Urteilsbildung aus „metaphysischem Dezisionismus" herausgehoben und zum Gegenstand intersubjektiv kontrollierbarer Prozesse von Entscheidungsfindung werden. Neuere Wertungsdidaktik zielt darauf, die im überlieferten Kanon sanktionierte Auswahl von Inhalten im Licht der gewandelten Bedingungen von Wissenschaft und Gesellschaft zu revidieren und an den veränderten sozio-kulturellen, wissenschaftlichen und technologischen Anforderungen zu orientieren. Dieser Gesichtspunkt einer Demokratisierung und Rationalisierung literatur- und wertungsdidaktischer Theoriebildung bestimmt die kritische Stellung ge126

127

Vgl. J. Schulte-Sasse, Literarische Wertung. 2 1976; vgl. auch v. Heydebrand, Literarische Wertung, a. a. O. H. Heuermann, Entwurf eines literaturdidaktischen Funktionsmodells. In: H. Heuermann/P. Kühn/B. Röttger, Literatur und Didaktik. Göttingen 1973, S. 33.

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Literaturdidaktische Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre

genübet geisteswissenschaftlich orientierten Wertungsmodellen. Die wesentlichen Elemente dieser Kritik seien knapp zusammengefaßt. In seiner Auseinandersetzung mit literaturwissenschaftlicher und -pädagogischer Wertungsdiskussion konstatiert Schemme „eine Fülle von Vorurteilen, die das Werten in der Literaturwissenschaft der letzten hundert Jahre ebenso bestimmt haben wie das zumeist unreflektierte Werten im Bereich der Schule" 128 . Als solche Vorurteile werden u. a. genannt: der normative, an der klassisch-romantischen Kunst- und Werttheorie orientierte Literatur- und Wertbegriff, die werkästhetische Fundierung des Kunst- und Wertbegriffs, die Verknüpfung von Kunstund Werttheorie, die Dichotomie von Kunst und Nicht-Kunst und die daraus folgende Beschränkung des Lektürekanons auf ästhetisch hochwertige Texte, die Vernachlässigung historischer, sozialer und zeitgeschichtlicher Kontextbezüge von Literatur, die fehlende Berücksichtigung des Lesers sowie die „irrationalen" Formen der Textbegegnung des Verstehens und Erlebens als Grundlage von Werterfahrung 129 . Die Kritik richtet sich, wie Waldmann ausführt, gegen den „in mehrerer, vor allem in gesellschaftlicher Hinsicht verkürzten Begriff von Literatur" 130 und gegen „den ideologisierten Begriff von Wert" 131 . So seien Werte in phänomenologischen und normästhetischen Ansätzen als „apriorische Qualität" 132 bestimmt, die dem Werk als „unableitbare ... und vom Wertgefühl unmittelbar erfahrene geistige Größe" 133 innewohne. Eine solche Deutung verkennt im Sinne Schemmes, Waldmanns u. a. den kommunikativ bedingten Charakter aller Wertung. „Auf diese Weise werden in Wirklichkeit gesellschaftlich ... bedingte Wertnormen zu unbefragten Sachqualitäten des Objekts überhöht" 134 . Werte seien nicht etwas „apriori Gegebenes", „sondern ... etwas an die konkrete geschichtliche Wirklichkeit Gebundenes" 135 . Die Annahme der „Apriorität und Objektivität der Werte" 136 führe dazu, daß Werte nur als „intuitiv garantierte Bewußtseins- und Erfahrungstatsache" 137 erfaßbar, nicht aber durch ,logischen Beweis' oder kritische Rationalität legitimierbar sind.

128 129 130 131 132 133 134 135 136 137

W. Schemme, a. a. O. S. 36. Vgl. W. Schemme, a.a.O.; G. Waldmann, a.a.O.; M. Nutz, a.a.O. usw. G. Waldmann, a. a. O. S. 78. G. Waldmann, a. a. O. S. 78. W. Schemme, a. a. O. S. 40. Ders. a. a. O. S. 40. Ders. a. a. O. S. 72. Ders. a. a. O. S. 46. Ders. a. a. O. S. 42. Ders. a. a. O. S. 42.

Kritik an traditioneller Wertungstheorie und -didaktik

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Schemme (1975), Waldmann (1973), Nutz (1972), Hopster (1973) kritisieren die Konsequenzen des phänomenologisch begründeten Wertbegriffs für die Wertungspraxis in der Schule. Traditionelle Wertungsdidaktik leiste keine Erziehung zur „Fähigkeit des Wertens", sondern diene nur der Identifikation mit .verordneten' Wertsystemen: „Das so ausgelöste Werterlebnis ist kein Akt ... rationaler Wertung, sondern gelenkte Identifikation ... eine Art Dienst am Lesegut" 138 . Nutz weist darauf hin, daß Wertungskompetenz „bisher als Fähigkeit des Schülers verstanden ... (wurde)..., rational die Qualität jener Literatur feststellen zu können, die ihm durch die Lehrpläne verordnet ..." wurde 139 . Traditionelle Wertungsansätze bieten dem Didaktiker im Sinn Schemmes „kaum eine Chance, wirklichkeitsbezogen über Wertung nachzudenken" 140 . Es gehe, wie Waldmann, Dahrendorf (1971), Schemme ausführen, wesentlich nur darum, einen als Kulturgut vorgegebenen Kanonbestand in seinem Wert zu bestätigen und vorgegebene Werturteile nachzuvollziehen. Es ist deutlich, daß die Kritik an werkimmanenten und normästhetischen Wertungstheorien im Zeichen jenes von Robinsohn entfalteten Programms einer Abkehr von der „Intuitionsgesellschaft" steht. Traditionelle Wertungsansätze sind als ideologisch', ,affirmativ' und ,irrational' bezeichnet. Als Maßstäbe für eine veränderte Legitimation der Wertungsdidaktik gelten Rationalität, Objektivierbarkeit, Transparenz, gesellschaftliche und einzelwissenschaftliche Fundierung der Wertungskonzeptionen. Die gesellschafts- und bildungspolitischen Voraussetzungen der kritischen Bestandsaufnahme traditioneller Wertungsdidaktik werden besonders am Beispiel der Polemik gegen Methoden literarischer Wertung im traditionellen Literaturunterricht deutlich. Die Kritik richtet sich gegen die Verknüpfung von ästhetischer Werterziehung und literarischer Geschmacksbildung. Binneberg 141 , Henze 142 weisen darauf hin, daß literarische Wertungspraxis bis in die sechziger Jahre als Ausbildung von Wertgefühl, Geschmackserziehung und als Verfeinerung ästhetischer Bildung verwirklicht wurde. Es werden Beispiele aus Richtlinien, Empfehlungen und Methodiken zitiert, mit denen Wertung als „Erziehung zu ästhetischer Empfänglichkeit", als „Gemütsbildung", und als Geschmackserziehung beschrieben wird. Die Grundlagen eines

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142

Ders. a . a . O . S. 104. M. Nutz, a . a . O . S. 148. W. Schemme, a . a . O . S. 101. K . Binneberg, Wertgefühl. In: N. Mecklenburg (Hrsg.), Zur Didaktik der literarischen Wertung. Frankfurt 1975, S. 9 6 - 1 0 6 . W. Henze, Poetik und Didaktik, a. a. O.

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Literaturdidaktische Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre

solchen Wertungskonzepts werden abgelehnt: Wertung könne nicht mehr im Rahmen der Diltheyschen Kategorien von Erleben und Verstehen der Dichtung bestimmt werden. Die Auffassung, daß literarische Bildung und ästhetische Evidenzerfahrungen unmittelbare Voraussetzungen adäquater Wertung sind, wird als ,elitär' abgewiesen. Eine Wertungstheorie, die sich nur an „Berufene" wende, bewirkt nach Schemme nicht nur ein passives Verhältnis des Schülers zur Literatur, sondern sei zudem höchst „undemokratisch": „Eine solche elitär-undemokratische Grundhaltung verwehrt dem Schüler jeden möglichen Wertzugriff' 143 . Die gesellschaftspolitischen Erfordernisse von Chancengleichheit, Demokratie und kritischer Rationalität seien im Rahmen traditioneller Wertungskonzepte nicht zu verwirklichen, weil Wertung als Form der „Einfühlung" rationaler Kontrolle entzogen bleibe und nur als „gesteuerte Rezeption" 144 möglich sei. Sofern die Wertungspraxis der fünfziger und sechziger Jahre auf der Grundlage ästhetischer Erkenntnis als „wertende Interpretation" literarischer Gestaltungszusammenhänge verwirklicht wurde, blieb sie im Sinn Schemmes „ein Nicht-Lehrbares, Nicht-Erklärbares, Nicht-zu-Rechtfertigendes" 145 . Traditionelle Wertungsansätze widersprechen im Sinn kritischer Wertungsdidaktik nicht nur dem gesellschaftspolitischen Postulat der Chancengleichheit; sie setzen zudem einen Begabungs- und Lernbegriff voraus, der durch informationstheoretische, kybernetische und behavioristische Lerntheorien überholt sei. Das pädagogische Prinzip, alle alles zu lehren (omnes omnia docendi), lasse sich mit einem Wertungsansatz, der an Voraussetzungen wie literarische Bildung, ästhetische Sensibilität, Geschmacksbildung gebunden sei, nicht realisieren: „Der Wertende wird als solcher vorausgesetzt, der a priori ein konformes Wertsensorium mitbringt, das nicht eigentlich mehr auszubilden, das allenfalls zu stabilisieren ist, nicht zuletzt durch die Vorgabe bestimmter Wert- und Wertungsmuster" 146 . Über die Ablehnung erlebnisästhetisch orientierter Wertungsverfahren hinaus werden auch die traditionellen Methoden der Wertungspraxis problematisiert: einseitig werkimmanente Analysen von Literatur, Wertung in Vergleichsreihen, Formen einfühlenden Lesens werden als „affirmativ" charakterisiert 147 . Statt dessen werden in Anlehnung an einzelwissenschaftliche Methodik Verfahren kritischer,

