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German Pages 362 [363] Year 2009
Mittelalterliche Poetik in Theorie und Praxis
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Mittelalterliche Poetik in Theorie und Praxis Festschrift für Fritz Peter Knapp zum 65. Geburtstag Herausgegeben von
Thordis Hennings Manuela Niesner Christoph Roth Christian Schneider
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-020544-2 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
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Vorwort Am 6. Juli 2009 vollendet Fritz Peter Knapp sein 65. Lebensjahr und tritt in den ,Ruhestand‘. Entlastet von den oft aufreibenden Alltagsgeschäften eines Hochschullehrers, wird er sich dann verstärkt seinen bevorzugten Forschungsgebieten widmen, gegenwärtig vor allem dem interkulturellen Austausch zwischen französischer und deutscher Literatur. Zu seinen Arbeitsgebieten gehören darüber hinaus neben der Sprachgeschichte vornehmlich die Textedition und -übersetzung, regionale Literaturgeschichtsschreibung, Gattungs- und Motivgeschichte, die Werkinterpretation und die Literaturtheorie, wie das Publikationsverzeichnis am Ende dieses Bandes ausweist. Aus diesen Schwerpunkten haben wir für eine Festschrift, die einen möglichst thematisch kompakten Band ergeben sollte, das liebste Themengebiet des Jubilars, die Gattungspoetik, gewählt. Um dieses Rahmenthema aber nicht zu speziell zu gestalten, haben wir es nicht auf die Behandlung diskursiver literaturtheoretischer Äußerungen beschränkt, sondern den Bereich praktischer Anwendung poetologischer Konzepte einbezogen. Wir hoffen, Fritz Peter Knapp auf diese Weise Freude zu bereiten und damit ein wenig unseren Dank für jahrelange Förderung und Unterstützung ausdrücken zu können. Allen Beiträgern danken wir herzlich und gedenken dabei insbesondere des im Mai verstorbenen großen Altgermanisten Eberhard Nellmann. Unser Dank gilt darüber hinaus Herrn Dr. Heiko Hartmann, Cheflektor beim de Gruyter-Verlag, der diese Festschrift ohne jeden Zuschuß von dritter Seite in das Verlagsprogramm aufgenommen hat. Ohne sein außergewöhnlich freundliches Entgegenkommen hätten wir unser Vorhaben nicht realisieren können. Heidelberg, im Juli 2009
Die Herausgeber
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Inhalt Manuela Niesner Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Traditionsgebundenes Erzählen in Bibelepik, Geschichtsepik und Heldenepik Johannes Janota wunter und wunne. Zur Poetik im Heptameron der ,Wiener Genesis‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Peter von Moos Lucet Alexander Lucani luce. Eine retractatio zur ,Alexandreis‘ des Walter von Châtillon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Joachim Heinzle Traditionelles Erzählen. Zur Poetik des ,Nibelungenliedes‘. Mit einem Exkurs über „Leerstellen“ und „Löcher“ . . . . . . . .
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Poetologie der Sage Hartmut Kugler Wilhelm Grimms Nibelungenkolleg. Zur Unterscheidung des Historischen vom Mythischen und zur Naturgeschichte der Sage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Elisabeth Lienert Heldensage als Exemplum. Zur Anspielungsrezeption der Dietrichsage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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X
Inhalt
Gattungsübergreifendes Erzählen Geert H. M. Claassens Gattungschaos im ,Seghelijn van Jherusalem‘: An die Grenzen der Interpretabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Helmut Birkhan Rust’avelis ,Held im Pantherfell‘ aus europäisch-mediävistischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Fiktionalität Benedikt Konrad Vollmann Pulchrum et verum convertuntur. Zur Wahrheit des Ästhetischen in der Poetik des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ren P rennec Fiktionales Erzählen im Transferprozeß. Zu Hartmanns ,Erec‘ und zum ,Parzival‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Cora Dietl Kunst vom Stahlroß bis zum Metallkügelchen. Gibt es ein poetologisches Konzept in Ulrichs von Zatzikhoven ,Lanzelet‘? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
193
Elisabeth Schmid Erzählung und ,senefiance‘. Über das Herstellen von Komplexität in Vers und Prosa am Beispiel des ,Prosalancelot‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
205
Poetologische Reflexion in deutscher Literatur Peter Kern Bemerkungen zum Prolog der ,Krone‘ Heinrichs von dem Türlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
231
Inhalt
XI
Eberhard Nellmann Gedaehte man ir ze guote niht. Der memoria-Topos im Tristanprolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
241
Manfred G nter Scholz Perspicuitas – Gottfrieds Stilideal? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Lyrik Anton Touber Die Internationalisierung des Minnesangs. Übernahme und Weiterentwicklung am Beispiel des Vasallitätsmotivs und der Kanzonenform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
273
Friedrich Wolfzettel Höfische couverture, Subjektivität und die Sprache des Körpers. Zu den ,Cent ballades d’amant et de dame‘ von Christine de Pisan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
285
Theodor Nolte König und Sänger. Zur Interaktion zwischen Sangspruchdichter und Herrscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
301
Epigramm Tomas Tomasek Epigramm und Rätsel. Zum Verhältnis zweier Sprachspiele . .
315
Fritz Peter Knapp: Schriftenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Autoren- und Werkregister (Christoph Roth) . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung Manuela Niesner In dem überaus umfangreichen und breit gefächerten wissenschaftlichen Œuvre des hier Geehrten bildete die mittelalterliche Poetik von Anfang an einen Schwerpunkt. Schon die 1970 erschienene Dissertation: „Rennewart. Studien zu Gehalt und Gestalt des ,Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach“1 behandelt ausführlich die gattungspoetische Stellung des ,Willehalm‘ zwischen Epos und Roman und die unterschiedlichen Voraussetzungen historischen und fiktionalen Erzählens. Mit der Poetologie von Vergleich und Exempel in der lateinischen Epik beschäftigt sich die Habilitationsschrift (1975).2 Ein Band in der Reihe „Erträge der Forschung“ ist der Gattung des Tierepos gewidmet (1979).3 1980 eröffnete der grundlegende Aufsatz „Historische Wahrheit und poetische Lüge“4 eine Reihe von Studien zum Status der Fiktionalität in der poetischen Theorie und der Praxis der Erzählliteratur des Mittelalters, die 1997 in einer ersten Bilanz unter dem Titel „Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik“ zusammengeführt wurden5 . Ein zweiter Band mit weiteren, in der Zwischenzeit erschienenen und neuen Untersuchungen folgte 20056. Im Rahmen des 1999 von Fritz Peter Knapp geleiteten Potsdamer Symposions referierten und diskutierten Vertreter der Deutschen, Romanischen, Englisch-amerikanischen und Mittellateinischen Philologien, der Geschichtswissenschaften und der Skandinavistik über „Historisches und fiktionales Erzählen im Mittelalter“7. 2006 und 2007 erschienen weitere Aufsätze zur Fiktionalität8, einem Thema, das Fritz Peter Knapp auch mehrfach in universitären Lehrveranstaltungen aufgegriffen hat. 1 2 3 4 5 6 7 8
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1. 2. 4. 38. 10. 16. 13. 130, 139.
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Den Ertrag seiner vielfältigen, hier nur in Auswahl genannten Forschungsarbeiten zur mittelalterlichen Poetik gebührend zu würdigen, würde den Rahmen dieser Einleitung sprengen. Lediglich drei aus der subjektiven Sicht der Verfasserin zentrale Punkte seien hervorgehoben: 1. Besondere Dankbarkeit gebührt Fritz Peter Knapp für seine Darstellungen zur lateinischen philosophisch-theologischen und poetologischen Theorie9, die sich dem Literaturwissenschaftler auch aufgrund mancher begrifflichen Unschärfe oft nur schwer erschließt, ihn jedoch einzig vor der verbreiteten anachronistischen Rückprojektion eines modernen Literaturverständnisses zu bewahren und historisch adäquate theoretische Kategorien bereitzustellen vermag, mit deren Hilfe Traditionalität oder Innovation in mittelalterlicher Literatur erfaßt und beurteilt werden können. 2. In der Diskussion um die Kriterien fiktionalen Erzählens stellte Fritz Peter Knapp der von Walter Haug hervorgehobenen romanhaften Symbolstruktur das Märchenhaft-Wunderbare zur Seite.10 Dessen fundamentale Andersartigkeit gegenüber dem auf göttliches Eingreifen zurückgehenden miraculum, dem mirabile als staunenerregender Naturerscheinung und dem durch Beherrschung geheimer Naturgesetze oder Dämonenbeschwörung bewirkten magischen Wunder besteht darin, daß es nicht erklärt wird, weil es im fiktionalen Kontext keiner Erklärung bedarf und somit Wahrheitsindifferenz signalisiert. Der moderne Literaturwissenschaftler muß sich demgegenüber immer wieder in Erinnerung rufen, daß das göttliche, natürliche oder magische Wunder im Weltbild des Mittelalters grundsätzlich zur historia gehörte und daß sich somit Märchenhaftigkeit als Signum von Fiktionalität nicht 9 Vgl. u. a.: Similitudo [SV 2] (S. 41 – 107 und passim), Historische Wahrheit und poetische Lüge [SV 38], Historie und Fiktion in der spätscholastischen und frühhumanistischen Poetik [SV 68], Wirklichkeit und Fiktion in der lateinischen Version des arabischen ,Poetik’-Kommentars [SV 85]; Sein oder Nichtsein. Erkenntnis, Sprache, Geschichte, Dichtung und Fiktion im Hochmittelalter, in: SV 16, S. 225 – 256; SV 130. 10 Vgl. u. a.: Historische Wahrheit und poetische Lüge [SV 10 (38)], S. 59 f.; Der Gral zwischen Märchen und Legende [SV 83]; Historiographisches und fiktionales Erzählen in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts [SV 16], S. 32 – 35; Gattungstheoretische Überlegungen zur sogenannten märchenhaften Dietrichepik [SV 103]; Märchenhaftes Erzählen im Mittelalter. Die Anverwandlung des Märchens im Artusroman, insbesondere in der ,Krone‘ Heinrichs von dem Türlin, in: SV 16, S. 191 – 224.
