Vollendende Mimesis: Wirklichkeitsdarstellung und Selbstbezüglichkeit in Theorie und literarischer Praxis [Reprint 2018 ed.] 9783110857047, 9783110136852


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German Pages 226 [228] Year 1992

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Theorie und Praxis oder Vom Nutzen und Vorteil der Literatur für die Ästhetik
Methodische Zwischenbemerkung: Zum Begriff der Konstruktion
1. Dichtung als “Neue Mythologie”: Literaturtheorie Ende des 18. Jahrhunderts
2. Jean Pauls “Flegeljahre”
3. Benjamins Allegoriebegriff
4. Robert Musils “Der Mann ohne Eigenschaften”
Zusammenfassung
Literatur
Personenregister
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Vollendende Mimesis: Wirklichkeitsdarstellung und Selbstbezüglichkeit in Theorie und literarischer Praxis [Reprint 2018 ed.]
 9783110857047, 9783110136852

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Andreas Böhn Vollendende Mimesis

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker Begründet von

Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer

Neue Folge Herausgegeben von

Stefan Sonderegger

101 (225)

w DE

G Walter de Gruyter • Berlin • New York 1992

Vollendende Mimesis Wirklichkeitsdarstellung und Selbstbeziiglichkeit in Theorie und literarischer Praxis

von

Andreas Böhn

w G DE

Walter de Gruyter • Berlin • New York

1992

Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung Stadtsparkasse Mannheim

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek

— CIP-

Einheitsaufnahme

Böhn, Andreas: Vollendende Mimesis : Wirklichkeitsdarstellung und Selbstbezüglichkeit in Theorie und literarischer Praxis / von Andreas Böhn. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1992 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker ; N. F., 101 = 225) Zugl.: Mannheim, Univ., Diss., 1991 ISBN 3-11-013685-6 NE: GT

ISSN 0481-3596 © Copyright 1992 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Für Sibylle

Vorwort Ich möchte an dieser Stelle all denen danken, die die Entstehung dieser Arbeit ermöglicht und wesentlich gefördert haben; vor allem dem Betreuer, Prof. Dietrich Jons, für stete und hilfreiche Unterstützung und kritische Lektüre der Arbeit; Prof. Jochen Hörisch für die Übernahme des Koreferats und seine Hinweise und Anregungen; Dr. Jürgen Landwehr für weit über Kollegialitätspflichten hinausgehenden Rat und Hilfe; und schließlich nicht zuletzt allen, mit denen ich in meinen Lehrveranstaltungen am Seminar für Deutsche Philologie der Universität Mannheim, in Colloquien oder im persönlichen Gespräch mein Vorhaben in einzelnen Aspekten oder in größeren Teilen diskutieren konnte. Die Arbeit wurde im Sommer 1991 von der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Mannheim als Dissertation angenommen und erscheint nun in fast unveränderter Form. Mannheim, im Juli 1992

A. B.

Inhaltsverzeichnis Einleitung: Theorie und Praxis oder Vom Nutzen und Vorteil der Literatur für die Ästhetik Methodische Zwischenbemerkung: Zum Begriff der Konstruktion 1. Dichtimg als "Neue Mythologie": Literaturtheorie Ende des 18. Jahrhunderts 1.1. Einführung: Hauptthesen des Programms 1.2. Historische Hintergründe der "Neuen Mythologie" 1.2.1. Die Stellung der Ästhetik in der philosophischen Systematik bei Baumgarten und Kant 1.2.2. Geschichtsphilosophie und Hermeneutik in Lessings "Erziehung des Menschengeschlechts" . . 1.2.3. Herders semiotische Vernunftkritik und ihr Übergang zu Naturphilosophie und "Neuer Mythologie" 1.2.4. Die Entstehung der neuen Organismuskonzeption und ihre naturphilosophische Interpretation bei Kant, W. v. Humboldt und Schelling 1.3. Darstellung des Programms 1.3.1. Schellings Kunstphilosophie: Kunst als Darstellung des Widerspruchs 1.3.2. Die Wende von Geschichtsphilosophie zu Ästhetik in Schlegels "Rede über die Mythologie" 1.4. Poetologische Konsequenzen: "Brod und Wein" 2. Jean Pauls "Flegeljahre" 2.1. Selbstreferentialität des Kunstwerks als Konsequenz des Programms der "Neuen Mythologie" 2.2. Der Beginn der "Flegeljahre" 2.3. Figurenkonstellation 2.4. Handlungsdarstellung und Auseinandersetzung mit dem Programm der "Poetischen Enzyklopädie"

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Inhaltsverzeichnis

2.5. Verfahren des "Witzes" 2.6. Selbstreflexion des Romans im "Roman im Roman" und Thematisierimg der Funktion von Literatur 2.7. Der Schluß der "Flegeljahre"

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3. Benjamins Allegoriebegriff 3.1. Jean Paul als Allegoriker 3.2. Benjamins Sprachtheorie - "Name" und "Zeichen" als sprachtheoretische Kategorien 3.2.1. "Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen" 3.2.2. "Die Aufgabe des Übersetzers" 3.2.3. Die "Erkenntniskritische Vorrede" zum "Ursprung des deutschen Trauerspiels" 3.2.4. "Lehre vom Ahnlichen" und "Über das mimetische Vermögen" 3.2.5. "Name" und "Zeichen" in ihrem Verhältnis zu "Allegorie" und "Symbol" 3.3. Benjamins Kunsttheorie 3.3.1. Kunst als "Abbild und Revision zugleich" 3.3.2. Melancholie: "Verrat" und "Rettung" 3.3.3. "Aura" und "Zerstreuung" 3.3.4. "Allegorie" und "Ware" 3.4. Benjamins Geschichtsbegriff 3.4.1. "Angelus Novus" 3.4.2. "Jedes Kunstwerk ist ein Augenblick" 3.4.3. Die "Allegorie" als Modell einer "Dialektik im Stillstand" 3.5. Jean Paul als Sammler

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4. Robert Musils "Der Mann ohne Eigenschaften" 4.1. Einleitung 4.2. "Morgen in einem Trauerhaus" 4.3. Kippfiguren 4.4. "Leben in" statt "leben für" 4.5. Der "andere Zustand" 4.6. "Das Sternbild der Geschwister" 4.7. Schluß

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Zusammenfassung

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Inhaltsverzeichnis

Literatur Personenregister

Einleitung: Theorie und Praxis oder Vom Nutzen und Vorteil der Literatur für die Ästhetik Wenn man den Leuten nur begreiflich machen könnte, daß es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei - Sie machen eine Welt für sich aus - Sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie so ausdrucksvoll - eben darum spiegelt sich in ihnen das seltsame Verhältnißspiel der Dinge. (Novalis 1960ff.: II, 672)

Zum Auftakt ein ganz kurzer Satz. Nicht mehr als ein Halbdutzend Wörter; einfache Wörter, die ersten besten, beinahe jedenfalls. Sollen sie doch vor allem anderen ein Schweigen brechen. Doch schon würde ohne Ubergang ein langer Satz im Konjunktiv einsetzen, eine jener Perioden nach alter Art, in der alles reiflich erwogen wäre - die Wahl der Verben, das logische Gerüst, die Zahl der Abschnitte, ihre Länge und Dauer -, um die Neugier des Lesers erst zu wecken und dann zu fesseln, um ihn Schritt für Schritt (gleich einem Kind, das man auf den Wegen eines Gartens leitet, den es zum ersten Mal besucht, gleich einem Gast, den man durch ein Haus führt, das er noch nie zuvor betreten hat) durch den Vollkreis der Satzglieder, die sich - in ihrer wohlgefügten Verschiedenheit - entlang einer einheitlichen Achse anordnen, zu führen und endlich durch ein Labyrinth von Einschüben und Parenthesen auf ein letztes (am Ende eines solchen Weges gewiß nicht erwartetes) Hindernis prallen zu lassen, einen Schlußsatz, der nichts schließt. (Benabou 1986 [1990: 23])

Schöner als mit diesem Anfang des Kapitels "Erste Seite" aus Marcel Benabous "Warum ich keines meiner Bücher geschrieben habe" kann man ein Buch über Selbstbezüglichkeit eigentlich kaum einleiten. Der Text sagt etwas aus, aber indem er das tut, ist er das, worüber er spricht, und indem man ihn liest, tritt das, was man versteht, hinter dem, was man wahrnimmt und erfährt, zurück. Daß beides zusammenfällt, macht die Sache umso verblüffender. Auf paradoxe Weise treffen dabei auch zwei widerstreitende Eindrücke aufeinander. Dem vollendet harmonischen Übereinstimmen von Form und Inhalt, dem Ruhen in sich selbst steht ein

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Einleitung: Theorie und Praxis

schwindelerregendes Sich-in-sich-selber-Spiegeln, ein Abgrund von Autismus und Sinnlosigkeit gegenüber. Der Weg durch das Labyrinth führt an kein Ziel, bestenfalls zu einem Aussichtspunkt mit Blick auf den Irrgarten, auf dem sich der erheiterte oder auch melancholische Leser niederlassen kann. Das ist nicht jedermanns Sache, zum Beispiel nicht die von Botho Strauß, der hierin wohl menschliche Usurpation der Stelle eines Anderen und eine Demonstration der Erhebung des Sekundären und Parasitären zum Selbstzweck sehen würde. Unter Berufung vor allem auf George Steiner plädiert er in der ZEIT vom 22. 6. 1990 für "die Befreiung des Kunstwerks von der Diktatur der sekundären Diskurse, [...] die Wiederentdeckung nicht seiner Selbst-, sondern seiner theophanen Herrlichkeit, seiner transzendentalen Nachbarschaft." Nicht der Text selbst soll im Text erscheinen, sich zeigen und zur Beschäftigung der "sekundären Diskurse" (sprich: Literaturwissenschaft, besonders poststrukturalistische und dekonstruktivistische) mit ihm als Text anregen, auch nichts Ästhetisches oder sonst Menschliches soll daraus entspringen. Weder ist es ein utopisches Humanuni noch ein höherer ästhetischer Gemütsreflex, noch überhaupt etwas vom Menschen Vermochtes, das sich in der Schönheit verbirgt. Vielmehr klingt in ihr an oder schimmert durch: Realpräsenz, Anwesenheit; [...] Wir antworten mit Widerschein.

Doch auch Strauß' Text zeigt mehr als er sagt. Denn die Metapher des "Widerscheins", des "Scheinens" und "Erscheinens" überhaupt verweist auf das Bildfeld der Reflexion, in das ebenso die Selbstbespiegelungen der Autoreferentialität gehören. Durch den antwortenden Widerschein wird die erscheinende "Anwesenheit" in die Figur ihrer Selbstreflexion eingebunden, der Gesprächspartner zur Spiegelfläche reduziert. Diese göttliche Selbstbezogenheit garantiert gerade nach Strauß, daß beliebige materielle Signifikanten den Geist der "Realpräsenz" widerspiegeln können, wofür er ausdrücklich die Eucharistie als Beispiel anführt. Die Aufhebung dieser festen Beziehung, der Deckung der "Gefühlsmünze" und ihre Ersetzung durch "Gedankenschecks" (Musil GS I: 116) führt die Moderne herauf, eine Verlusterfahrung, die nach Strauß immer auf einen Ursprung gelingender Selbstbezüglichkeit zurückverweist. Nun aber war es zum Kontraktbruch zwischen Welt und Wort gekommen. Fortan sprach sich die Sprache selbst [schlechte Selbstbezüglichkeit], und die Welt, Gottes Schöpfung, war ihr. die reale Abwesenheit; nicht da, w o Worte. V o n der Aufkündigung der semantischen Verbindlichkeit (bei gleichzeitiger Emanzipation des Gottmenschen) bis zur reinen Selbstreferenz der Diskurse, dem nihilistischen Vertexten von Texten verging ein Jahrhundert, das die großen 'Zeichensetzer' der Moderne mit gewaltigen, heroischen Bedeutungsschöpfungen bestritten. Aber sie alle, ob Marx, Freud, Wittgenstein, ob

Einleitung: Theorie und Praxis

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rational oder irrational, gingen hervor aus dem Verlust des tautologischen Urvertrauens in die Sprache: Ich bin der ich bin [gute Selbstbezüglichkeit],

Diesem Problem der Moderne, in dem sich die paradoxe Beziehung einer guten zu einer schlechten Selbstbezüglichkeit verbirgt, die formal nicht zu unterscheiden sind, sucht Strauß durch ein anderes Paradox beizukommen, nämlich indem er sich auf etwas beruft, was gerade charakteristisch für die kritisierte Moderne ist: den Zweifel an den Formen und Möglichkeiten der Repräsentation. Solange die fortwährende Gültigkeit und Verläßlichkeit einer bestimmten Verfassung der Welt nicht in Frage stand, war auch ihre Vergegenwärtigung jederzeit möglich. Die Symbole des Glaubens konnten im rituellen Akt zum Erscheinungsort des durch sie Symbolisierten werden, etwa im Abendmahl. Erst der Verlust dieses Glaubens läßt die Differenz von Zeichen und Bezeichnetem ins Bewußtsein treten und nach den Gründen ihrer Zuordnung fragen, wobei durch die Entdeckung der unaufhebbaren Vermitteltheit der Beziehung zur Welt auch das Verhältnis von Subjekt und Objekt problematisch wird. Diese in der Moderne sich radikalisierende Erfahrung - Strauß nennt Mallarmé als historischen Zeugen - versucht er nun zu ihrer Kritik zu verwenden. Die Unangemessenheit der sprachlichen Explikation [...] ist eine erste Erfahrung des Unmittelbaren und der Andersheit, die im Kunstwerk Asyl genießen.

Die Plötzlichkeit dieses ganz Anderen läßt ihn erwägen, ob nicht ein geringer abrupter Wechsel innerhalb eines 'Systemganzen' zuweilen genügt,um die Heraufkunft von etwas völlig Unvorhergesehenem und Neuem zu bewirken. Kein noch so komplexes, hochentwickelter, gleichgültiges, liberales und strapazierfähiges Gemeinsames vermag sich gegen den Blitz zu schützen, der es umordnet. Wenn der Schein wild wird nach Gestalt, wird er den Spiegel zum Bersten bringen.

Da der Schein aber nur auf einer Reflexionsfläche Gestalt gewinnen, "erscheinen" kann, wäre dies ein Akt der Selbstvernichtung.1 Der Mythos von Narziß kam da noch mit einer weniger brachialen Metapher aus. Auf den Menschen bezogen mündet das Aufbegehren gegen die Tatsache, daß er immer nur reflektorisch ein Bild von sich selbst gewinnen kann, bei Strauß in die Forderung nach "Zerreißen all der Texte und Texturen, in die er sein Herz und sein Antlitz gehüllt hat". Das für das Selbstbild konstitutive Reflexionsmedium erscheint in dieser Perspektive gerade als Verdeckung des Eigentlichen, des Kerns des Selbst.

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Wie so manches bei Strauß verweist dies auf die Tradition mystischer Erfahrung: "Das, was als mystische Erfahrung beschrieben wird, zerstört sich als Erfahrung selbst, insofern ihr Objekt das Subjekt zur Selbstpreisgabe zwingt." (Blumenberg 1988: 599f.)

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Einleitung: Theorie und Praxis

Strauß bekennt sich zu dem, was er hier betreibt: "Remythologisierung". Er postuliert einen Ursprung, der als Inbegriff von Fülle und Unbegrenztheit sowohl alle Realität in sich enthält als auch zeitlos allgegenwärtig ist und der in tautologischer Selbstgenügsamkeit mit sich identisch ist. Dennoch spiegelt sich diese "Realpräsenz" vermittels der Kunst in den Menschen, die ihren Schein zurückwerfen, jedoch dadurch ja wohl auch teilhaben an dem, was ihre Teilnahme doch gar nicht brauchen dürfte. Die Sprache als bevorzugtes Ausdrucksmittel des Menschen soll passiv empfangend bleiben, nur so kann sie etwas zur Darstellung bringen, was jede aktive Bemühung gerade verhüllen würde. Denn Aktivität würde bedeuten, aus sich heraus das Gesuchte schaffen zu wollen - der Sündenfall schlechthin. Deshalb muß es höchstes Ziel der Darstellung sein, das Darstellende im Dargestellten völlig aufgehen zu lassen, da es ja nur als Mittel für dessen Erscheinung zu ihm hinzutritt, ohne ihm etwas Positives beifügen zu können. Mithin ist es bloßer Zusatz und kann sich nur negativ bemerkbar machen, als Trübung, als Defizienz, als Parasit. Diese Konzeption von Darstellung als Mimesis ohne Eigenwert, als pures reflektorisches Abbild prägt die frühe Geschichte des Mimesisbegriffs. Ihr ist Selbstbezüglichkeit der Darstellung, .Produktion des Dargestellten durch das Darstellende, diametral entgegengesetzt. Die Durchsetzung dieser Position in der Kunsttheorie der Neuzeit erfolgt meist in deutlicher Absetzung von dem früheren Modell, sei es im Stolz auf die eigene schöpferische Tätigkeit, sei es in melancholischer Niedergeschlagenheit über die verlorene Anbindung an ein verbindliches Vorbild. Der Rückbezug auf ein Vorgängiges und zugleich Übergeordnetes widerstreitet jedem Vorgriff auf ein Neues, das nicht nur Wiederholung des Ewig-Alten wäre. Man muß zur Kritik dieser Auffassung, nach der Darstellung immer supplementär und parasitär ist, nicht die einschlägigen Arbeiten von Jacques Derrida bemühen. Es genügt, einer ehrwürdigen Tradition folgend, die Blickrichtung umzukehren und in der autoreferentiellen Quelle der Anwesenheit eine Projektion zu sehen, welche für den Menschen eben die Spiegelfunktion übernimmt, die er sich in dem oben skizzierten Weltbild selbst zuschreibt. Als Wesen, das keine bestimmte Umwelt hat, sondern sie sich schafft, ist er von Beginn an auf sich zurückgeworfen. 2 Diese reflektorische Rückbezüglichkeit bedeutet immer zugleich, sich ein Bild von sich selbst machen zu müssen und dies nur

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Vgl. zum Folgenden Dux (1982).

Einleitung: Theorie und Praxis

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über die Relation mit anderen tun zu können. Die Gattung Mensch konstituiert sich fortwährend aufs neue, indem sie sich kulturelle "Spiegel" schafft, die es ihr erlauben, ihr eigenes Bild darin zu sehen. 3 Nicht erst seit Lacan weiß man, daß Selbstbewußtsein und Sozialität zusammengehören. Da beides zeichenhaft vermittelt ist, richtet sich der Wunsch nach Orientierung und Sicherheit in der so konstituierten Welt auf Garantien für die Gültigkeit der zugrundeliegenden Zeichenordnung. Wie wären diese besser zu erlangen, als indem man den autopoietischen Charakter des Produzierten leugnete und es als von einer Außeninstanz Empfangenes auffaßte, die als gesteigertes und erhöhtes Bild des subjektivischen, in den elementaren Sozialbeziehungen gewonnenen Eigenmodells gestaltet ist? Diese Außeninstanz bringt keine Störung, da sie nur ein hinausprojiziertes Innen ist, sie bestätigt die innere Verfassung von einem scheinbar objektiven und ausgezeichneten Standort aus, und schließlich gibt sie die Möglichkeit, das Phantasma einer nicht vermittlungsbedürftigen und dennoch erfüllten Selbstbezüglichkeit zu entwerfen. Durch sie vermeidet man also ohne zusätzliches Risiko mißliche, weil zu auffällige Zirkelschlüsse.4 Zugleich gibt man der Hoffnung Nahrung, daß das Aus-sich-Heraustreten, das erst in die kreisläufigen Verweise hineinführt, "eigentlich" gar nicht nötig sei.5 Die äußerste Abstraktheit und Vagheit, die diese Außeninstanz bei Strauß angenommen hat, ist nun sicherlich ein Spätprodukt und kaum

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Der Spiegel ist also "un miroir sans tain", der nichts Vorgängiges reproduziert, sondern vorhandene Bilder passieren läßt "en les affectant d'un certain indice de transformation et de permutation." (Derrida 1972: 350) Da die Bilder nicht auf ein "Original", sondern nur auf andere (Spiegel-)Bilder zurückverweisen, kann Derrida sagen, daß "rien n'a précédé le miroir" (351). In dieser Zuspitzung eines Begriffs bis zum Paradox, das das Nicht-Funktionieren der Grundlagen seiner traditionellen Verwendung aufzeigt, berührt sich Derridas Verfahren mit Benjamins Behandlung des Mimesis-Begriffs, der die Technik der folgenden Darstellung angeregt hat.

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Man kann das, wenn man denn will, auch systemtheoretisch formulieren: "Eis muß sozusagen ein Widerstand eingeschaltet werden, der verhindert, daß man sich immer gleich auf sich selbst bezieht. Der Selbstkontakt oder die innere Interdependenz darf nicht beseitigt werden; aber er muß im System selbst unterbrochen werden können. [Das heißt:] daß gerade in Systemen, die all ihre Operationen über interne Interdependenzen steuern, diese Interdependenzen intern asymmetrisiert werden müssen, damit operativ unproduktive Zirkel vermieden werden." (Luhmann 1981: 32) Es handelt sich also gerade nicht um Verkehr mit einem unbegreiflichen "ganz Anderen", eher um seine Eliminierung durch Integration, um Reduktion von Unsicherheit; vgl. Dux (1982: 201f.).

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Einleitung: Theorie und Praxis

noch steigerbarer Endpunkt ihrer historischen Entwicklung. 6 Daß sie blitzartig in Erscheinung tritt, verweist noch, neben dem Bezug der Metapher zu Opsis und Reflexion, auf das traditionelle Motiv, das Überraschende des Einbrechens des Jenseitigen anschaulich zu machen. Ihre rein negative Bestimmung durch die Inadäquatheit jedes möglichen Ausdrucks gemahnt in dieser Radikalität an mystische Auffassungen. Diese stellen jedoch ihrerseits immer schon Krisenphänomene dar, die aus dem Ungenügen an orthodoxen Modellen geregelter Beziehungen zwischen "Innen" und "Außen" resultieren. Daher kennen die jüdische und die christliche Religion, die beide eine scharfe Entgegensetzung dieser beiden Sphären annehmen, wiederkehrende mystische Gegenbewegungen. Beider Wechselspiel begründet einen latenten Gegensatz zwischen orthodoxer Deutung der Welt als Darstellung sie transzendierender Strukturen und mystisch geprägter Infragestellung der Erfaßbarkeit dieser Strukturen. 7 Schon in der griechischen Kultur, so sehr sie im übrigen diesem Zug des jüdisch-christlichen Weltbilds entgegengesetzt ist,8 findet sich bei Piaton eine Mimesiskonzeption, die zwar eine fundierende Beziehung der Ideen zur erfahrbaren Welt postuliert und somit diesen eine Garantieleistung im obengenannten Sinne zuschreibt, aber sie zugleich so stark erhöht, daß sie Mimesis nur noch als Defizienz deuten kann. Erkenntnis läßt sich dann nicht mehr als mimetische, nur noch als anamnetische zweifelsfrei begründen. Die negativen Folgen für die mimetisch verstandene Kunst sind bekannt. Aristoteles hingegen vermeidet diese Abwertung der Mimesis, indem er die strukturelle Absicherung der Welt und ihrer Erkennbarkeit durch

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Sie teilt das allgemeine Schicksal der Gottesvorstellung, deren sozialevolutionäre Entwicklung sie ihrer ursprünglichen praktischen Funktionen weitgehend beraubt hat; vgl. Dux (1982: 164 u. 245-247).

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Dieser Gegensatz von Orthodoxie und Mystik kann aus kulturanthropologischer Sicht mit Victor Turner (1969) als spezielle Ausprägung des Gegensatzes von "Struktur" einer Gesellschaft und "Anti-Struktur" verstanden werden. Letztere wird in sog. "Liminalitätsphasen" als strukturaufhebende "Communitas" an Stelle der üblichen Ordnung gesetzt, um von diesem künstlichen Naturzustand aus die Kultur rituell neugewinnen und begründen zu können. Die Absolutsetzung solcher Schwellenzustände ist Kennzeichen millenarischer religiöser Bewegungen, zu denen auch mystische Tendenzen im hier verstandenen Sinne gehören. Zu Turners Werk vgl. auch Schäfer (1990).

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Aus beider Gegensatz hat Erich Auerbach (1946) seine beiden "Grundtypen" für "die literarische Darstellung des Wirklichen in der europäischen Kultur" entwickelt (5-27; 26), die sich mit den hier formulierten gegensätzlichen Haltungen zum Darstellungsproblem parallelisieren lassen. Zum Begriff "Mimesis" bei den Griechen vgl. ergänzend Koller (1954).

Einleitung: Theorie und Praxis

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die Ideen in eine funktionale Beziehung innerhalb der Welt transformiert und dieser im Entelechiebegriff ein dynamisches Moment verleiht. Der dem Modell des lebendigen Organismus folgende Perspektivenwechsel von statischen Einheiten zu den sie tragenden Prozessen erlaubt es, das Mimetische gerade in der Darstellung einer modellhaften Struktur zu sehen und gegenüber der schlichten Wiedergabe des Tatsächlichen zu privilegieren. Mit der Einführung der Kohärenz eines seine Teile fortschreitend integrierenden Ganzen als Kriterium der Mimesis umgeht Aristoteles das Argument Piatons, daß die Kunst zwangsläufig weiter von der Idee entfernt sei als die Wirklichkeit, da Aristoteles beider Konstitutionsprinzipien gleichsetzt und die Besonderheit der Kunst über den Addressatenbezug definiert. Ihre kathartische Wirkung setzt Uberschaubarkeit und Anschaulichkeit in Verbindung mit Erwartungsbrechung und Überraschung voraus. Wenn diese Ausweitung der Tragödientheorie zulässig ist, dann ist Kunst Darstellung einer Krise, eines Problems in möglichst ungebrochenem Zusammenhang mit der unproblematischen und nicht krisenhaften Realitätserfahrung und gerade darin mimetisch. Durch ihre formale Nachahmung der für wirklichkeitskonstitutiv gehaltenen Strukturen integriert sie sonst nicht Bewältigbares, und zwar in einer für die Rezipienten erfahrbaren Weise. In dieser Position sind Rechtfertigung der Mimesis und Selbstreferentialität des Kunstwerks auf komplexe Weise aufeinander bezogen. Nur indem das Kunstwerk eine eigene Kohärenz entwickelt und sich damit von der Wirklichkeit tendenziell abhebt, kann es seine Darstellungsleistung erbringen, nämlich, wenngleich nur modellhaft, die Totalität von Wirklichkeitserfahrung zu gewährleisten. Eine ähnliche Vermittlung der beiden Pole wird jedoch erst wieder Ende des achtzehnten Jahrhunderts möglich. Zuvor ist die ästhetische Dimension der Darstellung und ihrer Erfahrbarkeit und Nachvollziehbarkeit in die jeweiligen Gesamtzusammenhänge der Weltdeutungen einbezogen.9 Noch in den großen philosophischen Systemen der frühen Neuzeit geht Ästhetik letztlich in Ontologie und Erkenntnistheorie auf, da Schönheit als Erscheinungsweise der Ordnung und Vollkommenheit der Welt als ganzer und ihre Zugänglichkeit als Problem der Erkenntnis aufgefaßt werden. Wie sich dies in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts ändert, soll in Teil 1 gezeigt werden. Dazu werden zunächst getrennte Veränderungen auf verschiedenen

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Vgl. Blumenberg (1988: 4 0 M 0 4 ) . Daß dabei schon implizit Ästhetisches als Komplement zum Theoretischen Verwendung findet, wenngleich ohne als solches reflektiert zu werden, zeigt Blumenberg an Nikolaus von Kues (566f.).

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Einleitung: Theorie und Praxis

Feldern umrissen, die insgesamt Verschiebungen innerhalb des theoretischen Gefüges hervorrufen, welche wiederum den Einsatzort der Ästhetik bereiten, wie sie um 1800 vorliegt. Es geht also nicht um Theoriegeschichte schlechthin, sondern um die Genese des Problems, für das die Ästhetik die Lösung darstellen soll.10 Auch diese Lösung wird selektiv unter Beschränkung auf die Vermittlung von Mimesis und Selbstbezüglichkeit im frühromantischen Projekt der "Neuen Mythologie" betrachtet. Die Darstellung geht von den Hauptthesen des Programms aus, fragt historisch nach seiner theoriegeschichtlichen Motivierung zurück, um aus dieser heraus dann seine Grundlinien zu entwickeln und abschließend die Folgen für die literarische Praxis zu demonstrieren. Die "Neue Mythologie" ist eine Antwort auf die Erfahrung des Verlusts von Mythologie, von anschaulicher und verbindlicher Weltdeutung; eine ambivalente Antwort, da sie einerseits dem Wunsch nach Totalitätskonstruktion verpflichtet bleibt, andererseits in ihrer Praxis der Fiktionalisierung der funktionslos gewordenen vorangegangenen Mythologien reale Totalität gerade dementiert. Denn durch diese Fiktionalisierung macht sie die Mythologien, die selbst nur Modelle von Welterfahrung waren, zu Modellen zweiten Grades, zu Modellen eines Modells von gelingender ganzheitlicher Welterfahrung.In dieser Ambivalenz korrespondiert ihr Walter Benjamins Allegoriebegriff, der mehr als ein Jahrhundert später in analoger Weise auf lange Vergangenes zurückgreift, um Lösungen für ein aktuelles Problem zu finden. In seiner ersten Fassung im "Ursprung des deutschen Trauerspiels" steht er im Zusammenhang mit Benjamins Rückgriff auf Platonische Ideenlehre und Begriffsrealismus, also auf Totalitätsvorstellungen, die eine kritische Wendung gegen die moderne nominalistische Erkenntniskonzeption ermöglichen sollen. Diese beruht, wie Blumenberg gezeigt hat, gerade auf der Reduzierung des Wahrheitsanspruchs der menschlichen Erkenntnis und ihrer Instrumentalisierung als Mittel der Selbstbehauptung, auf der Befreiung der

10 Aus systemtheoretischer Perspektive könnte man also sagen, es gehe um die Gründe für die Ausdifferenzierung des eigenständigen Subsystems "Kunst" am Beispiel des ihm zugeordneten ästhetischen Diskurses, denn: "Systeme brauchen Probleme." (Schwanitz 1990: 38, 50 u. 63) Die Konfrontation von historischen Funktionsbestimmungen der Literatur mit ihrer praktischen Erprobung (s. u.) soll auch ein Beitrag zur Reformulierung des Problems der Bestimmung der Funktion des Sozialsystems "Kunst" sein, dessen befriedigende Lösung die Systemtheorie bisher schuldig geblieben ist; vgl. die Rezension von Werber (1990) zu S. J. Schmidt (1989) u. Schwanitz (1990).

Einleitung: Theorie und Praxis

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theoretische[n] Einstellung von ihrem paganen Ideal, die Welt vom göttlichen Standpunkt aus zu betrachten und darin schließlich das Glück des Gottes zu teilen. Der Preis für diese Freiheit ist, daß Theorie nicht mehr auf den Ruhepunkt eines beseligten Betrachters, sondern auf die Werkstatt menschlicher Anstrengung bezogen sein wird. Die Theorie, die nur noch Hypothese sein kann, hat im Grunde schon den immanenten Wert, den Rang der Selbstzwecklichkeit verloren; der Funktionalisierung der Theorie zu beliebigen Zwecken, ihrer technischen Mediatisierung, geht also der Verlust ihrer Selbstzwecklichkeit voraus. (Blumenberg 1988: 229f.)

Benjamin setzt nun mit seinem emphatischen Wahrheitsbegriff auf Wiederherstellung dieser Selbstzwecklichkeit in der "Intentionslosigkeit" der Ideen, deren Konfigurationen als objektive Strukturen der Welt im Gegensatz zur instrumenteilen Erkenntnis eben von keinerlei subjektiven Intentionen geprägt sind. Als Inbegriff des allumfassenden Ganzen gibt es für sie ja gar nichts außer ihnen, auf das sie gerichtet sein könnten. Dieser eindeutig totalisierenden Tendenz Benjamins in der Tradition mystischer "Überforderung" von Erkenntnisleistungen 11 steht nun aber entgegen, daß er den Ideen Sprachlichkeit zuschreibt und die platonisierende Anamnesis der paradiesischen Ursprache als historisches Eingedenken faßt. Mit den Momenten der Zeichenhaftigkeit und Geschichtlichkeit versehen läßt sich die Idee nicht mehr als Bezugspunkt der Rekonstruktion eines Vorgängigen denken. Vielmehr ist hiermit der Übergang zur Konstruktion des Zukünftigen vollzogen. Das Postulat eines ideenhaften Ursprungs hat kritische Funktion gegenüber bestehenden kulturellen Repräsentationen, die als ungenügend entlarvt werden sollen. Es kann in dem Maße aufgegeben werden, in dem diese Funktion anderweitig abgesichert werden kann. Hierin einen Schritt weiter zu gehen als Benjamin selbst ist das Ziel des dritten Teils, der die Allegoriekonzeption in ihrer Entwicklung zwischen den Polen von Trauer über Vergangenes und Aufdeckung neuer Möglichkeiten in den Konfigurationen des Alten darstellen soll. Beabsichtigt ist keine Geschichtsschreibung, wohl aber, entscheidende Transformationen des Verhältnisses von Darstellung und Selbstbezüglichkeit nachzuzeichnen, "Umbesetzungen" dieser Begriffe im Sinne Blumenbergs, dergestalt, "daß differente Aussagen als Antworten auf identische Fragen verstanden werden können." (1988: 541) An zwei Fällen werden solche Umbesetzungen, die notwendigerweise immer Verschiebungen im theoretischen Gefüge mit sich bringen, innerhalb eines gegebenen Fragehorizonts bis zu dem Punkt verfolgt, an dem sie diesen

11 Vgl. Blumenberg (1988: 600).

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Einleitung: Theorie und Praxis

Horizont aufsprengen. Daraus ergeben sich Folgerungen für Historizität und Aktualität der dargestellten Positionen. In der Konsequenz ihrer historischen Entstehung gesehen, erscheinen sie als gebunden an eine überkommene Problemstellung, an deren Voraussetzungen festhaltend und letztlich scheiternd. Von der durch sie herbeigeführten weiteren Entwicklung her betrachtet, verblüffen sie durch ihre Modernität und bahnbrechende Überbietung des geschichtlich Erwartbaren. Hieraus resultiert auch die latente Frontstellung zwischen literar- und philosophiehistorischer Verortung und Relativierung der Frühromantik einerseits und Verfechtung ihrer ungebrochenen Aktualität andererseits, und dann entsprechend zwischen einem konservativ-theologischen und einem früher marxistischen, heute gar postmodernen Bild Benjamins. Diese Erklärung des Gegensatzes soll nun nicht beiden Streitenden ihr Recht werden lassen, ohne sich selbst ihren Anteil zu sichern. Gerade die Profilierung gegen den konstanten Problemhintergrund verschafft den fortgeschrittensten Antworten ihre Sprengkraft, die sie schließlich auch auf die Fragen zurückwirken läßt. Für den nicht mehr über dieselben Voraussetzungen verfügenden späteren Betrachter werden diese Lösungen zu Bausteinen einer neuen Problemstellung. So kann also die historische Rekonstruktion zweier Lösungsversuche Modelle zur Konstruktion weiterer Versuche liefern, in dem der spätere die Ergebnisse des früheren zur Bestimmung seines eigenen Ausgangspunktes nutzt, ohne ihn einfach fortzuführen. Eine solche sozusagen "metahistorische" Zielsetzung liegt der folgenden Darstellung zugrunde. D. h., daß Geschichte als Material für eine Konstruktion verwendet wird, deren Verfahren aus den untersuchten historischen Positionen und ihren Beziehungen zueinander entwickelt wird. Dieses Verfahren wird aus Benjamins Allegoriebegriff abgeleitet, indem die konzeptionellen Veränderungen bei Benjamin selbst nachgezeichnet, aber über den bei ihm philologisch eindeutig nachweisbaren Stand hinaus extrapoliert werden. Damit soll also der Anspruch erhoben werden, in Fortführung Benjamins ein heute gültiges Verständnis von Mimesis als spezifischer Leistung der Kunst zu begründen. Die Arbeit soll somit nicht nur dazu dienen, an zwei wichtigen Stationen zu zeigen wie sich die theoretischen Bestimmungen des Verhältnisses von Wirklichkeitsdarstellung und Selbstbezüglichkeit historisch entwickelt haben. Vielmehr möchte ich behaupten, daß die Überlegungen Benjamins richtungsweisend sind für eine Mimesiskonzeption, mit der sich einige zentrale Fragen der Literaturwissenschaft klären und wenn nicht auflösen, so doch zumindest in sinnvoller Weise umformulieren lassen.

Einleitung: T h e o r i e und Praxis

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Diese Fragen betreffen die Funktion der Literatur 12 im Rahmen der Funktionen anderer Kulturbereiche, nämlich einerseits solcher, die als Vorläufer und/oder Konkurrenten der Literatur an der gesellschaftlichen Sinnproduktion beteiligt sind wie Mythos, Religion und Philosophie, und andererseits solcher, die Leistung und Verfahren der Literatur - deskriptiv oder normativ - zu bestimmen versuchen, also Literaturkritik, Literaturwissenschaft und philosophische Ästhetik. Übernimmt die Literatur die Funktion etwa des Mythos, ist sie ein mehr oder weniger zufriedenstellender Ersatz für etwas nicht mehr Funktionsfähiges, oder transformiert sie die Rolle des Mythos, ist sie gerade Moment einer Bewegung hin zum nicht mehr Mythischen? Ist sie, insbesondere in ihrer modernen Form, Fortschreibung oder Überwindung vorangehender sinnvermittelnder Strukturen? Und zum anderen: Soll das Reden über Literatur deren Funktion klären, um ihr dadurch zu helfen, ebendiese besser wahrnehmen zu können? Setzt es sich damit über die Literatur, indem es ihr vorschreibt, wie sie zu verfahren habe? Oder ist dieses Reden nur Erfüllungsgehilfe bei der Vermittlung eines Gehalts, der sich doch nur in einer, eben literarischen Weise sagen läßt? Die Antworten auf diese Fragen können hier nur andeutungsweise vorweggenommen werden. Ihr Kern ist die These, daß die tatsächliche Funktion von Literatur und ihre wechselnden historischen Funktionsbestimmungen in einem komplexeren Verhältnis zueinander stehen als dem einer einfachen Widerspiegelung. Literatur wird als der Ort verstanden, an dem nicht auf die Funktionen der übrigen sozialen Felder Aufteilbares und also auch nicht mit deren Mitteln Beschreibbares zur Sprache kommt. Dessen literarische Darstellung nehmen diese theoretischen Funktionsbestimmungen zum Anlaß, um seine Integration zu propagieren, also der Literatur eine inhaltliche Funktion zuzuweisen, nämlich bestimmte Phänomene auf eine bestimmte Art und Weise zu erfassen, einzuordnen und damit - scheinbar - zu beherrschen. Sie konstruieren also ein Modell von Literatur als Integrationsmedium, das von der darauffolgenden Literatur als Muster benutzt werden kann. Dieses Muster wird jedoch immer dann durchbrochen, wenn Nichtintegriertes von der Literatur aufgegriffen wird, und damit wird auch das dahinterstehende Modell in Frage gestellt. Indem Literatur hiermit erneut

12 Obgleich diese Mimesiskonzeption allgemeine Gültigkeit für die Kunst

insgesamt

beansprucht, wird sie im folgenden nur in b e z u g auf Literatur und hinsichtlich ihrer Fruchtbarkeit für die literaturwissenschaftliche Arbeit erörtert.

12

Einleitung: Theorie und Praxis

ein Problem darstellt, eben das Nichtgenügen eines Integrationsmusters, wird sie zum Auslöser weiterer Funktionsbestimmungen. Der Prozeß verläuft in einem fortwährenden Frage-Antwort-Spiel. Eine neue Qualität gewinnt er jedoch dann, wenn die Theorieseite diese Struktur durchschaut und an der Literatur gerade deren spezifische nicht-theoretische Darstellungsleistung herausstellt, wie ich dies gestützt auf Benjamin versuchen möchte. Dann nämlich wird die Theorie offen für das Kritikpotential, das die Literatur (auch) in bezug auf das theoretische Reden über sie bereitstellt. Die "Neue Mythologie" ist in der deutschen Literaturgeschichte der erste Versuch, theoretisch der Tatsache Rechnung zu tragen, daß Literatur eine Konstruktion ist, die Elemente vorangegangener Modelle von Erfahrung auswählt und zu neuen Modellen kombiniert, welche der veränderten Erfahrung eine Orientierung geben sollen. Die damit verbundene Virtualisierung der früheren Erfahrungsmodelle, etwa der antiken Mythen, wird in die neue Funktionsbestimmung der Literatur dadurch aufgenommen, daß die Literatur als Modell all dieser Modelle aufgefaßt wird, in dem die Mythen nurmehr historische Sonderfälle einer allgemeinen Struktur sind. Die "Neue Mythologie" sollte die Funktion der älteren Mythologien unter den Bedingungen der veränderten gesellschaftlichen Situation ausfüllen. Um dies zu erreichen, mußte sie aus den nun dysfunktionalen Modellen ein neues konstruieren. Hier hat man also zum erstenmal in nuce das Verfahren, das auch meiner Darstellung zugrundeliegt. Nur ist das Bewußtsein vom eigenen Vorgehen noch nicht bis zu der Einsicht gesteigert, daß dieser Konstruktionsprozeß nicht stillzustellen ist, sondern immer nur zu vorläufigen und der eigenen Gegenwart möglichst adäquaten Ergebnissen führen kann. Von dieser Erkenntnis aus erscheint die Arbeit an den früheren Modellen, ihre Entfaltung in einem Horizont von Fragen und Problemen, auf die sie reagieren, Lösungen, die sie bereitstellen, und Voraussetzungen, die sie explizit und implizit hierfür annehmen müssen, als eine notwendige ständige Auseinandersetzung mit der Geschichte. Da die Bestimmung des eigenen Standorts nur als Konstruktion aus dem zu ihm führenden historischen Prozeß möglich ist und die Standortperspektive wiederum die Konstruktion der historischen Gegenstände bestimmt, hat man es hierbei mit einer Interrelation zweier Konstruktionen zu tun.13

13 Davon geht auch Uwe Japps (1977) Versuch einer Neubestimmung der Hermeneutik aus; vgl. bes. 13-22.

Einleitung: T h e o r i e und Praxis

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Aus diesem Dilemma gibt es keinen Königsweg zu einem archimedischen Punkt jenseits der Geschichte. Es besteht jedoch die Möglichkeit, in einer metahistorischen Betrachtung solche historischen Interrelationen von Standortbestimmung und zugehörigem historischem Horizont zu untersuchen, die in der Vorgeschichte der eigenen aktuellen Problemstellung wichtige Wendepunkte markieren. Als ebensolchen werde ich mich der "Neuen Mythologie" und Benjamins Allegoriebegriff zuwenden. Sie sollen in ihrem jeweiligen Zusammenhang von Problemhorizont, Lösungsversuch und aus diesem resultierenden Folgeproblemen nachgezeichnet werden, und zwar so, daß in der Beschreibung schon auf die eigene soeben skizzierte Zielsetzung hingearbeitet wird. Dazu wird einerseits eine gewisse Breite der Darstellung nötig sein, die nicht nur die offensichtlichen Motivationen der theoretischen Bemühungen historisch begründet, sondern auch deren interne Zwänge und Unstimmigkeiten herausstellt. Das setzt Detailanalysen an einem umfangreichen Zitatmaterial voraus, welches, ohne die geschichtlichen Konturen verzerren zu wollen, doch selektiv auf das spezielle Erkenntnisinteresse dieser Arbeit hin ausgewählt wird. Wie die Frühromantik den Mythos unter dem Aspekt seiner Nutzbarkeit für ihre Absichten betrachtete, so soll hier die "Neue Mythologie" im Hinblick auf ihre Weiterführung durch Benjamin und dessen Allegoriebegriff wiederum hinsichtlich seiner Brauchbarkeit für das genannte metahistorische Verfahren dargestellt werden. Dasselbe Kriterium gilt für die Auswahl der literarischen Texte Jean Pauls und Musils, deren Funktion noch zu erläutern ist. Für die "Neue Mythologie" muß die Frage, auf die sie eine Antwort sein soll, erst hergeleitet werden, weshalb der ihr gewidmete Teil sich über ein halbes Jahrhundert und eine ganze Reihe von Autoren erstreckt. Der damit erreichte Reflexionsstand erlaubt dann bei der "Allegorie" die weitgehende Beschränkung auf Benjamins Werk und einen engeren Zeitraum. Dies ist möglich, da die Allegoriekonzeption schon in Teil 2 vorbereitet wird. Dort wird gezeigt, daß in einer spezifischen, von dieser Problemstellung geleiteten Lektüre von Jean Pauls "Flegeljahren" eine Kritik frühromantischer Theoreme freigelegt werden kann, die zu Benjamin überleitet. Das soll jedoch gerade nicht heißen, daß Literatur als Fundus theoretischer, zumindest aus ihr erschließbarer Äußerungen mißbraucht würde. Im Gegenteil wird Literatur mit Jürgen Landwehr als "Handlungsform" verstanden, als Vollzug einer "Poiesis", eines Gemachtseins, das den Schriften "spurenhaft und inzitiv eingeschrieben ist", vom Leser als Niederschlag vergangenen Handelns aufgefaßt und zur Vorlage eigenen Handelns gemacht wird. Das bedeutet, daß literarische Texte

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Einleitung: Theorie und Praxis

selbstbezüglich auf sich verweisen und eben darin mimetisch sind, also Strukturen aufweisen, die es Lesern ermöglichen und sie dazu auffordern, in diesen Texten Darstellungen von deren eigener Genese zu sehen. So gelesen, repräsentieren Schriftstücke durchaus etwas, nämlich ihr Geschriebensein. Da dies aber erst als kohärent, als einer Logik folgend und darin eben als Ergebnis eines Handelns begriffen werden kann, wenn es erneut vollzogen wird, repräsentieren Schriften dann primär nicht etwas Abwesendes, sondern etwas, das als Vorlage für etwas dienen kann, das allerst werden soll. Sie sind programmatisch im eigentlichen Sinne: Vor-Schriften. [...] Aus der Mimesis von 'Welt' durch Literatur wird die Mimesis der Poiesis [...). (Landwehr 1991: 289)

Mithin wird die Vermittlung von Mimesis und Selbstbezüglichkeit, zu der der theoretische Strang in dieser Arbeit führt, von Beginn an schon als Maxime der literarischen Analyse genutzt. Das impliziert die These, daß Selbstbezüglichkeit als formales Kennzeichen von Literatur und als Konstituens der Darstellungsleistung literarischer Texte immer gegeben ist, wenngleich sich die theoretische Erkenntnis und Gewichtung dieses Sachverhalts historisch erst nach und nach entwickelt und die literarische Thematisierung der eigenen Selbstbezüglichkeit, Selbstbezüglichkeit zweiter Stufe also, erst in der Moderne ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Jean Pauls Text setzt die Theorie der "Neuen Mythologie" in eine Anordnung um, die sie für den Leser als Praxis vollziehbar und ihr Scheitern erfahrbar macht,und dies tut er in einer Vollständigkeit und mit einer analytischen Brillanz, die ihn zur Vorbereitung der Transformation des frühromantischen Projekts durch Benjamin als in hervorragender Weise geeignet erscheinen läßt. Er zeigt so die Probleme, die am theoretisch Dargestellten erst durch kritische Fragen von außen zur Geltung gebracht werden könnten, da die Theorie sich eben nicht als Darstellung reflektiert, jedenfalls nicht im Vollzug der Darstellung ihres jeweiligen Gegenstandes. 14 Die Literatur verschafft dem Leser den

14 Versucht sie dies dennoch, so muß sie notwendigerweise die Sprache, die sie zur Darstellung ihres Gegenstandes verwendet, selbstbezüglich machen, um gleichzeitig ihre eigene Darstellungsleistung zum Gegenstand machen zu können. Sie muß also die poetische Funktion der Sprache im Sinne Jakobsons (1960) dominant machen: "Die Einstellung auf die BOTSCHAFT als solche, die Ausrichtung auf die Botschaft um ihrer selbst willen, stellt die POETISCHE Funktion der Sprache dar." (92) Die damit erreichte Verschiebung der Aufmerksamkeit auf die "Spürbarkeit der Zeichen" (93) hat aber ein Mehrdeutigwerden des Gegenstandsbezugs zur Folge (111). Eine solche Poetisierung bedeutet letztlich die Aufhebung der Grenze zwischen Literatur und Theorie. Im Gegensatz zu ihren dekonstruktivistischen Verfechtern und auch im Gegensatz zu deren allzu einseitigen Kritikern wie etwa Habermas (1985: 219-247) soll hier ein differenzierteres Modell des Verhältnisses von Kunst und Ästhetik vor-

Einleitung: Theorie und Praxis

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Standpunkt außerhalb der Theorie, von dem aus wieder auf diese zurückgefragt werden kann. Als fiktionales 'Probehandeln' gibt sie experimentelle Korrektivmöglichkeiten für Aussagen, die in realer Praxis nicht oder nur schwer und mit Risiken zu überprüfen sind.15 Und bei Aussagen über und Programmen für ästhetische Gegenstände, die als erweiterte Geschmacksurteile nach Kant 'jedermann Einstimmung ansinnen' (1793:26), ist Überprüfung sowohl notwendig als auch praktisch höchst problematisch. Denn sie beziehen sich eben meist nicht auf isolierbare Teilbereiche, sondern geben mit stark universalistischer Tendenz Anleitungen zur Strukturierung von Erfahrung und ihrer Verarbeitung zu Welt- und Selbstbildern. Mit Recht begegnet man einem Vorschlag des Typs "Sieh die Dinge so und verhalte Dich entsprechend!" zwar mit Interesse, aber auch mit Vorsicht. Daher sollen die Überlegungen zur Allegorie als Verschränkung von Mimesis und Selbstbezüglichkeit im vierten und letzten Teil nochmals der Bespiegelung im Werk eines Zeitgenossen Benjamins ausgesetzt werden, Musils "Mann ohne Eigenschaften". Nicht als ein Münchhausenkunststück ist dies zu verstehen, als Versuch, in einer Studie über Selbstbezüglichkeit schließlich selbstbezüglich die Selbstbezüglichkeit des eigenen Selbstbezüglichkeitskonzepts vorzuführen. Nein, die Koketterie soll sich (fast) auf den vorangehenden Satz beschränken. Beabsichtigt ist, das theoretisch Entwickelte, analog zum Verhältnis von Teil 1 und 2, seiner praktischen Erprobung auszusetzen, und zwar in der speziellen Form von Praxis, die hier 'Literatur' genannt werden soll. Es wird eine "Lektüre"16 des Romans vorgeschlagen und beschrieben, die die Suche nach dem "anderen Zustand" im "Mann ohne Eigenschaften" mit Benjamins Projekt eines neuen Mimesisbegriffs parallelisiert und so beider Vorgehen und Ergebnisse vergleichbar macht. Der Roman kommt diesem Vorhaben in ausgezeichneter Weise entgegen, da er als Prototyp des modernen

geschlagen werden. 15 Zum Begriff der "Fiktionalität" und seinem Bezug zu Handeln und Erkenntnis s. Landwehr (1975: bes. 157-199). 16 Im Sinne von Landwehr (1991) verstanden als "Lesen als Literatur", das Literatur als spezifische Handlungsform erst verwirklicht. Es besteht in der Wahrnehmung des Gemachtseins des Textes, dem der aktive Vollzug des eingeschriebenen Handlungspotentials und die Erfahrung des eigenen Handelns in der Lektüre folgt. Das Aufzeigen der Spuren Benjaminscher Problemstellungen in Musils Roman und das Nachzeichnen einer möglichen Auseinandersetzung mit diesen Problemstellungen als Ereignis, das in der Gestalt des Romans eine Spur hinterlassen hat, ist die Verwirklichung dieses Aspekts des Textes.

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Einleitung: Theorie und Praxis

Diskursromans sich selbst schon als hochgradig theoriegetränkt präsentiert.17 Aus der Fülle der Bezugsmöglichkeiten, die er dadurch eröffnet, werden die ausgewählt, die sich auf das dargestellte theoretische Konzept Benjamins in für dessen Weiterführung sinnvoller Weise anwenden lassen. Wenn dies dabei nicht unangefochten bleibt, so gewinnt es umso mehr an Operabilität durch die Einsichten in seine möglichen praktischen Folgen. Und wenn sich dadurch die Notwendigkeit ästhetischer Verfahren für Fortschritte der ästhetischen Theorie und die Fruchtbarkeit dieser Fortschritte für erneute Lektüren literarischer Texte erweisen sollte, dann wäre durch ihre Praxis auch eine zentrale These der folgenden Darstellung - nun doch selbstbezüglich - demonstriert worden.

17 Die 'Materialhaltigkeit' des narrativen Genres 'Roman', die bei Jean Paul und Musil zudem in außerordentlich hohem Maße vorliegt, macht ihn für den hier verfolgten Zweck besonders geeignet. Außerdem wurden zwei Texte der gleichen Gattung gewählt, um die historischen Veränderungen zwischen den beiden untersuchten Stationen deutlich hervortreten zu lassen. Dafür ist ein einheitliches Gattungsschema als Hintergrund von Vorteil. Die literaturtheoretischen Aussagen dieser Arbeit sind jedoch keineswegs gattungsspezifisch.

Methodische Zwischenbemerkung: Zum Begriff der Konstruktion Der in der Einleitung verschiedentlich verwendete Begriff der Konstruktion, der in seiner ganzen Dimension in Teil 3 entfaltet werden wird, soll hier vorwegnehmend schon soweit skizziert werden, daß seine leitende Funktion für die folgende Darstellung deutlich wird. Unter 'Konstruktion' wird allgemein eine Selektion von Elementen und deren Kombination nach bestimmten Regeln verstanden. Daß es sich bei dem wissenschaftlichen Reden über Literatur um Konstruktionen handelt, ist in der Geschichte der neueren Theorie der Hermeneutik schon früh bemerkt worden.1 Der Interpret behandelt den Text als Material, aus dem er Elemente auswählt, um sie entsprechend seiner Deutung zu kombinieren. Als Selektionskriterium dient die Unterscheidung, ob ein Detail relevant oder nicht relevant bezüglich der eigenen Perspektive auf den Text ist. Alle Einschränkungen, die aus Versuchen resultieren, diese Sichtweise und die in sie eingehende Subjektivität und Standortgebundenheit an den objektiven Gegebenheiten des Textes zu kontrollieren und eventuell zu korrigieren, ändern nichts am grundsätzlich konstruktiven und transformativen Charakter des Verfahrens. Doch das Material, mit dem der solcherart Konstruierende arbeitet, ist selbst schon eine Konstruktion, eine spezifische Kombination von vorgegebenen formalen und inhaltlichen Elementen wie Gattungsschemata, poetischen Figuren, Motiven etc. Eine Konstruktion, die sich aus vorangegangenen Konstruktionen aufbaut, wird somit zum Gegenstand einer erneuten Konstruktion. Hiermit ist nur ein Zusammenhang formuliert, der jedem Lesen zugrunde hegt, im besonderen aber dem Lesen eines Textes als Literatur. Lesen ist immer 'Lesen als ...', Zuordnen zu einem vorgängigen Schema. Dies ist zwar zunächst nur ein spezieller Fall einer allgemeinen, psychologisch eingehend erforschten Gesetzmäßigkeit. Es kommt jedoch entscheidend hinzu, daß die Schemata, die beim Lesen Verwendung finden, hochgradig kulturell aufgeladen und historisch wandelbar sind. Sie

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Vgl. Japp (1977: 13-22).

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Methodische Zwischenbemerkung: Zum Begriff der Konstruktion

verweisen sowohl auf den komplexen Kontext, in dem sie stehen, als auch auf die Geschichte, aus der sie hervorgegangen sind. Eine Verortung des Textes in bezug auf beides ist denn auch das mit diesen Schemata operierende Lesen. Es nimmt also bestimmte wahrnehmbare Merkmale des Textes als Anzeichen dafür, daß man ihn als Stellungnahme im Rahmen einer sozialen Situation lesen kann. Besteht diese Stellungnahme in einer reinen Bestätigung erwartbarer Muster, wie es in der Regel bei Gebrauchstexten der Fall ist, dann ist der letzte Satz trivial. Ein Telefonbuch gibt mir selbstverständlich vor allen anderen die Information, daß es ein Telefonbuch ist und entsprechend benutzt werden kann. Die Erfüllung des Schemas wird als solche gar nicht bemerkt. Anders ist es beim Lesen als Literatur. Es reagiert auf bestimmte Verauffälligungen des Gemachtseins von Texten mit dem Schluß, daß diese auf bewußte Selektion aus einem Reservoir von Schemata und Kombination des Ausgewählten nach spezifischen Regeln zurückzuführen sind. Die Gestaltung des Textes wird also nicht nur zum Aufrufen bestimmter Schemata genutzt, mit denen sich ihm seine Bedeutung oder sein Gebrauch zuweisen läßt, sondern selbst als bedeutungstragend aufgefaßt. Diese Doppelung der Bedeutungsebenen ist es, die meist als Selbstbezüglichkeit von Texten beschrieben wird. Genauer müßte man Autoreferentialität also als Ergebnis einer Tätigkeit von Lesern bestimmen. Letztere wird von einer Eigenschaft von Texten angeregt, die als Rekursivität auf logischer Ebene in Paradoxien führen kann, wie sich leicht an Beispielen wie "Ich lüge." oder "Diser Satz enthelt drei Fehler, [sie!]" zeigen läßt. Beim Lesen als Literatur kann sie jedoch die Erkenntnis sowohl von der Konstruiertheit des Textes, die sich schon auf frühere Konstruktionen stützt, als auch von der Konstruktivität des eigenen Vorgehens fördern; und dies umso mehr, je mehr Bewußtsein die hierbei zu leistende Arbeit erfordert und je intensivere Erfahrung sie dabei ermöglicht. Im folgenden sollen theoretische Funktionsbestimmungen von Literatur insbesondere in ihrem Konstruktionscharakter untersucht werden. Die Frühromantik nimmt frühere Literatur und andere kulturelle Formen, die sie als Vorläufer von Literatur deutet, zur Grundlage für Modelle der Funktion von Literatur, die jedoch in ihrer Gegenwart nicht mehr genügen. Diese Modelle nutzt sie als Material für eine Neukonstruktion, die zugleich die Lösung von theoretischen Problemen liefern soll, welche aus einem vergleichbaren Dysfunktionalwerden vorangegangener theoretischer Systeme oder Systemteile resultieren. Jean Paul greift nun dieses neue Literaturmodell auf und kombiniert es mit gegenläufigen

Methodische Zwischenbemerkung: Zum Begriff der Konstruktion

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Mustern, so daß dessen interne Unstimmigkeiten und Brüche offensichtlich werden. Die Elemente dieses Literaturmodells in ihrer vielfach demonstrierten Widersprüchlichkeit verwendet Benjamin zu einer Konstruktion, die gerade die Darstellung solcher Widersprüche als Funktion der Kunst begreift. Darüberhinaus soll Benjamins Konstruktion in ihrem eigenen Verfahren dieser Struktur ihres Objekts, so wie sie es sich konstruiert, Rechnung tragen. Alles bisher Gesagte gehört jedoch zur Ebene der Gegenstände der vorliegenden Arbeit. Ihre eigene Konstruktion beruht auf der skizzierten Auswahl der Elemente aus ihrer Vorgeschichte und deren antithetischer Kombination. Folgerichtig muß das theoretische Modell, das in Weiterführung Benjamins entwickelt wird, mit seiner literarischen Erprobung und Problematisierung kontrastiert werden. Nur so kann die Darstellung das Kombinationsprinzip, zu dem sie hinführt, auch in ihrem Verfahren einlösen. Die inhaltliche Aussage, die am Ende der Arbeit steht, muß deren Gestaltung schon von Anfang an bestimmen. Diese Wechselwirkung zwischen den Gegenständen der Arbeit und dem aus ihnen entwickelten inhaltlichen Ergebnis einerseits und der Methode des Umgangs mit diesen Gegenständen andererseits beruht eben auf der grundlegenden Eigenschaft sowohl von Literatur als auch des ästhetischen oder literaturwissenschaftlichen Diskurses über Literatur, Konstruktion zu sein; eine Konstruktion, die immer durch vorangegangene Konstruktionen motiviert, aber nicht durch diese determiniert sind, und die keine Möglichkeit der Orientierung an einer konstruktionsunabhängigen Wirklichkeit haben. Damit soll über die Existenz einer solchen Wirklichkeit nichts ausgesagt werden. Aber Literatur ist erstens ein soziales Phänomen, das nicht ausschließlich durch außerhistorische Gegebenheiten bestimmt werden kann. Und zweitens könnte sie auch von der jeweiligen gesellschaftlichen Situation her nur dann vollständig erfaßt werden, wenn es gelänge, ihr eine inhaltlich bestimmte soziale Funktion zuzuschreiben. Es soll gezeigt werden, daß dies nicht möglich ist. Wie die Erfahrung dieser Unmöglichkeit, wesentlich vermittelt durch die Literatur selbst, die Geschichte der theoretischen Versuche einer Funktionsbestimmung geprägt hat, ist Gegenstand der folgenden Darstellung. Ihr Verfahren ist die Konfrontation von Funktionsbestimmungen, die in ihrem jeweiligen historischen Rahmen das Bewußtsein von der genannten doppelten Konstruktivität des eigenen Vorgehens und seines Objekts entscheidend vorangetrieben haben, mit literarischen Destruktionen dieser theoretischen Konstruktionen. Die Destruktion erfolgt durch praktisch-

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Methodische Zwischenbemerkung: Zum Begriff der Konstruktion

poetischen Vollzug der Konstruktion, welcher deren Inkohärenz offenbart und zu neuen Konstruktionen einlädt. Somit ist das Anliegen dieser Arbeit in letzter Instanz die Darstellung eines Problems in einer Weise, die die spezifische Leistung der Literatur sich zunutze macht, ohne sie ersetzen oder theoretisch überbieten zu wollen. Andererseits soll damit gerade gezeigt werden, daß literaturwissenschaftliches Reden über Literatur als von dieser klar getrenntes berechtigt und sinnvoll ist, wenn es seine Interdependenz mit seinem Gegenstand reflektiert und diese Reflexion seinem eigenen Verfahren zugrundelegt.

1. Dichtung als "Neue Mythologie": Literaturtheorie Ende des 18. Jahrhunderts Trotzdem ist es, so lange diese Entwicklung das neue philosophische Weltenei noch nicht hervorgebracht hat, auch heute noch nützlich, ihr gelegentlich von den Schalen des alten zu fressen zu geben, wie man es Hennen tut, die legen werden. (Musil GW I: 1143)

1.1. Einführung: Hauptthesen des Programms Das Programm der "Neuen Mythologie", wie es im sogenannten "Ältesten Systemprogramm"1 von 1796/97 skizzenhaft umrissen ist, geht von der Überzeugung aus, daß die Kantsche Philosophie, gerade aufgrund ihrer unbestreitbaren Verdienste von epochaler Wirkung, eine Begründungsproblematik im Bereich der praktischen Philosophie hinterlassen hat. Daher präsentiert es sich als Forderung nach einer Ethik "als ein vollständiges System aller Ideen oder, was dasselbe ist, aller praktischen Postulate", deren erste "natürlich] d[ie] Vorstellung] von mir selbst, als einem absolut freien Wesen" (ÄS r3-6) ist, und bezieht sich auch auf den zunächst angesprochenen Bereich der Natur nicht unter einem erkenntnistheoretischen, sondern unter einem ethisch-praktischen Aspekt: "die Frage ist diese: Wie muß eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen seyn?" (ÄS r9f.) Es geht nicht um die Angemessenheit der Welt für die Erkenntnisfähigkeit des Menschen, sondern für seine Freiheit und Selbstbewußtheit. Im Bereich des "Menschenwerks" wird nach der Verwerfung des Staates aufgrund seines Mechanismus die Ankündigung der "Principien für eine Geschichte der Menschheit" (ÄS r23f.) verknüpft mit der Forde-

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Der in einer Hegeischen Handschrift erhaltene Text, dessen Autor nach wie vor nicht eindeutig identifiziert ist, wird zitiert mit Sigle ÄS nach der kritischen Edition bei Jamme/Schneider (1984: 7-14) unter Angabe von Seite (verso oder recto) und Zeilenzahl des doppelseitigen Manuskripts. Den neuesten Stand der Diskussion um die Autorschaft des Textes referiert Depre (1990).

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Dichtung als "Neue Mythologie"

rung nach "absolutefr] Freiheit aller Geister, die d[ie] intellektuelle Welt in sich tragen, u[nd] weder Gott noch Unsterblichkeit ausser sich suchen dürfen." (AS r29-31) Da jedoch zuvor traditionellen Orientierungsinstanzen sozialen Handelns - "Staat, Verfaßung, Regierung, Gesezgebung" (ÄS r25) - die "Idee der Menschheit" (ÄS rl6) entgegengesetzt worden war, und als Quelle für "d[ie] Ideen von einer moralfischen] Welt, Gottheit, Unsterblichkeit" (ÄS r26f.) nunmehr auch nur der Mensch in Frage kommt, ist hiermit sowohl auf politisch-sozialem als auch moralisch-religiösem Gebiet die Legitimationsfrage an ihn zurückverwiesen worden. Neben einer neuen Naturphilosophie und einer Menschheitsgeschichte gibt es einen dritten Bereich, der zur Problemlösung nicht nur beitragen, sondern die Strategien und Ergebnisse der anderen beiden Bereiche integrieren könnte, so wie die ihn bestimmende Idee, "die Idee der Schönheit", diejenige ist, "die alle vereinigt". Da "der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfast, ein ästhetischer Akt ist", ist die "Philosophie des Geistes", die nach Schelling als systematischer "Schlußstein" (SW 1/3: 349)2 die theoretische Philosophie (Philosophie der Natur) und die praktische Philosophie als Einheit erweisen soll, "eine ästhetische Philosophie]" (ÄS v2). Die Integrationsfunktion der ästhetischen Philosophie oder Philosophie der Kunst wird Schelling im "System des transzendentalen Idealismus" von 1800 genauer bestimmen. "Daß nicht nur unabhängig von uns eine Welt von Dingen außer uns existire, sondern auch daß unsere Vorstellungen so mit ihnen übereinstimmen, daß an den Dingen nichts anderes ist, als was wir an ihnen vorstellen" (SW 1/3: 346), ist die von der theoretischen Philosophie zu erweisende These; die praktische Philosophie hat zu begründen, "daß Vorstellungen, die ohne Notwendigkeit, durch Freiheit, in uns entstehen, aus der Welt des Gedankens in die wirkliche Welt übergehen und objektive Realität erlangen können." (ebd.: 347) Die Thesen widersprechen sich zunächst, weil sie einmal die bestimmende Kraft ins Objekt (die den Menschen affizierende Welt der Dinge), einmal ins Subjekt (den handelnd auf die Welt einwirkenden Menschen) setzen. Dieser Widerspruch muß aufgelöst werden, wenn es überhaupt eine Philosophie gibt und die Auflösung dieses Problems, oder die Beantwortung der Frage: wie können die Vorstellungen zugleich als sich richtend nach den Gegenständen [Grundsatz der theoretischen Philosophie], und die Gegenstände als sich richtend nach den Vorstellungen

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Schelling wird nach den "Sämmtlichen Werken" (1856ff.) mit Sigle SW, Abteilung, Bandund Seitenzahl zitiert.

Einführung: Hauptthesen des Programms

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[Grundsatz der praktischen Philosophie] gedacht werden? ist nicht die erste, aber die höchste Aufgabe der Transzendental-Philosophie. (ebd.: 348)

Die Auflösung des Widerspruchs führt über den Nachweis der "vorherbestimmte [n] Harmonie" der den beiden Bereichen der Philosophie zugeordneten Welten, "der ideellen und der reellen". Diese Harmonie manifestiert sich darin, "daß dieselbe Thätigkeit, welche im freien Handeln mit Bewußtsein produktiv ist, im Produzieren der Welt ohne Bewußtsein produktiv" ist (ebd.). Damit postuliert Schelling, was nach Kant zwar "das Mindeste [ist], was man der spekulativen Philosophie ansinnen kann", aber dennoch "weit mehr [ist], als sie je zu leisten vermag", nämlich "den sittlichen Zweck mit den Naturzwecken vermittelst der Idee eines einzigen Zwecks zu verbinden" (Kant 1793: 431). "Die Philosophie der Naturzwecke, oder die Teleologie" ist für Schelling denn auch "jener Vereinigungspunkt der theoretischen und praktischen Philosophie", in der "das Princip jener Tätigkeit" (der produktiven Tätigkeit im Handeln und in der Welt) allerdings zunächst nur in der Natur, nicht im Subjekt nachgewiesen werden kann. Sie muß deshalb durch die Philosophie der Kunst überboten werden, da allein die ästhetische Tätigkeit "jene zugleich bewußte und bewußtlose Thätigkeit" ist, von der gefordert wird, daß sie "im Subjektiven, im Bewußtsein selbst, [...] aufgezeigt werde." (SW 1/3: 349) Der Eingrenzung des Ästhetischen auf den Bereich der Kunst bei Schelling (wie später bei Hegel) gegenüber dem Primat des Naturschönen über das Kunstschöne bei Kant liegt eine Entwicklung zugrunde, die unter anderem sicher darauf zurückzuführen ist, daß Schelling im Gegensatz zu Kant in der Naturphilosophie die Teleologie vom regulativen zum konstitutiven Prinzip erhebt. Damit wird das Prinzip der Zweckmäßigkeit, das bei Kant nur eine formale Analogie unserer Erfahrung der Natur und der des Ästhetischen ausmachte, zur Basis eines Brückenschlags zwischen Ästhetik und Naturphilosophie, der es unnötig macht, Natur noch eigens als ästhetisches Objekt einzuführen. Diese systematische Verschiebung könnte man als paradigmatisch für die Veränderungen ansehen, die sich kurz vor 1800 in den literaturtheoretischen Spekulationen im Umkreis Schellings und der Frühromantik vollziehen. Die Ästhetik, die im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts zu einem Sammelbecken unbewältigter philosophischer Probleme geworden war, und damit die Literaturtheorie, die in der Folge der deutschen Fortsetzung der "Querelle des Anciens et des Modernes" unter den Einfluß einer schon mit organizistischen Vorstellungen operierenden Geschichtsphilosophie gekommen war, werden durch die Ausbildung einer

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neuen Naturphilosophie nicht von dieser vereinnahmt, sondern im Gegenteil im Zuge der Emanzipation ihres Gegenstandes von der direkten Abhängigkeit von Natur an die Spitze der philosophischen Hierarchie katapultiert und die Kunst wird zum Zentrum gesellschaftlicher Problemlösungsstrategien erhoben. Im folgenden sollen nun einige Entwicklungslinien aufgezeigt werden, die zur Erklärung dieses erstaunlichen Phänomens herangezogen werden können. Zunächst soll dargestellt werden, wie Ästhetik bei ihrem ersten Auftreten als eigenständige philosophische Disziplin von Baumgarten als Erweiterung der Erkenntnistheorie konzipiert wird, wobei sie, noch nicht scharf von jener getrennt, deren frühere Funktionen teilweise übernimmt. Dieser Aufgabenteilung verschafft Kant ein systematisches Fundament, wobei das Ästhetische allerdings auf den Bereich der Fiktionalität, in Kants Worten der nur "symbolischen" Darstellung regulativer Ideen eingeschränkt wird. Daß diese Beschränkung jedoch letztlich nicht mehr als etwas Negatives eingeschätzt werden muß, hängt mit einer schrittweisen Aufwertung der erfinderischen Tätigkeit des Menschen in der Produktion seiner handlungsorientierenden und einheitsstiftenden Leitbilder zusammen. Lessings Nachweis der Notwendigkeit einer hermeneutischen Erforschung der Genese der Menschheit und damit einer dialogischen Auseinandersetzung der gegenwärtigen Entwicklungsstufe mit vorangehenden liefert die Voraussetzung dafür, daß auch als überholt geltenden mythologischen Weltdeutungen ein Eigenwert im Entwicklungsprozeß zugestanden werden kann. Zudem gewinnen sie einen aktuellen Wert, da dieser Prozeß dem Modell eines Lesevorgangs folgt, in dem Leser und Text einerseits immer dieselben bleiben, andererseits sich in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander fortentwickeln und so verändern. Der Leser entdeckt in dem autoritativen Text neue Bedeutungen, die ihm neue Möglichkeiten der Orientierung bieten, die ihn sich verändern lassen und ihn so fähig machen, als ein Anderer in dem alten Text nun wiederum Neues zu lesen usf. Den Gedanken der Geschichtlichkeit des Menschen spitzt Herder noch zu, indem er Sprache als Kompensation mangelnder Instinktgebundenheit auffaßt und die mit ihr verbundene Dialogizität und Reflexivität zu den treibenden Momenten einer kontinuierlichen Entwicklung macht. Deren integrativer Verlauf, in dem die jeweils vorangehende Stufe in die folgende aufgenommen, jedoch zugleich transformiert wird, läßt sich auf der Basis einer neuen Naturphilosophie als Manifestation einer spezifisch organischen Funktion deuten, die als verbindendes Prinzip von Natur- und Menschheitsgeschichte fungiert. Darüberhinaus liefert sie ein Modell für

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die poetische Produktion, die als Darstellung dieser Geschichte verstanden wird. Gegenstand - nämlich Geschichte - und Methode - nämlich organische Integration - fallen also bei dieser Form von Darstellung zusammen. Mit Odo Marquards Überlegungen zum Verhältnis von Ästhetik, Naturphilosophie, Mythologierezeption und Therapeutik 3 stimmt die folgende Untersuchung darin überein, daß sie Ästhetik als eine Form von "Philosophie als Ausweg" (Marquard 1962: 234) aus einer Problemsituation ansieht, nicht jedoch hinsichtlich Marquards im Anschluß an Joachim Ritter formulierte "Kompensationsthese". 4 Daraus, daß Ästhetik keine Lösungen für bestimmte philosophische Begründungsprobleme liefern kann, folgt noch nicht, daß sie hinfort nur über das Ausbleiben dieser Lösungen hinwegzutrösten hätte. Marquard übersieht, daß der Prozeß, der zur Nichterreichung des ursprünglichen Ziels führt, auch die die Zielsetzung bedingende Ausgangslage verändert hat. Die Erkenntnis, daß Lösungen für Letztbegründungen nur mehr als fiktionale möglich sind, läßt die Frage aufkommen, ob sie denn je tatsächlich anders möglich waren. Das Interesse am Mythos um 1800 ist entscheidend durch die Auffassung bedingt, daß er einerseits durch das Merkmal des Poietischen als mit Fiktionen, mit Modellen operierendes konstruktives Erkennen mit den wissenschaftlichen und literarischen Bemühungen der Moderne verbunden, andererseits durch die neugewonnene Einsicht in diesen poietisch-fiktionalen Charakter solcher Konstruktionen aber auch von ihr getrennt ist. Das wäre auch Manfred Frank entgegenzuhalten, der versucht, den Mythos auch in seiner frühromantischen Aktualisierung in der "Neuen Mythologie" als, in der Formulierung von Clyde Kluckhohn, "something to hold to", als Artikulation "basale[r] Wertüberzeugungen" (Frank 1982: 111) zu fassen und seine erneute Aktualisierung in dieser Funktion zumindest nahelegt. 5 Im Gegensatz dazu möchte ich aufzeigen, daß die Rehabilitation der Mythologie Ende des achtzehnten Jahrhunderts gerade eine Revision der mit solchen nicht zu hinterfragenden Wertsetzungen immer verbundenen Ausschließungen bedeutet. Jochen Hörisch (1982) hat das an Hölderlins Gestaltung des Abendmahlmotivs exemplarisch vorgeführt. Der von ihm

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S. v. a. Marquards bereits 1963 abgeschlossene, aber erst 1987 veröffentlichte Habilitationsschrift, außerdem Marquard (1962), Marquard (1963) und Marquard (1971). "Zur Entstehung und Funktion der Kompensationsthese" u. zu ihrer Kritik s. Groh/Groh (1990). S. Frank (1982), Frank (1983a) u. Frank (1988).