143 144 145

146 147

W. Schemme, a.a.O. S. 101. Ders. a. a. O. S. 106. Wie Schemme a.a.O. S. 101 in Anlehnung an W. Kayser, Literarische Wertung und Interpretation, a. a. O. betont. W. Schemme, a.a.O. S. 103. Vgl. W. Schemme, a.a.O.; G. Waldmann, a.a.O.; N. Hopster, a.a.O.

Kritik an traditioneller Wertungstheorie und -didaktik

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soziologischer, semiotischer, texttheoretischer und historischer Wertanalyse vorgeschlagen 148 . Aus dieser Kritik an den affirmativen, undemokratischen Tendenzen traditioneller Wertungsdidaktik ergeben sich die Elemente eines kritischen Wertungskonzepts. Wertung wird nicht mehr als Form der „Einfühlung" oder des Verstehens vorgegebener Werte begriffen, sondern als Fähigkeit kritischer Urteilskompetenz. Wertung wird als „Form der Entscheidung" 149 bezeichnet und als ein Prozeß „geistiger Aktivität" 150 aufgefaßt, der planbar ist. Wertungsdidaktik zielt auf die Ausbildung von „Wertungskompetenz", d. h. auf die Entwicklung von Strategien, mit denen Prozesse des Wertens lehr- und lernbar sind. „In keinem Fall kann es darum gehen, tradierte Werte lediglich zu vermitteln ... Vielmehr geht es im A k t der literarischen Wertung um die Problematisierung gültiger Werte, die durch Sprache und insbesondere durch Literatur transportiert werden. Problematisieren ... heißt, sie unter verschiedenen Fragestellungen zu prüfen" 1 5 ',

schreibt Schemme. Mit dieser Auffassung ist das Ziel der Wertungsdidaktik verändert: es geht nicht primär um Erkenntnis von Werthaftigkeit, sondern um Urteilsfähigkeit, d. h. um die Fähigkeit der Kritik und Analyse vorgegebener Wertsetzungen. So betont Waldmann, „die vordringliche Aufgabe literarischer Wertung ... ist nicht die Bewertung von Literatur, sondern die Analyse literarischen Wertens und wertbesetzter Literatur" 152 . Nutz begründet dieses kritische Wertungskonzept aus dem „emanzipatorischen" Auftrag der Literatur- und Wertungsdidaktik: „Im Rahmen einer emanzipatorischen Erziehung müßte Wertungsfähigkeit nicht nur das Handhaben bestimmter Kriterien bedeuten, mit denen sich Qualität feststellen läßt, sondern eine Bewußtheit der Historizität dieser Normen und ihrer sozialen Funktion" 153 . Neben dem Wertbegriff wird damit auch gegen die traditionelle Deutung literarischer Wertung als ästhetischer Wertung polemisiert. Vor allem Waldmann lehnt die These, daß „literarische Wertung ... sich auf literarische Texte" 154 richte, als zu einseitig ab. Denn sofern Wertung nur als Frage nach der immanenten ästhetischen Qualität von Literatur verstanden werde, sei sie „ausschließlich vom Objekt und nicht vom wenigstens so wichtigen Subjekt literarischer Wertung, dem Leser, her

148 149 150 151 152 153 154

Vgl. A n m . 147. W. Schemme, a . a . O . S. 1 1 1 . Ders. a. a. O. Ders. a . a . O . S. 112. G. Waldmann, a. a. O. S. 88. M. Nutz, a . a . O . S. 158. G. Waldmann, a. a. O. S. 77.

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Literaturdidaktische Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre

gedacht" 155 . Auch Schemme sieht es als problematisch an, daß die Theorie der Wertung innerhalb der traditionellen Wertungsdiskussion „nicht losgelöst von einer Theorie der Dichtung gewonnen wurde" 156 . Diese Verknüpfung von Kunst- und Werttheorie wird innerhalb der neueren didaktischen Wertungsdiskussion aufgegeben. Die lange und bis zur Gegenwart offen gebliebene Diskussion über Kriterien der Literarität wird als Beleg dafür angesehen, daß der Wert der Literatur überhaupt nicht durch objektivierbare Maßstäbe zu qualifizieren ist. Vogt betont: „Die Wertkategorie sprachliches Kunstwerk ist willkürlich fundiert" 157 . Die Bestimmung dessen, was Kunst ist und was nicht, läßt sich im Sinne neuerer Wertungsdidaktik nicht durch eine Theorie literarischer Wertung oder eine Theorie der Rangordnung ästhetischer Literatur leisten. Alle innerhalb einer Theorie der Kunst entfalteten Wertmaßstäbe sind nach Herrlitz nicht objektivierbar, sondern beruhen auf einem „Kontinuum der Konvention" 158 . „Was wir in der Geschichte der literarischen Überlieferung tatsächlich beobachten können, ist keineswegs eine Selbstbehauptung ... literarischer Gebilde als Kunstwerke und ein Ausscheiden bestimmter anderer als nicht künstlerischer Gebilde, sondern eine Folge von Urteilen (Vorurteilen? Fehlurteilen?) ü b e r literarische Gebilde, die dann erst durch diese Urteile die Weihe des Kunstwerks oder den Makel des NichtKünstlerischen erhalten" 159 .

Beisbart folgert daraus, daß der „bisherige Wertbegriff und seine Begründungen ... nicht weiter tragen" 160 . Der literarische Wert wird nicht mehr als Kategorie des Werks, sondern als Resultat einer Rezeptionsbeziehung aufgefaßt, in der sich die subjektive Stellungnahme eines Lesers objektiviert. „Der Wert des Werks ... liegt nicht in einem statischen Bestand, sondern im Kommunikationsprozeß, den jenes Werk auf Grund seiner Struktur und seiner Gehalte in Gang setzt" 161 . Eine „sachangemessene Theorie literarischer Wertung" ist deshalb nach Schemme, Waldmann, Nutz u. a. nur als Theorie von Rezeptions- und Sozialisationsprozessen zu entwickeln. Es wird gefordert, daß an die Stelle der ästhetischen Wertung soziologische, funktionale und rezeptionsorientierte Wertungsverfahren treten sollten. „Der Aspekt des Wertens müßte also deutlich gemacht werden als ein Prozeß normativer Entscheidung, der Ergebnis eines Sozialisationsprozesses ist, der eben 155 156 157 158 159 160 161

Ders. a. a. O. S. 78. W. Schemme, a. a. O. S. 52. J. Vogt (Hrsg.), Literaturdidaktik. Aussichten und Aufgaben. Düsseldorf 1972, S. 53. H. G. Herrlitz, a. a. O. S. 253. Ders. a.a.O. S. 251/252. O. Beisbart, a. a. O. S. 49. W. Schemme, a.a.O. S. 104.