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am Stofflich-Motivlichen festmachen, sondern nur als „Geistesbeschäftigung“ nach André Jolles begreifen läßt.11 3. In Auseinandersetzung mit der von Walter Haug formulierten Antithese von Historie und Fiktion: „Wahrheit als etwas, was vorgegeben ist, gegenüber einer Wahrheit, die einem aufgegeben ist“12, plädiert Fritz Peter Knapp für eine stärkere Differenzierung.13 Weder sei Wahrheit im Rahmen der fiktionalen Dichtung vollständig verfügbar gewesen, noch habe sich Geschichtsdichtung generell auf die bloße Wiedergabe einer vorgegebenen Wahrheit beschränkt. historia könne höchstens im Extremfall als das genaue Gegenteil von Fiktion angesehen werden, wenn nämlich „Heilsgeschichte nacherzählt und nach anerkannten kirchlichen Autoritäten gedeutet wird“14. Wurde jedoch die biblische Grundlage verlassen, sah sich auch der Verfasser von Geschichtsdichtung vor die Aufgabe gestellt, die historia zu deuten und zu werten. Vor dem Hintergrund der scholastischen Ontologie und Erkenntnistheorie formuliert Knapp die Leistung Chrétiens de Troyes folgendermaßen: Chrétiens ,Entdeckung der Fiktionalität‘ (Haug) im 12. Jahrhundert bedeutet […] nicht die Befreiung von jeder vorgegebenen Wahrheit, sondern von der Wahrheit des Seins. Dieser Schritt ist wahrhaft revolutionär genug zu nennen.15
* Gemäß der komparatistischen Arbeitsweise von Fritz Peter Knapp haben zu dem vorliegenden Band neben Germanisten auch Vertreter der Romanischen, Niederländischen und Mittellateinischen Philologie beigetragen. Die Aufsätze dokumentieren in vielfältiger, im einzelnen unterschiedlicher, im ganzen gleichwohl weder vollständiger noch auch nur repräsentativer Weise die Relevanz der von Fritz Peter Knapp verfolgten wissenschaftlichen Fragestellungen und die Wirkung seiner Arbeiten. Der Schwerpunkt liegt auf der mittelalterlichen Erzählliteratur; dazu kommen Beiträge zur Lyrik und zum Epigramm. 11 Knapp [SV 16 (103)], S. 50. 12 Walter Haug: Die Entdeckung der Fiktionalität, in: ders.: Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 2003, S. 128 – 144, hier S. 134. 13 Knapp, Sein oder Nichtsein [SV 16], S. 252 – 256. 14 Knapp, Sein oder Nichtsein [SV 16], S. 253. 15 Knapp [SV 16], S. 14 (Vorwort).
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Die ersten drei Beiträge befassen sich mit Beispielen traditionsgebundenen Erz hlens in den Gattungen Bibelepik, Geschichtsepik und Heldenepik. In der Bibelepik stellt sich der Freiraum des Erzählens als ein besonders eingeschränkter dar; die Bindung des Autors an seine wahrheitsverbürgenden schriftlichen Quellen scheint allenfalls Auswahl und – in bescheidenem Maße – Variation als Gestaltungsmittel zuzulassen. Johannes Janota weist jedoch darauf hin, daß das positive Urteil der Forschung über die erzählerische Leistung des Verfassers der ,Wiener Genesis‘ hierzu in einem gewissen Spannungsverhältnis stehe. Janota nimmt dies zum Anlass, die poetischen Techniken des Autors exemplarisch am Heptameron-Teil zu untersuchen. Über die kompositorische Anordnung und „gezielte Auswahl aus der Kommentartradition“ (S. 25) hinaus ermittelt er als besonderes poetisches Verfahren die Verwendung der quellengestützten Leitbegriffe wunter und wunne, mit deren Hilfe der Verfasser der ,Wiener Genesis‘ das Erzählte deute und in einen Gegenwartsbezug stelle: Während wunter den Rezipienten auf das in der sichtbaren Welt, insbesondere in der Gestalt des Menschen, erfahrbare Wunderbare der Schöpfung hinweise, bezeichne wunne ihm erstens die verlorene Paradiesesfreude, zweitens deren flüchtigen und ambivalenten (da tröstlichen oder auch verführerischen) Nachklang im irdischen Leben und weise drittens auf die zu erstrebende himilwunne voraus. Die Poetologie stehe somit im Dienst der pastoralen Absicht des Anonymus. Peter von Moos plädiert in seinem Aufsatz zur ,Alexandreis‘ Walters von Châtillon dafür, über dem in der neueren Forschung zu Recht herausgearbeiteten integumentalen Sinn der herrscherlichen Hybris die Würdigung des Kriegshelden durch Walter nicht ganz aus den Augen zu verlieren, zumal auch die mittelalterlichen Rezeptionszeugnisse der ,Alexandreis‘ eine zumindest teilweise positive Auffassung der Alexandergestalt erkennen lassen. Ziel Walters war nach von Moos vermutlich eine anspruchsvolle, vielschichtige Deutung der historia für ein gebildetes Publikum. Unter diesem Aspekt entdeckt von Moos in der imitatio und aemulatio der ,Pharsalia‘ Lucans eine neue Tiefendimension, die er durch zahlreiche Beispiele belegt. Der für den Helden selbst ,tragische‘, gleichwohl aber dem sinnvollen Plan der Vorsehung folgende Untergang wird zur erbaulichen „Lektion christlicher Werte“ (S. 53). In der „Kultur der Mehrdeutigkeit“, in der von Moos die ,Alexandreis‘ verortet (S. 57), erscheint daneben aber auch die typologische Deutung Wieners (Philipp II. August als „neuer Alexander“) als eine legitime Möglichkeit.