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konstatierten Befreiung von der Einschüchterung durch bestimmte Zeichenordnungen (77) müssen jedoch deren noch gültige oder neue Einschränkungen zur Seite gestellt werden.6 Auch Jochen Fried (1987) versteht das Programm der "Neuen Mythologie" als Versuch, Ausgegrenztes wieder zur Geltung zu bringen und dieses in nun transformierter Form zur Kritik zeitgenössischer Entwicklungen zu verwenden. Die kritische Absicht schlägt seiner Meinung nach jedoch in neue Verfestigungen um.7 Das läßt die Frage aufkommen, ob hier nicht (ähnlich wie im Bildungsroman) gepaart mit der neuformierenden Erinnerung eine Form von strategischer Vergeßlichkeit am Werk sein könnte, sei es in direkt verklärender Absicht oder als ein indirekter Effekt des totalisierenden Verfahrens" (Fried 1987: 181).

Hinweisen auf solche Vergeßlichkeit soll auch im nun Folgenden schon nachgegangen werden. Eine ausführliche Kritik der - bewußten oder unbewußten - Strategien des "totalisierenden Verfahrens" bleibt jedoch der Darstellung ihrer literarischen Problematisierung bei Jean Paul in Teil 2 vorbehalten. Daß eine solche Kritik in den fortgeschrittensten frühromantischen Spekulationen bereits impliziert ist, hat überzeugend Menninghaus (1987) in seiner Untersuchung zum Reflexionsbegriff dargestellt. Zunächst am Leitfaden der "Kunstkritik"-Schrift Benjamins, dann auch kritisch diese weiterführend arbeitet er die Nähe der frühromantischen Überlegungen zu denen Benjamins selbst und denen Derridas heraus, ohne historische Begrenzungen zu vernachlässigen, aber auch ohne Entstehung, Zielsetzung und Voraussetzungen des frühromantischen Projekts einzubeziehen.8 Er geht insofern methodisch über die in

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Hörisch selbst nimmt historisch sinnvolle Relativierungen dieser Befreiungstendenz vor und gelangt so zu einer Stufenfolge Barock - achtzehntes Jahrhundert. 7 "Nun ließe sich unschwer die Auffassung vertreten, das wirklich einende Anliegen der Frühromantiker habe just darin bestanden, die Beschränkungen von individueller Erfahrung und blosser Bewußtseinsphilosophie zu überwinden, um die geschichtlichen Einschreibungen in jene purifizierte Geistsubstanz entzifferbar zu machen, die seit Kant allgemein auf den Namen 'Subjekt' hört. Diese Analyse und die Entdeckungen, die auf genealogischem Gebiet dabei gemacht wurden, sprengten die Fesseln des subjektiven Idealismus, befreiten vom erkenntnistheoretischen Akosmismus, in den das absolute Ich bei Fichte verfallen war, machten ein Ende mit der subjektzentrischen Zensur der vorstellbaren Welt - alles freilich, um gleich wieder in die Konstruktion einer 'umschliessenden Sfäre' (Novalis [1960ff.:] II, 107) einzumünden." (Fried 1987: 179) 8

Die Beziehung zur Naturphilosophie etwa wird nur einmal kurz angedeutet (199), die zur Geschichtsphilosophie wird programmatisch vernachlässigt, da die "Ambivalenz der romantischen Geschichtsphilosophie" (217) als Indiz auf ihre versteckte Selbstaufhebung verstanden wird: "'Dekonstruierende' Lektüren könnten in großem Zusammenhang

Historische Hintergründe der "Neuen Mythologie"

Benjamins Verhältnis nochmals Antworten

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Dissertation geleistete Aktualisierung nicht hinaus. Das von Modernität und historischer Gebundenheit wird nicht auf das von Fragehorizont und möglicher Struktur der zurückbezogen.

1.2. Historische Hintergründe der "Neuen Mythologie" 1.2.1. Die Stellung der Ästhetik in der philosophischen Systematik bei Baumgarten und Kant "Ästhetik" als Bezeichnung einer eigenständigen philosophischen Disziplin und zugleich als Titel eines Buchs, das den Gegenstand dieser Disziplin zu bestimmen, die ihm adäquate philosophische Behandlung zu entwickeln und die Disziplin in ein Gesamtsystem einzuordnen versucht, tritt erstmals in Alexander Gottlieb Baumgartens "Aesthetica" (1750/58) auf. Dort findet man folgende Definition. AESTHETICA (theoria liberalium artium, gnoseologia inferior, ars pulchre cogitandi, ars analogi rationis) est scientia cognitionis sensitivae. (Ä l ) 9

Ihre Aufgabe ist unter anderem, "cognitionis emendationem etiam extra distincte cognoscendorum a nobis pomeria proferre" (Ä 3). Sie wird also als Ergänzung zum rationalistischen Erkenntnisprogramm bestimmt, das sich seit Descartes auf die Erfassung dessen beschränkte, "quod valde clare & distincte percipio."10 Diese Beschränkung war mit einer wertenden ontologischen Hierarchisierung verbunden: [...] nos idées ou notions, étant des choses réelles, et qui viennent de Dieu, en tout ce en quoi elles sont claires et distinctes, ne peuvent en cela être que vraies. En sorte que, si nous en avons assez souvent qui contiennent de la fausseté, ce ne peut être que de celles qui ont quelque chose de confus et obscur, à cause qu'en cela elles participent du néant, c'est-à-dire, qu'elles ne sont en nous ainsi confuses, qu'à cause que nous ne sommes pas tout parfaits. 11

zeigen, wie die Konjunktion von Poetik und Geschichtsphilosophie sich permanent selbst unterwandert." (219) 9 Baumgartens "Aesthetica" wird mit Sigle "Ä" und Paragraphennummer nach der Teilausgabe bei Schweizer (1973) zitiert. Vgl. dort auch die ausführliche Einleitung, außerdem zur philosophiehistorischen Einordnung Franke (1972). 10 Meditationes de Prima Philosophia III, 2 (Descartes 1897ff.: VII, 35). 11 Discours de la Methode IV, 7 (Descartes 1897ff.: VI, 38).

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Die ergänzende Funktion der "Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis" muß also gerechtfertigt werden gegen den Einwand, sie könne sich nur auf Dinge richten, die nicht von Gott kommen, sondern am Nichts teilhaben, also eigentlich gar nichts Reales seien und von denen es folglich auch keine Erkenntnis geben könne: Sinnestäuschungen und Phantastereien. Die Legitimationsstrategie Baumgartens führt über einen Entlastungsangriff auf die Gültigkeit des rationalistischen Erkenntnisideals: "non commendatur confusio, sed cognitio emendatur, quatenus illi necessario admixtum est aliquid confusionis." (Ä 7) Jede Erkenntnis ist unvollkommen gegenüber der "veritas metaphysica"12, die in der Übereinstimmung der Objekte mit den allgemeinsten Prinzipien besteht.13 Diese metaphysische Wahrheit ist der transzendentale Bezugspunkt aller Erkenntnis und der von dieser nie zu erreichende Grenzwert. Die ebendieser objektiven Wahrheit gegenüberstehende subjektive Wahrheit, die Vorstellung des Wahren in den Menschen, auch logische Wahrheit im weiteren Sinne genannt, teilt sich nun wieder in die logische Wahrheit im engeren Sinne und die ästhetische Wahrheit14, "i. e. veritas, quatenus sensitive cognoscenda est." (Ä 423) Den Gesamtbereich der subjektiven Wahrheit (oder logischen Wahrheit im weiteren Sinne) nennt Baumgarten schließlich auch "veritas aestheticologica" (Ä 427). veritas metaphysica (realis, obiectiva, materialis, transcendentalis) veritas aestheticologica (subiectiva, Wahrheit im weiteren Sinne) veritas logica (im engeren Sinne) veritas aesthetica

Nachdem das Ästhetische somit auch terminologisch in den Bereich des Wahrheitsfähigen eingeführt ist, wird seine Stellung gegenüber dem Logischen weiter ausgebaut. Es wird nämlich eine Stufenfolge der erkennbaren Wahrheiten aufgebaut, in der vom Allgemeinsten zum Individuellen der Grad der Wahrheit zunimmt.15 Also läßt sich die

12 Die "veritas metaphysica" wird auch als "realis, objectiva, materialis, transcendentalis" bezeichnet; vgl. Schweizer (1973: 355, Anm. 63). 13 "Veritatem obiectorum metaphysicam novimus convenientiam eorundem cum universalibus maxime principiis" (Ä 4). 14 Vgl. Ä 424. 15 "Veritas aestheticologica generis est perceptio magnae veritatis metaphysicae, veritas aestheticologica speciei est perceptio maioris, veritas individui seu singularis aestheticologica est perceptio maximae, qua genus, veritatis metaphysicae. Prima veri, secunda verioris, tertia verissimi." (Ä 441) Die Steigerung von "verum" zeigt deutlich, wie weit

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ästhetische Wahrheit, die zuständig für Fülle und Reichtum 16 der sinnlich erscheinenden Welt ist, als Garantin der höchsten überhaupt denkbaren Wahrheit legitimieren. Auf der anderen Seite wird die Verwandtschaft des Ästhetischen mit dem (traditionell) Wissenschaftlichen behauptet mit der Wendung von der "ars analogi rationis" (A 1) und historisch begründet: "Quot olim artes tantum iam sunt simul scientiae?" (Ä 10) Denn schon die Künste 17 arbeiten an der Aneignung der zunächst als zufällig begegnenden Dinge und ihrer Integration in einen systematischen Zusammenhang, der aus dem Kontingenten allererst (bestimmtes) Einzelnes macht: "Contingentia non repraesentäntur ut singularia nisi ut possibilia integri alicuius universi." (Ä 441) Daher macht auch nur die individuelle Wahrheit zusammen mit der Wahrheit des unbedingt Notwendigen 18 (den allgemeinen Strukturprinzipien des Universums) die höchste Wahrheit aus. Bezogen auf den eigenen Kosmos eines Kunstwerks, in dem die Einzeldinge Möglichkeiten einer anderen Welt mit eigenen Strukturprinzipien sind, heißt diese höchste Wahrheit dann "veritas heterocosmica" (Ä 441). Das Ziel der Ästhetik ist die Vervollkommnung der sinnlichen Erkenntnis. Diese Vollkommenheit und Vollständigkeit der sinnlichen Erscheinung in ihrer Totalität wird der Tradition entsprechend mit der Schönheit gleichgesetzt: "Aesthetices finis est perfectio cognitionis sensitivae, qua talis, haec autem est pulchritudo" (Ä 14). Interessant ist dabei die Frage des Verhältnisses der Schönheit zum subjektiven und zum objektiven Pol des Ästhetischen. Sie bleibt unentschieden. Während nach der klassischen philosophischen Tradition sich in der "theoria", in der "Schau" der Vollkommenheit des Universums dessen Schönheit offenbart, und nach der Kantischen Wende Schönheit nur noch "eine Beziehung der

Baumgarten vom modernen Begriff der Wahrheit als Aussagenwahrheit entfernt ist. Bei ihm bedeutet Wahrheit soviel wie Gehalt an Realität" im Sinne von "Seinsbestimmtheit". Deshalb ist das Individuelle als das "ens omnimode determinatum" (vgl. Schweizer 1973: 173, Fußn.) auch das "wahrste". 16 Der alte rhetorische Begriff der "ubertas" (Ä 440) wird hierbei zur Kategorie der ästhetischen Erfassung dessen ausgebaut, was die Verschiedenheit in der Welt der individuellen Erscheinungen ausmacht und bei Kant späterdas "Mannigfaltige" oder die "Materie der Erscheinung" genannt wird. 17 In denen man in diesem Zusammenhang die moderne Wortbedeutung und den antiken Sinn von 'ars' = 'techne' enthalten denken kann. 18 "cum veritate absolute necessariorum" (Ä 441)

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Vorstellung des Gegenstandes auf das Subjekt" (Kant 1793: 18) bezeichnet19, wird [bei Baumgarten] die Schönheit der sinnlichen Erkenntnis in der Weise als universaler 'consensus der Gedanken, Vorstellungen und Ausdrucksmittel ausgelegt, daß sie mit dem 'phaenomenon' identisch wird. Oder: Gedanken, Vorstellungen und Ausdrucksmittel sind in der Ästhetik als Erscheinungen aktuell, und sie treten in dem universalen 'consensus' der Schönheit miteinander in Verbindung, in dem die Frage nach dem erkenntnistheoretischen und dem künstlerischen Gehalt, damit auch nach dem objektiven und dem subjektiven Anteil, noch irrelevant ist. (Schweizer 1973: 39)

Diese epochale Verschiebung vom Objektiven zum Subjektiven, in der Baumgarten eine mittlere Position markiert, hängt direkt mit der Transformation des Vollkommenheitsbegriffs zusammen. Vollkommenheit bezeichnet die Eigenschaft der Einheit, der Totalität, eine Angemessenheit und Stimmigkeit aller Momente zu dem aus ihnen bestehenden Ganzen. Auf das einzelne Objekt bezogen ist Vollkommenheit somit die Ubereinstimmung des tatsächlichen Einzelnen mit einem positiv bewerteten Bild von ihm als stimmiger Ganzheit. In der klassischen griechischen Philosophie war dieses Bild das Wesen (eidos), in bezug auf die moralische Vollkommenheit des Menschen seine Tugend (arete), die sich in seinen Handlungen verwirklichen muß.21 Vollkommenheit war also vor allem ein praktischer Begriff, der das Maß der Übereinstimmung von Handeln und innerer Anlage, Vorherbestimmung, Plan des Handelns bezeichnete. In der Folge wurde jedoch die in diesem Verhältnis implizierte ontologische Beziehung zwischen Wesen oder Idee und Einzelding dominant, die den Begriff zur theoretischen Grundlage einer Seinspyramide mit dem "ens realissimum et perfectissimum" an der Spitze machte.22 "[D]er Begriff 'Vollkommenheit' [wurde] trotz seines bedeutungsmäßigen Ursprungs in Kategorien der Handlung schließlich als theoriebildender Begriff in primär theoretischer Supposition konstruiert

19 "Das Formale in der Vorstellung eines Dinges, d. i. die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen zu Einem (unbestimmt, was es sein solle) gibt für sich ganz und gar keine objektive Zweckmässigkeit zu erkennen; weil, da von diesem Einen als Zweck (was das Ding sein solle) abstrahiert wird, nichts als die subjektive Zweckmäßigkeit der Vorstellungen im Gemüte des Anschauenden übrigbleibt, welche wohl eine gewisse Zweckmäßigkeit des Vorstellungszustandes im Subjekt, und in diesem eine Behaglichkeit desselben, eine gegebene Form in die Einbildungskraft aufzufassen, aber keine Vollkommenheit irgendeines Objekts, das hier durch keinen Begriff eines Zwecks gedacht wird, angibt." (Kant 1793: 45f.) 20 Zu den verschiedenen Arten des 'consensus' vgl. Ä 18-20. 21 Vgl. Zimmermann (1974: 1643). 22 Vgl. Zimmermann (1974: 1645f.).

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[...], wobei sich die formalen Momente des Begriffes verselbständigten." (Zimmermann 1974: 1644) Bei Baumgarten ist der Moment erreicht, in dem der Begriff nach der weitgehenden Lösung von Praxis und ontologischen Vorgaben sich an den Begriff der Kohärenz oder inneren Ökonomie einer Struktur annähert. Die "perfectio cognitionis sensitivae" bedeutet, bei gegebenen Elementen und gegebenen Kombinationsmöglichkeiten die einfachste einheitliche und integrante Strukturierung zu finden. Während der solcherart formalisierte Vollkommenheitsbegriff jedoch bei Baumgarten immer noch an den Erkenntnisbereich gebunden bleibt, geht Kant einen Schritt weiter. "Vollkommenheit" selbst wird von ihm zwar als "objektive innere Zweckmäßigkeit" (1793: 44) bestimmt, die nicht rein formal, ohne tatsächlichen Zweck vorgestellt werden kann (46). Damit ist sie aus dem durch Interesselosigkeit gekennzeichneten ästhetischen Bereich ausgeschlossen, andererseits aber ist sie auch in der Erkenntnistheorie kein konstitutives, sondern nur ein regulatives Prinzip (294). Als "bloß formale Zweckmäßigkeit, d. i. eine Zweckmäßigkeit ohne Zweck23" (44), die zum Grund des reinen Geschmacksurteils und zur Bestimmung der Schönheit wird (61), spielt der formale Aspekt des alten Vollkommenheitsbegriffs aber eine ganz entscheidende Rolle in der Ästhetik. In völliger Abstraktion von allem Bezug des Ästhetischen auf eine Objektivität bzw. deren Regularitäten, als zweckvolle Organisation in anschaulicher Gestalt, die gleichwohl die Reflexion nicht durch die Bindung an einen bestimmten Zweck restringiert, als reine Angemessenheit eines Gegenstandes für die Auffassung eines Subjekts, die zu einem freien Spiel der Erkenntnis- und Vorstellungsvermögen führt, ist diese formale innere Zweckmäßigkeit dennoch, wenngleich nur analogisch, mit der materialen der Naturzwecke und damit mit den regulativen Prinzipien der Erkenntnistheorie verbunden.

23 Auf die Aporien, die sich aus dem Begriff einer "Zweckmäßigkeit ohne Zweck" ergeben, hat Kulenkampff (1978) hingewiesen. Die Gründe dafür, daß Kant einen solchen aporetischen Begriff verwendet, sollten durch die folgende Darstellung deutlich werden. Sie liegen, kurz und abstrakt gesprochen, darin, daß ein Begriff (der Vollkommenheitsbegriff) aus seinem angestammten alten in einen neuen Kontext überführt werden soll, weil man auf einige seiner Funktionen nicht verzichten will oder kann und auch noch kein Ersatz verfügbar ist. Bei dieser Uberführung muß er aus systematischen Gründen in zwei seiner Komponenten aufgespalten werden, deren Zusammenhang jedoch durch terminologischen Rückgriff auf die Definitionsbestandteile des ursprünglichen Begriffs gewahrt werden soll. Dadurch ergeben sich sowohl definitionsinterne Inkohärenzen als auch Kompatibilitätsprobleme mit dem neuen Kontext.

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Hier wird deutlich, daß in der Ästhetik bei Baumgarten, der sie noch an die Erkenntnistheorie anzubinden sucht, wie auch bei Kant, der sie von dieser endgültig trennt, abgedrängte Themen der klassischen Metaphysik wiederauftauchen. Harmonie, Einheit in der Mannigfaltigkeit, innere Stimmigkeit24 sollen als Kategorien bei Baumgarten noch durch Integration der bei der Abstraktion25 entfallenden Weltanteile26 der Erkenntnistheorie erhalten bleiben, bei Kant müssen sie in den Bereich der regulativen (und eben nicht mehr konstitutiven) Prinzipien und der symbolischen Darstellung verbannt werden. Dafür schafft Kant die Voraussetzungen für die Verbindung von Ästhetik und Naturphilosophie, die in Abschnitt 1.2.4 untersucht wird. Bei Baumgarten deutet sich neben der inner-erkenntnistheoretischen eine zweite Möglichkeit der Integration der Ästhetik in die Philosophie an, die geschichtsphilosophische. [...] natura non facit saltum ex obscuritate in distinctionem. Ex nocte per auroram meridies (Ä 7).

Die hier noch mit dem ontologischen Kontinuitätsargument begründete Folge von Bewußtseinsstufen steht bekanntermaßen in der Tradition von Leibniz, sowohl was den Gedanken der Kontinuität27 anbetrifft, als auch in bezug auf die Vorstellung eines Strebens nach fortschreitender und sich in aufeinander aufbauenden Stufen vollziehender Annäherung an die Wahrheit,28 die zu einer Aufwertung von Alltagsverstand, Gewohnheit und Gedächtnis führt.29 Dazu gehört das Argument, die Beschränktheit

24 "[...] 7) quo hoc [obiectum] plura, 8) quo maiora ac graviore, 9) quo fortioribus regulis, 10) quo convenientiora complectitur, hoc maior est veritas aestheticologica" (Ä 556), wobei die Punkte 7-10 "Perfectionem veritati logicae latius sumptae [=veritati aestheticologicae] [...] materialem [ = aestheticam] conciliant." (Ä 558) 25 Die im Prozeß der logischen (theoretischen) Erkenntnis notwendig ist. 26 "Quid enim est abstractio, si iactura non est?" (Ä 560) Vgl. im Anschluß daran das berühmte Bild vom "Marmorblock". 27 "Je prends aussi pour accordé que tout être créé est sujet au changement, [...] et même que ce changement est continuel" (Monadologie # 10); "Car tout changement naturel se faisant par degrés, quelque chose change et quelque chose reste" ( # 13). 28 "L'Action du principe interne qui fait le changement ou le passage d'une perception à une autre, peut être appellé Appetition: il est vrai que l'appétit ne sçauroit toujours parvenir entièrement à toute la perception, où il tend, mais il en obtient toûjours quelque chose, et parvient à des perceptions nouvelles." (Monadologie # 15) 29 "Les hommes agissent comme les bêtes, en tant que les consecutions de leurs perceptions ne se font que par le principe de la memoire, ressemblant au Medecins Empiriques, qui ont une simple pratique sans theorie; et nous ne sommes qu'Empiriques dans les trois quarts de nos Actions. Par exemple, quand on s'attend qu'il y aura jour demain, on agit en Empirique, parce que cela s'est toûjours fait ainsi, jusqu'ici. Il

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unserer Erkenntnis sei nicht nur als Mangel zu interpretieren, sondern auch als Zeichen göttlicher Fürsorge:30 Das göttliche Licht, das die Grundlage unserer Erkenntnis ist, darf die Menschen gleichwohl nur in abgeschwächter Form erreichen, um sie nicht zu blenden. 31 Die Projektion des Kontinuitätsprinzips von der ontologischen auf die zeitliche Ebene ist bei Baumgarten noch nicht vollzogen, aber in seinen Konzeptionen tendenziell schon angelegt. Die Annäherung an die als nicht erreichbarer Grenzwert fungierende metaphysische Wahrheit kann als fortschreitende Integration von logischer und ästhetischer Wahrheit vorgestellt werden. Wenngleich die logische Wahrheit auf einem genetisch höherentwickelten Vermögen als die ästhetische beruht, ist sie vor Irrtümern und Fehlentwicklungen nicht gefeit und bedarf der Rückbindung an und Korrektur durch letztere. Diese Kritikmöglichkeit ist aber nur vor dem Hintergrund der Ablösung des statischen durch einen dynamischen Kosmosbegriff verständlich. Auch die Vorstellung der "möglichen Welten" war von Leibniz nur zur Rechtfertigung der bestehenden Welt als der bestmöglichen verwendet worden und bot keine Möglichkeit, der poetischen Phantasie erkenntnistheoretische Funktionen zuzuweisen und sie dadurch zu legitimieren.32 Erst mit der Erschütterung des Begriffs der objektiven Erkenntnis, welchen in ähnlicher strategischer Absicht, aber mit dezidiert geschichtsphilosophischer Zielrichtung schon vor Baumgarten Vico und etwa gleichzeitig am folgenreichsten und wirkungsvollsten Hume vollzieht, wird es möglich, "heterokosmische Wahrheiten" als sinnvolles Korrektiv (nicht der Welt, sondern eben eines Bildes von der Welt) zu sehen.

n'y a que l'Astronome qui le juge par raison." (Monadologie # 28) Auch Peirce hat sich später auf diesen besonderen "Medizinischen Empirismus" bezogen; vgl. dazu Sebeok/Umiker-Sebeok (1982: 63-91). 30 Auch dieses Argument ist traditionell vorgeprägt und findet sich z. B. bei John Locke: An Essay Concerning Human Understanding II, 23. 31 Vgl. A 635, wo 'avant la lettre' und zugleich im buchstäblichen Sinne eine 'Dialektik der Aufklärung' formuliert wird: Dunkelheit ist nicht nur der Mangel an Licht, der durch das Licht erhellt wird, sondern auch das Ergebnis des Übermasses an Licht, das blendet. Dementsprechend wird in Ä 657 vom Künstler auch eine "ars obumbrandi" gefordert. Vgl. zum gesamten Bildfeld auch Blumenberg (1957a). 32 Im Gegensatz zu Positionen der älteren Forschung, die etwa die Schätzung des Phantastischen bei Bodmer und Breitinger aus Leibniz' Konzeption der "Möglichen Welten" ableiten wollte. Daß das nicht möglich ist, hat Herrmann (1970: 250-257) nachgewiesen.

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1.2.2. Geschichtsphilosophie und Hermeneutik in Lessings "Erziehung des Menschengeschlechts" Schon im "Vorbericht des Herausgebers" zur "Erziehung des Menschengeschlechts" (1780)33 macht Lessing in der Beschreibung der Rahmensituation der im folgenden ergehenden "Rede" (und allein schon, indem er eine solche Rahmensituation entwirft) deutlich, welche epochale Wende hinter seiner Konzeption steht: Der Verfasser hat sich [...] auf einen Hügel gestellt, von welchem er etwas mehr, als den vorgeschriebenen Weg seines heutigen Tages zu übersehen glaubt. Aber er ruft keinen eilfertigen Wanderer, der nur das Nachtlager bald zu erreichen wünscht, von seinem Pfade. Er verlangt nicht, daß die Aussicht, die ihn entzücket, auch jedes andere Auge entzücken müsse. Und so, dächte ich, könnte man ihn ja wohl stehen und staunen lassen, wo er steht und staunt!

Der solcherart (selbst-)ironisierte "Verfasser"34 reflektiert nicht nur auf seinen eigenen Standort und die an ihn gebundene Perspektive,35 sondern läßt auch die Bedingungen der Möglichkeit dieses besonderen Blicks in den Blick treten. Nur wer sich distanzierend über die Aufgaben ("den vorgeschriebenen Weg") und direkten Ziele ("das Nachtlager bald zu erreichen") des Tages erheben kann, der kann auch aus der Tiefe der Zeiten, "aus der unermeßlichen Ferne, die ein sanftes Abendrot seinem Blicke weder ganz verhüllt noch ganz entdeckt", etwas herauslesen, das weiter reicht als bis zum nächsten Morgen, vielleicht gar bis zur "Zeit eines neuen ewigen Evangeliums" (EdM 86), bis zur Morgendämmerung eines "dritten Zeitalters" (EdM 89). Der Selbstlegitimationsversuch des

33 Entstanden wohl schon im Jahre 1777, in dem auch die ersten 53 Paragraphen vorab erschienen. Im Text mit Sigle EdM und Paragraphennummer zitiert. Zur allgemeinen historischen Einordnung vgl. Bollacher (1978). 34 Es ist bemerkenswert, daß Lessing mit der Herausgeberfiktion zwar eine Verdoppelung der sprechenden Instanzen vornimmt, aber im "Vorbericht" - etwa in den ersten beiden zitierten Absätzen - häufig nicht ganz klar ist, welcher Redeinstanz der Text zuzuschreiben ist. Die Rede in der dritten Person (die sich - auch das würde einer Konvention entsprechen - auch auf den Sprecher selbst beziehen könnte) erscheint als rein formale Distanzierung. In den rhetorischen Fragen des Schlußabschnitts fallen beide Instanzen vollends zusammen. Es könnte so scheinen, als hätte die Spaltung den einzigen Zweck, eine Identifikation zu ermöglichen. 35 Die eine mittlere Reichweite hat, etwas mehr sieht, als alltäglich in den Blick fällt, aber deutlich weniger als der allumfassende 'god's eye view'. Zur Theorie von Standortgebundenheit und Perspektive ("Sehe-Punkt") in der Frühgeschichte der modernen Hermeneutik s. Chladenius (1742), bes. die Paragraphen 309-313 und Szondi (1975).

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Hermeneuten der Weltgeschichte macht ihn unweigerlich selbst zum Objekt seiner eigenen Hermeneutik. Die Dialektik von Abend- und Morgenrot wird in Form einer Methodologie des menschheitsgeschichtlichen Irrtums entwickelt: "Gott hätte seine Hand bei allem im Spiele: nur bei unsern Irrtümern nicht?" (EdM Vorbericht) Doch Gottes Hand wird nur ins Spiel gebracht, damit sie sich weise zurückziehen kann. Gott als moderner Erzieher 36 gibt der Menschheit nämlich nur das "Elementarbuch" der Offenbarung an die Hand und überläßt sie dann zur Selbstentfaltung sich selbst.37 Die Offenbarung ist somit eine Weltdeutung "ad usum Delphini", vereinfacht, den noch beschränkten Möglichkeiten angepaßt, aber nichts wirklich Falsches enthaltend, vor allem nichts, was die spätere Entwicklung des Kindes behindern könnte.38 Der zurückhaltenden, aber genau berechneten Anleitung durch den Erzieher korrespondiert die alsbald geweckte Selbsttätigkeit des Zöglings, die, obgleich Produkt des durch das Elementarbuch initiierten und geleiteten Bildungsprozesses, dieses zu kritisieren beginnt: "Die Offenbarung hatte seine Vernunft geleitet, und nun erhellte die Vernunft auf einmal seine Offenbarung." (EdM 36) Doch auch das ist vorausbedacht. Die entwickelte Vernunft ermöglicht als hermeneutische, das Elementarbuch auf neue Weise zu lesen und sich selbst darin, verschlüsselt in Form

36 Der Erziehungsbegriff, den Lessing auf die Betrachtung der Religionsgeschichte überträgt ("Was die Erziehung bei dem einzelnen Menschen ist, ist die Offenbarung bei dem ganzen Menschengeschlechte." EdM 1), ist selbst sehr neu. Zur Reformpädagogik des 18. Jahrhunderts, die das neue Erziehungsziel der Innensteuerung und das Konzept einer Erziehung als Anleitung zur Se/tafindung und -Verwirklichung propagiert, und zu ihrem sozialgeschichtlichen Hintergrund und ihren Auswirkungen s. Roeßler (1961: 276286), Leube (1975), Rosenbaum (1978), Rosenbaum (1982: bes. 251-380) u. Fertig (1984). 37 "Erziehung gibt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte: sie gibt ihm das, was er aus sich selber haben könnte, nur geschwinder und leichter. Also gibt auch die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde: sondern sie gab und gibt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher." (EdM 4) 38 "Ein Elementarbuch für Kinder darf gar wohl dieses oder jenes wichtige Stück der Wissenschaft oder Kunst, die es vorträgt, mit Stillschweigen übergehen, von dem der Pädagog urteilte, daß es den Fähigkeiten der Kinder, für die er schrieb, noch nicht angemessen sei. Aber es darf schlechterdings nichts enthalten, was den Kindern den Weg zu den zurückbehaltnen wichtigen Stücken versperre oder verlege." (EdM 26) Das Alte Testament "war den Kenntnissen, den Fähigkeiten, den Neigungen dieses damaligen israelitischen Volks, sowie der Bestimmung des künftigen, vollkommen angemessen. Das ist genug." (EdM 23)

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von "Vorübung", "Anspielung" und "Fingerzeig" (EdM 44-46), eingekleidet und stilisiert (EdM 48f.) wiederzufinden.39 Diese hermeneutische Selbsttypologisierung der Vernunft ist nicht nur eine Strategie, die orthodoxen Einwänden gegen "dergleichen Vernünfteleien über die Geheimnisse der Religion" (EdM 76) begegnen soll, sondern führt, über eine Zwischenstufe, auf der diesen Einwänden gegenüber der Spieß umgedreht wird und sie selbst emphatisch mit dem doppelten Ausruf "Lästerung! " (EdM 84) bedacht werden, zur Selbstsakralisierung als Evangelium eines Neo-Joachimitischen "dritten Zeitalters" (EdM 89). Dazu muß der Autor der "Erziehung des Menschengeschlechts" als Verkünder dieses neuen Evangeliums zwei Aufgaben erfüllen, die er selbst am Beispiel von Christus aufgewiesen hat und die als Hauptfunktionen jeder Religion, jedes Mythos gelten können: der "zuverlässige [und] praktische Lehrer" (EdM 58-60) der eigenen Glaubenswahrheiten zu sein, das heißt, ihre allgemeine Anerkennbarkeit und ihre handlungsorientierende Funktion zu gewährleisten.40 Ersteres gelingt ihm "durch Rückführung [sowohl der geoffenbarten Religionen als auch der Vernunftreligion] auf ein sozial Unverbrüchliches ('Heiliges')" (Frank 1982: 109), nämlich auf einen für beide einheitlichen Gottesbegriff, der Gott die Züge eines modernen Erziehers zuweist. Letzteres wirft zunächst Probleme auf. Soll der Mensch die vergangenen Stufen seiner Entwicklung (die Lessing als metempsychotisch41 in jedem Einzelnen anwesend vorstellt), da sie ja überholt sein müßten, vergessen, muß er es nicht gar, um durch sie in seinem gegenwärtigen

39 "Das in die Fremde geschickte Kind [das Volk Israel in der babylonischen Gefangenschaft] sähe andere Kinder, die mehr wußten, die anständiger lebten, und fragte sich beschämt: warum weiß ich das nicht auch? warum lebe ich nicht auch so? Hätte in meines Vaters Hause man mir das nicht auch beibringen; dazu mich nicht auch anhalten sollen? Da sucht es seine Elementarbücher wieder hervor, die ihm längst zum Ekel geworden, um die Schuld auf die Elementarbücher zu schieben. Aber siehe! es erkennet, daß die Schuld nicht an den Büchern liege, daß die Schuld ledig sein eigen sei, warum es nicht längst ebendas wisse, ebenso lebe." (EdM 38) Das Gefühl der "eigenen Schuld" ist dann natürlich ein umso stärkerer Antrieb zum Nachholen des "Versäumten", und da die Kinder ihrem "besseren Selbst" sozusagen immer einen Schritt hinterher sind, setzt sich dieser Mechanismus fort. 40 Zu sozialer Verbindlichkeit und Handlungsorientierung als Eigenschaften des Mythos vgl. Gaier (1971: 295-312), Frank (1982: 80-83 u. 107-110), Bohrer (1983: 52) u. Frank (1988: 16-18). 41 Zur Seelenwanderungslehre vgl. Bollacher (1978: 324-339), zu ihren Hintergründen und ihrer weiteren literarischen und philosophischen Rezeption s. Böhn (1993).

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Leben nicht behindert zu werden? 42 Oder sollte man sich der Vorstellung eines kontinuierlichen und geradlinig verlaufenden Fortschritts vielleicht doch nicht rückhaltlos überlassen, an der die äußerlich so gar nicht stringent verlaufene Erziehung des Menschengeschlechts doch Zweifel wecken müßte? 43 Der Gegensatz wird aufgelöst in einer Dialektik von Vergessen und Erinnern, die auf diejenige von Morgen- und Abendrot zurückverweist: "Und was ich auf itzt vergessen muß, habe ich denn das auf ewig vergessen?" (EdM 99) Für den Prozeß der Erziehung des Menschengeschlechts ist es unabdingbar, daß auf jeder Stufe die vorhergehende vergessen wird, damit die Einheitlichkeit der Weltsicht und damit der Kultur44 gewahrt und das Vertrauen in die handlungsorientierende Funktion der jeweiligen Grundüberzeugungen erhalten bleibt. Damit diese konservative Tendenz sich nicht verselbständigt und zum Abschluß des Prozesses führt, ist jedoch eine Neuorientierung nötig, die immer in einem erinnernden und im Erinnern zugleich transformierenden Rückbezug auf Vergangenes besteht, wie ihn Lessing selbst vorführt. Diese Erinnerung ist keine platonische Anamnesis mehr, denn sie restauriert nicht einfach, was "ein sanftes Abendrot [ihrem] Blicke weder ganz verhüllt noch ganz entdeckt" (EdM Vorbericht), sondern interpretiert es aus einer Sicht, die durch die in der Zeit seiner Vergessenheit verlaufene Geschichte ermöglicht wurde, muß es interpretieren, eben weil es durch das Vergessen distanziert wurde, und kann es nur interpretieren, weil sie selbst diese Distanz wieder vergißt und so tut, als könnte sie sich auf die Ebene des Vergessenen begeben 45

42 "Wohl mir, daß ich das vergesse [daß ich schon dagewesen]. Die Erinnerung meiner vorigen Zustände würde mir nur einen schlechten Gebrauch des gegenwärtigen zu machen erlauben." (EdM 99) 43 "Es ist nicht wahr, daß die kürzeste Linie immer die gerade ist." (EdM 91) Das Paradox steht in der Tradition der Auffassung von der Unerkennbarkeit und damit Unsagbarkeit der Welt, wie sie wirklich, d. h. in Gott ist, mit menschlichen Kategorien. 44 Im Wittgensteinschen Sinn als "Lebensform" verstanden. 45 "Interpretationen [...] behaupten ein Kontinuum mit dem Interpretierten und könnten ihm doch in dieser unterlegten und nachgetragenen Nähe ferner nicht sein." (Hörisch 1988: 80)

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und von dieser aus das Morgenrot seiner Wiederauferstehung46 erblikken.47 Abschließend sei der Selbstkommentar Lessings wiedergegeben: Die Erziehung des Menschengeschlechts ist von einem guten Freunde, der sich gern allerley Hypothesen und Systeme macht, um das Vergnügen zu haben, sie wieder einzureißen 4 8

1.2.3. Herders semiotische Vernunftkritik und ihr Übergang zu Naturphilosophie und "Neuer Mythologie" Herder entwickelt in seiner Schrift "Über den Ursprung der Sprache"49 (1770) eine die ästhetische und die geschichtsphilosophisch-hermeneutische ergänzende semiotisch-sprachtheoretische Kritik an einem statischen und zur eigenen Absolutsetzung neigenden Vernunftbegriff.50 Deren zentrale Thesen - Sprachgebundenheit des Denkens, Prozessualität und

46 Der Wiederherstellung einer einheitlichen, alle Lebensbereiche umgreifenden mythischreligiösen Weltsicht in Gestalt eines "Neuen Evangeliums". 47 Während Lessings "Herausgeber" noch an die Standortgebundenheit seines "Verfassers" erinnert, vergißt dieser sie im Laufe des Textes zusehends. Sie würde einem Propheten auch schlecht anstehen. Auf die konstitutive Bedeutung des Vergessens und des Vergessens des Vergessens für das hermeneutische Vorgehen hat (nach Lessing) Kittler hingewiesen (1979). 48 Lessing (1866ff.: XVIII, 269), aus einem Brief vom 6. 4. 1778 an Reimarus. Diese Aussage fügt sich sehr gut in die These von Wessell (1977) ein, der problematische Übergang Lessings von den statischen Konzeptionen sowohl des klassischen Rationalismus als auch der theologischen Orthodoxie, die beide einen Zustand der Vollendung ontologisch vor die Geschichte setzen, zur Geschichtsphilosophie in seinen späten Schriften sei auf der Basis der Wissenschaftstheorie Thomas Kuhns als ein Schweben "zwischen einander widersprechenden Denkmodellen", und die "Erziehung des Menschengeschlechts" als ein Versuch, "der auf eine evolutionäre Auflösung des Problems hinweist", zu interpretieren (194). Mithin könnte man die Widersprüchlichkeit in Lessings theologischen Schriften, die auch Pons (1977) herausstellt, im Rahmen eines generellen Paradigmenwechsels sehen, der das statisch-klassifikatorische durch das dynamisch-evolutionäre Denken ersetzt. Darauf werde ich im nächsten Abschnitt anläßlich Herders Sprachentstehungstheorie zurückkommen. 49 Herder (1984ff.: II, 251-357); Herderzitate im Text im folgenden, falls nicht anders angegeben, nur mit Seitenzahlen aus diesem Band nachgewiesen. Zu Herders Quellen und zur Sprachtheorie im 18. Jahrhundert, insbesondere auch zur Diskussion um den Sprachursprung s. Gaier (1988: 15-33), Ricken (1989), Proß (o.J.: 111-178) u. die dort abgedruckten "Materialien" (179-223). 50 Zu Herders Vernunft- und Aufklärungskritik s. Frank (1982: 123-152), Brummack (1989) u. Gaier (1989).

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damit Geschichtlichkeit der menschlichen Natur und kontinuierlichintegrativer Verlauf der Geschichte - bereiten den Übergang zu einer naturphilosophisch fundierten Anthropologie und einer Aufwertung der mythisch-poetischen Denkweise vor. Die menschliche Sprache kann nach Herder nicht aus der Natursprache der Empfindung, die reine Indexfunktion hat (256), entstanden sein (263). Die Tiere haben eine angeborene und beschränkte Lebenssphäre und entsprechend eine bestimmte angeborene Sprache, die reine instinktauslösende Signalfunktion hat (266-268) und zur optimalen Umweltanpassung beiträgt. Gegenüber der Instinktsteuerung der Tiere scheint der Mensch zunächst nur Mängel aufzuweisen. Doch folgt, daß wenn der Mensch Sinne hat, die für Einen kleinen Fleck der Erde, für die Arbeit und den Genuß Einer Weltspanne den Sinnen des Tiers, das in dieser Spanne lebet, nachstehen an Schärfe-, so bekommen sie eben dadurch Vorzug an Freiheit; eben weil sie nicht für einen Punkt sind, so sind sie allgemeinere Sinne der Welt. [...] Wenn also hiermit der Instinkt wegfallen muß [...]; so bekommt eben hiemit der Mensch, mehrere Helle. Da er auf keinen Punkt [auf keine bestimmte Lebenssphäre] blind fällt, und blind liegenbleibt: so wird er freistehend, kann sich eine Sphäre der Bespiegelung suchen, kann sich in sich bespiegeln. Nicht mehr eine unfehlbare Maschine in den Händen der Natur, wird er sich selbst Zweck und Ziel der Bearbeitung. (271)

Diese Fähigkeit zur Selbstbespiegelung, das Selbstbewußtsein, ist identisch mit Vernunft oder, wie Herder sagt, "Besonnenheit" (273) und der entscheidende kategoriale Unterschied zwischen dem Menschen und den Tieren. Sie ist "keine abgeteilte, einzelnwürkende Kraft, sondern eine seiner Gattung eigne Richtung aller Kräfte [...], die Mäßigung aller seiner Kraft auf diese Hauptrichtung" (274). Also stellt sie ein Prinzip höherer Ordnung dar, das die Regulation und Steuerung der ihr untergeordneten Kräfte leistet und diese so organisiert und integriert. "Der Mensch, in den Zustand von Besonnenheit gesetzt, der ihm eigen ist, und diese Besonnenheit (Reflexion) zum erstenmal frei würkend, hat Sprache erfunden." (276)51 Denn die Reflexion besteht im Richten der Aufmerksamkeit auf einen Punkt "in dem ganzen Ocean von Empfindungen, [...] dem ganzen schwebenden Traum der Bilder, die seine Sinne vorbeistreichen" (276) und der Isolierung und "Anerkenntnis" von unterscheidenden Merkmalen: "der erste Aktus dieser Anerkenntnis gibt deutlichen Begriff; es ist das Erste Urteil der Seele [...]. Dies Erste Merkmal der Besinnung war Wort der Seele! Mit ihm ist die Menschliche Sprache erfunden!" (277) Herder

51 Im Original hervorgehoben.

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setzt also Differentialität52 an den Beginn von Sprache und Vernunft, die damit gleichursprünglich werden.S3 Doch das Mittel der differentiellen Bestimmung der Welt für den Einzelnen wird sogleich auch zum Mittel der dialogischen Verständigung über diese Welt mit Anderen.54 Dabei ist bemerkenswert, daß für Herder die Dialogizität schon in der Struktur der Sprache selbst begründet ist und nicht erst durch den tatsächlichen Austausch mit Anderen entsteht. Die reflexive Selbstbespiegelung bedeutet immer schon Distanznahme (im vorgestellten ersten Akt der Vernunft eine Distanznahme zum sinnlichen Eindruck) und Aufspaltung in ein Reflektierendes und ein Reflektiertes. Dieser dialogische Prozeß als eine fortgesetzte Verständigung des Menschen über sich und die Welt ist das Prinzip der Geschichte, die sich in der Form der Sprache sedimentiert.55 Der Mensch wird als ein in der Progression sich verwirklichendes Wesen gedacht: Der Kunstgriff ist seiner Seele wesentlich, nichts für diesen Augenblick zu lernen, sondern alles, entweder an das zu reihen, was sie schon wußte, oder für das, was sie künftig daran zu knüpfen gedenkt: sie berechnet also ihren Vorrat, den sie gesammlet, oder noch zu sammlen gedenkt: und so wird sie eine Kraft, unverrückt zu sammlen. Solch eine Kette geht bis an den Tod fort: gleichsam nie der ganze Mensch: immer in Entwicklung, im Fortgange, in Vervollkommung. (322)

52 Auch das Prinzip der Artikulation, das auf zeitlicher Sukzession und damit auf dem Sinn des Gehörs beruht und das bei Humboldt eine entscheidende Rolle spielen wird, hat Herder schon beschrieben: "Durchs Gehör, sehet! wie uns die Lehrmeisterin der Sprache schonet! Sie zählt uns nur Einen Ton nach dem Andern in die Seele" (301; Hervorh. im Orig. getilgt). 53 "Ich habe erwiesen, [...] daß nicht der mindeste Gebrauch der Vernunft, nicht die einfachste, deutliche Anerkennung, nicht das simpelste Urteil einer Menschlichen Besonnenheit ohne Merkmal möglich sei: denn der Unterschied von Zween läßt sich nur immer durch ein Drittes erkennen. Eben dies Dritte, dies Merkmal, wird mithin inneres Merkwort: also folgt die Sprache aus dem ersten Aktus der Vernunft ganz natürlich." (280) 54 "Vortrefflich daß dieser neue, selbstgemachte Sinn des Geistes gleich in seinem Ursprünge wieder ein Mittel der Verbindung ist - Ich kann nicht den ersten Menschlichen Gedanken denken, nicht das Erste besonnene Urteil reihen, ohne daß ich in meiner Seele dialogiere oder zu dialogieren strebe; der erste Menschliche Gedanke bereitet also seinem Wesen nach, mit anderen dialogieren zu können! Das erste Merkmal, was ich erfasse, ist Merkmal für mich, und Mitteilungswort für Andre!" (286f.) 55 "Und was ist also die ganze Bauart der Sprache anders als eine Entwickelungsweise seines Geistes, eine Geschichte seiner Entdeckungen!" (290; Hervorhebungen im Original getilgt)

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Diese Entwicklung56 vollzieht sich mittels und in der Sprache: "Folglich wird die Fortbildung der Sprache dem Menschen so natürlich, als seine Natur selbst." (324) 57 Die Natur des Menschen ist also - in völliger Umkehrung des Sinnes, den der Begriff in bezug auf Tiere hat - seine prinzipiell unbegrenzte Veränderlichkeit58, seine Progressivität oder Prozessualität, die von der Sprache getragen und von der Vernunft oder "Besonnenheit" gesteuert wird. Die Gattungsidentität wird unter diesen Umständen nur noch durch die Kontinuität in all diesen Veränderungen gewahrt: Es "ist auf gewisse Weise kein Gedanke, keine Erfindung, keine Vervollkommung, die nicht weiter, fast ins Unendliche reiche. [...] der erste Gedanke in der Ersten Menschlichen Seele hängt mit dem letzten in der letzten Menschlichen Seele zusammen." (348) Grundlage dieser Kontinuität ist die kulturelle Überlieferung. 59 An der Prägung durch die familiäre Erziehung in der Ontogenese macht Herder deutlich, wie im Umgang mit Sprache frühe Entwicklungsstufen in den sie überlagernden späteren wirksam bleiben können. Lebenslang werden diese ersten Eindrücke seiner Kindheit [...] in ihm leben und würken: Mit dem Wort wird das ganze Gefühl wiederkommen, was damals frühe seine Seele überströmte: mit der Idee des Worts alle Nebenideen, die ihm damals bei diesem neuen frühen Morgenausblick in das Reich der Schöpfung vorlagen - sie werden wiederkommen und mächtiger würken als die reine, klare Hauptidee selbst. (335)

In der Schrift "Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit" (1774) stellt Herder ausführlich die Bedeutung dieser frühen Einflüsse als Kompensation der mangelnden Selbständigkeit des Menschen nach der Geburt dar und überträgt diesen Zusammenhang von

56 Sie steht im Gegensatz zur statischen Natur der Tiere: "Wir wachsen immer aus einer Kindheit, so alt wir sein mögen, sind immer im Gange, unruhig, ungesättigt: Das Wesentliche unsres Lebens ist nie Genuß, sondern immer Progression, und wir sind nie Menschen gewesen, bis wir - zu Ende gelebt haben; dahingegen die Biene, Biene war, als sie ihre erste Zelle bauete." (323) 57 Hervorh. im Orig. getilgt. 58 Herder sagt über den menschlichen Geist, daß er "sich aus einem gewissen Mittelpunkt zu Allem bilden kann" (350). 59 Dabei kommt nach Herder auch der Schrift eine durchaus positive Rolle zu: "Am offenbarsten wird endlich der Fortgang der Sprache durch die Vernunft und der Vernunft durch die Sprache, [...] wenn Schrift erfunden ist, wenn sich Eine Gattung der Schreibart nach der andern ausbildet." (317) Allerdings gibt es auch schriftkritische Äußerungen bei Herder, z. B. (in bezug auf die hebräische Konsonantenschrift): "Es war Othem Gottes, wehende Luft, die das Ohr aufhaschete, und die toten Buchstaben, die sie hinmaleten, waren nur der Leichnam, der lesend mit Lebensgeist beseelet werden mußte." (260)

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der ontogenetischen auf die phylogenetische Ebene. Die Kindersprache kann auf beiden Ebenen nicht abstrakt sein, sie muß zunächst als direkter Instinktersatz fungieren und den Bezug zum Bereich der sinnlichen Wahrnehmung wahren. Phylogenetisch gesehen ist diese Sprache der Kindheit die Poesie: Was so viele Alten sagen und so viel Neuere ohne Sinn nachgesagt, nimmt hieraus sein sinnliches Leben, 'daß nehmlich Poesie älter gewesen, als Prosa!' Denn was war diese erste Sprache als eine Sammlung von Elementen der Poesie? Nachahmung der tönenden, handelnden, sich regenden Natur! Aus den Inteijektionen aller Wesen genommen, und von Inteijektion Menschlicher Empfindung belebet! Die Natursprache aller Geschöpfe vom Verstände in Laute gedichtet, in Bilder von Handlung, Leidenschaft und lebender Einwürkung! Ein Wörterbuch der Seele, was zugleich Epopee von den Handlungen und Reden aller Wesen ist! Also eine beständige Fabeldichtung mit Leidenschaft und Interesse! - Was ist Poesie anders? (293)

Hinter den "Bilder[n] von Handlung, Leidenschaft und lebender Einwürkung" und der "Epopee von den Handlungen und Reden aller Wesen" kann man unschwer eine mythische Weltsicht erkennen, die vor dem Hintergrund eines mimetischen Zusammenhangs von Natur- und Menschensprache steht. [...] so wie aber aus den bloßen Tönen der Empfindung nie Menschliche Sprache entstehen konnte, die dieser Gesang [die erste Sprache] doch war; so fehlt noch Etwas, ihn hervorzubringen: und das war eben die Namennennung eines jeden Geschöpfs nach seiner Sprache. Da sang und tönte also die ganze Natur vor: und der Gesang des Menschen war ein Concert aller dieser Stimmen, sofern sie sein Verstand brauchte, seine Empfindung faßte, seine Organe sie ausdrücken konnten - [...] Ausdruck der Sprache aller Geschöpfe, innerhalb der natürlichen Tonleiter der menschlichen Stimme! [...] und daß aus diesem Gesänge, nachher veredelt und verfeinert, die älteste Poesie und Musik entstanden, hat jetzt schon mehr als Einer bewiesen. (294f.)

Dieser mimetische oder analogische Zusammenhang zwischen Natur und Sprache wird von Herder in seiner Schrift "Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele" (Dritte Fassung 1778) zur Grundlage aller Erkenntnis gemacht: "Was wir wissen, wissen wir nur aus Analogie, von der Kreatur zu uns und von uns zum Schöpfer." (665) Nur dadurch, daß in der Natur und in uns die gleichen Prinzipien wirksam sind, "ein geistiges Band geknüpft" ist (669), können wir sie erkennen. Dieses Band hat jedoch keinen einzigen durchgehenden Faden, sondern besteht aus unzähligen ineinandergedrehten Fadenstücken.60 Das einzig Durchgehende ist eben das Prinzip ihrer Verbindung, ein Prinzip der Integration und Organisation wie die menschliche "Besonnenheit". Es läßt sich

60 Das Bild habe ich bei Wittgenstein entliehen (Philosophische Untersuchungen I, 67).

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als Übersetzungsvorgang von einer Sprache in die andere verstehen, bei der eine Differenz aufgrund des gemeinsamen Kontextes überbrückt wird. Erkenntnis wird mithin als kommunikative Beziehung zwischen Subjekt und Objekt gedacht, wobei sich das Subjekt immer wieder in ein Subjekt und ein Objekt aufspaltet und der Prozeß sich fortsetzt.61 Für den Menschen sind seine sinnlichen Eindrücke die unhintergehbare Basis von Objektivität, die er in Form seiner "Empfindung" nun wieder zum Objekt weitergehender Befragung und Bearbeitung machen kann. All dies geschieht stufenlos und wird als Fortsetzung des Lebensprozesses gefaßt. Im Rahmen dieser naturphilosophisch fundierten Anthropologie kommt nun den oben erwähnten mythisch-poetischen Verfahrensweisen eine besondere Bedeutung zu. Indem sie nämlich verschiedene Ebenen der Erkenntnis- und Kommunikationsbeziehung zwischen Welt und Mensch 62

61 Dieser Prozeß d ü r f t e eigentlich nie zu einem Abschluß k o m m e n und auch keinen Beginn im Sinne eines "Ursprungs" haben. Die menschliche Erkenntnistätigkeit und Freiheit müßte potentiell schon im gesamten Naturprozeß angelegt sein und d ü r f t e sich vom Verhalten d e r Tiere nur graduell unterscheiden (was nicht ausschließt, daß sich summierende graduelle Unterschiede dann als qualitative Sprünge erscheinen). H e r d e r hat schon erstaunlich weitgehend und präzise ein solches Konzept eines o f f e n e n Prozesses, wie es dann in der modernen Evolutionstheorie, Kybernetik und Semiotik formuliert wird, vorbereitet. Trotzdem kann man in seinem D e n k e n auch statische Elemente erkennen, die den Weltprozeß wiederum nur als Verwirklichung d e s festgelegten Planes der Vorsehung erscheinen lassen. Das läßt sich sicherlich strategisch erklären, wie Gaier es versucht, als Parallelführung verschiedener Diskursformen (1989: 272-274). Es läßt sich jedoch, ähnlich wie bei Lessing, auch als ein innertheoretisches Problem deuten, das daraus resultiert, daß H e r d e r aufgrund gewisser Zweifel an d e r Erklärungskraft des neuen Paradigmas zur zusätzlichen Absicherung wieder auf das alte zurückgreift. 62 Diesen Ebenen wurden im 18. Jahrhundert verschiedene Zeichentypen zugeordnet. Die Kindheitssprache hatten vor H e r d e r schon W a r b u r t o n und nach diesem W ä c h t e r und H a m a n n als eine Bildersprache verstanden, die noch eine unmittelbar e r k e n n b a r e Motiviertheit des Zeichens durch das Bezeichnete aufweist. Diese Motiviertheit bleibt auch auf d e r E b e n e der sogenannten "Hieroglyphen" erhalten, mit denen "man m e h r e r e Dinge durch ein Bild bezeichnet, 'kyriologisch' so, daß das Bild d e r 'Hauptteil einer Sache' ist [also metonymisch], 'tropikalisch' so, daß Bild und Sache 'ähnliche Eigenschaften' haben [also ikonisch-metaphorisch]. [...] 'Symbolisch' werden die Hieroglyphen dann, wenn die dargestellten Bilder und Figuren im übertragenen Sinn f ü r einen unbildlichen Inhalt genommen sind" (Gaier, in: H e r d e r 1985:1049). Die letzte Stufe d e r abstrakten Begriffssprache, der im Bereich d e r Schrift die Buchstabenschrift entspricht, nennt W a r b u r t o n die "epistolische". In dieser historischen Stufenfolge von Zeichentypen kann man den allmählichen Übergang von ikonischen und indexikalischen (die bei H e r d e r häufig erwähnten "Interjektionen") zu rein arbiträren symbolischen Zeichen sehen (nach der Peirce'schen Terminologie). In H e r d e r s P r o g r a m m einer Reintegration

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durch "unmerkliche Übergänge", durch die 'in der Natur alles auf- und ineinander fließt' (672),63 und, da diese Ebenen historisch gebunden sind, zeitlich getrennte Bewußtseinsstufen (Kinder- und Erwachsenensprache) miteinander in Beziehung setzen, stellen sie den allem zugrundeliegenden Prozeß selbst dar. Da sie solcherart überhaupt erst einen Zugang zu diesem Prozeß ermöglichen, erscheint es nicht mehr verwunderlich, daß Herder schon 176764 die antike Mythologie trotz der klaren Einsicht in ihre historische Überholtheit heuristisch nutzen wollte: Denn wenn Wahrheiten ihre Geschichte haben, dann ist es zwar gerade der Fall, daß antike Mythen heute keine Funktion mehr haben [...]; nicht aber gilt, daß sie überhaupt keine Wahrheit haben und daß es nicht denkbar, ja wünschenswert wäre, einen 'heuristischen Gebrauch der Mythologie' [Herder 1877ff.: 1,447] derart zu machen, daß durch eine sinnschöpferische und sinnverändernde Arbeit am historischen Erbe wieder eine zeitgenössische Bedeutsamkeit in die mythischen Vorstellungen gerät und die zeitgenössische Dichtung wieder mit einem Anspruch sprechen könnte, der der Verbindlichkeit der antiken Sujets wenigstens vergleichbar wäre. (Frank 1982: 128) Kurz! als Poetische Heuristik wollen wir die Mythologie der Alten studiren, um selbst Erfinder zu werden. (Herder ebd.: 444)

1.2.4. Die Entstehung der neuen Organismuskonzeption und ihre naturphilosophische Interpretation bei Kant, W. v. Humboldt und Schelling Das 18. Jahrhundert ist geprägt von der Ablösung der mechanistischkausalen durch eine dynamistisch-teleologische (evolutionäre) Erklärungsweise von Naturvorgängen, insbesondere von Leben.65 Während im französischen Sensualismus und Materialismus Descartes' Bild vom menschlichen Körper als Maschine aus seinem "Traité de l'homme" weiterwirkte, entstand angeregt durch Leibniz' Appetitus-Lehre eine Physiologie, die Lebensvorgänge aus den Organismen innewohnenden Kräften zu erklären versuchte. Während die ältere Präformationstheorie das Wirken dieser Kräfte noch auf die Verwirklichung eines vorherbe-

dieser Zeichentypen wird "die Mehrkanaligkeit und vor allem die funktionelle Nachbildung des kyriologischen Zeichens auf moderner Sprachbasis zum Ziel einer den Menschen von allen 'Seelenvermögen' her ansprechenden und damit zur integralen 'Menschheit' führenden Dichtung" (Gaier 1988: 30). 63 Leicht umgestelltes Zitat. 64 In dem Abschnitt "Vom neuern Gebrauch der Mythologie" der "Fragmente, als Beilagen zu den Briefen, die neueste Litteratur betreffend". 65 Ich stütze mich in meiner Darstellung v. a. auf Futterknecht (1986: 175-191) u. Specht (1984); s. dort auch weitere Literaturangaben.

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stimmten Entwicklungsplans einschränkte, behaupteten die Vertreter der Epigenesistheorie, daß Leben durch eine formende Kraft, ein organisierendes Prinzip aus toter Materie entstünde. Der Präformist Albrecht von Haller entdeckte zwei spezifische Vermögen organisierter Materie, nämlich Reize aufzunehmen und auf sie zu reagieren ("Sensibilität" und "Irritabilität"). Als bewiesen galt von nun an, daß Organismen über ein rezeptives und ein reaktives Vermögen verfügen, die sich später auch für die Erklärung des Verhaltens fruchtbar machen ließen. Das adaptive Verhalten höherer Organismen inmitten einer auf sie einwirkenden Umwelt konnte auf der Grundlage ihrer spezifischen Rezeptions- und Reaktionsfähigkeiten erklärt werden. (Futterknecht 1986: 182)

Der Epigenetiker Caspar Friedrich Wolff, dessen Rezeption durch die gegnerische Autorität Hallers behindert wurde, postulierte zur Erklärung der Organisation zuvor nicht organisierter Materie eine sogenannte "vis essentialis". Sie hat mit Hallers Vermögen der Irritabilität und Sensibilität das gemeinsam, daß sie keine seelische, aber auch keine bloß mechanische oder chemische, sondern eine organische Kraft ist, nämlich die, die Generation, Ernährung und Regeneration von Organismen ermöglicht, (ebd.: 183)

Den endgültigen Durchbruch der Epigenesistheorie brachte Johann Friedrich Blumenbachs Schrift "Über den Bildungstrieb" (1781) und ihre positive Rezeption durch Kant in der "Kritik der Urteilskraft" (1790). Blumenbachs Hypothese war, daß in allen belebten Geschöpfen [...] ein besonderer, eingebohrener, Lebenslang thätiger würksamer Trieb liegt, ihre bestimmte Gestalt anfangs einzunehmen, dann zu erhalten, und wenn sie je zerstört worden, wo möglich wieder herzustellen. (Blumenbach 1781: 12)

Der Bildungstrieb ist also ein Vermögen der Selbstregulation, das in Bildung, Erhaltung und Wiederherstellung des Organismus wirkt. Kant führt ihn als Beispiel für die sinnvolle Einbeziehung eines teleologischen Prinzips in die Naturphilosophie an (1793: 378f.), das unsere Naturerklärung da ergänzt, wo der Kausalmechanismus nicht hinreicht, ohne diesen jedoch in seiner Anwendung als Erklärungsprinzip in irgendeiner Weise einzuschränken. Kant verbindet diese bedingte Rehabilitation der Teleologie allerdings mit der Warnung vor einem Abgleiten in Physikotheologie.66 Die Teleologie ist kein theoretisch-konstitutives, sondern nur

66 "Nach bloß theoretischen Prinzipien des Vernunftgebrauchs (worauf die Physikotheologie sich allein gründet) kann [...] niemals der Begriff einer Gottheit, der für unsere teleologische Beurteilung der Natur zureichte, herausgebracht werden." (Kant 1793: 406)

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ein praktisch-regulatives Prinzip (437). Wirkungsgeschichtlich wichtiger war aber seine Forderung nach einer Naturgeschichte des Lebendigen, die nicht mehr nur nach dem "Beurteilungsprinzip", sondern nach dem "Erzeugungsprinzip" verfährt (368), also von der Klassifikation nach äußeren Merkmalen zur Konstruktion aus inneren Entwicklungsprinzipien übergeht. Dazu mußte das Vermögen der Selbststeuerung und Selbstorganisation auf die Ebene der Gattungsentwicklung übertragen werden, wo es als Bindeglied zwischen gattungsspezifischer Anlage und funktionaler Umweltanpassung fungiert. Den entscheidenden Schritt zur Übertragung der physiologischen Kategorie des Bildungstriebs auf die Welt des "Geistes" tat Wilhelm von Humboldt in seiner Schrift "Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Natur" (1794). Mit der These, daß "die physische Natur nur Ein grosses Ganze mit der moralischen ausmacht, und die Erscheinungen in beiden einerlei Gesetzen gehorchen" (Humboldt 1960: 271), geht er eindeutig über das hinaus, was Kant für erweisbar gehalten hatte. Kant hatte es nicht nur für unmöglich gehalten, eine Brücke von der (selbst nur problematisch-regulativen) Naturteleologie zum Bereich des moralischen Zwecks und damit der Freiheit zu schlagen (1793: 431), sondern auch die Frage für unbeantwortbar gehalten, ob Sinnlichkeit und Verstand, die "zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis [...] vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen" (KrV A 15). Die Verknüpfung zwischen der rein sinnlichen Anschauung des Mannigfaltigen und der Erkenntnis durch den Verstand ist die Synthesis dieses Mannigfaltigen. Diese ist eine "Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele, ohne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber selten einmal bewußt sind." (KrV A 78) Diese Vermittlungsinstanz im Prozeß der Objektkonstitution durch das Subjekt wird nun von Humboldt zugleich aufgewertet und umgedeutet. Die Subjekt-Objekt-Problematik wird im Sinne eines Liebes-Verhältnisses gedacht. [...] Die 'gemeinschaftliche, aber uns unbekannte Wurzel' von Sinnlichkeit und Verstand ist die Sexualität - die wortwörtliche Ein-Bildungs-Kraft, die körperliche genetische Kraft, das Genie im konkreten Sinne des Wortes -, die allerdings nur als Entzweiung, als Unterschied der Geschlechter erscheint, der alles in Gang setzt. (Trabant 1985: 162f.) Das an der sexuellen Vereinigung entwickelte Modell der Synthesis ist auch das Modell des 'Verfahrens der Sprache' und damit der Synthesis des Erkennens überhaupt, Humboldts Lösung der von Kant gestellten Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis. Die Kantische Einbildungskraft, jene blinde und unentbehrliche Funktion unserer Seele, ist nämlich die Sprache, die gleichzeitig als 'feinster und letzter Sprössling der Sinnlichkeit' die höchste Sublimationsform der Sexualität darstellt (ebd.: 165).

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Sexualität als Form des Bildungstriebs (jedenfalls bei den höheren Organismen) im Bereich der Natur und Sprache im Bereich des Geistes werden beide (in Nachfolge Herders und im Gegensatz zur Lösung Hegels) 67 als Ausformungen eines dialogischen Prinzips gefaßt, als Wechselwirkung zweier Prinzipien (Aktivität und Rezeptivität) 68 mit der Tendenz zur Freiheit: "der Bildungstrieb repräsentiert das Prinzip der Freiheit und Willkür schon innerhalb der Natur." (Futterknecht 1986:189) Damit ist eine Auffassung der Natur erreicht, die eine andere Art der Fortführung Kants ermöglicht als diejenige Fichtes in seiner "Wissenschaftslehre" (erste Fassung 1794). Fichte hatte Kants Problem der Einheit des Bewußtseins (vor allem der Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft) durch "den Gedanken der Ichheit als unmittelbaraktiver Selbstbeziehung einer ursprünglichen, d. h. nicht weiter ableitbaren Einheit" (Frank/Kurz 1975: 9) zu lösen gesucht. Damit war dieses (transzendentale) Ich zum Einheits- und damit Legitimationsgrund der Philosophie, Subjektivität zur übergreifenden Einheit des Erkenntnisprozesses zwischen Subjekt und Objekt und damit zum absoluten SubjektObjekt avanciert. Es konnte dies jedoch nur in der Form des Selbstbewußtseins sein, das schon Kant als "höchste[n] Punkt", als obersten Grundsatz der Philosophie (KrV B 134f.) charakterisiert hatte. Das transzendentale Ich war nach Kant aber eine an Inhalt gänzlich leere Vorstellung [...], welche nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können; um welche wir uns daher in einem beständigen Zirkel herumdrehen, indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um irgend etwas von ihm zu urteilen (KrV B 404).

Diese Zirkelhaftigkeit des Bewußtseins deutete Fichte nun als Hinweis auf die Ursprünglichkeit des Ich und beschrieb Selbstreflexivität als dessen

67 Vgl. Trabant (1985: 170-173): "Verzehren oder Vermählen". 68 Die beiden Prinzipien haben ihre historischen Wurzeln nicht nur in den erwähnten physiologischen Theorien, sondern auch in Kants "Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" (1786), die den Versuch unternommen hatten, die Physik allein aus den beiden Grundkräften der Attraktion und Repulsion zu konstruieren. Diese beiden Kräfte sind auch das Muster der Beziehung von Ich und Nicht-Ich in Fichtes "Wissenschaftslehre". Daß ihre Rückbeziehung auf das Organische bei Humboldt und dann bei Schelling auch bei Kant selbst schon angelegt ist, hat Kaulbach (1963) gezeigt, indem er nachwies, daß schon der frühe Kant die Grundgegebenheiten der Anschauung auf die "apriorische Leiblichkeit" (481) des Menschen, also die Tatsache, daß er ein Organismus ist, zurückgeführt hatte und der späte Kant sogar "[d]as Wesen der Synthesis a priori [...] als eine Bewegung a priori interpretiert[e]" (485), die als Bewegung wiederum auf die Leiblichkeit verweist.

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eigentümliche Struktur. Der Einwand, den dagegen zuerst Hölderlin in "Urtheil und Seyn" (1794/5) und daran anschließend Schelling entwickelte,69 besteht darin, daß das Ich, um sich als Selbstbewußtsein auf sich beziehen zu können, einen Begriff von sich als Identischem haben müsse, den es nur durch Entgegensetzung erhalten könne. Da der Begriff des Subjekts nur durch Differenzierung vom Objekt gewonnen werden könne, dürfe er nicht zu dessen Voraussetzung gemacht werden. Das beiden Zugrundeliegende muß ein Nicht-Subjektives und Nicht-Objektives und auch Nicht-Identisches (da jeder Identifikationsmöglichkeit Vorausgehendes) sein: "Seyn schlechthin" (StA 4: 216)70. Danach ist Fichtes vorgeblich absolutes Subjekt-Objekt zu seiner Konstitution doch auf ein Objekt angewiesen, doch zugleich durch seine Selbstbezüglichkeit absolut von ihm geschieden und mithin die Aussagen des Subjekts über die Gegenstandswelt dem Relativismus preisgegeben. Hegels 'Differenzschrift' (1801) [...] hat diese Kritik am Relativismus des Fichteschen Denkens eindrucksvoll klar und nachhaltig unterstützt. 'Wäre', schreibt er, 'Subjekt und Objekt absolut entgegengesetzt, nur eins das Subjekt-Objekt, dann könnten die beiden Wissenschaften (die des Objektiven und die des Subjektiven) nicht nebeneinander in gleicher Würde bestehen; nur der eine Standpunkt würde der vernünftige sein' [...].Um diese Konsequenz zu vermeiden, muß man - mit Schelling - auch dem Objekt (der Natur) als solchem seine Subjekt-Objektivität nachweisen, d. h. ihm eine von der Relation auh subjektive Subjekt-Objekt (Fichtes Ich) unabhängige Realität-im-Absoluten zuschreiben. Dies ist der methodische Ort für den Einsatz der Naturphilosophie (Frank/Kurz 1975: 14) 71 .

Schellings Naturphilosophie72 versucht, die Subjekt-Objektivität der Natur zu erweisen, indem sie diese als Naturprozeß konstruiert, dessen Ziel das Selbstbewußtsein ist, und der somit zur Geschichte der Handlungen des Geistes, zur Geschichte des Selbstbewußtseins wird.73 Im Erkenntnisakt wird nichts Subjektives ins Objektive projiziert und nichts Objektives aus ihm herausgelesen, sondern das Subjekt erkennt sich im Objekt, indem es dieses als Manifestation seiner eigenen Geschichte begreift: "Die äußere Welt liegt vor uns aufgeschlagen, um in ihr die

69 70 71 72

Vgl. Henrich (1967: 9-22), Frank/Kurz (1975: 7-15) u. Frank (1985: 61-70). Hölderlin wird mit Sigle StA nach der Großen Stuttgarter Ausgabe zitiert. Zitat im Zitat: Hegel (1969ff.: II, 101). Vgl. Frank/Kurz (1975:17-25), Merleau-Ponty (1975), Wieland (1975), Kaulbach (1984: 550-551) u. Frank (1985: 104-117).

73 "Alle Handlungen des Geistes also gehen darauf, das Unendliche im Endlichen darzustellen. Das Ziel aller dieser Handlungen ist das Selbstbewußtseyn, und die Geschichte dieser Handlungen ist nichts anderes als die Geschichte des Selbstbewußtseyns." (SW 1/1: 382)

Darstellung des Programms

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Geschichte unseres Geistes wieder zu finden." (SW 1/1: 383) Diese Grundauffassung der durchgängigen Einheit von Natur und Geist, die sich prozessual bis zur Selbsterkenntnis der Natur im menschlichen Selbstbewußtsein entwickelt, findet sich erstmals in den soeben zitierten "Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre" (1796/97) und wird vor allem in den "Ideen zu einer Philosophie der Natur" (1797), der "Weltseele"-Schrift (1798) und der "Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie" (1799) weitergeführt. Die neue Konzeption hat zwei Vorteile gegenüber der Reflexionsphilosophie Fichtes. Die Selbstreferenz in der Begründung des Wissens, die bei Fichte in Aporien führte, wird als Struktureigenschaft von Organismen (als Wesen, die sich selbst Zweck und Mittel zugleich sind) und damit als notwendige Form jeder Aneignung von Welt durch Lebewesen erwiesen. Und zweitens läßt sich das Selbstbewußtsein als Ergebnis eines organischen Entwicklungsprozesses der Natur darstellen und seine durch Analyse ermittelte Struktur genetisch erklären. Dieser Prozeß wird aus zwei Prinzipien konstruiert, reiner Produktivität und hemmender Gegenwirkung, die zur Verfestigung dieser Produktivität in Produkten führt. Diese Produkte bilden Entwicklungsstufen, die durch ein inneres Prinzip, den Bildungstrieb, immer wieder überschritten werden. Jede neue Stufe integriert die vorhergehenden und geht damit über sie hinaus, wie etwa organische Prozesse aus anorganischen Teilprozessen bestehen, aber nicht auf solche reduziert werden können. Jede neue Stufe rekonstruiert also die vorangegangene Entwicklung der fortschreitenden Integration und höheren Organisation und transformiert sie in ein neues Ganzes.

1.3. Darstellung des Programms 1.3.1. Schellings Kunstphilosophie: Kunst als Darstellung des Widerspruchs Schelling hat, wie in Abschnitt 1.1 schon angedeutet, im "System des transzendentalen Idealismus" (1800) der Betrachtung des Objektiven als Intelligenz in der Naturphilosophie die Betrachtung des Subjektiven (und zwar desjenigen im Subjektiven, was in allen Bewußtseinsakten anwesend

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Dichtung als "Neue Mythologie"

ist, aber normalerweise selbst nicht bewußt wird)74 als Objekt komplementär zur Seite gestellt, ausgehend von dem durchgängigen "Parallelismus der Natur mit dem Intelligenten" (SW 1/3: 331). Da die Philosophie die Darstellung der "zugleich bewußte[n] und bewußtlose[n] Thätigkeit" (349), die beiden zugrundeliegt, sein soll, kann sie sich nur übergangsweise in einen subjektiven und einen objektiven Pol aufspalten und muß schließlich zur Vereinigung beider im Ästhetischen kommen. Der rezeptiven Zurückverfolgung der "Geschichte des Selbstbewußtseyns, für welche das in der Erfahrung Niedergelegte nur gleichsam als Denkmal und Document dient" (331), muß die produktive Konstruktion folgen. So erklärt sich, daß die Philosophie der Kunst als "das allgemeine Organon der Philosophie" (ebd.) bezeichnet wird. Die Philosophie beruht [...] ebenso gut wie die Kunst auf dem produktiven Vermögen, und der Unterschied beider bloß auf der verschiedenen Richtung der produktiven Kraft. Denn anstatt daß die Produktion in der Kunst nach außen sich richtet, um das Unbewußte durch Produkte zu reflektiren, richtet sich die philosophische Produktion unmittelbar nach innen, um es in intellektueller Anschauung zu reflektiren. (351)

Zwischen Natur und Kunst kehrt sich die Reihenfolge von Bewußtheit und Bewußtlosigkeit in der Produktion um. [D]ie Natur fängt bewußtlos an und endet bewußt, die Produktion ist nicht zweckmäßig, wohl aber das Produkt.75 Das Ich in der Thätigkeit, von welcher hier die Rede ist [der Kunst], muß rrvt Bewußtsein (subjektiv) anfangen, und im Bewußtlosen oder objektiv enden, das Ich ist bewußt der Produktion nach, bewußtlos in Ansehung des Produkts. (613)

Im Kunstwerk wiederholt sich das Verhältnis von zweckloser Entstehung und zweckmäßiger Erscheinung in gesteigerter Form. Insofern die bewußten Zwecksetzungen des Künstlers in der Objektivität des Produkts verlöschen, erscheint seine Tätigkeit im Kunstwerk als bewußtlos; und die komplexe Zweckmäßigkeit, die im Kunstwerk zur Erscheinung kommt, verweist auf eine ebenso komplexe Intentionalität in seiner Entstehungsgeschichte, obgleich diese vermutlich nie existierte, sich jedenfalls nicht erweisen läßt. So ist es mit jedem wahren Kunstwerk, indem jedes, als ob eine Unendlichkeit von Absichten darin wäre, einer unendlichen Auslegung fähig ist, wobei man doch nie sagen kann, ob diese Unendlichkeit im Künstler selbst gelegen habe, oder aber bloß im Kunstwerk liege. (620)

74 Vgl. SW 1/3: 345. 75 Insofern wird der Vorbehalt Kants, die zweckmäßige Erscheinung der Naturprodukte lasse nicht auf ihre zweckhafte Hervorbringung schließen, nicht aufgehoben, er verliert nur an Bedeutung.