Veränderte Auffassung von Inhalt und Aufgabe der Wertungsdidaktik

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dieser Normvermittlung dient..." 162 . Die Objektivität von Wertungen wird im Unterschied zur Tradition nicht im Rückgang auf Erkenntnistheorie, Phänomenologie oder normative Poetik begründet, sondern als Ergebnis „kollektiver Übereinstimmung" 163 gesehen. 1.6. Veränderte Auffassung von Inhalt und Aufgabe der Wertungsdidaktik Aus der Kritik an traditionellen Wertungsansätzen sind bereits wesentliche Elemente einer Reform der Wertungsdidaktik deutlich geworden. Neben dem Literatur- und Wertbegriff sind Gegenstand und Verfahren wertungsdidaktischer Theorie und Praxis verändert. Die zentralen Fragen, wie literarische Werterziehung in der Schule zu leisten ist und welche Verfahren der Wertung im Literaturunterricht möglich sind, werden nicht mehr in erster Linie von der Literatur her beantwortet, sondern von jenen Funktionen her, die Literatur in individuellen und gesellschaftlichen Lebenszusammenhängen hat. Didaktische Wertungsreflexion ist somit vor allem auf die Analyse individueller und soziokultureller Zusammenhänge gerichtet, in denen Literatur rezipiert wird. Als wichtigste Neuerungen der ersten Reformphase sind zu nennen: a) Die „Revision eines überkommenen, verengten Literaturbegriffs" 164 zugunsten des Textbegriffs; die Abkehr vom Begriff der Literatur als .autonomem Faktum' zur Deutung der Literatur als sozialer Tatsache, als „Teilsystem" übergeordneter gesellschaftlicher Kommunikationszusammenhänge. „Literatur erscheint nicht mehr als ein abgehobenes Sondergebiet, als das es mit intensionalen Kriterien auch nie hat definiert werden können, sondern als ein Bereich von Aktivität im Feld menschlicher Kommunikation" 165 . Mit dem veränderten Literaturbegriff werden auch andere Kriterien der Auswahl und Wertbestimmung von Literatur zugrundegelegt. Die Auswahl ist nicht mehr durch die Dichotomie von Kunst und Nicht-Kunst, bzw. von fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten bestimmt: „Wenn wir also von Literatur als dem Gegenstand des Literaturunterrichts sprechen, so halten wir die Opposition von ,fiktionalen' und ,nicht-fiktionalen' Texten nicht für die rechten Kategorien einer Textsortenbestimmung" 166 . Die Kriterien 162 163 164 165

166

M. Nutz, a.a.O. S. 158. W. Schemme, a. a. O. S. 46. Ders. a. a. O. S. 137. J. Wermke, Literarische Wertung und ästhetische Kommunikation. Frankfurt 6 1980, S. 40. W. Schemme, a.a.O. S. 18.

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Literaturdidaktische Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre

für die Auswahl der Literatur werden vielmehr in Anlehnung an texttypologische (Glinz 167 , Bühler 168 ), semiotische (Morris 169 ), lesertypologische (Iser 170 , Jauß 171 , Dahrendorf 172 ) Theorien formuliert 173 . So werden z. B. als Auswahlgesichtspunkte genannt: die „soziologische Relevanz" eines Textes, die jeweiligen kommunikativen Absichten (Ausdruck, Appell, Darstellung/Information, Unterhaltung, Aufklärung, usw.), die Typen der Sprachhandlung, die Wirkung und die Funktion. Der Wert von Literatur wird daraus begründet, ob Texte von individueller und gesellschaftlicher Bedeutung sind, ob sie Einsichten in Formen der Sprachverwendung ermöglichen, ob sie Information / Aufklärung / Emanzipation bewirken. Mit dieser Funktionalisierung von Literatur ist zugleich eine Erweiterung des Lektürekanons auf alle Textsorten, einschließlich Trivial- und Gebrauchsliteratur, verknüpft. b) Der literarische Wertbegriff wird von einem „Seinsbegriff" in einen Begriff der „Geltung" transformiert: „Zu einem zentralen Begriff einer modernen Werttheorie wird also der Begriff der Geltung von Werten" 174 . Ontologische und phänomenologische Deutungen des literarischen Werts werden abgewiesen. „Die moderne Werttheorie fragt nicht nach dem Wesen eines Wertes; ihr Fragen ist nicht ontologisch oder metaphysisch gerichtet". „Wir fassen ... den Wert nicht als eine ideale Wesenheit auf, die einen apriorischen qualitativen Gehalt hat" 175 . Die Deutung des literarischen Werts als Begriff kommunikativer Geltung wird im Rückgang auf Ergebnisse der Sprachtheorie, Handlungstheorie, Soziologie gerechtfertigt. In Anlehnung an sprachanalytische Theorien werden Werturteile im Hinblick auf die Verwendung von Sätzen und nicht als Seinsurteile (Austin 176 , Bittner 177 , Apel 178 ) be-

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168 169

170 171 172 173 174 175 176

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H. Glinz, Linguistische Grundbegriffe und Methodenüberblick. Frankfurt 1970; Ders. Textanalyse und Verstehenstheorie, 3 Bde. Frankfurt 1973. K. Bühler, Sprachtheorie. Stuttgart 2 1965. Ch. W. Morris, Grundlagen der Zeichentheorie. Ästhetik und Zeichentheorie. München 1972; Ders. Zeichen, Wert, Ästhetik. Frankfurt 1975. Vgl. LVZ. Vgl. LVZ. Vgl. LVZ. Vgl. z. B. O. Beisbart, a. a. O. W. Schemme, a.a.O. S. 47. Ders. a. a. O. S. 83. J. L. Austin, How to Do Things with Words. Oxford 1962; J. R. Searle, Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language. Cambridge 1969. R. Bittner/P. Pfaff (Hrsg.), Das ästhetische Urteil. Köln 1977. K.-O. Apel, Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik. Zur Frage ethischer Normen, in: K. O. Apel, Sprachpragmatik und Philosophie. Frankfurt/M. 1976, S. 1 0 - 1 7 3 .

Veränderte Auffassung von Inhalt und Aufgabe der Wertungsdidaktik

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stimmt. In Übereinstimmung mit der Sozialisationsforschung wird auf Zusammenhänge zwischen Wertbildungsprozessen und Sozialisationsbedingungen verwiesen (Fügen 179 , Eysenck 180 , Crossen 181 , Schücking 182 ). In Anknüpfung an den Kritischen Rationalismus der Frankfurter Schule werden Prozesse der Wertgenese und -Verbreitung als Ergebnis der Geltung von Ideologien gesehen (Habermas 183 ). c) Mit der Abkehr von literaturbezogenen Wertungskonzepten haben sich Gegenstand und Aufgabe literarischer Wertungsdidaktik gewandelt: literarische Wertung ist nicht mehr auf eine „vorgeblich selbstwertige Literatur" 184 gerichtet, sondern auf die Analyse jener Kommunikationszusammenhänge, in denen Literatur produziert und rezipiert wird. Literarische Wertung wird nicht als ästhetische Wertung begriffen, sondern als Funktions- und Rezeptionsanalyse, als „Ichanalyse" 185 und „Gesellschaftsanalyse" 186 verstanden: „Damit ist Wertung als ästhetische ablösbar geworden durch ein Bewerten der jeweiligen Funktion der Literatur und ihrer Wirkung beim Leser" 1 8 7 . So verschieden die Beschreibung von Inhalt und Aufgabe der Wertungsdidaktik in den einzelnen Wertungsansätzen sein mag, so besteht weitgehend Einigkeit darüber, daß Wertungsdidaktik als Theorie der Analyse literarischer Kommunikation in bezug auf Produktion, Distribution, Textualität und Rezeption zu bestimmen ist. Mecklenburg kennzeichnet die Aufgabe einer Wertungsdidaktik „in erster Linie (als) Theorie und Analyse der Prozesse des Wertens und der Kritik, die im Literaturunterricht ablaufen bzw. ablaufen sollen" 188 . Für Beisbart 189 zielt Wertungsdidaktik auf Strategien der Sprachanalyse. Schemme beschreibt den Wertungsprozeß „ausdrücklich als einen Kommunikationsprozeß" 190 , der der Reflexion

H. N. Fügen, Die Hauptströmungen der Literatursoziologie und ihre Methoden. Bonn 1970. 180 H. J. Eysenck, Faktoren bei der Wertung von Lyrik und ihre Beziehungen zum Temperament des Lesers. In: H. Heuermann/P. Hühn/B. Röttger, Literarische Rezeption. Paderborn 1975, S. 1 6 6 - 1 7 3 . 181 H. J. Crossen, Der Einfluß der Einstellung des Lesers auf seine Fähigkeit zu kritischem Lesen. In: H. Heuermann et al., Literarische Rezeption, a.a.O. S. 142—152. 182 L. L. Schücking, Soziologie der literarischen Geschmacksbildung. Bern 3 1961. 183 J. Habermas/N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt 1971. 184 G. Waldmann, a . a . O . S. 141. 185 Vgl. W. Schemme, a. a. O. 186 vgl. W. Schemme, a. a. O. 187 N. Hopster, a.a.O. S. 169. 188 Ygi jvj Mecklenburg (Hrsg.), Zur Didaktik der literarischen Wertung, a. a. O. S. 9. 189 O. Beisbart, a. a. O. 190 W. Schemme, a. a. O. S. 107. 179