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Die Vielschichtigkeit des Geschichtsepos Walters von Châtillon, die von Moos hervorhebt, bestätigt die von Knapp postulierte mittelalterliche Auffassung der historia als eines Seienden, das dem Menschen zwar als solches vorgegeben und nicht verfügbar, aber zur Deutung aufgegeben ist; auch dem Verfasser von Geschichtsdichtung bleibt somit trotz der Verbindlichkeit der Fakten ein nicht unbeträchtlicher literarischer Gestaltungsspielraum. Ja selbst die von Janota in der ,Wiener Genesis‘ aufgespürten Leitbegriffe lassen sich noch hier einordnen; zwar steht die Interpretation der biblischen historia dem Verfasser nicht frei, doch bleibt ihm immer noch die Entscheidung darüber, welche Aspekte er aus seiner pastoralen Absicht in den Vordergrund rücken will. Joachim Heinzle macht in seinem Beitrag zur Poetik des ,Nibelungenliedes‘ die Sagenkenntnis des Publikums als poetologischen Faktor geltend. Er sieht den Autor im Spannungsfeld zwischen der Sage, über deren unterschiedliche, dem Publikum wohlbekannte Varianten er sich nicht hinwegsetzen konnte, und den Ansprüchen der buchepischen Verarbeitung auf der Höhe der Zeit um 1200. „Traditionelles Erzählen“ möchte Heinzle diese Poetik heroischer Dichtung nennen. Die im Lied zu beobachtenden Motivationsbrüche erklärt er aus einer nicht abgeschlossenen Integration verschiedener Sagenvarianten durch „Summenbildung“: „Varianten werden nicht einfach ausgeschieden, sondern versammelt und verbunden“ (S. 67). Gerade im gekonnten Überspielen solchermaßen entstandener „Defizienz“ sei die erzählerische Potenz des Autors erkennbar. Heinzle hebt die besondere Verbindlichkeit gerade der mündlich tradierten historia zu Recht hervor: Das Sagenwissen der Rezipienten schränkte den Freiraum des Dichters ein; wollte er das Vorzeitwissen als Basis seines Erzählens nicht entwerten, mußte er die Integration der Auslassung und Verwerfung von Sagenüberlieferung vorziehen. Die Motivation des überlieferten Geschehens stand ihm allerdings frei. Wo er auf diese verzichtet, obwohl sie ohne Veränderung der Fakten möglich gewesen wäre, läßt sich dies nicht durch die Verbindlichkeit der Sage erklären – die Hypothese, hierin nicht unvollständige Integration, sondern künstlerische Absicht zu sehen, behält somit grundsätzlich ihre Berechtigung. Heinzle ist dies durchaus bewußt, wie der seinen Beitrag abschließende Exkurs erkennen läßt: Die Klärung der Frage, welche Unbestimmtheiten im ,Nibelungenlied‘ als „Leerstellen“ im Sinne Wolfgang Isers (also Angebote an die Bewertungskompetenz der Rezipienten) und welche als „Löcher“ (Defekte) zu deuten sind,
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erfordere eine Kombination des traditionalistisch-analytischen und des individualistisch-unitarischen Forschungsansatzes. Die Beiträge von Hartmut Kugler und Elisabeth Lienert befassen sich unter unterschiedlichen Aspekten mit der Poetologie der Heldensage. Hartmut Kugler nimmt mit Wilhelm Grimm ihre mythischen Ursprünge, Elisabeth Lienert dagegen ihre rhetorische Funktionalisierung in den Blick. Während die moderne Forschung die Entstehung der Nibelungensage auf historische Wurzeln zurückführt, sah Wilhelm Grimm in ihr zuallererst einen mythischen Ausdruck menschlichen Denkens, der sich zwar zur konkreten erzählerischen Ausgestaltung sekundär historischer Elemente bedient, genuin aber von diesen unabhängig ist. Hartmut Kugler zeigt dies in seinem Beitrag über Wilhelm Grimms Nibelungenkolleg. Kugler verwahrt Grimm gegenüber dem Vorwurf, die Ideologisierung des ,Nibelungenliedes‘ zum Nationalepos der Deutschen vorbereitet zu haben; für ihn zeichnet sich in Grimms Vorlesung statt des Konstrukts eines deutschen vielmehr das eines europäischen Altertums ab. Vor allem aber habe das eigentliche Interesse Wilhelm Grimms dem „Kern“, in moderne Terminologie übersetzt: der „genetischen Struktur“ der Sage gegolten (S. 94). Kugler begreift dieses Sagenverständnis Wilhelm Grimms in Analogie zum Sprachverständnis Jacob Grimms, dem nach M. Herrlich ein Organismuskonzept zugrundeliegt, das eine Trennung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften obsolet erscheinen läßt. Das gemeinsame Prinzip, das sowohl die Sprach- als auch die Sagenentwicklung prägt, ist die „Natur des menschlichen Denkens“ (S. 92). In den konkreten Textversionen der Sage manifestiert sie sich immer nur partiell. Obgleich eine späte Neubelebung des Mythos für Grimm denkbar ist, bewahren die ältesten Fassungen „die ursprüngliche Kraft der Sage“ (S. 87) aus seiner Sicht am reinsten. Die Überführung der Sage in Exempla untersucht Elisabeth Lienert in ihrem Aufsatz zur Anspielungsrezeption der Dietrichsage. In dem gattungsübergreifend aus zahlreichen europäischen Literaturen des 6.–16. Jahrhunderts zusammengetragenen Beispielmaterial der Bremer Dietrich-Testimonien begegnet die „Schwundstufe“ (Reduktion des Exempels auf den Namen, S. 99) weit häufiger als die beispielhafte Erzählung. Ob die Nennungen nun auf die historischen Gestalten oder die Sagenhelden anspielen, so kommt es nach Lienert dabei in der Regel nicht auf Historizität oder Fiktionalität an, sondern auf den mit Hilfe des Exemplums aufgerufenen „intersubjektiv gemeinsamen Wissenshori-
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zont“ (S. 99). Die Exempelfiguren aus der Dietrichsage werden illustrativ, implizit wertend oder persuasiv eingesetzt. Von Einzelfällen abgesehen, geschieht dies v. a. im thematischen Kontext von Tapferkeit und Gewalt und in der Struktur des Vergleichs, oft in der Form der hyperbolischen Überbietung, variiert auch als Gleichsetzung oder Nachbenennung. Weniger häufig ist die negative Variante der NichtErreichbarkeit des Vorbilds, die eine starke Affinität zu Ironie und Komik aufweist. Der Bezug auf Einzelepisoden oder konkrete Texte ist insgesamt selten. Auch die „Problematisierung und Ambivalenz der Heldenkonzeptionen“ (S. 112) fallen einer weitgehenden Nivellierung zum Opfer. Die „Eigentopik der Heldensage“ unterscheide sich damit „strukturell und pragmatisch“ nicht mehr „von biblischen oder antiken Exempla“ (S. 113). Beispielen gattungs bergreifenden Erz hlens gelten die Beiträge von Gert Claassens und Helmut Birkhan. Kreist die Auseinandersetzung beim ,Nibelungenlied‘ um die Frage der gelungenen oder (partiell) gescheiterten buchepischen Verarbeitung der Sage, so ist es im Falle des von Geert Claassens untersuchten ,Seghelijn van Jherusalem‘ die mit den üblichen Gattungskategorien nicht faßbare Erzählfaktur, die den Literaturwissenschaftler „an die Grenzen der Interpretabilität“ führt. Der Autor des um die Mitte des 14. Jahrhunderts entstandenen mittelniederländischen Versromans ist unbekannt, gelegentlich wird das Werk Loy Latewaert zugeschrieben. Obgleich die Forschung im einzelnen eine Vielzahl von Quellen verschiedenster Gattungen (u. a. auch aus der lateinischen Chronik- und Traktatliteratur) aufgewiesen hat, wird die Erzählstruktur des Romans vorrangig durch hagiographische Traditionen und Einflüsse des profanen Ritterromans geprägt; entsprechend changiert das in seiner Grundstruktur als Biographie Segelijns angelegte Werk nach Claassens zwischen den Gattungen der Heiligenvita und des Ritterromans und provoziert für den modernen Interpreten die Frage, ob dieses „Gattungschaos“ das wohlkalkulierte Ergebnis eines eigenwilligen poetologischen Konzepts oder im Gegenteil Ausdruck einer unbekümmerten ,Lust am Fabulieren‘ ist (S. 139). Das mühelose Ineinanderweben von Sakralem und ,Profanem‘ ergibt zwar eine starke religiöse Aufladung des Textes, resultiert aus der Sicht von Claassens jedoch keineswegs – wie in der Forschung zum Teil angenommen – aus einer über die Kritik an Exzessen hinausgehenden „grundsätzliche[n] Ablehnung des höfischen Wertekodex“ (S. 136). Als Schlüssel für eine Gesamtinterpretation komme vielleicht das Motiv der