Darstellung d e s Programms

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Paradoxerweise ist diese unendliche Auslegbarkeit, die an Kants "ästhetische Idee" anschließt, "die viel zu denken veranlaßt" (Kant 1793: 192), mit dem "äußere[n] Ausdruck [...] der Ruhe und der stillen Größe" (SW 1/3: 620) verbunden, da 'mit der Vollendung des Produkts aller Trieb zu produzieren stille steht, alle Widersprüche aufgehoben, alle Räthsel gelöst sind.' (615)76 Das Paradox wird im Begriff der Schönheit aufgelöst, die als Darstellung des Unendlichen im Endlichen bestimmt ist (620). Diese in sich widerspruchsvolle Charakteristik des Kunstwerks erinnert insgesamt eher als an das "Schöne" an das "Erhabene" bei Kant, das sich etwa darin manifestiert, daß die Unabschätzbarkeit einer Größe oder die Unabschließbarkeit einer Reihe im Endlichen anschaulich die "Unangemessenheit selbst der größten Bestrebung unserer Einbildungskraft" erfahren läßt und so auf die "Idee ihrer [der Natur] Unendlichkeit" (Kant 1793: 93) verweist. Schelling hat das wohl gesehen und in seinem Begriff der Schönheit als Darstellung des eigentlich Undarstellbaren (des Unendlichen) das Erhabene enthalten gedacht. Denn "die Erhabenheit [beruht] auf demselben Widerspruch [...], auf welchem auch die Schönheit beruht", eben auf dem genannten Paradox, "wodurch denn das Ich mit sich selbst in einen Streit versetzt wird, welcher nur in einer ästhetischen Anschauung enden kann" (SW 1/3: 621). Diese Auflösung des Widerspruchs durch seine Darstellung leistet die ästhetische Anschauung nicht nur auf der individuellen Ebene, sondern auch auf der kollektiven. Schellings Philosophie geht aus "von einem Princip, das als das absolut Identische schlechthin nichtobjektiv ist." (624) Wie kann dieses nun bewußt gemacht und verstanden werden, wenn nicht durch eine nicht-begriffliche "intellektuelle Anschauung"? Doch auch unter der Voraussetzung der Erreichbarkeit dieser intellektuellen Anschauung für jedes Individuum kann eine sich auf diese gründende Philosophie nicht auf eine allgemein anerkannte Objektivation dieser Anschauung verzichten, ohne sich dem Verdacht des Solipsismus und Relativismus auszusetzen. D i e s e allgemein anerkannte und auf keine W e i s e h i n w e g z u l e u g n e n d e Objektivität der intellektuellen A n s c h a u u n g ist die Kunst selbst. D e n n die ästhetische A n s c h a u u n g e b e n ist die objektiv g e w o r d e n e intellektuelle. (625)

Sie wird erzeugt durch "das Einzige, wodurch wir fähig sind auch das Widersprechende zu denken und zusammenzufassen, - die Einbil-

76 Leicht umgestelltes Zitat.

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Dichtung als "Neue Mythologie"

dungskraft." (626) Diese ist, wie Schelling in der "Philosophie der Kunst"77 ausführt, das Prinzip der Entfaltung des Absoluten im Weltprozeß. Durch die Kunst wird die göttliche Schöpfung objektiv dargestellt, denn diese beruht auf derselben Einbildung der unendlichen Idealität ins Reale, auf welcher auch jene beruht. Das treffliche deutsche Wort Einbildungskraft bedeutet eigentlich die Kraft der Ineinsbildung, auf welcher in der That alle Schöpfung beruht. Sie ist die Kraft, wodurch ein Ideales zugleich auch ein Reales, die Seele Leib ist, die Kraft der Individuation, welche die eigentlich schöpferische ist. (SW 1/5: 386)

Also ist die poetische Zusammenfassung des Widersprechenden durch die Einbildungskraft nur die Nachkonstruktion einer ebenso gebildeten Poesie der Natur, die sich nur hermeneutisch (und also nur transformierend und verändernd) vollziehen kann. Was wir Natur nennen, ist ein Gedicht, das in geheimer wunderbarer Schrift verschlossen liegt. Doch könnte das Räthsel sich enthüllen, würden wir die Odyssee des Geistes darin erkennen, der wunderbar getäuscht, sich selber suchend, sich selber flieht; denn durch die Sinnenwelt blickt nur wie durch Worte der Sinn, nur wie durch halbdurchsichtigen Nebel das Land der Phantasie, nach dem wir trachten. [...] Die Natur ist dem Künstler [...] nur der unvollkommene Widerschein einer Welt, die nicht außer ihm, sondern in ihm existirt. (SW 1/3: 628)

Die Transformation des Naturbegriffs von einer statisch-überzeitlichen Ordnung zu einem dynamischen Prozeß hebt Poesie als Mimesis nicht auf, sondern macht sie zu einem "Trieb", der nie in einer selbsterzeugten Entfaltungsstufe aufgeht, sondern immer über sie hinausstrebt. Einzig indem sie nur übergangsweise sich in Produkten objektiviert, um sie sogleich zu überschreiten, und so ihr traditionelles Verständnis als in sich vollendeter Abbildung gerade umkehrt, kann sie - als Darstellung des Zusammenfallens von Darstellung und Nicht-Darstellbarkeit - Natur darstellen, ihr nachahmend und zugleich ihr "vorahmend" (Blumenberg 1957a: 283). Medium dieser Darstellungsarbeit, die ihren angeblichen "Ursprung" in der Natur vergessen muß und sich immer nur auf eine Natur beziehen kann, die in ihre Darstellung und Deutung schon übergegangen ist,78 ist die vergangene Poesie, die "Lehrerin der < Geschichte > Menschheit" (ÄS v9), "das Mittelglied der Rückkehr der Wissen-

77 Vorlesungen, gehalten erstmals 1802-1803. 78 In diesem Sinne wäre die Natur der erste Mythos: "Das Vergessen der 'Urbedeutungen' ist die Technik der Mythenkonstitution selbst - und zugleich der Grund dafür, daß Mythologie immer nur als 'in Rezeption übergegangen' angetroffen wird. Die Phänomenologie der Rezeption absorbiert das vermeintlich in dieser 'Wirkende'." (Blumenberg 1971: 50)

Darstellung des Programms

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schaft zur Poesie" (SW 1/3: 629), also die Mythologie. Ihre Erneuerung als fiktionale Einlösung (der ihre Fiktionalität keinen Abbruch tut, im Gegenteil) 79 der Hoffnung auf "das Gefühl einer unendlichen Befriedigung", in der "alle Widersprüche [...] aufgehoben, alle Räthsel gelöst" sind (SW 1/3: 615), in einer "Neuen Mythologie" läßt sich nur von ihrer poetischen Umformung erwarten.

1.3.2. Die Wende von Geschichtsphilosophie zu Ästhetik in Schlegels "Rede über die Mythologie" Friedrich Schlegels80 "Rede über die Mythologie" aus dem "Gespräch über die Poesie" (1800) enthält das Programm einer solchen Transformation von Mythos in Literatur. Daß Schlegel gerade die Fiktionalität der so entstehenden "Neuen Mythologie" betont, deutet Bohrer (1983) als Wende von der Geschichtsphilosophie zur Ästhetik: während Schillers 'Ästhetische Erziehung' und Schlegels 'Studium-Aufsatz' das Paradigma der Revolution und der Perfektibilität mit dem zentralen Begriff der Tugend' nicht einfach aufgeben, sondern ästhetisch kritisieren und überbieten, rückt Schlegels 'Mythologie-Rede' als zweite Form der utopischen Überbietung um einen Schritt weiter: sie ersetzt die Institutionen 'Revolution', 'Menschheit' und 'Staat' durch die 'neue Mythologie'. (53)

Diese Wende sieht Bohrer aus der Einsicht in eine Grundbedingung der Moderne entsprungen und verteidigt sie gegen den Vorwurf des Ästhetizismus. Es kennzeichnet die 'Ehrlichkeit' von Schlegels 'Mythologie', daß sie die Einsicht, Totalität sei in der Moderne unmöglich geworden, verarbeitet und konsequent eine ästhetische Reduktion vorführt. [...] Will man nicht der Utopie als Ideologie verfallen und den Sinnschwund der Idee leugnen, dann wäre in Schlegels Versuch, eine neue

79 "Alle Gestalten der Kunst, also vornämlich die Götter sind wirklich, weil sie möglich sind. Wer noch fragen kann, wie so hoch gebildete Geister als die Griechen an die Wirklichkeit der Götter haben glauben können, [...] beweist nur, daß er selbst nicht auf dem Punkt der Bildung angekommen ist, auf dem eben das Ideale das Wirkliche und viel wirklicher als das sogenannte Wirkliche selbst ist. In dem Sinn, wie etwa ein gemeiner Verstand an die Wirklichkeit der sinnlichen Dinge glaubt, haben jene Menschen die Götter überhaupt nicht genommen und weder für wirklich noch für nicht wirklich gehalten. In dem höheren Sinne waren sie den Griechen reeller als jedes andere Reelle." (SW 1/5: 391) 80 Schlegel wird, falls nicht anders angegeben, mit Sigle KA, Band- und Seitenzahl nach der Kritischen Ausgabe zitiert.

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Dichtung als "Neue Mythologie" Mythologie qua Ästhetik zu entwerfen, gerade der ideologiekritische Skeptizismus zu bewahren. (73f.)

Sosehr dieser Einschätzung zuzustimmen ist, so ist doch die Argumentation, die zu ihr führt, zumindest ergänzungsbedürftig. Der bisherige Verlauf der Untersuchung sollte deutlich gemacht haben, daß "Totalität" für die intellektuelle Avantgarde um 1800 nicht mehr als Ergebnis einer Konstruktion aus irgendwelchen dogmatischen metaphysischen oder theologischen Gegebenheiten denkbar war, sondern allenfalls ausgehend von einem völlig entqualifizierten "Absoluten" erreichbar schien. Dieses Absolute ist rein funktional als der archimedische Punkt der Konstruktion bestimmt, in dem alle Fäden zusammenlaufen 81 , und die "intellektuale Anschauung" als die Handlung, durch die das Subjekt sich dieses Indifferenzpunktes versichert.82 Die Deutung der Kunst als Objektivation dieses Absoluten, das sich sonst nur in der Welt eben als ganzer, als Prozeß von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende, darstellen könnte, bedeutet zwar die Anerkennung der Unmöglichkeit der Erfahrung realer Totalität, nicht aber fiktionaler. Gerade die Veränderung der Wertung von "real" und "fiktional" ist aber einer der zentralen Bestandteile der Spekulationen über eine "Neue Mythologie". Als Beleg diene eine Stelle aus Herders "Iduna, oder der Apfel der Verjüngung" von 1796. Ich hätte nichts dagegen, wenn wir anders organisiert wären; nun sind wir aber, was wir sind, Menschen. Unsre Vernunft bildet sich nur durch Fictionen. Immerdar suchen und erschaffen wir uns ein Eins in Vielem und bilden es zu einer Gestalt; daraus werden Begriffe, Ideen, Ideale. Gebrauchen wir unrecht oder werden wir gar gewöhnt, falsch zu configuriren; staunen wir Schattenbilder an, und ermüden uns wie Lastthiere, falsche Idole als Heiligthümer zu tragen; so liegt die Schuld an uns, nicht an der Sache. 83 Ohne Dichtung können wir nicht einmal seyn; ein Kind ist nie glücklicher, als wenn es imaginirt und sich sogar in fremde Situationen und Personen dichtet. Lebenslang bleiben wir solche Kinder; nur im Dichten der Seele, unterstützt vom Verstände, geordnet von der Vernunft, besteht das Glück unseres Daseyns." (Herder 1877ff.: XVIII, 48S) 84

Fiktion erscheint nun nicht mehr als defizientes, weil eben unwirkliches Bild von Wirklichkeit, sondern als Element, ja als Inbegriff konstruktiven

81 "[E]in fester Punkt", heißt es bei Schlegel, "von wo aus die Kraft des Menschen sich nach allen Seiten mit steigender Entwicklung ausbreiten kann, sicher sich selbst und die Rückkehr nie zu verlieren." (KA II: 314) Die Versuche, diesen "Mittelpunkt", den in der Moderne bisher nur Einzelne fanden und der in der Mythologie ein kollektiv verbindlicher war (312), zu erreichen, sind Äußerungsarten "von dem Phänomene aller Phänomene, daß die Menschheit aus allen Kräften ringt, ihr Zentrum zu finden." (314) 82 Zur Geschichte des Begriffs der "intellektualen Anschauung" s. Frank (1987). 83 Dies ist eine Kritik Herders an der naiven Mythologiekritik. 84 Zitiert nach Frank (1982: 144).

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Darstellung des Programms

Erkennens, das den Produktionsprozeß, der dem Wirklichen zugrundeliegt, aufgreift und fortsetzt. Nur von der Stärkung dieses Moments der poetischen Ein-Bildungs-Kraft im Erkennen (das sich immer historisch und sprachlich vollzieht) ist die Schaffung einer "Neuen Mythologie" zu erhoffen. 'Iduna,

die Göttin der Unsterblichkeit und der Neuveijüngung', könnte alleine eine

'Wiederkunft' der G ö t t e r vorbereiten [Herder 1877ff: X V I I I , 489], Denn Iduna ist die Göttin der Sprache als Einbildungskraft, d. h. als weltbildschaffende Potenz, in Person. (Frank 1982: 150)

Insofern ist weniger von einer "ästhetischen Reduktion" zu sprechen, als von einer Aufladung des Ästhetischen, das zum Sammelpunkt von Problemlösungsstrategien wird, die zuvor in zunächst getrennten Bereichen entwickelt wurden. Schlegel stellt denn auch die Fiktionalität der "Neuen Mythologie" deutlich heraus, die sie gerade aufgrund ihrer integrativen Leistung haben muß. Denn auf dem ganz entgegengesetzten Wege wird sie zu uns kommen, wie die alte ehemalige,

überall

die erste

Blüte

der jugendlichen

Fantasie,

sich

unmittelbar

anschließend und anbildend an das Nächste, Lebendigste der sinnlichen Welt. D i e neue Mythologie muß im Gegenteil aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden; es muß das künstlichste aller Kunstwerke sein, denn es soll alle anderen umfassen, ein neues B e t t e und G e f ä ß für den alten ewigen Urquell der Poesie und selbst das unendliche Gedicht, welches die Keime aller andern Gedichte verhüllt. ( K A II: 3 1 2 )

Unendlich muß dieses Gedicht sein, weil es eine Erscheinungsform des Geistes ist, dessen wechselseitig aufeinander bezogene Charakteristika Autonomie und Prozessualität sind; und weil es innerhalb des Geistes als Form des "Realismus" (also der Objektseite) das notwendige (und also immer vorhandene und mit diesem sich weiterentwickelnde) Komplement des "Idealismus" (also der Subjektseite) ist. Wie es das Wesen des Geistes ist, sich selbst zu bestimmen und im ewigen Wechsel aus sich heraus zu gehn und in sich zurückzukehren; wie j e d e r Gedanke nichts anders ist, als das Resultat einer solchen Tätigkeit: so ist derselbe Prozeß auch im ganzen und großen j e d e r Form des Idealismus sichtbar, der j a selbst nur die Anerkennung j e n e s Selbstgesetzes ist [...]. D e r Idealismus in j e d e r Form muß auf ein oder die andre Art aus sich herausgehn, um in sich zurückkehren zu können, und zu bleiben was er ist. Deswegen muß und wird sich aus seinem Schoß ein neuer ebenso grenzenloser Realismus erheben [...]. Auch ich trage schon lange das Ideal eines solchen Realismus in mir, und wenn es bisher nicht zur Mitteilung gekommen ist, so war es nur, weil ich das Organ dazu noch suche. Doch weiß ich, daß ichs nur in der Poesie finden kann, denn in Gestalt der Philosophie oder gar eines Systems wird der Realismus nie wieder auftreten können. ( K A II: 314f.)

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Dichtung als "Neue Mythologie"

Letzteres ist durch Kants kopernikanische Wende tatsächlich unmöglich geworden. Jede nur denkbare Totalitätserfahrung an der Natur wäre immer dem Verdacht ausgesetzt, reine Projektion des subjektiven Geistes zu sein, und als dem Zweifel enthobenes regulatives Prinzip der Forschung ist Totalität nicht erfahrbar. Die Lösung, die noch bleibt, ist die ästhetische, und die Mythologie als Zeugnis einer Phase, in der der Geist sich erst allmählich von noch naturhaften Mechanismen emanzipierte, ist ihr Modell. Einen großen Vorzug hat die Mythologie. Was sonst das Bewußtsein ewig flieht, ist hier dennoch sinnlich geistig zu schauen, 85 und festgehalten, wie die Seele in dem umgebenden Leibe, durch den sie in unser Auge schimmert, zu unserm Ohre spricht. [...] Die Mythologie ist ein solches Kunstwerk der Natur. In ihrem Gewebe ist das Höchste wirklich gebildet; alles ist Beziehung und Verwandlung, angebildet und umgebildet, und dieses Anbilden und Umbilden eben ihr eigentümliches Verfahren, ihr inneres Leben, ihre Methode, wenn ich so sagen darf. (KA II: 318)

Diese Methode ist der arabeske Witz, der sich in der romantischen Poesie findet. Ja diese künstlich geordnete Verwirrung, diese reizende Symmetrie von Widersprüchen, dieser wunderbare ewige Wechsel von Enthusiasmus und Ironie 86 , der selbst in den kleinsten Gliedern des Ganzen lebt, scheinen mir schon selbst eine indirekte Mythologie zu sein. Die Organisation ist dieselbe und gewiß ist die Arabeske die älteste und ursprüngliche Form der menschlichen Fantasie." (KA II: 318f.)

Die Arabeske ist die integrierende Einheit von Enthusiasmus, in dem das Subjekt die Einheit mit der Natur erfährt, aber sich in dieser Einheit nicht als bewußtes hat (a-thetisches Selbstbewußtsein), und Ironie, in der das Subjekt zwar bewußt ist (thetisches Selbstbewußtsein), aber in unendlicher Reflexion immer über sich hinausweist.87 Nur im Wechsel zwischen beiden, zwischen "Gefühl" und "Gedanke" (in Novalis' Terminologie),

85 Eine andere Formulierung für den Schellingschen Satz: "die ästhetische Anschauung eben ist die objektiv gewordene intellektuelle." (SW 1/3: 625) 86 Die Arabeske ist der Ironie also übergeordnet; vgl. Schlegel (1980: 60, Nr. 407): "Der arabeske Witz ist d[er] höchste - Ironie und Parodie nur negativ - desgleichen der eigentlich Satirische - nur in jenem nebst dem combinatorischen liegt die Indicazion auf unendliche Fülle." 87 Die Ironie "enthält und erregt ein Gefühl von dem unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und Bedingten, der Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung. Sie ist die freieste aller Lizenzen, denn durch sie setzt man sich über sich selbst weg" (Schlegel KA II: 160, Nr. 108).

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Darstellung des Programms

kann das Subjekt sich reflexiv seiner vergewissern. 88 Die reflexive Selbstbegründung des Ich vollzieht sich also nicht mehr in einem subjektinternen Raum wie bei Fichte (einem subjektiven Subjekt-Objekt), sondern im Medium der Kunst (dem objektiven Subjekt-Objekt). Die Dominanz des Subjekt-Pols schwindet. Im frühromantischen Sinne ist der Mittelpunkt der Reflexion die Kunst, nicht das Ich. [...] Die romantische Kunstanschauung beruht darauf, daß im D e n k e n des Denkens kein Ich-Bewußtsein

verstanden

wird. D i e

Ich-freie

Reflexion

ist

eine

Reflexion

im

Absolutum der Kunst. (Benjamin G S I: 39f.)

Zugleich ist sie als unbegrenzte und unbegrenzbare in ihrer jeweiligen Erscheinung im Kunstwerk fragmentarisch. Als ihr Symbol bezeichnet Schlegel an anderer Stelle "jene krummen Linien, die mit sichtbarer Stetigkeit und Gesetzmäßigkeit forteilend immer nur im Bruchstück erscheinen können, weil ihr eines Zentrum in der Unendlichkeit liegt" (KA II: 415). Ihre Darstellung ist immer nur in paradoxer und über sich hinausweisender Form möglich, wenn man es einmal aufgegeben hat, des Zentrums im Unendlichen habhaft zu werden. "Wo das Bewußtsein an ein Da gebunden und also ein radikal endliches ist, stellt sich das Unendliche nur dar als Destruktion der Darstellung." (Wellbery 1987: 165) Aufgrund des Fragmentarischen von jedem Versuch erhält das zunächst zurückgedrängte Subjekt nun aber wieder in einer weniger totalitären als individuellen Form eine wichtige Funktion. Überhaupt muß man auf mehr als einem Wege zum Ziele dringen können. J e d e r gehe ganz den seinigen, mit froher Zuversicht, auf die individuellste Weise, denn nirgends gelten die Rechte der Individualität - wenn sie nur das ist, was das W o r t bezeichnet, unteilbare

Einheit, innerer lebendiger Zusammenhang - mehr als hier, wo vom

Höchsten die Rede ist; ein Standpunkt, auf welchem ich nicht anstehen würde zu sagen, der eigentliche Wert j a die Tugend des Menschen sei seine Originalität." ( K A II: 3 2 0 )

Ob sie allerdings "ist, was das Wort bezeichnet", kann sich nur an ihren Werken beweisen, denn diese sollen ja gerade die Gewißheit dafür liefern, daß "unteilbare Einheit, innerer lebendiger Zusammenhang" - kurz: Totalität - vorliegt. Mithin fällt die Individualität mit ihren Werken im

88 Zum "Rollentausch von thetischem und nicht-thetischem Bewußtsein" bei Schlegel und Novalis s. Hörisch (1976: 71-77) u. Menninghaus (1987: 79-81 u. 85-89). D e r von Manfred Frank verschiedentlich (ausführlich

1983b) unternommene Versuch, den

Frühromantikern zuzuschreiben, sie hätten die Notwendigkeit

einer

präreflexiven

Vertrautheit des Selbst mit sich behauptet, und diese sowohl gegen die Absolutheit der Reflexion bzw. ihres Mediums als auch gegen Derridas "differance'-Konzeption auszuspielen, ist von Menninghaus (1987: 267-275, Anm. 104) zu Recht kritisiert worden.

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Dichtung als "Neue Mythologie"

Medium der Kunst/Natur, "dem unendlichen Spiele der Welt, dem ewig sich selbst bildenden Kunstwerk" (KA II: 324) zusammen.

1.4. Poetologische Konsequenzen: "Brod und Wein" Die Auseinandersetzung um das Verhältnis von Antike und Moderne äußerte sich in der "Querelle" und ihrer deutschen Fortsetzung, unabhängig von dem Lager, in dem die Autoren jeweils standen, häufig in Klagen über die verlorene "Goldene Zeit". Nur die Akzentuierung ist unterschiedlich: Klage um ein Verlorenes, das es wiederzuerlangen gilt (und sei es nur annäherungsweise) oder Klage um ein Unwiederbringliches als Bewältigung durch Trauer, die eine Neuorientierung ermöglichen soll. Zur letzteren Gruppe gehört Friedrich Schillers einflußreiches Gedicht "Die Götter Griechenlandes".89 Es beschwört in elegischer Grundhaltung eine Welt, die von gegenseitiger Liebe zwischen Göttern und Menschen geprägt ist. Dieses Liebesverhältnis manifestiert sich in einer allgemeinen Zeichenhaftigkeit der Natur, die als Rede der Götter an die Menschen erscheint, und überträgt sich auf die Auffassung der Menschen als Wertschätzung und poetisch-mythische Deutung der Natur als Gabe der Götter. Dieser gegenseitigen Wertsteigerung durch eine Art von wechselseitigem "Selbstgenuß im Fremdgenuß"90 tritt nun in einem metrisch unterstützten - Bruch die Moderne gegenüber. Höher war der Gabe Werth gestiegen, die der Geber freundlich mit genoß, näher war der Schöpfer dem Vergnügen, das im Busen des Geschöpfes floß. Nennt der Meinige sich dem Verstände? Birgt ihn etwa der Gewölke Zelt? Mühsam späh' ich im Ideenlande, fruchtlos in der Sinnenwelt. (NA I: 192, V. 81-88) 91

Der feine Unterschied von "mühsam" und "fruchtlos" enthält schon die ganze Charakteristik der Moderne. Gewährt sie noch einige, wenn auch schwer erreichbare intellektuelle Befriedigung, so verweigert sie die emotional-sinnliche vollends. Der Eine Gott der Moderne ist nicht nur

89 Im folgenden ist von der ersten Fassung von 1788 die Rede, von der sich die spätere Fassung in manchem unterscheidet. 90 Vgl. Jauß (1977: 59). 91 Schiller wird mit Sigle "NA" nach der "Nationalausgabe" zitiert.

Poetologische Konsequenzen: "Brod und Wein"

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ohne Freunde und Verwandte, auch seine innige Verbindung zu den Menschen ist zerstört, das Bindeglied zu ihnen, die Natur, entseelt. Solcherart isoliert sieht er in dem langen Strom der Zeiten ewig nur - sein eignes Bild. (195, V. 183/4)

Wo sich zuvor Mensch und Götter gegenseitig ineinander spiegelten, stehen nun beide unter dem Bann der Ernsten und Strengen, "die den Spiegel blendend vor mir hält" (V. 198). Doch diese ist - merkwürdigerweise - eine "Göttin" (V. 197), die gar noch eine "sanft're Schwester" (V. 199) hat, die ein Gegengewicht zu ihr bilden könnte. Sind beide vom allgemeinen Göttersturz verschont geblieben? Apropos "Göttersturz": in Gestalt desjenigen, der als "Werk und Schöpfer des Verstandes" (V. 194) bezeichnet wird (also des "Verstandesgottes" im doppelten Wortsinn), Herrscht [über wen oder was eigentlich noch?] ein Andrer in des Aethers Reichen auf Saturnus umgestürztem Thron." (V. 179/180)

Die Überwindung des Polytheismus durch den Monotheismus erscheint in der Metaphorik der Gigantomachie, also des Polytheismus. Dieser ist zwar im Bild überwunden, bleibt aber durch das Bild erhalten. Was im Gedicht trauernd beklagt wird - "Ach! nur in dem Feenland der Lieder [der Poesie] / lebt noch deine [der schönen Welt der mythischen Antike] goldne Spur" (194, V. 147/8; Hervorh. von mir, A. B.) - wird durch das Gedicht zur positiven Aussage: in der Poesie lebt der Mythos fort. Was bei Schiller quasi "unter der Hand" geschieht, wird in der "Neuen Mythologie" zum Programm. Im folgenden soll am Beispiel von Hölderlins "Brod und Wein" gezeigt werden, welche poetologischen Konsequenzen das hat.92 Das Gedicht beginnt mit der Darstellung der Nacht, die eine Zeit der Ruhe von der Tagesarbeit ist und eine Zeit des Gedenkens an Anderes, Fernes. Die Nacht ist mehr als die Abwesenheit des Tages, mit ihr erscheint, "traurig und prächtig" (StA 2: 90, V. 18) zugleich, eine andere

92 Das Gedicht entstand 1800 und wurde spätestens im Winter 1800/1801 beendet. Die folgende Darstellung stützt sich vor allem auf das Material zur Mythenrezeption um 1800, das Manfred Frank (1982) aufgearbeitet hat, und auf seine Interpretation von "Brod und Wein" (265-360). Zum Übergang vom Früh- zum Spätwerk Hölderlins, für den "Brod und Wein" sicher ein Schwellentext ist, vgl. Szondi (1967) u. Szondi (1975: 193-402). Zum Mythos bei Hölderlin s. Gaier (1971), zur Aufgabe der Dichtung in der Geschichte Schmidt (1985: I, 404^29).

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Dichtung als "Neue Mythologie"

Welt, personifiziert als "die Erstaunende dort, die Fremdlingin unter den Menschen" (90, V. 17). Sie bringt "Heilig Gedächtniß" (91, V. 36) an ein "kühneres Leben" (V. 35) und bewirkt so, "Daß im Finstern für uns einiges Haltbare sei" (V. 32); doch dazu ist auch "die Vergessenheit und das Heiligtrunkene" (V. 33) nötig. Der Versuch der Auflösung der manifesten Paradoxien von Vergessen und Gedenken und positiver und negativer Wertung von Nacht und Finsternis führt zum Übergang von der Ebene des realen Tag-NachtWechsels zur geschichtsphilosophisch-mythologischen Ebene von vergangenem Göttertag, Götternacht und wiederkehrendem Göttertag. Das Verhältnis beider Ebenen zueinander ist komplex. Einerseits gehören der reale Tag und die reale Nacht zur Götternacht. Andererseits führt die übliche Dominanz des Tages über die Nacht dazu, daß der reale Tag stärker mit der Götternacht assoziiert ist und die reale Nacht so zum Rückzugs- und Erscheinungsort des vergangenen und auf seine Wiederkehr vorausweisenden Göttertages werden kann. Das Vergessen bezieht sich also auf den realen Tag und damit die Situation der Götternacht, die selbst das fortwährende Vergessen des Göttertages hervorbringt und somit erst vergessen werden muß, um dessen Gedächtnis zu ermöglichen. Dieses Vergessen ist dann ein heiliges, weil es zum Kommen des neuen Göttertages beiträgt. Es ist dem Schlegelschen "Chaos" verwandt, der "Unordnung, die etwa aus dem Gedränge und der Fülle von Dichtungen entstehen dürfte", die aber die Grundlage für "die höchste Schönheit, ja die höchste Ordnung" ist, denn diese gehen aus von dem Chaos, "welches nur auf die Berührung der Liebe wartet, um sich zu einer harmonischen Welt zu entfalten" (KA II: 313), wie bekanntlich in der Darstellung des Göttertages in der griechischen Mythologie berichtet wird. Jede neuzuerrichtende Ordnung wird durch die bestehende alte systematisch behindert und bedarf daher einer produktiven Verwirrung, die als Wiederkehr des Zustandes vor Beginn der Schöpfung oder der Weltentstehung beschrieben wird.93 Da die Trunkenheit vom Wein dieses Chaos erzeugen kann, darf sie "das Heiligtrunkene" (V. 33) genannt werden, das das "Haltbare", das uns auch "im Finstern" (V. 32) der Götternacht bleibt, ins Gedächtnis ruft. Dies Geschehen des Ins-Bewußtsein-treten des Verdeckten und Verdrängten hat den Charakter einer plötzlichen Erscheinung, einer

93 "Nur diejenige Verworrenheit ist ein Chaos, aus der eine Welt entspringen kann." (KA II: 263, Nr. 71)

Poetologische Konsequenzen: "Brod und Wein"

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Epiphanie.94 Sie manifestiert sich im Text an der Schwelle des Übergangs zu der zweiten Strophentrias, die der Darstellung des vergangenen Göttertages aus der Rückschau gewidmet ist, in einem Vergleich, der die Vergleichsglieder der assoziierten Ebene zuerst in der Totalen, dann im einzelnen ("Festlicher Saal! der Boden [...] und Tische [...]") den Gliedern der manifesten Ebene der griechischen Landschaft ("Meer", "Berge") in emphatischer Weise voranstellt: Festlicher Saal! der Boden ist Meer! und Tische die Berge, Wahrlich zu einzigem Brauche vor Alters gebaut! (92, V. 57f.)

Stärker noch als durch eine Metapher bekommt das Bild so den Charakter des Sich-Aufdrängens: In einem Augenblick wird hinter der gewohnten Realität eine andere sichtbar, die als eindrücklicher, zwingender, evidenter, insofern "realer" erfahren wird. Nach der ersten Strophentrias, die die Nacht als derzeitige Götternacht zum Gegenstand hat und zugleich die reale Nacht als Zeit des Erinnerns, dessen Objekt, der vergangene Göttertag, in der folgenden zweiten Trias bildlich heraufbeschworen wird, bildet die dritte Trias eine Rückwendung auf die Gegenwart, zunächst mit einer resignierenden Geste: Aber Freund! wir kommen zu spät. Zwar leben die Götter, Aber über dem Haupt droben in anderer Welt. (93, V. 109f.)

In der folgenden Erklärung der Ferne der Götter erhält die Nacht jedoch einen ambivalenten Charakter. Sie ist einerseits Zeit der Abwesenheit und des Mangels, andererseits aber auch Zeit der Ruhe, der Erholung und Stärkung, und das sogar aufgrund einer gewissen Notwendigkeit, denn: Nur zu Zeiten erträgt göttliche Fülle der Mensch. Traum von ihnen [den Göttern] ist drauf das Leben. Aber das Irrsaal Hilft, wie Schlummer und stark machet die Noth und die Nacht (93, V. 114-116).

Dennoch, so wird die sich dialektisch hin- und herwendende Argumentation fortgeführt, sind die vom Tag Träumenden wenige, Vereinzelte, die daher, im Bewußtsein ihrer Aufgabe (das die Isolierung allererst hervorruft) an dieser zweifeln müssen. [...] Indessen dünket mir öfters Besser zu schlafen, wie so ohne Genossen zu seyn, So zu harren und was zu thun indeß und zu sagen, Weiß ich nicht und wozu Dichter in dürftiger Zeit? (94, V. 119-122)

Und auch auf diesen Einwand folgt ein Gegenargument: Aber sie sind, sagst du, wie des Weingotts heilige Priester,

94 Zu Plötzlichkeit und Epiphanie als Kategorien moderner Ästhetik vgl. Bohrer (1981).

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Dichtung als "Neue Mythologie" Welche von Lande zu Land zogen in heiliger Nacht. (V. 123f.)

Der Bezug auf die Dionysosmysterien liefert eine Begründung der Heiligkeit der Nacht und des durch sie Repräsentierten, der Poeten, durch eine Analogie mit einem vorgängigen Heiligen. Diese Legitimationsstrategie, die selbst mythenspezifisch und -typisch ist, wird durch einen Ursprungsmythos ergänzt. Als erschienen zu lezt ein stiller Genius, himmlisch Tröstend, welcher des Tags Ende verkündet' und schwand, Ließ zum Zeichen, daß einst er da gewesen und wieder Käme, der himmlische Chor einige Gaaben zurük, Derer menschlich, wie sonst, wir uns zu freuen vermöchten (V. 129-133).

Zu diesen Gaben gehört der mit der Nacht assoziierte Wein, der somit den Nachtkult durch die Anbindung an die heilige Vergangenheit legitimiert und zugleich mit einer auf die Zukunft gerichteten Dimension der utopischen Erwartung versieht. Diese Verknüpfung von Mythos und Erlösungsreligion wurde schon in Strophe 3 durch die Erwähnung des "kommenden Gottes" vorbereitet, in der man einen Hinweis auf die Lehren von Wiederkehr und Wiederauferstehen des Dionysos95 sehen konnte. Nun wird sie verstärkt durch die Ineinsbildung von Abendmahlssymbolik und Dionysosattributen.96 Brod ist der Erde Frucht, doch ists vom Lichte geseegnet, Und vom donnernden Gott kommet die Freude des Weins. Darum denken wir auch dabei der Himmlischen, die sonst Da gewesen und die kehren in richtiger Zeit, D a m m singen sie auch mit Ernst die Sänger den Weingott Und nicht eitel erdacht tönet dem Alten das Lob. (V. 137-142)

95 Vgl. Frank (1982: 268-270); jedoch "scheint dieser 'kommende Gott' mehr zu sein als der partielle Gott Bakchos von Theben, Enkel des Kadmos und Gegenstand kultischer Verehrung im Rahmen der Trieterica, die 'in heiliger Nacht' auf dem Parnassos und dem Kithairon begangen wurden; er scheint das Wesen des olympischen Göttertags in sich zusammenzufassen; d. h. in ihm, und nur in ihm - denn er allein unter allen Göttern wird erwähnt, Zeus nur als sein Vater - scheint die Substanz des Tages für die kommende Nacht gerettet und aufbewahrt." (285) 96 Nicht nur der Wein, sondern auch das Brot kann, vermittelt über Beziehungen zwischen Demeter und Dionysos, als dessen Attribut aufgefaßt werden; vgl. Frank (1982: 315317). Frank kommt zu dem Schluß: "In Brot und Wein, den Gaben der rituellen Kommunion der Gemeinde mit dem dagewesenen und wiederkommenden Gott, findet also die vollkommenste Verschmelzung und Versöhnung des griechischen Tages und der hesperischen Nacht statt." (317)

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Der Synkretismus97 der sich vielfältig überlagernden Anspielungen auf verschiedene Götter läßt auch die sonst sicheren Zuschreibungen vieldeutig werden. Ist mit dem "Weingott" wirklich Dionysos gemeint, oder: Ist damit nur Dionysos gemeint? Ist "unser Vater Aether" (95, V. 153f.) nicht auch der christliche Vatergott? Und wer schließlich ist derjenige, von dem es heißt: Aber indessen kommt als Fackelschwinger 18 des Höchsten Sohn", der Syrier, unter die Schatten herab (V. 155f.)?

Manfred Frank hat vorgeschlagen, diese systematisch erzeugte Uneindeutigkeit vor dem Hintergrund zeitgenössischer mythologiephilosophischer Spekulationen, v. a. Schellings, als Hinweis auf die versuchte Identifikation von Christus und Dionysos zu lesen: Das wäre also die Hölderlins Gedicht gewaltlos ergänzende Deutung, zu der man gelangt, wenn man Bruchstücke des zerstörten Gesprächs mit Hölderlin aus mythologischen Texten Schellings zu Rate zieht. Beide umkreisen sie die Möglichkeit, den im Mysterium verheißenen 'kommenden Gott' sowohl als (den dritten) Dionysos, d. h. als den Inbegriff und das Wesen des verwichenen Göttertages, als auch als das Kind in der Krippe, also als Christus zu deuten. (1982: 333f.)

Diese Möglichkeit ergibt sich jedoch nur aus einem Verständnis der Mythologie als Bewußtseinsprozeß im doppelten Sinne des genitivus subiectivus und obiectivus, den Schelling in der "Historisch-kritischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie" von 1842 als "tautegorisch" bezeichnet (SW II/l: 196) und als ein Zusammenfallen der objektiven und der subjektiven Seite des Prozesses beschreibt100:

97 Vgl. Szondi (1967: 322f.). 98 Hinweis auf Dionysos; aber wurden nicht auch bei frühchristlichen Versammlungen Fackeln getragen, da sie im Verborgenen, nachts oder in Katakomben stattfinden mußten? Hinweise auf den Mysteriencharakter des Frühchristentums finden sich bei Hölderlins Zeitgenossen häufig. Auch die Leuchte, der helle Schein, das Licht als Attribut lassen sich sowohl auf Dionysos als auf Christus beziehen; vgl. Frank (1982: 295f.). 99 Hinweis auf Christus; aber nach einem bestimmten Herkunftsmythos des Dionysos auch auf diesen. Die Interpretation dieses Mythos ist es, die bei Hölderlin zur "Ineinssetzung von Wein und Dichtung unter dem Zeichen des vom göttlichen Blitz gezeugten Menschensohns Dionysos" (Szondi 1975: 272) führt. Daher auch die Beziehung des Weins zum "donnernden Gott" (94, V. 138). Vgl. Frank (1982: 314f.). 100 Das Veröffentlichungsdatum liegt deutlich außerhalb der bisher eingehaltenen zeitlichen Grenzen der Darstellung; ihren Gegenstandsbereich überschreitet diese späte Deutung des mythologischen Prozesses jedoch nicht, da Schelling nur Spekulationen von ihm selbst oder anderer um 1800 auf den Begriff bringt. Uber seine späte Mythologie- und Offenbarungsphilosophie im Ganzen soll damit nichts gesagt sein. Es soll hier nur eine Formulierung aus Schellings Spätphilosophie herangezogen werden,

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Dichtung als "Neue Mythologie" Objectiv betrachtet ist die Mythologie wofür sie sich gibt, wirkliche Theogonie, Göttergeschichte; da indeß wirkliche Götter nur die sind, denen Gott zu Grunde liegt, so ist der letzte Inhalt der Göttergeschichte die Erzeugung, ein wirkliches Werden Gottes im Bewußtseyn, zu dem sich die Götter nur als die einzelnen erzeugenden Momente verhalten. Subjectiv oder ihrer Entstehung nach ist die Mythologie ein theogonischer Proceß. Sie ist 1) ein Proceß überhaupt, den das Bewußtseyn wirklich vollbringt, so nämlich, daß es in den einzelnen Momenten zu verweilen genöthigt ist, und stets im folgenden den vorausgegangenen festhält, also die Bewegung im eigentlichen Sinn erlebt. Sie ist 2) ein wirklich theogonischer Proceß, d. h. der sich herschreibt von einem wesentlichen Verhältniß, in dem es seiner Substanz nach, vermöge dessen es also überhaupt das natürlich (natura sua) Gott = setzende ist. (198)

Die tautegorische Deutung des Mythos versteht ihn also als die notwendige Entwicklung sowohl Gottes in verschiedenen Bewußtseinsstufen als auch des Bewußtseins von Gott in diesen Stufen. Beide Entwicklungsreihen sind nicht nur jeweils für sich notwendig, sondern auch füreinander, da Gott sich nur im Bewußtsein entwickeln kann, und das Gott-setzen zu den wesentlichen Bestimmungen des Bewußtseins gehört, ihm also nicht zufällig ist, sondern es erst als solches konstituiert. Deshalb muß das Bewußtsein, einmal aus dem natürlich-ursprünglichen Verhältnis zu Gott, aus der anfänglichen Einheit herausgetreten, in einem Prozeß zu dieser zurückkehren, der objektiv als Theogonie erscheint. Dieser Prozeß vollzieht sich in Stadien, die die jeweils vorangehenden integrieren, er folgt also denselben Prinzipien wie der organische Naturprozeß, dessen kontinuierliche Fortsetzung er darstellt. Im Kontext dieser Interpretation von Geschichte (in Form von Mythologie) mittels naturphilosophischer Entwicklungsschemata wird die typologische Beziehung von Dionysos und Christus (Dionysos als notwendige Vorstufe zu Christus, die die folgende im Keim schon enthält und in diese integriert wird) plausibel. Die poetische Identifikation beider mit einer Konfiguration ihrer Attribute, die diese Attribute zudem von den Namen der Götter befreit, für sich stehen läßt und sie vorzugsweise wieder mit ihrem naturhaften Ursprung in Beziehung setzt,101 geht jedoch als ästhetische Anwendung des Tautegoriekonzepts über dessen

um die Auffassung von Mythologie zu beschreiben, von der behauptet wird, daß sie als Hintergrund der hier vorgestellten Deutung der poetischen Verfahren in "Brod und Wein" vorausgesetzt werden muß. Die Spätphase Schellings fällt aus dem zeitlichen Rahmen dieses Teiles der Untersuchung heraus und wird daher selbst nicht behandelt. 101 Zur Ersetzung der Götternamen durch ihre naturhaften Attribute und der darin sich manifestierenden "Vormachtstellung der Natur" beim späten Hölderlin vgl. Szondi (1975: 244-249).

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reine Illustration weit hinaus. Wenn Gott wesentlich Prozeß ist, so ist jedes Stadium seiner Manifestation den anderen insofern gleichwertig, als es eben nur Durchgang zum nächsten ist und über sich hinausweist, auf den Prozeß als ganzen verweist.102 Also ist Gott immer ein Kommender, zugleich aber immer gegenwärtig als Angekündigter, und steht, indem er sich in einem Prozeß von dynamischen Widersprüchen verwirklicht, zugleich über diesen Widersprüchen. Ja! sie sagen mit Recht, er söhne den Tag mit der Nacht aus, Führe des Himmels Gestirn ewig hinunter, hinauf, Allzeit froh, wie das Laub der immergrünenden Fichte, Das er liebt, und der Kranz, den er von Epheu gewählt, Weil er bleibet und selbst die Spur der entflohenen Götter Götterlosen hinab unter das Finstere bringt. Was der Alten Gesang von Kindern Gottes geweissagt, Siehe! wir sind es, wir; Frucht von Hesperien ists! (94f., V. 143-150)

Der kommende Gott als der abendländische Gott, der Gott der Moderne macht aus denen, die seine Zeichen deuten können, auch in der Zeit der Götterferne ein Volk Gottes, eine Gemeinde, und sei es, daß diese zunächst nur aus seinen Evangelisten besteht, den Dichtern. Die Dichter sind diejenigen, die "in der Götter Nahmen / Theilnehmend fühlen" und die die Götter deshalb "brauchen", wie es in der "Rheinhymne" heißt (StA 2: 145, V. 112-114). "Brod und Wein" führt im Ton einer elegischen Klage, die sich mit einer hymnisch-visionären Sprechhaltung abwechselt, unter dem "Vorwand" einer argumentativen Erörterung der Möglichkeiten des "Teilnehmens" in der Antike und der Moderne dessen spezifisch moderne Form in nuce vor. Was Szondi in bezug auf "Friedensfeier" schrieb, gilt auch für "Brod und Wein": Es gehört zu dem von Hölderlin selbst bedachten Prozeßcharakter seiner Sprache, daß die im Eingang des Gedichts in naiver Anschaulichkeit genannten Phänomene auf einer späteren Stufe [...] reflektiert wiederkehren. (1978: 338)

Vergessen und Gedächtnis, Tag und Nacht, die Finsternis und das Haltbare, die Trunkenheit, der kommende Gott - all das wird schon in den ersten drei Strophen genannt. Es erscheint jedoch noch widerspruchsvoll und unzusammenhängend. Im nachhinein enthüllt sich dieser Eindruck als scheinbar, wenn offensichtlich wird, daß alle Wendungen, in denen diese Elemente in der ersten Strophentrias vorkommen, sich

102 Dem entspricht "eine fortschreitende Mythisierung der Welt; jeder Teil und Aspekt der Welt wird zur Erscheinung und Darstellung des Göttlichen." (Gaier 1971: 334)

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Dichtung als "Neue Mythologie"

nahtlos in den Gesamtzusammenhang des Gedichts einfügen. Der Text, der sich durchgängig als Rede an ein stummes, jedenfalls im Gedicht nicht zu Wort kommendes Gegenüber präsentiert, stellt die Offenbarung des kommenden Gottes, die er behauptet, zugleich dar. Die zunächst "in naiver Anschaulichkeit genannten Phänomene" schießen für den Sprecher und damit auch für den die Rolle des Angesprochenen einnehmenden Leser plötzlich zu einer Figur zusammen - eine inszenierte Epiphanie. Hölderlin hat in "Uber Religion" das poetische Verfahren als dasjenige beschrieben, durch das allein "dieser höhere Zusammenhang", der den Menschen "ihr heiligstes" ist, der religiöse Zusammenhang, der die physische und die moralische Welt umgreift, zur Vorstellung gebracht werden kann. Dies ist die Erklärung dafür, warum sie sich eine Idee oder ein Bild machen müssen, von ihrem Geschik, das sich genau betrachtet weder recht denken ließe noch auch vor den Sinnen liege (StA 4: 275). So wäre alle Religion ihrem Wesen nach poetisch. (281)

Das Gedicht setzt sich von der konventionellen Verwendung der Mythologie dadurch ab, daß es die Hierarchie von Attributen und verfestigten Göttervorstellungen umkehrt, durch Tilgung der Götternamen und Revitalisierung der attribuierten Bildfelder die "Außenbezüge" des Textes aufhebt bzw. uneindeutig macht und so konsequent einen weitgehend abgeschlossenen Textinnenraum erstellt und strukturiert, in den Elemente von außen nur durch ihre umfassende Transformation eintreten können. Der "kommende Gott" des Gedichts kann daher nicht mehr auf einen oder mehrere traditionelle Götter zurückgeführt (im Sinne von reduziert) werden, vielmehr sind die älteren Götter in ihm aufgegangen und integriert. Der selbstreferentielle Charakter dieses Textes und seines Gegenstandes, der darin besteht, sich gegen die "Außenwelt" abzuschließen und ein geschlossenes System zu bilden, das nur in sich einläßt, was ihm zuvor kompatibel gemacht wurde, widerspricht jedoch nicht der "Teilnahme", sondern soll sie erst ermöglichen. Denn er beruht auf dem Prinzip des sich im Gegensatz zu seiner Umwelt konstituierenden Organismus, der die früheren Entwicklungsstufen der Welt als fremde außerhalb von sich bestehen läßt und sie in sich als eigene in transformiertem Zustand aufnimmt. Nur durch diesen organischen Charakter kann das Gedicht den Weltprozeß noch einmal zur Darstellung bringen und damit "in der Götter Nahmen / Theilnehmend fühlen".

2. Jean Pauls "Flegeljahre" Der Zyniker dürfte eigentlich gar keine Sachen haben: denn alle Sachen, die ein Mensch hat, haben ihn doch in gewissem Sinne wieder. Eis kömmt also nur darauf an, die Sachen so zu haben, als ob man sie nicht hätte. Noch künstlicher und noch zynischer ist es aber, die Sachen so nicht zu habe[n], als ob man sie hätte. (Schlegel KA II: 171, Nr. 35)

2.1. Selbstreferentialität des Kunstwerks als Konsequenz des Programms der "Neuen Mythologie" Verschiebungen im System der philosophischen Disziplinen waren es, die zunächst zur Entstehung einer eigenen Disziplin "Ästhetik" und schließlich zu deren Aufstieg an die Spitze der philosophischen Systempyramide führten. Diese Entwicklung lief parallel mit der Emanzipation der vornehmlichen Gegenstände der Ästhetik, insbesondere der Literatur. Die Bestimmung der Disziplin bei Baumgarten und noch bei Kant läßt erkennen, daß Ästhetik Aufgaben erfüllen soll, die zuvor, etwa noch bei Leibniz, die Metaphysik bewältigen konnte. Deren Umwandlung zur Wissenschafts- und Erkenntnistheorie brachte einerseits eine durchgreifende Methodologisierung unter operationalen Gesichtspunkten mit sich und warf andererseits eine Reihe von Begründungsproblemen auf. Darunter litten Anschaulichkeit und Gewißheit der Repräsentation und damit Legitimation, die zu den Aufgaben von Philosophie gehört hatten. Anschaulichkeit und Gewißheit, die als intuitive Evidenz der "theoria", der "Schau" der Welt Kriterium für die Möglichkeit der Repräsentation von Welt und für deren Richtigkeit gewesen waren, spalten sich nun auf. Sie leben einerseits im eng umgrenzten Bereich apriorischen Wissens, des Transzendentalen Kants, und andererseits in der fiktionalisierten Form des "schönen Scheins" weiter. Damit ist jedoch eher ein Bedürfnis umschrieben als ein konkreter Begriff von Ästhetik gegeben. Ihre spezifische Gestalt bekam die Ästhetik der Jahre um 1800 durch ein Zusammenwirken zunächst recht un-

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Jean Pauls "Flegeljahre"

abhängiger Entwicklungen in der Geschichts-, Sprach- und Naturphilosophie, die man schlagwortartig als Übergang von statisch-substantialen zu dynamisch-funktionalen Denkmustern fassen kann. Die Geschichtlichkeit des Menschen hatte schon bei Lessing zur Notwendigkeit hermeneutischer Selbstverständigung geführt. Herder radikalisierte diesen Gedanken durch die These, der Mensch sei an Zeichen gebunden und produziere sich als Kulturwesen durch diese fortwährend und erfinderisch fortschreitend selbst. Solche Überlegungen konnten durch den neuen Organismusbegriff präzisiert und weitergeführt werden. Poetische Fiktion als freie, wenngleich durch vorangehende Zeichenbildungen motivierte Zeichenproduktion erschien nun als besondere Ausprägung des organischen Prinzips, das sowohl dem Weltprozeß, also der Natur- und Menschheitsgeschichte zugrundeliegt, als auch deren Erkenntnis ermöglicht. Diese Prozessualisierung des Naturbegriffs und die Transformation des Erkenntnisbegriffs von passiver Abbildung zu aktiv-poietischer Konstruktion erlaubte es, die Darstellungsfunktion von Kunst nicht mehr in der Reproduktion eines äußeren und fremden Objekts, sondern in der Fortführung des organischen Prozesses zu sehen. Nachdem das aristotelische Mimesiskonzept nach seiner restriktiven Anwendung v. a. im französischen Klassizismus im achtzehnten Jahrhundert zunehmend ausgeweitet und mit dem Beginn der Genieästhetik im Sturm und Drang völlig zurückgedrängt worden war, wurde es nun unter dem Namen der "Darstellung" wieder in seine alten Rechte eingesetzt. Durch den Kontext der neuen Naturvorstellung veränderte sich seine Bedeutung jedoch entscheidend. Dabei enthält die neue, organizistische Deutung die alte, abbildtheoretische in sich und bildet einen übergeordneten Rahmen für letztere. Da Erkenntnis nach dem Modell von Austauschprozessen zwischen Organismen und ihrer Umwelt gedacht wird, versteht man sie als Aufnahme eines äußeren Objektes in Form eines Abbildes, die dieses Abbild aber sogleich in den internen Zusammenhang des Organismus integriert und dadurch transformiert. Das Objekt außerhalb des Organismus kann mit seiner Repräsentation im Organismus nicht identisch sein, da der Organismus gerade dadurch definiert ist, daß er sich von einem reinen Aggregat seiner Bestandteile, die sämtlich aus seiner Umwelt stammen und dort auch getrennt für sich vorkommen, eben durch seine spezifische Organisation dieser Bestandteile unterscheidet. Da das äußere Objekt zugleich Element einer früheren Stufe des organischen Prozesses ist, wiederholt seine Erkenntnis die Entwicklung

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fortschreitender Integration von aufeinander aufbauenden Prozeßebenen, die sich inzwischen vollzogen hat. Diese wiederholende Darstellung überschreitet als weiterer Integrationsakt jedoch schon wieder den durch die dargestellte Entwicklung zuvor erreichten Punkt. Mimetischer Nachvollzug und poietische Weiterkonstruktion sind unauflöslich miteinander verknüpft. Die Einbeziehung des Vergangenen sichert die "Wahrheit" des Neuen historisch ab, das Neue erhält umgekehrt dem Vergangenen durch seine transformative Leistung seine aktuelle Gültigkeit. Das Wahrheitskriterium, das, solange man von einem äußeren Zusammenhang des Denkens mit der Objektwelt ausging, in der Korrespondenz beider bestand, erscheint nun in bezug auf die Kontinuität des organischen Prozesses als Kohärenz, als innere Stimmigkeit seiner Darstellung. Wie sich dieser Aufstieg des Kohärenzbegriffs schon in der Ästhetik Baumgartens im Zusammenhang mit der Veränderung des Vollkommenheitsbegriffs andeutete und bei Kant fortsetzte, ist in Abschnitt 1.2.1 gezeigt worden. Anhand von Schlegels "Rede über die Mythologie" und Hölderlins "Brod und Wein" sollte demonstriert werden, zu welchen Auswirkungen das Kohärenzkriterium in der theoretischen Forderung an Literatur wie in der poetischen Praxis führt. Sie sind in der Formel "Neue Mythologie" kondensiert. "Mythologie" steht für die Kontinuität mit früheren menschheitsgeschichtlichen Bewußtseinsstufen, die untereinander Strukturanalogien aufweisen und durch ihre Integration in die "Neue Mythologie" deren innere Strukturierung verstärken. "Neu" steht für die Absetzung sowohl von der zeitgenössischen Gegenwart als auch von den historischen Situationen, in denen die älteren Mythologien standen, und bewirkt die Geschlossenheit der "Neuen Mythologie" nach außen. Starke innere Strukturierung und Abgeschlossenheit nach außen ergeben zusammen erhöhte Kohärenz. Dichtung als "Neue Mythologie" soll also das Material, das sie sich aneignet, in einen eigengesetzlichen Bezugsrahmen überführen, in dem sowohl die integrierten Elemente als auch die verwendeten einzelnen Kombinationsregeln ihren eigenständigen Charakter völlig verlieren. Als Teile des Kunstwerks beziehen sie sich nur noch auf dieses, auf seinen Gesamtzusammenhang, nicht mehr auf die Kontexte, aus denen sie herausgelöst wurden. Auf diese verweisen sie nur noch, als Indizes ihrer eigenen Herkunft, indem sie zugleich ihre Getrenntheit von ihnen anzeigen. Die Kohärenz in der organischen Einheit des Kunstwerks leitet sich von diesem seinem selbstreferentiellen Charakter her. Dieser ist jedoch gerade die Voraussetzung für seine Darstellungsleistung und mithin für

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Jean Pauls "Flegeljahre"

die Erfüllung seiner Orientierungs- und Legitimationsfunktion, da er allein es ihm ermöglicht, den vorangegangenen Prozeß zu erfassen und extrapolierend einen diesen überschreitenden neuen Zustand zu entwerfen. Nachdem mit Hölderlins "Brod und Wein" ein literarischer Text als praktische Anwendung dieses theoretischen Konzepts gelesen wurde, soll nun aus Jean Pauls "Flegeljahren" (1804) eine poetische Problematisierung dieser programmatischen Funktionsbestimmung von Literatur entwickelt werden. Es ist mein Ziel, nachzuweisen, daß sich in den "Flegeljahren" die Strukturierung eines Leseprozesses aufzeigen läßt, die den Leser zunächst dazu anhält, sein Leseverhalten an gewissen historisch zeitgenössischen Vorgaben zu orientieren, um sodann die daraus sich ergebende Funktion von Literatur zu thematisieren und die diesem speziellen Wechselverhältnis von Lesehaltung und Funktionszuweisung immanenten Unstimmigkeiten und Probleme zum Vorschein zu bringen. Die Interdependenz von Lesehaltung und zugrundeliegendem, für den Leser immer nur hypothetisch erschließbarem Schreibprozeß wird somit als der eigentliche "Gegenstand" des Romans gesehen, und der den Roman tragende Gegensatz der beiden Hauptfiguren auch als Widerstreit zweier Literaturauffassungen verstanden, die in ein höchst komplexes Verhältnis zueinander treten. Die "Flegeljahre" wurden eben deshalb ausgewählt, weil dieser Aspekt in ihnen durch die Verknüpfung der speziellen Konstellation der beiden Helden und der Beziehung des "Romans im Roman" zum Gesamtroman in einzigartiger kompositorischer Geschlossenheit und damit auch Vielschichtigkeit auftritt. Es soll hier nicht der Frage nachgegangen werden, ob und in welcher Weise Jean Paul explizit zu den im ersten Teil behandelten Theorien Stellung genommen hat. Meiner Einschätzung nach lassen sich weder aus seinen theoretischen Äußerungen dazu eindeutige Positionen erschließen, noch kann man Jean Pauls Ästhetik bruchlos auf sein literarisches Werk beziehen.1 Auch Letzteres für sich genommen läßt sich nur gewaltsam auf einen "klassischen" oder "romantischen" Nenner bringen, obwohl Hinweise in beide Richtungen nicht schwer zu finden sind und von der Literaturwissenschaft auch aufgenommen wurden. 2 Ausgangspunkt für die

1 2

S. Kapitel 2.4. Jochen Schmidts Einschätzung ist zuzustimmen: "Eis lassen sich viele Belege anführen, die Jean Pauls antisubjektivistische und antiromantische Orientierung auf Lebensrealität und konkrete Daseinserfahrung demonstrieren. Andererseits erscheint er als romantischer Erzphantast und Anwalt einer omnipotenten Innerlichkeit. Je nach

Selbstreferentialität d e s Kunstwerks

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folgenden Überlegungen ist vielmehr die Überzeugung, daß die Ambivalenzen in Jean Pauls Werk, wie immer sie auch historisch-biografisch zu erklären sein mögen, nutzbar gemacht werden können für eine Kritik des Selbstbezüglichkeitspostulats, die für Jean Paul weder auf theoretischer Ebene durchführbar gewesen wäre noch in eine diskursiv formulierte Ästhetik einmündete. Grundlegende Orientierung für die Beschreibung der Erzählweise Jean Pauls boten Rasch (1961) und Wölfel (1966), für die Rolle der Erzählinstanz Lindner (1976) und Wölfel (1984). Sehr konzentriert und dabei differenziert entwickelt Birus (1986) aus Goethes "Vergleichung" eine Darstellung der Schreibweise Jean Pauls.3 Die Herkunft des enzyklopädischen Materials im literarischen Werk und in der "Vorschule der Ästhetik" verfolgen Proß (1975), Götz Müller (1983), Rankl (1987) und Gerabek (1988), die Rolle der "Buch der Natur"-Vorstellung Ohly (1981), jedoch ganz im Sinne wissenschafts- und literaturhistorischer Rekonstruktion, so daß die genannten Veröffentlichungen nur für inhaltliche Detailfragen nutzbar gemacht werden konnten. 4 Jochen Schmidt (1985: 1,430-450) umreißt die Stellung des Entwicklungs- und Geniekonzepts im "Titan" und den "Flegeljahren". Die Studien zu den "Flegeljahren" von Herman Meyer (1963) und Neumann (1966) bieten textimmanente Analysen, denen zahlreiche Hinweise entnommen werden konnten. 5 Maurers Monografie (1981) bringt hier wenig Neues und bleibt trotz einiger Anleihen bei neueren Theorieansätzen traditioneller Interpretationspraxis verhaftet, die jedoch häufig ins Spekulative abgleitet. Schüttpelz hat in seiner Rezension (1986: 157f.) die Betonung der Selbstreferenzphänomene durch Maurer anerkennend hervorgehoben, die Klärung ihrer Funktion aber als Postulat bezeichnet, ähnlich wie schon Schlaffer 6 . Ihre Bemer-

Standort und Perspektive betonen die Interpreten die e i n e o d e r die andere T e n d e n z . [...] D a s Ergebnis ist die e b e n s o ratlose wie literaturgeschichtlich kanonisierte Etikette 'Zwischen Klassik und Romantik'." (1985: I, 431f.) 3

D i e s gilt jedoch nur für die e h e r handwerklichen A s p e k t e d e s V o r g e h e n s Jean Pauls und kann nicht über die Hypertrophie und Vagheit hinweghelfen, die Birus' Buch insgesamt prägen; vgl. Schlaffer (1987).

4

Zur Kritik an der v o n Proß und auch Rankl v o r g e n o m m e n e n Historisierung Jean Pauls vgl. die Kritik Sprengeis (1976) in seiner R e z e n s i o n zu Proß.

5

In methodischer Hinsicht ist jedoch die Kritik Schlaffers (1967) in seiner R e z e n s i o n zu N e u m a n n zu unterstützen.

6

"Die prinzipielle Frage, wieweit Poesie an sich G e g e n s t a n d und Sinn dieser D i c h t u n g ist, [...] bedürfte noch weiterer Klärung." (Schlaffer 1967: 174)

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Jean Pauls "Flegeljahre"

kungen dienten als Anregung, ebenso die Thesen von Pott (1989) zur "biographisch-testamentarischen Form des Romans bei Jean Paul". 7

2.2. Der Beginn der "Flegeljahre" Die "Flegeljahre" beginnen mit der Geschichte ihrer Entstehung. Das erfährt der Leser aber erst im nachhinein. Zunächst muß ihm die für das Städtchen Haßlau höchst außergewöhnliche Eröffnung des Testaments des reichsten Mannes des Ortes, van der Kabel, als ganz normaler Romananfang erscheinen, aus dem sich wohl die weitere Handlung entwickeln wird. Das tut sie dann auch. Doch gleichursprünglich mit ihr - oder ihr sogar um ein Weniges vorausgehend - ist die Erzählung der Handlung. Denn das Testament gibt nicht nur dem Romanhelden Gottwalt Harnisch die Erfüllung seiner Bedingungen auf und bestimmt damit dessen weiteren Lebensweg im Verlauf des Romans, sondern fordert auch einen Beschreiber dieses Lebensweges, dessen Stelle ein gewisser J. P. F. Richter 8 einnimmt. Für den Leser stellt sich nun heraus, daß das soeben gelesene erste Kapitel mit der Testamentseröffnungsszene bereits die erste Lieferung der Geschichte Gottwalts und der Testamentserfüllung ist, wobei der Autor des Kapitels in seinem Verlauf erst eingesetzt wird. Der absurde Zirkel, der dadurch in der Leseerfahrung entsteht, kann hier noch durch die nachträgliche Konstruktion des Geschehensverlaufs aufgehoben werden. Daß er kein "Versehen" ist, zeigt jedoch sogleich die Wiederholung derselben Figur im zweiten Kapitel. Es besteht aus einem Brief des "Autors" an den Stadtrat von Haßlau, in dem er sich für seine Bestallung bedankt und einige Bemerkungen zu dem zukünftigen Werk macht, nebst dem zweiten Kapitel, "das aus einer Kopie des gegenwärtigen Briefes, für die Leser, bestehen soll." (F 2/594) 9 Doch, wie der "Autor" schließlich richtig bemerkt: "Die im Briefe an die Exekutoren versprochene Kopie

7

Vgl. auch Pott (1990). Einen Überblick über die Rezeption der "Flegeljahre" von ihrem Erscheinen bis 1979 bietet Wiethölter (1981: 163-170). Wiethölter gibt eine sozialpsychologische Deutung des Romans, die den sozialhistorischen Ansatz von Gansberg (1968) weiterführt.

8 9

Er wird im folgenden im Unterschied zum Autor Jean Paul als "Autor" bezeichnet. Jean Paul wird mit Sigle WW und Abteilungs-, Band- und Seitenzahl zitiert nach den von N. Miller edierten "Werken", die "Flegeljahre" nach Band 1/2 dieser Ausgabe (3. Aufl. 1971) nur mit Sigle F und Angabe der Kapitelnummer und Seitenzahl.

Der Beginn der "Flegeljahre"

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desselben für den Leser ist wohl jetzt nicht mehr nötig, da er ihn eben gelesen. (F 2/597) Überdies befürchtet der "Autor", daß der Textumfang jedes Maß übersteigen könnte und so "ein Werk herauskäme, das sich länger ausstreckte als alle meine opera omnia (inclusive dieses) zusammengenommen." (F 2/594) Diese Häufung von Selbstbezüglichkeitsphänomenen schon auf den ersten Seiten des Romans, die den Leser ganz gezielt in logische Absurditäten treiben, verleiht dem Zirkel im ersten Kapitel zusätzliche Bedeutung. Die Fiktion einer Entstehungsgeschichte des Textes, die diesem üblicherweise gerade seinen fiktionalen Charakter nehmen, seine Abhängigkeit von einem realen Geschehen erweisen soll, verkehrt sich in ihr parodistisches Gegenteil. Ihre eigene paradoxe Struktur wird erfahrbar, die darin besteht, daß der Text immer schon begonnen haben muß, damit seine Vorgeschichte in ihm erzählt werden kann, die seine Entstehung doch erst begründen kann. Der tatsächliche Schreibprozeß liegt immer vor dem Text, wenngleich er seine Legitimation erst aus Letzterem erhalten kann. Beide sind somit aufeinander bezogen und gegensätzlich zugleich, was der "Autor" in bezug auf die "Flegeljahre"10 metaphorisch so ausdrückt: sie sollen "ein kleiner Supplementband zum Buche der Natur werden und ein Vorbericht und Bogen A zum Buche der Seligen" (F 2/595). Darin steckt nicht nur eine im Grunde eher anmaßende Bescheidenheitsgeste, sondern mit den Termini "Supplementband" und "Vorbericht und Bogen A" tritt der reale Schreib- und Veröffentlichungsprozeß, hier sogar unter einem Verlags- und drucktechnischen Aspekt gesehen, in einen komischen Kontrast zu dem idealen Anspruch des Textes, der sich in einer gespielt unterwürfigen Nähe zu höchst autoritativen Texten wie dem "Buche der Natur" und dem "Buche der Seligen" manifestiert. Dafür, daß Selbstbezüglichkeitsphänomene etwas mit den Beziehungen zwischen Autorrolle, Schreibprozeß und Anspruch und Funktion des Textes zu tun haben könnten, gibt es weitere Hinweise im ersten Kapitel. Van der Kabel vererbt Gottwalt sein Vermögen unter der Bedingung, daß Walt in einer Art "Imitatio" van der Kabels Leben nachlebt, indem er für analoge Zeitspannen dieselben Tätigkeiten ausübt wie dieser. Dafür soll Walt außerdem den eigentlichen Namen van der Kabels erhalten, den dieser zugunsten des Namens seines Adoptivvaters van der Kabel aufgegeben hatte: Friedrich Richter. Das Versteckspiel mit dem Namen

10 Eigentlich müßten hier doppelte Anführungszeichen gesetzt werden!

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Jean Pauls "Flegeljahre"

des Autors Jean Paul wird dadurch auf die Spitze getrieben, daß der "Autor" J. P. F. Richter sich einerseits mit "Legationsrat" unterschreibt, der der Autor Jean Paul zur Zeit der Entstehung der "Flegeljahre" tatsächlich war, und andererseits erwägt, daß er "vielleicht mit dem sei. Van der Kabel, sonst Richter, selber verwandt" sei (F 2/595). Die so entstehende Verwirrung macht nicht nur die Fiktion der Nicht-Fiktionalität des Textes noch unplausibler und brüchiger, sondern läßt gerade Zusammenhänge in den Blick treten, die zu verdecken derartige Fiktionen sonst zur Aufgabe haben. Die Herstellung von Ähnlichkeiten bei gleichzeitiger Betonung der Nicht-Identität zwischen verschiedenen Textinstanzen ist die Bedingung der Möglichkeit von Projektionen einer Instanz auf die andere und gibt diesen Projektionen erst ihren Sinn und damit eine Begründung. Das Angebot an die Leserinstanz, sich - positiv oder negativ - mit dem Helden zu identifizieren, die Möglichkeit für den Autor, sich in den Helden zu projizieren, die unter der Annahme dieser Möglichkeit entstehende weitere Möglichkeit für den Leser, sich, vermittels einer Identifizierung mit dem Helden und dessen mit dem Autor, selbst mit dem (imaginären) Autor zu identifizieren - all dies wird nur möglich durch analoge Strukturen zwischen den Instanzen (mit auffüllbaren Leerstellen), aber es macht auch nur Sinn, wenn die Instanzen letztlich nicht identisch sind. Nur der Uberschuß an Beziehungsmöglichkeiten in der jeweils anderen Instanz macht den Mehrwert der Projektionsoperation aus.11 Die Beziehung der eigenen Person und Geschichte auf eine fremde Lebensgeschichte, die in anderen, höherwertigen Zusammenhängen steht, verschafft einen Abglanz, zumindest eine Ahnung von diesem Bereich - sei es der des mythischen Helden, des Heiligen, der vollendeten Persönlichkeit oder des genialen Autors. Die negative Identifikation verläuft analog, indem die abgelehnte Bezugsinstanz ein positives Gegenbild hervorruft, auf das sich dann die Projektionen richten.

11 Jean Paul hat dies in einer Fußnote im 45. Zykel des "Titan" so zum Ausdruck gebracht: "Es kann mir nicht vorgeworfen werden, daß ja die Szenen meines Buchs wirklich erlebte wären und daß man keine bessere zu erleben wünschte; denn in der Darstellung der Phantasie nimmt die Wirklichkeit neue Reize an, Reize, mit welchen auch jede andere zurückgewichene Gegenwart magisch die Erinnerung durchschimmert. Ich berufe mich auf die Empfindung des Personales selber, das im Titan handelt, ob es nicht in meinem Buche - wenn es anders darüber gerät - an den abgemalten Szenen, die doch seine eignen sind, einen höhern Zauber findet, der den wirklichen abging, und ders freilich machen könnte - aber ganz mit Unrecht -, daß das Personale wünscht, sein eignes Leben zu - erleben." (WW 1/3: 221)

Der Beginn der "Flegeljahre"

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Die Infragestellung der Grenzen zwischen den Instanzen, die hier von der Seite der Autorinstanz her inszeniert werden, verdeutlicht die Möglichkeit der Identifikation, läßt aber an ihrem Sinn zweifeln. Erweist sich die Projektionsoperation als phantasmatische Handlung innerhalb einer Instanz, so ist sie eben jener Selbstbezüglichkeit verfallen, zu deren Uberwindung sie beitragen soll, entspringt sie doch dem Bedürfnis nach Orientierung und Begründung außernalb des eigenen Selbst. 12 Das Spiel mit Autor- und Erzählerrolle allein wäre jedoch so ungewöhnlich nicht. Es hat im achtzehnten Jahrhundert eine reiche Tradition.13 Die Kommentierung und Relativierung der Geschichte durch den Erzähler muß die Projektionsmöglichkeiten keineswegs aufheben. Im Gegenteil kann es der Fall sein, daß sie bestimmte Applikationsschemata überhaupt erst hervortreten läßt. So erhält im vorliegenden Fall der Leser durch die Situierung der Geschichte mittels des Testaments, das gewissermaßen ihr "Programm" darstellt, immerhin den Hinweis, wer der Held ist und welcherart seine Geschichte sein dürfte. Walt wird von seinem väterlichen Gönner die Aufgabe gestellt, seinen Lebenslauf in nuce nachzuvollziehen. Dies ist, obwohl als "spaßhaft und leicht" (F 1/589) bezeichnet, sicher nicht ohne Hintergedanken, ist Walt doch von van der Kabel kurz zuvor als "ein etwas elastischer Poet" (F 1/588) und überhaupt recht lebensuntüchtig gekennzeichnet worden. Die pädagogische Absicht der Testamentsbedingungen ist unverkennbar. In ihrer Forderung nach dem Durchlaufen verschiedenster Berufe, die vielfältige Tätigkeiten, Kontakte mit den unterschiedlichsten Menschen und insgesamt die konzentrierte Aneignung der Erfahrung eines ganzen

12 Vgl. Pott (1989: 40f.). 13 Zur Einordnung Jean Pauls in diese Tradition vgl. Lindner (1976), der in bezug auf das Hervortreten der Erzählerinstanz zwischen "objektiv-auktorialen Aufklärungsromanen" wie Fieldings "Tom Jones" und Wielands "Agathon", in denen "Leserlenkung und Leserschulung [...] gerade im Dienst einer ungestörten Lektüre stehen" (73), und "Diskursromanen" wie Sternes "Tristram Shandy" und Diderots "Jacques le fataliste" unterscheidet, in denen "Kommunikation als gestörte Kommunikation auf der Diskursebene thematisiert wird" (74). Jean Paul setzt die Tradition der Letzteren in Auseinandersetzung mit "der allgemeinen Entwicklungstendenz zur Autonomisierung der Kunst am Ende des 18. Jahrhunderts - also der Koppelung von organischer Werktotalität und Geniekonzeption -" (76) fort. "Gerade die Entwicklung Jean Pauls vom räsonierenden Satiriker zum auktorialen Romanautor zeigt den Prozeß der Verinnerlichung und Fiktionalisierung aufklärerischer Kommunikationsformen, aber auch der Verarbeitung dieses Prozesses in der literarischen Fiktion selbst." (77)

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Jean Pauls "Flegeljahre"

Lebens versprechen, präsentieren sie sich als Erziehungsprogramm im Sinne einer Entwicklung zur allseitig gebildeten Persönlichkeit. Ein naiv-idealischer Held, der einen Prozeß durchläuft, in dem Welterfahrung und Persönlichkeitsbildung ineinander greifen und schließlich, nun jedoch geläutert und gereift, am gesteckten Ziel ankommt (der von Walt erstrebten Pfarrerstelle und zugleich der Erfüllung des Testaments) - dies ist für den zeitgenössischen Leser ein deutlicher Hinweis auf das Muster des Bildungsromans. Überdies steht Walt in einer Linie mit den anderen "hohen" Jean Paul'schen Gestalten, so auch mit Albano, dem Helden des "Titan". Der letzte große Roman vor den "Flegeljahren" ist das Zeugnis der größten Annäherung Jean Pauls an die Weimarer Klassik, nicht nur durch die Bemühung um einen "objektiven" Erzählstil, sondern auch in der thematischen und kompositorischen Nähe zum "Wilhelm Meister".14 Unternimmt es der Leser nun, die "Flegeljahre" als einen erneuten Versuch Jean Pauls zu einem Bildungsroman zu lesen, so stößt er auf Schwierigkeiten. Die erste ist die Offensichtlichkeit des Programms im Roman, die der Forderung an Erziehung widerspricht, nur die Selbstverwirklichung des Individuums zu unterstützen, so daß sich der subjektive Entwicklungsprozeß erst im nachhinein auch objektiv als Erziehung darstellt und das, was zunächst als zufälliger Umstand erschien, seine katalytische Funktion offenbart. Außerdem ist die Reihenfolge der Aufgaben in doppeltem Sinne zufällig. Sie läßt kein ordnendes Prinzip erkennen, und ihre Veränderung ist Walt völlig freigestellt. Die Zweifel am Bildungskonzept werden durch den weiteren Verlauf der Handlung bestätigt. Sie bleibt Walts Charakter völlig äußerlich, eine Entwicklung wird nicht ersichtlich.15 Die durch das angebotene Lese- und Deutungsmuster "Bildungsroman" geweckten Erwartungen werden also enttäuscht, ohne daß ein neues Muster zur Verfügung gestellt würde. So bleibt dieses Muster als Hintergrund der weiteren Leseerfahrungen bestehen. Die Frage ist nun,

14 Zum letztlichen Scheitern der Annäherung an den klassischen Bildungsroman auch im Titan" vgl. Schmidt (1985: I, 433-446). Einen Vergleich der "Flegeljahre" mit dem Titan" im Hinblick auf die Bildungsromankonzeption führt Gerhart Mayer (1976) durch. 15 Jochen Schmidt bezeichnet die "Hegeljahre" als "genialische Vereitelung eines vernünftigen Erziehungsromans": "Daß Walts Traumseligkeit nicht nur des testamentarisch verordneten Korrekturprogramms spottet, sondern auch, trotz aller Relativierungen, gegen alle Berührungen von außen am Ende wie gefeit erscheint, deutet auf ihre existentielle Unbesiegbarkeit." (1985: I, 446 u. 447f.)