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Literaturdidaktische Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre

von „Funktion und Wirkung sprachlicher Akte im Sozialisations- und Individuationsprozeß" 191 dient. Er versteht Wertungskompetenz als Fähigkeit, „literarische Wertung als politisch relevante Gesellschaftsanalyse zu verwirklichen" 192 , als eine Weise der „Selbstreflexion" und als Fähigkeit, „die besondere Struktur literarischer Werte und Wertungsprozesse zu durchschauen" 193 . Hopster und Mecklenburg sehen den eigentlichen Gegenstand der Wertungsdidaktik in der Entwicklung von Strategien zur Analyse der „Funktion der Literatur und ihrer Wirkung auf den Leser, den Schüler zumal" 194 . Nutz will im Rahmen der Wertungsdidaktik Kriterien zur „Beurteilung der literarischen Strategie als einer Antwort auf bestimmte sozio-kulturelle Gegebenheiten" 195 entwickeln und die „Erkenntnis der gesellschaftlichen Funktion" 196 von Dichtung und Sprache vermitteln. In diesen verschiedenen Gegenstandsbestimmungen der Wertungsdidaktik ist literarische Wertung von einem Begriff poetologischer Werkanalyse zu einem Begriff der Funktions- und Rezeptionsanalyse verändert; sie wird nicht mehr als normästhetisches, sondern als deskriptives Verfahren begriffen. Als Aufgabenbereiche wertungsdidaktischer Reflexion werden im einzelnen genannt: a) die Produktions- und Entstehungsbedingungen von Texten: durch die Analyse der sozio-historischen Hintergründe von Literatur sollen die durch Literatur geleisteten Umwertungen außerästhetischer Wertbestände verdeutlicht und Beziehungen zwischen innerästhetischen und außerästhetischen Wertsetzungen ermittelt werden. b) Strukturen des literarischen Textes: die einzelnen syntaktischen, semantischen, pragmatischen Elemente des Textes werden auf ihre .wertsetzende' und wertvermittelnde Funktion hin analysiert, wobei literarische Strategien als „Antwort auf bestimmte sozio-kulturelle Gegebenheiten" 197 und als „Steuerungsfunktionen" von Bedürfnissen, Interessen usw. verstanden werden. c) Funktions- und Wirkungsbedingungen von Texten: die „Wertsetzungen literarischer Texte" 198 werden in ihrer Beziehung auf den Leser analysiert; dabei sollen die Funktionen von Sprache und Literatur ( — Unterhaltung, Darstellung, Information —) für Individuations- und 191 192 193 194 195 196 197 198

Ders. a. a. O. S. 107. Ders. a.a.O. S. 112. Ders. a.a.O. S. 110. N. Mecklenburg, a.a.O. S. 16. M. Nutz, a.a.O. S. 159. Ders. a. a. O. Ders. a. a. O. G. Waldmann, a. a. O. S. 79.

Veränderte Auffassung von Inhalt und Aufgabe der Wertungsdidaktik

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Sozialisationsprozesse verdeutlicht werden, „um den Schüler in die Lage zu versetzen, aus dem umfangreichen Literaturangebot je nach seiner individuellen und sozialen Disposition ... die gemäße Leserrolle auszuwählen" 199 . Mit der Deutung der Wertung als Normenanalyse und -kritik haben die traditionellen literaturbezogenen Wertungskriterien der Stimmigkeit, Ganzheit, Einheit, Gefügtheit, Spannungsfülle usw. ihre Geltung weitgehend verloren. Indem Wertung als Funktionsund Rezeptionsanalyse begriffen wird, erscheint der Gebrauchswert von Literatur als entscheidender Bewertungsmaßstab. „Eine Wertung eines ... Textes ist überhaupt nur sinnvoll, wenn zusammen mit seiner Textstruktur deren instrumentale Funktion ... aufgefaßt ist" 200 . Literatur gilt dann als wertvoll, wenn sie für bestimmte Interessen, Bedürfnisse, Funktionen gut ist. d) Nicht zuletzt sind auch die Verfahren der Wertung verändert. An die Stelle von Übungen zum Verstehen und Erleben von Literatur sind rationale Verfahren der Textbeschreibung und -Wertung getreten, die in Anlehnung an fachwissenschaftliche Methodik entwickelt sind. Es werden ideologiekritische Analysen, Sprachanalysen, sozio-historische Untersuchungen, Leseranalysen, semiotische Verfahren, Analysen zur literarischen Tradition (Motiven, Stilen) vorgeschlagen 201 . Innerhalb der einzelnen didaktischen Wertungsansätze wird die Reform geisteswissenschaftlich orientierter Wertungsdidaktik nicht überall in der gleichen Weise vollzogen. Es werden unterschiedliche Konsequenzen aus der Einsicht gezogen, „daß der bisherige Wertbegriff und seine Begründungen ... nicht weiter tragen" 202 . Die deutlichste Abgrenzung gegenüber traditionellen Wertungsansätzen vollzieht Waldmann, indem er deren wesentliche Elemente in Frage stellt: 1. durch die Umdeutung des Werkbegriffs in einen Rezeptionsbegriff: „Literarische Werke existieren konkret nur als rezipierte" 203 ; 2. durch die Gleichsetzung von Rezeptions- und Wertungsprozessen: „Als rezipierte sind sie immer schon wertbesetzt" 204 ; 3. durch die unmittelbare Verknüpfung von Werk- und Wertbegriff — „literarische Werke gibt es konkret nur als gewertete" 205 . Wertungsdidaktik zielt in diesem Sinn auf die synchrone und diachrone Analyse der mit Texten und Rezeptionsprozessen von Texten immer schon gegebenen Wertsetzungen, wobei die 195 200 201 202 203 204 205

Ders. a . a . O . S. 141. Ders. a. a. O. S. 97. Siehe unten. O. Beisbart, a. a. O. S. 49. G. Waldmann, a. a. O. S. 79. Ders. a. a. O. S. 79. Ders. a. a. O. S. 79.

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Literaturdidaktische Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre

Strategien der Wertungsverfahren in Anlehnung an ideologiekritische, semiotische und kommunikationstheoretische Methoden entwickelt werden. In abweichender Weise wird Wertungsdidaktik von Schemme bestimmt. Mit dem Begriff des Wertes als „Geltungs"-Begriff werden traditionelle Wertungsansätze aus ihrem normativen Anspruch gelöst und als historisch bedingte Formen literarischer Rezeption in ein „Urteilsspektrum" 206 einbezogen, das die Vielzahl der Wertungskonzeptionen als Ergebnis unterschiedlicher Sozialisationsbedingungen gelten läßt. Ziel der Wertungsdidaktik ist es dabei, die jeweiligen Zusammenhänge zwischen sozio-historischen Bedingungen und Wertungen in ideologiekritischer Analyse zu verdeutlichen. In diesem integrativen Wertungskonzept werden die verschiedenen „Alternativwertungen" als Grundlage einer Werterziehung gesehen, der es weniger um die Übernahme und Erkenntnis von Werthaftigkeit geht, sondern um kritische Kompetenz gegenüber gegebenen Wertungen und Wertsetzungen. In einem weiteren Wertungskonzept — der Theorie von Beisbart — werden zwar die Voraussetzungen des veränderten Wertungsbegriffs weitgehend übernommen, dennoch werden bereits Gesichtspunkte der Kritik an der Reform der Wertungsdidaktik formuliert. Die Kritik ist vor allem gegen das Wissenschaftsverständnis curricularer Wertungsdidaktik gerichtet. So fordert Beisbart, den Wissenschaftsbegriff „reiner Rationalität, die einzig Zweck-Mittel-Beziehungen... zuläßt" 207 , zugunsten eines hermeneutischen, „gegenstandsbezogenen" Wissenschaftsmodells zu verändern. Wertungsdidaktik wird bei Beisbart mit dem Ziel entwickelt, die durch die curricular orientierte Wertungsdidaktik ausgelöste Operationalisierung und „Verdinglichung" von Lehren und Lernen unter „Kategorien zweckrationalen Handelns" 208 rückgängig zu machen. In Anlehnung an Dilthey und Gadamer versteht Beisbart Wertungsdidaktik als Versuch, „dem Erkannten gerecht zu werden ,.." 209 . Ausgehend vom Begriff der Kunst als „universaler Sprachlichkeit" 210 wird Wertungsdidaktik als Reflexion auf die wirklichkeitskonstituierende Leistung der Sprache, auf die verschiedenen Möglichkeiten von Sprachkonstitution und -Verwendung und auf die Funktion und Wirkung von Sprache begriffen. Mit der Reform der Wertungsdidaktik werden somit zugleich Stimmen der Kritik an dieser Reform deutlich. Sie werden von jenen 2M 207 208 209 2,0