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sieben Fragen des Seghelijn von Jherusalem in Betracht: Das Bemühen des Menschen, aktiv ein Gleichgewicht zwischen göttlicher Allmacht und Schicksal einerseits und freiem menschlichem Willen andererseits herzustellen, wäre dann der zentrale Grundgedanke, von dem aus sich bis zu einem gewissen Grad eine paradigmatische Kohärenz des Textes erkennen ließe. Auch im Falle von Rust’avelis ,Held im Panterfell‘ gestaltet sich die Gattungsbestimmung schwierig. Zentrale Themen dieses um 1200 entstandenen Hauptwerks der georgischen Literatur sind die Freundschaft und die überaus differenziert dargestellte höfische Liebe. Helmut Birkhan bestimmt das Werk als ein sentimentalisches Epos mit ausgeprägten romanhaften Zügen. Solche seien die langen Schilderungen feinsinniger Empfindungen, eine relative Handlungsarmut, insbesondere das Fehlen von detaillierten Schlacht- oder Zweikampfbeschreibungen und von epischen Vorausdeutungen, sowie der buchliterarische Stil. Typische Gattungsmerkmale des Epos sind dagegen die Verwendung einer sangbaren Strophe aus vier Langzeilen sowie die Formelhaftigkeit der Sprache. Der Verfasser arbeitet in seinem Beitrag die thematischen, motivlichen und gedanklich-konzeptionellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie die charakteristischen Besonderheiten des ,Helden im Panterfell‘ im Vergleich mit dem französischen und deutschen höfischen Roman sowie mit dem europäischen Minnesang heraus und gelangt zu dem Ergebnis, daß sich in der Orientierung an den Werten von Dienst und Liebe über den weiten geographischen Abstand hinweg erstaunliche Gemeinsamkeiten feststellen lassen. Mit dem Problem der Fiktionalit t befassen sich Benedikt Konrad Vollmann, René Pérennec und Cora Dietl. Benedikt Konrad Vollmanns Beitrag gilt der Bewertung der Fiktion in der mittelalterlichen Poetik unter der zentralen Fragestellung, inwieweit das poetae-mentiuntur-Verdikt die volkssprachlichen Dichter in Bedrängnis bringen konnte. Vollmann unterscheidet drei Typen von Texten: I. Poesie der reinen Wahrheit, die wahren Stoff mit Hilfe poetischer Mittel im Sinne des delectabile „lustvoller“ gestalte. Dies könne entweder durch die Kombination von Vers und rhetorischem Schmuck (Ia) oder allein durch Versifizierung (Ib) geschehen; II. Poesie der verhüllten Wahrheit, die Fiktion einsetze, um das delectabile zu steigern, wobei entweder ein transzendenter (IIa) oder ein innerweltlich-moralischer (IIb) Wahrheitskern in Erfindung eingekleidet werde; III. Poesie ohne Wahrheit,
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die Fiktion mit ausschließlich unterhaltender Funktion einsetze. Im Hinblick auf den Lügenvorwurf konnten nach Vollmann die Typen IIb und III problematisch erscheinen. Die Fiktionalität des Typus IIb sei aber spätestens seit der Mitte des 12. Jahrhunderts akzeptiert, die Wahrheitsbeteuerungen seien dann nur noch als traditioneller Topos wiederholt worden, und selbst der Vormarsch des III. Typus sei unaufhaltsam gewesen. Abschließend spricht sich Vollmann gegen eine dichtungstheoretische Überfrachtung der mittelalterlichen Texte aus; er bestreitet, daß sich „die volkssprachlichen Dichter […] den Weg zu ihren Werken – speziell zum Artusroman – hätten mühsam erkämpfen müssen“ (S. 117). Vollmanns Dreiergliederung der fabula (IIa, IIb, III) entspricht dem auf Macrobius beruhenden poetologischen System, wie es sich bei Bernardus (Silvestris?) findet.16 Für die Fiktionalität des Chrétienschen Typs ist hier wie auch in anderen poetologischen Modellen des Hochmittelalters freilich kein Platz vorgesehen, da sie nicht auf den reinen Unterhaltungswert der fabula zu reduzieren, aber auch nicht als integumentum zu verstehen ist, sondern eine eigene, vom Dichter geschaffene, selbstzweckhafte Sinnhaftigkeit für sich beansprucht.17 Dieser Anspruch aber war ein viel größeres Skandalon als das Erzählen von Erfundenem zum Zweck der Belehrung oder auch nur der Unterhaltung. Der Frage, wie die deutschen Nachdichter Hartmann und Wolfram auf den innovatorischen Impuls des Chrétienschen Fiktionalitätskonzepts reagiert haben, geht Ren P rennec nach. Im ,Erec‘ folgt Hartmann Pérennecs Analyse zufolge in den ersten zwei Dritteln des Romans weitgehend der poetologischen Grundkonzeption Chrétiens. Allerdings beobachtet Pérennec, daß der deutsche Autor an einzelnen Stellen das Erzählte gegen seine Vorlage in der Vergangenheit veran16 Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Darmstadt 21992, S. 230 f.; Knapp [SV 10 (38)], S. 44 – 59. 17 Haug [Anm. 16], S. 104 f. und 231; Knapp, Sein oder Nichtsein [SV 16] S. 254: „Die Romane von Erec und Yvain hätten im poetologischen System höchstens an derjenigen Stelle Platz finden können, an welcher Isidor und Dominik [sc. Gundissalinus] die zur Ergötzung erfundenen fabulae, die das Volk erzählt, einreiht. Chrétien konnte aber nicht das geringste Interesse daran haben, daß seine Romane als Ammenmärchen, welche der Apostel Paulus dringend zu meiden empfahl (I Tim 4,7), firmierten.“ Vgl. dazu ausführlich Knapp [SV 10 (38)], hier besonders S. 59 – 64.
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kert, und vermutet aufgrund dessen, daß Hartmann Chrétiens Konzept zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollständig reflektiert hatte, da er noch defensiv um die Glaubwürdigkeit der Fiktion bemüht sei. Im letzten Drittel des Romans zeige sich hingegen in der Einbeziehung des impliziten Publikums, das eine Mitautorschaft beansprucht, eine „theatralisierende Radikalisierung des fiktionalen Erzählens“ (S. 186) 18. Dennoch habe Hartmann den Märchenschluß Chrétiens durch einen der Schulpoetik entsprechenden Romanschluß ersetzt. Die Akkomodation des Fiktionalitätskonzepts verlaufe bei Hartmann somit in einem Prozeß, der erst im ,Iwein‘ zum Abschluß gelange. Dagegen sei Wolfram in seinem ,Parzival‘ stärker der „Tradition des (pseudo-)geschichtlichen Erzählens“ (S. 187) verhaftet, was sich besonders deutlich in der Berufung auf chronikalische Quellen am Anfang und am Ende des Romans zeige. Im Werkinneren stellt sich Wolframs Erzählstil für Pérennec tendenziell als „Resultante der narrativen Vektoren Fiktion und Historie“ (S. 188) dar. Durch die Umwandlung der Änigmatisierung des ,Conte du Graal‘ in eine rezipientenfreundlichere Verhüllungs- und Enthüllungstechnik und die metafiktionale Begründung dieses Verfahrens im Bogengleichnis nehme er den Impuls Chrétiens produktiv auf. Ob auch der ,Lanzelet‘ Ulrichs von Zatzikhoven eine interpretierbare, die Einzelepisoden mehr oder weniger schlüssig integrierende Erzählstruktur besitzt oder nicht, ist in der Forschung umstritten. Cora Dietl sucht vor diesem Hintergrund nach poetologisch deutbaren Stellen in Ulrichs Roman. Ein Symbol der Erzählkunst sieht sie in dem schwer zu interpretierenden Wilden Ballen (V. 8106 – 8129). In Entsprechung zu der unnatürlichen Wahrnehmungsperspektive des beim Näherkommen immer kleiner erscheinenden, sich zuletzt zu einer Kugel verdichtenden Gegenstands sei auch die Dichtung nicht an die natürliche Perspektive gebunden. Damit verknüpft Dietl die Beschreibung der Wahsenden Warte (V. 5126 – 5146), die sie als Ausdruck der freien Erzählerregie in der mati re de Bretagne versteht. Die Unverrückbarkeit des Wilden Ballen bezieht sie auf die Standfestigkeit des 18 Hier wäre freilich genau zu beachten, worauf sich die Mitautorschaft jeweils bezieht; nach meinen Beobachtungen geht es dabei stets um funktionale Fiktionalität, vgl. M. N.: Das Wunderbare in der conjointure. Zur poetologischen Aussage des Feimurgan-Exkurses in Hartmanns ,Erec’, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 137 (2008), S. 137 – 157, hier S. 138 – 140.
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Erzählers gegenüber Neidern und Tadlern, wie sie im Prolog zum Ausdruck komme. In der Eingangssentenz erkennt sie einen Bezug auf Christus und die Apostel, eine Anspielung, durch die sich Ulrich ironisch zum Märtyrer seines Erzählstils stilisiere. Diesen führt Dietl auf ein „verneinendes“ poetologisches Konzept zurück: Ulrich nehme für sich in Anspruch, weder der Poetik eines Artusromans noch der eines Lancelotromans oder einer Exempelgeschichte zu folgen. Er postuliere dagegen die „Freiheit der Fiktion und Freiheit von vorgeformten Konzepten“ (S. 202). Doch verträgt sich ein solchermaßen lediglich negativ definiertes poetologisches Konzept mit der Annahme einer anspruchsvollen poetologischen Symbolik? Die von Dietl vorgeschlagenen Interpretationen der Wahsenden Warte und des Wilden Ballen werden von der Forschung gegen andere Deutungsmöglichkeiten abzuwägen sein; ebenso wäre zu klären, inwieweit sich das hier angenommene poetologische Konzept von der reinen Unterhaltungsfiktionalität (nach Vollmanns Typ III) unterscheidet. Im Falle des ,Prosalancelot’ ist sich die Forschung uneins, ob das Werk als Geschichtsdichtung (Knapp19) oder als fiktionaler Roman (Haug,20 Ziegeler21, Schmid [S. 207, Anm. 6]) verstanden sein will. Seit dem frühen 13. Jahrhundert gelingt in Frankreich die Etablierung der volkssprachlichen Prosa, indem diese am Wahrheitsanspruch der lateinischen Prosa zu partizipieren und sich von der der Lüge verdächtigten Versdichtung abzugrenzen vermag. Das Interesse Elisabeth Schmids gilt den jeweiligen bedeutungskonstituierenden literarischen Strategien in Vers und Prosa, die sie in einem Vergleich des Karrenritterromans Chrétiens mit der entsprechenden Erzählsequenz des ,Prosalancelot‘ herauszuarbeiten sucht. Nach Schmid bildet sich in einer Ästhetik der Kargheit eine „Komplexität neuer Ordnung“ (S. 208) heraus. An die Stelle der metaphorischen Bedeutungsfülle Chrétiens trete die „Dualität von Vorausdeutung und Erfüllung“ und die „Polarität von Verheimlichung und Enthüllung“ (ebd.). Das Geschehen werde in Zeit und Raum verankert, der Status der Romanhelden durch Bewährungspro19 Knapp [SV 138]. 20 Haug [Anm. 12], S. 142 f. 21 Hans-Joachim Ziegeler: Schrift und Wahrheit im deutschen ,Lancelot‘, in: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte des Mittelalters, hg. von Ingrid Kasten/Werner Paravicini/René Pérennec, Sigmaringen 1998 (Beihefte zur Francia 43), S. 201 – 213.