Figurenkonstellation

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ob die Abweichungen von diesem Muster eine gewisse Signifikanz gewinnen, sich von ihrem Hintergrund in einer Weise abheben, die sie als bestimmte Figur erkennbar machen. Das soll zunächst an der Rolle des Helden untersucht werden, deren Ausgestaltung sich in der Figur Walts nicht erschöpft.

2.3. Figurenkonstellation Nach der Charakterisierung durch van der Kabel ist der nächste Baustein zu einem Bild von Walt dessen Wunschphantasie "Das Glück eines schwedischen Pfarrers", die ein idyllisches Leben entwirft, in dem ein Tag vom anderen "vielleicht um kein Blütenblatt verschieden ist." (F 3/602) Den erläuternden Rahmen zu diesen einzelnen Elementen liefert schließlich die "Vorgeschichte" in Kapitel Nr. 5. Walts Vater, ein begeisterter, aber wenig geschäftstüchtiger Jurist, und seine resolute Mutter - im Gegensatz zu ihrem Mann "eine gesunde Vernunft in corpore" (F 5/609) - leben im halb fürstlichen, halb ritterschaftlichen Elterlein in einem Haus, das genau auf der Landesgrenze steht, als Walt geboren wird. Das Kindbette hatt' [der Vater] ins ritterschaftliche Territorium geschoben, weil es einen Sohn geben konnte, den man durch diese Bettstelle der Bettstelle den landesherrlichen Händen entzog, die ihm eine Soldatenbinde umlegen konnten statt der schon bestimmten Themisbinde. In der Tat trat auch der Held dieses Werkes, Peter Gottwalt, ans Licht. Aber die Kreißende fuhr fort; der Vater hielt es für Pflicht und Vorsicht, das Bette dem Fürsten zuzuschieben, damit jeder sein Recht bekomme. 'Höchstens gibts ein Mädchen', sagte er, oder was Gott will.' Es war keines, sondern das letztere; daher der Knabe nach des Kandidaten Schomakers Übersetzung den Namen des Bischofs von Karthago unter Geiserich, nämlich Quod Deus vult, oder Vult im Alltagswesen bekam. (F 5/611)

Die Brüder, die somit füreinander Ausländer sind, entwickeln sich in entgegengesetzte Richtungen. Der träumerische, zarte Walt wird von allen nur einer Laufbahn für fähig gehalten, der eines Pfarrers. Also soll der kräftige, spielerisch-verschlagene Vult die Nachfolge des Vaters als Jurist antreten. Beider horizontale Polarisierung bei der Geburt wird metaphorisch durch eine vertikale ergänzt: Also Gottwalt wurde auf die Himmelsleiter gesetzt als zukünftiger Pfarrer und Konsistorialvogel; Vult aber mußte sich die Grubenleiter in die delphische Rechtshöhle zimmern, damit er ein juristischer Steiger würde (F 5/613).

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Die Revitalisierung der Metapher "Vogel" durch die Zusammenstellung mit "Himmel" und das Verb "gesetzt werden" bringen sehr gut das naturhaft-selbstgenügsame und zugleich passive Wesen Walts zum Ausdruck, im Gegensatz zum handwerklich-technischen, virtuos-ingeniösen Naturell Vults, der die Tätigkeiten des Zimmermanns und des Bergmanns aktiv verbindet. Doch Vult entzieht sich der ungeliebten Juristerei kurzerhand durch Flucht, so daß der Vater seine Hoffnungen wieder in Walt setzen muß. Der läßt sich durch alle Reden des Vaters nicht bewegen, jedoch durch die Mutter, die sich an seine Einbildungskraft wendet: 'Mein Gottwalt, ich kann dich nicht zwingen, daß du dem Vater folgst; aber höre mich an: das erstemal, wo du predigst, so tue ich meinen Trauerrock an und die weißen Tücher um und gehe in die Kirche und bücke mich unter der ganzen Predigt wie bei einer Leichenpredigt mit dem Kopfe nieder und weine, und wenn mich die Weiber fragen, so zeig' ich auf dich.' - Dieses Bild packte seine Phantasie so gewaltsam an, daß er weinend Nein Nein schrie - womit er das Trauer-Verhüllen meinte - und Ja Ja zum Advozieren sagte. (F 5/615)

Daß in Walt eher die Phantasie als der Intellekt bestimmend ist16, zeigt sich aber meist weniger durch äußere Einflußnahme als durch eine extreme affektive Selbstbezogenheit. So wird kurz zuvor berichtet: Nahm er nicht einmal an einem Winterabend ein Gesangbuch unter den Arm und stattete, wie der Pfarrer, bei einer ihm ganz gleichgültigen, arthritischen, steinalten Schneidersfrau einen ordentlichen Krankenbesuch ab und fing an, aus dem Liede 'O Ewigkeit, du Freudenwort' ihr vorzulesen? Und mußt' er nicht schon bei dem zweiten Verse den Aktus einstellen, weil ihn Tränen übermannten, nicht über die taube, trockne Frau, sondern über den Aktus? (F 5/614)

Die Selbstaffektion durch das Ritual, in dem er in seiner Pfarrerrolle gerade eine für andere repräsentative und damit trostspendende und kathartische Funktion übernehmen sollte, verhindert ihn an dessen Ausführung. Ist Walt selbstbezogen, aber im isolierten Raum seiner Imagination auch sich selbst genügend, so ist Vults satirischer Humor in negierender Weise immer auf die Außenwelt bezogen, ohne dieser etwas Positives entgegensetzen zu können.17 Wenngleich ein begnadeter Schauspieler,

16 Die Phantasiegesteuertheit Walts betont Maurer (1981). Zur zitierten Stelle vgl. 16f., zur gegenüber der Außenwelt isolierenden Wirkung der poetischen Imagination bes. 5157. 17 Gansberg (1968) sieht in Walt und Vult "das utopisch-imaginative und das satirischkritisierende Wirklichkeitsverhältnis zum Widerspruch vereinigt" und darin den "Widerspruch im Bewußtsein der deutschen bürgerlichen Intelligenz" dargestellt (397).

Figurenkonstellation

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kann er nicht einmal den von ihm erzeugten Fiktionen und Illusionen eine gewisse Beständigkeit verleihen, denn "er hatte den Fehler, nichts so sehr zu lieben - das Bezaubern ausgenommen - als Entzaubern darauf (F 17/ 697).18 Das hängt mit seinem Abscheu vor dem Auskosten von Sentimentalitäten zu tun. So weicht er aus, "um zwei Herzens-Ergießungen aus dem Weg zu gehen, wobei nach seiner Überzeugung nichts Geringeres als es selber ersoff." (F 32/810f.) Gerade seine technische Virtuosität gestattet ihm Einsichten in die Begrenztheit poetischer Imagination, da sein metaphorischer Witz ihn nicht bei der Gestaltung in sich stimmiger, "schöner" Bilder stehen läßt, sondern zügellos immer weitertreibt und zu Formulierungen wie der folgenden führt: 'O, reiner starker Freund [zu Walt], die Poesie ist ja doch ein Paar Schlittschuh, womit man auf dem glatten reinen kristallenen Boden des Ideals leicht fliegt, a b e r miserabel forthumpelt auf gemeiner Gasse.' ( F 15/683)

Die Kontrastierung satirischen Humors mit idealischer Empfindsamkeit kann man in Jean Pauls Werk seit dem Ende seiner rein satirischen Frühphase finden.19 Daß das Sentimentalisch-Romanhafte zunächst wohl überhaupt nur aus Rücksicht auf den Lesergeschmack aufgenommen wurde, davon lassen sich noch Spuren im wiederholten Spott über die "Leserinnen" finden, die alles, was nicht direkt zum Fortgang der Handlung beiträgt, überspringen.20 Das Pendant hierzu ist die Verachtung Vults für ein nur an oberflächlichen Effekten interessiertes Konzertpublikum. '[...] das ist Jammer, daß ich in Konzertsälen, wo doch j e d e r bezahlt, mit solchem Recht erwarte, er werde für sein Geld etwas empfinden wollen; allein ganz umsonst. Sondern damit das Klingen aufhöre ein paarmal und endlich ganz, - deswegen geht der N a r r hinein. Hebt noch etwas den Spießbürger e m p o r am Ohr, so ists zwei-, höchstens dreierlei: 1. wenn aus einem halbtoten Pianissimo plötzlich ein Fortissimo wie ein R e b h u h n

18 Das wirkt sich auch auf sein Verhältnis zum anderen Geschlecht aus, auf das die zitierte Stelle direkt bezogen ist, an d e r es weiter heißt, er habe "besonders die Sucht, Weiber, wie ein elektrisierter Körper leichte Sachen, anzuziehen, um sie abzustoßen." Vult selbst beschreibt den Unterschied zwischen den beiden Brüdern in ihrer Beziehung zu Frauen später so: "Für jeden ist eine Frau freilich etwas anderes: f ü r den einen Hausmannskost, für den Dichter Nachtigallenfutter, für den Maler ein Schauessen, f ü r Walten Himmelsbrot und Liebes- und Abendmahl, für Weltmenschen ein indisches Vogelnest und eine pommersche Gänsebrust - kalte Küche für mich." ( F 56/1001) 19 Préaux (1986) macht auch persönliche G r ü n d e d a f ü r verantwortlich, daß " n u n m e h r zwei einander widersprechende Schreibweisen, nämlich die satirische, distanzierende, absondernde und die empfindsame, gefühlvolle, nach Bindung strebende, sein literarisches Schaffen beherrschen." (100) 20 Beispiele bei Rehm (1964: 25-29).

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Jean Pauls "Flegeljahre" aufknattert, 2. wenn einer, besonders mit dem Geigenbogen, auf dem höchsten Seile der höchsten Töne lange tanzt und rutscht und nun kopf-unter in die tiefsten herunterklatscht, 3. wenn gar beides vorfällt. In solchen Punkten ist der Bürger seiner nicht mehr mächtig, sondern schwitzt vor Lob.' (F 27/772)

Der Kritik an diesen beiden Perversionen der reinen Gefühlsseligkeit und des bloßen technischen Virtuosentums steht die Suche nach der Verbindung der beiden Seiten gegenüber. Während die zweite von beiden im "Titan", also unmittelbar vor der Entstehung der "Flegeljahre", nur in Gegenfxguren zu Albano wie Roquairol und Schoppe auftritt, die letztlich zum Scheitern verurteilt sind und eher als negatives Beispiel im Bildungsprozeß des Helden fungieren, 21 war die Integration im vorangehenden "Siebenkäs" schon weiter fortgeschritten. 22 Siebenkäs und Leibgeber sind in vielem eine Vorwegnahme von Walt und Vult, jedoch ist in Siebenkäs' Persönlichkeit auch das Humoristische enthalten, so daß das Verhältnis beider nicht ganz ausgeglichen ist und Leibgeber Siebenkäs gegenüber als Verkörperung der extremen Satire klar eine - wenn auch herausragende Nebenfigur bleibt. Ich möchte nun behaupten, daß mit den "Flegeljahren" eine neue Stufe der Beziehung beider Seiten aufeinander erreicht ist. Das zeigt sich einmal darin, daß die Charaktere Walts und Vults sozusagen symmetrisch zueinander stehen und als zwei extreme Möglichkeiten gegeneinander ausbalanciert sind. Sie sind jeweils für sich nicht lebensfähig, sondern symbiotisch aufeinander angewiesen. So wie Walt auf Vults praktische Schläue nicht verzichten kann, so sehnt sich Vult nach Walts Naivität, eigentlich nach dessen ungebrochener Sehnsucht nach einer idealen Welt, zu der ihm der Glaube fehlt und die er doch als Motivation braucht. [...] gerade diese [die Sehnsucht] war ihm fast lieber und seltner als jene [die Hoffnung]; er dankte Gott, wenn er sich nach irgend etwas unbeschreiblich sehnte, so sehr mußte er sich nach Sehnen sehnen. (F 60/1052)

Die Konstitution der Persönlichkeit eines Helden, die mit den Anspielungen an das Bildungsromankonzept nahegelegt worden war, wird also

21 Das deutliche Übergewicht der idealen Seite im "Titan", die durch die Annäherung an das klassische Modell des "Wilhelm Meister" erklärt werden kann und mit der Farblosigkeit der Hauptfigur und einem streckenweise eher konventionellen Erzählstil erkauft wird, wird kompensiert durch den satirischen "Luftschiffer Giannozzo" im "Komischen Anhang". 22 Zu Letzterem s. Durzak (1970), der zu erweisen versucht, es sei "die Zielsetzung Jean Pauls: beide Charaktere [Siebenkäs und Leibgeber] in einer übergeordneten Einheit aufgehoben zu sehen und den Vollzug dieser Einheit im Handlungsgeflecht zum Gestaltungsprinzip des Romans zu machen." (127)

Handlungsdarstellung und "Poetische Enzyklopädie"

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ersetzt durch das Wechselspiel zweier Figuren oder, wenn man will, innerhalb der in sich gedoppelten oder auch gespaltenen Instanz des "Helden". Darüberhinaus wird diese Doppelung aber als Schreibstrategie im Roman nochmals zur Darstellung gebracht, nämlich in Form des "Romans im Roman", den Walt und Vult zusammen verfassen. Dessen und seiner Entstehungsgeschichte Verhältnis zum Gesamtroman wird in Kapitel 2.6 untersucht werden. Zuvor sollen aber die sonstigen Spuren der angesprochenen Spaltung auf der makro- und der mikrostrukturellen Ebene verfolgt werden.

2.4. Handlungsdarstellung und Auseinandersetzung mit dem Programm der "Poetischen Enzyklopädie" Das Wechselverhältnis zweier Figuren würde einen Bildungsprozeß nicht ausschließen. Er könnte sich etwa in einer produktiven Auseinandersetzung der einen Figur mit der anderen manifestieren, die in eine Emanzipation mündet, die einer oder beiden Figuren eine selbständige Existenz ermöglicht. Sowohl der klassische als auch der romantische Bildungsroman kennen Gegenfiguren, die zur Bildung der Persönlichkeit des Helden beitragen, und sie können sich darin auf ältere Traditionen stützen. Diese Gegenfiguren treten nicht nur als Vermittler bestimmter Lebensbereiche auf, sondern repräsentieren Persönlichkeitsmodelle, die dem Helden im weitesten Sinne zur Orientierung dienen. Wollte man Walt und Vult nun in diesem Sinne als einander fördernde Antipoden verstehen, die jeweils durch den Kontakt mit dem anderen zu einem Ausgleich in sich selbst gelangen, so würde dies zumindest eine Entwicklung voraussetzen. Sie ist, wie schon bemerkt, nicht erkennbar, so daß Vult am Ende zu Walt sagen kann: 'Ebenso hättest du dich auch sonst hintergangen, wenn du dir geschmeichelt hättest, ich würde dich sonderlich ausbilden und ausprägen mit meinem Münzkopf. Ich lasse dich, wie du warst, und gehe, wie ich kam. Auch du hast mich nicht merklich umgemünzt, so daß ich leicht schließe, du bist der - so wahren - Meinung, es sei im Geisterreiche, so wie im Körperreich - man trage das Fuhrmannshemde sowohl auf Redouten als auf Chausseen - das Spurfahren verderblich.' (F 64/1081)

Das "Spurfahren", das Nachleben von Vorbildern, ist jedoch nur eine Möglichkeit der Kohärenzbildung im Roman. Eine andere ist die Korrelierung verschiedener Handlungssequenzen miteinander und mit der Gesamthandlung durch Strukturanalogien, so daß der Eindruck einer spiralförmigen Wiederholung eines variierten Musters entsteht und jede

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Einzelsequenz die anderen und die Gesamthandlung spiegelt. Novalis' "Heinrich von Ofterdingen" etwa verknüpft beide Möglichkeiten. Heinrich tritt als Nachfahre verschiedener Traditionen und als Integrationsfigur von getrennten Bereichen auf, die durch die Romanhandlung miteinander verbunden werden, indem die einzelnen Stationen Heinrichs typologisch sowohl aufeinander als auch auf ihre jeweiligen Vorbilder bezogen werden.23 Ziel dieser Erneuerung des typologischen Verfahrens bei Novalis ist nicht nur die Einbeziehung von historischen Erzähltraditionen, religiösen und kulturellen Mustern zum Zweck der Bildung einer "Neuen Mythologie", sondern auch die Verknüpfung letzterer mit dem zeitgenössischen Stand der Wissenschaft im Sinne einer "Poetischen Enzyklopädie". Dies geschieht nicht nur ganz allgemein durch die Orientierung der Organisation des literarischen Textes an Modellen (natur-)philosophischer Provenienz, sondern im einzelnen durch die Integration einer Fülle (natur-)wissenschaftlicher Details.24 Jean Paul hat sich in der "Vorschule der Ästhetik" (1804) der Forderung nach einer "poetische[n] Enzyklopädie" (WW1/5:249) angeschlossen, und zwar durchaus im frühromantischen Sinne einer Poetisierung der Welt, die einerseits ihre Lesbarkeit ermöglicht, andererseits dieses Lesen als produktive Aktivität, als Anteilnahme auch des verstehenden Nachvollzugs an der Poiesis ausweist25 und dadurch mit einem utopischen Moment versieht. [...] voll Zeichen steht ja schon die ganze Welt, die ganze Zeit; das Lesen dieser Buchstaben eben fehlt; wir wollen ein Wörterbuch und eine Sprachlehre der Zeichen. Die Poesie lehrt lesen (WW 1/5: 250); sie ist kein platter Spiegel der Gegenwart, sondern der Zauberspiegel der Zeit, welche nicht ist. [...] Sie soll die Wirklichkeit, die einen göttlichen Sinn haben muß, weder vernichten, noch wiederholen, sondern entziffern. (WW 1/5: 447)

Die naturphilosophische Deutung der Grundlage dieser Fähigkeit, die die Dichtkunst vermittelt, ist Jean Paul ebenfalls nicht fremd. Denn wie das organische Reich das mechanische aufgreift, umgestaltet und beherrschet und knüpft, so übt die poetische Welt dieselbe Kraft an der wirklichen und das Geisterreich am Körperreich. (WW 1/5: 39)

23 Vgl. etwa das Atlantis-Märchen in Kap. 1/3, das provenzalische Buch nach den Reflexionen über Geschichte in Kap. 1/5, Klingsohrs Märchen in Kap. 1/9 (und darin wiederum das Zwischenspiel beim Mond) nach den vorangehenden Diskussionen über Dichtung und schließlich Astralis' Lied am Anfang von Teil II. 24 Zur "Poetischen Enzyklopädie" bei Novalis vgl. die ausführliche Arbeit von Hegener (1975) u. Stadler (1987). 25 S. hierzu Stadler (1987, bes. 59f.).

Handlungsdarstellung und "Poetische Enzyklopädie"

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Es lassen sich auch Stellen finden, die sich wie Novalis' späte Entwürfe zum "Ofterdingen" lesen,26 etwa folgende: Will man sich einen größten Dichter denken, so vergönne man einem G e n i u s die Seelenwanderung durch alle Völker und alle Zeiten und Z u s t ä n d e und lasse ihn alle Küsten der Welt umschiffen: welche höhere, kühnere Zeichnungen ihrer unendlichen Gestalt würd' e r entwerfen und mitbringen! ( W W 1/5: 32)

Dem gegenüber stehen kritische Äußerungen über "die neuere PoetenZeit, welche den Glauben aller Völker, Götter, Heiligen, Heroen aufhäuft, aus Mangel an einem einzigen Gott" (WW 1/5: 73). Ebenso könnte man sowohl Hinweise auf eine Affinität zu Hölderlins Abendmahlsdeutung in "Brod und Wein" oder der von Novalis in der "Hymne" der "Geistlichen Lieder" zu finden glauben, so wenn von Metaphern als "Brotverwandlungen des Geistes" (WW 1/5: 184) die Rede ist oder von der "poetischen Nachahmung", in der das Abbild m e h r als das Urbild enthält, ja sogar das Widerspiel gewährt - z. B. ein gedichtetes Leiden Lust [...]. Die äußere Natur wird in j e d e r innern eine andere, und diese Brotverwandlung ins Göttliche ist der geistige poetische Stoff, welcher, wenn e r echt poetisch ist, wie eine anima Stahlii 2 7 seinen Körper (die F o r m ) selber bauet, und ihn nicht erst angemessen und zugeschnitten b e k o m m t . ( W W 1/5: 43)

Doch wirkt es wiederum wie bissiger Spott über solche Vorstellungen, wenn es heißt, "man geht mit fremden poetischen Bildern um, wie im Mittelalter mit heiligen, von welchen man Farben loskratzte, um solche im Abendmahlwein zu nehmen." (WW 1/5: 34) Es wäre wohl überzogen, solche Bemerkungen als programmatische Zustimmung oder Ablehnung zur frühromantischen Poetologie zu lesen. Kann man ihnen eine Position entnehmen, so ist es eine höchst ambivalente. Im übrigen dürften sie der kombinatorischen Eigenart des Jean Paulschen "Witzes" entsprungen sein, von der noch zu sprechen sein wird.28

26 Novalis wird jedoch auf derselben Seite als "Seiten- und Wahlverwandter d e r poetischen Nihilisten, wenigstens deren Lehenvetter" abgekanzelt. 27 G e o r g Ernst Stahl (1660-1734) hatte die Allgegenwärtigkeit der Seele als organisierendes Prinzip im Körper behauptet und u. a. mit dieser These, die sich z. B. auch in H e r d e r s "Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele" findet (s. H e r d e r 1984ff.: II, 547 u. A n m . 1010f.), die naturphilosophische Diskussion im achtzehnten J a h r h u n d e r t beeinflußt. 28 "Witz" wird hier und im folgenden im Sinne von Jean Pauls eigener Bestimmung d e s Begriffs in der "Vorschule" verstanden. Diese steht in d e r Tradition d e s 18. J a h r h u n derts, die vom weiteren U m f a n g von "ingenium" als Gesamtheit d e r intellektuellen Vermögen über "esprit", "wit" und "Witz" zum Geniebegriff mit seiner engen Bindung an die ästhetische Sphäre führt. Die Leistung des "Witzes" wird im "Vergleichen überhaupt" ( W W 1/5: 171), im Aufdecken o d e r Herstellen von Beziehungen gesehen und ist noch

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Jean Paul geht in seinen theoretischen Äußerungen bei aller expliziten Distanzierung von der frühromantischen Poetologie mit dieser auf weiten Strecken konform, insbesondere in der Forderung nach einer "Poetischen Enzyklopädie". Auch seine literarische Praxis sucht er mit dieser Konzeption zu deuten und zu rechtfertigen, vor allem das "Bedürfnis des gelehrten Witzes" (WW 1/5: 203) zu erweisen, dessen übermäßige Verwendung einer der gängigen Vorwürfe seiner Kritiker war.29 Er gewinnt in der "Vorschule" eine geradezu eschatologische Bedeutung. Der Gottes- und der Rechts-Gelehrte fassen einander nicht - der Großstädter fasset tausend Kunstanspielungen, die dem Kleinstädter entwischen - der Weltmann, der Kandidat, der Geschäftsmann, alle haben verschiedene Kreise des Wissens -der Witz, wenn er sich nicht aus einem Kreise nach dem andern verbannen will, muß den Mittelpunkt aller fodern und bilden; und noch aus bessern Gründen als denen seines Vorteils. Nämlich zuletzt muß die Erde ein Land werden, die Menschheit ein Volk, die Zeiten ein Stück Ewigkeit; das Meer der Kunst muß die Weltteile verbinden; und so kann die Kunst ein gewisses Vielwissen zumuten. (WW 1/5: 205)

Die Praxis selbst steht zu ihrer theoretischen Rechtfertigung jedoch in einem höchst gespannten Verhältnis. Das deutet sich schon in den eher technischen Beschreibungen des Witzes in der "Vorschule" an. Der Witz - das Anagramm der Natur - ist von Natur ein Geister- und Götter-Leugner, er nimmt an keinem Wesen Anteil, sondern nur an dessen Verhältnissen; er achtet und verachtet nichts; alles ist ihm gleich, sobald es gleich und ähnlich wird; er [...] will nichts als sich und spielt ums Spiel - jede Minute ist er fertig - seine Systeme gehen in Kommata hinein30 - er ist atomistisch, ohne wahre Verbindung (WW 1/5: 201).

nicht auf das Komische beschränkt. Vgl. Wiethölter (1979: bes. 1-8). 29 S. Birus (1986: 45-47), der Jean Pauls Enzyklopädik "durchaus in Anlehnung an entsprechende frühromantische Spekulationen" (49) sieht, dafür weitere Belege bringt und Jean Pauls technische Verfahren mit illustrativen Beispielen erläutert; vgl. den gesamten Abschnitt "Poetische Enzyklopädie" (45-65). 30 Die Formulierung ist im Zusammenhang mit der "Buch der Natur"-Metapher zu sehen, die "kaum je in ihrer Geschichte eine so radikale Umdeutung erfahren [hat] wie bei der Aufgabe des Konzepts vom Menschen als dem von Gott gedachten Leser seines Schöpfungswerkes und beim Aufkommen der Vorstellung, daß auch der Mensch wie alle Kreaturen nur ein Buchstabe der Welt sei." (Ohly 1981: 177) Diese Entwicklung, die zum Teil durch die Entstehung der organizistischen Weltdeutungen aufgefangen wird, führt zu Formulierungen wie der Herders: "welch eine kleine Laubfaser des Baums [der Welt, in Anlehnung an Vorstellungen der altnordischen Mythologie] mag ich sein! kleines Komma oder Strichlein im Buche aller Welten! Was ich auch sei! Ruf von Himmel zu Erde, daß wie alles, so auch ich an meiner Stelle etwas bedeute." (1877ff.: 5, 561) Der Witz ist die einzig noch adäquate Art des Systemdenkens für denjenigen, der sich solcherart als ein "Komma" erfährt.

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Der Hinweis auf das Anagramm und die Beziehung des Witzes auf reine Verhältnismäßigkeiten ohne inhaltliche Bindung gibt schon einige Erläuterungen zu seinem Verfahren. [...] er ist für den Geist, was für die Scheidekunst F e u e r und W a s s e r ist, Chemica non agunt nisi soluta (d. h. nur die Flüssigkeit gibt die Freiheit zu n e u e r G e s t a l t u n g - oder: nur entbundne Körper schaffen neue). ( W W 1/5: 200)

Der Witz löst also Bestehendes auf, um seine Elemente und deren Bezüge zu einem Spielmaterial für neue Bildungen zu machen. Das verbindet ihn mit dem Humor, der "die sinnliche Welt zu einem zweiten Chaos ineinanderwirft" (WW 1/5: 139).31 Während dem H u m o r jedoch "seine Höllenfahrt [...] die Himmelfahrt [bahnet]" (WW 1/5: 129), weil hinter dem vernichteten Endlichen das Unendliche, die Idee aufscheint, bietet der Witz keine solchen Garantien, hat er sich nur einmal auf "die taschen- und wortspielerische Geschwindigkeit der Sprache" eingelasssen, "welche halbe, Drittel-, Viertel-Ähnlichkeiten zu Gleichheiten macht, weil für beide ein Zeichen des Prädikats gefunden wird." (WW 1/5: 174) So ist der Witz imstande, "den Blick von der Sache zu wenden gegen ihr Zeichen hin" (WW 1/5: 194). Das Unbändige des Witzes hat in der literarischen Praxis Jean Pauls zunächst einmal zur Folge, daß die Metaphern, Anspielungen, Vergleiche und Abschweifungen die Handlung überwuchern 32 und vom "Beiwerk" zum "Hauptwerk" avancieren. 33 Sie dienen zu einem grossen Teil der Selbstdarstellung des Erzählers oder halten zumindest durch ihre Auffälligkeit und stilistische Prägnanz das Bewußtsein von dessen Anwesenheit wach.34 Durch ihre Selbständigkeit gegenüber dem Handlungsverlauf wirken sie nicht als dessen Unterstützung oder Erläuterung, sondern als Unterbrechung. Die Zeit der Erzählung - sowohl erzählte wie Erzählzeit - wird durch die nicht-narrativen Momente aufgebrochen, sie geht über in die "Schreibtischzeit" 35 , die Zeit der Abschweifung. Der Leser bekommt gewissermaßen Zeit zum Spazierengehen im weitläufigen

31 U n d mit frühromantischen B e s t i m m u n g e n d e s p o e t i s c h e n Verfahrens; vgl. Schlegel ( K A II: 313) u. o b e n Kapitel 1.4. 32 Vgl. Rasch (1966), der bei der U n t e r s u c h u n g d e s B e g i n n s d e s "Siebenkäs" zu f o l g e n d e m Ergebnis kommt: "Der eigentlich epische Bestand macht also nur ein Viertel

des

Ganzen aus. W a s enthalten die übrigen drei Viertel d e s T e x t e s ? Sie b e s t e h e n im wesentlichen aus dem, was Jean Paul einmal 'witzige Illumination' nennt." ( 8 6 ) 33 S. Rasch (1966: 91). 34 "Jean Paul erzählt nicht einfach e i n e Geschichte, s o n d e r n - s o m ü ß t e man wohl sagen er stellt dar, wie der Erzähler eine Geschichte erzählt." ( R a s c h 1966: 83) 35 Wie Rasch sie von der Produzentenseite her g e s e h e n nennt (1966: 93).

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Gebäude oder Garten des Romans. 36 So entsteht eine Erzählform, die man mit Wolfdietrich Rasch "intermittierend" oder "interruptiv" nennen kann (1966: 93). Der Roman entwickelt eine Vielstimmigkeit, die die Handlung als ein Element unter vielen erscheinen läßt.37 Diese Polyphonie wird durch die Zusammenstellung formaler und inhaltlicher Elemente aus verschiedenen Bereichen erzeugt. Als formal kann man die Mischung von Textsorten und das Spiel mit dem Fiktionscharakter des Textes bezeichnen. Die gelehrten Anmerkungen, auch derartige Einschöbe in Reden von Figuren, v. a. Vults, die Polymeter Walts, der Traum Walts, der jeweils erste Teil der Kapitelüberschriften, die einen Katalog des van der Kabeischen Naturalienkabinetts ergeben, und die Briefe J. P. F. Richters an den Stadtrat bilden ein Spektrum, das in anderen Texten Jean Pauls noch durch Vorreden, etwa die "Vorrede, womit ich den Kaufherrn Jakob Oehrmann einschläfern mußte, weil ich seiner Tochter die Hundsposttage und gegenwärtige Blumenstücke etc. etc. erzählen wollte"38, Vorreden zu Vorreden, Appendices, Appendices zu Appendices, Satiren wie der "Beichte des Teufels bei einem großen Staatsbedienten"39 und diversen Extrablättern ergänzt wird. Durch die Briefe des "Autors", die auf der Ebene der Fiktion nicht-fiktional sind, wird der Fiktionscharakter des gesamten Textes spielerisch in Frage gestellt. Inhaltlicher Art ist einmal der Gegensatz von Walt und Vult, der an vielen einzelnen Stellen, meist im Gespräch zwischen beiden, konkret ausgespielt wird, und sodann die Spannung, die durch die Verbindung der eingestreuten Diskurse untereinander und mit der Handlung im einzelnen entsteht. Bevor dies im nächsten Kapitel detailliert dargestellt wird, möchte ich noch einen Blick auf ein den ganzen Text durchziehendes und

36 Beide Metaphern finden sich in den "Flegeljahren", die erste auf die "Flegeljahre" selbst bezogen (Nr. 12/646), die zweite auf den "Roman im Roman" (Nr. 36/841). 37 "In diesem unaufhörlichen Spiel der Metaphern werden zahllose Dinge und Vorgänge aus ganz anderen, den erzählten Begebenheiten fernen Bereichen in den Text eingebracht, gleichsam herangespiegelt. Schließlich wird auch immer wieder das Verfertigen der Geschichte selbst enthüllt, die Maßnahmen des Erzählers werden mitgeteilt. Jean Paul spielt [...] allein ein ganzes Orchester. Das Ensemble all dieser Stimmen und Instrumente, in dem die Geschichte selbst nur einen Part hält, macht den Körper eines Jean Paulschen Romans aus." (Rasch 1966: 84f.) Zum Begriff der Vielstimmigkeit vgl. Bachtin (1969). 38 In "Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs". 39 In "Schmelzles Reise nach Flätz".

Handlungsdarstellung und "Poetische Enzyklopädie"

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gliederndes Einsprengsel werfen, die Nummern des Naturalienkabinetts. Sie bilden jeweils einen Teil der Kapitelüberschrift, weil der "Autor" für jedes Kapitel testamentarisch einen Gegenstand aus der Sammlung zugesagt bekommen hat. Diese sind also seine Bezahlung, jedoch im Gegensatz zum "Geld, das wie der Tod alles gleich macht" (Nr. 22/126), ausgesprochen diversifizierend. Beziehungen zum Inhalt der jeweiligen Kapitel lassen sich nur in Einzelfällen herstellen, und sie bleiben recht vordergründig.40 Um ihre Funktion zu klären, muß man etwas weiter ausholen.41 Naturalienkabinette haben sich wie Kunstgalerien aus den "Kunst- und Wunderkammern" entwickelt, die seit dem späten Mittelalter aus fürstlichen und kirchlichen Schatzkammern durch eine Sammeltätigkeit entstehen, die sich zunächst vor allem auf das Absonderliche und Kuriose richtet und zwischen Kunst- und Naturprodukten nicht unterscheidet, ja gerade beider Verbindung schätzt.42 Ihren Höhepunkt hat diese Art des Sammeins in der Spätrenaissance. Das prägnanteste Beispiel ist wohl die Prager Kunstkammer Rudolfs II. (1552-1612), welcher jede wissenschaftliche Methodik fremd ist.43 Ihr Aufbau ist eher den manieristischen Allegorien Arcimboldos zu vergleichen, der dem rudolfinischen Prag eng verbunden war.44 Die Suche nach dem Kuriosen und Wunderbaren einerseits45 und der allegorisch-manieristische Grundzug einer subjektiv-

40 S. Meyer (1963: 106), der einige etwas tiefergehende Z u s a m m e n h ä n g e aufzudecken sucht (107-110), die jedoch insgesamt im Aper^uhaften bleiben. 41 Vgl. zum Folgenden Schlosser (1908), Lugli (1983), H o f m a n n (1987: 341-375) u. allgemein zu Funktion und Geschichte des Sammeins Pomian (1988). 42 S. Schlosser (1908: 73) u. H o f m a n n (1987: 357f., Nr. 36-38; 360, Nr. 43; 361, Nr. 48; 364, Nr. 56-58; 367, Nr. 64f.; 368, Nr. 68 u. 370f., Nr. 73-75). 43 "[...] so bunt zusammengewürfelt war die Sammlung, und so wenig ist in ihr irgend ein methodisches Bestreben, wie in den Kunstkammern von A m b r a s o d e r München zu bemerken." (Schlosser 1908: 124) 44 Vgl. Schlosser (1908: 176) u. Hocke (1957: 144-156). Arcimboldo hat Rudolf II. in einem aus Herbstfrüchten zusammengesetzten Porträt als V e r t u m n u s dargestellt, den "Gott des 'Wechsels', der 'Verwandlungen', der 'Maske'" (Hocke 1957: 146), von dem es bei Ovid heißt, "quod naturale decoris munus habet f o r m a s q u e apte fingetur in omnis" (Metamorphosen XIV: 684f.). Die Allegorie wird in diesem Porträt zur Allegorie ihrer selbst, ihres Verweischarakters, der jede Form als Maske erscheinen läßt, hinter der sich jedoch wieder nur eine Form versteckt, die den Prozeß fortführt. Zu den politischen Implikationen von Arcimboldos Allegorien s. DaCosta K a u f m a n n (1976, zum "Vertumnus" insbes. 295f.). 45 Vgl. Schlosser (1908: 180-187): "Die Rolle des Kuriosen" u. "Die Naturwunder" (195201).

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willkürlichen Kombination sowohl von Natur und Kultur als auch von den verschiedensten Wissensgebieten andererseits46 hält sich zwar bis ins achtzehnte Jahrhundert, doch mit der zunehmenden Verwissenschaftlichung der Sammlungen findet sowohl eine Trennung der Naturalien- von den Kunstsammlungen als auch eine Systematisierung statt, die das Ungewöhnliche hinter die klassifizierende Erfassung der Natur im Ganzen zurücktreten läßt. So heißt es 1740 in Zedlers Universallexikon im Artikel über "Naturalien-Kammern, Naturalien-Cabineter", daß "in ihnen eine gewisse Ordnung beobachtet werden" muß (1232), und im Artikel "Naturalien" werden diese als alles das bestimmt, was die Natur "sonderbares oder auch gemeines herfürbringet". Das Sonderbare ist also nicht mehr privilegiert, obwohl die ältere Auffassung noch erwähnt wird: Doch pflegt man auch insonderheit die natürlichen Dinge, die seltsam, rar und besonders sind, schlechterdings Naturalien zu nennen, daher die Naturalien-Kammern [...] ihre Benennung haben. (1231)47

Das Streben nach klassifikatorischer Präsentation, mit dem man sich auf allen Ebenen von dem nun als reine Sammelwut erscheinenden barocken Polyhistorismus distanziert, hat auch zur Folge, daß der Begriff "Enzyklopädie" im achtzehnten Jahrhundert eher die Bedeutung von systematischer Organisation und Reflexion der Wissenschaft als die von materialer Sammlung von Wissen trägt.48 Die Forderung Kants nach

46 Vgl. Schlosser (1908: 187-190). 47 Einen Rest des alten Wortgebrauchs oder einen Rückgriff auf ihn, der Ähnlichkeit mit dem Jean Pauls hat, findet man in Theodor Gottlieb von Hippels "Lebensläufen nach aufsteigender Linie" (1778/81): "Was ich von seltnen Fragen und Antworten weiß, ist von ihr [der Großmutter]. Sie hatte hiervon ein Naturalienkabinett, das nicht gemein war [Dieser Zusatz ist immerhin notwendig!]. [...] Sie wußte, was für eine Farbe das Kleid gehabt, das der Liebe Gott dem Adam gemacht, und behauptete, es wäre grün gewesen. Sie wußte die Apfelart, die Adam und Eva gegessen [...]. Sie wußte, ob Rahel weiß oder braun gewesen; was für Federn Gabriel in seinen Flügeln gehabt; ob Adam mit einem Nabel versehen gewesen; ob David ein Adagio oder ein Allegro vor Saul gespielt; ob die Schriftgelehrten Doctores in der Theologie oder der Rechte gewesen, und ob Pilatus sich mit Seife gewaschen; wie vielmal Sela in der heiligen Schrift vorkäme." (von Hippel 1859: I, 158f.) 48 Zur Geschichte des Enzyklopädiebegriffs s. Henningsen (1966) u. Dierse (1977). Als repräsentatives Beispiel kann man Leibniz anführen, dessen Enzyklopädieprojekt in engem Zusammenhang mit dem einer "characteristica universalis", also einer formalen Sprache steht. Um der Planlosigkeit der Wissenschaften abzuhelfen, die in ihrer Gesamtheit einer "Bibliothek ohne Katalog" (Leibniz, zitiert bei Dierse 1977: 33) gleichen, "bedarf es also eines exakten, allgemein gültigen und gegenüber allen Zweifeln sicheren Systems von Zeichen, das die Grundlage für die Klassifizierung des Wissens bilden kann. Die Enzyklopädie dient also bei Leibniz dazu, den Fortschritt der Wissenschaften zu sichern,

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einem System der Natur nach dem "Erzeugungsprinzip", nicht bloß nach dem "Beurteilungsprinzip" (1793: 368), also nach einer genetischen Darstellung49 führt zwar über die nur klassifikatorische bereits hinaus, doch stützt sich auch die hierdurch inspirierte Naturphilosophie und Naturwissenschaft selbstverständlich auf das nach wissenschaftlichen Standards aufbereitete Material der Naturalienkabinette. Diese haben sich also vom Produkt der Liebhaberei und Sensationsgier zur seriösen Forschungsinstitution entwickelt. Somit könnte man hinter dem Naturalienkabinett in den "Flegeljahren" sogar eine versteckte, verschlüsselte Annäherung an eine "Poetische Enzyklopädie" vermuten, wie ja beispielsweise auch der Zusammenhang der zuvor nur als groteskes Detail aufgefaßten Mißgeburtensammlung Dr. Katzenbergers mit der zeitgenössischen Wissenschaftsentwicklung aufgewiesen worden ist.50 Doch dagegen spricht nicht nur die sonstige Verwendung des Bildes des Naturalienkabinetts in Jean Pauls Werk, das etwa in der Satire "Feilbietung eines menschlichen Naturalienkabinetts" von 1789 (WWII/2: 386-393) in arcimboldesker Weise zur Auflösung des Körpers in skurrile Einzelheiten dient.51 Das Naturalienkabinett der "Flegeljahre" ist selbst eine Sammlung, die aus systematischen Naturalienkammern des späten achtzehnten Jahrhunderts nach den manieristischen Prinzipien der Kuriosität und der subjektiven Willkür gewonnen wurde.52 Wenn man darin einen direkten Bezug zur "Poetischen Enzyklopädie" sehen will, dann einen parodistischen. Welche tiefergehenden Zusammenhänge zwischen den hier als "manieristisch" bezeichneten Verfahren und der frühromantischen Poetologie bestehen, wird zu erörtern sein, nachdem sie einer Analyse auf der Mikroebene unterworfen worden sind.

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indem die bereits erzielten Ergebnisse auf eine logisch-exakte Basis gestellt, durch eine feste Rangordnung überschaubar gemacht werden und damit der Weg für weitere Forschungen gebahnt wird." (ebd.: 35) Vgl. Kap. 1.2.4. Mißgeburten waren ein entscheidendes Argument für die Epigenesistheorie; vgl. Rankl (1987: 203f.). Vgl. Meyer (1963: lOOf.). Jean Paul hat die Namen der einzelnen "Nummern" tatsächlich nicht erfunden, sondern aus Inventaren entnommen und zusammengestellt; s. Meyer (1963: 104f.). Vgl. auch Rehm (1964: 35-38). Auf den Zusammenhang mit der europäischen Manierismus-Tradition weist auch Birus hin (1986: 60), kritisiert jedoch die unpräzise Anwendung des Manierismus-Begriffs (1987: 48-52), auf den noch im Einzelnen in Kap. 3.5 eingegangen wird.

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2.5. Verfahren des "Witzes" Das zügellos alles erfassende, kombinierende und dadurch Spannungen erzeugende Verfahren des Witzes ist von Jean Paul selbst wiederum mit witzigen und eindrücklichen Bildern beschrieben worden, die es in die Nähe einer triebhaften Tätigkeit rücken. So heißt es bereits in den 'Grönländischen Prozessen' über das (vom Wein induzierte) 'dichterische Feuer': 'aus allen Winkeln des Gehirns kriechen verborgene Einfälle hervor, jede Ähnlichkeit, jede die Stammutter einer Familie von Metaphern, samlet ihre unähnlichen Kinder um sich, und gleich einer wandernden Mäusefamilie, hängt sich ein Bild an den Schwanz des andern' [WW I I / l : 381] - die 'besten Romane' seien jetzt 'diejenigen, worinnen die Fruchtbarkeit des Verfassers hundsartig jeden Winkel einer Materie beharnet' 5 3 [ebd.: 414], (Birus 1986: 47)

Das Manische dieses Vorgehens läßt sich nicht nur mit biographischen Details zu Jean Pauls Exzerpier- und Sammelwut belegen,54 sondern auch an seinen Texten selbst leicht aufzeigen. Der von Jean Paul explizit geäußerte Wunsch nach Herstellung von Zusammenhängen für den Leser - durch Erklärung, Veranschaulichung, sinnhafte Verküpfungen, Einbezug von konkreten Einzelheiten, Herausstellen von Analogien - wird zwar zuweilen durch seine Praxis erfüllt, allzu häufig ist jedoch das Gegenteil der Fall.55 Wenn die Metapher "Herz" in einer ohnehin humoristischen Stelle dadurch revitalisiert wird, daß das Herz tatsächlich als physisches Organ beschrieben wird, dann fällt der witzige Effekt noch nicht aus dem vorgegebenen Rahmen:

53 Das erstaunliche Bild wurde mit ganz entgegengesetzter Absicht auch von Goethe verwendet: "Ein andermal verglich er die Professoren und ihre mit Zitaten und Noten überfüllten Abhandlungen, wo sie rechts und links abschweifen und die Hauptsache vergessen machen, mit Zughunden, die, wenn sie kaum ein paar mal angezogen hätten, auch schon wieder ein Bein zu allerlei bedenklichen Verrichtungen aufhüben, so daß man mit den Bestien gar nicht vom Flecke komme, sondern über Wegstunden Tage lang zubringe" (Falk, Johannes: Goethe aus näherem persönlichem Umgange dargestellt. Ed. K. G. Wendriner. Berlin 1911. S. 87. Zitiert nach Rehm 1964: 10, Fußn. 4). 54 S. Birus (1986: 55-57); dort finden sich auch Quellen unü weitere Literatur. 55 "[...] die häufigsten und eigentlich charakteristischen Metaphern Jean Pauls dienen der Verfremdung und Verrätselung." (Rasch 1966: 94) Die hier vorgestellte Auffassung von der Funktion der Figuren des Witzes ist außer an Rasch v. a. an Birus (1986: 45-65) orientiert. Bosse (1971) ist eher am Problem der Bedeutung der einzelnen Metaphern als an ihrer Wirkung interessiert.

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Sein Ich f u h r ängstlich oben in allen vier G e h i r n k a m m e r n und darauf unten in den beiden Herzkammern wie eine Maus umher, um darin ein schmackhaftes IdeenKörnchen aufzutreiben, das er dem Elsasser zutragen und vorlegen könnte zum Imbiß.

Auch die Weiterführung der Metapher des Essens ist noch nicht ungewöhnlich, weitet sich jedoch mehr und mehr ins Groteske aus: E r fand wenig, was diesem schmeckte, aber d e r Elsasser hatte auch keinen H u n g e r und keine Zähne. Gelehrte Studierstuben-Sassen, welche die ganze Woche, tagaus tagein, im Bankett u.id Picknick der feinsten, reizendsten Ideen und Gerichte aus allen Weltaltern und Weltteilen schwelgen, bilden sich gar zu leicht ein, daß der Welt- und Geschäftsmann verdrüßlich und trocken bei ihnen werde, wenn sie ihn nicht immer heiß und fett mit Ideen übergießen am Bratenwender des Gesprächs [...] ( F 33/823f.).

Die Metapher hat sich verselbständigt, und der Gesprächs- bzw. Essensgenosse hat unterderhand den Platz des zu verzehrenden Gerichts eingenommen. Wenn Walt in einer längeren sehr emfindsam geschilderten Passage seine Naturbegeisterung in die Worte kleidet: Wallet nur hin, ihr hübschen Schmetterlinge, und genießet die Honigwoche des kleinen Seins - o h n e Hunger, ohne Durst* - ein schönes Sonnenleben - ein Liebessein - und die einzige K a m m e r des Herzens ist nur eine ewige B r a u t k a m m e r d e r Liebe - beugt die Blumen - lasset euch wehen - spielt im Glanz und entzittert nur linde wie Blüten d e m Leben,

und der Leser dazu folgende Anmerkung erhält: * Schmetterlinge haben nur eine H e r z k a m m e r 5 6 und die meisten keinen Magen ( F 40/864),

so wird ihm damit etwas erklärt, was er gar nicht wissen möchte, und das keine zusätzlichen Zusammenhänge herstellt, sondern im Gegenteil die Einheit der erzeugten Stimmung im Haupttext aufsprengt.57 Derselbe Effekt der Gegenläufigkeit von Gestaltungsmitteln zueinander wird in der folgenden Szene auf etwas traditionellere Weise erreicht, durch den Erzählerkommentar zu einem Dialog und durch das Eingreifen

56 Diese Information wird nochmals im Z u s a m m e n h a n g d e r folgenden Charakterisierung Walts durch Vult verwendet, wobei "Kammer" zum Ausgangspunkt einer neuen Metaphernbildung wird: "'Der Mensch hat zwei H e r z k a m m e r n , in der einen sein Ich; in der andern das fremde, die e r aber lieber leer stehen lasse, als falsch besetze. D e r Egoist hat, wie W ü r m e r und Insekten, n u r eine. Du, glaub' ich, vermietest deine rechte an Weiber, die linke an Männer und behilfst dir, so gut du kannst, im H e r z o h r o d e r Herzbeutel." (Nr. 18/713) Das "Herzohr", ein von dem Entdecker des Blutkreislaufs William Harvey geprägter anatomischer Begriff (Hinweis bei Rankl 1987, dort 225f. weitere Belege für seine Verwendung bei Jean Paul), wird in der W e n d u n g "Kopf und O h r e n und Herzohren für die Tonkunst" (Nr. 25/758) auch metaphorisch gebraucht. 57 Weitere Beispiele bei Rehm (1964: 63-67).

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Jean Pauls "Flegeljahre"

anderer Gesprächsteilnehmer. Ersterer subvertiert zunehmend die Äußerungen der Figuren, die an sich durchaus als eingeschobene, über den Rahmen der Fiktion hinaus Gültigkeit beanspruchende Erörterung philosophischer Fragen aufgefaßt werden könnten, zumal die vertretenen Auffassungen denen des Autors Jean Paul entsprechen. Letzteres wird durch eine Synonymie ermöglicht, die durch eine höchst polemische Fußnote erklärt wird. Dazwischen hegt eine furiose Metaphernkonstruktion, die gesondert untersucht werden muß. Hier konnte sich der Notar [Walt] nicht länger halten; eine solche schöne Seelenwanderung seiner Gedanken hatt' er in dem hohen Jüngling [dem Grafen Klothar] nicht gesucht. 'Auch im Weltall', hob er an, 'war Poesie früher als Prosa, und der Unendliche müßte vielen engen prosaischen Menschen, wenn sie es sagen wollten, nicht prosaisch genug denken.' 'Was wir uns als höhere Wesen denken, sind wir selber, eben weil wir sie denken; wo unser Denken aufhört, fängt unser Wesen an', sagte Klothar feurig, ohne auf den Notarius sonderlich hinzusehen. 'Wir ziehen immer nur einen Theater-Vorhang von einem zweiten weg und sehen nur die gemalte Bühne der Natur', sagte Walt, der so gut wie Klothar etwas getrunken. Keiner antwortete mehr recht dem anderen. 'Gab' es nichts Unerklärliches mehr, so möcht' ich nicht mehr leben, weder hier noch dort. Ahnung ist später als ihr Gegenstand; ein ewiger Durst ist ein Widerspruch, aber auch ein ewiges Trinken ist einer. Es muß ein Drittes geben, so wie die Musik die Mittlerin ist zwischen Gegenwart und Zukunft', sagte der Graf. 'Der heilige, der geistige Ton wird von Gestalten geschaffen, aber er schafft wieder Gestalten", sagte Walt, den die Fülle der Wahrheit allein fortzog, nicht einmal mehr der Wunsch der Freundschaft [zu Klothar]. 'Eine geistige Kraft bildet den Körper, dann bildet der Körper sie, dann aber bewegt sie am mächtigsten auf der Erde die Körper', sagte Klothar. 'O die unterirdischen Wasser der tiefen zweiten Welt, die den gemeinen weltweisen Berg-Knappen in seinem Bergbau stören und ersäufen, ihn, der Höhen nur zum Durchbohren und Vertiefen haben will - diese sind eben für den rechten Geist der große Todesfluß, der ihn in den Mittelpunkt zieht ...' sagte Walt; er stand längst aufrecht am Tisch und hört' und sah nicht mehr. 'Echte Spekulation - -', fing der Graf an. 'Mr. Vogtländer' - unterbrach Neupeter, sich zum Buchhalter wendend und Klotharn am Arm haltend, da er gelehrten Diskursen ebensogern zuhörte als entsprang - 'die 23 Ellen Spekulation haben sie doch heute gebuchet"1. Nun aber weiter, Herr Philosoph!' * Die Figuren auf klingenden Glasscheiben. ** d. h. zu Buch gebracht. - Spekulation ist in Neupeters Sinn ein ungekreuzter halbleinener, halbseidener Pariser Zeug, der sich von der enzyklopädistischen Spekulation, ebenfalls da gewebt, zu seinem Vorteil unterscheidet. (F 23/749f.)58

58 Hervorhebungen durch Unterstreichung A. B.

Verfahren des "Witzes"

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Der Erzählerkommentar stellt die Exaltiertheit der Redner heraus und hält das Urteil über die Quelle ihrer Inspiration in ambivalenter Weise zwischen Alkoholgenuß und Überwältigung durch die Wahrheit. Der Einwurf Neupeters relativiert das Gesagte, indem er ihm die Realität des Geschäftslebens entgegenhält und es als schöngeistige, aber unwichtige Unterhaltung erscheinen läßt. Die Fußnote wiederum verbindet die Worterklärung mit einer Denunziation der Philosophie der Enzyklopädisten, die nach Jean Pauls Auffassung der materialistische Gegenpol zu den von Walt und Klothar vorgetragenen idealistischen Positionen ist. Die Spannung, die hier dadurch entsteht, daß Gegensätze aufgebaut, aufeinander bezogen, aber letztlich nicht aufgelöst werden, wiederholt sich auf der Ebene der Metaphorik. Die Assoziation der "zweiten [poetischidealischen] Welt" mit "Wasser" ist noch durch die vorangehende Metapher des "Trinkens" motiviert, daß dieses Wasser jedoch "unterirdisch", in der "Tiefe" ist, wird erst im nachhinein durch die Einführung des Antonyms "Höhe" plausibel, das durch Konvention mit der Vorstellung einer jenseitigen Welt verbunden ist. Die "Höhe" wird in ihrem Doppelsinn als "Berg" genommen, in dem der die realistische Haltung vertretende frühindustrielle Bergmann bei seiner Tätigkeit von Wassereinbrüchen bedroht ist. Diese todbringenden Wasser sind für den "rechten" idealistischen Geist hingegen der Zugang zum Jenseits, in Anlehnung an die griechische Mythologie, nach der Hades wegen seiner Beziehung zum Bergbau ja auch den Namen Pluton trägt, der mit Plutos, dem Reichtum, in Verbindung steht.59 Der positiven Bewertung dieses zum "Mittelpunkt" ziehenden Gewässers liegt wiederum eine christliche Umdeutung dieser Vorstellung zugrunde. Sie steht wohl wie die Metapher des "Trinkens" Gottes im Zusammenhang mit pietistisch vorgeprägten Deutungen des Abendmahls als Verschmelzung mit Gott, Auflösung, Schwimmen im göttlichen Blut, die ihren prägnantesten Ausdruck in der "Hymne" der "Geistlichen Lieder" von Novalis gefunden haben. Ein ebenfalls nicht zu einer Auflösung führendes Spiel wird mit der Frage der Identität des Autors Jean Paul und des "Autors" im Text und damit der Grenze von Fiktion und Nicht-Fiktion auch auf der Ebene der Fußnoten und Verweise vorgeführt. Das Auftauchen einer fingierten Spur des Autors im Text wie die Eintragung "J. P. F. R. Wonsiedel [Jean Pauls Geburtsort]: Martii anno 1793" an der Wand von Walts Zimmer im

59 Die Verbindung von Höhe und Tiefe, Wasser, Bergbau, Tod und Jenseits wird im Schlußtraum Walts wieder aufgenommen; vgl. Kapitel 2.7.

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Gasthof (F 47/905) oder die Klage Vults, "daß in allen Musenkalendern leider der Ernst zu hart mit dem Spaß rangiere, wie in J. P...s Werken" (F 54/973), kann noch als harmloser Scherz abgetan werden. Ein wesentlich komplexeres Geflecht von Hinweisen auf eine Identität von Figur und Autor bzw. "Autor" und deren Verneinung ergibt sich in folgendem Fall. Walt nähert sich auf seiner Reise einem Ort namens Joditz. Es kam ihm aber vor, er hab' es schon längst gesehen, der Strom um das Dorf, der Bach durch dasselbe, der am Flusse steil auffahrende Wald-Berg, die Birken-Einfassung und alles war ihm eine Heimat alter Bilder. Vielleicht hatte einmal der Traumgott vor ihm ein ähnliches Dörfchen aus Luft auf den Schlaf hingebauet und es ihn durchschweben lassen.* Er dachte nicht daran, sondern an Abenteuer und an die Natur, die gern mit Ähnlichkeiten auf Steinen und in Wolken und mit Zwillingen spielet. * Es gibt zwar ein zweites Joditz mit gleicher Gegend - das Kindheitsdorf des gegenwärtigen Verfassers -, es liegt aber nicht in Haßlau, sondern im Vogtland, wohin gewiß nicht der Notar gekommen. (F 46/896f.)

Auch die Hinweise auf andere Werke Jean Pauls werden ironisch in Szene gesetzt.60 Nachdem er sich seiner Kindheit erinnert hat, bemerkt Walt: "'Das Schulmeisterlein Wutz von J. P. macht' es wie ich, so wunderbar errät ein Dichter das Geheimste.'" (F 58/1018) Oder Raphaela faßt ihre Vorfreude auf das Konzert des sich als blinden Baron ausgebenden Vult61 in die Worte: 'Wenn ich den Unglücklichen höre, zumal im Adagio, ich freue mich darauf, ich weiß, da 'sammlen sich alle gefangnen Tränen um mein Herz", ich denke an den blinden Julius im Hesperus, und Tränen begießen die Freuden-Blumen.' * Die Redensart hat sie aus dem Hesperus. (F 22/743f.)

Diese Äußerungen von Figuren zeigen eine Schätzung der Werke Jean Pauls, die für den Leser einen selbstironischen Charakter annimmt. Die emotionale Identifikation beruht auf einem Zirkel, der einzig den Romanfiguren auf der Fiktionsebene (die sich selbst als Ebene realitätsgetreuen Berichts ausgibt) verdeckt bleibt, nämlich der Tatsache, daß ihr

60 Vgl. Rehm (1964: 74). Iis gibt nicht nur eine Vernetzung der Werke Jean Pauls untereinander durch solche Querverweise und durch die Kontinuität bestimmter Figurentypen, sondern auch die "Nebentexte", die Noten, Anhänge etc. haben nach eigener Aussage einen Zusammenhang in der Art eines Wurzelstocks, aus dem mehrere Sprossen zur Erdoberfläche dringen: "Die folgende Satire ist zwar die erste; aber die im nächsten Buche ist die zweite - und so werden in allen meinen Werken die Satiren in fortlaufender Signatur fortgezählt: denn die Appendizes haben sämtlich, wie größere Vulkane, eine geheime Verbindung." ("Biographische Belustigungen"; WW 1/4: 362) 61 Der auch als Verfasser von Jean Pauls frühem Werk "Grönländische Prozesse" (mit genauer und wirklichkeitsgetreuer Angabe von Erscheinungsort, Verlag und Jahr) figuriert (F 14/666).

Verfahren des "Witzes"

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Innenleben ebenso wie das der Figuren in den anderen Werken von Jean Paul geschaffen wurde. Derartige kreisläufige Figuren werden an anderer Stelle mit beißendem Spott bedacht. [Walt] entschloß sich, heute nicht weiter zu reisen als nach dem sogenannten Wirtshaus zum Wirtshaus [...]. Vult mußte lange passen und seine Gedanken über die nächsten Gegenstände haben, z. B. über den Wirt, einen Herrnhuter, der auf sein Schild nichts weiter malen lassen als wieder ein Wirtshausschild62 mit einem ähnlichen Schild, auf dem wieder das gleiche stand; es ist das die jetzige Philosophie des Witzes, die, wenn der ähnliche Witz der Philosophie das Ich-Subjekt zum Objekt und umgekehrt macht, ebenso dessen Ideen sub-objektiv Widerscheinen lasset; z. B. ich bin tiefsinnig und schwer, wenn ich sage: Ich rezensiere die Rezension einer Rezension vom Rezensieren des Rezensierens, oder ich reflektiere auf das Reflektieren auf die Reflexion einer Reflexion über eine Bürste. Lauter schwere Sätze von einem Widerschein ins Unendliche und einer Tiefe, die wohl nicht jedermanns Gabe ist; ja vielleicht darf nur einer, der imstande ist, denselben Infinitiv, von welchem Zeitwort man will, im Genitiv mehrmals hintereinander zu schreiben, zu sich sagen: ich philosophiere. (F 12/653)

Selbstbezüglichkeit wird hier in der Form des infiniten Regresses und der potenzierenden Selbstanwendung eines Begriffs in Zusammenhang mit der Philosophie Fichtes und der Frühromantik, insbesondere Friedrich Schlegels gebracht. Jean Paul hat der Kritik dieser seiner Meinung nach überzogen idealistischen und subjektivistischen Position neben vielen vergleichbaren satirischen Seitenhieben ein eigenes literarisches Werk gewidmet, die "Clavis Fichtiana" (1800). Auch die "Vorschule der Ästhetik" enthält im Abschnitt "Poetische Nihilisten" die Ablehnung einer Kunstauffassung, für die "der regellose Maler, der den Äther in den Äther mit Äther malt" (WW 1/5: 32), steht. Der Absolutsetzung der produzierenden Subjektivität, die Jean Paul hierin sieht, stellt er, als Nachfolgeinstanz der traditionellen göttlichen Inspiration, "das Unbewußte", "etwas Dunkles" (WW 1/5: 60) als Schaffensgrund des Künstlers entgegen. Zur Begründung wird darauf verwiesen, daß eben aufgrund der Struktur des infiniten Regresses das Ich sich reflexiv nie vollständig erfassen kann. Überhaupt sieht die Besonnenheit nicht das Sehen, sondern nur das abgespiegelte oder zergliederte Auge; und das Spiegeln spiegelt sich nicht. Wären wir unserer ganz bewußt, so wären wir unsre Schöpfer und schrankenlos, (ebd.)

Als rein sprachliche Figur wird Selbstbezüglichkeit jedoch ausdrücklich legitimiert, und zwar in einem eigenen kurzen Abschnitt mit dem Titel "Der witzige Zirkel", zu dem am Ende des vorangehenden Abschnitts "Sprachkürze" mit einem besonders schönen Exemplar desselben

62 Es müßte richtig heißen "Wirtshaus" statt "Wirtshausschild"; vgl. Tönz (1970: 114).

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Jean Pauls "Flegeljahre"

übergeleitet wird: "Um nicht die Kürze über sie selber zu vergessen, wollen wir sie verlassen und zum - witzigen Zirkel kommen." (WW 1/5: 178) Beispiele finden sich in den "Flegeljahren" in großer Zahl.63 Das Schwindelerregende, das diese Figur annehmen kann, wird in folgender Stelle zu einer treffenden Darstellung der Verstricktheit Walts in seine eigene Phantasie, insbesondere bei seinen Liebesbeziehungen, genutzt. Vor dem Haus der geliebten Wina wünscht er sich: '[...] ja, war' ich nur der Traum, ich wollt' in ihren Schlummer ziehen und der Stern und die Rose und die Liebe und alles sein und gern verschwinden, wenn sie erwachte.' Er ging nach Hause zum ernsten Schlaf und hoffte, daß ihm vielleicht träume, er sei der Traum. (F 37/843)

Im Anschluß an das schon in Kapitel 2.2 erwähnte Spiel mit der Kopie des Briefes des "Autors" an den Stadtrat, die diesem beigelegt werden soll, da sie das zweite Kapitel der in Auftrag gegebenen Lebensbeschreibung darstellt, jedoch durch eben den Brief selbst unnötig wird, heißt es: Auf ähnliche Weise setzen Advokaten in ihren Kostenzetteln nur das Macherlohn für die Zettel selber an, setzen aber nachher, wiewohl sie ins Unendliche fort könnten, nichts weiter für das Ansetzen des Ansetzens an. (F 2/59T)64

Der infinite Regreß, der, akzeptiert man seine Voraussetzungen, tatsächlich in logische Abstrusitäten führt, wird hier mit der Textkonstitution verknüpft.65 Es soll nun untersucht werden, wie sich die vielfältigen unaufgelösten Spannungen auf der mikrostrukturellen Ebene zur Darstellung literarischer Prozesse im Zusammenhang mit dem "Roman

63 S. die Aufzählung bei Tönz (1970: 116f.). 64 Vgl. F 23/745: "Es wurde ein schöner Satz aus Glanzens gedruckten Reden angeführt: daß die Kinder für Geringschätzung des Alters die vergeltende Strafe gewiß von ihren eigenen Kindern empfangen würden. / Klothar entgegnete; 'Folglich hat das geringgeschätzte Alter auch einmal geringgeschätzt; und es geht ins Unendliche, oder man kann die Strafe erhalten ohne die Sünde.'" S. dazu Tönz (1970: 122). Seine Interpretation derartiger Stellen als "heitere Gleichnisse des tiefsten Verlangens Jean Pauls: Ins Unendliche zu gelangen" (ebd.) trifft sich mit dem Ergebnis von Böschensteins, im übrigen sehr luzider Analyse von Metaphernkonstruktionen Jean Pauls, die in ihren "Brandspuren" ein Zeichen der "Zündkraft der unlöschbaren Sehnsucht überschüssiger Schöpferkraft nach dem unbekannten Zentrum" sieht (1968: 63). Beide entschärfen die irritierende Leseerfahrung durch ihre Rückführung auf die Intentionen einer Autorpersönlichkeit, der wiederum die Motivationsstruktur einer traditionellen christlichen Religiosität unterlegt wird. Zur Kritik an Böschenstein vgl. auch die Rezension von Schweikert (1970). 65 Auch zur Kritik der Fichteschen Subjektphilosophie wird das Bild des Schreibprozesses benutzt: "Vult setzte mit einem angeketteten Schiefer-Stift auf den Schiefer mit Schiefer - so wie unser Fichtisches Ich zugleich Schreiber, Papier, Feder, Dinte, Buchstaben und Leser ist - seinen Namen [...]." (F 13/656)

Selbstreflexion des Romans im "Roman im Roman"

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im Roman" verhalten. Letztere könnte ja das Entstehen solcher Spannungen erklären helfen, sie könnte aber auch zu neuen Selbstbezüglichkeiten führen.

2.6. Selbstreflexion des Romans im "Roman im Roman" und Thematisierung der Funktion von Literatur Im Kapitel Nr. 14 "Modell eines Hebammenstuhls" schlägt Vult Walt das Projekt einer "Äther-Mühle" vor. 'Was kann ich nun dabei machen? Ich allein nichts; aber mit dir viel, nämlich ein Werk; ein Paar Zwillinge müssen, als ihr eigenes Widerspiel, zusammen einen Einling, ein Buch zeugen, einen trefflichen Doppel-Roman. Ich lache darin, du weinst dabei oder fliegst doch - du bist der Evangelist, ich das Vieh darhinter - jeder hebt den andern - alle Parteien werden befriedigt, Mann und Weib, Hof und Haus, ich und du. - Wirt, mehr Krätzer, aber aufrichtigen! - Und was sagst du nun zu diesem Projekt und Mühlengang wodurch wir beide herrlich den Mahlgästen Himmelsbrot verschaffen können, und uns Erdenbrot, was sagst du zu dieser Musenroß-Mühle?' (F 14/667)

Die Verknüpfung von himmlischen und irdischen Zwecken, von idealer und technischer Seite des Poetischen entspricht nicht nur Vults Maxime: "der Realismus ist der Sancho Pansa des Idealismus",66 sondern spiegelt sich auch im Titel des Werks. Vult schlug Flegeljahre vor; der Notar sagte offen heraus, wie ihm ein Titel widerstehe, der teils so auffallend sei, teils so wild. 'Gut, so mag denn die Duplizität der Arbeit schon auf dem ersten Blatte bezeichnet werden, wie es auch ein neuerer beliebter Autor

66 Eine Parallelisierung von Walt und Don Quijote findet sich F 46/896. Wie Wölfel Kafkas "Wahrheit über Sancho Pansa" auf Jean Paul und den von ihm geschaffenen "Autor" "Jean Paul" bezogen hat (1984: 57f.), so könnte man dies ebenso stimmig in Hinsicht auf Walt-Don Quijote und Vult-Sancho Pansa tun, was im folgenden gezeigt werden soll. "Die Wahrheit über Sancho Pansa / Sancho Pansa, der sich übrigens dessen nie gerühmt hat, gelang es im Laufe der Jahre, durch Beistellung einer Menge Ritterund Räuberromane in den Abend- und Nachtstunden seinen Teufel, dem er später den Namen Don Quixote gab, derart von sich abzulenken, daß dieser dann haltlos die verrücktesten Taten aufführte, die aber mangels eines vorbestimmten Gegenstandes, der eben Sancho Pansa hätte sein sollen, niemandem schadeten. Sancho Pansa, ein freier Mann, folgte gleichmütig, vielleicht aus einem gewissen Verantwortlichkeitsgefühl, dem Don Quixote auf seinen Zügen und hatte davon eine große und nützliche Unterhaltung bis an sein Ende." (Kafka 1953: 76f.)

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Jean Pauls "Flegeljahre"

tut, etwan: Hoppelpoppel61 oder das Herz.'68 Bei diesem Titel mußte es bleiben. (F 14/669f.) Der Roman ist ein "Widerspiel" der Brüder im doppelten und damit in diesem Fall ambivalenten Sinn des Wortes. Einerseits spiegelt es ihren Gegensatz wieder, andererseits soll es ihn zu einer Vereinigung bringen, die sonst nicht zu erreichen wäre. In der Einschätzung der hierfür zu wählenden Strategien tritt der Unterschied jedoch wieder zutage, andeutungsweise schon in folgender Stelle. Vult möchte einen tatsächlichen Vorfall in den Roman einbeziehen. 'Ist es nicht, als habe einer meiner besten Genien uns die Schlägerei als eine fertige Mauer mit Freskobildern für unsern Hoppelpoppel oder das Herz absichtlich so vor die Nase hingeschoben, daß wir unser romantisches Odeon nur darauf hinzumauern brauchen, bis sich die Mauer gerade da einfügt, wo es krumm läuft, Bruder?' 'Wenn alle Personalitäten dabei auszutilgen sind' - versetzte Walt - 'gut! Froher ists auch zu lesen als zu sehen. Gottlob, daß du nur siehst! - Ach was haben wir heute nicht zu reden, was gewiß in keinen Roman gehört und kommt!' 'Nicht?' sagte Vult. 'Darüber ließe sich noch reden, Walt.' (F 26/770)

Vults Vorgehen möchte ich mit Lévi-Strauss als "Bastelei" bezeichnen. Er nimmt, was er gerade findet, und baut es ein, nutzt es für seine Zwecke. Walt steht dem etwas skeptisch gegenüber. Er beharrt auf der Tilgung der Spuren des ursprünglichen tatsächlichen Kontexts des zu integrierenden Bruchstücks (die "Personalitäten") und betont die erheiternde Wirkung der Fiktionalisierung ("Froher ists auch zu lesen als zu sehen"). Die feste Grenze des Literarisierbaren, an die Walt glaubt, kennt der Bastler Vult nicht. Ihm ist grundsätzlich alles Material für seine Konstruktionen.69

67 Nach dem "Deutschen Wörterbuch" "eine reimende, zunächst an die verben hoppeln und poppein [...] sich anschließende Wortverbindung, die allgemein etwas bewegliches, unruhiges bezeichnet; [folgt der Beleg aus den "Flegeljahren"] sonst bezeichnet man mit hoppelpoppel ein gewisses getränk, dessen bereitung durch anhaltendes schlagen und rühren geschieht" (Grimm 1877: 1799). 68 Die physische Teilung des Herzens in zwei Herzkammern, die, wie gezeigt, zum gängigen Bildbestand in den "Flegeljahren" gehört (vgl. Kapitel 2.5), läßt sich mit der auch räumlichen Trennung von Walt und Vult, von der Grenze durch die Geburtsstube über die künstliche Wand in Gottwalts Mansarde im 55. Kapitel bis zur Glastür im Schlußkapitel in Zusammenhang bringen. Vgl. Neumann (1966: 53-58, bes. 57). 69 Vgl. Lévi-Strauss (1962: 2644) und die Darstellung bei Derrida (1967a [1972: 431]): "Der Bastler, sagt Lévi-Strauss, ist derjenige, der 'mit dem, was ihm zur Hand ist' werkelt. Diese Werkzeuge findet er in seiner Umgebung vor und kann sich ihrer sogleich bedienen, sie sind schon da, wenn sie auch nicht speziell für das Vorhaben entworfen wurden, für das sie jetzt verwendet werden und für das man sie behutsam zuzurichten versucht; man zögert nicht, sie, wenn nötig, auszuwechseln oder mehrere gleichzeitig auszuprobieren, auch wenn ihr Ursprung oder ihre Form einander fremd

Selbstreflexion des R o m a n s im "Roman im R o m a n "

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Auch Walt nimmt zunehmend die technische Perspektive an. Als endlich der gute Notar an der Langweile, die e r zu machen glaubte, selber eine fand [...]: so studierte er am Elsasser [Flitte] heimlich den Franzosen (denn Elsaß, sagt' er, ist doch französisch genug) und goß ihn im Vorbeigehen ab f ü r den Abgußsaal seines R o m a n s und hob ihn auf. ( F 33/ 824)

Doch er tut das wenig bewußt, kommt eher selbst in Abhängigkeit von eigenem und fremdem Geschriebenen. Als er vom Vater seiner angebeteten Wina als Briefkopist angestellt wird, ist das für ihn schon eine Quelle höchster Lust. "Wie auf einer sanftwallenden Wolke saß er und schrieb oft eine briefliche Wendung ab, die sich für seine Lage sehr gut schickte." (F 34/828f.) Die Zusammenstimmung von Schrift und geliebter Stimme gar bringt ihm seine versteinerten Verhältnisse zum Tanzen, und daß dies nur in der Phantasie geschieht, stört ihn nicht. A m vierten Tage hört' er, unter dem Abschreiben einer schönen erotischen Gestikulation im Briefe, eine weibliche Singstimme, die, obwohl aus d e m dritten Z i m m e r , doch ebensogut aus dem dritten Himmel kommen konnte. E r kopierte feurig weiter; aber eine Sonnenstadt nach der andern erbaueten in ihm diese O r p h e u s - T ö n e , und die Felsen des Lebens tanzten nach ihnen. ( F 34/829f.)