W. Schemme, a. a. O. S. 85. O. Beisbart, a. a. O. S. 19. Ders. a. a. O. S. 19. Ders. a.a.O. S. 116. Ders. a. a. O.

Veränderte Auffassung von Inhalt und Aufgabe der Wertungsdidaktik

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Didaktikern erhoben — Geißler, Bredella, Baumgärtner, Weber, Krzywon, Beisbart —, die die Wertungsdidaktik von einem bildungstheoretisch orientierten Wissenschaftsbegriff her begründen. Sie richten sich gegen den operationalisierten Literatur- und Wertungsbegriff, gegen einseitige methodologische Ausrichtungen curricularer Wertungsdidaktik, gegen die Verengung der Wertungsdidaktik auf analytische, rationalisierbare oder empirisch nachprüfbare Verfahren, gegen die „sozialwissenschaftliche Verrechnung" 211 des Literatur- und Wertbegriffs usw. Mit dem zunehmenden Unbehagen an funktionalen Konzepten der Literatur- und Wertungsdidaktik werden seit Mitte der siebziger Jahre Versuche einer Reform der Reform erkennbar, die unter dem Postulat eines „Zurück zum Literaturunterricht" 212 an Voraussetzungen traditioneller Wertungsdidaktik anknüpfen, indem der „Eigenwert" der Literatur wieder als Grundlage literarischer Wertung ernst genommen wird. Es wird zu zeigen sein, inwiefern es diesen „literaturbezogenen" Wertungsätzen gelingt, die Frage nach dem literarischen Wert von den spezifischen Möglichkeiten der Literatur her zu beantworten. Insgesamt gesehen wird literarische Wertungsdidaktik seit Ende der sechziger Jahre im Regelkreis von Wissenschaftsreflexion, Lernzielbestimmung, Methodenreflexion und Schüler- bzw. Praxisbezug entwikkelt. Die Vermittlung von pädagogischen und ästhetischen Aspekten didaktischer Wertungskonzeptionen wird dabei durch die Verknüpfung von Lernzielanalyse und Wertungsreflexion angestrebt. Die Rückbindung der Wertung an Lernziele erscheint als Voraussetzung, Fragen der Werterziehung, der Auswahl von Texten und der Kanonentscheidungen intersubjektiv überprüfbar werden zu lassen. So sieht Nutz die Lernzielanalyse als einzige Möglichkeit für die Begründung einer emanzipativen Wertungsdidaktik: „Aber es ist selbstverständlich, daß Wertungskompetenz nur im Zusammenhang mit der Diskussion um neue Lernziele des Deutschunterrichts diskutiert werden kann" 213 . Ebenso betont Schemme: „die Herleitung eines allgemeinen Lernziels des Literaturunterrichts führt am besten zum Ziel ..." 2 1 4 . Die Belegstellen ließen sich mehren 215 . Das Verfahren einer zielorientierten Wertungsdidaktik scheint zunächst nicht neu. Auch in der traditionellen Wertungsdidaktik 211 212 2.3 2.4 215

Ders. a . a . O . A . C. Baumgärtner/M. Dahrendorf (Hrsg.), Zurück zum Literaturunterricht, a. a. O. M. Nutz, a . a . O . S. 148. W. Schemme, a. a. O. S. 9. Vgl. z. B. Beisbart, a. a. O. S. 23: „Wertentscheidungen über Literatur hängen wesentlich mit allgemeinen Lernzielen (Richtzielen) heutiger Pädagogik zusammen, diese aber bekommen revidierende Hinweise von den Gegenständen — der Literatur also — wie dem Leser...".

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Literaturdidaktische Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre

sind die Kriterien der Wertung aus dem Bezug der Literatur zu pädagogischen, gesellschaftlichen, kulturellen und individuellen Gegebenheiten begründet worden. Dennoch hat sich die Fragestellung verkehrt: es geht nicht mehr darum, Literatur als Bildungswert vorauszusetzen und je nach den Normen des sozio-kulturellen Umfelds neue Wertsetzungen im Umgang mit Literatur zu formulieren, sei es daß Literatur als Lebenshilfe, Daseinsdeutung, Stil- und Kulturkunde, Denkschule, Instrument der Nationalerziehung verstanden wurde 216 . Durch die Ablösung des „stoff- und bildungswertorientierten Unterrichts ... zu einem ... durch Lernziele geordneten" 217 werden die in den Lernzielen formulierten Anforderungen selbst zum Maßstab der Wertentscheidungen über Literatur. Innerhalb lernzielorientierter Wertungsdidaktik läßt sich die Frage, ob literarische Texte wertvoll sind oder nicht, nach Herrlitz erst dann beantworten, wenn „die Geltung eines Werks als konkrete Funktion definiert werden kann" 218 . Wertung heißt nach Dahrendorf nicht, den „... Text in ein vorgegebenes hierarchisches System von Textqualitäten zwischen gut und schlecht, gelungen und mißlungen, einzuordnen ..." 219 . Wertungsdidaktik wird vielmehr als „Antwort auf die Frage (verstanden), welche Funktionen und Rezeptionsweisen man der Kunst innerhalb der Gesellschaft allgemein zuweist" 220 . Innerhalb der didaktischen Wertungsdiskussion sind zwei unterschiedliche Modelle der Wertbegründung erkennbar. In lernzielorientierten Konzeptionen sind die wertungsdidaktischen Ansätze jeweils durch vier Begründungszusammenhänge bestimmt: den pädagogischen, gesellschaftlichen, disziplin- bzw. methodenorientierten und den situativen. Die pädagogische Reflexion soll die leitenden Normen der Erziehungspraxis verdeutlichen; in der Reflexion auf die soziale Relevanz von Lerninhalten soll der Sozialbezug von Lehren und Lernen gesichert werden; durch den Rekurs auf Wissenschaft sind jene Methoden als Grundlage von Erziehungs- und Wertungsprozessen einbezogen, durch die die „Beobachtung und Interpretation der Wirklichkeit ... systematisch unternommen" 221 wird; und im Bezug auf die konkreten Lebenssituationen der Schüler sind Erfahrungen und Voraussetzungen der konkreten Lebenswirklichkeit als Maßstab für die Auswahl und Bewertung von Lerninhalten gesetzt.

216 217 218 2,9 220 221

Vgl. H. J. Frank, a.a.O. P. Stein (Hrsg.), Wieviel Literatur brauchen Schüler? Stuttgart 1980, S. 213. H. G. Herrlitz, a. a. O. S. 259. M. Dahrendorf, Literaturdidaktik im Umbruch. Düsseldorf 1975, S. 74. Ders. a. a. O. S. 224. S . B . Robinsohn, Bildungsreform als Revision des Curriculum, a. a. O. S. 168.

Pädagogischer Begründungsansatz

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In bildungstheoretischen und gegenstandsbezogenen Wertungsansätzen dagegen ist Wertungsdidaktik zwar auch im Rahmen der allgemeinen Lernzielzusammenhänge entwickelt. Dennoch sind nicht die Determinanten (Wissenschaft, Gesellschaft, Lebenssituation) von Erziehungsprozessen selbst als Maßstab für die Verfahren und Kriterien der Wertung zugrundegelegt, sondern die Bedingungen des Gegenstandes, der Literatur. Ausgangspunkt wertungsdidaktischer Reflexion bei Bredella, Baumgärtner, Geißler, Weber, Ivo u. a. ist die Frage, „warum gerade dieser Gegenstand bestimmte Funktionen erfüllen kann" 222 . Angesichts der weitgehend konstanten Grundannahmen, von denen her die didaktischen Wertungsansätze legitimiert sind, sollen die verschiedenen Konzeptionen nicht im einzelnen dargestellt werden. Zu vieles würde sich wiederholen. Vielmehr sollen die prinzipiellen Begründungszusammenhänge verdeutlicht werden, in denen die literaturdidaktische Wertungsreflexion seit Ende der sechziger Jahre entwickelt wird. In den nächsten Kapiteln sollen zunächst die Begründungszusammenhänge der curricular bestimmten Wertungskonzeptionen skizziert werden und dann die bildungstheoretisch und gegenstandsorientierten Wertungsansätze, die seit Mitte der siebziger Jahre zunehmend an Bedeutung gewinnen.

2. Lernzielorientierte Konzeptionen der literarischen Wertungsdidaktik

2.1. Pädagogischer Begründungsansatz Nach der Auflösung stoffbezogener Lehrpläne zugunsten von Lernzielkatalogen sieht sich der Wertungsdidaktiker „zunächst gehalten, das Ziel zu benennen, auf das die Arbeit ... zuführen soll" 223 . Seit der Verknüpfung von Lernziel- und Wertungsdiskussion setzt die Einigung über Wertfragen eine Einigung über jene Ziele und Wertvorstellungen 222

223

H. Ivo, Allgemeine Lernziele des Literaturunterrichts. In: G. Wilkending (Hrsg.), Literaturunterricht. München 1972, S. 172. W. Schemme, a . a . O . S. 10.

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Literaturdidaktische Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre

voraus, die im Literaturunterricht verwirklicht werden sollen 224 . Die Kriterien zur Identifizierung der Ziele sind nach Schemme nicht aus der „isolierten Fachprovinz" 225 des Literaturunterrichts abzuleiten. Sie sind vielmehr auf der Grundlage eines Erziehungskonzepts zu entwikkeln, in dem literarische Bildung von den Anforderungen in Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft her bestimmt und als Befähigung zur „Welt- und Daseinsreflexion" 226 begriffen wird. „Wesentlich aber ist nun an den notwendigen Wertentscheidungen der Literaturdidaktik ..., daß sie auf dem Niveau gegenwärtiger didaktischer Reflexion sowohl unter dem Aspekt der adäquaten Beschreibung gesellschaftlichen Lebens, der verantworteten Übergabe an Eigenentscheidungen des Educandus wie der Aussagemöglichkeiten von Literatur in solche Situationen hinein geleitet werden ... Insofern gehen in die eigenen Entscheidungen der Literaturdidaktik ... die Reflexionen ... anderer Wissenschaften mit ein"227.