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bem exakt evaluiert, der Wissensvorsprung des Lesers gezielt als Deutungsebene eingesetzt. Die Ergebnisse Schmids erinnern in auffallender Weise an Pérennecs Beobachtungen beim Vergleich des ,Parzival‘ Wolframs mit dem ,Conte du Graal‘ Chrétiens. Das Rätselhafte bzw. Inkommensurable der Vorlage wird jeweils durch eine Erzählstruktur ersetzt, die durch ein Nacheinander von Andeutung bzw. Verhüllung und Erfüllung bzw. Enthüllung Komplexität und Spannung erzeugt, das Textverständnis jedoch deutlich stärker steuert. Diese Tendenz, die im Falle des ,Prosalancelot‘ naturgemäß noch sehr viel ausgeprägter ist als bei Wolfram, der zwar das allzu Änigmatische, nicht aber das Metaphorische vermeidet, könnte mit der (graduell gestaffelten) Abkehr von der Fiktionalität zugunsten einer Orientierung an der historia zusammenhängen. Prominente Beispiele poetologischer Reflexion in der deutschsprachigen Erzählliteratur behandeln die Studien von Peter Kern, Eberhard Nellmann und Manfred Günter Scholz. Peter Kern befaßt sich textkritisch mit den ersten 39 Versen des poetologischen Prologus praeter rem zur ,Krone’ Heinrichs von dem Türlin, in dem es um die Rechtfertigung der rede geht. Kern erläutert in Auseinandersetzung mit der Ausgabe und der Übersetzung von Knapp sein eigenes, z. T. abweichendes Textverständnis und schlägt in einigen Fällen eine andere Textherstellung vor. So versteht er gunst in V.10 nicht, wie der Kontext nahelegt, als „Mitteilungsbereitschaft“, sondern als „Gunst“, da hier die bereitwillige Aufnahme durch das Publikum zur Voraussetzung des Nutzens von Dichtung erklärt werde. Während Kern einzelne Konjekturen Knapps für nicht erforderlich hält und statt dessen der Leithandschrift folgt, will er die Verse 22 – 28 und 33 – 35 als spätere Zusätze athetieren. So ergebe sich ein klarer, auf den Vergleich des Dichtens mit dem vehten und vliehen konzentrierter Gedankengang. Dem Interpreten mag es grundsätzlich erlaubt sein, auch „letztlich nicht beweisbare Hypothesen [zu] wagen“, falls ein hinreichend „kohärente[r] Textsinn“ (S. 240) nicht anders zu gewinnen ist.22 Der Editor
22 Mir persönlich scheinen auch die beim Verständnis der Verse 33 – 35 verbleibenden Schwierigkeiten einen solchen Eingriff nicht zu rechtfertigen. Was hätte zudem einen Bearbeiter veranlassen sollen, in einen ursprünglich einfachen Gedankengang einzugreifen, um ihn „unmotiviert“ durch Vergleiche und Metaphern „aus völlig disparaten Bildbereichen“ zu unterbrechen (S. 238)?
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jedenfalls darf sich dem „verzweifelten Ringen um den Text“23 kaum auf solche Weise entziehen. Eberhard Nellmann greift die in der Forschung umstrittene Frage auf, ob der memoria-Topos im Prolog des ,Tristan‘ spezifisch auf den Nachruhm der Dichter zu beziehen sei oder ob er vielmehr das gedenken an alle Personen, die Gutes tun, zur Pflicht erkläre. Nellmann untersucht die bisher wenig beachtete Tradition des Topos und zeigt, daß die erstgenannte Bedeutung in der mittelalterlichen Literatur zunächst nur spärlich nachzuweisen ist; zwar werde der Topos in diesem Sinne v. a. in Frankreich seit dem 11. Jahrhundert wieder verstärkt aufgegriffen, doch lassen die Verse Gottfrieds keine Anklänge an die Belege erkennen. Dagegen finde sich der memoria-Topos in der Bedeutung: „Die Dichter haben die Aufgabe, die Erinnerung an das Gute zu bewahren“, schon bei Horaz in Formulierungen, die denen des ,Tristan‘-Prologs in wesentlichen Punkten entsprechen. Im Mittelalter werde er insbesondere in der Exordialtopik historiographischer und hagiographischer Texte aufgegriffen. Obgleich er in der volkssprachigen Literatur nur vereinzelt begegne24, liege die Übereinstimmung der ,Tristan‘-Verse mit dieser Tradition offen zutage, allerdings mit der Besonderheit, daß Gottfried die Aufgabe des Erinnerns nicht explizit den Dichtern zuordne, sondern mit einer allgemeinen Formulierung (man) auch die Rezipienten einbeziehe. Nellmann folgert hieraus, daß sich Gottfried mit der Verwendung des Topos selbst den Anschein eines historiographus gebe, und zieht eine Verbindung zu Positionen der neueren Forschung, die die Nähe des Romans zur Geschichtsdarstellung betonen.25 Die Möglichkeit einer zusätzlichen, spezifizierenden Deutung der Eingangssentenz im Hinblick auf den Autor Gottfried und die Protagonisten seines Romans hält Nellmann für keineswegs abwegig. Die Frage, was dann mit dem „Guten“ gemeint sei, das die Welt Tristan und Isolde verdankt, gibt er der weiteren Forschung zur Klärung auf. Manfred G nter Scholz unternimmt das Wagnis, eine Grundüberzeugung der Altgermanistik in Frage zu stellen: die Fronstellung Gottfrieds von Straßburg gegen Wolfram von Eschenbach, wie sie nach herrschender Meinung insbesondere aus Gottfrieds polemisch gewürzter Profilierung seines Stilideals im Literaturexkurs seines ,Tristan‘ heraus23 Knapp [SV 136], S. 279. 24 Zu weiteren Belegen im ,Prosa-Lancelot‘ vgl. Knapp [SV 16 (138)], S. 171 – 174. 25 Vgl. dazu auch Knapp [SV 10 (38)], S. 31 f.