Die reale Entfernung ("aus dem dritten Zimmer") projiziert er auf eine imaginäre Wertskala ("aus dem dritten Himmel"), und nach der Logik dieser Operation bedeutet die absolute Unerreichbarkeit das höchste Glück. Walt folgt hier, im Glauben, die tatsächliche Vereinigung mit Wina zu begehren, auf der Ebene der Imagination unbewußt der expliziten Überzeugung Vults: ist die Person nicht abwesend, die man zu lieben hat (abwesend gehts sehr; auch brieflich [!]), o d e r was ebensogut ist, abgegangen mit T o d (Liebe und T e s t a m e n t werden durch Sterben erst ewig): so hat man nach den bekannten wenigen Flitter-Sekunden seine Blei-Jahre, bringt sein Leben wie an einem Kamin hin, halb den Steiß im Feuer, halb den Bauch im Frost; oder wie ein Stück Eis im Wasser, oben von d e r schönen Sonne, unten durch die Wellen zerfließend. ( F 18/714f.)

Was bei Vult zu einer rationalen Maxime des Handelns wird (es "heirate der Teufel oder ein Gott"), führt bei Walt zu einer Auratisierung der Geliebten ("oh! alles ist Ferne, jede Nähe"; F 25/763), die letztlich

sind usf. [...] Nennt man Bastelei die Notwendigkeit, seine Begriffe d e m Text einer m e h r o d e r weniger kohärenten oder zerfallenen Überlieferung entlehnen zu müssen, dann muß man zugeben, daß jeder Diskurs Bastelei ist. D e r Ingenieur, den Lévi-Strauss dem Bastler entgegensetzt, müßte dann aber seinerseits die Totalität seiner Sprache, Syntax und Lexik, konstruieren. In diesem Sinne ist der Ingenieur ein Mythos: ein Subjekt, das der absolute Ursprung seines eigenen Diskurses wäre. [...] da Lévi-Strauss uns an a n d e r e r Stelle mitteilt, daß die Bastelei mythopoetisch sei, kann man ganz sicher sein, daß der Ingenieur ein vom Bastler erzeugter Mythos ist."

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Jean Pauls "Flegeljahre"

denselben Effekt hat.70 Beide sind ewige Junggesellen,71 und das einzige, was sie "zeugen", ist "Hoppelpoppel". Indem die Mechanismen der Selbsttäuschung Walts aufgedeckt werden, gerät diese in die Nähe eines intentionalen Selbstbetrugs. Der Widerspruch, der durch die willentliche Manipulation von eigenen Gefühlen entsteht, die man zugleich pathetisch als Produkt einer Überwältigung durch übergeordnete Mächte ausgibt, wird durch den komischen Gegensatz des (gelingenden oder nicht gelingenden) Genusses an selbsterzeugtem oder zumindest lustvoll beschriebenem Leid dargestellt: "Ganz verdrüßlich darüber, daß er nicht traurig werden wollte" (F 38/849); oder: "Ohne ihr Wissen war ihr Ton durch langes Beschreiben der Schmerzen ganz munter geworden." (F 38/853) 72 Diese Lust am eigenen oder fremden Leiden hängt bei Walt mit seiner Orientierung an empfindsamer Literatur zusammen. Er, von dem zuvor gesagt wird, daß er "aus englischen Romanen wußte, wie weit weibliche Zartheit gehe" (F 38/850), war seelenvergnügt über alle die Rührungen, die er teils sah, teils teilte. Liebes FrauenWeinen war ihm eine so seltene Kost als langer grüner Ungar, Nierensteiner Hammelhoden, Wormser liebe Frauen-Milch oder andere Weine, die bei Herrn Kaufmann Korthum in Zerbst zu haben sind. Er blickte ihr mit allen Zeichen des teilnehmenden Herzens in ihre Augen voll Wasser-Feuer und hätte wohl gewünscht, die Delikatesse englischer Romane verstattete ihm, ihre zarte weiße Hand in etwas zu fassen, welche vor ihm stark im besonnten Grüne gaukelte und in den Tau der Gebüsche fuhr und darauf ins Haar, um es damit nach der Vorschrift eines Engländers wie andere Gewächse zu stärken. (F 38/852)

Raphaela, die Tochter des Kaufmanns Neupeter, von der hier die Rede ist, behandelt nicht nur ihr Haar nach den Regeln englischer Gartenkunst, sondern auch die Natur nach den Regeln englischer sentimentaler Literatur.73 Darauf fragte der Kaufmann den Grafen, warum er nicht aufgucke, z. B. an die Bäume, wo manches hänge. Dieser sah auf; weiße Zolltafeln der Empfindung waren von

70 Vgl. Maurer (1981: 57-68). Zur Gleichsetzung Winas mit der Jungfrau Maria und einer aus Walts Phantasie geborenen Athene s. Neumann (1966:31-33), zur Novalis-Nachfolge ebd.: 29, 31 u. 82f. 71 Vgl. Hörisch (1979: bes. 161-163). 72 Auch das erzwungene Weinen in der Testamentseröffnungsszene ist in diesem Zusammenhang zu nennen. 73 "Mit Raphaela erscheint Empfindsamkeit als inszenierbar." (Neumann 1966: 46) Zu ihrer Rolle als Gegenfigur Winas s. ebd.: 33 u. 42-47; zum Park Neupeters als groteske Parodie auf rousseauistische Naturschwärmerei und ihre bürgerliche Adaption 47f. u. Sprengel (1977: 286f.).

Selbstreflexion des Romans im "Roman im Roman"

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Raphaelen darangeschlagen zum Überlesen; 'bei Gott, meine Tochter hat sie ohne fremde Hilfe ersonnen', sagte der Vater, 'und sie sind sehr neu und hochtragend geschrieben, so glaub' ich.' Der Graf stand vor den nächsten Gefühls-Brettern und HerzBlättern poetischer Blumen fest; auch der Notar las den an die Welt wie an ArzneiGläschen gebundnen Gebrauchzettel herab, welcher verordnete, wie man schöne Natur einzunehmen habe, in welchen Löffeln und Stunden. Walten gefiel die Gefühls-Anstalt, es waren doch Antritts- oder Oster-Programmen der Frühlings-Natur, Frachtbriefe der Jahrs-Zeiten, zweite, heimlich abgedruckte Titelblätter der Natur-Bilderbibel. (F 24/752f.)

Daß hier eher die Kunst der Natur die Regel gibt als umgekehrt, nimmt Walt nicht zur Kenntnis. Sein Glaube ist so fest, daß er auch durch die Vulgarisierung in einer solchen 'biblia pauperum' nicht gefährdet wird. Er meint, "man sollte die Poesie verehren, auch bis ins Streben darnach." (F 24/753) Die Motive der Überlagerung der Realitätswahrnehmung durch literarische Muster und des Paradoxes der intentionalen Selbsttäuschung haben ihren Höhepunkt in der Reise Walts, die im 39. Kapitel "Papiernautilus"74 beginnt. Die gesamte Reise ist nach dem Muster des Entwicklungsweges des Helden im Bildungsroman gestaltet, und Walt folgt dem von der Naivität des Aufbruchs bis zu den rätselhaften Hinweisen auf eine geheime Ordnung, eine lenkende Hand im Hintergrund mit uneingestandener Erwartung auf ebendiesen Verlauf. Seine Hauptabsicht war, den Namen der Stadt gar nicht zu wissen, der er etwa unterwegs aufstieß, desgleichen der Dörfer. Durch eine solche Unwissenheit hofft' er, ohne alles Ziel unter den geschlängelten Blumenbeeten der Reise umherzuschweifen und nichts zu begehren sowie zu besehen, als was er eben habe - [...] - in jeder Ortschaft selber den Namen der Ortschaft zu erfragen und darüber sich ganz heimlich zu ergötzen - und dabei, bei solchen Maßregeln in einem solchen strich Landes, der vielleicht mit Landhäusern, Irrgärten, Tharanden, plauischen Gründen vorher, Bergschlössern voll heruntersehender Fräuleins-Augen, Kapellen voll aufgehobener Beter-Augen und überhaupt mit Pilgern, Zufällen und Mädchen ordentlich übersäet sein konnte, in romantische Abenteuer von solcher Zahl und Güte hineinzugeraten, als er freilich nie erwarten wollen. (F 39/855)

Walt möchte also zufällig auf den mäanderartigen Wendungen seines Weges Außergewöhnlichkeiten begegnen, die so "wimmeln" sollen, wie er dies von den Einfällen Vults behauptet hat: "'Du wimmelst von Einfällen.'(versetzte Walt) 'Scherzhaft zu reden, hast du so viele Windungen und Köpfe wie die lernäische Schlange.'" (F 14/667) Bei einer weiteren

74 Da der Nautilus sich durch Rückstoß fortbewegt, sieht er nicht, wohin er schwimmt. Der Zusatz "Papier-" bedarf keiner Erläuterung. Gemeint ist wohl das sogenannte "Papierboot" (Argonauta argo und A. nodosus), das eigentlich kein Nautilus ist.

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Jean Pauls "Flegeljahre"

Verwendung des "Mäander"-Bildes75 tritt der Charakter der sanften Täuschung und Verdeckung, die auf kunstvolle Weise einen angenehm überraschenden Effekt erreichen soll, deutlich hervor. Aus Angst, Vult könne Walt seine Bitte abschlagen, "wollt' er ihn etwas künstlich, wie in einem englischen Garten, auf feinen Schlangenlinien und mit Mäandern vor den Vorschlag wie vor ein Denkmal führen." (F 59/1044) Die anrührende Wirkung des Kunstprodukts "Denkmal" wird durch ein zweites Kunstprodukt, den mäandrierenden Weg, verstärkt. Der Spaziergänger nimmt es als plötzliche Erscheinung wahr, die seine Empfindung unvorbereitet trifft. Die Ermöglichung solcher säkularisierter Epiphanien macht für Walt den kunstvollen Umweg der Schlangenlinie zum Inbegriff der Steigerung des Alltäglichen ins Kosmische, die selbst die Figuren von Eisläufern mit einer verborgenen Weltenharmonik verbindet. "'Göttlich' rief Walt, als er [mit Schlittschuhen] fahren sah - 'fliegen die Gestalten wie Welten durcheinander, umeinander; welche Schwung- und Schlangenlinien!'" (F 60/1047) Doch er selbst ist zu solchen Mäandern nicht fähig er kann nicht eislaufen. Das muß Vult für ihn übernehmen, der wirklich kann, was Walt sich nur erträumt - auf dem erstarrten Elemente tanzen. "Aber welche entwickelnde Lebenskraft war mit Vulten aufs Eis gefahren, und wie schwebte der Geist über dem Wasser, das gefroren war!" (F 60/1048) Auch dem verschlungenen Reiseweg Walts kann nur das Eingreifen Vults den Anschein von göttlichen "Schwung- und Schlangenlinien" verleihen. Auf Walts Seite entspricht dem die Bereitschaft, jeden merkwürdigen Zufall als Zeichen und jede Banalität als Tiefsinn zu betrachten. Auf dem Fenster sah er neben der Uhr das Schreibbuch des Wirts-Kindes liegen, dem zu drei Zeilen die Worte Gott - Walt - Harnisch vorgezeichnet waren. Er war sehr erstaunt und fragte den Wirt, ob er etwan Harnisch heiße. 'Karner ist mein Name', sagte dieser. Walt zeigte ihm das Buch und sagte, er selber heiße, wie da stehe. D e r Wirt fragte grob, ob er denn auch wie die vorige Seite heiße: Hammel - Knorren Schwanz etc. Jetzt wollte der Notar wieder Flügel ['Wachsflügel... für den Äther'; F 41/869] anstatt der Pferde [des Wagens] nehmen und fort, und vorher bezahlen, als ihn ein Bettelmann dadurch aufhielt und erfreuete, daß er sein Almosen in Naturalien eintreiben wollte und um ein Glas Bier bettelte, wahrscheinlich ein stiller Anhänger des physiokratischen 76 System (F 41/871)

75 Den Hinweis auf dieses Bild verdanke ich Jürgen Link. 76 Nach der physiokratischen Theorie, begründet von François Quesnay (1694-1774), bildet der Bodenertrag die alleinige Quelle des nationalen Wohlstands.

Selbstreflexion des Romans im "Roman im Roman"

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Liest Walt in die Bettelei eines Säufers eine nationalökonomische Theorie hinein, so überliest er umso konsequenter wie jeder imaginierende Leser alle Hinweise auf die Entstehung, genauer das Gemacht-sein dessen, was er liest. Es verbirgt sich ironischerweise im Partizip der Vergangenheit des Verbs "facere". Walts Auge fiel auf eine Quodlibetszeichnung, auf welcher mit Reißblei fast alle seine heutigen Weg-Objekte, wie es schien, wild hingeworfen waren. Von jeher hielt er ein sogenanntes Quodlibet für ein Anagramm und Epigramm des Lebens und sah es mehr trübe als heiter an - jetzt aber vollends; denn es stand ein Januskopf 7 7 darauf, der wenig von seinem und Vults Gesicht verschieden war. Ein Engel flog über das Ganze. Unten stand deutsch: 'was Gott will, ist wohlgetan'; dann lateinisch: 'quod Deus vult, est bene factus.' Er kaufte für seine Bruder das tolle Blatt. (F 42/877)

Der weist ihn später darauf hin, daß es "factum" hätte heißen müssen, sollte der lateinische Satz die Übersetzung des deutschen sein (F 51/939). Läßt sich "quod Deus vult" nur als Name lesen, dann ist das ein deutlicher Hinweis auf Vults Urheberschaft des Ganzen, die sich auch schließlich herausstellt. Walt sieht ihn nicht, weil er ihn mit seiner Lesehaltung nicht sehen kann und insgeheim auch nicht will, so wie der Krimileser die Hinweise auf den Täter erst im nachhinein als solche erkennt. Der "Selbst-Romanschreiber" 78 (F 43/881) Walt, der über seine Reiseerlebnisse Tagebuch führt, um sie später für den Roman zu verwenden, ist über die Enthüllung ihrer Künstlichkeit so enttäuscht wie nach Kant alle, die durch unechten Nachtigallengesang "zu ihrer größten Zufriedenheit hintergangen" schließlich dem Täuscher auf die Schliche kommen. Sobald man aber inne wird, daß es Betrug sei, so wird niemand es lange aushalten, diesem vorher für so reizend gehaltenen Gesänge zuzuhören; und so ist es mit jedem anderen Singvogel beschaffen. Es muß Natur sein oder für uns dafür gehalten werden, damit wir an dem Schönen als einem solchen ein unmittelbares Interesse nehmen können (Kant 1793: 173).

Wird jedoch Natur ins Innere des genialen Subjekts verlagert, wie es schon bei Kant geschieht, so wird der Unterschied zwischen "Natur sein" und "für Natur gehalten werden" und damit auch der "Irrtum", eines für das andere zu nehmen, "unmerklich". Walt "nahm einen Judenjungen, der im nächsten Wirtshaus schlug, für eine wahre Nachtigall. Ein unmerklicher Irrtum, da die Philomele, die uns singt, eigentlich doch nirgends sitzt und nistet als in unserer Brust!" (F 57/1016) Vult würde der Nachtigall wohl eine kleine Sourdine in den Schnabel schieben, "die man

77 Zum Janusmotiv s. Neumann (1966: 49-53). 78 Zu Zusammensetzungen mit "selbst" bei Jean Paul s. Röpke (1973).

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in die Weite des Waldhorns stecke, dessen nahes Blasen dann wie fernes Echo klinge." (F 17/697f.) Und Walt wiederum wäre ein dankbares Opfer für solche Machinationen, hat doch schon eine leichte Verschiebung der Essenszeit eine überaus romantisierende Wirkung auf ihn. Die großen Eßglocken riefen die Stadt zusammen [...]; dies wirkte auf den satten Notar, der jetzt nicht zum Essen ging, sehr romantisch. Gibt es einen wahren Mann nach der Uhr, der zugleich die Uhr selber ist, so ists der Magen. [...] Wird nun dem gedachten Magen oder Manne nach der Uhr seine Speise-Uhr um Stunden voraus- oder zurückgestellt: so macht er wieder den Geist so irre, daß dieser ganz romantisch wird. Denn er mit allen seinen Himmels-Sternen muß doch der körperlichen Umdrehung folgen. Das Frühstück, das ein Spätstück gewesen, warf den Notar aus einem Gleise, worin er seit Jahrzehnten gefahren war, so weit hinaus, daß vor ihm jeder Glockenschlag, der Sonnenstand, der ganze Nachmittag ein fremdes seltsames Ansehen gewann. (F 52/958f.)

Die Rückführung geistiger Phänomene auf ihre körperlich-physischen Grundlagen79 erhält eine besondere Ausprägung in der Darstellung der Funktion von Texten für die Einheitsstiftung in bezug auf das eigene Leben. Die Orientierung Walts an Petrarca führt zu folgendem Erzählerkommentar zur Identifikation mit - vornehmlich literarisch vermittelten Vorbildern. So geht eigentlich in dieser Minute kein Jüngling in ganz Jena, Weimar, Berlin u.s.w. über den Markt, der nicht glauben müßte, als Schrein - Sakramentshäuschen - HeiligenHaus - Rindenhaus - oder Mumienkasten irgendeines jetzt oder sonst lebenden GeisterRiesen heimlich herumzulaufen, so daß, wenn man besagten Schrein und Mumienkasten aufschlüge, der gedachte Riese deutlich ausgestreckt darin läge und munter blickte. Ja Schreiber dieses war früher fünf bis sechs große Männer schnell nacheinander, so wie er sie eben gerade nachahmte. Kommt man freilich zu Jahren, nämlich zu Einsichten, besonders zu den größten, so ist man nichts. (F 18/710)

Vult geht einen Schritt weiter, indem er den roten Faden des Lebens mit einer nicht nur literarischen, sondern sogar drucktechnischen Metapher belegt: "auf jedem frischen Druckbogen des Lebens kommt immer unten der Haupttitel des Werks wieder vor." (F 18/714) Der zusammenhangerzeugende Effekt von Literatur auf Leser hat als Pendant eine Projektionsoperation der Autoren, die aber auch ihre Probleme mit sich bringt. [...] so schreibt jeder Verfasser einer Weltgeschichte damit seine eigne mit unsichtbarer Dinte dazwischen, weil er an die Eroberungen, innern Unruhen und Wanderungen der Völker seine eignen herrlich knüpfen kann. Wer aber nichts hat und tut, woran er seine Empfindungen bindet, als wieder Empfindungen: der nehme Lang- und Querfolio-

79 Zu der auch die Revitalisierung der Trunkenheitsmetapher gehört; vgl. die Wechselrede von Walt und Klothar in Kapitel Nr. 23 (s. oben Kapitel 2.5) und F 34/829: "er wankte heim mit einem Kopfe, der sich ein wenig im Herzen vollgetrunken hatte."

Selbstreflexion des R o m a n s im "Roman im R o m a n "

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Papier und bringe sie dazu, nämlich zu Papier. N u r wird e r D a n a i d e n - und Teufelsarbeit haben: während er schreibt, fällt wieder etwas in ihm vor, es sei eine E m p f i n d u n g o d e r eine Reflexion über das Geschriebene - dies will wieder niedergeschrieben sein - kurz der beste Läufer holet nicht seinen Schatten ein. ( F 56/998)

Der Versuch der Einheitsstiftung und Selbstbegründung durch Literatur, den Jean Paul aus einem "Trost-Defekt" (WW 1/5: 401) ableitet, führt notwendigerweise, da jeder Eindruck von Fremdbestimmung vermieden werden muß, zur Selbstbezüglichkeit des Kunstwerks. Dieses wird so zu einer Spiegelfläche für ebenfalls autoreferentielle Projektionen von Autoren und Lesern, die immer nur sich darin darstellen bzw. sich dargestellt finden. Diesen Effekt kann jedoch nur eine poietische Tätigkeit ermöglichen, durch die die schreibenden und lesenden Subjekte und alles sie Bedingende ins Kunstwerk eingeht. Der dadurch entstehende und im Zitat beschriebene infinite Regreß - das Kunstwerk müßte sich das durch den Schreibprozeß in es eingehende heterogene Material organisch integrieren, dazu wäre jedoch wieder ein erneuter Schreibprozeß nötig usw. - ließe sich nur umgehen, wenn man Literatur als "trojanisches Pferd" akzeptierte, von dem man nicht wissen kann, was alles in ihm steckt. Oder durch einen "Trick", der allerdings die angestrebte Funktion von Literatur ad absurdum führt, weil er nur durch den Tod des Autors ermöglicht wird. Vult bemerkte, wenn ein Romanschreiber gewiß wüßte, daß e r sterben würde - z.B. e r brächte sich nur [!] um -, so könnt' er so seltsame herrliche Verwicklungen wagen, daß e r selber kein Mittel ihrer Auflösung absähe, a u ß e r durch seine eigne; denn j e d e r würde, wenn er tot wäre, die durchdachteste Entwicklung voraussetzen und darnach herumsinnen. 'Weißt du denn gewiß, Walt, daß du am Leben bleibst? Sonst wäre m a n ches zu machen.' ( F 57/1010)

Allein der Tod, als der einzige konsequente Abschluß und konstruktive Fluchtpunkt einer Lebensgeschichte, schafft den vollkommen selbstreferentiellen Roman und macht seinen Autor zum vollendeten Künstler, in makabrem Doppelsinn des Wortes. Tode als Auflösungen von "Knoten"80 spielen eine besondere Rolle bei Jean Paul. Siebenkäs kann seine

80 Vgl. die folgende Stelle aus der "Unsichtbaren Loge": "Wenn man nun fragt, warum ein Werk nicht vollendet worden, so ist es noch gut, wenn man nur nicht fragt, warum es angefangen. Welches Leben in der Welt sehen wir denn nicht u n t e r b r o c h e n ? U n d wenn wir uns beklagen, daß ein unvollendet gebliebener R o m a n uns gar nicht berichtet, was aus Kunzens zweiter Liebschaft und Eisens Verzweiflung d a r ü b e r geworden, und wie sich Hans aus den Klauen des Landrichters und Faust aus den Klauen des Mephistopheles gerettet hat - so tröste man sich damit, daß d e r Mensch rund h e r u m in seiner Gegenwart nichts sieht als Knoten, - und erst hinter seinem G r a b e liegen die Auflösungen; - und die ganze Weltgeschichte ist ihm ein unvollendet gebliebener

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Jean Pauls "Flegeljahre"

Verhältnisse nur durch seinen Scheintod entwirren. Der damit verbundene Weggang Leibgebers ist ein vorweggenommener Tod, der im "Titan" zu einem wirklichen wird. Der wahnsinnige Schoppe, alias Leibgeber, hält Siebenkäs für seinen ihn bedrohenden Doppelgänger und stirbt vor Schreck. Die andere Gegenfigur Albanos, Roquairol, inszeniert seinen Tod als Theaterstück, nachdem er durch einen Schauspielertrick den Tod Lindas verursacht hat. Als komisches Element erscheint die Vorherbestimmtheit des Todes im "Quintus Fixlein".81 Der Wunsch nach der vollständigen Einholung des im Roman erzeugten Sinnes durch die Einschreibung der eigenen Geschichte in die Fiktion einerseits und damit die Literarisierung des eigenen Lebens andererseits ist ein Grundmotiv Jean Paulschen Schreibens. Doch es erscheint immer gebrochen, einmal durch die Ausweglosigkeit im Teufelskreis des unendlichen Selbstverweises, durch die in Jean Pauls Texten immer wieder dargestellte Unmöglichkeit für einen Autor, seinen schreibenden und sich dadurch ständig entfernenden Schatten einzuholen, und, wie Benjamin es in dem Aufsatz "Der Erzähler" (1936) in bezug auf den Roman im allgemeinen formulierte, durch die "Ratlosigkeit, mit der sich sein Leser in eben dieses geschriebene Leben hineingestellt sieht." Die Ratlosigkeit resultiert daraus, daß der Roman nie mehr erreichen kann, als daß "er den Leser, den Lebenssinn ahnend sich zu vergegenwärtigen, dadurch einlädt, daß er ein 'Finis' unter die Seiten schreibt." (Benjamin GS II: 455)82 Zum anderen wird der, der hier nach größerer Gewißheit und dauerhafter Präsenz strebt, selbst zur Romanfigur und verfällt ihrem Gesetz. Es ist das Wesen der Romanfigur [...], daß sich der 'Sinn' von ihrem Leben nur erst von ihrem Tode her erschließt. Nun aber sucht der Leser des Romans wirklich Menschen, an denen er den 'Sinn des Lebens' abliest. Er muß daher, so oder so, im voraus gewiß sein, daß er ihren Tod miterlebt. Zur Not den übertragenen: das Ende des Romans. Doch besser den eigentlichen. [...] Nicht darum also ist der Roman bedeutend, weil er, etwa lehrreich, ein fremdes Schicksal uns darstellt, sondern weil dieses fremde Schicksal kraft der Flamme, von der es verzehrt wird, die Wärme an uns abgibt, die wir aus unserem eigenen nie gewinnen. Das was den Leser zum Roman zieht, ist die Hoffnung, sein fröstelndes Leben an einem Tod, von dem er liest, zu wärmen. (Benjamin GS II: 456f.)

Roman." (WW 1/1: 13) 81 S. Böhn (1992), Kap. 3. 82 Benjamin wird mit Sigle "GS", Band- und Seitenzahl nach den "Gesammelten Schriften" zitiert.

D e r Schluß d e r "Flegeljahre"

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2.7. Der Schluß der "Flegeljahre" "Walt verstand ihn nicht; denn oft kam es ihm vor, als finde Vult zuweilen später den Sinn als das Wort." (F 57/1012) Das wäre angesichts der technisch-taschenspielerischen Virtuosität seines Witzes nicht verwunderlich. Betont doch auch der Erzähler aus Anlaß einer Würdigung der Korrektoren, daß man sich immer nur auf eines konzentrieren könne, das Wort oder den Sinn. [...] denn verfolgt [der Korrektor] wie ein Rezensent die Buchstaben, so entrinnt ihm der Sinn, und er sitzt immer trister da [...]. Will e r a b e r Sinn genießen und sich mit nachheben: so rutscht er blind und glatt über die Buchstaben hinweg und lasset alles stehen; reißet ihn gar ein Buch so hin wie die zweite Auflage des Hesperus, so sieht er gar keinen gedruckten Unsinn mehr, sondern nimmt ihn f ü r geschriebnen und sagt: 'Man verstehe nur aber erst den göttlichen A u t o r recht!' - Ja wird nicht selber der Korrektor dieser Klage bloß aus Anteil an dem Anteil, den ich zeige, so manches übersehen? ( F 59/1034)

Daß das Zeichen Priorität gegenüber seinem Sinn haben könnte, muß für Walt allerdings der Gipfel des Unverständlichen sein.83 Die Spiegelung des einen im andern macht gerade das Kernstück seiner Auffassung von Dichtung und auch seiner poetischen Produktion aus. Eine große Zahl seiner Streckverse oder Polymeter ist charakterisiert durch eine Zweiteilung in die Nennung oder Beschreibung eines Dinges bzw. einer Situation einerseits und eine ihm zugewiesene Bedeutung andererseits, häufig vermittelt durch die Spiegelmetapher wie im folgenden Beispiel. D e r Widerschein des Vesuvs im M e e r 'Seht, wie fliegen drunten die Flammen unter die Sterne, rote Ströme wälzen sich schwer um den Berg der Tiefe und fressen die schönen Gärten. A b e r unversehrt gleiten wir über die kühlen Flammen, und unsere Bilder lächeln aus b r e n n e n d e r Woge.' D a s sagte der Schiffer erfreut und blickte besorgt nach dem d o n n e r n d e n B e r g auf. A b e r ich sagte: 'Siehe, so trägt die Muse leicht im ewigen Spiegel den schweren J a m m e r d e r Welt, und die Unglücklichen blicken hinein, aber auch sie e r f r e u e t d e r Schmerz.' ( F 9/Ö34) 84

So wie sich der Vesuv im Meer reflektiert, so spiegelt das gesamte Bild die Transformationsleistung der Poesie, die dem Irdischen seine höhere Bedeutung zuweist und es so von seinem Leid erlöst. Das Kapitel Nr. 9 mit dem Untertitel "Streckverse", in dem die ersten derselben, auch der

83 Auch Neumann konstatiert, daß Walt "die Disparität von Sinn und Zeichen nicht kennt" (1966: 33). 84 Dieser Polymeter ist häufig analysiert worden; vgl. Schlüer (1967), Brüninghaus (1967: 65) u. M a u r e r (1981: 20-22).

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zitierte, vorgestellt werden, hat den Titel "Schwefelblumen".85 Der Satz, der den Zusammenhang zwischen Titel und Untertitel erklärt, umreißt zugleich die Eigenart der Polymeter: "was uns Schwefelregen der Strafe und Hölle deucht, offenbart sich zuletzt als bloßer gelber Blumenstaub eines zukünftigen Flors." (F 7/625)®® Der "große Todesfluß", in den sich die tödlich einbrechenden Wasser eines Bergwerks verwandeln (F 23/750), ist ebenfalls ein solcher flüssiger Spiegel, der die äußere Welt auflöst und in veränderter Gestalt widergibt.87 Der Gegensatz von oben und unten, Himmel und Wasser, Sterben und Gebären findet sich auch in Walts Traum im Schlußkapitel. [...] das Meer höhlte sich unter ihr [der Sonne] aus und türmte in ungeheuren bleiernen Schlangen-Wülsten am Horizonte sich auf sich selber auf, den Himmel zuwölbend - und unten aus dem Meeres-Grund stiegen aus unzähligen Bergwerken traurige Menschen wie Tote auf und wurden geboren. (F 64/1084f.)

Auch die Vorstellung eines Wasserfalls löst ähnliche Bildkombinationen aus. Walt sagt über Wina: 'O sie könnte im wilden Wahnsinn [des Schlafs] ja recht gut träumen, daß wir beide unter dem Wasserfalle ständen, verbunden aufflögen in ihn, umarmend hinschwämmen auf seinem flüssigen Feuergolde und zum Sterben herabstürzten mit ihm und vergöttert still nun weiterflössen durch die Blumen, in den Strahlen, sie mit ihrer Welle in meine schimmernd, und wir so uns ineinander verrönnen in das weite hohe blaue reine Meer, das sich über die schmutzige Erde deckt. (F 5 1 / 940f.)

Dieser Vereinigungsmetaphorik, die sich vor allem auf einer vertikalen Achse bewegt und letztlich alles zu einer unterschiedslosen Einheit verflüssigt, setzt Vult eine horizontale Polarität entgegen, die Zusammengehörigkeit nur als Gegensatz und Spiel von Anziehung und Abstoßung kennt. "'Sagt mir lieber, Ihr Kauz, von was ich jetzt auszuschweifen habe in Euerem Kapitel, damit wir zusammenbleiben!' sagte Vult [zu Walt]." (F 57/1010) Dem entspricht auch seine Verwendung der Spiegelmetapher, die, wie so oft, durch die Berücksichtigung technischer Details zu ganz anderen Ergebnissen führt als diejenige Walts.88 'Wir beide waren uns einander ganz aufgetan, so wie zugetan ohnehin; uns s o durchsichtig wie eine Glastür; aber Bruder, vergebens schreibe ich außen ans Glas meinen Charakter mit leserlichen Charakteren: du kannst doch innen, weil sie umge-

85 86 87 88

Eine kristalline Form des Schwefels. Hinweis bei Neumann (1966: 21). Vgl. Kapitel 2.5. Vult schleift den "Spiegel in eine Brille" um, was man, wie der "Autor" meint, mit jedem "Werk der Darstellung" machen kann (F 2/596). Er macht also aus dem poetischen Instrumentarium ein Erkenntnismittel. Vgl. Wiethölter (1981: 182).

Der Schluß der "Flegeljahre"

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kehrt erscheinen, nichts lesen und sehen als das Umgekehrte. Und so bekommt die ganze Welt fast immer sehr lesbare, aber umgekehrte Schrift zu lesen.'" (F 64/1081)

Nur die vorgetäuschte Durchsichtigkeit des Spiegels in eine illusionäre Tiefe ermöglicht die Verklärung dessen, was darin sichtbar wird.89 Die tatsächliche zeigt nur seine Verkehrung. Das soeben zitierte Resümee der Beziehung der Brüder durch Vult im letzten Kapitel der "Flegeljahre" ist eine unmittelbare Reaktion auf den Höhepunkt der Polarisierung ihres Verhältnisses im vorangehenden Kapitel "Titan-Schörl".90 Es schildert einen "Larven-Tanz", wie der Untertitel lautet, also einen Maskenball, der von Walt und Vult in signifikant unterschiedlicher Weise erlebt wird. Walt verleiht dem Durcheinander der verschiedensten Stände, Berufe und Nationalitäten sogleich mit der Vorstellung der Auflösung aller irdischen Ordnungen "am jüngsten Tage" einen höheren Sinn (F 63/1071). Er begegnet hier einem Sinnbild dessen, nach dem er im Grunde strebt und was sein Verhalten im Kern bestimmt, nämlich völlig autonomer Selbstbezüglichkeit, bei der Subjekt und Objekt und damit alle Interaktion, auch alle Zweckbestimmungen und Abhängigkeiten in einem Imaginationsraum freien Spiels aufgehoben sind. "Am meisten zog ihn und seine Bewunderung ein herumrutschender Riesenstiefel an, der sich selber anhatte und trug" (F 63/1071f.). Es wird ihm aber auch vorgeführt, daß diese Haltung durch den Zweifel an der Möglichkeit, Äußeres und Inneres, Körper und Geist, Zeichen und Bedeutung einander zuzuordnen, immer gefährdet ist. Nicht zu wissen, wer sich hinter einer Maske verbirgt, wer aus ihr herausblickt, macht sie für Walt zu einer Bedrohung. "Es war ihm etwas Fürchterliches, in die dunkle unbekannte Augenhöhle wie in die offne Mündung eines

89 Am besten ist dies in einem Streckvers aus dem "Komet" zum Ausdruck gebracht: "Der Dichter / Seh' ich im Gedichte nicht den Dichter als Menschen, sagt der eine, so sind mir alle seine Spieglungen des Großen bloße Vorspieglungen. Und seh' ich, sagt der andere, im Gedichte nichts weiter als den lebendigen Menschen, der es gemacht: so hab' ich sein Gedicht nicht nötig, denn die Alltäglichkeit steht auf allen Märkten feil. Aber der rechte Dichter vereinigt beide, weil das Gedicht ein Strom ist, der wohl den Boden zeigt, worauf er fließt, aber ihn durchsichtig macht und unter ihm in einer größeren Tiefe, als er selber hat, den unergründlichen Himmel ausbreitet und spiegelnd ihn mit dem obern verwölbt." (WW 1/6: 668f.) Vgl. Schlüer (1967). 90 Zur Deutung des Titels als Hinweis auf diese Polarisierung und auf den zitatartigen Bezug des Liebesbetrugs zum "Titan" s. Neumann (1966: 89-95).

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Geschosses hineinzuschauen und lebendige Blicke eines Unbekannten zu empfangen." (F 63/1072)91 Das geradezu Emblematische des Riesenstiefels wird durch das Auftreten Vults unterstützt, der ein Kostüm trägt, das eher Walt zukäme und von diesem ja später auch übernommen wird. Auf einmal stellte sich eine Jungfrau mit einem Blumenkranz auf dem Kopfe vor ihn; aus dem Munde der Maske hing ein Zettel des Inhalts: 'Ich bin die personifizierte Hoffnung oder Spes, die mit einem Blumenkranz auf dem Kopfe und einer Lilie in der rechten Hand abgebildet wird; mit dem linken Arm stützt sie sich auf einen Anker oder eine starke Säule. S. Damms Mythologie, neue Auflage von Levezow # 454.' (F 63/1072)

Doch Walts Anker und Säulen stammen allenfalls aus Luftschiffen und -schlossern. Musik und Tanz, die er beide im Gegensatz zu Vult nicht beherrscht, machen ihm aus dem allegorischen Mummenschanz mit seinen Verzerrungen, Verfremdungen und Täuschungen ein Abbild der wahren Wirklichkeit der Welt, in dem kosmische Ordnung und Menschheitsgeschichte in einer goldenen Zeit, in einem jenseitigen Land eins werden.92 Der Erzählerkommentar dazu ist an knapper Bissigkeit nicht zu überbieten. 'Ein Ball en masque ist vielleicht das Höchste, was der spielenden Poesie das Leben nachzuspielen vermag. Wie vor dem Dichter alle Stände und Zeiten gleich sind und alles Äußere nur Kleid ist, alles Innere aber Lust und Klang: so dichten hier die Menschen sich selber und das Leben nach - die älteste Tracht und Sitte wandelt auferstanden neben junger - der fernste Wilde, der feinste wie der roheste Stand, das spottende Zerrbild, alles, was sich sonst nie berührt, selber die verschiedenen Jahreszeiten und Religionen, alles Feindliche und Freundliche wird in einen leichten, frohen Kreis gerundet, und der Kreis wird herrlich wie nach dem Silbenmaß bewegt, nämlich in der Musik, diesem Lande der Seelen, wie die Masken das Land der Körper sind. - Nur ein Wesen steht ernst, unbedeckt und unverlarvt dort und regelt das heitere Spiel.' - Er meinte den Redoutenmeister, den er mit einem nackten kleinen Gesicht und Kopfe in einem Mantel ziemlich verdrüßlich achtgeben sah. Wina antwortete leise und eilig: 'Ihre Ansicht ist selber Dichtkunst. So mag wohl einem höhern Wesen die Geschichte des Menschengeschlechts nur als eine längere BallVerkleidung erscheinen.' - 'Wir sind ein Feuerwerk', versetzte Walt schnell, 'das ein

91 Das Erschreckende hat seinen Grund wohl in der Befürchtung, hinter der Maske könne sich gar kein Gesicht, keine Person verbergen. Über die Maske, in der Vult während Walts Reise auftritt, heißt es: "Walt sah sie schauernd an; hinter der Larve steckte gewiß nur ein Hinterkopf, dacht' er." Vult spricht von ihr im Brief als "Wesen ohne Gesicht" (F 44/885, 884). Vgl. Neumann (1966: 52 u. 70). 92 Man vergleiche seine Deutung der tänzerischen "Schwung- und Schlangenlinien"; s. Kapitel 2.6.

Der Schluß der "Flegeljahre"

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mächtiger Geist in verschiedenen Figuren abbrennt' und fuhr in seinen eckigen Walzer hinein. (F 63/1074)

Der Maskentausch, zu dem Vult Walt überredet, führt zu einem typisch Vultschen Spiel mit den Identitäten der Personen, das an Walt unbemerkt vorbeigeht. In der Maske der Spes, die für ihn eigentlich die passende, also seine wahre Maske ist, erscheint Walt für alle anderen doppelt verkleidet, da man in ihm nun Vult vermutet. Daß es für ihn wirklich das richtige Kostüm ist, zeigt sich daran, daß es für ihn bei der Hoffnung bleibt - er muß "ohne Umtausch als Hoffnung nach Hause gehen" -, während Vult seine Hoffnung verliert: daß Wina ihn lieben könnte statt Walt. In seiner Rolle als Walt erhält er, was dieser selbst in seiner Ungeschicktheit wohl nicht so schnell bekommen hätte und, da der Betrug nicht aufgedeckt wird, auch nicht so bald bekommen wird, nämlich Winas Liebesgeständnis. Jetzt hatt' er alles, nämlich ihr Liebes-Ja für seinen Scheinmenschen oder Rollenwalt, und lachte den wahren aus, der als Rolle und als Wahrheit noch bloße Hoffnung sei und habe; allein sein erzürntes Gemüt bequemte sich nun zu keinem Schattendank; sondern hartstumm tanzte er aus und verschwand plötzlich aus dem fortjauchzenden Kreise. (F 63/ 1079)

Doch der "Maskenherr" Vult (F 43/879) spielt auch nach der Redoute weiter Rollen. Nachdem er einen Brief an Walt mit seinem Fazit ihrer beider Beziehung geschrieben hat und beim Kofferpacken von diesem überrascht wird, nutzt er ein vorgetäuschtes Schlafwandeln, um die Wahrheit zu sagen, nämlich daß er im Aufbruch begriffen ist. Im Gegensatz zu einer ähnlichen Szene im "Titan"93 mit tragischen Folgen zieht er aus seinem Liebesbetrug nur die Konsequenz, Walt zu verlassen. Daran, daß auch dies im übertragenen Sinn ein Tod ist - und in einem anderen Roman leicht ein echter werden könnte wird assoziativparodistisch angespielt. Der Koffer wird zum Sarg, der "'Nachtstuhl muß schwarz ausgeschlagen werden - [...] jede Maus in meinem Haus soll in Krepp gehen'" (F 64/1084). In der Maske des Schlafwandlers sagt er Walt auch seine Meinung über diejenige "hohe" Vorstellung, die die beiden letztlich auseinandergebracht hat, die Liebe. Für sie wie für alle derartigen Ideen gilt, daß sie immer nur als "Trümmer" gegeben sind, die auf ihre Vollendung verweisen und an denen man ständig "bastelnd" arbeiten muß, obwohl das Ergebnis allein als groteske Verkleinerung und Banalisierung des vermeintlich ursprünglichen Vorbildes erscheinen kann.

93 Roquairols Täuschung Lindas im 128. Zykel.

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Jean Pauls "Flegeljahre"

Dennoch spiegeln sie eine organische Einheit vor, die, wie Vult aus eigener leidvoller Erfahrung weiß, unerreichbar ist. 'Sagen Sie mir nichts von Liebe, Herr Reisemarschall, sie ist zu dumm, eine hübsche Antike, die man den ganzen Tag ergänzen muß - ein Sonnentempel in Hosentaschenformat - und das dumme Ding glaubt, es lebe. Ich hab' es von ihr selber.' (F 64/1083)

Walts "Antwort" ist eine lange Traumerzählung von beziehungsreicher Unverständlichkeit. In ihr treten viele bekannte, geradezu archetypische Bilder auf wie etwa die Weltentstehungsszene am Anfang mit Anspielungen an die adamitische Namengebung, an Göttersturz und Entseelung der Natur und die daraus resultierende Erlösungssehnsucht. Auch Waltsche Lieblingsmotive94 findet man, wie das Bergwerk und die durch eine unkommunikative Sprache vermittelte narzißtisch-selbstbezügliche Einheit mit sich selbst im "Urstummen, der das älteste Märchen sich selber erzählt; aber er ist, was er sich sagt." (F 64/1085) Von Liebe als der Grundform einer Beziehung zwischen getrennten Individuen ist zwar viel die Rede, letztlich wird das Verhältnis von "Ich" und "Du" jedoch in der Einheit eines Subjekts aufgehoben, das man nach allem Gesagten wohl nur noch als Allmachtsphantasie Walts deuten kann: "[...] 'du und ich'; zwei heilige, aber furchtbare, fast aus der tiefsten Brust gezogne Laute, als sage sich Gott das erste Wort und antworte sich das erste." (F 64/1088) Auf die Vults Argumentation diametral entgegenstehende hermetische Formgebung der Imagination im Traum reagiert dieser mit seinem letzten, auf Walts Musikseligkeit berechneten Trick. '[...] was sagst du, Bruder, zu diesem künstlich-fügenden Traume?' 'Du sollst es sogleich hören in dein Bett hinein', versetzte Vult, nahm die Flöte und ging, sie blasend, aus dem Zimmer - die Treppe hinab - aus dem Hause davon und dem Posthause zu. Noch aus der Gasse herauf hörte Walt entzückt die entfliehenden Töne reden, denn er merkte nicht, daß mit ihnen sein Bruder entfliehe. (F 64/1088)

Der imaginären Integration des Romangeschehens im Traum, in der vorangegangene Motive in einen Zusammenhang gebracht werden, ohne daß mit dieser illusionären Einheitsstiftung eine tatsächliche Lösung oder auch nur Thematisierung der anstehenden Probleme geleistet würde, antwortet die Aufkündigung der konstituierenden Beziehung des Romans, des Gegensatzes der beiden Brüder, durch Vults Weggang. Dies ist nun einerseits unzweifelhaft nicht nur das äusserliche Ende des Romans, andererseits aber auch der Höhepunkt des Widerstreits zweier Haltungen,

94 Vgl. die Zusammenstellung der Motivparallelen zwischen dem "Traum" und dem Rest der Flegeljahre bei Neumann (1966: 104-113). Maurers Interpretationsversuch führt zu teils mageren, teils recht spekulativen Ergebnissen (1981: 152-158).

D e r Schluß der "Flegeljahre"

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keineswegs dessen versöhnende Aufhebung. Weder scheint der Verzicht auf "künstliche Fügung" noch der auf ihre Ironisierung und witzige Infragestellung möglich zu sein. Das Ende des Romans ist eben auch nur das Ende des Romans, nicht die Auflösung der ihm zugrundeliegenden Spannung.95 Deren Lösung kann nur durch den fortwährenden Versuch ihrer Darstellung erfolgen. Insofern ist der Roman notwendigerweise nicht beendbar, und der Gesamtzusammenhang des Jean Paulschen Werks mit seinen vielfältigen inneren Verknüpfungen und Motivfortführungen legt davon Zeugnis ab. Was der "Autor" der "Flegeljahre" weiß, dürfte auch eine dieses Werk tragende Grundüberzeugung sein: "zur zweiten, bessern Welt, worauf alle Welt aus ist und aufsieht, gehöret auch der Höllenpfuhl samt Teufeln" (F 50/924). 96

95 "Nicht mit der T r e n n u n g zweier in ihrer Subjektivität erstarrter 'Ichs' endet d e r Zwillings-Roman, sondern mit derjenigen zweier endgültig geschiedener, zugleich a b e r nach Herkunft und Art für immer aufeinander gerichteter 'Du's', d e r e n jedes gleich 'wahr und haltbarst' ist." (Neumann 1966: 99f.) N e u m a n n tendiert in der Frage "Fragment o d e r kein Fragment" in der Nachfolge Meyers (1963) zu einer B e t o n u n g d e r kompositorischen Geschlossenheit der "Flegeljahre" (vgl. bes. N e u m a n n 1966: 59-63) und widerspricht damit früheren Interpreten, die Jean Pauls Absichten zu einer Fortsetzung des Romans und dessen Gestalt selbst als übereinstimmende Hinweise auf seinen Fragmentcharakter gedeutet haben. Eine Ambivalenz hinsichtlich der Abgeschlossenheitsfrage konstatiert Bosse (1967). 96 "Jeder Dichter gebiert seinen besondern Engel und seinen besondern Teufel" ( W W 1 / 5 : 212).

3. Benjamins Allegoriebegriff Soll denn kein Angedenken Ich nehmen mit von hier? Wenn meine Schmerzen schweigen, Wer sagt mir dann von ihr? Mein Herz ist wie erfroren, Kalt starrt ihr Bild darin; Schmilzt je das Herz mir wieder, Fließt auch ihr Bild dahin! Wilhelm Müller: Winterreise ("Erstarrung")

3.1. Jean Paul als Allegoriker Keineswegs wird diese Beziehung des Allegorischen aufs Bruchstückhafte, Ungeordnete und Überhäufte von Zauberstuben und alchimistischen Laboratorien, wie gerade das Barock sie kannte, als zufällig gelten dürfen. Sind nicht die Werke von Jean Paul, des größten Allegorikers unter den deutschen Poeten, dergleichen Kinder- und Geisteskammern? Ja eine wahre Geschichte der romantischen Ausdrucksmittel vermöchte nirgends besser als bei ihm selbst das Fragment und selbst die Ironie als Umbildung des Allegorischen zu erweisen. (Benjamin GS I: 363f.)

Benjamin hat diese Einschätzung Jean Pauls als Allegoriker 1 im "Ursprung des deutschen Trauerspiels" in seiner Rezension des Jean PaulBuchs von Günther Voigt durch die Forderung ergänzt, nicht nur die Übereinstimmung mit der Allegorik des Barock, sondern auch das Spezifische ihrer "Umbildung" herauszuarbeiten: Kein Kenner des Jean Paulschen Stils kann zweifeln, daß die Allegorie ihm wesensverwandt ist. Doch hätte das nicht hindern, vielmehr nahelegen müssen, aus der geschichtlichen Bestimmung, die die allegorische Betrachtungsweise in der genannten Schrift [Benjamins Trauerspielbuch] gefunden hat, Handhaben für die andersartige des Jean Paulschen Standorts zu gewinnen. (GS III: 422f.)

1

Vgl. auch die Verwendung der ikonologischen Topoi der Melancholiedarstellungen am Ende der Kommerell-Rezension (GS III: 417) und den Hinweis GS II: 218. Zu Jean Paul als Allegoriker vgl. Wölfel (1966: 296-298), Lindner (1970), Wuthenow (1970) u. Birus (1986: 63f.).

Jean Paul als Allegoriker

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D a ß das zweite Zitat von 1934 den Aspekt der U m f o r m u n g eines historisch Vorgeprägten gegenüber der Kontinuität betont, ohne diese aus den Augen zu verlieren, dürfte mit der Entwicklung von Benjamins Allegoriekonzept selbst zusammenhängen. Vom Instrument zur Charakterisierung einer geschichtlichen Epoche war dieser Begriff immer mehr zu einer universellen Kategorie künstlerischen Verfahrens geworden, die von Benjamin jedoch nicht ahistorisch verwendet wurde. Die Modifizierung, die sie in bezug auf ihre jeweilige spezifische Erscheinungsform erfuhr, bot im Gegenteil eine Möglichkeit zu historischer Differenzierung und zugleich zur Klärung des Verhältnisses geschichtlicher Phasen zueinander. Benjamins Allegoriebegriff ist über die Möglichkeit einer weitergehenden Erfassung der Schreibweise Jean Pauls hinaus interessant. Denn er ist durchaus der frühromantischen Kunsttheorie verpflichtet, was sich nicht nur biographisch ausgehend von Benjamins Dissertation "Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik" nachweisen ließe. Er suchte seine Überlegungen zur allegorischen Verfahrensweise und der dadurch modellierten Erfahrung in seinem letzten Lebensjahrzehnt mit einer Theorie der Mimesis zu verbinden, die ihrerseits das frühromantische Motiv eines "Fortlebens" der Kunstwerke in Rezeption, Kritik und kultureller Tradition weiterführen sollte. Seine Konzeption verspricht also, einen Ansatzpunkt zu geben, um die Ästhetik der "Neuen Mythologie" unter Einbeziehung der aus Jean Pauls "Flegeljahren" entwickelten Kritik, gleichsam durch diese geläutert, wiederaufzugreifen und erneut auf ihre Gültigkeit hin zu befragen. Vorab sollen jedoch einige allgemeine Motive für die Wahl des Begriffs "Allegorie" und seine Kontrastierung mit dem "Symbol" im Trauerspielbuch verdeutlicht werden. Mit der folgenden selektiven Darstellung einiger Verwendungsweisen dieser Termini wird selbstverständlich kein Anspruch auf eine umfassende Einführung in ihre komplexe Begriffsgeschichte erhoben. Bei aller Vieldeutigkeit und unterschiedlichen Verwendung des Begriffs "Symbol" wird im allgemeinen der Grundzug gesehen, 2 daß das Symbol einen Spezialfall des Zeichens darstellt, insofern es nicht nur auf sein Signifikat verweist, dieses bedeutet, sondern es darstellt, es in vollkommener Weise vertritt und dessen Funktionen erfüllt. Mit anderen Worten: "es fehlt teilweise oder ganz die Differenzierung von Zeichen und Bezeichnetem." (Lanczkowski 1962: 541) Außerdem "hat das Symbol eine ganzheitliche, mehrdimensionale ambiguose Bedeutung" (Schweikle 1984:

2

Jedenfalls dann, w e n n "Symbol" nicht mit "Zeichen" schlechthin gleichgesetzt wird.

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Benjamins Allegoriebegriff

406). Es bezieht sich auf einen als bekannt vorausgesetzten komplexen Hintergrund, in religionsgeschichtlicher Hinsicht auf den Mythos: "im Symbolismus vergegenwärtigt sich also der Mensch in einer ständigen Wiederkehr die Geschehnisse des Mythos, dessen Berichte die offenbarte heilige und damit religiös einzig relevante Geschichte darstellen." (Lanczkowski 1962a: 549) Das Symbol ist ein besonders geeignetes Ausdrucksmittel für ein auf den Emanationsgedanken gegründetes Weltbild, das von einem (zeitlich oder ontologisch) primären Vollkommenheitszustand ausgeht, der nur gleichnishaft und inadäquat darzustellen oder zu vergegenwärtigen ist. Im Neuplatonismus etwa wird der ganze Bereich der Wahrnehmung zum "Boten" einer höheren Welt und des alles durchdringenden Zusammenhangs.3 Und noch Goethe sieht im Symbol die "lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen." (1981: 471, Nr. 752)4 Hingegen wird die Allegorie durchgängig als Veranschaulichung eines bestimmten Begriffs oder Komplexes von Begriffen verstanden: Die Allegorie unterscheidet sich durch ihre rationale und streng durchgeführte Individualisierung des Allgemeinen vom Symbol, wo eine rational nicht faßbare Wesensverwandtschaft mit dem dahinterstehenden Inhalt besteht. (Edsman 1957: 238) 5 Die allegorische Exegese oder Allegorese hat in allen Religionen mit heiligen Urkunden eine große Rolle gespielt, um den feststehenden Formulierungen einen neuen und zeitgenössischen Inhalt beizulegen und dadurch auch die Autorität kanonischer Schriften zu bewahren, (ebd.)

3

"[...] sopratutto l'emanatismo plotiniano voleva essere la dottrina metafisica del simbolismo: qui, dove ogni ipostasi inferiore è immagine dell'ipostasi superiore, dove un armoniosa synécheia regge il ritmo della vita e l'analogia è la legge cosmica, l'aisthesis diventa ängelos (Enn., V,3,3,), la parola è 'segno' e 'immagine'. [...] Ma l'emanatismo plotiniano è anche la tipica testimonianza di una forma speciale di simbolismo: il ricorso alle immagini e ai simboli non è considerato il funzionamento normale di un pensiero, che, cosi operando, non esce e non intende uscire dal suo ambito logico, ma è visto come cifra approssimativa in funzione di un mistero che è al di sopra di ogni simbolo e nel quale ogni simbolo, che è 'parola dichiarante', deve annularsi." (Faggin/Rosso 1967: 1368)

4

"Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild, und so, daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und, selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe." (1981: 470, Nr. 749) Gerade diese Goethe-Stellen forderten Benjamins Kritik heraus; s. GS I: 336. Zu Goethes Kunsttheorie vgl. auch GS I: 110-119. "Die Allegorie verwandelt die Erscheinung in einen Begriff, den Begriff in ein Bild, doch so, daß der Begriff im Bilde immer noch begrenzt und vollständig zu halten und zu haben und an demselben auszusprechen sei." (Goethe 1981: 471, Nr. 750)

5

117

Jean Paul als Allegoriker

Sie hatte also die Aufgabe der Aktualisierung und der "Rettung" als wichtig erachteter Gehalte. 6 Solcherart Reaktion auf die Bedrohung der Glaubwürdigkeit religiöser Traditionen durch historische Veränderungen, ist sie zugleich Ausdruck der Tatsache, daß Formen und Inhalte nicht mehr unproblematisch aufeinander bezogen sind. [...] in der Allegorie verliert der

Gegenstand, auf d e n sie angewandt wird, sein ihm

e i g e n e s Sein zugunsten eines anderen, d e m

er als Vehikel dient. D a s L e b e n der

Allegorie entsteht aus d e m Abgrund, der sich hier zwischen F o r m und B e d e u t u n g auftut. [...] Es ist der Abgrund der unendlichen B e d e u t u n g in j e d e m Z e i c h e n , der sich in der Allegorie auftut. ( S c h o l e m 1957: 29)

An die Stelle der einen bestimmten Zuordnung von Ausdruck und Bedeutung tritt eine unendliche Menge von möglichen Relationen. In der Allegorie vollzieht sich eine räumliche (topische) und zeitliche Öffnung des Sinnbildungsprozesses, "weshalb ihre Bedeutung allemal auf Alteritas geht, während das Symbol durchgehends der Unitas eines Sinns zugeordnet bleibt." (Bloch 1959: 201) Diese Veräußerung ist schon von Friedrich Schlegel als notwendige und spezifische Leistung der Kunst, mithin die Allegorie als "Ct (Zentrum) von TT (poetischem) Spiel und Schein" (KA XVIII: 249) aufgefaßt worden. Im "Gespräch über die Poesie" heißt es: "Alle Schönheit ist Allegorie. Das Höchste kann man eben weil es unaussprechlich ist, nur allegorisch sagen" (KA II: 324).7 Die damit verbundene Vorstellung von "dem unendlichen Spiele der Welt, dem ewig sich selbst bildenden Kunstwerk" (ebd.) wurde ermöglicht durch die im späten achtzehnten Jahrhundert vollzogene Wendung von dem alten emanatistisch geprägten Grundsatz "perfectum prius imperfecta", nach dem Geschichte nur als Verfallsgeschichte verstanden werden kann, hin zur Auffassung der Geschichte als eines organischen Bildungs- und Entwicklungsprozesses. Wird dieser Prozeß

6

Zur christlichen A l l e g o r e s e siehe etwa Ohly (1958).

7

Allerdings hat Schlegel 1823 hier "allegorisch" durch "symbolisch" ersetzt ( K A II: 324, Fußn.). A b g e s e h e n von schlichter Uneinheitlichkeit

d e s Wortgebrauchs sind

die

klassisch-romantischen Stellungnahmen zu den beiden Begriffen wesentlich k o m p l e x e r und teilweise widersprüchlicher, als das einer am Symbolbegriff orientierten Literaturwissenschaft zeitweise scheinen mochte. Hierzu und zur Kritik dieser Forschungstradition s. de Man (1969). Zum Problem der terminologischen U n g e n a u i g k e i t der romantischen Reflexionen über die Allegorie s. Menninghaus (1980: 272, A n m . 184). E i n e allgemeine Darstellung und Quellentexte finden sich bei S ö r e n s e n (1963; 1972); vgl. auch Titzmann (1979). Für die "Rehabilitation" der A l l e g o r i e wichtig war - nach Curtius und anderen früheren A u t o r e n - G a d a m e r (1965); s. dort die kurze Begriffsgeschichte v o n Allegorie und Symbol (68-77).

118

Benjamins Allegoriebegriff

nicht wieder auf ein feststehendes Ziel bezogen vorgestellt, sondern als offener, nicht geradlinig verlaufender, mit vielen Ungleichzeitigkeiten, Brüchen und Verwerfungen belasteter, dann erscheint dem Betrachter Geschichte als "Trümmerfeld" voller Bruchstücke, die sehr wohl auf ihre Herkunftszusammenhänge verweisen, aber sich zugleich dem "bastelnden" Allegoriker für seine konstruktive und erfinderische Tätigkeit anbieten. Das ist die Bedingung dafür, daß es denkbar wird, aus der "Immanenz der Allegorie" (Scholem 1957: 29) "innerhalb der Welt des Ausdrucks und der Sprache" (ebd.) heraus Perspektiven zu entwerfen, die den gegenwärtigen Stand des Geschichtsprozesses übersteigen. Benjamin gelangte, ausgehend von sprachtheoretischen Reflexionen, zu einer Bestimmung der Allegorie als eines künstlerischen Verfahrens, das letztlich zu einer "ästhetischen Theorie" der Geschichtskonstruktion erweitert wurde. Die ausführlichste Darstellung von Benjamins Sprachtheorie und ihren historischen Vorläufern gibt Menninghaus (1980). Zur Rolle der Tradition der jüdischen Mystik wurden Scholems Arbeiten herangezogen (1957; 1962: 7-82; 1970). Fischer-Lichte (1979; 1986) versucht eine Rekonstruktion vor dem Hintergrund neuerer linguistischer und semiotischer Theorien, die auch für den Bezug zu Ästhetik und Geschichte aufschlußreich ist. Ebenso wie Agamben (1978), Kristevas Arbeit zur Melancholie (1987) und Menke (1991) liefert sie Ansatzpunkte für eine Weiterführung Benjaminscher Gedanken. Im Gegensatz dazu bleibt Naeher (1977) bei einer rein immanenten Darstellung des Allegoriebegriffs und einiger Folgerungen bei Adorno stehen und blendet zudem die sprachtheoretischen Voraussetzungen weitgehend aus. Ähnliches gilt für Steinhagen (1979), der jedoch die komplexe Entwicklung vom Trauerspielbuch bis zum Passagenprojekt deutlich herausarbeitet. Auf die Parallelen von Benjamins Kunsttheorie zur frühromantischen weisen, neben Benjamin selbst in der Kunstkritikschrift, Hörisch (1976) und neuerdings Bohrer (1989: 25-38) hin. Den transformativen Charakter von Kritik, deren Bestimmung als mimetisch sich angleichend und darin zugleich über ihren Gegenstand hinausgehend Benjamin als Mittler zwischen Frühromantik und Dekonstruktivismus erscheinen lassen, betont Dörr (1988). Habermas (1972) und Kaiser (1975) geben von divergenten Positionen aus Deutungen und Beurteilungen von Benjamins Geschichtsbegriff, die beide in bezeichnender Weise an dessen eigentlichem ästhetischen Gehalt vorbeigehen. Seine Fruchbarkeit für ein neues Verständnis der historischen Zeit und der historischen Erfahrung erweist hingegen Agamben (1978).

119

Benjamins Sprachtheorie - "Name" und "Zeichen"

3.2. Benjamins Sprachtheorie - "Name" und "Zeichen" als sprachtheoretische Kategorien Der Gegensatz von "Name" und "Zeichen" soll in der Entwicklung von "Uber Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen" (1916) über "Die Aufgabe des Übersetzers" (1921) und die "Erkenntniskritische Vorrede" des Trauerspielbuches (1924/25) bis zur "Lehre vom Ähnlichen" (Anfang 1933) und der Schrift "Uber das mimetische Vermögen" (Mitte 1933) skizziert werden. Am Ende der Darstellung wird die Relevanz dieser Dichotomie für diejenige von "Symbol" und "Allegorie" deutlich werden.

3.2.1. "Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen" Die frühe Schrift ist eine Ausdeutung von Genesis I und II. Die göttliche Schöpfung der Dinge durch das "Wort" mündet in die Benennung der Dinge mit ihren "Namen" durch den Menschen. In der adamitischen Namengebung spiegelt sich der paradiesische Zustand der Welt. Sie ist zwar nicht schaffend, sondern nur nach-schaffend 8 , jedoch ebendarin "vollkommen erkennend".9 "Der Mensch ist der Erkennende derselben Sprache, in der Gott Schöpfer ist." (GS II: 149) In dieser anscheinend passiven Nachahmung liegt paradoxerweise die menschliche Freiheit begründet 10 : Gott hat den Menschen nicht aus d e m Wort geschaffen, und er hat ihn nicht benannt. Er wollte ihn nicht der Sprache unterstellen, sondern im M e n s c h e n entließ Gott die Sprache, die ihm als Medium der S c h ö p f u n g gedient hatte, frei aus sich. ( G S II : 149)

Dem Freigegebenen ist jedoch die Rückkehr, zumindest als Aufgabe, schon vorherbestimmt. Die menschliche Erkenntnis ist als Nach-Bild, Mimesis der Schöpfung-als-Produkt gegenüber der Schöpfung-alsProduktion immer defizient:

8

"Im Wort wurde geschaffen, und G o t t e s sprachliches W e s e n

ist das Wort.

Alle

menschliche Sprache ist nur Reflex d e s W o r t e s im Namen." ( G S II: 149) 9

"Die paradiesische Sprache d e s M e n s c h e n muß die v o l l k o m m e n e r k e n n e n d e g e w e s e n sein" ( G S II: 152).

10 D i e Frage nach dem Verhältnis von Aktivität und Passivität im mimetischen Akt drängt sich hier auf. Es soll zunächst nur als Widersprüchlichkeit markiert w e r d e n , die sich im f o l g e n d e n als M o t o r für Benjamins weitere Entwicklung erweisen wird.

120

Benjamins Allegoriebegriff

Die Unendlichkeit aller menschlichen Sprache bleibt immer eingeschränkten und analytischen Wesens im Vergleich mit der absoluten uneingeschränkten und schaffenden Unendlichkeit des Gotteswortes. (GS II: 149)

Gleichwohl ist sie es, die als einzige die göttliche (paradiesische) Ordnung des Universums ausdrücken kann, indem sie im Namen das "Wesen der Dinge" ausspricht. Diese Eigenschaft kommt ihr jedoch nicht zu, insofern sie als Instrument zur Mitteilung von (intentional erfaßten) Inhalten, d. h. kommunikativ, verwendet wird, sondern nur, insofern sie eine Manifestation eines nicht-intentionalen und nicht-phänomenalen "geistigen Wesens", einer "Mitteilbarkeit schlechthin" (GS II: 145f.) ist. Dabei ist es "fundamental zu wissen, daß dieses geistige Wesen sich in der Sprache mitteilt und nicht durch die Sprache." (GS II: 142)11 Es ist also die Form der Sprache, die sie mit ihrem Gegenstand (genauer: mit dessen eigener "Sprache") gemein haben muß, um sein Wesen mitteilen zu können. Dieser Zusammenhang der "Sprache der Dinge" mit der Sprache des Menschen beruht auf dem Vorgang der "Übersetzung". Die Übersetzung ist die Überführung der einen Sprache in die andere durch ein Kontinuum von Verwandlungen. Kontinua der Verwandlung, nicht abstrakte Gleichheits- und Ähnlichkeitsbezirke durchmißt die Übersetzung. Die Übersetzung der Sprache der Dinge in die des Menschen [...] ist die Übersetzung des Namenlosen in den Namen. Das ist also die Übersetzung einer unvollkommenen Sprache in eine vollkommene, sie kann nicht anders als etwas dazu tun, nämlich die Erkenntnis. Die Objektivität dieser Übersetzung ist aber in Gott verbürgt. (GS II: 151)

Das, worin sich die Dinge dem Menschen mitteilen, übersetzt er in ihren Namen. Der Erkenntnis der Dinge in ihrem Namen steht die Erkenntnis davon, "was gut und böse sei", gegenüber. Sie ist "namenlos", "im tiefsten Sinne nichtig" und "eben selbst das einzige Böse, das der paradiesische Zustand kennt." (GS II: 152) Als Grundform des Urteils ist das Wissen von Gut und Böse zugleich der Ursprung der Abstraktion12 und der Kommunika-

11 Eine Unterscheidung, die genau der von "sich zeigen" und "sagen" in Wittgensteins "Tractatus logico-philosophicus" entspricht (vgl. # # 4.022; 4.121; 6.522). Die Parallelen zwischen der Sprachtheorie des frühen Benjamin und der des "Tractatus", auf die schon Adorno hingewiesen hat (1970: 305), hat Wiesenthal (1973: 88-97) ausgeführt. Wiesenthal reduziert allerdings beide Sprachtheorien auf eine einfache Abbildtheorie. 12 "Der Name bietet nun aber im Hinblick auf die bestehende Sprache nur den Grund, in dem ihre konkreten Elemente wurzeln. Die abstrakten Sprachelemente aber - so darf vielleicht vermutet werden - wurzeln im richtenden Worte, im Urteil." (GS II: 154)

Benjamins Sprachtheorie - "Name" und "Zeichen"

121

tion,13 beides Charakteristika der Sprache als "Zeichen". Sie ist die Sprache nach dem Sündenfall, die ihre Einheit14 und ihre Eindeutigkeit verloren hat - die Strafe für die Anmaßung des Urteils, das sich so gegen den Menschen selbst kehrt: Der Baum der Erkenntnis stand nicht wegen der Aufschlüsse über Gut und Böse, die er zu geben vermocht hätte, im Garten Gottes, sondern als Wahrzeichen des Gerichts über den Fragenden. (GS II: 154)

Aber nicht nur der Mensch fällt so dem Urteil anheim, sondern auch die Dinge tun dies. Mit der "Abkehr von jenem Anschauen der Dinge, in dem deren Sprache dem Menschen eingeht" (GS II: 154), fallen die Bedeutungen der Dinge (ihr "Wesen") und die Bedeutungen der Worte, die im Namen identisch waren,15 auseinander. Letztere werden zu intentionalen (und damit zugleich subjektiven und unter den Menschen kommunizierbaren) "Inhalten", während die Dinge, durch solche Zuweisung von menschlichen Inhalten zu ihrem eigenen Wesen "überbenannt" (GS II: 155), in stumme Traurigkeit versinken: "Benannt zu sein selbst wenn der Nennende ein Göttergleicher und Seliger ist - bleibt vielleicht immer eine Ahnung von Trauer." (GS II: 155)16 Denn es macht die "Dinge" erst zu bestimmten "Gegenständen" für die Subjektivität des Benennenden und schränkt sie gegenüber der Menge der Möglichkeiten von Auffassungsweisen ein, die nur alle zusammen ihr "Wesen" ausschöpfen können.

3.2.2. "Die Aufgabe des Übersetzers" In dem Aufsatz, der als Einleitung zu Benjamins Baudelaire-Übertragungen veröffentlicht wurde, werden sprachtheoretische Überlegungen von dem schon in "Über Sprache überhaupt und über die Sprache des

13 "Das Wort soll etwas mitteilen (außer sich selbst). Das ist wirklich der Sündenfall des Sprachgeistes. [...] Es besteht nämlich in der Tat zwischen dem Worte, welches nach der Verheissung der Schlange das Gute und Böse erkennt, und zwischen dem äußerlich mitteilenden Worte im Grunde Identität." (GS II: 153) 14 Auch die Dinge verlieren ihre Einheit:"[...] das Böse ist [...] nichts anderes als das, was die Dinge aus ihrer Einheit isoliert." (Scholem 1962: 63) Zum Verhältnis Benjamins zur "kabbalistischen" Tradition siehe Menninghaus (1980: 188-226, bes. 189-193). 15 Nicht etwa die Worte und die Dinge sind nach Benjamin identisch, sondern, wie gesagt, ihre Bedeutungen; vgl. Fischer-Lichte (1979: 183). 16 Diesen Satz hat Benjamin wörtlich in das Trauerspielbuch übernommen; vgl. GS I: 398.

122

Benjamins Allegoriebegriff

Menschen" vorkommenden Begriff der "Übersetzung" aus entwickelt.17 Diesem Ausgangspunkt der Konzeption und dem konkreten Anlaß, Erläuterungen zu Zielsetzung und Methode einer Lyrikübertragung zu geben, entspricht eine gegenüber der Schrift "Über Sprache ..." veränderte Gedankenführung und Akzentuierung. Hat man es dort mit einer mythologisch-theologischen Genealogie der Sprache zu tun, so ist die Argumentation hier stärker operational und methodisch ausgerichtet und auf den Bereich der Kunst bezogen. Dem entspricht eine gewisse "Säkularisierung" des Vokabulars, die sich in den folgenden sprachtheoretischen Schriften fortsetzen wird, und ein Wechsel des Bezugsrahmens von der Theologie zur Geschichte. Benjamin knüpft, indem er vom "Leben und Fortleben der Kunstwerke" spricht, an organologische Kunsttheorien an, jedoch mit einer spezifischen Bestimmung des Begriffs des "Lebens": "allem demjenigen, wovon es Geschichte gibt und was nicht allein ihr Schauplatz ist" (was also - im weitesten Sinne - "Subjekt" der Geschichte werden kann), soll "Leben zuerkannt" werden (GS IV: 11). Das geschichtliche Leben wird gegenüber dem natürlichen als das umfassendere verstanden. Damit bekommt auch die Übersetzung, als "stets erneute späteste und umfassendste Entfaltung" des Lebens des Originals (ebd.), eine wichtige historische Komponente. Übersetzung ist eine "Form", deren "Gesetz" in der "Übersetzbarkeit" des Originals festgelegt ist (GS IV: 9). Die Übersetzbarkeit ist Ausdruck einer "bestimmtefn] Bedeutung, die den Originalen innewohnt" (GS IV: 10) und die auf ein "innerstes Verhältnis" der Sprachen, aus denen ineinander übersetzt wird, hinweist: Jenes gedachte, innerste Verhältnis der Sprachen ist aber das einer eigentümlichen Konvergenz. Es besteht darin, daß die Sprachen einander nicht fremd, sondern a priori und von allen historischen Beziehungen abgesehen einander in dem verwandt sind, was sie sagen wollen. (GS IV: 12)

Aufgabe der Übersetzung ist es nicht, die Konvergenz der Sprachen "herzustellen", sondern sie - "keimhaft oder intensiv" - "darzustellen" (ebd.). Das kann sie nicht durch eine "Ähnlichkeit" mit dem Original erreichen. In ausdrücklicher Analogie zur Kantischen Erkenntniskritik stellt Benjamin die "Unmöglichkeit einer Abbildtheorie" fest und damit die Nutzlosigkeit des Ähnlichkeitskriteriums für die Übersetzung. "Denn in seinem Fortleben, das so nicht heißen dürfte, wenn es nicht Wandlung und Erneuerung des Lebendigen wäre, ändert sich das Original." (ebd.)

17 Zur "Übersetzung" bei Benjamin vgl. Kaulen (1987: 7-90) u. Dörr (1988), dort (121-123) auch den Hinweis auf Szondi (1971).

123

Benjamins Sprachtheorie - "Name" und "Zeichen"

Gerade in der Veränderung, in der Entfaltung des Originals in einer anderen Sprache liegt die Aufgabe der Ubersetzung. D a ß sie dabei objektiv verfahren kann, ist in der Verwandtschaft der Sprachen verbürgt, die nicht auf ihrer Gleichheit oder Ähnlichkeit beruht: V i e l m e h r beruht alle überhistorische Verwandtschaft d e r Sprachen darin, daß in ihrer jeder als ganzer jeweils eines und zwar dasselbe gemeint ist, das d e n n o c h

keiner

einzelnen von ihnen, sondern nur der Allheit ihrer einander e r g ä n z e n d e n Intentionen erreichbar ist: die reine Sprache. ( G S IV: 13)

Das ist die paradiesische Namenssprache, deren Bruchstücke die verschiedenen Sprachen der Menschen sind. Diese stellen verschiedene "Arten des Meinens" dar, die sich zum einen gemeinsamen "Gemeinten" aller Sprachen ergänzen: eben zur "reinen Sprache", in der alle unterschiedlichen Intentionen verlöschen. Im Zustand der Verwirrung der Sprachen kann daher jede Übersetzung nur eine "vorläufige" sein, die "ihre Richtung auf ein letztes, endgültiges und entscheidendes Stadium aller Sprachfügung" nicht verleugnet (GS IV: 14). Das schlägt sich in ihrer Form nieder, im Verhältnis ihrer Sprache zu ihrem Gehalt, das ein völlig anderes ist als beim Original: "Bilden nämlich [Sprache und Gehalt im Original] eine gewisse Einheit wie Frucht und Schale, so umgibt die Sprache der Übersetzung ihren Gehalt wie ein Königsmantel in weiten Falten." (GS IV: 15) Die Sprache der Übersetzung "bedeutet eine höhere Sprache als sie ist und bleibt dadurch ihrem eigenen Gehalt gegenüber unangemessen, gewaltig und fremd." (ebd.) Die Originale suchen ihren jeweiligen Gehalten ihren möglichst adäquaten Ausdruck zu verschaffen und somit die Differenz von Gehalt und Sprache weitestgehend zu tilgen. Hingegen will die Übersetzung, da ihre Intention von einem einzelnen Kunstwerk aus auf eine Sprache als ganze (nämlich die, in die übersetzt wird) und letztlich auf die Vermittlung der Sprachen in einer Totalität geht, gerade die Unausdrückbarkeit ihres Gehalts darstellen. 18 Ihre Intention geht nicht allein auf etwas anderes als die der Dichtung, nämlich auf e i n e Sprache im ganzen von einem einzelnen Kunstwerk in einer fremden aus, sondern sie ist auch selbst eine andere: die d e s Dichters ist naive, erste, anschauliche, die d e s Übersetzers abgeleitete, letzte, ideenhafte Intention. ( G S IV: 16)

Der Übersetzer muß das Original als Bruchstück auffassen, dem sich die Übersetzung anzupassen hat, "um so beide wie Scherben als Bruch-

18 Vgl. Kants B e m e r k u n g e n über das Erhabene, das sich in der Erfahrung der "L'nangemessenheit manifestiert.

selbst

der größten

Bestrebung

unserer

Einbildungskraft"

(1793:

93)

124

Benjamins Allegoriebegriff

stück eines Gefäßes, als Bruchstück einer größeren Sprache erkennbar zu machen." (GS IV: 18)19 Diese "größere Sprache", die "reine Sprache" ist es, auf die sich die "abgeleitete, letzte, ideenhafte Intention" des Übersetzers richtet: Die wahre Übersetzung ist durchscheinend, sie verdeckt nicht das Original, steht ihm nicht im Licht, sondern läßt die reine Sprache, wie verstärkt durch ihr eigenes Medium, nur um so voller aufs Original fallen, (ebd.)