Die aus der Curriculumdiskussion übernommene Deutung der Bildung als Qualifikation für Lebenssituationen kehrt in der zentralen Zielvorstellung wertungsdidaktischer Konzeptionen wieder: Wertungsdidaktik wird unter dem Gesichtspunkt entwickelt, inwiefern Literatur zur Aufklärung über individuelle und gesellschaftliche Bedingungen beiträgt, d. h. „Gesellschaftsanalyse" 228 und „Ichanalyse" 229 ermöglicht. Mit der Bewertung der Literatur „nicht von der Literatur aus, sondern von der Lebenspraxis" 230 werden die Grundwerte gesellschaftlicher Kommunikationszusammenhänge zum Maßstab für die Bewertung der Literatur: Emanzipation, Mündigkeit, Kommunikationsfahigkeit, kritische Rationalität sind pädagogische Zielvorstellungen, aus denen Ziel, Inhalt und Verfahren der Wertungsdidaktik näher begründet werden. Diese Zusammenhänge zwischen den allgemeinen Zielvorstellungen und der inhaltlichen Bestimmung der wertungsdidaktischen Ansätze seien knapp verdeutlicht.

224

225 226 227 228 225 230

Vgl. auch E. König zum Zusammenhang von meta- und objekttheoretischer Reflexion, in E. König, Theorie der Erziehungswissenschaft Bd. 1, a. a. O. S. 168: „Je nach den metatheoretischen Regeln werden aber auf der Objekttheorie andere Sätze als wahr oder gerechtfertigt gelten — genau darauf beruhen die immer wieder zu beobachtbaren Kontroversen zwischen geisteswissenschaftlicher, emanzipatorischer und anderen pädagogischen Richtungen... Denn Diskussionen über praktische Probleme hängen letzten Endes ab von der Einigung auf metatheoretische Regeln". W. Schemme, a.a.O. S. 10. Ders. a.a.O. S. 19. O. Beisbart, a. a. O. S. 22/23. W. Schemme, a. a. O. W. Schemme, a. a. O. M. Dahrendorf, Literaturdidaktik im Umbruch, a.a.O. S. 122.

Pädagogischer Begründungsansatz

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2.1.1. Emanzipation / Mündigkeit Emanzipation und Mündigkeit sind Schlüsselbegriffe, von denen her die Umorientierung der Wertungsdidaktik in bezug auf Begriff, Gegenstand und Methode gerechtfertigt wird. Das Wort ,emanzipativ' taucht in fast allen Wertungsansätzen als programmatische Zielbestimmung auf. Unter dem Gesichtspunkt „einer umfassenden politisch-emanzipatorischen Strategie" 231 wird literarische Wertung nicht als „affirmative Urteilsfähigkeit" 232 verstanden, sondern als eine Form sozialer Handlungsfähigkeit und kritischer Normenanalyse beschrieben. Im Begriff der Wertungskompetenz als dem Zielbegriff emanzipativer Wertungsdidaktik ist Wertung als ein „Bündel" von Qualifikationen definiert, mit denen literarische Wertung als Verfahren der Analyse und Kritik gesellschaftlicher, historischer, individueller Wertbildungsprozesse vollzogen werden kann. „Bei aller Förderung der Wertungskompetenz sollte immer so verfahren werden, daß vorgegebene Wertnormen nicht gelernt, sondern ... kritisierbar gemacht werden" 233 . Emanzipation und Mündigkeit sind mit den Begriffen der Qualifikation, Kompetenz, Kritikfähigkeit verknüpft. Wertungskompetenz wird in diesem Sinn nicht dem zugesprochen, der Geschmack und Gefühl für die Qualität von Literatur hat, sondern dem, der über Strategien der kritischen Reflexion über literarische Texte und vorgegebene Wertungen verfügt. Mit der Verhaltens- und handlungsbezogenen Deutung des Lernziels Emanzipation / Mündigkeit werden Gegenstandsbereich und Verfahren der Wertung verändert: Ausgehend vom Wertungsbegriff als Kategorie der Rezeption und Kompetenz zielen wertungsdidaktische Ansätze nicht primär auf die Erkenntnis des literarischen Werts von Literatur; Gegenstand literarischer Wertungsdidaktik sind vielmehr Probleme der Wertgenese, der Geltung und Verbreitung von Werturteilen, der „Zusammenhänge zwischen Kunstwerk und gesellschaftlicher Situation" 234 , Fragen der Wirkung und Funktion von Literatur sowie Fragen nach den individuellen Bedingungen von Urteilsbildung. „Wie wichtig es immer sein mag, Wertungen von Literatur vorzunehmen ..., das dem vorgelagerte Problem ist, wie die mit jeglicher eigenen und fremden Rezeption von ästhetischer Literatur immer schon gegebenen Wertungen aufzufassen, zu analysieren und ihren Voraussetzungen und Bedingungen nach bewußtzumachen sind" 235 (Waldmann). Voraussetzung 231 232 233 234 235

N. Mecklenburg, Zur Didaktik der literarischen Wertung, a. a. O. S. 8. M. Nutz, a. a. O. W. Schemme, a.a.O. S. 123. M. Nutz, a. a. O. S. 159. G. Waldmann, a. a. O. S. 88.

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Literaturdidaktische Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre

emanzipativer Wertungsdidaktik ist die Revision des Literaturbegriffs unter dem Aspekt der Funktion literarischer Texte für soziale Praxis. Sozialbezug und Situationsbezug gelten als Maßstäbe, mit denen die Bedeutung der Literatur für Prozesse emanzipatorischer Werterziehung begründet wird: „Nicht um die Verwirklichung der Buch-Intention im Leser geht es primär, sondern um die Förderung, Aufklärung, Emanzipation des Lesers. Er ist nicht das Objekt des Buches, sondern nimmt es als Subjekt in Gebrauch" 236 (Dahrendorf). Literatur wird als „Superzeichen", Sprachhandlung, soziales Faktum beschrieben. „Im Rahmen einer emanzipatorischen Erziehung ... bedarf es ... einer Modellvorstellung von Literatur, die diese als „Superzeichen" auffaßt, das zwischen Sender und Empfanger Informationen spezifischer Art vermittelt" 237 (Nutz). Aus dieser Reduktion der Literatur auf ihren Sozial- und Sprachcharakter resultiert die Umwertung literarischer Wertung zur Sprach-, Funktions- und Wirkungsanalyse. Neben dem Sozialbezug sind die individuellen Bedürfnisse, Erfahrungen und Interessen wichtiger Bezugspunkt wertungsdidaktischer Reflexion. Nach der „Lösung von einer idealistischen Werttheorie" wird „vollends ernst gemacht ... mit der intensiven Hinwendung zum Schüler und seiner gesellschaftlich-geschichtlichen Lage, von der aus das Nachdenken über Wertung im Literaturunterricht bestimmt sein sollte" 238 . Erst mit der Fähigkeit kritischer Analyse eigener Wertungen und Rezeptionsformen ist literarische Wertung im Sinn emanzipativer Wertungsdidaktik als Sozialerziehung und „Prozeß individueller Bewußtseinsbildung" 239 zu verwirklichen. Auffalligste Konsequenz der unter dem Lernziel,Emanzipation' entwickelten Wertungsdidaktik ist die Veränderung des Lektürekanons. Seit der Erweiterung des Literaturbegriffs zum Textbegriff werden Gebrauchstexte, Dokumentarliteratur, Trivialliteratur als wichtiger Bestandteil in den Literaturunterricht einbezogen. Es ist bezeichnend, daß emanzipative Wertungsdidaktik bei einigen Autoren ganz und gar als Didaktik der Trivialliteratur entwickelt wird (Schemme, Waldmann). Trivialliteratur wird bei Schemme, Waldmann u. a. als diejenige literarische Form gesehen, die als marktorientierte, leserbezogene und gesellschaftlich bedingte Textart deutlicher als ästhetische Literatur „rationales, rollenbewußtes und interessegeleitetes Umgehen mit Texten" 240 erfordere und damit eher geeignet sei, soziale Handlungsfähigkeit im 236 237 238 239 240

M. Dahrendorf, a.a.O. S. 219. M. Nutz, a. a. O. S. 158, vgl. auch Hopster a. a. O. W. Schemme, a.a.O. S. 106. Ders. a.a.O. S. 115. G. Waldmann, a. a. O. S. 70.