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gelesen werden kann. Scholz stellt zunächst dar, daß die Bedeutung des in der Antike hochgehaltenen Stilideals der perspicuitas im Mittelalter stark zurückgegangen sei: Zum einen sei es im wesentlichen nur aus der ,Rhetorica ad Herennium’ und einer kurzen Bemerkung bei Isidor bekannt gewesen, zum anderen habe das Mittelalter gerade die Suche nach einem verborgenen Schriftsinn bzw. die Allegorie hoch eingeschätzt. Gottfried von Straßburg beziehe sich im Literaturexkurs des ,Tristan’ mit den Ausdrücken l ter, reine, cristall n zwar offenbar auf das Ideal der perspicuitas. Doch lassen die von Gottfried im Falle Bliggers gebrauchten Formulierungen ebenso wie eine Konfrontation des Stilideals mit Hartmanns komplexer Beschreibungstechnik etwa im ,Erec‘ bei Scholz den Verdacht aufkommen, daß auch in dieser Passage des Literaturexkurses Ironie im Spiel sein könnte. Erst recht erscheine es fraglich, daß Gottfrieds Erzähler, der die künstlerischen Errungenschaften der Kollegen am Schluß des Exkurses für sich zurückweise, dieses Stilideal für sich selbst in Anspruch nehme. Obgleich die Vereinbarkeit übertragenen, insbesondere allegorischen Sprechens mit dem Ideal der Durchsichtigkeit in der Forschung kontrovers beurteilt werde, scheinen komplexe Allegorien (wie v. a. die Minnegrotte) kaum zu diesem Ideal zu passen, ebensowenig die überlangen Satzperioden, wie sie Gottfried gerade im Zusammenhang mit der Zurückweisung der Gaben des Helikon gebrauche. Diese und andere bei Gottfried zu beobachtenden Stileigenheiten werden vielmehr von Quintilian der obscuritas zugeordnet. Eben dieser nähere sich Gottfried mithin an – so die Schlußfolgerung von Scholz, deren Konsensfähigkeit in der Forschung der Verfasser skeptisch beurteilt. Jedenfalls erfordern die von ihm vorgebrachten Argumente eine differenzierte Auseinandersetzung. Poetologische Probleme mittelalterlicher volkssprachiger Lyrik untersuchen Anton Touber, Friedrich Wolfzettel und Theodor Nolte. Anton Touber hebt Parallelen zwischen den Vertretern der Scuola Siciliana und dem Minnesang hervor und setzt beide gegen die Liebeslyrik der Trobadors und Trouvères ab. Gemeinsamkeiten zwischen der im Umfeld des Stauferkaisers Friedrich II. entstandenen Liebesdichtung der Scuola und dem Minnesang sieht er neben der weitgehend melodielosen Überlieferung v. a. in einer Reduzierung der „Gattungen, Themen, Motive und Strophenformen“ (S. 275). So werden die coblas unisonans, die tornada und der senhal weder in der Scuola noch im Minnesang aufgegriffen. Das Vasallitätsmotiv werde im Minnesang deutlich zurückhaltender eingesetzt, wirke aber in der Scuola sehr an-
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regend; hier finde sich sogar die Umkehrung des Vasallitätsverhältnisses (die Frau als Liebesvasall des Mannes). In einem zweiten, formanalytisch argumentierenden Teil thematisiert der Verfasser die Generierung neuer lyrischer Formen auf der Basis der Kanzonenstrophe. Heinrich von Veldeke ist ihm ein frühes Beispiel für die Rezeption der religiösen lateinischen Strophenform der Sequenz des Stabatmater im Rahmen der Kanzone. Während die Trobador- und Trouvèrelyrik des 12. und 13. Jahrhunderts fast vollständig auf diese Form verzichtet, war sie im deutschen Minnesang des 13. Jahrhunderts bei Gottfried von Neifen und anderen äußerst beliebt, wie die zahlreichen Nachweise Toubers belegen. Abschließend demonstriert der Verfasser an einem Beispiel, daß trotz des Verdikts von Friedrich Gennrich mit der Entstehung neuer Strophenformen durch Addition zu rechnen sei, da die metrische Addition sich unter Umständen auch in der Melodie nachweisen lasse. Friedrich Wolfzettel zeigt in seiner Untersuchung der 1409/10 entstandenen ,Cent ballades d’amant et de dame‘, wie Christine de Pisan die höfische Sprache als couverture (d. h. „Schutz, Tarnung; Verstellung“) „zugleich benützt und entlarvt“ (S. 288). Indem sie ihren lyrisch-dramatischen Balladenzyklus deutlich als höfische Auftragsarbeit und Rollenpoesie kennzeichne, schaffe sie den Rahmen für eine nicht autobiographische, vielmehr experimentelle Subjektivität. Die dramatisierende Umformung der autonomen höfischen Lyrik in einen sich im zeitlichen Nacheinander entfaltenden Dialog ermögliche eine Narrativierung, in der die idealisierte höfische Liebe auf ihre „Tauglichkeit als Lebensentwurf“ überprüft werde (S. 289). Die Dialektik der couverture höfischer Rhetorik zeigt sich für Wolfzettel darin, daß sie dem Mann zunächst als Mittel der Verführung und dann zur Verschleierung seiner Untreue diene, während sie der Frau den diskreten Ausdruck psychischer Authentizität ermögliche. In der Mitte des Zyklus werde die topische Sprache vorübergehend in die Sprache wahrer körperlicher Leidenschaft übergeführt. Mit dem Verfall der Liebe setze sich jedoch die Topik wieder durch, während die Sprache der körperlichen Wahrheit nun auf das Leiden der Dame beschränkt werde. Die Entwicklung des Sprechens vom Dialog zum Monolog demonstriere das schließliche Scheitern der Kommunikation. Der Tod, vom Mann als Topos im Rahmen seiner erpresserischen Werbungsstrategie eingesetzt, stehe für die Frau als Realität am Ende. Zwar finde Christine de Pisan nicht zu einer individualisierten Sprache wie die Lyrik der italienischen Frührenaissance, doch gewinne sie durch die Dialektik der couverture der höfischen Sprache eine neue Dimension ab.
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Theodor Nolte untersucht den Gebrauch der Er-Form sowie der Ihr- und der Du-Form bei der Bezugnahme auf den Herrscher in der Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts, angefangen bei Walther von der Vogelweide, und zeigt die Abhängigkeit der jeweiligen Anredeform von der Vortragssituation, dem Verhältnis zwischen Sänger und Herrscher und der Zielrichtung der Texte auf. In den panegyrischen und politischen Strophen auf Herrscher und Gönner überwiegt nach Nolte im 13. Jahrhundert die indirekte Bezugnahme in der dritten Person, die auch eine Einbeziehung des Publikums in der Wir-Form ermöglichte und sich mithin gut für den Vortrag vor dem anwesenden Herrscher eignete. Von den Formen der direkten Anrede erscheine bei allgemeinpolitischen Inhalten, insbesondere in der Paneyrik, die Ihr-Form, während die Du-Form v. a. in gönner- bzw. herrscherkritischen Strophen als fiktive Anrede begegne. Daraus zieht Nolte Schlußfolgerungen für die Deutung von Walthers 2. Reichstonstrophe: Philippe könne keinesfalls als Vokativ gemeint sein, da das Duzen in einer solchen hochpolitischen Face-to-Face-Situation ganz unangebracht gewesen sei; vielmehr werden nach Nolte in der Strophe die deutschen Fürsten (angesprochen als tiutschiu zunge) aufgefordert, Philippe (Dat.) die deutschen Königskrone aufzusetzen. Tomas Tomaseks Studie schließlich gilt der Gattungsdefinition des Epigramms. Anhand von Beispielen aus der Griechischen Anthologie definiert er das Epigramm durch ein bestimmtes Zusammenspiel von Textstruktur und Textfunktion, und zwar als „Kurztext mit freier Illokution in Versform über ein Thema“ mit der Funktion, treffende Bemerkungen zum Thema abzugeben (S. 318). Manche Epigramme können nach Tomasek auch als Sentenzen aufgefaßt werden, wenn für den Rezipienten die Illokution des Konsensabrufs in den Vordergrund trete. Sei das Thema des Epigramms dagegen verschlüsselt, werde es zum Versrätsel mit der Funktion einer Prüfungsfrage. Doch durch die Lösung des Rätsels verschiebe sich die Textfunktion, werde das Rätsel zum Epigramm. Bei Martial findet sich erstmals das Epigramm mit Überschrift. Die unter dem Namen des Symphosius überlieferten epigrammatischen Versrätsel sind dann als verschlüsselte Beschreibungen gefaßt, deren Gegenstand die inscriptio nennt. Im Barock begann man, das Lösungswort dem Text nachzustellen. Abschließend weist Tomasek auf neue Möglichkeiten eines spannungsvollen Bezugs zwischen Rätselgedicht und Überschrift hin, wie sie im 20. Jahrhundert entdeckt wurden.
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In den von Tomasek vorgestellten Rätselepigrammen wird Wahrheit in das Gewand lügenhafter Fiktion gekleidet, wird Seiendes nicht zuletzt durch den konzentrierten Gebrauch übertragener Sprache unkenntlich gemacht, um den Rezipienten herauszufordern, durch intellektuellen Scharfsinn und literarische Kompetenz das Rätsel zu entschlüsseln, den Sinn im Unsinn zu erkennen. Die Fiktion der literarischen Kleinform legitimiert sich – als kunstvolle Verhüllung der Wahrheit. * Die Herausgeber hoffen, daß Fritz Peter Knapp, der stets den disziplinären und interdisziplinären Dialog sucht, aus den hier vereinten Studien manche Anregungen für sein eigenes wissenschaftliches Bemühen schöpfen möge.