In diesem Licht läßt sich am sprachlichen Gebilde das "Mitteilbare", der "Sinn", von dem "Nicht-Mitteilbaren", aber "Symbolisierten" scheiden. Diese Trennung des "Symbolisierenden", des "schweren und fremden Sinn[s]" vom "im Werden der Sprachen selbst" "Symbolisierten", "das Symbolisierende zum Symbolisierten selbst zu machen, die reine Sprache gestaltet der Sprachbewegung zurückzugewinnen, ist das gewaltige und einzige Vermögen der Übersetzung." (GS IV: 19)20

3.2.3. Die "Erkenntniskritische Vorrede" zum "Ursprung des deutschen Trauerspiels" Der wesentliche neue sprachtheoretische Aspekt der "Vorrede" ist die Funktion der Sprache als Erkenntnismittel. In Fortführung seiner früheren Unterscheidung zweier Sprachtypen, Namenssprache und ZeichenSprache, weist Benjamin diesen nun zwei Erkenntnistypen zu: Erkenntnis im engeren Sinne (begriffliche Erkenntnis) und Erkenntnis der "Wahrheit": Die Wahrheit, vergegenwärtigt im Reigen der dargestellten Ideen, entgeht jeder wie immer gearteten Projektion in den Erkenntnisbereich. Erkenntnis ist ein Haben. [...] Diesem Besitztum ist Darstellung sekundär. Es existiert nicht bereits als ein SichDarstellendes. Gerade dies aber gilt von der Wahrheit. [...] Erkenntnis ist erfragbar, nicht aber die Wahrheit. [...] Als Einheit im Sein und nicht als Einheit im Begriff ist die Wahrheit außer aller Frage. Während der Begriff aus der Spontaneität des Verstandes

19 Zur Tradition des Bildes vom "Bruch der Gefäße" (Schebirath ha-Kelim) und ihrer Wiederherstellung (Tikkun) in der jüdischen Mystik s. Scholem (1957: 291ff.). 20 Die antinomischen Bildfelder "Schwere/Fremdheit" und "Werden/Bewegung" weisen schon auf das Trauerspielbuch voraus. Vgl. dazu eine Briefstelle aus dem Januar 1924, in der von der Philosophie gesagt wird, daß sie, im Gegensatz zu den Einzelwissenschaften, die "befangen in jener Anschauung vom Zeichencharakter der Sprache" sind, "die segensreiche Wirksamkeit einer Ordnung [erfährt], kraft welcher ihre Einsichten jeweils ganz bestimmten Worten zustreben, deren im Begriff verkrustete Oberfläche unter ihrer magnetischen Berührung sich löst und die Formen des in ihr verschlossenen sprachlichen Lebens verrät." (1978: 329)

Benjamins Sprachtheorie - "Name" und "Zeichen"

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hervorgeht, sind die Ideen der Betrachtung gegeben. Die Ideen sind ein Vorgegebenes. ( G S I: 210f.)

Wie die Begriffe die sprachlichen Instrumente der Erkenntnis sind, so machen die Ideen "den Bereich der Wahrheit, den die Sprachen meinen" (GS I: 207), aus. Die Kunst ist das bevorzugte Medium ihrer Darstellung. Sie ist mithin weit mehr als ihre schmückende Einkleidung: Die Wahrheit ist der Gehalt des Schönen. Nicht aber tritt e r zutage in der Enthüllung, vielmehr erweist e r sich in einem Vorgang, den man gleichnisweise bezeichnen d ü r f t e als das A u f f l a m m e n der in den Kreis der Ideen eintretenden Hülle, als eine V e r b r e n n u n g des Werkes, in welcher seine Form zum Höhepunkt ihrer Leuchtkraft kommt. ( G S I: 211) 2 1

Die Destruktion der "Hülle", also der manifesten Erscheinung des Kunstwerks, gibt seine Elemente frei, so daß sie in eine neue Anordnung treten können: Die P h ä n o m e n e gehen aber nicht integral in ihrem rohen empirischen Bestände, dem der Schein sich beimischt, sondern in ihren Elementen allein, gerettet, in das Reich der Ideen ein. Ihrer falschen Einheit entäußern sie sich, um aufgeteilt an d e r echten der Wahrheit teilzuhaben. [...] Indem die Rettung der P h ä n o m e n e vermittels d e r Ideen sich vollzieht, vollzieht sich die Darstellung der Ideen im Mittel d e r Empirie. D e n n nicht an sich selbst, sondern einzig und allein in einer Z u o r d n u n g dinglicher E l e m e n t e im Begriff stellen die Ideen sich dar. Und zwar tun sie es als deren Konfiguration. D e r Stab von Begriffen, welcher dem Darstellen einer Idee dient, vergegenwärtigt sie als Konfiguration von jenen. D e n n in Ideen sind die P h ä n o m e n e nicht einverleibt. Sie sind in ihnen nicht enthalten. Vielmehr sind die Ideen deren objektive virtuelle Anordnung, sind deren objektive Interpretation. 2 2 [...] Die Ideen verhalten sich zu den Dingen wie die Sternbilder zu den Sternen. ( G S I: 214f.)

Die Darstellung der Idee ist zugleich die Rettung der Phänomene, deren Elemente sie, herausgelöst aus ihrem "falschen" Zusammenhang, in eine Konfiguration (oder Konstellation) bringt. Dieser Konfiguration sind die Elemente nicht subsumiert, wie einem abstrakten Begriff seine konkreten Fälle. Die Ideen sind keine statischen Klassen von Elementen, sondern deren dynamische Beziehungen.

21 Vgl. Menninghaus (1987: 142-146) zum Bild der "Flamme" u. seiner f r ü h r o m a n t i s c h e n Vorprägung u. A d o r n o zum "Feuerwerk": "Prototypisch für die Kunstwerke ist das P h ä n o m e n des Feuerwerks, das um seiner Flüchtigkeit willen und als leere U n t e r h a l t u n g kaum des theoretischen Blicks gewürdigt wurde [...]. Es ist apparition kat'exochen: empirisch Erscheinendes, befreit von der Last der Empirie als einer d e r D a u e r , Himmelszeichen und hergestellt in eins, Menetekel, aufblitzende und vergehende Schrift, die doch nicht ihrer Bedeutung nach sich lesen läßt." (1970: 125) 22 Z u r "objektiven Interpretation" und zu der Frage, wie die "objektive A n o r d n u n g " zugleich "virtuell" sein kann, vgl. Hörisch (1985).

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Benjamins Allegoriebegriff

Die Ideen sind ewige Konstellationen und indem die Elemente als Punkte in derartigen Konstellationen erfaßt werden, sind die Phänomene aufgeteilt und gerettet zugleich. Und zwar liegen jene Elemente, deren Auslösung aus den Phänomenen Aufgabe des Begriffs ist, in den Extremen am genauesten zutage. Als Gestaltung des Zusammenhanges, in dem das Einmalig-Extreme mit seinesgleichen steht, ist die Idee umschrieben. Daher ist es falsch, die allgemeinsten Verweisungen der Sprache als Begriffe zu verstehen, anstatt sie als Ideen zu erkennen. Das Allgemeine als ein Durchschnittliches darlegen zu wollen, ist verkehrt. Das Allgemeine ist die Idee. (GS I: 215)

Die Idee ist durchaus sprachlich, aber nicht instrumentell, intentional und kommunikativ, da sie sich nicht auf einen Weltausschnitt richtet, der Gegenstand menschlichen Handelns sein könnte und unter diesem Aspekt von einem "Zeichen" repräsentiert würde. Vielmehr richtet sie sich auf die Welt als Totalität, in ihrer "Wahrheit", der gegenüber jede individuelle Intention, jedes "meinende" Erkennen um des "Wissens" und damit um des möglichen Handelns willen, den Sinn verliert: "Die Wahrheit ist ein aus Ideen gebildetes intentionsloses Sein. Das ihr gemäße Verhalten ist demnach nicht ein Meinen im Erkennen, sondern ein in sie Eingehen und Verschwinden." (GS I: 216) Denn in diesem Verhalten löst sich das Subjekt gerade als Subjektives mit seinem Eigeninteresse und dem daraus resultierenden instrumentalisierenden Blick auf die Dinge auf. In der Idee wird die Sprache also nicht als "Zeichen" für mitteilbare, partikulare "Inhalte" verwendet, sondern als "Symbol"23 eines Gesamtzusammenhangs, der die begriffliche Erfaßbarkeit übersteigt: "Die Idee ist Monade in ihr ruht prästabiliert die Repräsentation der Phänomene als in deren objektiver Interpretation. [...] jede Idee enthält das Bild der Welt." (GS I: 228)m

Als verdeutlichendes Beispiel sei die Idee des "Ursprungs" genannt, die Benjamin in den Titel seiner Arbeit setzte. Der "Ursprung des deutschen Trauerspiels" bedeutet nicht dessen historische Entstehung. Im Ursprung wird kein Werden des Entsprungenen, vielmehr dem Werden und Vergehen Entspringendes gemeint. Der Ursprung steht im Fluß des Werdens als Strudel und reißt in seine Rhythmik das Entstehungsmaterial hinein. [...] In jedem Ursprungsphänomen bestimmt sich die Gestalt, unter welcher immer wieder eine Idee mit der geschichtlichen Welt sich auseinandersetzt, bis sie in der Totalität ihrer Geschichte vollendet daliegt. Also hebt sich der Ursprung aus dem tatsächlichen Befunde nicht heraus, sondern er betrifft dessen Vor- und Nachgeschichte. (GS I: 226)

23 "Die Idee ist ein Sprachliches, und zwar im Wesen des Wortes jeweils dasjenige Moment, in welchem es Symbol ist." (GS I: 216) 24 Zur Vorgeschichte der Monadenvorstellung (vor Leibniz) s. Scholem (1977: 36) u. Lötzsch (1984: bes. 117).

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Die Idee des Trauerspiels läßt sich nicht als Merkmalskomplex verstehen, als seine Definition im klassischen Sinne, sondern als Konstruktion eines historischen Entwicklungszusammenhangs, in der den heterogenen historischen "Fakten" ein Sinn zugewiesen wird. Wie die "romantische Idee der Einheit der Kunst" beruht sie auf "der Idee eines Kontinuums der Formen." (GS I: 87) Die Formulierung aus der Kunstkritikschrift bezeugt nicht nur, daß diese Vorstellung von Benjamins Beschäftigung mit der Frühromantik geprägt wurde, sondern weist auch ganz allgemein darauf hin, daß sie eine direkte Fortführung des naturphilosophisch fundierten frühromantischen Geschichtsverständnisses ist. Nicht um Einheit aus ihnen zu konstruieren, geschweige ein Gemeinsames aus ihnen abzuziehen, nimmt die Idee die Reihe historischer Ausprägungen auf. Zwischen dem Verhältnis des Einzelnen zur Idee und zum Begriff findet keine Analogie statt: hier fällt es unter den Begriff und bleibt was es war - Einzelheit; dort steht es in der Idee und wird was es nicht war - Totalität. Das ist seine platonische 'Rettung'. ( G S I: 227)

In der Idee wird Geschichte integriert und stillgestellt, in ihrem tatsächlichen Verlauf aufgehoben: "[...] das in der Idee des Ursprungs Ergriffene hat Geschichte nur noch als einen Gehalt, nicht mehr als ein Geschehn, von dem es betroffen würde." (GS I: 227)" Die historischen Daten, die in der Idee konstelliert sind, erweisen sich, ohne ihre Historizität zugunsten naiver "Einfühlung" und Einpassung in die eigene Vorstellungswelt des Betrachters zu verlieren, als Momente eines kontinuierlichen Zusammenhangs der Formen, als Momente des "Lebens" der Kunstwerke. Die historischen "Sachgehalte" werden in ihren sachlichen Beziehungen und Abhängigkeiten zugleich transparent auf ihre Konfiguration hin, die sie als "Wahrheitsgehalte" erweist (GS I: 358). In der spezifischen Anordnung im Kunstwerk bilden die - auch weiterhin Inhalte kommunizierenden - "Zeichen" quasi die Buchstaben des "Namens",26 sind sie "Symbol" des Nicht-Mitteilbaren, Nicht-Meinbaren, der "Wahrheit".

25 Vgl. die Formulierung in "Über den Begriff der Geschichte": "Die nahrhafte Frucht des historisch Begriffenen hat die Zeit als den kostbaren, aber des Geschmacks entratenden Samen in ihrem Innern." (GS I: 703) Zur Interpretation dieses Satzes im einzelnen s. Kaiser (1975: 67). 26 Zur Tradition diese Bildes s. Scholem (1957: 81f. u. 144-146).

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3.2.4. "Lehre vom Ähnlichen" und "Über das mimetische Vermögen" Beide Schriften sind in kurzem Abstand voneinander entstanden. Das Zurücktreten "okkulter und sprachmystischer Motive [...] gegenüber solchen einer eher mimetisch-naturalistischen Sprachtheorie in der zweiten" Schrift, das die Herausgeber der "Gesammelten Schriften" in ihrem Kommentar konstatieren (GS II: 950), ist verschieden gedeutet worden (s. ebd.). Entgegen den Auffassungen, die in Benjamins Wendung zum Materialismus, der sich in seiner Sprachphilosophie als Wechsel von theologischer zu anthropologischer Argumentation zeigt, einen Bruch mit seinen früheren Auffassungen sehen, läßt sich die vorliegende Darstellung von der Benjaminschen Aussage leiten, daß von seinem "sehr besonderen sprachphilosophischen Standort aus es zur Betrachtungsweise des dialektischen Materialismus eine - wenn auch noch so gespannte und problematische - Vermittlung gibt." (1978: 523) Sie geht also von einem 'Kontinuum der Terminologie' bei Benjamin aus und von der 'Übersetzbarkeit' der frühen sprachmystischen Begrifflichkeit in die spätere materialistisch-anthropologische - und darüber hinaus. Anknüpfend an den frühen Aufsatz "Über Sprache ..." faßt Benjamin die "Übersetzung der Sprache der Dinge in die des Menschen" (GS II: 151) nun als "Mimesis", als "Produzieren von Ähnlichkeiten" (GS II: 204/210), mit Dominanz des objektiven über den subjektiven Pol. Ja, "die Gabe, Ähnlichkeit zu sehen, die [der Mensch] besitzt, ist nichts als ein Rudiment des ehemals gewaltigen Zwanges, ähnlich zu werden und sich zu verhalten." (GS II: 210) In der Frühzeit der menschlichen Gattung wurden Ähnlichkeit und reale Dependenz ineins gesetzt.27 Gleichzeitig war die Vorherrschaft des Objektes total, übermächtig, zwanghaft. Seine magische Repräsentation war jedoch schon der erste Schritt zu seiner Beherrschung28, die in der "Transformierung" (GS II: 211) des mimetischen Vermögens bis hin zur Sprache fortgeschritten ist. Diese ist "ein Medium, in welches ohne Rest die früheren Kräfte mimetischer Hervorbringung

27 Spuren davon finden sich in späteren Formen von Zauber und Magie, z. B. im Fetischismus, und im Symbol (in seiner Bedeutung von - partieller - Gleichsetzung von Zeichen und bezeichnetem Gegenstand). 28 "Nachahmen mag ein zauberischer Akt sein; zugleich entzaubert aber der Nachahmende auch die Natur, indem er sie der Sprache näher bringt." (GS II: 956) Vgl. Adornos Überlegungen in dem Abschnitt "Theorien über den Ursprung der Kunst" der "Ästhetischen Theorie" (1970:480-490): "Zugleich ist solche Verdinglichung durchs Abbild auch emanzipatorisch: sie hilft den Ausdruck befreien, indem sie ihn dem Subjekt verfügbar macht." (486)

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und Auffassung hineingewandert sind, bis sie so weit gelangten, die der Magie zu liquidieren." (GS II: 213)29 "'Was nie geschrieben wurde, lesen.' Dies Lesen ist das älteste: das Lesen vor aller Sprache, aus den Eingeweiden, den Sternen oder Tänzen." (ebd.) Der historisch nächste Schritt waren bildhafte Zeichen, aus denen sich schließlich Schrift und Sprache entwickelten. Diese Entwicklung ist eine Form der "Übersetzung", sie durchläuft "Kontinua der Verwandlung, nicht abstrakte Gleichheits- oder Ähnlichkeitsbezirke" (GS II: 151). Es ist eine "unsinnliche Ähnlichkeit" 30 , die die Entwicklungsstufen untereinander verbindet und "die die Verspannungen nicht nur zwischen dem Gesprochenen und Gemeinten sondern auch zwischen dem Geschriebenen und Gemeinten und gleichfalls zwischen dem Gesprochenen und Geschriebenen stiftet." (GS II: 212) Auf ihr als der Ähnlichkeit von Wörtern verschiedener Sprachen mit ihrem gemeinsamen Bedeuteten 3 1 beruht die Übersetzbarkeit der Sprachen ineinander. Auch Benjamins Rede von dem, was die Sprachen jeweils als ganze "sagen wollen", was in ihnen "gemeint ist", wird nun erhellt, und zwar durch den Hinweis auf die Graphologie. Diese hat gelehrt, in den Handschriften Bilder, oder eigentlich Vexierbilder zu erkennen, die das Unbewußte des Schreibers darinnen versteckt. Es ist anzunehmen, daß das mimetische Vermögen, welches dergestalt in der Aktivität des Schreibenden zum Ausdruck kommt, in sehr entrückten Zeiten, als die Schrift entstand, von größter Bedeutung für das Schreiben gewesen ist. (GS II: 208)

Das mimetische Moment im Schreiben ist also historisch früher als das stellvertretende, semiotische, und bildet in späteren Entwicklungsstadien einen "Bedeutungsuntergrund" unter den manifesten Bedeutungen. Schrift und Sprache sind zu einem "Archiv unsinnlicher Ähnlichkeiten, unsinnlicher Korrespondenzen geworden." (GS II: 208/213) In ihm sind die Spuren der Geschichte des mimetischen Vermögens aufbewahrt. Jedes Zeichen verweist, vor allem anderen, in autoreferentieller Weise auf diese seine eigene Geschichte.

29 "Es ergäbe sich in diesen Zusammenhängen eine Polarität der Zentren des mimetischen Vermögens im Menschen. Es verlagert sich vom Auge auf die Lippen, dabei den Umweg über den gesamten Leib nehmend. Dieser Prozeß würde die Überwindung des Mythos einschließen." (GS II: 958) 30 Der Begriff der unsinnlichen Ähnlichkeit ist "ein relativer: er besagt, daß wir in unserer Wahrnehmung dasjenige nicht mehr besitzen, was es einmal möglich machte, von einer Ähnlichkeit zu sprechen" (GS II: 207). 31 Vgl. GS II: 207.

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Diese Seite der Sprache wie der Schrift läuft aber nicht beziehungslos neben der anderen, der semiotischen einher. Alles Mimetische der Sprache kann vielmehr, der Flamme ähnlich,32 nur an einer Art von Träger in Erscheinung treten. Dieser Träger ist das Semiotische. (GS II: 213)

Das Semiotische, die Sprache als "Zeichen", ist der "Fundus",33 mit dem das Mimetische arbeitet, an dem es als "fundierte Intention" sich zeigt: So ist der buchstäbliche Text der Schrift der Fundus, in dem einzig und allein sich das Vexierbild formen kann." (GS II: 208f.) "So ist der Sinnzusammenhang der Wörter oder Sätze der Träger, an dem erst, blitzartig,34 die Ähnlichkeit in Erscheinung tritt. (GS II: 213)

3.2.5. "Name" und "Zeichen" in ihrem Verhältnis zu "Allegorie" und "Symbol" Der "Name" ist das sprachliche "Symbol" der Dingbedeutung. Er ist auf die Idee der Dinge gerichtet. In dieser "ruht prästabiliert die Repräsentation der Phänomene als in deren objektiver Interpretation." (GS I: 228) Das ist deshalb so, weil in ihr die Dinge als individuelle (nicht als Exempla von Klassen wie im Begriff) an ihrem je eigenen Platz in der Struktur der Welt sich befinden. Dies wird durch das Symbol nicht beschrieben, es wird "ausgedrückt". Der Name des Dinges ist die Elementarform des Symbols vor dem Sündenfall - als die Dinge noch "an ihrem Platz waren" und dies dem Menschen "mitteilten", der diese Mitteilung mit der Nennung ihres Namens beantwortete. Der Namencharakter der Worte hat sich in der Folge immer mehr verloren, die Worte sind zu - als "willkürlich" empfundenen - "Zeichen" geworden. Die Struktur der Sprache und die Struktur der Welt decken sich nicht mehr, sie müssen künstlich vom Subjekt einander zugeordnet werden. Diesen Zustand sucht das künstlerische Symbol zu überwinden. Erika Fischer-Lichte umreißt Benjamins Konzeption aus dem Trauerspielbuch in prägnanter Weise:

32 Vgl. "das Aufflammen der in den Kreis der Ideen eintretenden Hülle," die "Verbrennung des Werkes, in welcher seine Form zum Höhepunkt seiner Leuchtkraft kommt." (GS I: 211) 33 Vgl. Adornos "Material"-Begriff (1970: pass.). 34 "Jedes Kunstwerk ist ein Augenblick" (Adorno 1970:17). Zum Zusammenhang zwischen dieser These und der Gesamtkonzeption der "Ästhetischen Theorie" s. Henckmann (1984) u. unten Abschnitt 3.4.2.

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Even if - as is usually the case - the symbol is created by a subject, subjectivity tends here to vanish, to extinguish itself. Thus, the artistic symbol is described in a way that it seems to be withdrawn from the meaning-constituting subjectivity of the p r o d u c e r as well as of the interpreter. T h e symbol that is created by a subject is supposed to imply and express its meaning just as the things created by G o d imply and express their own meaning. Any symbol thus symbolizes the original identity of thing-meaning and wordmeaning in the name: the artistic symbol symbolizes the linguistic symbol, the name. (Fischer-Lichte 1986: 155)

Das künstlerische Symbol symbolisiert also die verlorengegangene Paradiessprache. Dazu muß es seinen Zeichencharakter, den es als Bestandteil der menschlichen Sprache (nach dem Sündenfall) hat, verneinen: Although originating in the three-dimensionality of sign-producer, sign vehicle and object, the symbol denies its semiotic character and aims at a two-dimensional union of the word and the thing, excluding and renouncing the participation of any subjectivity, (ebd.)

Es stellt die Welt dar, als wäre sie eine vollkommen geordnete, eindeutige, unveränderliche und ganze für den Menschen. Ganz anders die Allegorie: "Allegorien sind im Reiche der Gedanken was Ruinen im Reiche der Dinge." (GS I: 354) Sie zeigen die Welt als in sich zerfallene, der Subjektivität und der Geschichte unterworfene. Während das Symbol auf Paradies und Erlösung als Verwirklichungen des Heilszustandes einer organischen Verbindung von Mensch und Natur hindeutet, zeigt die Allegorie Geschichte als Absterben dieser lebendigen Beziehung, als Verkrustung und Versteinerung, durch die Natur zum absolut Anderen, Fremden wird: Während im Symbol mit der Verklärung des Unterganges das transfigurierte Antlitz der Natur im Lichte der Erlösung flüchtig sich offenbart, liegt in der Allegorie die facies hippocratica der Geschichte als erstarrte Urlandschaft dem Betrachter vor Augen. ( G S I: 343)

Ist das Symbol nicht Name, obwohl es mit ihm die Zeitenthobenheit und Intimität der inneren Verbundenheit von Ausdruck und Bedeutung gemeinsam hat, sondern nur Symbol des Namens, so ist andererseits die Allegorie nicht mit dem Zeichen gleichzusetzen. Das Zeitmaß der Symbolerfahrung ist das mystische Nu, in welchem das Symbol den Sinn in sein verborgenes und, wenn man so sagen darf, waldiges Innere aufnimmt. Andererseits ist die Allegorie von einer entsprechenden Dialektik nicht frei und die kontemplative Ruhe, mit welcher sie in den Abgrund zwischen bildlichem Sein und Bedeuten sich versenkt, hat nichts von der unbeteiligten Süffisanz, die in d e r scheinbar verwandten Intention des Zeichens sich findet. ( G S I: 342)

Gerade indem die Allegorie die Struktur des Zeichens, nämlich das Auseinanderfallen von bildlichem Ausdruck (im weitesten Sinne) und

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Bedeutung, nachbildet und auf ihr insistiert, sie quasi "ausstellt", überwindet sie die Teilnahmslosigkeit des Zeichens. Indem sie sich als Zeichen auf sich selbst bezieht und die Eigenart des Zeichens, das Willkürliche, Fragmentarische und Unbeständige an ihm als zum gegenwärtigen historischen Zeitpunkt notwendig erweist, deutet sie zugleich auf seine zukünftige Überwindung in der Erlösung voraus. Sie ist somit, wie es Benjamin schon für das Verhältnis der antiken Tragödie zum Mythos formulierte, "Abbild und Revision [...] zugleich." (GS I: 295) 35 Im Sündenfall selbst entspringt die Einheit von Schuld und Bedeuten vor dem Baum der 'Erkenntnis' als Abstraktion. In Abstraktionen lebt das Allegorische, als Abstraktion, als ein Vermögen des Sprachgeistes selbst, ist es im Sündenfall zu Hause. Denn Gut und Böse stehen unbenennbar, als Namenlose, außerhalb der Namenssprache, in welcher der paradiesische Mensch die Dinge benannt hat und die er im Abgrund jener Fragestellung verläßt. Der Name ist für Sprachen nur ein Grund, in welchem die konkreten Elemente wurzeln. Die abstrakten Sprachelemente aber wurzeln im richtenden Wort, dem Urteil. [...] Im schlechthin Bösen greift die Subjektivität ihr Wirkliches und sieht es als die bloße Spiegelung ihrer selbst in Gott. Im Weltbild der Allegorie also ist die subjektive Perspektive restlos einbezogen in die Ökonomie des Ganzen. [...] Subjektivität, die wie ein Engel in die Tiefe niederstürzt, wird von Allegorien eingeholt und wird am Himmel, wird in Gott durch 'Ponderación misteriosa' festgehalten. (GS I: 407f.)

3.3. Benjamins Kunsttheorie 3.3.1. Kunst als "Abbild und Revision zugleich" Mit der These, die (post-paradiesische) Sprache des Menschen sei immer zugleich "Name" und "Zeichen", stellt Benjamin den mimetisch-kon-

35 Vgl. zur Überwindung von Schicksal und mythischer Schuld in der Tragödie folgende Stelle: "Schicksal rollt dem Tode zu. Er ist nicht Strafe sondern Sühne, ein Ausdruck der Verfallenheit des verschuldeten Lebens an das Gesetz des natürlichen. Im Schicksal und im Schicksalsdrama ist die Schuld zu Hause, um die man oft die Theorie des Tragischen gruppierte. Diese Schuld, die nach den alten Satzungen von außen durch das Unglück den Menschen zuwachsen sollte, nimmt im Verlauf des tragischen Geschehns ein Held auf sich und in sein Inneres. Indem er im Selbstbewußtsein sie reflektiert, entwächst er ihrer dämonischen Botmäßigkeit." (GS I: 310) Dieser Vorgang ist immer mit Sprache und der Erfahrung von Zukünftigkeit (und damit von Geschichtlichkeit) verknüpft: Tragik ist eine Vorstufe der Prophetie. Sie ist ein Sachverhalt, der nur im Sprachlichen sich findet" (GS I: 297).

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ventionalen Doppelcharakter der Sprache heraus. Sprache als Instrument zur Schematisierung, das die Welt als Menge klassifizierbarer Gegenstände handhabbar macht, ist Ausdruck der freien Aktivität des Menschen35 und erscheint der Welt der Dinge gegenüber als fremd, zufällig und willkürlich. Eben als Ausdruck dieser Aktivität hat sie jedoch den Charakter höchster Motiviertheit, zeigt sie sich als passiv gegenüber einem sich in ihr manifestierenden Geschehen. Was in Benjamins frühem Verständnis der adamitischen Namengebung noch auf widersprüchliche Art und Weise zusammenfällt, die innere Verbindung von Name und Ding und die Freiheit des Menschen bei der Namengebung, wird in den Reflexionen über das mimetische Vermögen klar und eindeutig in Relation zueinander gesetzt: Jeder Akt instrumenteller Verwendung konventionaler Zeichen ist zugleich Ausdruck oder Indiz des Prozesses, der ebendiese Handlung hervorgebracht hat, und mithin der Emöglichungsgrund der Thematisierbarkeit dieses Prozesses. Dieses Verhältnis läßt sich nun auf das der Zeichen zu ihrer Geschichte projizieren. Als konventionalisierte Schemata von Welterfassung sind Zeichen arbiträr, durch ihre Geschichte, die erst zu dieser ihrer bestimmten Gestalt geführt hat (unter Ausschluß vieler anderer Möglichkeiten), sind sie jedoch motiviert. Genau diese Doppelnatur der Zeichen faßt Benjamin unter dem Begriff der "unsinnlichen Ähnlichkeit". Sie ist die Voraussetzung dafür, daß Zeichen den Status von "Ideen" einnehmen können, indem sie in einer bestimmten Konfiguration einen Zusammenhang erkennbar werden lassen, der in ihrer kodifizierten (konventionalen) Bedeutung nicht enthalten ist, also eine nichtverwirklichte Möglichkeit ihrer eigenen Geschichte. Der Gedanke der Kontinuität, als Prinzip sowohl der Entwicklung jeder Sprache als auch der historischen Verwandtschaft der Einzelsprachen, ist bei Benjamin der systematische Grund der Übersetzbarkeit. Indem damit die letztliche Konvergenz der Sprachen, und sei es im Unendlichen, zum Leitbild und eigentlichen Gehalt der Ubersetzung wird, ergibt sich die Unausdrückbarkeit des Gehalts jeder Übersetzung und ihr allegorischer Charakter. Sie ist, neben ihrem sachlichen Gehalt, immer Ausdruck einer Tätigkeit, die in ihrer logischen Vollendung (der völligen Angleichung der Sprachen) sich selbst aufheben müßte und daher nur als Annäherung an ihr Ziel bestehen kann.

36 D. h. seines "geistigen Wesens": "Der Mensch teilt also sein eignes geistiges Wesen (sofern es mitteilbar ist) mit, indem er alle anderen Dinge benennt." (GS II: 143: vgl. oben Abschnitt 3.2.1)

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In jeder Übersetzungstätigkeit wird ein in den Sprachen Symbolisiertes momentan freigesetzt, um sogleich in ein neues Symbolisierendes einzugehen. Benjamin sieht das "Vermögen der Übersetzung" darin, "das Symbolisierende zum Symbolisierten selbst zu machen" (GS IV: 19), also in der konventionalen Sprache, im Bereich des kodifizierten Sinns durch das Verfahren der Konstellation (nämlich der Konstellation des Originals und der Übersetzung) die "Idee" eines Nicht-Kodifizierten sichtbar werden zu lassen. In seiner Allegoriekonzeption, die er zunächst im Trauerspielbuch entwickelt, wird dieses Verfahren der Konstellation in eine Theorie der Kunst integriert, die das Verhältnis von instrumentellkommunikativer und künstlerischer Zeichenhaftigkeit klärt. Wenn das Zeichen im Kunstwerk in einen Zusammenhang tritt, der seinen konventionalen Verweisungsbezug tendenziell aufhebt, dann bezieht es sich auf sich selbst, auf seine Zeichengestalt und seine nun virtualisierten Bedeutungen und Verknüpfungsmöglichkeiten. So wird es, je nach gewählter Konstellation, zum Material für neue Sinnbildungsprozesse, ohne daß diese in eine neu etablierte Konventionalität einmünden müßten.

3.3.2. Melancholie: "Verrat" und "Rettung" Die Melancholie verrät die Welt um des Wissens willen. Aber ihre ausdauernde Versunkenheit nimmt die toten Dinge in ihre Kontemplation auf, um sie zu retten. ( G S I: 334)

"Verrat" ist das Streben nach Wissen (nach begrifflicher Erkenntnis) deshalb, weil in ihm die wahren "Namen" der Dinge den "Zeichen" geopfert werden, unter denen sie dem Menschen verfügbar werden. Dieser Vorgang wird von Benjamin mit den Bildfeldern "Erstarrung" und "Tod" erfaßt, die Welt der so "bezeichneten" Dinge wird "fremd" und (sinn-)ieer". Sie erschient nicht mehr als lebendiges und mit dem Menschen organisch verbundenes Ganzes, sondern als Anhäufung von Bruchstücken, von "Trümmern".37 Ein solches Erleben der Welt erklärt sich aus einer psychischen Krisensituation. Eine sich zwar unausweichlich und unrevidierbar vollzie-

37 Vgl. allg. zu dieser Kontingenzerfahrung u. ihrer Rolle für Benjamins Geschichtsdeutung Makropoulos (1989: v. a. 23-58).

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hende, aber mit all ihren "Folgelasten"38 nicht vollständig zu bewältigende Transformation eines relativ geschlossenen Weltbildes in ein relativ offenes führt zu Verlusterfahrungen.39 Diese resultieren letztlich jedoch nicht aus dem tatsächlichen Verlust der Einheit etwa der mittelalterlichchristlichen Heilsordnung, denn diese ist ja nach wie vor vorhanden und verfügbar. Daß sie nicht mehr funktioniert, nämlich nicht mehr in tradierter Weise oder zumindest nicht uneingeschränkt geglaubt werden kann, läßt auch ihre bisherige Gültigkeit fragwürdig werden und so das Verlorene als etwas erkennen, das man immer nur scheinbar besessen und mithin gar nicht wirklich verloren hat. Die Verlusterfahrung hat ihren Grund vielmehr in den Schwierigkeiten, die affektive Besetzung des "Verlorenen" auf ein neues Objekt zu übertragen.40 Benjamin deutet die Trauer des Melancholikers nicht nur als emotionale Auswirkung dieser Krise, sondern zugleich als elementare Form ihrer psychischen Bewältigung. Die Repräsentation des Gegenstandes der Trauer ist die Voraussetzung für dessen Ersetzung und damit die Überwindung der Trauer, denn sie ermöglicht die Bearbeitung, die allmähliche Überführung in ein neues Objekt des Begehrens. Die damit

38 Ich entnehme den Begriff der "Folgelast" in dieser speziellen Bedeutung dem Buch von Rainer Specht (1972). Dort findet man Beispiele für innovatorische Transformationen von Theorien und Theoriekomplexen, die, ohne daß dies zu den Absichten ihrer Urheber gehört hätte, aufgrund ihrer sich potenzierenden Folgeprobleme solche Öffnungserscheinungen bewirkten. 39 Daß diese auch Movens für den Umwandlungsprozeß beschleunigende Ersatzhandlungenwerden können, hat Blumenberg (1988) an der Förderung der theoretischen Neugierde durch den Verlust religiös verbürgter "unmittelbarer Selbstgegebenheit" (390) der Wirklichkeit gezeigt: "Neugierde wäre dann die Art von kompensatorischer Ausschweifung, die sich an den Rätseln und Geheimnissen der Welt Ersatz für das verschafft, was zu erreichen der Mensch resigniert hat. [...] Die in der Idee der acedia 'umworbenen' ausgesprochene Resignation gegenüber dem jahrhundertelang Gegenstand des Absoluten, die theologisch-metaphysische Entmutigung gegenüber dem sich in souveräner Willkür als deus absconditus entziehenden Gott, werden den Ausgang des Mittelalters und die für die Epochenwende wesentliche Umwertung der theoretischen Neugierde bestimmen. [...] Aus der Melancholie über die Unerreichbarkeit der transzendenten Vorbehalte der Gottheit wird die entschlossene Konkurrenz der immanenten Wissenschaftsidee hervorgehen, der sich die Unendlichkeit der Natur als das unausschöpfbare Feld theoretischer Zuwendung erschließt und zum Äquivalent der als Heilsidee ungewiß gewordenen transzendenten Unendlichkeit der Gottheit selbst steigert." (391) 40 Zur sozialhistorischen Dimension melancholischen Selbstverständnisses in der Neuzeit s. Lepenies (1972), zur Geschichte des Begriffs der Melancholie und ihrer künstlerischen Darstellung Klibansky/Panofsky/Saxl (1990).

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einhergehende Distanzierung verändert jedoch tendenziell auch die Qualität der affektiven Bindung. Sie verlagert sich immer mehr von der direkten Ausrichtung auf die Objekte hin zu deren im Trauervorgang erzeugten Bildern und wird so der Kontrolle und Regulierung zugänglich. Das Vorstellen des Gegenstandes der Trauer, jedoch als eines eben nicht mehr anwesenden, nur dargestellten, hat kathartischen Effekt. Die Welt wird "neubelebt", aber in ihrer Lebendigkeit als Fiktion ("maskenhaft") erfahren: "Trauer ist die Gesinnung, in der das Gefühl die entleerte Welt maskenhaft neubelebt, um ein rätselhaftes Genügen an ihrem Anblick zu haben." (GS I: 318) Die nur mehr zeichenhaft zugänglichen, "toten" Dinge der Welt werden aufgegriffen, aus ihren üblichen Bezügen gelöst und, in einer "Epoche", einer probeweisen Aufhebung ihrer schematisierten und in Zeichen kodifizierten Funktionalität, in einen neuen Kontext gestellt. So dem instrumentalen oder kommunikativen Handeln entzogen und der melancholischen Betrachtung anheimgegeben, verweist diese "Konstellation" einerseits auf den bestehenden (die Trauer erzeugenden) Zusammenhang der Dinge, aber als auf einen (zeitweilig) aufgehobenen, und andererseits auf den erhofften (die Trauer auflösenden) Zusammenhang, aber als auf einen nicht bestehenden. Genau dieser Schwebezustand eines Zusammentretens von Elementen zwischen zwei in verschiedener Hinsicht abwesenden Anordnungen derselben bildet den Raum der Allegorie. Die Allegorie ist nun aber nicht nur eine künstlerische Psychotechnik, die es dem Melancholiker erlaubt, seine emotionale Problematik in einem Medium darzustellen und so reflektierbar zu machen. In der Allegorie sind auch die an das Wissen-Wollen "verratenen" Dinge "gerettet", sind sie aufbewahrt, jedoch nicht als museale Fetische, als Ersatzobjekte für ein real nicht mögliches befreites und "lebendiges" Verhältnis zu den Dingen, sondern als ihrer zeichenhaften Identität enthobene und dennoch auf der Differenz zwischen ihrem "Zeichen" und ihrem "Namen" (der weiterhin darauf wartet, ausgesprochen zu werden) insistierende. Allegorische Kunst ist "Trauerarbeit", die im Gegensatz zur symbolischen Kunst Erlösung nicht in der "individuellen Totalität des verklärenden Kunstwerks" zum Surrogat ihres tatsächlichen Bestehens macht.41

41 "Die Allegorie, die die Erfahrung des Leidvollen, Unterdrückten, Unversöhnten und Verfehlten, die Erfahrung des Negativen ausdrückt, widerstreitet einer positiv Glück, Freiheit, Versöhnung und Erfüllung vorspiegelnden und vorschießenden symbolischen Kunst." (Habermas 1972: 182f.)

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Der von Freud in "Trauer und Melancholie" (1915/17) eingeführte Begriff der "Trauerarbeit" sollte jedoch daran erinnern, daß die bei der Melancholie zusätzlich zum normalen Trauervorgang auftretende Identifikation des Ichs mit dem verlorenen Objekt, trotz der ambivalenten Haltung des Ichs zum Objekt, den Abschluß der Trauer unabsehbar aufschieben kann. Mit Benjamin wäre dem hinzuzufügen, daß der Grund für diese Möglichkeit in der affektiven Besetzung der allegorischen Bilder selbst liegt.42 Für das, was Benjamin als das "rätselhafte Genügen an ihrem Anblick" bezeichnet, hat Julia Kristeva in ihrer Studie über Depression und Melancholie (1987) eine Erklärung vorgeschlagen. Sie unterscheidet einen "cannibalisme mélancholique" als Überlebensstrategie des Ich, das sich das verlorene Objekt einverleibt, es dazu zerstückelt, aber seinen Trümmern auch eine metamorphotische Auferstehung verschafft 43 , von une autre modalité de la dépression. Loin d'être une attaque cachée contre un autre imaginé hostile parce que frustrant, la tristesse serait le signal d'un moi primitif blessé, incomplet, vide. [...] Pour ce type de déprimé narcissique, la tristesse est en réalité le seul objet: elle est plus exactement un ersatz d'objet auquel il s'attache, qu'il apprivoise et chérit, faute d'un autre. [...] Le dépressif narcissique est en deuil non pas d'un Objet mais de la Chose. (21f.)

Im Unterschied zu einem bestimmbaren und benennbaren Objekt ist die "Chose" etwas, das dem Subjekt als unbestimmt, ungeteilt und ungreifbar erscheint.44 Entwicklungspsychologisch mit der Mutter, genauer der ungeschiedenen Einheit mit ihr identifizierbar, setzt sein Verlust den psychischen Differenzierungsprozeß, also die zeichenhaft-sprachliche Bestimmung von Objekten allererst in Gang. Die Deutung dieses Prozesses macht den Unterschied zwischen normaler und depressiver Trauer aus.

42 Zu Benjamins Kritik an der Haltung des Allegorikers s. Steinhagen (1979: 671f.). "Dem Allegoriker fehlt, was Benjamin den "Silberblick der Selbstbesinnung" nennt [GS I: 335]; befangen in der eigenen Subjektivität gewahrt er nicht, daß er selbst, sein vom Wissen und Grübeln verdunkelter Blick, der die Dinge nur als entwertete wahrzunehmen vermag, sie stets wieder in jenen Stand versetzt, in dem sie der 'Rettung' bedürfen [GS I: 406f.]." (672) 43 "Plutôt morcelé, déchiqueté, coupé, avalé, digéré ... que perdue. L'imaginaire cannibalique mélancholique est un désaveu de la réalité de la perte ainsi que de la mort. Il manifeste l'angoisse de perdre l'autre en faisant survivre le moi, certes abandonné, mais non séparé de ce qui le nourrit encore et toujours et se métamorphose en lui - qui ressuscite aussi - par cette dévoration." (21) 44 Vgl. 22, Fußn. 10.

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Les signes sont arbitraires parce que le langage s'amorce par une dénégation (Verneinung) de la perte, en même temps que la dépression occasionné par le deuil. 'J'ai perdue un objet indispensable qui se trouve être, en dernière instance, ma mère', semble dire l'être parlant. 'Mais non, je l'ai retrouvée dans les signes, ou plutôt parce que j'accepte de la perdre, je ne l'ai pas perdue (voici la dénégation), je peux la récupérer dans le langage.' Le déprimé, au contraire, dénie la dénégation: il l'annule, la suspend et se replie, nostalgique, sur l'objet réel (la Chose) de sa perte qu'il n'arrive précisément pas à perdre, auquel il reste douloureusement rivé. Le déni (Verleugnung) de la dénégation serait ainsi le mécanisme d'un deuil impossible, l'installation d'une tristesse fondamentale et d'un langage artificiel, incrédible, découpé de ce fond douloureux auquel aucun signifiant n'accède et que seule l'intonation, par intermittence, parvient à moduler. (55)

Diese unmögliche Trauer kommt an kein Ende, weil sie sich weigert, ihrer Verlusterfahrung ein bestimmtes Objekt zuzuschreiben, dieses in die Menge der übrigen Objekte einzureihen und so der Transformation zugänglich zu machen. Der Depressive verschließt sich in den Raum der Bilder seiner Trauer, die immer nur auf ihre Ursache zurückverweisen, nichts als die Unmöglichkeit, sie wieder zu vergegenwärtigen, repräsentieren und sich so in einem zeitlosen In-sich-kreisen ins Unendliche fortpflanzen.45 Diese Bilder werden zum eigentlichen Objekt der Trauer,46 und das "ursprüngliche Objekt", das in diese Bilder "übersetzt" wird, sich aber immer als inkommensurabel erweist, wird zu einem reinen Postulat,

45 Vgl. Tellenbach (1974): "In der Melancholie steht das Ich gleichsam neben seiner Trauer. Während ansonsten Trauer eine Bewegung ist, die entsteht, wächst, dauert, vergeht, zeigt die melancholische Trauer keine Bewegung. Sie ist in Permanenz da, ohne Erstreckung. In der Melancholie sieht das Ich - wohl wissend um die Möglichkeit eines Freiseins von Trauer - seiner Verstimmung selbst zu. Das melancholische Leiden besteht nicht zuletzt gerade in der Unfähigkeit, in eine Relation zu dieser Verstimmung zu treten." (23) Binswanger konstatiert für die Melancholie eine Verschiebung im Gefüge von Protentio, Retentio und Praesentatio (nach Husserl). Sie äußert sich darin, daß es sich bei den Schuldvorwürfen des Melancholikers, "bei der Rede vom Wenn oder Wenn-nicht, vom Hätte-ich oder Hätte-ich-nicht um lauter leere Möglichkeiten handelt. Wo aber von Möglichkeiten die Rede ist, handelt es sich um protentive Akte - das Vergangene hat ja keine Möglichkeiten. Hier aber zieht sich, was freie Möglichkeit ist, zurück in die Vergangenheit." (1960: 27) 46 "Dire que l'objet de mon chagrin est moins ce village, cette maman ou cet amant qui me manquent ici et maintenant que la représentation incertaine que j'en garde et que j'orchestre dans la chambre noire de ce qui devient en conséquence mon tombeau psychique, situe d'emblée mon malaise dans l'imaginaire. Habitant de ce temps tronqué, le déprimé est nécessairement un habitant de l'imaginaire." (72) "[...] il n'est d'imagination qui ne soit, ouvertement ou secrètement, mélancholique." (15)

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das die Arbeit an den Bildern motiviert und antreibt. 47 Das selbstbezügliche Spiel der Bilder und Zeichen, in das der Depressive seine Trauer um "un objet archaique qui demeure ainsi, pour lui et pour tous, une énigme et un secret" (75), bannen will, wird zur "trahison par excellence de la Chose unique et en soi" (78). Denn durch seine Isolierung setzt es eine subjektive Willkür frei, die die Forderung nach adäquater Übersetzung in eine Flut gleichwertiger, sich in Metamorphosen vervielfältigender Übersetzungen auflöst. La traductibilité postulée aboutit en la multiplicité d e s traductions possibles. mélancholique

potentiel

qu'est

le sujet

occidental,

devenue

traducteur

Le

acharné,

s'achève en joueur affirmé o u en athée potentiel. La croyance initiale e n la traduction se transforme en une croyance dans la performance stylistique p o u r laquelle l'en deçà du texte, son autre, fût-il originaire, c o m p t e m o i n s q u e la réussite du texte m ê m e . ( 7 8 )

Hat die narzißtische Depression in Kristevas Sinn letztlich diese Konsequenzen, dann ist die allegorische Kunst im Sinne Benjamins ihre eigenste Domäne. 48 Der Versuch, den "Verrat" an den Dingen, den ihre Kodifizierung darstellt, zu verneinen, ihn nicht mitzuvollziehen, führt zwar zu ihrer "Rettung" vor dem endgültigen Verschwinden, und zwar dadurch, daß sie in die Kontemplation, ins allegorische Bild aufgenommen werden. Dort aber drohen sie in den Hintergrund zu treten über der kunstvollen Weiterentwicklung von Trauerritualen, die gerade mit dem Anspruch auftreten, ihr Andenken wachzuhalten.

3.3.3. "Aura" und "Zerstreuung" In seinem Aufsatz "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" (1935),49 geschrieben ein Jahrzehnt nach der "Trauerspiel"-Arbeit, nach Benjamins Annäherung an den Marxismus und schon unter dem Eindruck und in Auseinandersetzung mit der "Äs-

4 7 "Il est certain que l'objet originaire, cet 'en-soi' qui reste toujours à traduire, la cause ultime de la traductibilité, n'existe q u e pour et par le discours et le sujet déjà constitués.

C'est parce que le traduit

est déjà là q u e

le traductible

peut

être

imaginé et p o s é c o m m e excédent o u incommensurable. [...] Ce postulat correspond à une exigence psychique que la métaphysique et la théorie occidentale ont eu, peutêtre, la chance et l'audace de représenter." ( 7 7 ) 48 Kristeva hat diese Paralle zu Benjamin nicht im einzelnen ausgeführt, bezieht sich aber an einer Stelle nachdrücklich auf ihn (112-115). 49 Hier zitiert nach der zweiten deutschen Fassung, die 1936 o d e r 1937 e n t s t a n d e n ist; vgl. G S I: 1035f. [Kommentar],

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thetisierung der Politik" (GS I: 508) durch den Faschismus, deutet Benjamin die Entwicklung der künstlerischen Moderne als Verlust der "Aura".50 Die Aura bestimmt er als die "einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag." (GS I: 479) Diese eher kryptische Definition wird durch eine kulturgeschichtliche Erläuterung aufgehellt, die die Aura mit bestimmten religiösen Praktiken in Verbindung bringt. Die Definition der Aura als 'einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag', stellt nichts anderes dar als die Formulierung des Kultwerts des Kunstwerks in Kategorien der raum-zeitlichen Wahrnehmung. Ferne ist das Gegenteil von Nähe. Das wesentlich Ferne ist das Unnahbare. In der Tat ist Unnahbarkeit eine Hauptqualität des Kultbildes. Es bleibt seiner Natur nach 'Ferne so nah es sein mag'. Die Nähe, die man seiner Materie abzugewinnen vermag, tut der Ferne nicht Abbruch, die es nach seiner Erscheinung bewahrt. (GS I: 480, Fußn. 7)

Die Einmaligkeit und Unnahbarkeit des auratischen Kunstwerks ist durch Tradition vermittelt und an diese zurückgebunden und hat ihren Ursprung im erst magischen, dann religiösen Kult. "Der einzigartige Wert des 'echten' [auratischen] Kunstwerks hat seine Fundierung im Ritual, in dem es seinen originären und ersten Gebrauchswert hatte." (GS I: 480)51 Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verschwindet seine Aura. Reproduzierbarkeit und Einmaligkeit schließen sich ebenso aus wie allgemeine Zugänglichkeit und Unnahbarkeit. Die Entwicklung der technischen Möglichkeiten verbindet sich mit Veränderungen des Produktions- und Rezeptionsprozesses. "Das reproduzierte Kunstwerk wird in immer steigendem Maße die Reproduktion eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks." (GS I: 481) Wichtigstes Beispiel hierfür ist der Film, bei dem die Techniken der Reproduktion in die Produktion unmittelbar eingehen, so daß schon auf der Ebene des im Film Dargestellten, nicht erst des Films als ganzen, der Verlust der Aura sich einstellt. Das macht die Rezeptionshaltung der "Versenkung", des "Eingehens" in das Werk unmöglich. An ihre Stelle tritt die Rezeption in der "Zerstreuung", die das Kunstwerk in den Rezeptionsvorgang als sozialen Akt integriert und damit den Schein seiner Autonomie notwendiger-

50 Zum Begriff der "Aura" bei Benjamin vgl. Stoesse! (1983) u. Recki (1988). Letztere verkennt jedoch v. a. durch die Reduzierung ihres Blickfeldes auf den engeren zeitlichen Umkreis des Reproduktionsaufsatzes die Möglichkeiten, den Aurabegriff im Kontext des Benjaminschen Gesamtwerks gerade auch für eine Theorie der ästhetischen Erfahrung nutzbar zu machen. 51 Im Original hervorgehoben.

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weise aufhebt.52 "Der Versenkung, die in der Entartung des Bürgertums eine Schule asozialen Verhaltens wurde, tritt die Ablenkung als eine Spielart sozialen Verhaltens gegenüber." (GS I: 502) 53 Die neue, nichtauratische Kunstform, deren Prototyp der Film darstellt, ist mithin nicht nur als eine Folgeerscheinung bestimmter technischer Veränderungen, sondern auch als Ergebnis der Bemühungen zu sehen, ein adäquates Medium für die Auseinandersetzung mit einer veränderten "Lebenswelt" zu finden. D e r Film ist die d e r gesteigerten Lebensgefahr, d e r die Heutigen ins A u g e zu sehen haben, entsprechende Kunstform. Das Bedürfnis, sich Chockwirkungen auszusetzen, ist eine Anpassung d e r Menschen an die sie b e d r o h e n d e n G e f a h r e n . D e r Film entspricht tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparates - V e r ä n d e r u n g e n , wie sie im Maßstab der Privatexistenz jeder Passant im Großstadtverkehr, wie sie im geschichtlichen Maßstab jeder heutige Staatsbürger erlebt. ( G S I: 503, Fußn. 29)

Der "Chock", als zentrale Kategorie des Wahrnehmens und Erlebens in der Moderne, 54 dessen Wirkung "durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen sein will" (GS I: 503), wird im Film quasi "geprobt" und der Zuschauer so in eine neue Form der Geistesgegenwärtigkeit eingeübt, die es ihm ermöglicht, seine veränderte Situation (außerhalb des Kinos) zu bewältigen. Adorno hat als früher Kritiker des "Kunstwerk'-Aufsatzes in einem Brief an Benjamin vom 18. 3. 1936 ein "Mehr an Dialektik" (GS I: 1004 [Kommentar]) gefordert, v. a. in bezug auf das autonome Kunstwerk: Es scheint mir aber, daß die Mitte des autonomen Kunstwerks nicht selber auf die mythische Seite gehört - verzeihen Sie die topische Redeweise - s o n d e r n in sich dialektisch ist: daß sie in sich das Magische verschränkt mit dem Zeichen d e r Freiheit. ( G S

I: 1002)

Dieser Einwand gründet sich auf die Erfahrung, daß gerade die äußerste Konsequenz in der Befolgung des technologischen Gesetzes von a u t o n o m e r Kunst diese verändert und sie anstelle d e r T a b u i e r u n g und

52 "Indem das Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit die Kunst von ihrem kultischen Fundament löste, erlosch auf immer d e r Schein ihrer Autonomie." ( G S I: 486) 53 Dazu Benjamins Anmerkung (ebd., Fußn. 27): "Das theologische Urbild dieser Versenkung ist das Bewußtsein, allein mit seinem Gott zu sein. A n diesem Bewußtsein ist in den großen Zeiten des Bürgertums die Freiheit erstarkt, die kirchliche Bevormundung abzuschütteln. In den Zeiten seines Niedergangs m u ß t e das gleiche Bewußtsein der verborgenen T e n d e n z Rechnung tragen, diejenigen Kräfte, die d e r Einzelne im U m g a n g mit Gott ins Werk setzt, den Angelegenheiten des Gemeinwesens zu entziehen." 54 Eine ausführliche Darstellung von Benjamins Begriff des "Chocks" folgt in Abschnitt 3.3.4; s. auch P f o t e n h a u e r (1975: 76-84) u. Makropoulos (1989: 71-84).

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Fetischisierung dem Stand der Freiheit, des bewußt Herstellbaren, zu Machenden annähert, (ebd.)

Die Interdependenz der noch in mythischer Befangenheit vollzogenen (als bloße Angleichung zu verstehenden) "Mimesis" und der durch diese dominant passive Nachbildung erzeugten Distanzierung und Objektivierung, die die Basis für die wachsende Vorherrschaft aktiver "Poiesis" bilden, war Benjamin nun keineswegs ein unvertrauter Gedanke. 55 Auch in den Varia zum Reproduktionsaufsatz findet sich ein Beleg hierfür, der die Ambivalenz und innere Dialektik des so verstandenen "Mimesis"Begriffs in einem erhellenden Paradox einfängt: Die Kunst ist ein Verbesserungsvorschlag an die Natur, ein Nachmachen, dessen verborgenstes Innere ein Vormachen ist. Kunst ist, mit anderen Worten, vollendende Mimesis. (GS I: 1047)

Das Nachahmen, zunächst sogar als Sich-Angleichen verstanden, ist, auch als Beschwörung der eigenen Nähe zum Objekt der Mimesis, immer auf Repräsentationen angewiesen, die eher der Entfernung von diesem Objekt dienen. Das Schuldgefühl wegen dieses "Verrats" weckt jedoch den Wunsch, das Nachgeahmte im mimetischen Bild weiterhin enthalten zu sehen, es "gerettet" zu wissen. Die grundlegende Ambivalenz dieses Vorgangs läßt sich kaum besser als durch die widersprüchliche Formel "vollendende Mimesis" wiedergeben. Benjamins Absage an das autonome Kunstwerk zugunsten einer sozial integrierten Kunst läßt sich nur erklären aus der gleichzeitigen Enttäuschung über die Nutzlosigkeit des in der bürgerlichen, autonomen Kunst enthaltenen Potentials in bezug auf die Bedürfnisse eines Massenpublikums, und der Hoffnung, der faschistischen Manipulation der Massen mit ästhetischen Mitteln eine "Politisierung der Kunst" (GS I: 508) entgegensetzen zu können. Die neue, angezielte Kunst ist aber der alten nicht schlechtweg entgegengesetzt, sondern vorab deren "symbolischem" Typus, der der auratischen Kunst voll und ganz entspricht. Die "allegorische" Form hingegen antizipiert in vielem schon im Feld der autonomen Kunst diejenige der Zerstreuung, indem sie in die individuelle Kontemplation die Prozeßhaftigkeit, Offenheit und prinzipielle Unabschließbarkeit einführt, die auch die Kennzeichen der zerstreuten Rezeption als gemeinschaftlicher Handlung ausmachen sollen. Beide sind somit der symbolischen Kunst in der Abwendung von deren statischer Grundstruktur, ihrem Ruhen in sich selbst und ihrer geschlossenen Einheit entgegengesetzt.

55 S. Abschnitt 3.3.1.

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Zwischen ihnen besteht eine "Kontinuität der Entzauberung" (Habermas 1972: 190).

3.3.4. "Allegorie" und "Ware" Adornos Kritik "verfolgt" in ihrem Festhalten am - in der Moderne zunehmend hermetischen - autonomen Kunstwerk "eine Strategie des Überwinterns, deren Schwäche ersichtlich in ihrem defensiven Charakter liegt." (Habermas 1972: 195) Andererseits weckt Benjamins Ansatz zur Nutzung der Möglichkeiten der Reproduktionskunst angesichts seiner etwas vagen Umrisse und der eher programmatischen Form Zweifel an seiner Tragfähigkeit. Es soll daher nun geprüft werden, inwiefern Benjamins Projekt einer "Urgeschichte des 19ten Jahrhunderts" (1978: 664), das er seit 1927 in der Arbeit am "Passagen-Werk" verfolgte und für das das 1937 bis 1939 entstandene "Baudelaire"-Buch als "Miniaturmodell" (1978: 750) dienen sollte, als materialer Unterbau seiner theoretischen "Offensivstrategie" integriert werden könnte. Die Verwertung der Traumelemente beim Erwachen ist der Schulfall des dialektischen Denkens. Daher ist das dialektische Denken das Organ des geschichtlichen Aufwachens. Jede Epoche träumt ja nicht nur die nächste sondern träumend drängt sie auf das Erwachen hin. Sie trägt ihr Ende in sich und entfaltet es - wie schon Hegel erkannt hat - mit List. Mit der Erschütterung der Warenwirtschaft beginnen wir, die Monumente der Bourgeoisie als Ruinen zu erkennen noch ehe sie zerfallen sind. (GS V: 59) [...] l'humanité sera en proie à une angoisse mythique tant que la fantasmagorie y occupera une place. (GS V: 61)

Die "Phantasmagorie" ist der Gegenstand der historisch-dialektischen "Traumdeutung" (GS V: 580; N 4,1). Für den "Archäologen" der Kultur des neunzehnten Jahrhunderts ist es deren "Warencharakter", der in den 'Kulturgütern' als Phantasmagorie sich darstellt[...]. Phantasmagorie: Trugbild, Blendwerk, ist bereits die Ware selbst, in der der Tauschwert oder die Wertform den Gebrauchswert verdeckt; Phantasmagorie ist der kapitalistische Produktionsprozeß insgesamt, der sich den Menschen, die ihn vollziehen, als Naturmacht gegenüberstellt. [...] Der von Benjamin immer wieder gebrauchte Begriff der Phantasmagorie scheint nur ein anderes Wort für das zu sein, was Marx den Fetischcharakter der Ware nannte (GS V: 26 [Einleitung von Rolf Tiedemann]). 56

56 Zu den Unterschieden im Verständnis des "Fetischcharakters der Ware" zwischen Benjamin und Marx s. GS V: 28f. [Einl. Tiedemanns], Habermas (1972: 207-215) und GS V: 573f„ N la,6.

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Die Fetischisierung der Ware in ihrer Phantasmagorie kann als "Chockabwehr" verstanden werden, als Reaktion des Bewußtseins auf eine neuerliche epochale Bedrohung der affektiven Ökonomie in den Beziehungen der Individuen zur "Dingwelt", analog zu der, die im Barockzeitalter die Melancholie hervorrief, aber über sie hinausgehend: "Die Entwertung der Dingwelt in der Allegorie wird innerhalb der Dingwelt selbst durch die Ware überboten." (GS I: 660)57 Die Habitualisierung der "Chockrezeption"58 bildet einen "Reizschutz" (GS I: 613). Zugleich bewirkt sie jedoch einen Verlust an Erfahrungsmöglichkeiten und setzt die Instanz der Warnung, die der "Chock" auf perzeptiver Ebene ja darstellt, zumindest partiell außer Kraft. Vielleicht kann man die eigentümliche Leistung der Chockabwehr zuletzt darin sehen: dem Vorfall auf Kosten der Integrität seines Inhalts eine exakte Zeitstelle im Bewußtsein anzuweisen. Das wäre eine Spitzenleistung der Reflexion. Sie würde den Vorfall zu einem Erlebnis machen. (GS I: 615)

Von dieser "abgestorbenen Erfahrung her, welche sich, euphemistisch, Erlebnis nennt", kommt das "Andenken", "die säkularisierte Reliquie" (GS 1:681). Im "Andenken" versucht der moderne Melancholiker, die ihm in serieller Beziehungslosigkeit gegenübertretende Ware, das entauratisierte Ding, in ein rein subjektives und willkürliches Ordnungsschema einzufügen, z.B. in das der "Sammlung". Doch durch eben ihre Willkürlichkeit eröffnet diese Einordnung ein unendliches Feld von Assoziationsmöglichkeiten (Baudelaires "correspondances"), analog der universalen

57 "Die Ware ist an die Stelle der allegorischen Anschauungsform getreten." (GS I: 686) 58 "Die Chockrezeption wird durch ein Training in der Reizbewältigung erleichtert, zu der im Notfall sowohl der Traum wie die Erinnerung herangezogen werden können." (GS I: 614) Beide, Traum und Erinnerung, fungieren dabei als ein wiedervergegenwärtigendes, aber gleichzeitig distanzierendes und objektivierendes Vorstellen. Hier ist auf die enge Verwandtschaft der Benjaminschen Konzeption des Erinnerns und Eingedenkens mit deijenigen Aby Warburgs aufmerksam zu machen. Dessen "Mnemosyne"-Projekt, ein Bilderatlas, der unter weitgehendem Verzicht auf Kommentare das Fortleben bestimmter gestischer "Pathosformeln", Gestaltungen der Überwindung von Angstgefühlen, in ihren Transformationen in der europäischen Kunst darstellen sollte, hat erstaunliche Ähnlichkeit mit dem "Passagenwerk". S. Gombrich (1981: bes. 375-408). Die Schriften Warburgs und Dokumente liegen in einer neuen Auswahlausgabe vor (Warburg 1980). Zur Bewältigung von Angst als Movens der Kulturentwicklung s. insbesondere Warburg (1988), zur Rolle der Erinnerung in der weiteren Entwicklung der Warburg-Tradition Ginzburg (1988: 149-233), zum Verhältnis Warburg-Benjamin s. Kemp (1978) u. Kany (1987). Letzterer verkennt allerdings Benjamins Geschichtsverständnis völlig, wenn er behauptet, daß durch sein Verfahren der "'Rettung' das Vergangene zugleich entwertet wird" und ihm "potenzierten Faktizismus" vorwirft (247).

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Konvertierbarkeit der Ware infolge der Verdrängung ihres Gebrauchswerts durch den Tauschwert.59 Baudelaires Versuch, in diesen "correspondances" das romantische Motiv von sich diskursiver Erkenntnis entziehenden und nur durch das Medium der Kunst erfahrbaren weltimmanenten Zusammenhängen zu erneuern, deutet Benjamin als Bemühung um ein Unmögliches: Was Baudelaire mit den correspondances im Sinn hatte, kann als eine Erfahrung bezeichnet werden, die sich krisensicher zu etablieren sucht. Möglich ist sie nur im Bereich des Kultischen. Dringt sie über diesen Bereich hinaus, so stellt sie sich als 'das Schöne' dar. Im Schönen erscheint der Kultwert als Wert der Kunst. (GS I: 638)

In diesem "Schein" eines eigentlich nicht Möglichen manifestiert sich die doppelte Aporetik des Schönen, in ihrem Verhältnis zur Geschichte und zur Natur. Das Schöne ist seinem geschichtlichen Dasein nach ein Appell, zu denen sich zu versammeln, die es früher bewundert haben. [...] Der Schein im Schönen besteht für diese Bestimmung darin, daß der identische Gegenstand, um den die Bewunderung wirbt, in dem Werke nicht zu finden ist." (GS I: 638f., Fußn.)

Das Schöne besteht nicht in einem bestimmten Gegenstand, sondern in einem Kontinuum der Erfahrung. In der Tat ist die Erfahrung eine Sache der Tradition, im kollektiven wie im privaten Leben. Sie bildet sich weniger aus einzelnen in der Erinnerung streng fixierten Gegebenheiten denn aus gehäuften, oft nicht bewußten Daten, die im Gedächtnis zusammenfließen. (GS I: 608)

Diese Erfahrung ist das "Wissenswürdige im Innern" des Schönen. 60 Ihre Wiederbelebung als Aufgabe der Kunst zu verstehen, die diese durch Konstellation ("Struktur") der Elemente ("Details") löst, hatte Benjamin schon im "Trauerspiel"-Buch gefordert: Ja, ohne ein zumindest ahnendes Erfassen vom Leben des Details durch die Struktur bleibt alle Neigung zu dem Schönen Träumerei. Struktur und Detail sind letzten Endes stets historisch geladen. Es ist der Gegenstand der philosophischen Kritik zu erweisen, daß die Funktion der Kunstform eben dies ist: historische Sachgehalte, wie sie jedem bedeutenden Werk zugrunde liegen, zu philosophischen Wahrheitsgehalten zu machen. Diese Umbildung der Sachgehalte zum Wahrheitsgehalt macht den Verfall der Wirkung

59 "Die Melancholie enthält aber im neunzehnten Jahrhundert einen anderen Charakter als im siebzehnten. Die Schlüsselfigur der frühen Allegorie ist die Leiche. Die Schlüsselfigur der späten Allegorie ist das 'Andenken'. Das 'Andenken' ist das Schema der Verwandlung der Ware ins Objekt des Sammlers. Die Correspondances sind der Sache nach die unendlich vielfachen Anklänge jeden Andenkens an die andern." (GS I: 689) 60 "Schönheit, die dauert, ist ein Gegenstand des Wissens. Und ist es fraglich, ob die Schönheit, welche dauert, so noch heißen dürfe, - fest steht, daß ohne Wissenswürdiges im Innern es kein Schönes gibt." (GS I: 357)

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in dem von Jahrzehnt zu Jahrzehnt das Ansprechende der früheren Reize sich mindert, zum Grund einer Neugeburt, in welcher alle ephemere Schönheit vollends dahinfällt und das Werk als Ruine sich behauptet. (GS I: 358)

In bezug auf die Natur ist das Schöne aporetisch, weil es die getreue Abbildung dessen darstellt, was an der Natur gerade nicht durch den Menschen bestimmt und daher auch nicht abbildbar ist.61 Im Kultischen leistete dies die "Aura" als Erscheinung des Unnahbar-Einmaligen, die sich noch in der "symbolischen" Kunstform erhielt. Doch die Auflösung des sie fundierenden Rituals oder Kults entlarvt die Aura als "Projektion einer gesellschaftlichen Erfahrung unter Menschen in die Natur" (GS I: 670): Die Erfahrung der Aura beruht also auf der Übertragung einer in der menschlichen Gesellschaft geläufigen Reaktionsform auf das Verhältnis des Unbelebten oder der Natur zum Menschen. Der Angesehene oder angesehen sich Glaubende schlägt den Blick auf. Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen. (GS I: 646f.)

Die Aura erweist sich, nachdem sie nicht mehr durch eine kollektive rituelle Praxis verbürgt ist, als subjektives "Zeichen" der Dinge, doch in der Erinnerung an den vergangenen Zustand ihrer allgemeinen Verbindlichkeit, der Garantie einer fraglosen Harmonie sowohl in der gesellschaftlichen Interaktion als in der zwischen den Menschen und der Natur, wenngleich diese Harmonie sich im nachhinein als scheinhaft darstellt, enthüllt sich das utopische Potential einer Wiederherstellung der Aura als "Namen" der Dinge. "Wiederherstellung" ist hierbei ein ebenso paradoxer Terminus wie "Abbildung", da beide auf eine Nähe zu einem Original verweisen, das als solches nicht zugänglich ist. Der adäquate Begriff, der das statische Verhältnis von bei aller Nähe Getrennten in ein dynamisches überführt, ist der der "Ubersetzung". "Die wahre Übersetzung ist durchscheinend" (GS IV: 18) .62 Das unterscheidet sie von der Phantasmagorie, die den Waren künstlichen Glanz verleiht, um dahinter ihren Warencharakter gerade zu verstecken. Die Übersetzung des zur Ware gewordenen Dinges ins Allegorische läßt diesen Prozeß der trugbildhaften Verschleierung erkennbar werden und macht ihn damit revidierbar.

61 "Das Schöne fordert vielleicht die servile Nachahmung dessen, was in den Dingen undefinierbar ist." (Paul Valéry, zit. in GS I: 639, Fußn.); im Original: "Le beau exige peut-être l'imitation servile de ce qui est indéfinissable dans les choses." Valéry (1960: 681). 62 Vgl. oben Abschnitt 3.2.2.

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Die gegenständliche Umwelt des Menschen nimmt immer rücksichtsloser den Ausdruck der Ware an. Gleichzeitig geht die Reklame daran, den Warencharakter der Dinge zu überblenden. Der trügerischen Verklärung der Warenwelt widersetzt sich ihre Entstellung ins Allegorische. (GS I: 671)

Benjamins Versuch, den neuen Mythen des Warenzeitalters eine Kunstform entgegenzusetzen, die sie entzaubern soll, steht also durchaus in der logischen Kontinuität einer Fortführung seiner Allegoriekonzeption. Nur sah er wohl die Notwendigkeit, die allegorische Entstellung des falschen Scheins nicht nur der individuellen Betrachtung zu überlassen, sondern dafür die kollektive "Übung" zu mobilisieren. Seiner Meinung nach "entspricht die Aura am Gegenstand einer Anschauung eben der Erfahrung, die sich an einem Gegenstand des Gebrauchs als Übung absetzt." (GS I: 644) Diese Übung als Reservoir an Erfahrung zu nutzen, schwebte ihm vor. Daß jedoch auch sie phantasmagorische Züge annehmen kann, darauf weist schon ihre Analogie zur Aura hin. Die Aufdeckung der Phantasmagorien des neunzehnten Jahrhunderts sollte wohl die Energien freisetzen für die theoretische und praktische Aneignung der Übung, der Erfahrung mit den Apparaturen des zwanzigsten Jahrhunderts vor deren gänzlicher Vereinnahmung durch den Faschismus.

3.4. Benjamins Geschichtsbegriff 3.4.1. "Angelus Novus" Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm. (GS I: 697f.)