Pädagogischer Begründungsansatz

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Sinn emanzipatorischer Erziehung auszubilden. Die am Beispiel der Trivialliteratur entwickelte Wertungsdidaktik gilt als Modellfall für eine notwendige Funktionalisierung der Wertung auf Aspekte der durch Literatur transportierten Normen und Ideologien. Mit der knappen Skizzierung der veränderten Konzeption von Begriff, Gegenstand und Methode der Wertung sind die Elemente genannt, mit denen das Richtziel,Emanzipation' operationalisierbar werden soll. Hopster nennt als zentrale Faktoren: „... die Ausschaltung verschiedener Ideologeme wie der Dichotomie Poesie — Nicht-Poesie, der positivistischen Unvermitteltheit von Subjekt und Objekt, der Vorstellung von einem Poetischen, das unabhängig vom Rezipienten im oder am Text zu finden sei, besonders aber der naiven Identifizierung von Tradition und Sprache unter Wegfall von Arbeit und Herrschaft ,.." 241 . 2.1.2. Kommunikation Neben dem Richtziel .Emanzipation' ist das Bildungsziel,Kommunikation' ein weiterer Leitbegriff der gegenwärtigen Wertungsdidaktik. In allen wertungsdidaktischen Ansätzen wird literarische Wertung als Kommunikation beschrieben, bzw. mit einer Theorie der Kommunikation verknüpft. Mit dem Prinzip der Kommunikation ist ein „fundamentales Bildungsziel" curricularer Bildungsplanung zum Maßstab literarischer Werterziehung geworden: „Wirksame Kommunikation ... ist fundamentales Bildungsziel in einer Zeit, in der das Verstehen sozialer Beziehungen ebenso wie das elementarer wissenschaftlicher Interpretation Vorbedingung sind für kommunikatives Handeln" 242 . Hopster beschreibt Wertungskompetenz als „speziellen Fall einer allgemeinen kommunikativen Kompetenz" 243 . Für Waldmann ist die Didaktik textueller Kommunikation selbst Wertungsdidaktik: „Didaktik textueller Kommunikation ist so nach ihrem Gegenstand wie nach dessen unterrichtlicher Behandlung in entscheidenden Hinsichten Wertungsdidaktik" 244 .

241

N. Hopster, a . a . O . S. 172. Die Kritik des so instrumental verstandenen Emanzipationsbegriffs ist inzwischen weit verbreitet; vgl. z. B. H. Kügler, Die doppelte Lektüre. In: H. Mainusch, a. a. O. S. 188; vgl. auch: Gymnasiale Oberstufe Deutsch. Empfehlungen f ü r den Kursunterricht im Fach Deutsch, Heft 2 (Schriftenreihe des Kultusministers des Landes Nordrhein-Westfalen), 12: „Dem Schüler darf der Prozeß der Emanzipation nicht abgenommen werden; er soll nicht mündig „gemacht" werden."; vgl. R. Spaemann, Emanzipation — Ein Bildungsideal. In: R. Spaemann, Zur Kritik der politischen Utopie. Stuttgart 1977.

242

S. B. Robinsohn, a . a . O . S. 136. N. Hopster, a . a . O . S. 168. G. Waldmann, a . a . O . S. 142.

243 244

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Literaturdidaktische Wertungsdiskussion seit Ende der sechziger Jahre

Die Beziehung zwischen Wertungstheorie und Kommunikationstheorie wird zunächst in der Definition des literarischen Werts deutlich: der literarische Wert wird nicht als Kategorie des Werks verstanden, sondern „... als mehr oder weniger geformtes Aussagegefüge in Bindung an ein sprachliches Zeichensystem, das seinerseits geschichtlich-gesellschaftlich vermittelt ist und wahrhaft nur existiert als Wirkungsprozeß zwischen Produzent und Rezipient" 245 (Schemme). Literarische Wertung wird als „permanenter Kommunikationsprozeß" 246 beschrieben. Dabei werden die einzelnen Faktoren der Kommunikationsstruktur — Produktion, Text, Rezeption, Distribution, Tradierung — zum Gegenstand wertungsdidaktischer Analyse. In „Erwägungen zur Methode" 247 literarischer Wertung schlägt Schemme die Lasswellsche Kommunikationsformel 248 — Wer sagt was zu wem mit welcher Wirkung — als Grundlage von Wertungsverfahren vor. Als Ebenen kommunikativer Wertanalyse werden unterschieden: a) Der kontextbezogene Aspekt literarischer Werke: Durch die Analyse der Zusammenhänge zwischen Literatur und Gesellschaft, bzw. zwischen dem literarischen Werk und seinen literarischen Traditionen sollen durch Wertung Prozesse der Umwertung traditioneller Normbestände, der Wertübernahme, -brechung und -abweichung verdeutlicht werden. b) Der textbezogene Aspekt: Die Kommunikationsstruktur des Textes wird auf ihre syntaktischen, semantischen und pragmatischen Merkmale hin analysiert, um die Funktionen der Sprachverwendung für Prozesse der Wertvermittlung aufzuzeigen. Als Funktionen der Sprachverwendung wird in Anlehnung an Texttypologien von Bühler 249 , Glinz 250 und Morris 251 differenziert zwischen appellativen, informatorischen, manipulativen, darstellenden, normativen usw. Sprechabsichten. Als wichtiges Lernziel gilt dabei die Gegenüberstellung von poetischen und normalsprachlichen Redeformen, um „Funktionen ... von Abweichungen zu erkennen ,.." 252 . c) Der leser- bzw. rezeptionsbezogene Aspekt: Als Rezeptionsanalyse schließt kommunikative Wertung Fragen der Beziehung zwischen Text und Leser (Funktion, Wirkung, Absicht), Vorurteilsforschung, Interes245 246 247 248 249 250 251 252

W. Schemme, a.a.O. S. 111. Ders. a.a.O. S. 110. Ders. a. a. O. S. 227. Ders. a. a. O. S. 228. K. Bühler, a. a. O. H. Glinz, a. a. O. Ch. W. Morris 1972. M. Nutz, a.a.O. S. 159.

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sen- und Bedürfnisanalysen, empirische und soziologische Leserforschung sowie Probleme der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Literatur ein. Es geht nach Waldmann darum, Prozesse der Rezeption als Ursache für die Hoch- bzw. Minderwertung von Texten zu verdeutlichen: „... das ... Problem ist, wie die mit jeglicher eigenen und fremden Rezeption von ästhetischer Literatur immer schon gegebenen Wertungen aufzufassen, zu analysieren und ihren Voraussetzungen und Bedingungen nach bewußtzumachen sind" 253 . d) Zusätzlich zu Fragen der Produktion, Textstruktur, Rezeption und Tradierung sollen Probleme der Distribution von Literatur (Marktforschung) unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für die Hoch- bzw. Minderwertung literarischer Werke Gegenstand wertungsdidaktischer Analyse im Unterricht sein. Mit diesen unterschiedlichen Fragestellungen kommunikativer Wertanalyse sind jene Qualifikationen genannt, die der Schüler sich unter dem Lernziel „Wertungskompetenz" aneignen soll. Nach Nutz, Waldmann, Schemme, Hopster schließt Wertung als „Sonderfall kommunikativer Kompetenz" Sprachkompetenz, Rezeptionskompetenz, Textkompetenz sowie historische und soziale Kompetenz ein. Mit der Deutung der literarischen Wertung als Kommunikationsprozeß ist Wertung als Textverarbeitung bestimmt, wobei die Unterschiede zwischen Deskription und Wertung nicht immer klar sind. Dennoch werden den Verfahren kommunikativer Wertanalyse — ausgesprochen oder unausgesprochen — bestimmte Kriterien der Bewertung zugrundegelegt: sie betreffen den Wirklichkeits- und Gesellschaftsbezug von Literatur, ihren Sprachcharakter sowie ihre individuelle und soziale Relevanz. Literatur wird unter dem Gesichtspunkt gewertet, ob sie vorgegebene Wert- und Sprachsysteme stabilisiert oder aufbricht (Norm und Abweichung) 254 , ob sie Aufklärung und Emanzipation bewirkt, Kritikfähigkeit freisetzt, Ideologie vermittelt, Utopien entwirft, Rollenflexibilität ermöglicht. In enger Anlehnung an die kommunikationstheoretische Terminologie nennt Waldmann drei Kriterien 255 der Hochwertung von Literatur: ihre „Kodierungsintensität", ihre „Kodierungsadäquatheit" und ihre „Leserrelevanz". Ein Text ist nach Waldmann dann hochzuwerten, wenn 1. die literarische Nachricht den Leser betrifft und für ihn wichtig ist, 2. die kodierte Nachricht „der zu übermittelnden Nachricht gemäß" 256 und 3. „den Dekodierungsmöglichkeiten des Em253 254

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G. Waldmann, a. a. O. S. 88. Vgl. u.a. Ch. Bürger, Kritische Literaturwissenschaft. Frankfurt/M. 1973; Dies. Deutschunterricht — Ideologie oder Aufklärung. Frankfurt/M. 2 1974, Vgl. auch H. Fricke, Norm und Abweichung. München 1981. Vgl. G. Waldmann, a.a.O. S. 103ff. Ders. a. a. O.