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Traditionsgebundenes Erzählen in Bibelepik, Geschichtsepik und Heldenepik
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wunter und wunne Zur Poetik im Heptameron der ,Wiener Genesis‘
Johannes Janota Fritz Peter Knapp bringt die Faktur der ,Wiener Genesis‘ bündig auf den Nenner: „allenthalben besteht des Autors Eigenleistung nur in der Auswahl und geringfügigen Variation der reichen, im Kern konstanten Bibelexegese der Kirchenväter […] und des auf ihnen aufbauenden Mittelalters. So gut wie alle wesentlichen Züge haben sich aus ihr herleiten lassen, so daß die Bedeutung literarischer Quellen wie der spätantiken lateinischen Bibelepen dagegen weit zurücktritt.“1 Der minutiöse Kommentar von Josef Eßer zum Heptameron der ,Wiener Genesis‘ bestätigt Knapps Urteil geradezu Vers für Vers.2 Zu dieser peniblen Anbindung des Werks an die Bibel wie an die theologische Wissenstradition zwar nicht im Widerspruch, aber doch in einer offenkundigen Spannung steht die „Erzählfreude“, die dem Autor der ,Wiener Genesis‘ in der neueren Forschung durchweg attestiert wird.3 1
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Knapp [SV 9], S. 106; zur ,Wiener Genesis‘ vgl. S. 102 – 109. Zur weiteren Information vgl. etwa Ursula Hennig: ,Altdeutsche Genesis‘, in: 2Verfasserlexikon 1 (1978), Sp. 279 – 284; Gisela Vollmann-Profe: Genesis (Altdeutsche Genesis), in: Literaturlexikon, hg. von Walther Killy 4 (1989), S. 110 f.; dies.: Wiederbeginn volkssprachiger Schriftlichkeit im hohen Mittelalter (1050/60 – 1160/70), Tübingen 21994 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit I/2), S. 65 – 67; Dieter Kartschoke: Geschichte der deutschen Literatur im frühen Mittelalter, München 32000 (dtv 30777), S. 285 – 289. Literatur bei Francis G. Gentry: Bibliographie zur frühmittelhochdeutschen Dichtung, Berlin 1992 (Bibliographien zur deutschen Literatur des Mittelalters 11), S. 112 – 123. Josef Eßer: Die Schöpfungsgeschichte in der ,Altdeutschen Genesis‘ (,Wiener Genesis‘ V. 1 – 231). Göppingen 1987 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 455). Man wünschte sich eine so einläßliche Kommentierung für die übrigen Teile der ,Wiener Genesis‘. Knapp [SV 9], S. 109: „naive Erzählfreude mit reichen theologischen Zutaten“; Vollmann-Profe: Wiederbeginn [Anm. 1], S. 67: „Er [der Autor] erzählt lebendig, anschaulich, unprätentiös“; Kartschoke [Anm. 1], S. 288: „Hier wird wirklich nacherzählt, hier findet Bibelepik statt wie durchaus nicht in jedem Text, der dieser christlichen Kunstübung subsumiert wird.“ Weiter geht Max
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Beide Befunde lassen nach dem poetischen Verfahren des Autors fragen, das ihm über die metrische Formgebung4 wie über die stilistisch-rhetorischen Gestaltungsmittel5 hinaus Möglichkeiten eröffnete, ohne Verletzung der normativen biblischen und theologischen Vorgaben seine narrative Kompetenz zu entfalten. Wenn sich die nachfolgenden Beobachtungen hierzu vor allem auf das Heptameron (einschließlich Paradiesgarten) der ,Wiener Genesis‘ beschränken, so hat dies mehrere Gründe: Da nur eine genaue Analyse zu tragfähigen Ergebnissen führen kann, ist eine Auswahl aus dem Gesamtwerk im vorgegebenen knappen Rahmen eines Aufsatzes unerläßlich, um vorschnellen Pauschalierungen zu entgehen. Das Heptameron als eine geschlossene Einheit bietet sich für die Fragestellung nicht nur deswegen an, weil dazu der erschöpfende Kommentar Eßers vorliegt, an dem sich die Eigenleistung des Autors Schritt für Schritt überprüfen läßt, sondern weil in diesem Werkteil die narrativen Momente – über die biblische Vorlage hinaus – besonders stark ausgeprägt sind. Es spricht daher einiges dafür, daß die dabei gewonnenen Einsichten in das poetische Verfahren des Autors für das ganze Werk
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Wehrli: Sacra Poesis. Bibelepik als europäische Tradition (1963), in: ders.: Formen mittelalterlicher Erzählung. Aufsätze, Zürich 1969, S. 63: „lehrhafte, anekdotische Ausblicke, genrehaftes Ausmalen verraten Interessen und Neugierden bei Dichter und Leser, die bereits das Bedürfnis selbständiger weltlicher Erzählung, einer weiteren Erschließung der Schöpfungswelt andeuten“ (S. 62). Dazu vor allem Ursula Hennig: Untersuchungen zur frühmittelhochdeutschen Metrik am Beispiel der ,Wiener Genesis‘, Tübingen 1968 (Hermaea NF 24.). – Für nicht überzeugend halte ich die zahlenkompositorischen oder gar zahlensymbolischen Strukturierungsversuche etwa von Maria Therese Sünger: Studien zur Struktur der Wiener und Millstätter Genesis (Mss. Wien 2721 und Klagenfurt 6/19), Klagenfurt 1964 (Kärntner Museumsschriften 36) oder Dieter Hensing: Zur Gestaltung der ,Wiener Genesis‘. Mit Hinweisen auf Otfrid und die frühe Sequenz, Amsterdam 1972 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 2). Vgl. etwa Alfred Weller: Die frühmittelhochdeutsche Genesis nach Quellen, Übersetzungsart, Stil und Syntax, Berlin 1914 (Palaestra 123); Nachdruck: New York/London 1977. Darauf aufbauend Siegfried Beyschlag mit seinem Versuch, die ,Wiener Genesis‘ erstmals als durchkomponiertes Kunstwerk zu verstehen: Die Wiener Genesis. Idee, Stoff und Form, Wien und Leipzig 1942 (Akademie der Wissenschaften in Wien. Philos.-hist. Klasse. Sitzungsberichte 220/3). Zum Sprachstil weiterhin grundlegend Helmut de Boor: Frühmittelhochdeutscher Sprachstil, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 51 (1926), S. 244 – 274 und 52 (1927), S. 31 – 76 ( jeweils passim); Wiederabdruck in: ders.: Kleine Schriften 1, Berlin 1964, S. 21 – 96.
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gültig sind, auch wenn sie – etwa bei der Ausdeutung des Jakobsegens (V. 2714a–2970b) 6 – um weitere Gestaltungsmittel zu ergänzen sind. Ausgangspunkt der Untersuchung ist die geradezu sklavische inhaltliche Bindung des Autors an schriftliche Quellen, deren Wahrheitsgehalt ihm offenkundig ebenso über alle Zweifel erhaben war wie der biblische Bericht. Aus diesem Grund bin ich geneigt, die Berufung des Autors auf diu buoch im Prolog – als ich diu buoch h re zelen (V. 3b) 7 – nicht auf die Bibel allein, sondern auf „sämtliche benutzten Quellen“8 als Autoritäten zu beziehen. Denn diese im prologus praeter rem programmatisch angekündigte Fixierung allein auf diu buoch eröffnete dem Autor eigene Gestaltungsmöglichkeiten im selbstverantworteten Beiziehen von autoritativen Quellen neben der Bibel, in der selbstbestimmten Auswahl der ihm bekannten, über die Bibel hinausgehenden Texte, in der kompositorischen Anordnung bis hin zu Kürzungen (auch des biblischen Textes), Ausweitungen oder gar Umstellungen (wie etwa beim Engelsturz) einschließlich der Entscheidungen, bei welcher Gelegenheit und in welchem Umfang er von diesen Lizenzen Gebrauch machte. Damit diese Auswahl nicht willkürlich und unprofessionell erfolgte, waren Prinzipien notwendig, die einerseits einen eigenen Skopos bei der Darstellung erlaubten, die aber andererseits nicht im 6
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Zur unterschiedlichen Intensität der allegorischen Ausdeutung hier und sonst in der ,Wiener Genesis‘ vgl. Hartmut Freytag: Die Theorie der allegorischen Schriftdeutung und die Allegorie in deutschen Texten besonders des 11. und 12. Jahrhunderts. Bern/München 1982 (Bibliotheca Germanica 24), S. 59 – 79; vgl. auch Ursula Hennig: Zur Gattungsbestimmung frühmittelhochdeutscher alttestamentarischer Dichtungen, in: Studien zur frühmittelhochdeutschen Literatur. Cambridger Colloquium 1971, hg. von L. P. Johnson (u. a.), Berlin 1974, S. 136 – 150 (hierzu S. 141 – 143). Zitiert wird nach der Edition von Kathryn Smits: Die frühmittelhochdeutsche Genesis. Kritische Ausgabe mit einem einleitenden Kommentar zur Überlieferung, Berlin 1972 (Philologische Studien und Quellen 59). Zur leichteren Identifizierung der Zitate und Stellenangaben behalte ich die Langverszählung von Smits bei, obwohl ich mit Hennig [Anm. 4] von Kurzversen als metrischem Gerüst des Werks ausgehe. Wie üblich, markiere ich (bezogen auf die Ausgabe von Smits) den Anvers mit a, den Abvers mit b und setze einen Schrägstrich zwischen den Kurzversen. So schon Weller [Anm. 5], S. 185, Anm.1. Trotz einer gewissen Offenheit der Formulierung ist wohl eher an die biblischen Bücher (Großschreibung von „Heiligen“) zu denken, wenn Knapp [SV 9], S. 102 den Vers übersetzt: „wie ich die Heiligen Schriften erzählen höre“. Zur Forschungsdiskussion über die Formulierungen die buoch/daz buoch in der ,Wiener Genesis‘ vgl. die Übersicht bei Eßer [Anm. 2], S. 91 – 93.