Benjamins Engel schaut zurück. Für ihn ist Geschichte weder "wie es wirklich gewesen ist" noch ein von Hegelschem Geist oder Marxschen objektiven Gesetzmäßigkeiten bestimmter Prozeß, sondern "Gegenstand einer Konstruktion" (GS I: 701), die die Destruktion von Traditions-

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zusammenhängen voraussetzt63 und die "Rettung" der Phänomene zum Ziel hat. Wovor werden die Phänomene gerettet? Nicht nur, und nicht sowohl vor dem Verruf und der Mißachtung in die sie geraten sind als vor der Katastrophe wie eine bestimmte Art ihrer Überlieferung, ihre 'Würdigung als Erbe' sie sehr oft darstellt. - Sie werden durch die Aufweisung des Sprungs in ihnen gerettet. - Es gibt eine Überlieferung, die Katastrophe ist. (GS V: 591; N 9, 4)

In seiner letzten Schrift "Über den Begriff der Geschichte" (1940) hat Benjamin seine Konzeption einer "Dialektik im Stillstand" in eine theoretische Form gebracht, die Erkenntnistheorie und Geschichtsphilosophie in einem ist - und, wie sich zeigen wird, eine "ästhetische Theorie" 'avant la lettre'. Der Sturm, der den Engel daran hindert, zu verweilen, ist das Fortschrittsdenken, das als "säkularer Erlösungsersatz in pseudoreligiöser Drapierung" (Kaiser 1975: 73) die Einsicht in die Zuspitzung des historischen Geschehens zur Katastrophe und deren Verhinderung unmöglich machte. Diejenigen, die anders als der Engel nur in die Zukunft blickten und sich von den Trugbildern positiver und scheinbar gesicherter Utopien leiten ließen, verloren dadurch den Blick für ihre Gegenwart. Die Vergangenheit war ihnen sowieso ins feste Bild einer "Universalgeschichte" gebannt und damit abgetan. Das Zurückschauen des Engels steht für eine, wie auch bei Adorno, transformierte Form64 jüdischen Bilderverbots. Es signalisiert die Absage an kultische Surrogate realer Veränderung und die Trennung des Ästhetischen vom Ritual. "Kunstwerke verbieten sich durch Autonomie ihrer Gestalt, das Absolute in sich einzulassen, als wären sie Symbole. Die ästhetischen Bilder stehen unterm Bilderverbot." (Adorno 1970: 159)

63 "Für den materialistischen Historiker ist es wichtig, die Konstruktion eines historischen Sachverhalts aufs strengste von dem zu unterscheiden, was man gewöhnlich seine 'Rekonstruktion' nennt. Die 'Rekonstruktion' in der Einfühlung ist einschichtig. Die 'Konstruktion' setzt die 'Destruktion' voraus." (GS V: 587; N 7, 6) 64 Im Gegensatz zu Kaiser (1975) und etwa auch Dieckhoff (1987) gehe ich von der gelungenen transformativen Übertragung theologischer Kategorien in einen nichttheologischen Zusammenhang bei Benjamin aus. Kaisers theologische Benjamininterpretation ist nur das unvermittelte Gegenteil der von ihm angegriffenen marxistischen. Beide gehen an Benjamins konstruktivistischem Geschichtsbegriff vorbei, der weder geschichtsimmanente noch -transzendente "archimedische Punkte" zuläßt. Benjamin selbst hat für sein Verhältnis zur Theologie, neben dem "kleinen häßlichen Zwerg", noch ein schönes Bild gefunden: "Mein Denken verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt zur Tinte. Es ist von ihr ganz vollgesogen. Ginge es aber nach dem Löschblatt, so würde nichts was geschrieben ist, übrig bleiben." (GS V: 588; N 7a, 7)

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Daher auch ihr Scheincharakter. Er verleiht allen möglichen Deutungen, "Übersetzungen" des ästhetischen Bildes einen Index der Vorläufigkeit, der auf die Unabgeschlossenheit des Interpretationsprozesses verweist. Adorno hielt jedoch immer an der Vorstellung eines objektiven Geschichtsprozesses fest, wenn auch in dessen negativer Verkehrung als "universaler Verblendungszusammenhang". Das nötigte ihn dazu, Ästhetik zum alleinigen Rückzugsort von Hoffnung und Widerstand zu machen. Die daraus folgende Überführung von Geschichtsphilosophie in Ästhetik kontaminiert aber auch die Ästhetik mit geschichtsphilosophischen Prämissen. Die radikal pessimistische Einschätzung des Geschichtsverlaufs befrachtet so die Kunst mit Ansprüchen, denen sie kaum noch genügen kann, es sei denn durch die extreme Verweigerung im absoluten Verstummen. Benjamin vermied diese Zuspitzung, indem er im Verfahren der "Stillstellung" (GS I: 702) eine Brücke zwischen ästhetischer Erfahrung und Erkenntnis der Geschichte postulierte, die etwas anderes wäre als die "Determination kultureller Charaktere [...] vermittelt durch den Gesamtprozeß.',65 Das "im Jetzt der Erkennbarkeit aufblitzende Bild" (GS V: 591f.; N 9,7) entspricht sowohl auf der Produktions- als auch auf der Rezeptionsseite 66 der Struktur der "Konstellation" in der als "Monade" betrachteten vermittelnden Instanz, dem ästhetischen Gegenstand. Dieses "dialektische Bild" kann seine Funktion jedoch nur übernehmen, weil seine Elemente, die Fakten oder Einzelbedeutungen, den Charakter historischer Sedimente haben und immer schon implizit auf den Gesamtzusammenhang, in dem sie stehen, verweisen (ohne daß dieser dem Produzenten oder Rezipienten "gegeben" und völlig überschaubar wäre).67

65 Adorno in Benjamin (1978: 785); Brief Adornos an Benjamin vom 10. 11. 1938. Zur methodologischen Debatte zwischen A d o m o und Benjamin s. Agamben (1978:109-127); vgl. auch dessen Überlegungen zum Zeitbegriff (89-107). 66 "Der Prozeß der Konstitution einer Werkbedeutung, der vom Subjekt als Rezeptionsvorgang in der dialektischen Vermittlung der Bedeutungssysteme von Werk, Produzent und Rezipient vollzogen wird, wobei in diesem Prozeß der Konstitution einer Werkbedeutung das Bedeutungssystem des sie konstituierenden Subjektes seinerseits neu konstituiert wird, wird von Benjamin mit analogen Kategorien expliziert und interpretiert wie der Prozeß der Konstitution einer Werkbedeutung, der vom Subjekt im Produktionsvorgang als allegorisches Verfahren vollzogen wird." (Fischer-Lichte 1979: 203) 67 "Wenn man davon ausgeht, daß Bedeutung stets einerseits das Produkt bisheriger lebensgeschichtlicher und geschichtlicher Praxis ist und andererseits Instrument künftiger Praxis, Bedeutung also immer zugleich rückwärtsgewandt und zukunftsbezogen ist und dabei keine objektive Größe, sondern eine in der Dialektik von Objektivität und

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Statt Geschichtsphilosophie in Ästhetik aufzulösen, führt Benjamin mit dem "dialektischen Bild" ein ästhetisches Verfahren in die Geschichtsbetrachtung ein, das in der Konstellation der historischen Fakten "das Zeichen einer messianischen Stillstellung des Geschehens, anders gesagt, einer revolutionären Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit" (GS I: 703) erkennen läßt. Ohne dieses Vorgehen wird Geschichte notwendigerweise zur "Geschichte der Sieger". Denn: Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den andern gefallen ist. (GS I: 696)

Nur in der "Aufsprengung der historischen Kontinuität" (GS 1:1242) kann der historische Gegenstand "gerettet" werden, indem "die Vergangenheit mit der Gegenwart zu einer Konstellation zusammentritt." (ebd.) In ihr wird der Doppelcharakter der "Kulturgüter" festgehalten und auf dessen Auflösung verwiesen, ohne daß sie als bereits vollzogene vorgespiegelt würde.68 Giorgio Agamben (1978) hat darauf hingewiesen, daß der dieser Konzeption zugrundeliegende Zeitbegriff eine klare Absage an die Vorstellung einer linear auf ein Ziel, ein Ende zulaufenden historischen Zeit bedeutet. Adornos eingestandenermaßen an Hegel orientierte Forderung nach "Vermittlung" zwischen historischem Gegenstand und "Gesamtprozeß" erhält einen "Historismus" aufrecht, der wie jeder Vermittler seine "Prozente" fordert. Beim Geschäft des Historikers bestehen diese im Verzicht darauf, den einzelnen Augenblick der geschichtlichen Praxis zu ergreifen, zugunsten des Verweises auf das Ende des Gesamtprozesses.69 Dieser "Historismus", die gemeinsame Basis der hegelianischen und anti-

Subjektivität sich konstituierende veränderbare, leuchtet unmittelbar ein, wieso im Werk das Lebenswerk, die Epoche, der Geschichtsverlauf als erstarrte Bewegung, fixierte Geschichte enthalten sind: enthalten als in Zeichen fixierte Bedeutungssysteme." (Fischer-Lichte 1979: 196) 68 "Der Vorgang der Rezeption von Werken der Vergangenheit bewirkt nicht die Erlösung in dem Sinne, daß durch ihn Erlösung kausal motiviert oder gar herbeigeführt würde er ist vielmehr 'fragmentarische Erlösung', Erlösung jeweils eines Augenblicks der Geschichte, die aufgrund dieses ihres fragmentarischen Charakters selbst zur Allegorie der Erlösung wird: die Erlösung vereinzelter Geschichtsmomente weist hin auf die Erlösung der Geschichte durch den Messias, die sie nicht selbst ist, sondern nur bedeutet. Sie ist nicht die Erlösung, aber hält als Allegorie das Bewußtsein von ihr, das Wissen um ihr Eintreten wach." (Fischer-Lichte 1979: 202) 69 "Questa percentuale prende la forma di una rinuncia a afferrare concretamente ogni singolo evento e ogni istante presente della prassi in nome del rimando all'ultima istanza del processo globale." (Agamben 1978: 121)

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hegelianischen Geschichtsauffassungen des 19. Jahrhunderts, beruht auf der Tradition einer Zeiterfahrung, die Ewigkeit und lineare kontinuierliche Zeit einander gegenüberstellt. Letztere erhält ihren "Sinn", wobei hier die übertragene Bedeutung und die elementare der "Richtung" zusammenfallen, durch erstere, durch das selbst nicht zeitliche Ziel der Geschichte, ob christliche Erlösung oder Hegels Vollendung des absoluten Wissens. Dieser Tradition steht eine Konzeption der Zeit entgegen, für die der lusterfüllte Augenblick als Modell dienen kann. Der glückliche Zustand des Genusses, der nach Aristoteles in jedem Moment vollkommen ist, stellt eine sich selbst genügende Erfahrung dar - man denke an Kants "interesseloses", also nicht von einem Zweck abhängiges "Wohlgefallen". Diese Erfahrung ist jedoch, da sie auf dem Ergreifen des "Kairos" beruht, die geschichtliche schlechthin70 - die Erfahrung der geschichtsgesättigten "Jetztzeit" (GS I: 703).71

70 "L'esperienza occidentale del tempo è scissa in eternità e tempo lineare continuo. Il punto di divisione, attraverso il quale essi communicano, è l'istante come punto inesteso e inafferrabile. A questa concezione, che condanna al fallimento ogni tentativo di padroneggiare il tempo, si deve opporre quella secondo cui il luogo proprio del piacere, come dimensione originale dell'uomo, non è né il tempo puntuale continuo né l'eternità, ma la storia. [...] tempo della storia è il cairòs in cui l'iniziativa dell'uomo coglie l'opportunità favorevole e decide nell'attimo della propria libertà." (Agamben 1978: 106f.) 71 Zur Zeitgestaltung in der modernen Literatur, bei Proust, Joyce und Musil, als Quelle eines kairologischen Zeitbegriffs s. Bohrer (1981: 180-218), zu Entsprechungen im jüdischen Messianismus s. Scholem (1970: 121-167). Daß diese Konzeption von Zeit durchaus Parallelen auch in der Benjamin zeitgenössischen Naturwissenschaft und ihrer philosophischen Deutung hat, zeigt Wind (1934). Er kontrastiert eine "lineare" Zeitvorstellung, nach der sich die einem angenommenen Beobachter allein zugängliche Gegenwart als synchroner Schnitt durch die Zeitreihe ständig in die Zukunft verschiebt, mit dem Schema einer "konfigurativen" Zeit. Dieses beruht auf der Einsicht, daß jede Kenntnisnahme von der vorgeblichen "Gegenwart" ein Medium benötigt, durch das sie Signale von dieser empfangen kann. Auch im Falle des "schnellsten" Mediums, des Lichts, braucht diese Übertragung selbst Zeit und rückt ihr Objekt so immer schon in die Vergangenheit, während jeder Gegenstand von Handeln in der Zukunft liegt, da auch zwischen der Intention und dem tatsächlichen Akt Zeit vergeht. Der Standpunkt des Beobachters erweist sich so als stetig wechselnde Konfiguration von Vergangenheit und Zukunft, wahrend die Gegenwart jeweils dasjenige ist, von dem keine Wirkungen zum Beobachter gelangen und das keine Wirkungen von ihm empfängt, also das schlechthin Unzugängliche und Unbekannte. Wind erörtert dies im Zusammenhang des Problems der Vereinbarkeit von Kausalität und Freiheit (s. bes. 83-96). Von seiner Position aus ließe sich als Kritik am linearen Zeitbegriff feststellen, daß er die Vermitteltheit und damit Geschichtlichkeit des Gegebenen übergeht und es nicht als Vergangenes, sondern als unmittelbare Gegenwart auffaßt, die selbst wieder die Zukunft

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3.4.2. "Jedes Kunstwerk ist ein Augenblick" "Nur Kunstwerke, die als Verhaltensweise zu spüren sind, haben ihre raison d'être." (Adorno 1970:26) Als Modell einer "Verhaltensweise" kann man Zeichen schlechthin auffassen. Da die in Zeichen kodifizierten Bedeutungen immer zugleich als Ergebnisse vorangehenden Gebrauchs "regressiv" oder "resultativ" und als Regeln zukünftigen Gebrauchs "prospektiv" sind,72 ist jede Zeichenverwendung immer auch ein Verhalten, das sich sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Zukunft richtet - als Verarbeitung von Erfahrung und als Orientierung in bezug auf mögliches Handeln. Daraus folgt aber noch nicht, daß es auch als solches "zu spüren" ist, also im Bewußtsein seiner Funktion vollzogen wird. Ist das nicht der Fall, so erscheint das Zeichen als "zweite Natur"73. Jedes Zeichen ist "sedimentierte Geschichte", in der Adorno die "immanente Allgemeinheit des Einzelnen" (1966: 165) begründet sah. Auch die Kunst unterliegt diesem Zusammenhang, und zwar darin, daß "ästhetische Form sedimentierter Inhalt" (Adorno 1970: 15) ist. Adorno hat darauf aufbauend in der "Ästhetischen Theorie" eine Konzeption der Kunst entwickelt, die er selbst mit Benjamins "Dialektik im Stillstand" in Verbindung brachte (1970: 130f.) und sich so einer Revision seiner früheren Kritik zumindest annäherte.74 Um "als Verhaltensweise zu spüren" zu sein, kann Kunst sich nicht über irgendwelche bestimmten ästhetischen Formen definieren, sondern nur über ihr "Bewegungsgesetz" (1970:12). Auf der höchsten Stufe der Integration der einzelnen Elemente im Kunstwerk werden auch die kodifizierten Formen zum Material, das in einer (nur scheinbar paradoxerweise) gesetzmäßigen, aber einmaligen Art konfiguriert wird. Das macht den Sinn der Rede von der "Identität mit sich selbst" (1970: 14) oder auch der "Ähnlichkeit mit sich selbst" (159) der Kunstwerke aus. Als Verhaltensweise gegenüber der in den ästhetischen Formen abgelagerten Geschichte haben die Kunstwerke den Status des Momenthaften im vollen Sinne des Wortes: als "Augenblick", und zwar als isolierter, aber dennoch als dynamisch zu verstehender Teil einer Bewegung, der gerade durch sein Herausge-

bestimmt. So werden unerkannte Vergangenheit und Zukunft kurzgeschlossen, ohne daß Möglichkeiten des Eingreifens, der Entscheidung sichtbar werden. Zum Verhältnis Winds, auch seiner übrigen Arbeiten, zu Benjamin s. Buschendorf (1981). 72 S. Fischer-Lichte (1979: 115, 130 u. 153-155). 73 Adorno in Benjamin (1978: 678); Brief Adornos an Benjamin vom 2. 8. 1935. 74 Vgl. Henckmann (1984).

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nommensein die Bewegung erst erfahrbar macht. 75 Einer Kunst, die solchen Anforderungen genügt, ließe sich sicher als eine wichtige Eigenschaft "Komplexität" zuschreiben, verstanden als "Reichtum an Beziehungen, der in einem Gebilde herrscht und der sich nicht vollständig einholen läßt." (Baumeister/Kulenkampff 1973: 92)76 Der Komplexitätsgrad ist jedoch keineswegs das Entscheidende. Er ist vielmehr eine bloße Folge des Absinkens von Formkategorien auf die Materialebene in moderner Kunst, die zu einer ästhetischen Selbstreflexion und Infragestellung ganzer Gattungstraditionen, ja der Kunst selbst führte. Die Formen, die zunächst ihre Gültigkeit verloren haben, werden aber als solcherart reflektierte wieder neu verfügbar - als Zitate. Dieser Zitatcharakter ist jedoch schon von Benjamin in seinen Reflexionen zur Geschichte im Passagenwerk beschrieben worden. Das Geschehen, das den Historiker umgibt und an dem er teil nimmt, wird als ein mit sympathetischer Tinte geschriebener Text seiner Darstellung zu Grunde liegen. Die Geschichte, die er dem Leser vorlegt, bildet gleichsam die Zitate in diesem Text und nur diese Zitate sind es, die auf eine jedermann lesbare Weise vorliegen. Geschichte schreiben heißt also Geschichte zitieren. Im Begriff des Zitierens liegt aber, daß der jeweilige historische Gegenstand aus seinem Zusammenhange gerissen wird. (GS V: 595; N 11, 3)

Diese Ausweitung des Zitatbegriffs im Kontext der Geschichtsschreibung läßt ihn mit dem Zitat in der Kunst zusammenfallen. So wie der Historiker, auch wenn er glaubt, eine vergangene Zeit darzustellen, immer zunächst die Geschichte seiner Zeit schreibt, in der jede frühere notwendig zum Zitat wird, ebenso macht der Künstler durch jede neue Verwendung einer etablierten Form diese zum Zitat. Wird dieser Zitatcharakter nicht verdeckt, wie im Historismus durch eine scheinhafte Kontinuität oder in der symbolisch-auratischen Kunst durch ein vorgebliches Verschmelzen der Form mit einem außergeschichtlichen Inhalt, so erscheint dem Betrachter das Zitat als Bruchstück in einem fremden Umfeld. Nimmt er die Orientierungen, die es ihm bietet, auf, und trägt sie an den neuen Kontext heran, so bricht die Geschichte des Zitats gleichsam in die Gegenwart des Betrachters ein und zwingt ihn dazu, sie

75 "Wie ein Feuerwerk leuchtet das Kunstwerk rein aus seiner immanenten Gesetzmäßigkeit auf, abgelöst von den Verweisungszusammenhängen der Wirklichkeit, befreit von der schlechten Dauerhaftigkeit des Vor-sich-Hin-Bestehens." (Henckmann 1984: 92) 76 Womit man, wie Baumeister/Kulenkampff anmerken, "nahe an Kants Bestimmung des Kunstwerks als Darstellung 'ästhetischer Ideen', 'die viel zu denken geben'", wäre (1973: 92, Anm. 9; Zitat im Zitat: Kant 1793: 192f.).

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zu ergreifen, also die versprengten Elemente verschiedener historischer Schichten neu zu strukturieren.

3.4.3. Die "Allegorie" als Modell einer "Dialektik im Stillstand" Das allegorische Verfahren in Benjamins Sinne kann als Arbeit an der Geschichte verstanden werden, die fortschreitet, "bis die ganze Vergangenheit in einer historischen Apokatastasis in die Gegenwart eingebracht ist." (GS V: 573; N la, 3) Es konstituiert seinen Gegenstand als einen, der "nicht von einem Knäuel purer Tatsächlichkeiten, sondern von der gezählten Gruppe von Fäden gebildet wird, die den Einschuß einer Vergangenheit in die Textur der Gegenwart darstellen." (GS II: 479) Dieses Vorgehen schlägt sich in der Struktur der allegorischen Kunstwerke nieder; sie bilden quasi Spielanordnungen zur Anwendung des Verfahrens. Der Vorgang selbst vollzieht sich jedoch im Prozeß der Produktion oder Rezeption und ist nicht an eine bestimmte Form der Objektivation, mithin auch nicht an den Bereich der Kunst gebunden. Allegorisch gesehen werden kann alles, es gibt jedoch Techniken des Allegorisierens, die sich in den Kunstwerken in gesteigerter Form umsetzen lassen. Diese Techniken kann man aus einer formalen Perspektive als ästhetische Verfahren beschreiben. Mit Benjamin läßt sich nun auch ihre inhaltliche, nämlich ihre historische Dimension (in Benjamins Verständnis) als mit ihrer formalen Struktur unlösbar verbundene aufzeigen.77 Zeichen verwenden heißt, Elemente nach Regeln zu kombinieren. Das bedeutet, einer Gesamtheit von Regeln oder Schematisierungen zu folgen, die Ergebnis eines kontinuierlichen Entwicklungsprozesses ist. Die Grundform des Regelverstosses ist: Ein Element ist nicht an seinem Platz. Wird der Regelverstoß nicht übersehen oder als "Versehen" o. ä. interpretiert, so ergibt sich folgende Situation: Ein Element steht normalerweise in seinem Kontext in Relation zu anderen Elementen. Nun tritt es aber in einem anderen Kontext in Relation zu dessen Elementen. Dadurch wird die übliche, mehr oder weniger automatisierte Bedeutungsbildung unterbrochen und ein Reflexionsprozeß in Gang gesetzt, in dem nicht nur Beziehungen zwischen dem Element und seinem neuen Kontext durchgespielt werden, sondern, da es auf seinen alten Kontext verweist,

77 Vgl. zum Folgenden Fischer-Lichte (1986: 161-166).

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auch solche zwischen den beiden Kontexten und ihren einzelnen Elementen. Diese Vermehrung der, wenn auch zunächst rein hypothetischen Beziehbarkeiten läßt nicht nur die kodifizierten Zuordnungen (Produkte der kontinuierlichen Geschichte) als solche hervortreten, sondern eröffnet auch nicht verwirklichte, aber strukturell vorhandene Möglichkeiten (Produkte einer "Aufsprengung" des historischen Kontinuums). Nach diesem Modell kommt der automatisierte Zeichenprozeß zum Stillstand, um sich sogleich in einen Prozeß neuer Bedeutungsbildung zu transformieren, der innerhalb der entstandenen Konstellation sich vollzieht. Das dialektische Bild schafft so einen Raum, in dem Erfahrung möglich wird, Erfahrung im Sinne der vermittelnden Instanz zwischen natürlicher Erbschaft, Instinktgebundenheit, "Natursprache" und kultureller Erbschaft, Konventionalität, menschlicher Sprache.78 Es läßt sich also durchaus als Nachfolger der romantischen Bestimmungen der Kunst auffassen, ist jedoch befreit von der Tendenz, Ästhetik - mit Schellings Worten - zum "Schlußstein" eines Systemgebäudes zu machen. Im Gegenteil, es ist gerade Garant für die Offenheit des Vermittlungsprozesses. Wahrnehmung, die im Einordnen von Begegnendem mittels vorgeprägter Muster besteht, wird durch einen Schock unterbrochen. Er besteht, nur scheinbar paradox, in der Erfahrung von etwas, das nicht wahrgenommen werden kann. Als potentiell Gefährliches, Bedrohendes, das zudem die affektive Bindung an die Kontinuität und Harmonie der Wahrnehmungswelt durchbricht, verlangt es nach Distanznahme und Erfassung gleichermaßen. Es wird repräsentiert durch das Zeichen seiner Nichtrepräsentierbarkeit. Der Schock der Blendung durch grelles Licht erzeugt einen schwarzen Fleck. Diese Grenzform von Mimesis als Ergebnis einer Erfahrung enthält zwar, wie schwach und verzerrt auch immer, das Moment einer Analogie zum Erfahrenen. Viel wichtiger ist jedoch zweierlei. Das Bild steht für das Dargestellte in dem elementaren Sinne, daß es es ersetzt, sich vor es schiebt und aus dem Bewußtsein drängt. Und es ist, im Gegensatz zum Dargestellten, wahrnehmbar, transformierbar, der Bearbeitung und Kontrolle zugänglich.79 Es schafft also

78 Vgl. Agamben (1978: 3-62). 79 Blumenberg (1979) sieht hierin, einen weiteren Symbolbegriff als den Benjaminschen verwendend, die "Operabilität des Symbols": "Entscheidend ist, daß dieses elementare Organ des Verhältnisses zur Welt [eben das Symbol] Abkehr von Wahrnehmung und Vergegenwärtigung ermöglicht als freie Verfügung über das Ungegenwärtige. Die Operabilität des Symbols ist, was es von der Vorstellung wie von der Abbildung

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Distanz und Nähe zugleich, Distanz zum "Abgebildeten", Nähe zum im Bild Gegebenen. Erfahrung zielt selbstverständlich auf ihre Auflösung in einem Automatismus, einem "habit" (Peirce), also einem Verhaltensmuster, ebenso wie die Trauer, die auf eine spezifische Schockerfahrung antwortet, auf die Überwindung des betrauerten Objekts und seine Ersetzung. Doch um die Fähigkeit zur Erfahrung zu erhalten und zu üben und um Erfahrungsprozesse und ihre Ergebnisse revidierbar zu halten, entstehen ästhetische Gegenstände, die ihre Simulation ermöglichen. Nicht aus Nostalgie nach einer schöneren Vergangenheit, sondern als Experimentierfeld und Immunisierungslabor des Neuen. Zwei Funktionen der Kunst: 1) Die Menschheit mit bestimmten Bildern vertraut zu machen, ehe noch die Zwecke, in deren Verfolgung dergleichen Bilder entstehen, dem Bewußtsein gegeben sind. 2) Gesellschaftlichen Tendenzen, deren Realisierung an den Menschen selber zerstörend wäre, in der Bilderwelt zu ihrem Recht zu verhelfen. (GS I: 1047)

In Kunst als besonderer und eigenständiger Form von Praxis gewinnt die Selbstbezüglichkeit, die man etwa auch beim Depressiven als Versunkensein in die eigene hermetisch verschlossene und für die Orientierung nach außen funktionslos gewordene Bilderwelt feststellen kann, eine völlig neue Qualität. Sie garantiert die Abgeschlossenheit nach außen und damit die Möglichkeit, Erfahrungen durchzuspielen, die nur in dieser durch die Isolierung verschafften Folgenlosigkeit zumutbar sind. Deren kathartische Wirkung und die Steigerung der Erfahrungsfähigkeit als Funktionen der Kunst können sich also nur aufgrund ihres Abschlusses nach "innen" auf ein "Außen" richten. Der narzißtische Kurzschluß dieses komplizierten Regelkreises, also das Sicheinschließen in einen Spiegelraum, der ein "Außen" immer nur vorgaukelt, wie es schon Jean Paul in vielfältigen Wendungen kritisierte, bleibt jedoch als Gefahr bestehen: "Die Erfahrung ist der Ertrag der Arbeit. Das Erlebnis ist die Phantasmagorie des Müßiggängers." (GS I: 1179)

unterscheidet: die Fahne repräsentiert nicht nur den Staat, der sich ihre Farbenfolge gewählt hat, sondern sie kann im Gegensatz zu diesem erbeutet und geschändet, in der Stellung der Trauer oder des sportlichen Sieges gezeigt, zu Zwecken mißbraucht und zu anderen hochgehalten werden. [...] Aber das Symbol ist ohnmächtig, etwas über seinen Referenzgegenstand mitzuteilen. Dafür steht es für das Nicht-Abbildbare, ohne zu ihm zu verhelfen. Es hält die Distanz aufrecht, um zwischen Objekt und Subjekt eine Sphäre ungegenständlicher Korrelate des Denkens, die des symbolisch Darstellbaren, zu konstituieren. Es ist die Möglichkeit der Wirkung der blossen Idee, der Idee als des Inbegriffs von Möglichkeiten" (450f.).

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3.5. Jean Paul als Sammler Der Müßiggänger vertreibt sich die Zeit, etwa durch Sammeln. Indem er die Sammelgegenstände aus ihren Funktionen herauslöst, sie in die künstliche Ordnung der Sammlung einfügt und deren Vollständigkeit anstrebt, verschafft er sich das "Erlebnis" einer Totalität, die sich aus einer Fülle von Korrespondenzen zusammensetzt. 80 Benjamin, selbst passionierter Sammler, hat ihn dem um "Erfahrung" bemühten Allegoriker gegenübergestellt, jedoch zugleich ihr Verhältnis als ein höchst ambivalentes und dialektisches beschrieben. Der Allegoriker bildet gleichsam zum Sammler den Gegenpol. Er hat es aufgegeben, die Dinge durch die Nachforschung nach dem aufzuhellen, was etwa ihnen verwandt und zu ihnen gehörig wäre. Er löst sie aus ihrem Zusammenhange und überlaßt es von Anfang an seinem Tiefsinn, ihre Bedeutung aufzuhellen. Der Sammler dagegen vereint das Zueinandergehörige; es kann ihm derart gelingen, über die Dinge durch ihre Verwandtschaften oder durch ihre Abfolge in der Zeit zu belehren. Nichtsdestoweniger aber steckt - und das ist wichtiger als alles, was etwa Unterscheidendes zwischen ihnen bestehen mag - in jedem Sammler ein Allegoriker und in jedem Allegoriker ein Sammler. Was den Sammler angeht, so ist ja seine Sammlung niemals vollständig; und fehlte ihm nur ein Stück, so bleibt doch alles, was er versammelt hat, eben Stückwerk, wie es die Dinge für die Allegorie ja von vornherein sind. Auf der andern Seite wird gerade der Allegoriker, für den die Dinge ja nur Stichworte eines geheimen Wörterbuches darstellen, das ihre Bedeutungen dem Kundigen verraten wird, niemals genug an Dingen haben, von denen eines das andere um so weniger vertreten kann, als keinerlei Reflexion die Bedeutung vorhersehen läßt, die der Tiefsinn jedwedem von ihnen zu vindizieren vermag. (GS V: 279f.; H 4a, 1)

Für das Oszillieren zwischen ordnungsliebendem und -stiftendem Sammeln und allegorischem Aufbrechen von Ordnungen, Zerstreuen von Elementen und Grübeln über Trümmern ist Jean Pauls Schreibweise ein hervorragendes Beispiel. Seine enzyklopädische Belesenheit trägt nicht den Gestus des systematisierenden Gelehrten, sondern des manisch Exzerpierenden, der Bücher als Steinbrüche benutzt. Das entwendete und entfremdete Material wird zwar in eine lebenslange Bautätigkeit eingebracht, die es idealiter wohl vollkommen aufzehren und in einer neuen Totalität vereinen sollte. Deren Ergebnisse erweisen sich jedoch gleich nach Vollendung als Ruinen, als unbenutzbar, jedenfalls für Mieter, die sich in ihnen wohnlich einrichten wollen. Geeignet sind sie nur für abenteuerlustige Besucher, die die Beschaulichkeit einer Besichtigung mit den Reizen verborgener Falltüren und unvermuteter Abgründe verbinden

80 S. GS V: 271; H la, 2.

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möchten oder das Bauwerk gleich als seelische Kneippanstalt aufzufassen bereit sind. In Jean Pauls "Vorrede zum satirischen Appendix" des "Quintus Fixlein" (1795) heißt es über eine fiktive Klagschrift gegen den Autor: "Besagter Paul habe ferner oft Lesern ins Dampfbad der Rührung geführt und sogleich ins Kühlbad der frostigen Satire hinausgetrieben" (WW 1/4: 348). Der immunisierende Effekt solcher im Leser durch die Gestaltung des Werks ausgelösten Prozesse ist natürlich das beste Verteidigungsmittel gegen derartige Anschuldigungen. Er ist jedoch nicht billig zu haben. Die Beschönigung der Widersprüche befreit nicht von ihren Auswirkungen, und die selbstgenügsame Verzweiflung, die sich in ihrer depressiven Betrachtung gefällt, hält von weiterer Auseinandersetzung und Bearbeitung ab. Nur die allegorische Darstellung des Widerspruchs, die auf seine Überwindung verweist, ohne eine Einheit symbolisch vorzuspiegeln, leistet die distanzierende Stillstellung im dialektischen Bild, die neue Zugriffsmöglichkeiten schafft. Indem sie den linearen Zeitverlauf aufbricht, läßt sie die Notwendigkeit eines von Traditionen und Kontinuitäten abgesicherten Zustands als nur scheinbare erkennen und macht Geschichte als gegenwärtigen Handlungsraum verfügbar - allerdings nicht dem überlegenen Blick des Ingenieurs, sondern der Handgreiflichkeit des Bastlers. Jean Pauls "Unlust zu fabulieren" (Wölfel 1984), die zumindest zeitweise Suspendierung nicht nur des geradlinigen Handlungsverlaufs, sondern auch komplexerer zeitgenössischer Erzählkonventionen, die dennoch beständig angespielt werden, die damit verbundene Mischung der Stillagen, der Textsorten, die Kompilation und Konfrontation von Weltanschauungen, Persönlichkeitsmodellen, Theoremen unterschiedlichster Herkunft, die sich nie der argumentativen Ordnung eines "philosophischen Romans" unterordnen und schließlich die Anhäufung von Material aus den entlegensten Wissensgebieten, die nicht konzentrische Strukturen, sondern störende Interferenzen erzeugt, all dies trägt zur Verwirrung des Lesers bei. Faßt er diese im Sinne von Friedrich Schlegel als produktives "Chaos" auf und versucht, es zu einer "harmonischen Welt zu entfalten" (KA II: 313), so bieten sich ihm dafür durchaus Anhaltspunkte. Doch indem er diese verfolgt, gerät er in eben das Spiel der Destruktion erwarteter, vertrauter Zusammenhänge und der Konstruktion neuer, unvorhergesehener Beziehungen, dessen Modell die Konstellation der Elemente im Text bildet. Diesem "unendlichen Spiele der Welt, dem ewig sich selbst bildenden Kunstwerk" (KA II: 324) ist keine harmonische Vollendung beschieden, diesem Selbstorganisationsprozeß ist auch die ständige Selbstauflösung eingeschrieben. Soll seine Unendlichkeit nicht

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nur die unablässige Variation aufeinander verweisender und letztlich sinnhafter Strukturen sein, an die Schlegel wohl dachte, sondern einfach Geschichtlichkeit als offener Prozeß, so ist das auch gar nicht anders möglich. Wenn sich Benjamins Allegoriebegriff auf Jean Pauls Werk in erhellender Weise beziehen läßt, so ist doch auch an seine Forderung zu erinnern, den jeweiligen historischen "Standpunkt" nicht über dem allgemeinen Konzept zu vernachlässigen. Der Wert des letzteren besteht nicht nur darin, die Beziehung zwischen der Selbstbezüglichkeit ästhetischer Zeichenverwendung und ihrer produktiven Wirkung auf das in Zeichen kodifizierte Verhalten-zur-Welt zu klären. Es ist auch gerade dafür geeignet, geschichtliche Kontinuitäten und Veränderungen gegeneinander zu profilieren. Was Benjamin für das Barock und das neunzehnte Jahrhundert versuchte, war, das einheitliche Modell der Allegorie den Begrenzungen und Modifikationen seiner jeweiligen Realisierung gegenüberzustellen. So ist es auch für die Bestimmung der Jean Paulschen Allegorie nicht gleichgültig, welche Gegenstände sie zu ihrer Kontemplation versammelt, in welcher Art sie ihre Verlusterfahrung gestaltet und an welchen Stellen sie den Tröstungen von Phantasmagorien nachgibt. Daß Letzteres der Fall ist, in anderen Texten viel stärker als gerade in den "Flegeljahren", wird auch an den offenbarten Intentionen des Autors deutlich. Seine theoretische Ästhetik, so bedeutend sie sein mag, wirkt gegenüber seiner Schreibpraxis geradezu harmlos, wenn man einmal außer acht läßt, daß sie sich durch ihre Metaphorik zuweilen selbst unterläuft. Für den Begriff der "Allegorie" ergibt sich, obwohl er wesentlich präziser ist, dasselbe Problem wie für den des "Manierismus". Zunächst auf eine zeitlich umrissene Epoche (etwa 1520 bis 1650) und deren stilistische Charakteristica bezogen, wurde dieser zunehmend ausgeweitet und auf "Vorläufer" und "Nachfolger" übertragen. 81 Formalisiert man ihn jedoch so weit, daß er schließlich nur noch durch den Gegensatz zu einer ebenso vagen "Klassik" bestimmt ist, verliert er nahezu jede Funktion als Beschreibunginstrument. Er wurde daher auch nur vorübergehend für eine allgemeine Benennung bestimmter Eigentümlichkeiten des Jean Paulschen Stils verwendet. Damit war nicht beabsichtigt, diesen auf ein Vorbild zurückzuführen, obwohl in formalen Details viele Parallelen zu

81 Zur Geschichte und zur methodischen Problematik des Manierismusbegriffs s. Lachnit (1987).

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ziehen wären. Jean Pauls Exzerpiertechnik entspricht dem "leggere col rampino", dem "Lesen mit dem Haken" Giambattista Marinos,82 und selbst etwa ein so typischer Einfall aus dem "Quintus Fixlein", nämlich die Druckfehler in fremden Schriften für die eigene literarische Produktion auszuwerten, findet sich auch schon Mitte des siebzehnten Jahrhunderts bei Emanuele Tesauro.83 Genausowenig sollte eine Modernität Jean Pauls behauptet werden, indem man unter Vernachlässigung historischer Bedingungen zeitgenössische Theoreme auf ihn projiziert und sich dann kindlich freut, sie dort wirklich zu sehen. Doch wäre es auch unsinnig, den Blick des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts verleugnen zu wollen. Jean Paul konnte auf die Tradition des europäischen Manierismus zurückgreifen. Nicht daß er das tat ist das Entscheidende, sondern wie er es tat. Ebenso können wir mit Benjamin auf Jean Paul blicken, jedoch nicht ohne damit eine Entscheidung für den gegenwärtigen Standort zu treffen. Der Umgang mit Benjamins Werk mußte, wollte er ihm nicht nur in "historistischer" Weise gerecht werden, über es hinausführen. Innerhalb eines nicht-linearen Verständnisses von Geschichte kann eben nicht nur Benjamin Jean Paul deuten, sondern auch des Letzteren Doppelexistenz als Allegoriker und Sammler wiederum Licht auf den Ersteren werfen. Das Festhalten an einem emphatischen Begriff der "Rettung", dessen genauere Explikation dazu tendiert, das zu Rettende als etwas Unbestimmtes zu fassen, dessen "Verrat" sich immer schon vollzogen hat, legt die Vermutung nahe, daß das, was als Verrat angesehen wird, den Wunsch nach Rettung als Kompensation eines Schuldgefühls erzeugt, ohne daß ein Objekt von Verrat und Rettung vorhanden gewesen wäre. Dieses könnte im Gegenteil durch die Trauer über sein Verschwinden allererst entstanden sein und wäre so nach der Logik seines Entstehungsprozesses sein eigener Verrat. Sein Fortbestand wäre somit gesichert, solange dieser Zusammenhang nicht durchschaut wird. Benjamins Sammeltätigkeit sollte ihren Abschluß im "Passagenwerk" finden. Daß es nicht vollendet wurde, hat seine guten (schlechten) Gründe, gibt aber dennoch die Möglichkeit, es auch als allegorische

82 Dieses ist eine Übersteigerung eines gängigen humanistischen Verfahrens; vgl. Buck (1968: 102 u. 143-150). 83 "E se tu leggerai nell'ultima pagina de'libri, le scorrezioni degli Stampatori; tu imparerai da quegli errori Bisticci tanto belli; che (sicome per diporto alcuna volta habbiam fatto) vi potrai fondare argutezze pellegrine, da servirtene à luogo e tempo." (Tesauro 1670: 386)

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Trümmerlandschaft zu betrachten, als Ausdruck des unaufgelösten Widerspruchs in Benjamins Arbeiten. Die adäquate Form, darüber zu trauern, soll nach diesem Rückblick auf den Autor der mit einer Trennung abbrechenden "Flegeljahre" in der Beschäftigung mit einem weiteren Fragment gesucht werden.

4. Robert Musils "Der Mann ohne Eigenschaften" Zwischen unseren Kleidern und uns und auch zwischen unseren Bräuchen und uns besteht ein verwickeltes moralisches Kreditverhältnis, worin wir ihnen erst alles leihen, was sie bedeuten, und es uns dann mit Zinseszins wieder von ihnen ausborgen; darum nähern wir uns auch augenblicklich dem Bankerott, wenn wir ihnen den Kredit kündigen. (Musil GW II: 521) 1

4.1. Einleitung Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften", von dem der erste und zweite Band 1930 und 1933 erschienen und an dem der Autor bis zu seinem Tod 1942 weiterarbeitete, ist ein Bruchstück von so gigantischen Ausmaßen, daß die Vorstellung eines Ganzen, von dem es Teil sein könnte, Schwindel erregt. Nicht nur dies und die zeitliche Parallelität legen den Vergleich mit dem "Passagenwerk" nahe. Gemeinsam ist beiden Texten auch der Versuch, die Bestandsaufnahme einer vergangenen Epoche zu liefern, aus der die Beurteilung der gegenwärtigen gleichsam herausspringen sollte. Wie für Benjamin im kulturellen "Schutt" des neunzehnten Jahrhunderts die verborgenen Wurzeln des zwanzigsten freizulegen waren, so schien Musil in der Vorkriegszeit der Schlüssel zur Nachkriegszeit zu liegen. Daß diese sich vor der Lösung der selbstgesetzten Aufgabe als eine neue Vorkriegszeit herausstellte, gibt den Projekten im nachhinein recht. Die Darstellung des Weges Benjamins am Leitfaden des Allegoriebegriffs sollte gezeigt haben, wie theologische und platonisierende Vorstellungen nach den frühen sprachphilosophischen Entwürfen schon im Trauerspielbuch durch die Hereinnahme des historischen Moments

1

Im Folgenden wird Musil mit Sigle "GW" nach den "Gesammelten Werken" (1978) zitiert, der "Mann ohne Eigenschaften" meist nur mit Seitenangabe nach Bd. I dieser Ausgabe.

Einleitung

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dynamisiert werden und zu einem Konzept des Ästhetischen führen, das die Sättigung des Kunstwerks mit Geschichte ebenso wie sein Heraustreten aus der Geschichte betont. Dabei erwies sich "Trauer" als Modell für einen Umgang mit Vergangenheit, der von einem Bruch mit dieser ausgeht und zugleich eine Auseinandersetzung mit ihr bewirkt. Subjektiv zunächst ein Versuch des Bewahrens und der Wiederherstellung von unvermittelter Kontinuität, führt sie objektiv über die Transformation des Bildes des Verlorenen zur Anerkennung des Verlusts. Der Prozeßcharakter des allegorischen Werks bedeutet also gerade kein Sicheinklinken in den Geschichtsverlauf, sondern ein Insistieren auf seinen Verwerfungen. Der Chance zur Kritik, die dieses Verfahren bietet, steht jedoch die Gefahr des melancholischen Versinkens in der Betrachtung dieser Trümmerlandschaft gegenüber. 2 Benjamin hat die Vorstellung einer Sprache des Paradieses als ursprüngliches Objekt der Trauer aller Literatur nie explizit widerrufen, aber einer Theorie vorgearbeitet, die Mimesis als ständige Überformung von Bildern versteht, die von einem diesen eingeschriebenen Mangel in Gang gehalten wird. Ein anfänglicher Gegenstand der Abbildung wäre danach unnötig, ja unplausibel, Mimesis immer schon mehr "Vorahmung"

2

Eine wenig beachtete und deshalb hier erwähnte literarische Darstellung dieser G e f a h r findet sich in Friedrich Schlegels Trauerspiel "Alarcos" von 1802. Seine H a n d l u n g erhält den Anstoß von der Infantin Solisa, die den Verlust des G r a f e n Alarcos an eine Rivalin nicht überwinden kann und der noch jede Ablenkung zum Stachel in dieser W u n d e wird: "So recht! - Laßt die T r o m p e t e n mutig schmettern, / So darf d e r innre U n m u t sich nicht zeigen. - / O weh! Wie nun der lauten H ö r n e r Schallen / Mich tief verwundet. Laßt sie endlich schweigen!" (KA V: 223) Diese ersten Zeilen des Stücks geben die A t m o s p h ä r e von T r a u e r und Todesverfallenheit vor, die durchgängig bestimmend ist. "Kannst du des Herzens Wünsche nicht bezwingen, / Mußt du d e r Einbildung ihr Spiel vergönnen, / die Zeichen wieder vor die Augen bringen. / Den Bildern d e r E r i n n e r u n g mag's gelingen, / D a ß sie dir neue H o f f n u n g noch gewönnen." (225) D i e s e r Rat an die Infantin erweist sich als verhängnisvoll: "Du weißt wie die Infantin immer tiefer / Sich selbst verstrickt in selbstgeschaffnes Leiden, / In wilde Liebe hoffnungslos verloren, / A m eignen Schmerze nur sich schien zu weiden. / Die liebe Jagd gab ihr nun keine Freude; / Sie blieb allein mit sich und ihrer Laute, / In Liedern lebend, Bildern, Zeichen, Briefen, / Den Angedenken [...]." (257) Alarcos letzte W o r t e bei seinem Selbstmord charakterisieren den Text insgesamt: "Verzweiflung stößt den grimm'gen A r m ins eigne Herz, / Sich selbst zerschlagend in verworrner Todeslust." (261) Die unfreiwillige Komik des hochartifiziellen und völlig mißlungenen Stücks w u r d e schon von den Zeitgenossen mit Jean Paul in V e r b i n d u n g gebracht, o h n e daß sie sie goutiert hätten (KA V: LXXVIII). So meinte Brentano: "Der Alarcos ist wirklich das schlechteste, was ich kenne, und eigentlich gründlich komisch, mit solcher Künstlichkeit schlecht zu sein." (ebd.: Fn. 25).

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Musils "Der Mann ohne Eigenschaften"

eines Erhofften als Nachahmung eines Verlorenen. Dieser Auffassung steht auch Musil nahe.3 1931 schreibt er im Anschluß an Überlegungen zum Denken archaischer und primitiver Kulturen: Ein auf 'Herstellung' gerichteter Vorgang, ein 'Vorbildzauber', und keine Wiederholung des Lebens oder von Ansichten darüber, die man ohne sie besser ausdrückt, ist die Dichtung noch heute. (GW II: 1224f.)

Zur Darstellung des überlebten Kakanien in seiner ganzen Haltlosigkeit und inneren Unbeständigkeit im ersten Band des "Mann ohne Eigenschaften" fügt sich die Figur des "Möglichkeitsmenschen" Ulrich, der daraus durchaus positive Konsequenzen zieht: Jede Ordnung ist irgendwie absurd und wachsfigurenhaft, wenn man sie zu ernst nimmt, jedes Ding ist ein erstarrter Einzelfall seiner Möglichkeiten. Aber das sind nicht Zweifel, sondern es ist eine bewegte, elastische Unbestimmtheit, die sich zu allem fähig fühlt. (1509)

Ulrichs "Möglichkeitssinn" führt jedoch nicht zum Eingreifen in gesellschaftliche Entwicklungen, sondern im zweiten Band zum Rückzug in die Privatheit der Beziehung zu Agathe und die Suche nach dem "anderen Zustand". Jochen Schmidt (1975) hat gezeigt, daß Musil aus dem von Meister Eckehart geprägten Begriff "âne eigenschaft" seine Konzeption der Eigenschaftslosigkeit entwickelte, der das mystische "Entwerden", die Befreiung von individuellen Bestimmungen säkularisiert und zur Voraussetzung des Zugangs zu einer "anderen Wirklichkeit" macht. Die Übereinstimmung mit dem frühromantischen Projekt der "Neuen Mythologie" hat Frank (1983a u. 1988: 315-332) zutreffenderweise in der Auffassung gesehen, "daß unser wirkliches Ich eine Wurzel im Irrealen, im Unwirklichen oder gar im Imaginären hat." (1988: 326). Bei dem Versuch, die Aktualität dieser These zu erweisen, übersieht er jedoch die beiden gemeinsame Tendenz, sich fiktive Selbstbegründungen zu unterschieben: Der Augenblick des 'anderen Zustandes', der sowohl eine Auflösung der Begrenzung des Ichs zur Welt, als auch das Finden eines wahren Ichs bedeuten soll, erscheint als Utopie, einen Ursprung zu finden: antizipierende Nachträglichkeit. (Weissberg 1980: 482)

Weissberg unterstellt hier dem Roman die selbe Paradoxie, die schon bei Benjamin zu finden war. Das Scheitern des Versuchs, den "anderen Zustand" dauerhaft zu machen, muß zur Trauer um den Verlust dessen führen, was durch diesen Versuch eben in "antizipierender Nachträglich-

3

Allgemeine, nicht sehr weit reichende Andeutungen zur Verwandtschaft der Mimesiskonzeptionen bei Musil und Benjamin macht Pott (1984: 157f.).

Einleitung

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keit" erst hergestellt werden sollte und in sich paradox genug ist: die Verankerung im bodenlosen Meer der augenblickshaften Indifferenz, des Zerfließens aller Formen ineinander.'' Nun gehen in das selbstbezügliche Oszillieren, das den "anderen Zustand" mit Benjamins "Dialektik im Stillstand" verbindet, sicher auch narzißtische Züge ein. Kann durch deren Fiktionalisierung gerade und in Fortführung der Frühromantik "ästhetische Autonomie" gewährleistet werden, wie Hörisch (1975) behauptet, so ist doch mit Bohrer nachzufragen, inwiefern der 'andere Zustand' eine glückliche E m p h a s e des Bewußtseins darstellt, d. h., reflexiv bleibt und Opposition zum 'umgebenden Sein' bildet ( M a n n h e i m ) o d e r ob im Inzest der Geschwister ein solcher Verlust des reflexiven M o m e n t s stattfindet, d e r die Zeit gänzlich eliminiert, und eine Mythologie des paradigmatischen R a u m e s - das wäre hier die heroische Idylle - erscheint, in der es zur realen Gesellschaft keinen Bezug m e h r gibt. Wir fragen abschließend danach, inwieweit die Fiktionalität des 'anderen Zustands' - theoretisch erörtert o d e r anschaulich dargestellt - eine Utopie des Ästhetischen verbürgt, welche die besondere Sensation d e r sexuellen G r e n z ü b e r schreitung nicht m e h r braucht. (1981: 205)

Die Beantwortung dieser Fragen führt zunächst zur Untersuchung der Gestaltung des "anderen Zustands" im Roman, insbesondere der Verwendung von Metaphern und von Elementen mythischer und mystischer Traditionen, und der Selbstthematisierung des Textes, auf die Eisele (1982) und Dowden (1986) hingewiesen haben.5 Sie wird auf das Problem zurücklenken, das in bezug auf Jean Paul mit der Alternative "Sammler oder Allegoriker" umschrieben wurde: Wie kann allegorische Kunst im Sinne Benjamins Trauervorgänge als Transformationsarbeit am kollektiven Imaginären in Gang bringen oder unterstützen, ohne in die Isolation des Depressiven im Sinne Kristevas zu geraten, der sich in den Paradoxien seiner ewig vergeblichen, weil gar nicht auf Beendigung zielenden Trauer verfängt. Denn wenn die Allegorie das Anhalten des Geschichtsprozesses zu einem "Stilleben" ist, dann muß daran erinnert werden, "daß

4

Man kann diese Paradoxie kaum entscheidender verkennen, als indem man Ulrichs W e g wie Kayser mit ausdrücklichem Bezug auf Hegel als gelingendes Zusichselbstfinden eines Bewußtseins über seine E n t ä u ß e r u n g deutet (1989: 117 u. 132f.). D e m ist mit Pekar (1989) die Notwendigkeit der störenden Rolle eines parasitären "Dritten" (nach Michel Serres) entgegenzuhalten, der sich auf jede Beziehung a u f p r o p f t und die Vorstellung einer Entäußerung an einen A n d e r e n , die zu einer ursprünglichen Identität zurückführt, ad absurdum führt.

5

Wobei Dowdens These widerlegt werden soll, Selbstreferentialität werde bei Musil fast ausschließlich auf einer konzeptuellen, kaum auf der poetischen E b e n e zum Gegenstand: "Musil seldom passes from theorizing about poetic language to the füll use of it." (1986: 181)

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Musils "Der Mann ohne Eigenschaften"

alle wahren Stilleben diese glückliche unersättliche Traurigkeit erregen können." (GW I: 1230)

4.2. "Morgen in einem Trauerhaus" Auch ein Mann ohne Eigenschaften muß sich einrichten. Im fünften Kapitel des "Mann ohne Eigenschaften", das nur seinen Vornamen zur Überschrift hat, heißt es über Ulrichs Haus: Er hatte sich in die angenehme Lage versetzt, sein verwahrlostes kleines Besitztum nach Belieben vom Ei an neu herrichten zu müssen. 6 Von der stilreinen Rekonstruktion bis zur vollkommenen Rücksichtslosigkeit standen ihm dafür alle Grundsätze zur Verfügung, und ebenso boten sich seinem Geist alle Stile, von den Assyrern bis zum Kubismus an. Was sollte er wählen? (19f.)

Weder die einander überbietenden Ratschläge der Experten noch die Bemühung der eigenen Phantasie führen ihn aus dieser "bekanntefn] Zusammenhanglosigkeit der Einfälle und ihre[r] Ausbreitung ohne Mittelpunkt" (20) heraus, vielmehr immer weiter in scheinbare Absurditäten hinein.7 Schließlich dachte er sich überhaupt nur noch unausführbare Zimmer aus, Drehzimmer, kaleidoskopische Einrichtungen, Umstellvorrichtungen für die Seele, und seine Einfälle wurden immer inhaltsloser. (20)

In einer frühen Skizze (vermutlich von 1923/24) finden sich jedoch zwei gewissermaßen komplementäre Alternativen zu dieser aporetischen Situation: "[Jemand der die Möbel seiner alten Tante erbt oder kein Geld hat und nehmen muß, was ihm ein Abzahlungsgeschäft vorsetzt, hat es viel leichter.]" (1967) Im zweiten Fall eines Mangels an Mitteln ergibt sich das Problem auf selbstverständliche Art und Weise. Im ersteren liegen die Dinge komplizierter. Man könnte ja denken, daß die Erbmasse der Tante den an sich schon bestehenden Möglichkeiten nur noch eine weitere hinzufügt und so die Entscheidung erschwert. Diese zusätzliche Mög-

6

7

Hier lohnt es sich, die Etymologie von "Ulrich" anzumerken, auf die Corino hinweist: "Ulrich bedeutet etymologisch nichts anderes als 'Herr im eigenen Hause'." (1973: 209) Der Name kommt von ahd. "uodal-" = "(ererbter) Hofbesitz" u. "-rieh" = "mächtig". Diese moderne Beliebigkeitserfahrung, deren Zusammenhag mit der Sprachskepsis, dem Zweifel an der Verbindlichkeit der Beziehungen zwischen Sprache und Welt, seit Hofmannsthals "Chandos-Brief" ausgiebig erörtert wurde, ist ein offensichtlicher Verbindungspunkt zwischen Musil und sowohl Benjamins Allegoriekonzept als auch der neueren Postmoderne-Diskussion. Zum Letzteren s. Böhme (1986). Zum Verhältnis Musil - Benjamin finden sich dort nur allgemeine Hinweise (22f. u. 30).

"Morgen in einem Trauerhaus"

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lichkeit ist jedoch eine durch Pietät privilegierte und schränkt die übrigen ihrerseits ein. Eine solche Restriktion liegt auch schon in der äußeren Gestalt von Ulrichs Haus. "Zu Ulrichs Glück besaß das Schloßhäuschen, so wie er es vorfand, bereits drei Stile übereinander, so daß man wirklich nicht alles damit vornehmen konnte" (20).8 Stilistische und persönliche Pietät greifen ineinander. Das Alte ist durch den persönlichen Zusammenhang wertvoll, und das Neue muß zum Alten "passen" - was immer auch heißt, daß das Alte ins Neue eingepaßt wird. Eine günstige Gelegenheit, solche Kontinuitäten zu bedenken, ist jeweils dann gegeben, wenn sie abreißen - eben in einem Trauerfall. Etwa 700 Seiten oder ein halbes Jahr nach diesem Versuch Ulrichs, sich einzurichten, also in der Mitte des einjährigen "Urlaubs von seinem Leben", führt ihn der Tod seines Vaters in sein Elternhaus. Am Morgen nach seiner Ankunft "fuhr Ulrich früh und so glatt aus dem Schlaf, wie ein Fisch aus dem Wasser schnellt" (686). Trotzdem überfällt ihn bald eine eigentümliche Willensmüdigkeit. An den Wänden hingen Bildnisse seiner Voreltern, und ein Teil der Möbel stammte noch aus ihrer Zeit; der hier gewohnt hatte, hatte aus den Schalen ihres Lebens das Ei des seinen geformt: nun war er tot, und sein Hausrat stand noch so scharf da, als wäre er aus dem Raum herausgefeilt worden, aber schon war die Ordnung bereit abzubröckeln, sich dem Nachfolger zu fügen, und man fühlte, wie die größere Lebensdauer der Dinge kaum sichtbar hinter ihrer starren Trauermiene neu zu quellen begann. (687)

Gerade das Innehalten, das der Tod auch bei den Lebenden bewirkt, macht ein "Leben" sichtbar, das den Verlauf des individuellen weit übergreift und in seiner Unentrinnbarkeit ein Versinken auch des Ausgeschlafensten in grüblerisches Nachdenken so natürlich erscheinen läßt, wie ein herausgeschnellter Fisch ja auch immer ins Wasser zurückfällt. In dieser Stimmung schlug Ulrich seine Arbeit auf, die er vor Wochen und Monaten unterbrochen hatte, und sein Blick fiel gleich zu Beginn auf die Stelle mit den physikalischen Gleichungen des Wassers, über die er nicht hinausgekommen war. [...] Doch gibt es ein Erinnern, das nicht das Wort, sondern die Luft, worin es gesprochen worden, zurückruft, und so dachte Ulrich auf einmal: 'Kohlenstoff...' und bekam gleichsam aus dem Nichts heraus den Eindruck, es würde ihn weiterbringen, wenn er augenblicklich bloß wüßte, in wieviel Zuständen Kohlenstoff vorkomme; aber es fiel ihm nicht ein, und er dachte statt dessen: 'Der Mensch kommt in zweien vor. Als Mann und als Frau.' (687)

8

Auf die Modellfunktion für den Gesamtroman hat Schramm hingewiesen: "Musil richtet, so wollen wir zeigen, seinen Roman ein wie Ulrich sein Haus." (1967: 21)

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Musils "Der Mann ohne Eigenschaften"

Der Endpunkt dieser rätselhaften Assoziationskette ist dem Leser nun wieder vertraut. Er verweist auf Ulrichs Begegnung mit seiner Schwester Agathe am Tag zuvor, die in Vorausdeutung auf Kommendes schon in der berühmten Pierrot-Szene als sein "Zwilling" präsentiert worden war. Am Ende des den zitierten Reflexionen vorangehenden Kapitels heißt es über sie: Sie hatte weder etwas Emanzipiertes, noch etwas Bohemehaftes an sich, obgleich sie da in weiten Hosen saß, in denen sie den unbekannten Bruder empfangen hatte. Eher etwas Hermaphroditisches, so kam ihm jetzt vor; das leichte männliche Kleid ließ in der Bewegung des Gesprächs mit der Halbdurchsichtigkeit eines Wasserspiegels die zärtliche Formung ahnen, die sich darunter befand, und zu den frei unabhängigen Beinen trug sie das schöne Haar frauenhaft aufgesteckt. (686)

Die Halbdurchsichtigkeit bedeutet, wörtlich genommen, daß die Hälfte des Bildes eine Spiegelung ist.9 Ulrich reflektiert sich in Agathe, doch da die Spiegelfläche zwischen ihnen ebenso, wie Jean Paul die Dichtung charakterisierte, "ein Strom ist, der wohl den Boden zeigt, worauf er fließt, aber ihn durchsichtig macht und unter ihm in einer größeren Tiefe, als er selber hat, den unergründlichen Himmel ausbreitet und spiegelnd ihn mit dem obern verwölbt" (WW 1/6: 669), so sieht sich Ulrich durch Agathe ebenso ergänzt wie seine eigene Gespaltenheit in ihr gespiegelt, ohne daß sich beides deutlich trennen ließe. Der Gedanke an die Zweiteilung des Menschen, in dem er "scheinbar reglos vor Staunen" verharrt, läßt denn auch die Erinnerung an Erlebnisse seiner eigenen auftauchen. Es verbarg sich unter diesem Stillstand seines Denkens eine andere Erscheinung. Denn man kann hart sein, selbstsüchtig, bestrebt, gleichsam hinaus geprägt, und kann sich plötzlich als der gleiche Ulrich Soundso auch umgekehrt fühlen, eingesenkt, als ein selbstlos glückliches Wesen in einem unbeschreiblich empfindlichen und irgendwie auch selbstlosen Zustand aller umgebenden Dinge. (687)

Diese "Erscheinung" entbirgt sich genauso augenblickshaft, wie sich der Umschlag von einem der beiden Zustände in den andern vollzieht. Letztere bringt Ulrich mit "einem männlichen und einem weiblichen 'Prinzip'" in Verbindung, wovon "die ältesten, für uns schon fast unverständlich dunklen Überlieferungen der Philosophie sprechen" (688). Der Hinweis auf die mythologische Vorzeit wird ergänzt durch eine persönliche Kindheitserinnerung, "eine jener Erinnerungen, deren Glanz von der Ohnmacht des Kindes kommt, sich seine Wünsche zu erfüllen" (689). Da

9

Zum Zusammenhang von Spiegel, Wasser und Ichkonstitution vgl. Fuld (1976: 671f.), Weissberg (1980: 479484) u. Eisele (1982: 190-194).

"Morgen in einem Trauerhaus"

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dem kleinen Ulrich die Reitpferde des Vaters unerreichbar waren, schnitt er sich Tiere aus Pappe aus, denen er nun mit kleinen Holzständern Steife und Halt gab. Was sich sodann begab, läßt sich aber nur mit einem Trinken vergleichen, das den Durst nicht zu Ende löscht, auch wenn man es noch so lange fortsetzt; denn es hatte weder einen Halt, noch ergab es in wochenlanger Ausb-eitung einen Fortschritt, und war ein dauerndes Hinübergezogenwerden in diese bewunderten Geschöpfe, die zu besitzen er mit dem unsäglichen Glück des einsamen Kindes jetzt ebenso stark vermeinte, wenn er sie ansah, wie er fühlte, daß daran etwas Letztes fehle, das durch nichts zu erfüllen war, wovon dann gerade das Verlangen das maßlos durch den Körper Strahlende erhielt. (689)

Das Supplementäre der "kleinen Holzständer" weist schon auf den die Papptiere prägenden Mangel hin, doch all dies steigert nur das Begehren nach der Angleichung an sie.10 Als ob das nicht schon deutlich genug wäre," folgt ein zweites Kindheitserlebnis: Es war das des kleinen Mädchens, das nur zwei Eigenschaften hatte: die, ihm gehören zu müssen, und die der Kämpfe, die er deshalb mit anderen Buben bestand. Und von diesen beiden waren nur die Kämpfe wirklich, denn das kleine Mädchen gab es nicht.

Die Abwesenheit des Objekts hält das Verlangen und seine motivierende Funktion aufrecht, die in Auseinandersetzungen treibt, und macht es unersetzbar durch irgendein anderes. [...] wie immer es ausging, fühlte er sich um die Befriedigung betrogen. Und auf den naheliegenden Gedanken, daß die kleinen Mädchen, die er wirklich kannte, die gleichen Geschöpfe seien wie jenes, für das er stritt, ging sein Gefühl einfach nicht ein.

Bis zu der Ausnahme, die hiervon Agathe machte, so daß er sich plötzlich bei ihrem Anblick [...] ganz in der gleichen unsagbaren Weise wie nach den Tieren [...] danach sehnte, ein Mädchen zu sein. [... Was] etwa dem Zustand entsprach, er taste im Dunkeln nach einer Tür, stoße auf einen blutwarmen oder warmsüßen Widerstand und presse sich immer wieder an ihn, der seinem Verlangen hindurchzudringen zärtlich entgegenkommt, ohne ihm Platz zu machen. Vielleicht glich es auch einer harmlosen Art vampyrischer Leidenschaft, die das ersehnte Wesen in sich einsog, doch wollte dieser kleine Mann jene kleine Frau nicht an sich ziehen, sondern sich ganz an ihre Stelle, und das geschah mit jener blendenden Zärtlichkeit, die nur den Früherlebnissen des Geschlechts zu eigen ist. (690)

Die Identifikation mit dem anderen Geschlecht in dieser Verschmelzungsphantasie weist - neben dem Adjektiv "blendend" - darauf hin, daß es letztlich um ein Jenseits des Sexuellen geht. Der unerreichbare

10 Vgl. Pott (1984: 118f.), der unverständlicherweise die offensichtliche Zugehörigkeit der Pferde zur Sphäre des Vaters in eine zu der der Mutter umdeutet. 11 Ob aufgrund der psychoanalytischen Lesbarkeit der Texte Musils schon Corinos These zuzustimmen ist: "Demnach fordert Musil geradezu eine psychoanalytische Deutung seiner Texte" (1973: 127), dazu weiter unten mehr.

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Musils "Der Mann ohne Eigenschaften"

Zielpunkt des Begehrens wird auch hier mit einer Metaphorik des Trinkens und des Flüssigen umschrieben, die durch das Folgende weiter erhellt wird. Ein Journalist hat aus den Auskünften über das Leben des Vaters einen Nekrolog verfertigt, wobei Ulrich "ein Gefühl [bekam], als wohne er der Erschaffung der Welt bei." (692) Bei dieser spielte ja die Scheidung des Flüssigen durch das Feste eine gewichtige Rolle. Ulrich überlegte; er hätte gerne über seinen Vater noch etwas Gutes gesagt, aber das Sichere hatte der Chronist, der jetzt sein Schreibzeug einpackte, schon erfragt, und der Rest war, als ob man den Inhalt eines Glases Wasser ohne das Glas in die Hand nehmen wollte.

Man muß nur den Fluß der Erzählung des Chronisten und der alltäglichen Verrichtungen anhalten, um ihn erstarren und das scheinbar Feste darin sich verflüssigen zu lassen. [...] steif wie ein Holzstückchen schwamm der Tote zwischen den Fluten der Geschäftigkeit, aber für Augenblicke konnte sich das Bild verkehren, dann erschien das Lebendige starr, und er schien in einer unheimlich ruhigen Bewegung zu gleiten. (693)

In dieser Kippfigur, die den toten Vater und die mit Hölzchen aufgerichteten Papptiere, das das Leben vorantreibende Begehren und die jenseits jedes möglichen Objekts liegende Auflösungsphantasie, das Flüssige und das Feste zueinander in Beziehung setzt, enthüllt sich Ulrich das Geheimnis der Individuation. Vielleicht war alles, was er für seine persönliche Besonderheit hielt, nichts als ein von diesem Gesicht abhängiger Widerspruch, irgendwann kindisch erworben? Er suchte nach einem Spiegel, aber es war keiner da, und nichts als dieses blinde Gesicht warf Licht zurück. Er forschte darin nach Ähnlichkeiten. Vielleicht waren sie da. Vielleicht war alles darin, die Rasse, die Gebundenheit, das Nichtpersönliche, der Strom des Erbgangs, in dem man nur eine Kräuselung ist, die Einschränkung, Entmutigung, das ewige Wiederholen und im Kreis Gehen des Geistes, das er im tiefsten Lebenswillen haßte! (693f.)

Nach dem transparenten Spiegel, der das Ich im Anderen zeigte und beide sowohl trennte als auch verband, nun also ein blinder, der das Ich auf das Andere reduziert und ihm keine Möglichkeit zu illusionärer Selbstkonstitution mehr läßt. Es erscheint nur noch als Produkt eines Geschehens, das es gleichsam zufällig hervorbringt, ohne ihm die Weihen eines allgemeinen sinnvollen Zusammenhangs zu geben. Als Reflex auf das Vorangehende ist es ein Moment im übergreifenden Leben, das sich gerade im Augenblick der Trauer in abgründiger Weise manifestiert. Dadurch verliert aber sein eigenes Leben jeden Wert.12 Getrieben von

12 Vgl. 2002 u. Pietsch (1988: 105).

Kippfiguren

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der Sehnsucht nach den Bildern dessen, was vom Vater (stellvertretend für alle Anderen) vorenthalten wird oder was schlechthin abwesend ist, kann sich das Subjekt nur in scheinhaften und hinfälligen Selbstrepräsentationen eine befriedigende Erfahrung von Totalität verschaffen. Dafür stehen prototypisch die mit Stützen versehenen Pappferde und im weiteren die sozialen Rollen, die die Nebenfiguren in der ersten Hälfte des Romans als mehr oder weniger deutliche Gegenbilder zu Ulrich vorstellen. Diese Erkenntnis läßt scheinbar nur zwei Alternativen offen. Man kann in der Täuschung befangen bleiben oder das Aufgehen nicht in einem einzelnen Objekt, sondern in dem wenngleich diffusen Ganzen bejahen. Das Kapitel endet mit einem Zusammentreffen von Ulrich und Agathe, das die die zweite Hälfte des "Mann ohne Eigenschaften" fast zur Gänze ausmachenden Gespräche zwischen beiden einleitet. Sie sind Versuche, sich zwischen den Extremen von "Kalk des Lebens" und "Meer" (696), zwischen der Verfestigung, zu der die Vorspiegelung gelungener Individualität führt, und der Selbstaufgabe im Bild des 'Tropfens im Ozean' einzurichten. Ihr Kern ist der "andere Zustand", dessen Erörterung auf das Geschwisterverhältnis und das eigentümliche Wassermotiv zurückführen wird. Zuvor sollen jedoch zwei für ihn konstitutive Momente, die sogenannte "räumliche Inversion" und der ihm zugrundeliegende Zeitbegriff, untersucht werden.

4.3. Kippfiguren Durch das Nachdenken über die beiden gegensätzlichen Zustände sieht sich Ulrich an die Arbeit eines Psychologen erinnert, mit dem ihn persönliche Beziehungen verbanden: sie handelte davon, daß es zwei große, einander entgegengesetzte Vorstellungsgruppen gebe, von denen sich die eine auf dem Umfangenwerden vom Inhalt der Erlebnisse, die andere auf dem Umfangen aufbaue, und legte die Überzeugung nahe, daß sich ein solches 'In etwas Darinsein' und 'Etwas von außen Ansehn', ein 'Konkav-' und 'Konvexempfinden', ein 'Raumhaft-' wie ein 'Gegenständlichsein', eine 'Einsicht' und eine 'Anschauung' noch in so vielen anderen Erlebnisgegensätzen und ihren Sprachbildern wiederhole, daß man eine uralte Doppelform des menschlichen Erlebens dahinter vermuten dürfe. (688)

Es ist früh bemerkt worden,13 daß diese Überlegungen an die Arbeit eines Psychologen erinnern, mit dem Musil persönliche Beziehungen ver-

13 Vgl. Heydebrand (1963: 266-271) u. (1966: 99-103).

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Musils "Der Mann ohne Eigenschaften"

banden. Erich Maria von Hornbostel hat 1922 in einem Aufsatz "Über optische Inversion" die Tatsache beschrieben, daß man konvexe Formen als ihre konkaven Gegenbilder sehen kann und umgekehrt. Schon vor der zitierten Stelle ist ein derartiges Erlebnis Ulrichs beschrieben worden. Von einem Zimmer, aus dem er nach draußen schaut, heißt es, es hatte nun selbst etwas von einer kleinen Bühne, an deren Ausschnitt er vorne stand, draußen zog das Geschehen auf der größeren Bühne vorbei, und diese beiden Bühnen hatten eine eigentümliche Art, sich ohne Rücksicht darauf, daß er zwischen ihnen stand, zu vereinen. Dann zog sich der Eindruck des Zimmers, das er hinter seinem Rücken wußte, zusammen und stülpte sich hinaus, wobei er durch ihn hindurch- oder wie etwas sehr Weiches rings um ihn vorbeiströmte. 'Eine sonderbare räumliche Inversion!' dachte Ulrich. Die Menschen zogen hinter ihm vorbei, er war durch sie hindurch an ein Nichts gelangt; vielleicht zogen sie aber auch vor und hinter ihm dahin, und er wurde von ihnen umspült wie ein Stein von den veränderlich-gleichen Wellen des Baches: es war ein Vorgang, der sich nur halb begreifen ließ, und was Ulrich besonders daran auffiel, war das Glasige, Leere und Ruhselige des Zustands, worin er sich befand. 'Kann man denn aus seinem Raum hinaus, in einen verborgenen zweiten?' dachte er, denn es war ihm geradeso zumute, als hätte ihn der Zufall durch eine geheime Verbindungstür geführt. (632)

Im Inversionsvorgang wird das Bewußtsein zur Spiegelachse von Innen und Außen, Konvex und Konkav. Dabei ist zweierlei zu unterscheiden. Die andere Welt, der zweite Raum, der sich hier offenbart, ist nur eine zwar andere, aber der normalen völlig strukturgleiche Interpretation der reinen Sinnesdaten. Daß wir bestimmte Dinge ganz selbstverständlich konkav bzw. konvex sehen, resultiert aus unserer vorgängigen Erfahrung von ihnen, nicht aus der direkten Wahrnehmung. Aufgrund der Technik unseres Sensoriums ist das jeweilige Gegenteil völlig gleichberechtigt, und wenn wir überformende Wahrnehmungsgewohnheiten ausschalten, können wir jedes Bild beliebig umspringen lassen. Hornbostel betrieb "Invertieren" als Gesellschaftsspiel. Daneben gibt es aber noch den Moment des Umschlags von einer Auffassung in die andere. Er wird mit zwei nun schon vertrauten Metaphern beschrieben, nämlich Wasser und Glas, die das paradoxe Ineinandergreifen von Vorgang und Zustand darstellen. Das Strömen des Wassers gibt die Bewegung vom einen zum anderen wieder, das "Glasige" die zeitliche Ausdehnungslosigkeit und räumliche Neutralität der Spiegelebene. Nimmt man beides zusammen, ist man wieder beim Wasser als Spiegelfläche zwischen Ulrich und Agathe. Zugleich fungiert "Wasser" im Text jedoch als metaphorische Achse, an der optische Inversion, der Geschlechtsunterschied, vita activa/contemplativa, Leben/Tod und noch anderes ineinander gespiegelt werden. Inversion wird nicht nur auf der Ebene der Reflexionen Ulrichs zu einem universalen Prinzip erhoben,

"Leben in" statt "leben für"

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sondern der Leser wird in diese Methode auch praktisch eingeführt. Er kann gar nicht alle Implikationen des Prinzips erfassen, ohne selbst Inversionen vorzunehmen. Ulrich hatte ja nach Möglichkeiten gesucht, seine Fähigkeiten, die durchaus in viele gängige zeitgenössische Rollenschemata hervorragend gepaßt hätten, sinnvoll anzuwenden. Da er seine persönliche Unzufriedenheit mit der Spaltung in eine - mit seinen Worten - "ratioide" Hälfte, die auf der Höhe der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung ist, und eine "nichtratioide", die unverbunden und scheinbar rückständig neben der ersten steht, mit einem allgemeinen Problem seiner Gesellschaft identifizierte, hatte er in der Versöhnung beider, im Projekt eines "Generalsekretariats der Genauigkeit und Seele" (583) seine Aufgabe erkannt. 14 Eine Aufgabe, die sich jedoch auf kollektiver Ebene als unlösbar erwies. Die Wendung ins Private, die sich im zweiten Buch durch die Begegnung mit Agathe vollzieht, scheint auf eine 'Verbindungstür zu einem anderen Raum' hinzuführen. Agathe als Doppel Ulrichs mit entgegengesetzter Polarität, mit Dominanz der "Seele" über die "Genauigkeit" könnte ihn zu einer Totalität ergänzen, deren Erlebnis sonst nur augenblickshaften Auflösungen des Ichs in einem "anderen Zustand" vorbehalten ist. Diese Möglichkeit wird mit dem Inzestmotiv beständig angespielt. Unabhängig von Spekulationen über die konkreten Pläne Musils zur Fortsetzung des Romans 15 ist jedoch zu fragen, ob der Inzest als Lösung mit der besonderen Zeitstruktur des "anderen Zustands" zu vereinbaren ist.

4.4. "Leben in" statt "leben für" Was die Aufgabe Ulrichs im ersten Buch als ungelöst erscheinen läßt, ist vor allem das Fehlen einer erzählerischen Ordnung! Jener einfachen Ordnung, die darin besteht, daß man sagen kann: 'Als das geschehen war, hat sich jenes ereignet!' [...] Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitiv Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem 'Faden' mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet. (650)

14 Zur Prägung der Begriffe "ratioid" und "nicht-ratioid" und der Unterscheidung der mit ihnen benannten Bereiche vgl. die "Skizze zur Erkenntnis des Dichters" von 1918 ( G W II: 1025-1030). 15 S. zusammenfassend Arntzen (1982: 122-135).