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pfangers angemessen kodiert" 257 ist. Bei Waldmann sind die Dekodierungsfahigkeiten des Lesers Maßstab für die Bewertung von Literatur, nicht die Literatur selbst. Texte gelten als wertvoll, wenn sie geeignet sind, „Bedürfnisse irgendeiner Art zu befriedigen" 258 . So können qualitativ hochwertige Texte als schlecht bewertet werden, weil sie für Leser uninteressant, schwierig oder ,unwichtig' sind. Insgesamt gesehen wird kommunikationstheoretisch begründete Wertungsdidaktik durch Wertungskriterien bestimmt, durch die die Literatur einseitig aus der Perspektive ihrer funktionalen und instrumentellen Bedeutung für individuelle und soziale Verwendungszusammenhänge bewertet wird. Es sind mehrere Faktoren, aus denen die Bedeutung der kommunikationstheoretischen Textbeschreibung für die wertungsdidaktischen Konzeptionen begründet wird 259 : a) Die Kommunikationstheorie wird als ein Erklärungsmodell bezeichnet, durch das — wie O. Schober in Anlehnung an Hart-Nibbrig 260 formuliert — der „ästhetische Wert nicht im Gebilde isoliert, nicht von den scheinbar außerästhetischen Werten getrennt werden kann ..., sondern ... als kommunikativer Funktionswert verstanden werden muß, der erst in der vom Werk angeregten, vom Rezipienten aktualisierten Wertkonstitution zum Tragen kommt" 260 . In kommunikationstheoretisch begründeten Wertungsansätzen sei es möglich, sprach- und literaturwissenschaftliche Theoriebildung mit sozialwissenschaftlichen und leserbezogenen Aspekten zu verknüpfen. Zudem sei der Text innerhalb kommunikativer Wertungsdidaktik als ein Medium diskutierbar, durch das Interpreten, Leser und Autoren Werte und Normen vermitteln. b) Die kommunikationstheoretische Fundierung der Wertungsdidaktik rücke die im Umgang mit Literatur gegebenen Personalisierungsprozesse in den Vordergrund. c) Kommunikationstheoretisch begründete Wertungsansätze betonen den Gegenwarts- und Gesellschaftsbezug literarischer Werke und förderten die Einsicht in Sprach- und Normbildungsprozesse. Mit diesem Texterklärungsmodell seien die Ebenen der Vertextung — situativer, sozialer Bezug/Sprache, Wirklichkeit/Sprache, Sprachbenutzer / Adressatenbezug / Sprachstrategien — in ihren Beziehungszusammenhängen beschreibbar. Ders. a. a. O. S. 103/104. Ders. a.a.O. S. 115. 259 Ygi a . Weber, Kritische Überlegungen zur literaturdidaktischen Theoriediskussion. In: F. J. Payrhuber/A. Weber (Hrsg.) 1978, a.a.O. S. 1 3 3 f f . 260 Ch. Hart-Nibbrig, Ja und Nein. Studien zur Konstitution von Wertgefügen in Texten. Frankfurt 1974, S. 26 f. zit. nach O. Schober, Literaturunterricht und Rezeptionsanalyse. In: F. J. Payrhuber/A. Weber (Hrsg.) a.a.O. 1978, S. 121.

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d) Durch die in kommunikativ begründeten Wertungsansätzen vollzogene Verwissenschaftlichung der Wertungskonzeption sei zugleich eine Operationalisierung der Wertungsstrategien gegeben 261 . Kritische Stellungnahmen gegen einseitig kommunikationstheoretisch orientierte Wertungsansätze finden sich seit Mitte der siebziger Jahre (Beisbart (1975), Weber (1978), Kügler (1979), Baumgärtner (1979)). Sie richten sich zunächst gegen den formalisierend abstrakten Ansatz kommunikativer Wertungsdidaktik. So weist Kügler mit Recht darauf hin, daß der Schüler durch die Vielzahl von kommunikativen Analyseverfahren überfordert sei, da Literatur nur noch als „verfügbarer Bestand an wissenschaftlich ausgelegten Strukturen und Themen ..." 2 6 2 in den Blick genommen werde und nicht mehr als Gegenstand unmittelbarer Werterfahrung erlebt werden könne. In ähnlicher Weise konstatiert Weber: „Ist nicht über der Theoriediskussion die Literatur selbst... das eigentliche Defizit geworden?" 263 . Ferner wird der in kommunikativ begründeten Wertungsansätzen erkennbare Verlust historischer Zusammenhänge beklagt 264 . Darüberhinaus werden der kommunikative Literatur- und Wertbegriff und die aus ihnen resultierenden Wertungskriterien problematisiert. Denn mit der Verknüpfung von Wertungs- und Kommunikationstheorie wird Literatur auf Prozesse der Sprachverwendung, der Rezeption und der kommunikativen Geltung funktionalisiert. Literarische Wertung wird auf Kriterien der Wirkung und der Funktion von Literatur reduziert. Die Wertunterschiede zwischen den literarischen Werken sind damit nur in funktionaler und instrumenteller Hinsicht zu begründen, nicht von jenem „Wahrheitsanspruch" 265 her, der in den literarischen Werken in unterschiedlicher Weise verwirklicht ist, wie Beisbart betont. Gegenstands- und Substanzverlust des Literaturunterrichts werden als Folge einer einseitig kommunikativ orientierten Wertungsdidaktik beklagt. Trotz dieser Kritik haben kommunikative Wertungsanalysen ihre Geltung auch für die gegenwärtige didaktische Wertungsdiskussion nicht verloren. 2.1.3. Kritische Rationalität Eng verknüpft mit den Lernzielen .Emanzipation' und .Kommunikation' ist das Lernziel ,kritische Rationalität'. Die Fähigkeit zur Kritik wird als Aufgabe einer Kommunikationserziehung gesehen, der es 261 262 263 264 265

Vgl. A. Weber, a. a. O. H. Kügler, Die doppelte Lektüre. a.a.O. S. 184. A. Weber, Kritische Überlegungen..., a.a.O. S. 132. A. Weber, a.a.O. S. 135. O. Beisbart, a. a. O. S. 146 ff.

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darum geht, „rationale und kritische Einstellung zu sozialen Formen und Symbolen" 266 , d.h. auch zur Kunst und Literatur, zu gewinnen. Kritische Rationalität gilt als Zielvorgabe, die sowohl die wertungsdidaktische Theoriebildung wie die konkreten Verfahren im Unterricht bestimmt: „Literarische Wertung wird in einer didaktisch orientierten Strukturtheorie eng an das Prinzip der Rationalität angeschlossen" 267 . Die Elemente rationaler Theoriekonzeption sind bereits deutlich geworden: Verknüpfung des Bildungs- und Wertbegriffs mit dem Qualifikationsbegriff, Prinzip der Operationalisierung als Maßstab kritischer Verfahrensplanung usw. Die Wende zur kritischen Rationalität wird gesellschaftspolitisch begründet und gilt als Voraussetzung der Demokratisierung von Norm- und Wertbildungsprozessen. Innerhalb der wertungsdidaktischen Diskussion lassen sich drei Modelle kritischer Wertungsdidaktik unterscheiden: 1. Das bisher umfassendste Konzept kritischer Wertungsdidaktik ist im Umkreis der sog. ideologiekritischen Schule entwickelt worden, d. h. bei jenen Autoren 268 , die den Deutschunterricht ausdrücklich unter die Prämisse emanzipatorisch-kritischer Erziehung stellen — wie z. B. Ch. Bürger, G. Waldmann, W. Schemme, H. Ide, H. Ivo, M. Nutz, N. Mecklenburg, Förster u. a. Ideologiekritische Wertungsansätze sind soziologisch-politisch orientiert und gründen in einer evolutionären Theorie von Geschichte und Gesellschaft. Ausgehend vom Begriff der Literatur als sozio-ökonomisch bedingtem Kommunikationssystem zielen ideologiekritische Wertungsverfahren darauf, Zusammenhänge zwischen Kunst und Gesellschaft/Geschichte zu verdeutlichen. Als Aufklärung jener Normsysteme, in denen Literatur produziert, rezipiert und tradiert wird, wird ideologiekritische Wertungsdidaktik als universaler Ansatz entwickelt, in dem alle Faktoren des Textes — Sprache, Wirkung, Funktion, Produktion, Rezeption, Tradierung, Distribution — Gegenstand kritischer Wertanalyse sind. Wie die Problemkataloge bei Nutz 269 und Mecklenburg 270 zeigen, wird grundsätzlich unterschieden zwischen einer „Binnenseite für logische, sprachpragmatische, kommunikationstheoretische und eine(r) Außenseite für historisch-soziologi2
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