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Musils "Der Mann ohne Eigenschaften"

Obwohl das komplette Inventar eines Bildungsromans präsentiert wird, mit den Helden kontrastierenden Gegenfiguren, die sowohl soziale Rollenentwürfe als auch ideengeschichtliche Lösungsmodelle verkörpern und für Ulrich in unterschiedlichster Weise Herausforderungen und damit auch Orientierungsmöglichkeiten bedeuten, kann er dennoch nicht leben, als wäre er "bloß eine Gestalt in einem Buch, von der alles Unwesentliche fortgelassen ist, damit sich das übrige magisch zusammenschließe" (592). Die Außenwelt schließt sich im Gegenteil in sehr unheiliger Weise zusammen, im In-sich-selbst-Kreisen des "Seinesgleichen geschieht", das letztlich blind auf die Katastrophe des Ersten Weltkriegs zurollt. Das Problem der Vermittlung von Allgemeinem und Rationalem einerseits und dem Persönlichen und Individuellen andererseits wird schon in dem "Kapitel, das jeder überschlagen kann, der von der Beschäftigung mit Gedanken keine besondere Meinung hat" (111) reflektiert. Das, was man früher "Inspiration" nannte, also das Erscheinen des Allgemeinen im Individuellen, wird auf "die Affinität und Zusammengehörigkeit der Sachen selbst, die in einem Kopf zusammentreffen", zurückgeführt. Darum ist das Denken, solange es nicht fertig ist, eigentlich ein ganz jämmerlicher Zustand, ähnlich einer Kolik sämtlicher Gehirnwindungen, und wenn es fertig ist, hat es schon nicht mehr die Form des Gedankens, in der man es erlebt, sondern bereits die des Gedachten, und das ist leider eine unpersönliche, denn der Gedanke ist dann nach außen gewandt und für die Mitteilung an die Welt hergerichtet. Man kann sozusagen, wenn ein Mensch denkt, nicht den Moment zwischen dem Persönlichen und dem Unpersönlichen erwischen, und darum ist offenbar das Denken eine solche Verlegenheit für die Schriftsteller, daß sie es gern vermeiden. (112)

Die kathartische Wirkung der Distanzierung, die mit der Überführung des Erlebten ins Gedachte einhergeht, mindert zugleich dessen affektive Bindung. Die bekannte, von den Ärzten entdeckte Fähigkeit der Gedanken, tief wuchernden, krankhaft verfilzten Hader, der aus dumpfen Bezirken des Ich entsteht, aufzulösen und zu zerstreuen, beruht wahrscheinlich auf nichts anderem als ihrer sozialen und außenweltlichen, das Einzelgeschöpf mit anderen Menschen und Dingen verknüpfenden Wesensart; aber leider scheint das, was ihnen ihre Heilkraft gibt, das gleiche zu sein, was ihre persönliche Erlebnishaftigkeit vermindert. (113)

Die Gegenüberstellung von unmittelbarem Erleben und Distanzierung entspricht der von "lebenden" und "toten" Gedanken, wobei die toten Gedanken die Welt des Eindeutigen, Ratioiden bilden, deren Instrumentalität in den Entwürfen mit einem sehr drastischen Bild erfaßt wird: "(Wir sind dem Leben gegenüber wie jene Wespen, die eine Raupe durch einen Stich lähmen, um ihre Brut abzulegen)" (1919). Diese Welt ist geprägt vom "Leben für" im Gegensatz zum "Leben in", zum Leben des

Der "andere Zustand"

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erfüllten Augenblicks.16 Jeder einzelne Moment ist bezogen auf eine fiktive Ganzheit, die sich doch in nichts Anderem manifestiert als in der ins Unendliche verfolgbaren Verwobenheit von allem mit allem. Identitätsbildung unter diesen Bedingungen kann sich nur als Orientierung an einer imaginären Totalität vollziehen, die nie zur Erfüllung führen kann. Was tatsächlich gar nicht vorhanden ist, bietet die beste Gewähr, nie erreicht zu werden und so ein ewiger Motivationsquell zu sein. Da dem keine narrative Ordnung mehr entgegengesetzt werden kann, die mit Geburt und Tod, Anfang und Ende eines Lebens zwei Fixpunkte setzen würde, zwischen denen sich ein "Faden der Erzählung" (650) spannen ließe, der ein Modell sowohl persönlicher als auch universeller Ganzheit wäre, bleibt nur das Herausspringen aus der linearen Folge der Verweisungen. Dies geschieht in einem ersten Schritt in Ulrichs "Urlaub von seinem Leben". Der distanzierte Blick des Touristen in der eigenen Stadt, der selbst nur eine Steigerung eines kakanischen Charakterzuges ist,17 läßt zwar das Panorama einer Gesellschaft am Vorabend des Ersten Weltkrieges entstehen, kann durch diese mimetische Leistung aber nur die allgemeine Zerfahrenheit der Verhältnisse reproduzieren. Diese ist die Folie für den zweiten Schritt, die "Reise ins Paradies" (1536) der beiden Geschwister als Suche nach einem Ort, an dem der "andere Zustand" dauerhaft wäre.

4.5. Der "andere Zustand" Mit der Forderung nach Dauerhaftigkeit scheidet der reale Vollzug des Inzests als Lösungsmöglichkeit aus. Anders steht es mit seinem mythischen Gehalt. Schon das Gedicht "Isis und Osiris" (1923)18 weist darauf hin, daß dieser im Zentrum von Musils Interesse stand, weniger der individuelle sexuelle Akt. Letzterer wäre eine in ihrer Vereinzeltheit belanglose Normverletzung. Er würde Agathe und Ulrich in die Nähe von Moosbrugger und Ciarisse rücken, die sich beide mit ihrem Wahnsinn in einer Weise an den "anderen Zustand" annähern, der direkt zu einem Ausschluß aus der Gesellschaft und damit zur Unwirksamkeit führt.

16 Vgl. GW II: 940 u. Aspetsberger (1980). 17 "Denn nicht nur die Abneigung gegen den Mitbürger war dort bis zum Gemeinschaftsgefühl gesteigert, sondern es nahm auch das Mißtrauen gegen die eigene Person und deren Schicksal den Charakter tiefer Selbstgewißheit an." (34) 18 GW II: 465. Zur Rolle der Mythologie vgl. Müller (1983a).

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Musils "Der Mann ohne Eigenschaften"

Ulrich betrachtet seine Bemühungen jedoch nach wie vor als Lösungsversuch für ein Problem der Moral, der mithin Allgemeingültigkeit anstreben muß: '[...] Moral ist Zuordnung jedes Augenblickszustandes unseres Lebens zu einem Dauerzustand!' [...] Eine strenge Auffassung und Aufgabensetzung für die harmlose Beschäftigung des Fühlens, eine ernste Rangordnung standen damit, ungewiß verkürzt, in Aussicht: Gefühle müssen entweder dienen oder einem bis ins Letzte reichenden, noch keineswegs beschriebenen Zustand angehören, der groß wie das küstenlose Meer ist. (869f.)

Im mythischen Bericht und im Ritual in bestimmten Religionen stellt der Inzest jedoch gerade die Ambivalenz von Übertretung und Bestätigung des ihm geltenden Tabus dar. Die so produzierten und kulturell überlieferten Bilder des kollektiven Imaginären sind es, die Ulrichs Interesse erwecken. Sie gestalten einen Grundwiderspruch jeder menschlichen Gesellschaft, die Einbindung der sexuellen Differenz in ein System von Regeln und Sanktionen einerseits und den Widerstand hiergegen andererseits, und bewältigen diesen Widerspruch zugleich durch die Gestaltung. Gleiches gilt für den Bereich der Mystik, dem sich Ulrich zunehmend in seinen Studien widmet.19 Die Ekstasen der Mystiker bewegten sich immer auf einem schmalen Grat zwischen der Aufsprengung und der Erneuerung der etablierten religiösen Orthodoxie. Waren sie Reaktionen auf das Scheitern rationaler Theologie mit deutlich regressiven Zügen, so hat die Sprache der Mystik mit ihrer Topik der Unsagbarkeit und des Verstummens den Bereich, dessen Unerfaßbarkeit sie behauptete, doch kulturell integriert.20 Sollte diese Leistung jedoch noch aktuelle Gültigkeit haben, so müßte sich das Vorgehen der Mystik auf die moderne Situation übertragen lassen, und das hieße, es aus dem Bereich der traditionellen Religion herauslösen, wie es Ulrich propagiert: "'Ich bin nicht fromm; ich sehe mir den heiligen Weg mit der Frage an,

19 Zur mystischen Tradition im "Mann ohne Eigenschaften" vgl. Goltschnigg (1974). 20 Ein Beispiel für die Übernahme dieser Strategie im "Mann ohne Eigenschaften" ist die schon ausführlich erläuterte Metaphorik des Wassers und des Trinkens im Zusammenhang mit der Veränderung des Ich im "anderen Zustand". Auch die zitierte Verknüpfung mit "Kohlenstoff1 hat hier ihre Wurzel: "Das tertium comparationis der beiden Assoziationen mit der Natur des Selbst liegt in der Vorstellung der relativen Eigenschaftslosigkeit und Verwandelbarkeit: unversehens enthüllt sich nun ihre mystische Disposition: das, was noch nicht Eigenschaften hat, wird zum Symbol dessen, was über alle Eigenschaften erhaben ist; so wie der Kohlenstoff zum Symbol des Diamanten in der aller Eigenschaften überhobenen Seelen-Burg (castellum animi) der mystischen Entrückung wird." (Frank 1983a: 336f.)

Der "andere Zustand"

III

ob man wohl auch mit einem Kraftwagen auf ihm fahren könnte!'" (751)21 Es paßt zu dieser Haltung, daß Ulrich seine Ablehnung des Katholizismus mit einer traditionellen theologischen Wendung formuliert: "'Ich glaube nicht, daß Gott da war, sondern daß er erst kommt. Aber nur, wenn man ihm den Weg kürzer macht als bisher!'" (1022) Er trifft nicht nur in der Übernahme dieses Theorems mit der Frühromantik 22 zusammen, sondern auch in der Art und Weise, wie er die Anverwandlung der religiösen Motive betreibt. Statt sie substantiell wiederherzustellen, versucht er sie funktional zu deuten und auf seine Gegenwart zu übertragen.23 Er zitiert sie, explizit oder implizit, aber immer mit der Vorgabe, ihre aktuelle Verwendbarkeit zu überprüfen, so daß jedes Zitat zugleich einen Transformationsversuch darstellt. Es wird aus seinem ursprünglichen Kontext gelöst und probeweise in einen neuen gestellt, in dem seine Fremdheit doch noch spürbar ist. Das Zitierte gerät so in die Schwebe, im Augenblick des Übertretens von einem in den anderen Kontext nimmt es die Erscheinung an, die für den "anderen Zustand" immer wieder beschrieben wird. 'Ich würde sagen,' fuhr Ulrich lebhaft fort 'es ist dem ähnlich, daß man auf eine große spiegelnde Wasserfläche hinausschaut: das Auge glaubt Dunkel zu erblicken, so hell ist alles, und jenseits am Ufer scheinen die Dinge nicht auf der Erde zu stehn, sondern schweben in der Luft mit einer zarten Überdeutlichkeit, die beinahe schmerzt und verwirrt. Es ist ebensowohl eine Steigerung wie ein Verlieren in diesem Eindruck. Man ist mit allem verbunden und kann an nichts heran. (751)

Die Verwendung der Tradition, 'als ob' sie gültig wäre oder sein könnte, ist einerseits Orientierung an einer Kontinuität, die die Beliebigkeit der unendlichen Möglichkeiten vermeidet, andererseits bedeutet sie jedoch eine Fiktionalisierung. So wird zwar ein Erfahrungsraum geschaffen, der den sonst als verbindlich erachteten übertrifft und daraus

21 Eis handelt sich also ebensosehr um Transformation wie um Überwindung der Religion. Vgl. Goltschnigg (1974: 132): "Das Einheitserleben der Geschwister im 'anderen Zustand' ist zwar den überlieferten Ekstasen der Mystiker nachempfunden, Gott aber wird ausnahmslos verdrängt; [...] Freilich hat der 'andere Zustand' etwas Absolutes an sich, aber ohne theologische Konsequenz". 22 Zur Beziehung Musiis zur Frühromantik vgl. Hörisch (1975), zu Schelling Bohn (1988). 23 In der Ersetzung des Substantiellen durch das Funktionale und die damit verbundene Distanzierung unterscheidet er sich auch von seinem Freund Walter. Dieser "gab stets kleine Gefühlsmünze in Gold und Silber aus, während Ulrich mehr im Großen operierte, mit Gedankenschecks sozusagen, auf denen gewaltige Ziffern standen; aber schließlich war das nur Papier." (116)

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Ausgeschiedenes miteinbezieht. Die darin möglichen gesteigerten Erfahrungen, die zusätzlichen Verbindungen und Beziehungen sind jedoch nur scheinhafte und entziehen sich dem realen Zugriff. Nur als Modell für Erfahrung läßt sich diese fingierte Welt gebrauchen. Setzt man ihre scheinhafte Totalität als reale, so erweist sich ihre innere Heterogenität und Bruchstückhaftigkeit. Da im Roman jedoch nach und nach alles Verfügbare in exemplarischer Form in diesen Prozeß der Fiktionalisierung aufgenommen wird, dehnt sich dieser Eindruck auf die gesamte erfahrbare Welt und damit auch auf das erfahrende und sich durch diese Erfahrung konstituierende Subjekt selbst aus. 'Wenn du so mit mir hin und her redest,' stieß Agathe leise hervor 'ist mir, als sähe ich mich in den Scherben eines Spiegels: man erblickt sich bei dir nie in ganzer Figur!' 'Nein,' erwiderte Ulrich, der ihre Hand nicht losließ 'man erblickt sich heute nicht in ganzer Figur, und man bewegt sich nie in ganzer Figur: das ist es eben!' (744)

Der aus dem sinnbildlich alles verflüssigenden Wasser gebildete Spiegel zerbricht, wenn man seine Bilder für real hält und nach ihnen greifen will. Diese moderne Variante des Narzißmythos ist jedoch selbst eine Spiegelung des Romans im Roman.24 Auch darauf gibt es einen metaphorischen Hinweis. Ulrich erläutert den "anderen Zustand" am Beispiel des Beobachtens einer Rinderherde. 'Das Gewöhnliche ist, daß uns eine Herde nichts bedeutet als weidendes Rindfleisch. Oder sie ist ein malerischer Gegenstand mit Hintergrund. Oder man nimmt überhaupt kaum Kenntnis von ihr. Rinderherden an Gebirgswegen gehören zu den Gebirgswegen, und was man in ihrem Anblick erlebt, würde man erst merken, wenn an ihrer Stelle eine elektrische Normaluhr oder ein Zinshaus dastünde. Ansonsten überlegt man, ob man aufstehn oder sitzenbleiben soll; man findet die Fliegen lästig, von denen die Herde umschwärmt wird; man sieht nach, ob ein Stier unter ihr ist; man überlegt, wo der Weg weiterführt: das sind unzählige kleine Absichten, Sorgen, Berechnungen und Erkenntnisse, und sie bilden gleichsam das Papier, auf dem das Bild der Herde steht. Man weiß nichts von dem Papier, man weiß nur von der Herde darauf -' 'Und plötzlich zerreißt das Papier!' fiel Agathe ein. 'Ja. Das heißt: irgendeine gewohnheitsmäßige Verwebung in uns zerreißt. [...] die Einzelheiten besitzen nicht mehr ihren Egoismus, durch den sie unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, sondern sie sind geschwisterlich und im wörtlichen Sinne 'innig' untereinander verbunden. Und natürlich ist auch keine 'Bildfläche' mehr da, sondern irgendwie geht alles grenzenlos in dich über.' (762)

Das Papier als Projektionsfläche der Erfahrung steht für die Gesamtheit der Strukturen, die unsere "Welt" ausmachen und die Einordnung des Einzelmoments und damit seine Erfahrbarkeit ermöglichen. Dieser Zusammenhang tritt jedoch normalerweise gerade nicht ins Bewußtsein.

24 Zur Selbstthematisierung des Romans vgl. Eisele (1982) u. Pietsch (1988).

D e r "andere Zustand"

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Erst wenn das Papier zerreißt, wenn für einen Augenblick die übliche Fundierung der Erfahrung ins Wanken kommt, wird diese zum Gegenstand der Betrachtung und ihre bedingende und restringierende Rolle für das sich vor ihrem Hintergrund Profilierende offensichtlich. Dann wird die Objektivität als das dem Subjekt Entgegenstehende aufgelöst im Raum der Fiktion, als die sie sich in dieser Perspektive erweist. Sie erscheint nicht mehr durch äußere Anforderungen, nämlich in die Struktur einer bestimmten Weltsicht zu passen, bestimmt und somit auch nicht mehr von dem Ich als Quelle dieser Ansprüche geschieden. So entsteht die "innige", nämlich freie und nicht heteronome Beziehung sowohl der Dinge untereinander als auch zum Menschen. 25 Auf einem nicht wahrgenommenen Papier steht auch der "realistische" Roman, der sein Gemachtsein hinter einem Imaginären versteckt, zu dessen Produktion er den Leser anleitet. Vor Erwägungen über die handelnden Personen, ihr Seelenleben, den Fortgang der Handlung etc. verstrickt sich dieser immer mehr in die "gewohnheitsmäßige Verwebung" kultureller Muster und Konventionen, nach der solche Texte funktionieren. Im "Mann ohne Eigenschaften" zerreißt dieses "Papier", diese literarische Folie ständig. Der Held kann seine Identifikationsfunktion für den Leser gerade dadurch erhalten, daß er vorführt, wie die Konstruktion einer bestimmten Totalität, eben eines "Mannes mit Eigenschaften", aus dem zur Verfügung stehenden Material scheitert. Er ist, vor allem im zweiten Teil, ebenso ein Lesender wie der Leser des Romans, der seine Lesefrüchte Agathe mitteilt und sie mit ihr diskutiert.26 Mögliche Bezugsbereiche der Romanhandlung, die andernfalls Literaturwissenschaftler mühevoll hätten ermitteln müssen, werden in verwirrender Fülle und Vielfalt gleich mitgeliefert. Dadurch zerfällt die (üblicherweise ja stillschweigend vorausgesetzte) Geschlossenheit des Romans, und seine Elemente treten dem Leser als Fragmente gegenüber, die auf eine mögliche Ganzheit nur noch verweisen können.27 So mündet auch die hier in der Lektüre geleistete Rekonstruktion des "anderen Zustands" in einen Vorschlag zu einer Konstruktion, die eher Fortführung als Nachvollzug des im Text Vorgegebenen ist. Wie schon das "Zerbrechen des Spiegels", so zeigt das "Zerreißen des Papiers" metaphorisch und nun mit deutlichem Bezug auf den Roman

25 Vgl. Schmidt (1975: 79). 26 Vgl. Pietsch (1988: 61-63). 27 D a ß sich dies bis in D e t a i l s der sprachlichen Gestaltung hinein zeigt, hat schon Michel (1954) nachgewiesen.

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selbst, daß die Lösung des Problems, den "anderen Zustand" herzustellen, nicht in der Spiegelung eines bestimmten Zustands in einen anderen, in der Fixierung irgendeines Bildes liegen kann. Sie findet sich vielmehr im Moment des Umschlags selbst, in dem alle möglichen Sichtweisen aufgehoben und als aufgehobene, fiktionalisierte gleichberechtigt sind. So wird die narzißtische Struktur des Verhältnisses Ulrichs zur Welt, die sich durchaus mit psychoanalytischen Kategorien beschreiben läßt,28 auf der Lektüreebene zu ästhetischer Selbstbezüglichkeit transformiert, die dem Leser Spielräume jenseits festgelegter Persönlichkeits- und sonstiger Muster eröffnet.29 Der "andere Zustand" erweist sich als ästhetischer Zustand.30

4.6. "Das Sternbild der Geschwister" Über die Beziehung zwischen Fiktion und Realität ist insbesondere in den Nachlaßkapiteln zum zweiten Band häufig die Rede, meist unter den Chiffren "Gleichnis" und "Ähnlichkeit".31 In einem "Augenblick" ist Ulrich klargeworden, daß "Kunst" und "Leben" in einem Inversionsverhältnis zueinander stehen: Ein Gleichnis enthält eine Wahrheit und eine Unwahrheit, für das Gefühl unlöslich miteinander verbunden. Nimmt man es, wie es ist, und gestaltet es mit den Sinnen, nach Art der Wirklichkeit aus, so entstehen Traum und Kunst, aber zwischen diesen und dem wirklichen, vollen Leben steht eine Glaswand. (581f.)

28 S. Laermann (1970: bes. 24-35 u. 131-163) u. Heyd (1980: 252-269); dort bes. auch zur Melancholie Ulrichs 201-215. 29 Zur Kritik psychoanalytischer Deutungen des Romans s. Hörisch (1975: 358-361). Sie ließe sich auch auf den von Pietsch unter Berufung auf Kittler unternommenen Versuch ausdehnen, die Rollenverteilung zwischen Ulrich und Agathe (und zwischen einigen Nebenfiguren) auf die Trennung von männlichem Autor und weiblicher Leserin im "Aufschreibesystem 1800" bzw. ihr Nachwirken im 20. Jahrhundert zurückzuführen (Pietsch 1988: 66-77). Auch hier wird der narzißtische Kern des Verhältnisses Ulrichs zu Agathe, also etwas, das auf der Ebene der Romanfiguren liegt, mit der Struktur der Beziehung von Autor und Leser(in) verwechselt oder doch zumindest unzulässig kurzgeschlossen, obwohl Pietsch selbst darauf hinweist, daß das Phantasma männlicher Autorschaft im Text in kritischer Weise thematisiert wird. 30 Vgl. Karthaus (1965: 87). Wenn Karthaus "[d]ie Frage nach der Realisierbarkeit des Anderen Zustandes [...] als ein theologisches Problem, welches ohne den dogmatischen Kern einer geschichtlichen Religion unlösbar ist" (158), auffaßt, so zeigt das, wie gering er die Möglichkeiten des Ästhetischen einschätzt. 31 Vgl. Schmidt (1975: 80-84), Fuder (1979) u. Pietsch (1988: 121-142).

"Das Sternbild d e r Geschwister"

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Letztere spiegelt Eins ins Andere, trennt aber zugleich beide. Ist das Gleichnis ein Bild, das als solches auf die Wirklichkeit verweist und doch radikal von ihr getrennt ist, so hat es eine Eigenschaft in gesteigertem Maße, die alle Bilder charakterisiert. Man m u ß hier zwischen den Sinneswahrnehmungen und den G e f ü h l e n einen Unterschied machen. Auch jene 'täuschen', und bekanntlich ist weder das sinnliche Bild der Welt, das sie uns darstellen, die Wirklichkeit selbst, noch ist das gedankliche Bild, das wir aus ihm erschließen, unabhängig von der menschlichen Geistesart, wenngleich es unabhängig von der persönlichen ist. A b e r obwohl keinerlei greifbare Ähnlichkeit zwischen der Wirklichkeit und selbst dem genauesten Vorstellungsbild besteht, das wir von ihr besitzen, ja e h e r ein unausfüllbarer Abgrund an Unähnlichkeit, und obwohl wir das Original nie zu Gesicht bekommen, vermögen wir doch auf eine verwickelte Weise zu entscheiden, ob und unter welchen Bedingungen dieses Bild richtig sei. A n d e r s bei den Gefühlen; denn diese geben, um in der gleichen Ausdrucksweise zu bleiben, auch schon das Bild falsch, und doch erfüllen sie damit ebensogut die A u f g a b e , uns in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zu halten, bloß tun sie es auf eine a n d e r e Weise. (1193)

Ulrichs Überlegungen zur Ähnlichkeit werden in dem Kapitel "Das Sternbild der Geschwister Oder Die Ungetrennten und Nichtvereinten", das mit Bemerkungen über die - echte oder erdichtete - Schwester als (identischem) "Doppelgänger" und (kontrastierendem) "Gegenbild" beginnt (1338), im Gespräch mit Agathe fortgeführt. Ulrich erzählt von einem Bauern, der, im Krieg verschollen, von einem Anderen ersetzt wird, der sich für den Vermißten ausgibt und mit vielerlei intimen Kenntnissen und aufgrund ihrer unsicheren Erinnerung selbst dessen Frau überzeugen kann. 'Du willst sagen: Man liebt immer bloß die Stellvertreter der Richtigen? O d e r d u willst sagen: Wenn ein Mensch zum zweiten Mal liebt, so verwechselt e r zwar nicht die Personen, a b e r das Bild der neuen ist an vielen Stellen n u r eine Ü b e r m a l u n g von d e m d e r alten?' fragte Agathe mit einem anmutigen G ä h n e n . 'Ich habe noch viel m e h r sagen wollen, und es ist viel langweiliger' gab Ulrich zur Antwort. 'Versuche dir einen Farbenblinden vorzustellen, dem Helligkeiten und Abschattungen fast völlig die farbige Welt vertreten: e r sieht keine einzige Farbe, und kann sich doch wahrscheinlich so verhalten, daß man es nicht b e m e r k t , denn was e r zu sehen vermag, vertritt ihm das, was e r nicht sehen kann. So aber, wie es hier in einem besonderen Bezirk geschieht, ergeht es uns allen eigentlich mit der Wirklichkeit. Sie zeigt sich in unseren Erlebnissen und Forschungen nie a n d e r s wie durch ein Glas, das teils den Blick durchläßt, teils den Hineinblickenden widerspiegelt.' (1341f.)

Die Kombination von Spiegelung und Transparenz zeigt sich im Bereich der Theorie, insbesondere in der Naturwissenschaft, als zunehmende Abstraktheit der Abbildung im Vergleich zur sinnlich erfaßbaren Entsprechung, so daß man von einem "Bildsein ohne Ähnlichkeit"

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sprechen kann. Mit einer an Benjamin erinnernden Wendung erläutert Ulrich: Das ist ein sehr allgemeiner und sehr unsinnlicher Begriff von Bildlichkeit. [...] Eine Theorie kann sich in ihren Folgen mit der Wirklichkeit decken, und die Wirklichkeitsfolge mit der Theorie. Eine Tonwalze ist das Abbild einer Singweise und eine Handlung das eines schwankenden Gefühls. (1342)

Wird auf dem Feld der Erkenntnis durch den Verstand der Ähnlichkeitsbegriff fragwürdig, so gilt dies umso mehr noch in bezug auf die vom Gefühl mitbestimmte Lebenspraxis. 'Nun sind gar die Bilder, die wir uns im Leben machen, um richtig handeln und fühlen zu können, nicht bloß vom Verstand abhängig, ja oft sind sie höchst unverständig und nach seinen Maßen unähnliche Bilder; und doch müssen sie ihren Dienst erfüllen, damit wir in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit und uns selbst bleiben. Sie müssen also nach irgendeinem Bildschlüssel oder irgendeiner Gebrauchsanweisung und gemäß dem Begriff, der die Art der Abbildung bestimmt, auch genau und vollständig sein, selbst wenn dieser Begriff Raum für verschiedene Ausführungen läßt -' Agathe unterbrach ihn lebhaft. Sie hatte plötzlich den Zusammenhang erfaßt. 'Der falsche Bauer ist also ein Abbild des echten gewesen?' fragte sie. Ulrich nickte. 'Ursprünglich hat ja auch ein Bild immer seinen Gegenstand ganz vertreten. Es hat Macht über ihn verliehen. [...] Auch der Name gehört zu den Bildern; und so hat man Gott bei seinem Namen beschwören können, was soviel hieß wie gefügig machen. [...]' 'Sollte man nicht beinahe sagen können, je unähnlicher ein Bild sei, desto größer die Leidenschaft dafür, sobald wir uns daran gebunden haben?' fragte Agathe. 'Wahrhaftig ja!' stimmte ihr Ulrich bei. [...] 'Wenn ich nicht in deiner Gegenwart bin, sehe ich dich nicht ähnlich vor mir, so wie dich einer malen möchte; sondern mir ist eher, als hättest du in ein Wasser geblickt und ich bemühte mich vergeblich, darin mit dem Finger dein Bild nachzuzeichnen. Ich möchte behaupten, daß man nur Gleichgültiges richtig und ähnlich sieht.'" (1343f.)

Ulrich hatte schon zuvor in seinen Aufzeichnungen festgehalten, daß im emotionalen Bereich erfassen und verändern zusammenfallen: Weil sie beständiger Fluß sind, lassen sich Gefühle nicht anhalten; sie lassen sich auch nicht 'unter die Lupe' nehmen; das heißt, je genauer wir sie beobachten, desto weniger wissen wir, was wir fühlen. Die Aufmerksamkeit ist schon eine Veränderung des Gefühls. (1172)

Diese 'Unschärferelation des Gefühls' wird auch durch die scheinbare Eindeutigkeit der sprachlichen Benennungen nicht aufgehoben - im Gegenteil, wie folgende Überlegung zeigt, die Wittgensteins Begriff der "Familienähnlichkeit" vorwegnimmt: Die Frage, wie es kommt, daß so ganz Verschiedenes mit dem einen Wort Liebe bezeichnet wird, hat die gleiche Antwort wie die Frage, warum wir unbedenklich von Eß-, Mist-, Ast-, Gewehr-, Weg- und anderen Gabeln reden! Allen diesen Gabeleindrücken liegt ein gemeinsames 'Gabeligsein' zugrunde; aber es steckt nicht als ein gemeinsamer Kern in ihnen, sondern fast ließe sich sagen, es sei nicht mehr als ein zu

"Das Sternbild der Geschwister"

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jedem von ihnen möglicher Vergleich. Denn sie brauchen nicht einmal untereinander alle ähnlich zu sein, es genügt schon, wenn eins das andere gibt, wenn man vom einen zum anderen kommt, wenn nur Nachbarglieder einander ähnlich sind; entferntere sind es dann durch ihre Vermittlung. Ja, auch das, was die Ähnlichkeit ausmacht, das die Nachbarn Verbindende, kann in einer solchen Kette wechseln; und so kommt man ereifert von einem Ende des Wegs zum andern und weiß kaum noch selbst, auf welche Weise man ihn zurückgelegt hat." (1173f.) 32

Kriterium der Ähnlichkeit ist nicht mehr Übereinstimmung in einem strukturellen Kernbereich, sondern eine Kontinuität der Verwandlungen, die immer wieder das Medium aller Transformationen, die alle Bestimmungen momentan aufhebende Ebene der Indifferenz und des Umschlags von einer Form in die andere durchqueren. Das Wasser, in dem Ulrich das Spiegelbild Agathes nachzeichnen möchte, ist hierfür das Bild und als solches zugleich Beispiel. Und ebenso haben sich die Geschwister daran gewöhnt, in ihren Gesprächen sowohl Alternativen durchzuspielen und Argumentationen zu spinnen, als auch in dieser Tätigkeit selbst ein Genügen zu finden, so daß es ihnen beiden nichts Neues war, bald auf eine Entscheidung zu hoffen, bald sich von ihren eigenen Worten im Gehen und Stehen kaum anders einwiegen zu lassen, als man auf das kindlich vergnügte Selbstgespräch eines Brunnens horcht, der lallend vom Ewigen schwätzt. (1347)

Die Metapher des "Wassers" spricht von der ewigen Uneindeutigkeit der Sprache und der metaphorischen Wandelbarkeit, der möglichen Ähnlichkeit von Allem mit Allem im bildlichen Sprechen. Es verwundert nicht, daß den Beiden am Ende ihrer Unterhaltung über Gleichnisse nicht nur in den Sinn kommt, nun selbst "alles, was sie erleben, nur als Gleichnis hinzunehmen" (1347), sondern sie sich auch erinnern, "wie oft solche Gespräche, wenn sie am schönsten waren und aus ganzer Seele kamen, selbst eine Neigung bekundeten, sich nur noch in Gleichnissen auszudrücken." (1348) Das Ergebnis der Diskussion erweist sich als das, was ihn ihr von Anfang an vorausgesetzt wurde. Der Versuch, die Begriffe "Ähnlichkeit" und "Identität" zu bestimmen und dadurch das Verhältnis der Geschwister zueinander zu klären, mündet in die Wassermetapher, die zuvor schon narrativ zur Konstituierung ihrer Beziehung und zur Umschreibung des "anderen Zustands" eingeführt

32 Vgl. Philosophische Untersuchungen I: 67. Zur möglichen Anregung des Gedankens durch Schopenhauer, Nietzsche und Mauthner s. Gabriel (1980), der auch auf die Musilstelle verweist. Die Verwendung bei Musil vor der Veröffentlichung der "Philosophischen Untersuchungen" ist nichtsdestoweniger erstaunlich, da die eigentliche These in der Vorgeschichte allenfalls angedeutet ist.

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wurde. Diese Kreisbewegung führt vollends in die Paradoxie, wenn nahegelegt wird, das Gespräch selbst als gleichnishaftes aufzufassen, so daß es die in ihm entwickelte Forderung, im Gleichnis zu leben und dadurch Getrennt- und Einssein zusammenfallen zu lassen, selbst einlösen würde. Denn damit würde es seinen Ausgangspunkt, eben den Gegensatz von Identität und Verschiedenheit, von Einheit und Getrenntheit, aufheben und mithin sich selbst unnötig machen. Dieser Teufelskreis einer Ausführung, die sich selbst die Legitimation entzieht, bestimmte auch Ulrichs Antwort, als ihn jemand fragte, ob er Bücher schreibe. Ich aber habe ihm zugeschworen, daß ich mich töten werde, ehe ich der Versuchung unterliege, ein Buch zu schreiben; und ich habe es aufrichtig gemeint. Denn das, was ich schreiben könnte, wäre nichts als der Beweis, daß man auf eine bestimmte andere Weise zu leben vermag; daß ich aber ein Buch darüber schriebe, wäre zumindest der Gegenbeweis, daß ich nicht so zu leben vermag. (1278)

Und Agathe entgegnet denn auch, wenngleich sie es sofort wieder zurücknimmt: "Wir können uns gemeinsam töten, wenn das ein Buch wird!" Doch selbst wenn der Vorschlag ernstzunehmen wäre, würde er nicht aus dem Dilemma herausführen. Der gemeinsame Tod als Lösung des von Ulrich beschriebenen Problems könnte als realer eben nie in seinem eigenen Buch vorkommen. Der Tod als Vollendung des Lebens im wörtlichen Sinne läßt sich nicht vorwegnehmen, es sei denn in der Fiktion. Als fiktiver Abschluß repräsentiert er aber gerade sein Fehlen in der Wirklichkeit. Was im Roman in selbstbezüglicher Weise auf der Ebene der Figuren thematisiert wird, betrifft ihn auch als Ganzes. Sein Sinn kann nur darin bestehen, Modelle anderen Lebens zu liefern. Tut er dies und behauptet damit, sinnvoll zu sein, so stellt sich die Frage, warum man nicht nach diesen Modellen lebt, sondern stattdessen Literatur macht bzw. liest. Der Roman müßte sich gewissermaßen selbst seinen Sinn entziehen, um ihn behaupten zu können, er müßte sich, mit Wittgenstein gesagt33, als eine Leiter präsentieren, mit der man über sie selbst hinaussteigt und die man anschließend wegwirft. Von der anderen Seite her betrachtet heißt das jedoch, daß der Text seinen Sinn behält, solange die in ihm vorgeschlagenen Modelle nicht funktionieren.

33 Tractatus logico-philosophicus 6.54.

Schluß

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4.7. Schluß [...] Bruder und Zwillingsschwester: das Ich und das Nicht-Ich fühlen den inneren Zwiespalt ihrer Gemeinsamkeit, sie zerfallen mit der Welt, fliehen. Aber dieser Versuch, das Erlebnis zu halten, zu fixieren, schlägt fehl. Die Absolutheit ist nicht zu bewahren. Ich schließe daran, die Welt kann nicht ohne das Böse bestehen, es bringt Bewegung in die Welt. Das Gute allein bewirkt Starre. (GW II: 940)

So resümierte Musil schon 1926. Die Utopie der "induktiven Gesinnung" aus der späten Phase der Arbeit am Roman sollte dem Rechnung tragen, denn da Induktionen theoretisch unabschließbare Operationen sind, müssen sie den Vorläufigkeitsvorbehalt in jedes ihrer ( Z w i s c h e n e r g e b nisse hineinschreiben, um die Dynamik des entworfenen Modells aufrechtzuerhalten. Der Widerspruch von Gegenmodellen sollte quasi institutionalisiert werden, und wenn das an die Funktion des "advocatus diaboli" erinnert, dann wiederholte Musil damit nur Jean Pauls Einsicht: "Jeder Dichter gebiert seinen besondern Engel und seinen besondern Teufel" (WW 1/5: 212). Während jedoch Musil das Experimentelle des Verfahrens klar herausstellte und als "Essayismus" zum Leitbild literarischer Produktion erhob, blieb Jean Paul letztlich einer Ursprungsmythologie verhaftet, die solches Vorgehen als parasitär und supplementär verurteilt hätte. Das läßt sich an einer frühen Satire in der "Auswahl aus des Teufels Papieren" von 1789 (WW II/2: 446-453) demonstrieren, die aus einer sehr modern anmutenden Auffassung von Struktur und Auswirkungen von Repräsentationen eine Kritik an der von ihnen bewirkten Auflösung der Persönlichkeit ableitet. "Der Maschinen-Mann nebst seinen Eigenschaften" erfindet die aleatorische Musik (449), betet und beichtet mittels Maschinen (450f.) und spricht über die grösten Grossen, die alles durch Repräsentanten thun und die daher so viele physische Ebenbilder von sich zu kreiren streben, im Kreiren aufhören und im Repräsentiren fortfahren und mit einem Worte Gemahlinnen haben, die gut wissen was unser Jahrhundert ist und dessen unzählige Maschinen, und wo der Italiener oder Franzos zu haben ist bey dem seiner Seits wieder zu haben sind leblose Vikarien oder Charges d'affaires oder Agenten oder curatores absentis des lebendigen Ehemanns, welches alles (sagen die Gemahlinnen und die Italiener) lauter herrliche, den Eheherrn ohne Schaden repräsentirende Figuren wären und zwar nur rhetorische und zwar bloß die Figur pars pro toto ... (451f.).

Um welches Teil es sich handelt, bedarf wohl keiner Erläuterung. Wäre der Mensch schließlich "auf eine viel höhere Stufe der Maschinenhaftigkeit gerückt", so blieben "blos die Maschinen ohne Maschinenmeister" (452). Es wäre der Zustand des "Nichts sein und alles können" (453) erreicht. Diese Eigenschaftslosigkeit als Ergebnis der Gleichberechtigung

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der in den Maschinen verkörperten Möglichkeiten, die nicht mehr vom lenkenden Maschinenmeister eingeschränkt werden, deutet Jean Pauls Satire als Usurpation der Rolle des "Eigentlichen", "Lebendigen" (wobei es verräterisch ist, was der Text hierfür als "pars pro toto" suggeriert) durch die Stellvertreter. Dies soll nur als weiterer Beleg dafür dienen, daß die historischen Differenzen keineswegs zu verwischen sind. Was von Musil theoretisch formuliert und im Roman explizit und implizit reflektiert wird, läßt sich für Jean Pauls "Flegeljahre" nur unter bestimmten Einschränkungen konstatieren. Vor dem Hintergrund der frühromantischen, von einer organologischen Entwicklungskonzeption getragenen Spekulationen über eine "Neue Mythologie" spielen sie den für diese zentralen Begriff der Selbstbezüglichkeit in einer Weise durch, so daß für den heutigen Leser Probleme sichtbar werden, die erst sehr viel später theoretisch thematisiert werden. Dies ist gerade dadurch möglich, daß Jean Paul sich nicht souverän über die Abgründigkeiten autoreferentieller Textstrukturen erhebt, sondern sich in ihnen in teils lustvoller, teils quälender Weise verfängt. Die Ambivalenz dieser Haltung, die sich mit Benjamin als die von "Sammler" und "Allegoriker" kennzeichnen läßt, findet sich auch bei Musil wieder. Sie liegt in der zeitweiligen Unentschiedenheit darüber, ob der "andere Zustand" als Augenblick des Umschlagens von einem Bild ins andere und damit als prozessuales Moment oder als ein Jenseits des Prozesses, sein Ursprung und/oder sein Ziel, verstanden werden soll. Die Suche nach dem "anderen Zustand" erweist ihn als Ergebnis ihres eigenen Vollzugs. Die Enttäuschung der anfänglichen Hoffnung, ihn fixieren und damit auch zum Endpunkt der Suche machen zu können, bewirkt zugleich einen Wechsel der Perspektive. Was mit seinem Ziel auch seinen Sinn verloren zu haben schien, erweist sich als in seinem Vollzug selbst sinnhaft. Das ursprünglich Angestrebte verkehrt sich ins Gegenteil. Sein Erreichen würde den Sinn der Suche gerade aufheben, statt ihn zu erfüllen. Man hat es also hier mit einer Rückwirkung der Lösung auf den Problemhorizont zu tun. Die Funktionsvorgabe wird von dem literarischen Text (verstanden als durch die hier vorgeschlagene Lektüre konstituierter Gegenstand) nicht schlichtweg nicht erfüllt, sondern im Versuch ihrer Einlösung tritt mehr über ihre Bedingungen zutage, als bei ihrer theoretischen Formulierung im Blick war und sein konnte. Damit dies produktiv werden kann, muß jedoch auch das Umfeld entsprechend aufnahmefähig sein. Die zeitgenössischen Reaktionen auf Jean Paul zeigen, daß überwiegend in der "Fehlerhaftigkeit" seiner Texte kein

Schluß

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sinnvolles Muster gesehen werden konnte.34 Es brauchte noch einige Zeit, bis die Nichtrepräsentativität eines Romans als repräsentativ aufgefaßt wurde. Daß dies mit außerliterarischen Veränderungen zusammenhängt, ist evident und bei Benjamin in der Steigerung des Allegorischen in der Warenwelt des neunzehnten Jahrhunderts und nochmals in der Erfahrung des Großstadtalltags im zwanzigsten erfaßt worden. Auch im "Mann ohne Eigenschaften" kommt es im Zusammenhang mit Überlegungen Arnheims zu neuen Entwicklungen in Kunst, Tanz, Sport und anderen Bereichen zum Vergleich barocker und moderner Allegorie: Das Auffällige aller dieser [zeitgenössischen] Erscheinungen ist ein gewisser Hang zur Allegorie, wenn man darunter eine geistige Beziehung versteht, wo alles mehr bedeutet, als ihm redlich zukommt. Denn so wie ein Helm und ein paar gekreuzte Schwerter die Gesellschaft des Barock an alle Götter und ihre Geschichten erinnerten und nicht ein Herr von Hinz die Komtesse Kunz küßte, sondern ein Kriegsgott die Göttin der Keuschheit, erleben Hinz und Kunz heute, wenn sie sich knutschen, das Zeittempo oder irgendetwas aus der Kollektion von zehn Dutzend neuen Mustervorstellungen, die nun freilich nicht mehr einen über Taxusalleen schwebenden Olymp bilden, sondern das ganze moderne Durcheinander selbst. (407f.)

Die Allegorie des Barock war noch eine Technik der Anbindung aktueller Erfahrung an tradierte Bezugsbereiche, aus deren Charakter des Künstlichen und Gewollten Benjamin jedoch schon ein indirektes Dementi ihrer eigenen Zielsetzung herausgelesen hatte. Dieser Eindruck, den die barocke Allegorie auf den modernen Betrachter macht, begründet nun die Anwendung ihres Begriffs auf die spezifisch moderne Erfahrung der Inflationierung und des unüberschaubaren ständigen Wechsels von Bezugsbereichen. Die Reflexion auf die Möglichkeit dieser Begriffsübertragung, die an Benjamins Werk entwickelt wurde, läßt dann eine Technik der Integration von Neuem in alte Muster, also der Reduktion gesteigerter Komplexität mit den eingespielten Systemstrategien, zur Keimzelle neuer Verarbeitungsmodelle, der Ausdifferenzierung eines neuen Subsystems werden. Die Allegorie ist tatsächlich ein trojanisches Pferd, mit dem sich der Feind ins System einschmuggelt, indem er die Techniken, die ihn neutralisieren sollen, zu Mitteln macht, um sich selbst zur Geltung zu bringen. Ohne daß sich diese List einer übergeordneten

34 Beispielhaft ist Hegel, der auf engstem Raum eine hervorragende Zusammenstellung Jean Paul'scher Eigentümlichkeiten gibt, vom "barocken Zusammenbringen des objektiv Entferntesten und dem kunterbuntesten Durcheinanderwürfeln von Gegenständen, deren Beziehung etwas durchaus Subjektives ist", bis zur Folge dieses allegorischen Verfahrens, daß nämlich "Bedeutung und Gestalt [...] auseinanderliegen"; nur ist ihm dies Anlaß heftigster Verurteilung (1969ff.: XIV, 230; vgl. XIII, 382).

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Musils "Der Mann ohne Eigenschaften"

Vernunft zuschreiben ließe, vermittelt sie doch zwischen Vergangenheit und Zukunft, indem im Instrument zur Bewahrung des Alten sich das Neue versteckt.35 Wie gezeigt wurde, entspricht dies auch der inneren Struktur allegorischer Darstellung und der durch sie ermöglichten Trauervorgänge. Die terminologisch schon angedeutete Anschließbarkeit an systemtheoretische Beschreibungen der Ausdifferenzierung und der Funktionsweise des sozialen Subsystems "Kunst" hängt zunächst einmal damit zusammen, daß die im ersten Teil dargestellte Indienstnahme der Organismustheorien zur Vorgeschichte der Systemtheorie selbst gehört und sie teilweise vorwegnimmt. Des weiteren sind die systemtheoretischen Folgerungen aus der Selbstreferentialität von Kunstwerken für deren internen Aufbau schon praktisch in Texten wie den "Flegeljahren" entwickelt worden, die diese Selbstbezüglichkeit und ihre Konsequenzen selbstbezüglich vorführen und damit sowohl offensichtlich machen als auch ad absurdum führen. Deshalb orientiert sich auch Schwanitz (1990) in seiner hervorragenden Darstellung an "destruktiven" Beispielen, um etwa von "Tristram Shandy" ausgehend die Bedingungen des Funktionierens des "normalen" realistischen Stils zu erschließen. Das systemtheoretische Anliegen jedoch, der Kunst eine einheitliche Funktion zuzuweisen, führt in Paradoxien und wird von Schwanitz denn auch weitgehend ausgespart. Faßt man diese Funktion, wenngleich sehr vage, als "Konfrontation der Normalrealität mit einer Alternatiwersion derselben Realität[, die] dann schöner, sinnvoller und weniger vulgär als die Alltagsrealität" ist (Schwanitz 1990: 253),36 so gerät man sofort in ein der Systemtheorie ja wohlbekanntes Temporalitätsproblem. Da Realität, gleich in welcher Version, systemtheoretisch nur als Selbstbeschreibung des Systems verstanden werden kann, hat man es also mit zwei Selbstbeschreibungen zu tun, die different gehalten werden müssen. Jede objektivierte Alternativbeschreibung wird jedoch sofort zum Teil des

35 Sie läßt sich also auf das von Schwanitz auf systemtheoretischer Grundlage erschlossene Grundproblem der Erzählliteratur beziehen, jedoch in einem weit umfassenderen Sinn als die von ihm daraus abgeleiteten Erzähltechniken, und ergänzt diese, die, soweit sie sich dem "realistischen" Stil zuordnen lassen, das Problem umgehen, statt es zu lösen. Vgl. Schwanitz:"[...] für die Erzählung, die sich nicht mehr auf die Typik wiederholbarer Verläufe stützen kann, wird die laufende Vermittlung von Vergangenheit und Zukunft und damit - wenn man mit Kant redet - 'die Möglichkeit von Erfahrung überhaupt' in einer sich verändernden Welt zum Erzählproblem par excellence." (1990: 155) 36 Kaum aufschlußreicher sind die Funktionsbestimmungen bei S. J. Schmidt (1989: 418 u. 422f.).

Schluß

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beschriebenen Systems, und deshalb muß sie sich erneuern, um sich nun von sich selbst abzusetzen. Die sich beschleunigenden Wechsel von Avantgardebewegungen sind Beleg hierfür. Um dieser Spirale zu entkommen, gibt es für die Kunst nur eine Möglichkeit, nämlich die zugewiesene Funktion zu negieren, und dies wiederum geht auf zweierlei Weise: durch Demonstration ihrer Widersprüchlichkeit - Selbstbezüglichkeit - oder durch Rückzug in die Haltung des "Verstummens", eine Art negativer Selbstbezüglichkeit. Durch das Vorführen von Widersprüchlichkeit dementiert die Kunst zwar bestimmte Funktionszuweisungen, erfüllt aber eben darin eine Funktion, nämlich diese Unstimmigkeiten zur Darstellung zu bringen. Als Kritik der medialen Formen, die in einer Gesellschaft für generelle Orientierungen genutzt werden, ist sie zugleich Verständigungsmedium für solche Richtungsvorgaben. Verständigung muß hierbei weniger vom angestrebten Konsens als vom Konflikt her gedacht werden, der ihren Prozeß bestimmt. Erst die Nichtübereinstimmung, die sich in der Unstimmigkeit von Lösungsmodellen niederschlägt, macht Verständigung nötig, so wie umgekehrt die Suche danach, auch und gerade die unerfüllte Suche, der Beschreibung der Suche Einheit und Sinn verleiht. Literatur lebt von Problemen, nicht von Lösungen. Und so endet denn auch die Beantwortung der Frage "Warum ich keins meiner Bücher geschrieben habe" mit der Einsicht, daß sie sich sozusagen hinterrücks, aber folgerichtig zu einem Buch entwickelt hat: Also gut, sagen wir denn, daß dieser Text letzten Endes als ein ganz klassischer Roman durchgehen kann. Erzählt er nicht von einer fortwährend verhinderten Begegnung, einer versagten Liebe, die immer neue Hemmungen und Widrigkeiten, Illusionen und Enttäuschungen erfährt? Einer unglücklichen und letztlich vielleicht unmöglichen Liebe, derjenigen seines Autors zu einer bestimmten Vorstellung von Literatur. (Benabou 1986 [1990: 131])

Zusammenfassung Ziel dieser Arbeit war es, das Verhältnis von Mimesis und Selbstbezüglichkeit derart zu klären, daß beide Begriffe allgemein anwendbar für die literaturwissenschaftliche Arbeit werden. Die unbefriedigende Ausgangslage, ein Nebeneinander von älteren Mimesistheorien und neueren Selbstbezüglichkeitstheorien der Literatur bei umstrittener Verteilung von Anspruch und Zuständigkeit, konnte mit einer systematischen Erklärung überwunden werden, die zugleich die historische Entwicklung der beiden Konzepte einbezieht. Autoreferentialität von literarischen Texten erwies sich als Effekt von Lektüreprozessen, die in der Gestaltung der Texte strukturell angelegt sind. Diese entsprechen zur Verfügung stehenden Schemata gerade nicht, lassen sich nicht automatisch nachvollziehen, sondern regen an zu einer Nachkonstruktion, die tendenziell auch die eigene Konstruktionstätigkeit bewußt werden läßt. Um überhaupt der Lektüre zugänglich zu sein, müssen sie jedoch an irgendwelche Schemata anknüpfen und diese sich einschreiben, wenngleich als nicht erfüllte. Sie ahmen also nicht vorgängige Muster als solche nach, mithin auch nicht irgendwelche Auffassungen von "Wirklichkeit", sondern sie zitieren sie vielmehr als aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöste und nur als Elemente im Rahmen einer spezifischen Kombination gültige. Solche Gestaltung hat historisch gesehen zunächst häufig das Ziel, Wirklichkeitsmodellen zusätzliche Plausibilität zu verschaffen, sie anschaulich zu machen etc. Daher tritt die Formung, obwohl bemerkt und erfahren, nicht als solche ins Bewußtsein. Literatur kann auf dieser Stufe als Repräsentation verstanden werden, ohne daß die spezifische Behandlung, die das Repräsentierte dabei erfährt, als Problem gesehen würde. Der transformative Charakter jeder Darstellung wird erst in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts als die eigentliche Leistung der Literatur begriffen, jedoch im Projekt der "Neuen Mythologie" in eine organologische Konzeption eingebunden, die eine Vollendung des Transformationsprozesses zu denken erlaubt. Diesem letzten großen Versuch, Selbstbezüglichkeit von Literatur und Totalität von Weltrepräsentation zu vereinen, folgt erst im zwanzigsten Jahrhundert die endgültige theoretische Anerkennung der kritischen Leistung der

Zusammenfassung

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Autoreferentialität. Benjamins Begriff der Allegorie führt zu einem Konzept von Literatur als Darstellung von Repräsentationsmodellen gerade in ihrem Nichtfunktionieren, das erklärt, wie Literatur zu Konstruktionen anleiten kann, ohne falsche Lösungen vorzugeben, wie sie Scheinlösungen entlarven und den sinnvollen Umgang mit Dysfunktionalem erproben kann. Von diesem heutigen Reflexionsstand aus betrachtet ist Selbstbezüglichkeit eines der Literatur konstituierenden Momente und entsprechend auch in älteren und ältesten Texten zu finden. Zwar sind historische Einschränkungen sinnvoll, Unterscheidungen zwischen Selbstthematisierungen, die zu bestimmten untergeordneten Zwecken eingesetzt werden und insofern nicht dominant sind, und solchen, die Texte als ganze bestimmen. Doch läßt sich in jedem Fall das autoreferentielle Potential von Literatur nutzen, um aus ihm eine Kritik der in die Texte als Elemente eingehenden Muster und Modelle zu entwickeln. Dies wurde an den "Flegeljahren" und dem "Mann ohne Eigenschaften" demonstriert, die so ausgewählt wurden, daß sie sich den beiden untersuchten Stationen in der Geschichte des Mimesisbegriffs zuordnen lassen. Der Umgang mit diesen beiden Romanen ist also sowohl Beispiel für die aus der theoretischen Argumentation folgenden Methode als auch funktional eingesetzt zur Entwicklung ebendieses Verfahrens. Jean Pauls "Flegeljahre" dementieren den Glauben, mit einer "Neuen Mythologie" einem offenen Geschichtsprozeß die Garantien von Geschlossenheit und Ganzheitlichkeit geben zu können, und Musils Roman entfaltet die bei Benjamin nur angedeutete Ambivalenz des Ästhetischen zwischen therapeutischer Trauerarbeit an widersprüchlichen oder obsolet gewordenen Welt- und Selbstbildern und narzißtischem Verfallensein an die Beschäftigung mit der eigenen Melancholie. Dies wurde in einer Lektüre gezeigt, die die Gestaltung der Texte als Hinweis auf eine Logik ihrer Produktion liest, welche die Eingliederung in die Problemstellung von Mimesis und Selbstbezüglichkeit nicht nur erlaubt, sondern in besonderer Weise nahelegt. Die Auffälligkeiten ihrer Form lenken den Leser darauf, in ihnen Diskussionszusammenhänge abgebildet zu sehen, die jedoch durch ihre formale Integration zu Elementen einer neuartigen Konstruktion werden. Ihre Virtualisierung im Rahmen des literarischen Textes erlaubt es, sie in verschiedenen Kombinationen durchzuspielen und zu erproben. Diese Möglichkeit sich zunutze zu machen ist gleichermaßen ein Hilfsmittel der vorangehenden Darstellung als auch eine Forderung aus ihrem Ergebnis.

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Literatur

Lessing, Gotthold Ephraim: 1780 Die Erziehung des Menschengeschlechts. In: Lessings Werke. Ed. Kurt Wölfel. Bd. 3. Frankfurt/M. 1967 1866ff. Sämtliche Schriften. Ed. Karl Lachmann. 3. Aufl. bes. v. Franz Muncker. 23 Bde. Stuttgart u. Leipzig Leube, Dietrich: 1975 Nachwort zu: Campe, Joachim Heinrich: Bilder-Abeze. Ed. Dietrich Leube. Frankfurt/M. S. 57-75 Lévi-Strauss, Claude: 1962 La pensée sauvage. Paris Lindner, Burkhardt: 1970 Satire und Allegorie in Jean Pauls Werk. Zur Konstitution des Allegorischen. In: J b J P G 5. S. 7-61 1976 Jean Paul. Scheiternde Aufklärung und Autorrolle. Darmstadt Locke, John: 1790 An Essay Concerning Human Understanding. Ed. Alexander Campbell Fräser. 2 Bde. 2. Aufl. New York 1959 (Nachdruck der 1. Aufl.) Lötzsch, Friedrich: 1984 Art. "Monade" I. In: Ritter, Joachim u. Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel; Stuttgart. Bd. 6. Sp. 114-117 Lugli, Adalgisa: 1983 Naturalia et Mirabilia. Il collezionismo enciclopedico nelle Wunderkammern d'Europa. Milano Luhmann, Niklas: 1981 Selbstreferenz und Teleologie in gesellschaftstheoretischer Perspektive. In: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 2. Frankfurt/M. S. 9-44 Makropoulos, Michael: 1989 Modernität als ontologischer Ausnahmezustand? Walter Benjamins Theorie der Moderne. München Marquard, Odo: 1962 Kant und die Wende zur Ästhetik. In: ZphF 16. S.231-243 u. 363-374 1963 Über einige Beziehungen zwischen Ästhetik und Therapeutik in der Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts. In: Ders.:

Literatur

205

Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufsätze. Frankfurt/M. 1973. S. 85-106 1971 Zur Funktion der Mythologiephilosophie bei Schelling. In: Fuhrmann, Manfred (Hg.): Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. München ( = Poetik und Hermeneutik IV). S. 257-263 1987 Transzendentaler Idealismus, Romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse. Köln Maurer, Peter: 1981 Wunsch und Maske. Eine Untersuchung der Bild- und Motivstruktur von Jean Pauls Flegeljahren. Göttingen Mayer, Gerhart: 1976 Jean Pauls ambivalentes Verhältnis zum Bildungsroman. In: J b J P G 11. S. 51-77 Menke, Bettine: 1991 Sprachfiguren. Name - Allegorie - Bild nach Walter Benjamin. München Menninghaus, Winfried: 1980 Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie. Frankfurt/M. 1987 Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion. Frankfurt/M. Merleau-Ponty, Maurice: 1975 Der Naturbegriff. In: Frank/Kurz (1975). S. 280-291 Meyer, Herman: 1963 Jean Pauls "Flegeljahre". In: Ders.: Zarte Empirie. Studien zur Literaturgeschichte. Stuttgart. S. 57-112 Michel, Karl Markus: Die Utopie der Sprache. In: Akzente 1. S. 23-35 1954 Müller, Götz: 1983 Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie. Tübingen 1983a Isis und Osiris. Die Mythen in Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften". In: ZfdPh 102. S. 583-604 Naeher, Jürgen: 1977 Walter Benjamins Allegoriebegriff als Modell. Stuttgart Neumann, Peter Horst: 1966 Jean Pauls "Flegeljahre". Göttingen

206

Novalis: 1960ff.

Literatur

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Literatur

207

Proß, Wolfgang: oJ. Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Text, Materialien, Kommentar. München u. Wien 1975 Jean Pauls geschichtliche Stellung. Tübingen Rankl, Maximilian: 1987 Jean Paul und die Naturwissenschaft. Frankfurt/M. u.a. Rasch, Wolfdietrich: 1961 Die Erzählweise Jean Pauls. Metaphernspiele und dissonante Strukturen. In: Schillemeit, Jost (Hg.): Interpretationen. Bd. III: Deutsche Romane von Grimmelshausen bis Musil. Frankfurt/M. 1966. S. 82-117 Recki, Birgit: 1988 Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno. Würzburg Rehm, Walter: 1964 Jean Pauls vergnügtes Notenleben oder Notenmacher und Notenleser. In: Ders.: Späte Studien. Bern u. München. S. 796 Ricken, Ulrich: 1989 Sprachtheorie als Aufklärung und Gegenaufklärung. In: Schmidt, Jochen (1989). S. 316-340 Ritter, Joachim: 1971 Artikel "Ästhetik, ästhetisch". In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. I. Hgg. v. Joachim Ritter. Basel u. Stuttgart. Sp. 555-580 Roeßler, Wilhelm: 1961 Die Entstehung des modernen Erziehungswesens in Deutschland. Stuttgart Rosenbaum, Heidi: 1982 Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Frankfurt/M. Rosenbaum, Heidi (Hg.): 1978 Seminar: Familie und Gesellschaftsstruktur. Materialien zu den sozioökonomischen Bedingungen von Familienformen. Frankfurt/M.

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Literatur

Schäfer, Gerd: 1990 Wissenschaft als Performance. Zu Arbeiten des schottischen Afrikanisten und Ethnologen Victor Turner. In: Merkur 44. S. 508-512 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: 1856ff. Sämmtliche Werke. Ed. K. F. A. Schelling. I. Abtheilung Bde. 1-10; II. Abtheilung Bde. 1-4. Stuttgart Schiller, Friedrich: 1943ff. Werke. Nationalausgabe. Ed. Julius Petersen u. Hermann Schneider. Weimar Schlaffer, Heinz: 1967 [Rezension zu:] Peter Horst Neumann: Jean Pauls Flegeljahre. In: JbJPG 2. S. 169-176 1987 [Rezension zu:] Hendrik Birus: Vergleichung. Goethes Einführung in die Schreibweise Jean Pauls. In: J b J P G 22. S. 180-184 Schlegel, Friedrich: 1958ff. Kritische Ausgabe. Ed. Ernst Behler. München, Paderborn u. Wien 1980 Literarische Notizen 1797-1801. Literary Notebooks. Ed. Hans Eichner. Frankfurt/M., Berlin u. Wien Schlosser, Julius von: 1908 Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance. Ein Beitrag zur Geschichte des Sammelwesens. Braunschweig 1978 Schlüer, Klaus-Dieter: 1967 Spiegel und Sprache. Zu zwei 'Streckversen' Jean Pauls. In: JbJPG 2. S. 37-53 Schmidt, Jochen: 1975 Ohne Eigenschaften. Eine Erläuterung zu Musils Grundbegriff. Tübingen 1985 Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. 2 Bde. Darmstadt Schmidt, Jochen (Hg.): 1989 Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart. Darmstadt

Literatur

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210

Literatur

Specht, Rainer: 1972 Innovation und Folgelast. Beispiele aus der neueren Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstadt 1984 Artikel "Nisus". In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Darmstadt. Bd. 6. Sp. 857-866 Sprengel, Peter: 1976 Enzyklopädie und Geschichte. Kritische Überlegungen zu Wolfgang Proß' Buch über "Jean Pauls geschichtliche Stellung". In: JbJPG 11. S. 15-49 1977 Innerlichkeit. Jean Paul oder Das Leiden an der Gesellschaft. München Stadler, Ulrich: 1987 Hardenbergs "poetische Theorie der Fernröhre". Der Synkretismus von Philosophie und Poesie, Natur- und Geisteswissenschaften und seine Konsequenzen für eine Hermeneutik bei Novalis. In: Behler/Hörisch (1987). S. 51-62 Steinhagen, Harald: 1979 Zu Walter Benjamins Begriff der Allegorie. In: Haug, Walter (Hg.): Formen und Funktionen der Allegorie. Stuttgart. S. 666-685 Stoessel, Marleen: 1983 Aura. Das vergessene Menschliche. Zu Sprache und Erfahrung bei Walter Benjamin. München u. Wien Strauß, Botho: 1990 Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Anmerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit. In: DIE ZEIT Nr. 26 v. 22. 6. S. 57 Szondi, Peter: 1967 Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. In: Schriften I. Frankfurt/M. 1978. S. 261-412 1971 Poetry of Constancy - Poetik der Beständigkeit. Celans Übertragung von Shakespeares Sonett 105. In: Schriften II. Frankfurt/M. 1978. S. 321-344 1975 Einführung in die literarische Hermeneutik. Studienausgabe der Vorlesungen Bd. 5. Ed. Jean Bollack u. Helen Stierlin. Frankfurt/M. Tellenbach, Hubertus: 1974 Melancholie. Problemgeschichte, Endogenität, Typologie, Pathogenese, Klinik. 2. Aufl. Berlin, Heidelberg u. New York

Literatur

211

Tesauro, Emanuele: 1670 II Cannocchiale Aristotelico. O sia Idea dell'arguta et ingeniosa elocutione che serve à tutta l'Arte oratoria, lapidaria, et simbolica esaminata co' Principij del divino Aristotele dal Conte & Cavalier Gran Croce D. Emanuele Tesauro patritio torinese. Quinta Impressione. Torino (Faksimile-Neudruck 1968. Hgg. u. eingel. v. August Buck. Bad Homburg, Berlin u. Zürich) Titzmann, Michael: 1979 Allegorie und Symbol im Denksystem der Goethezeit. In: Haug (1979). S. 642-665 Tönz, Leo: 1970 Das Wirtshaus "Zum Wirtshaus". In: JbJPG 5. S. 105-123 Trabant, Jürgen: 1985 Nachwort zu: Humboldt, Wilhelm von: Über die Sprache. Ausgewählte Schriften. München. S. 159-174 Turner, Victor: 1969 The Ritual Process. Structure and Anti-Structure. New York. Dt.: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt/M. u. New York 1989 Valéry, Paul: 1960 Oeuvres. Ed. Jean Hytier. Bd. II. Paris (Plèiade) Warburg, Aby M.: 1980 Ausgewählte Schriften und Würdigungen. Ed. Dieter Wuttke. 2. Aufl. Baden-Baden 1988 Schlangenritual. Ein Reisebericht. Mit einem Nachwort von Ulrich Raulff. Berlin Weissberg, Liliane: 1980 Versuch einer Sprache des Möglichen: Zum Problem des Erzählens bei Robert Musil. In: DVjs 54. S. 464-484 Wellbery, David E.: 1987 Rhetorik und Literatur. Anmerkungen zur poetologischen Begriffsbildung bei Friedrich Schlegel. In: Behler/Hörisch (1987). S. 161-173 Werber, Niels: 1990 Systemtheorie als Literaturwissenschaft. In: Merkur 44. S. 690-693 Wessell, Leonard P. Jr.: 1977 Das widersprüchliche Wesen der Lessingschen Auffassung von Theologie. In: Harris/Schade (1977). S. 187-195

212

Literatur

Wieland, Wolfgang: 1975 Die Anfänge der Philosophie Schellings und die Frage nach der Natur. In: Frank/Kurz (1975). S. 237-279 Wiesenthal, Lieselotte: 1973 Zur Wissenschaftstheorie Walter Benjamins. Frankfurt/M. Wiethölter, Waltraud: 1979 Witzige Illumination. Studien zur Ästhetik Jean Pauls. Tübingen 1981 Jean Paul: Flegeljahre. In: Lützeler, Paul Michael (Hg.): Romane und Erzählungen der deutschen Romantik. Neue Interpretationen. Stuttgart. S. 163-193 Wind, Edgar: 1934 Das Experiment und die Metaphysik. Zur Auflösung der kosmologischen Antinomien. Tübingen Wittgenstein, Ludwig: 1984 Werkausgabe. 8 Bde. Frankfurt/M.; darin: Tractatus logicophilosophicus; Tagebücher 1914-1916; Philosophische Untersuchungen (Bd.l). Über Gewißheit (Bd.8) Wölfel, Kurt: 1966 "Ein Echo, das sich selber ins Unendliche nachhallt". Eine Betrachtung von Jean Pauls Poetik und Poesie. In: Wölfel (1989). S. 259-300 1984 Die Unlust zu fabulieren. Über Jean Pauls Romanfabel, besonders im "Titan". In: Wölfel (1989). S. 51-71 1989 Jean Paul - Studien. Ed. Bernhard Buschendorf. Frankfurt/M. Wuthenow, Ralph-Rainer: 1970 Allegorie-Probleme bei Jean Paul. Eine Vorstudie. In: JbJPG 5. S. 62-84 Zedier, Johann Heinrich: 1740 Artikel "Naturalien" u. "Naturalien-Kammern, NaturalienCabineter". In: Großes vollständiges Universallexikon. Bd. 23. Leipzig u. Halle. Nachdruck Graz 1961. Sp. 1231f. Zimmermann, Bruno: 1974 Artikel "Vollkommenheit". In: Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Hg. v. Hermann Krings, Hans Michael Baumgartner u. Christoph Wild. Bd. 6. München. S. 16411649

Personenregister Adorno, Theodor W., 118, 120, 125, 130, 141, 148, 149, 152 Agamben, Giorgio, 118, 149-151, 155 Aristoteles, 6, 7, 151 Aspetsberger, Friedbert, 175 Auerbach, Erich, 6 Bachtin, Michail, 86 Baumeister, Thomas, 153 Bénabou, Marcel, 1, 189 Benjamin, Walter, 9, 10, 12-14, 19, 57, 106, 114, 115, 118, 120, 121, 122, 124, 126, 128, 132, 133, 134, 135, 137, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 157, 159, 160, 162, 163, 164, 166, 182, 186, 187, 191 Binswangen Ludwig, 138 Birus, Hendrik, 71, 84, 89, 90, 114 Bloch, Ernst, 117 Blumenbach, Johann F., 45 Blumenberg, Hans, 3,7-9,33,52,135,155 Böhme, Hartmut, 166 Böhn, Andreas, 36, 106 Bohn, Ralf, 177 Bohrer, Karl H., 36, 53, 60, 118, 151, 165 Bollacher, Martin, 34, 36 Böschenstein, Bernhard, 96 Bosse, Heinrich, 90, 113 Brummack, Jürgen, 38 Brüninghaus, Adelheid, 107 Buck, August, 160 Buschendorf, Bernhard, 152 Chladenius, Johann M., 34 Conno, Karl, 166 DaCosta Kaufmann, Thomas, 87 de Man, Paul, 117 Depré, Olivier, 21 Derrida, Jacques, 4, 5, 98 Descartes, René, 27, 44 Dieckhoff, Reiner, 148 Dierse, Ulrich, 88 Dörr, Thomas, 118, 122

Dowden, Stephen D., 165 Durzak, Manfred, 80 Dux, Günter, 4-6 Eidsmann, C.-M., 116 Eisele, Ulf, 165, 168, 178 Faggin, Giuseppe, 116 Fertig, Ludwig, 35, 84, 174 Fischer-Lichte, Erika, 118, 121, 130, 131, 149, 150, 152, 154 Frank, Manfred, 25, 36, 38, 44, 47, 48, 54, 55, 57, 59, 62, 63, 164, 176 Franke, Ursula, 27 Freud, Sigmund, 2, 137 Fried, Jochen, 26 Fuder, Dieter, 180 Fuld, Werner, 168 Futterknecht, Franz, 44, 45, 47 Gabriel, Gottfried, 88, 183 Gadamer, Hans G., 117 Gaier, Ulrich, 36, 38, 43, 44, 59, 65 Gansberg, Marie-Luise, 72, 78 Gerabek, Werner, 71 Ginzburg, Carlo, 144 Goethe, Johann W., 90, 116 Goltschnigg, Dietmar, 176, 177 Gombrich, Ernst H., 144 Grimm, Jacob u. Wilhelm, 98, 163 Groh, Dieter u. Ruth, 25 Habermas, Jürgen, 14, 118, 136, 143 Hegel, Georg W. F., 23, 48, 143, 150, 165, 187 Hegener, Johannes, 82 Henckmann, Wolfhart, 130, 152, 153 Henningsen, J., 88 Henrich, Dieter, 48 Herder, Johann G., 24, 38^»4, 54, 68, 83 Herrmann, Hans P., 33 Heydebrand, Renate von, 171 Hippel, Theodor G. von, 88 Hocke, Gustav R., 87 Hofmann, Werner, 87

214

Personenregister

Hölderlin, Friedrich, 48, 59, 63-66 Hörisch, Jochen, 25, 26, 37, 57, 100, 118, 125, 165, 177, 180 Hornbostel, Erich M. von, 172 Humboldt, Wilhelm von, 40, 44, 46, 47 Japp, Uwe, 17 Jauß, Hans R., 58 Jean Paul, 16,18, 26, 70-72, 74, 75, 76, 82, 84-86, 89, 90, 91-93, 95, 97, 103, 105, 114, 156, 157, 160, 163, 165, 168, 185, 186, 187 Kafka, Franz, 97 Kaiser, Gerhard, 118, 127, 148 Kant, Immanuel, 15, 23, 24, 26, 27, 29-32, 44, 45, 46, 47, 51, 67, 69, 103,153,188 Kany, Roland, 144 Karthaus, Ulrich, 180 Kaulbach, Friedrich, 47, 48 Kaulen, Heinrich, 122 Kayser, Martina, 165 Kemp, Wolfgang, 144 Kittler, Friedrich A., 38, 180 Klibansky, Raymond, 135 Koller, Herrmann, 6 Köpke, Wulf, 103 Kristeva, Julia, 137, 139 Kulenkampff, Jens, 31, 153 Lacan, Jaques, 5 Lachnit, Edwin, 159 Laermann, Klaus, 180 Landwehr, Jürgen, 13-15 Leibniz, Gottfried W., 32, 33, 44, 67, 88, 126 Lepenies, Wolf, 135 Lessing, Gotthold E., 34-38, 43, 68 Leube, Dietrich, 35 Lévi-Strauss, Claude, 98, 99 Lindner, Burkhardt, 71, 75, 114 Link, Jürgen, 102 Locke, John, 33 Lötzsch, Friedrich, 126 Lugli, Adalgisa, 87 Luhmann, Niklas, 5 Makropoulos, Michael, 134, 141 Mallarmé, Stéphane, 3 Marquard, Odo, 25 Maurer, Peter, 71, 78, 100, 107 Mayer, Gerhart, 76

Menke, Bettine, 118 Menninghaus, Winfried, 26, 57,117, 118, 121, 125 Merleau-Ponty, Maurice, 48 Meyer, Herman, 71, 87, 89 Michel, Karl M., 165, 179 Müller, Götz, 71, 114, 175 Naeher, Jürgen, 118 Neumann, Peter H., 71, 98,100,103, 107, 108, 109, 110, 112, 113 Novalis 1, 26, 56, 57, 82, 83, 93, 100 Ohly, Friedrich, 71, 84, 117 Ovid 87 Panofsky, Erwin, 135 Peirce, Charles S., 33, 43, 156 Pekar, Thomas, 165 Pfotenhauer, Helmut, 141 Pietsch, Reinhard, 170, 178-180 Piaton 6 Pomian, Krzysztof, 87 Pons, Georges, 38 Pott, Hans-Georg, 72, 75, 164, 169 Préaux, Alain, 79 Proß, Wolfgang, 38, 71 Quesnay, François, 102 Rankl, Maximilian, 71, 89, 91 Rasch, Wolfdietrich, 71, 85, 86, 90 Recki, Brigit, 140 Rehm, Walter, 79, 89-91, 94 Ricken, Ulrich, 38 Ritter, Joachim, 25, 97 Roeßler, Wilhelm, 35 Rosenbaum, Heidi, 35 Rosso, Corrado, 116 Saxl, Fritz, 135 Schäfer, Gerd, 6 Schelling, Friedrich W. J., 22, 23, 44, 4749, 51, 52, 63, 177 Schiller, Friedrich, 58, 59 Schlaffer, Heinz, 71 Schlegel, Friedrich, 53-57, 67, 85, 117, 158, 159 Schlosser, Julius v., 87, 88 Schlüer, Klaus-Dieter, 107, 109 Schmidt, Jochen, 59, 71, 76, 164, 179, 180 Schmidt, Siegfried J., 8, 188 Scholem, Gershom, 117, 118, 121, 124, 127, 151

Personenregister Schramm, Ulf, 167 Schüttpelz, Erhard, 71 Schwanitz, Dietrich, 8, 188 Schweikert, Uwe, 96 Schweikle, Günther, 115 Schweizer, Hans R., 27-30 Sebeok, Thomas A. u. Jean UmikerSebeok, 33 Sörensen, Bengt A., 117 Specht, Rainer, 44, 135 Sprengel, Peter, 100 Stadler, Ulrich, 82 Stahl, Georg E., 83 Steiner, George, 2 Steinhagen, Harald, 118, 137 Sterne, Laurence, 107 Stoessel, Marken, 140 Strauß, Botho, 2-5 Szondi, Peter, 34, 59, 62-65, 122 Tellenbach, Hubertus, 138

215 Tesauro, Emanuele, 160 Titzmann, Michael, 117 Tönz, Leo, 95, 96 Trabant, Jürgen, 46, 47 Turner, Victor, 6 Valéry, Paul, 146 Warburg, Aby, 144 Weissberg, Liliane, 164, 168 Wellbery, David E., 57 Werber, Niels, 8 Wessell, Leonard P. Jr., 38 Wieland, Wolfgang, 48 Wiesenthal, Lieselotte, 120 Wiethölter, Waltraud, 72, 84, 108 Wind, Edgar, 151 Wittgenstein, Ludwig, 2, 42, 184 Wölfel, Kurt, 71, 97, 114, 158 Wuthenow, Ralph-Rainer, 114 Zedier, Johann Heinrich, 88 Zimmermann, Bruno, 30, 31

w DE

G

Walter de Gruyter Berlin • New York

QUELLEN UND FORSCHUNGEN ZUR SPRACH- UND KULTURGESCHICHTE DER GERMANISCHEN VÖLKER

"Bei aller brüderlichen Liebe..." The Letters of Sophie Tieck to her Brother Friedrich Transcribed and edited by James Trainer Groß-Oktav. VIII, 314 Seiten. 1991. Ganzleinen DM 188,ISBN 3 11 012354 1 (N.F. Band 97 [221]) OLIVER SILL

Zerbrochene Spiegel Studien zur Theorie und Praxis modernen autobiographischen Erzählens Groß-Oktav. XIV, 537 Seiten. 1991. Ganzleinen DM 248,ISBN 3 11 012697 4 (N.F. Band 98 [222]) SHEILA MARGARET B E N N

Pre-Romantic Attitudes to Landscape in the Writings of Friedrich Schiller Groß-Oktav. XIV, 242 Seiten. 1991. Ganzleinen DM 120,ISBN 3 11 012825 X (N.F. Band 99 [223]) JOACHIM BURKHARD RICHTER

Hans Ferdinand Maßmann Altdeutscher Patriotismus im 19. Jahrhundert Groß-Oktav. XIV, 482 Seiten, 1 Abbildung. 1992. Ganzleinen DM 228,- ISBN 3 11 012910 8 (Band 100 [224]) Preisänderungen vorbehalten