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Widerspruch zur biblischen und theologischen Tradition standen: daz ich chunne reden / als ich diu buoch h re zelen (V. 3a/b). Die Verantwortung, aber auch das Risiko des Autors gründen in diesen Auswahlund Veränderungsprinzipien und ihrem kompetenten Gebrauch. Besonders deutlich zeigt sich dieses Risiko darin, daß der Autor die Erschaffung der Engel (V. 6a-17b) vor die Weltschöpfung (V. 48a–231b) setzte, obwohl die allgemeine (wenn auch nicht ausschließliche) theologische Lehre des 11./12. Jahrhunderts – gestützt auf die Aussagen der ,Genesis‘ (1, 3: In principio creavit Deus caelum et terram; 1, 8: Vocavitque Deus firmamentum caelum) – von einer simultanen Schöpfung ausging.9 Durch diese Umstellung mit dem daran anschließenden Bericht von der Rebellion Luzifers und seiner Anhänger (V. 20a–27b) mit dem nachfolgenden Engelsturz (V. 28a–39b) eröffnete sich der Autor die Möglichkeit, die Erschaffung des Menschen dadurch zu begründen, daß der Engelchor, der durch den Engelsturz freigeworden war, mit Menschen wieder aufgefüllt werden sollte: Gott sprach er wolte machen einen man / n ch s nem bilde get n, / daz der wuocher br hte / unz er den ch r erfulte (V. 46a–47b). Der Autor folgt mit diesem Argument zwar der theologischen Tradition,10 aber auf diese Weise rückt der Fall der Engel wie der spätere Sündenfall der Menschen als auffällige, vom Autor verantwortete Doppelung, hinter der zudem als bestimmendes Motiv die superbia 11 steht, in ein bedenkliches Licht: In beiden Fällen wird der Plan durchkreuzt, den got der guote (V. 45a) mit der Erschaffung der Engel und der Menschen vorhatte. Diesen Eindruck verstärkt noch die eingeschobene Szene, in der die Engel vor der Weltschöpfung Gott auf seine Bitte hin den Rat geben, den verlassenen 9 Vgl. hierzu Eßer [Anm. 2], S. 99 – 101 mit Hinweis auf Vertreter der Simultanwie der Prioritätstheorie: es „hatte sich im 12. Jh. die Simultantheorie bei allen lateinischschreibenden Autoren durchgesetzt. Auf dem IV. Laterankonzil (1215) wurde sie zur offiziellen Lehre der Kirche erhoben […], ohne daß die Prioritätslehre damit endgültig unterdrückt worden wäre“ (S. 101). 10 Vgl. die Nachweise bei Eßer [Anm. 2], S. 167 – 170. 11 V. 17b: an ime [Luzifer] hob sich alerÞst ubermuot; der ubermuot des Teufels steht nicht nur hinter dem Sündenfall im Paradies, sondern bedroht seitdem die Menschen: Ettelichen man / let der Satanas bewellen, / chÞren ab der guote / mit starchem ubermuote (V. 444a–445b; vgl. V. 551b). Der ubermuot steht daher hinter dem Turmbau zu Babel (774b). Zum superbia-Motiv vgl. Eßer [Anm. 2], S. 129 – 131. Für Stellennachweise vgl. generell Roy Wisbey: Vollständige Verskonkordanz zur Wiener Genesis. Mit einem rückläufigen Wörterbuch zum Formenbestand, Berlin 1967.
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Chor aus den eigenen Reihen aufzufüllen:12 daz er z allen den ch ren / die ime d geh rsam w ren / s vil engele n me / daz s n dienest d gare w re (V. 43a–44b). Und eine letzte Zuspitzung erhält die skizzierte Blickrichtung schließlich dadurch, daß Gott diesem Rat nicht folgt, sondern gegen den ubermuot des Teufels den Menschen als Gottes Ebenbild schaffen will (Duo der tiufel durch ubermuot / wesen wolte same got [V. 264a/ b]; duo worht er [Gott] den man / n ch s neme bilede get n [V. 267a/b]; deme tiefel ze itewizzen, / daz er s n Þre solte besitzen [V. 269a/b]; daz ter ch r wurd erfullet / den der tiefel fl s durch ubermuot [V. 272a/b]), der Mensch aber gerade an diesem ubermuot scheitert, der Ursünde verfällt und den ubermuot seitdem unentwegt fortpflanzt. Selbstverständlich lag dem Autor bei seiner Komposition der (weitgehend tradierten) Versatzstücke ein solcher Gedankengang völlig fern, aber das Risiko eines Mißverständnisses kann nicht ausgeschlossen werden, auch wenn im weiteren Verlauf der doppelte Fall die Möglichkeit bot, den Unterschied zwischen der ewigen Verstocktheit der gefallenen Engel in ubermuot und der heilsgeschichtlichen Chance des Menschen herauszuarbeiten, auf die Liebe Gottes als Erlösungszusage mit Reue und Buße in diemuote zu antworten.13 Bemerkenswert dabei ist, daß durch ein poetologisches Prinzip, nämlich das der Doppelung (Schaffung der Engel – Erschaffung des Menschen; Fall der Engel – Sündenfall der Menschen), zwar die Heilsgeschichte verdeutlicht, aber zugleich die Möglichkeit einer Irritation nicht ausgeschlossen werden kann. Ein solches Risiko zeichnet sich in der anschließenden Schilderung von der Erschaffung der Welt und des Menschen nicht ab, weil sich der Autor dabei fast durchgängig14 an die Darstellung der Genesis und an die Erläuterungen der theologischen Kommentartradition hält. Dennoch gelingt es ihm dabei, durch Stich- und Leitwörter, durch die gezielte Auswahl aus der Kommentartradition und durch die unterschiedliche Intensität bei ihrer Berücksichtigung eigene Akzente zu setzen, für die er als Autor des Werks die Verantwortung trägt: Auch wenn er sich dabei in den einzelnen Punkten jeweils auf die anerkannte Lehre berufen kann, erhält seine Genesis-Dichtung über die Formgebung hinaus eine eigene Faktur, die im Blick auf die paränetische und pastorale
12 Für die Ratszene ist keine Quelle belegt; vgl. Eßer [Anm. 2], S. 164. 13 Vgl. dazu die Stellen- und Literaturhinweise bei Eßer [Anm. 2], S. 169 f. 14 Zu den Abweichungen beim ersten und zweiten Schöpfungstag vgl. die Übersichten bei Eßer [Anm. 2], S. 172 und 182.
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Zielsetzung von rhetorischen und poetologischen Entscheidungen geprägt ist. Gleich der prologus ante rem – dem gotes wuntere ist niweht gl ch (V. 4b) – rückt das Stichwort wunter in eine exponierte Stelle: Der Hinweis auf die Unvergleichlichkeit der göttlichen Wundertaten schließt nicht nur den Prolog ab, sondern öffnet mit dem anschließenden Eintritt in das Schöpfungswerk Gottes den Blick auf „das Wunderbare der göttlichen Schöpfungstat. Das Sechstagewerk in seiner Gesamtheit dient eigentlich nur dazu, diesen Satz nach verschiedenen Seiten zu beleuchten und auf diese Art zu beweisen.“15 Die Erschaffung der Engel und ihre Ordnung in zehen ch re (V. 7a) zeigt die erste Wundertat Gottes; denn er schuf sie, obwohl es ihm an nichts mangelte: Ane got en ist niweht mangel (V. 5a). Ebenso steht die Weltschöpfung unter dem Stichwort wunter: Vile michel ist daz gotes wunder (V. 56a), weil sich daran die Allmacht Gottes zeigt: vil gewaltich ist unser treht n (V. 55b). Der Autor mag bei diesem kommentierenden Einschub zwischen dem ersten und zweiten Schöpfungstag von Psalm- und anderen Zitaten des klösterlichen Stundengebets geleitet worden sein,16 aber die Herausstellung allein der Engel- und Weltschöpfung unter dem Stichwort wunter ist seine Eigenleistung. Sie sticht trotz der Rückbindung an die Tradition17 so heraus, daß Hensing sogar geneigt war, in gotes wunder „aufs genaueste das Thema des ganzen Buches und seines Stoffes“ zu erkennen, weil „die Erschaffung der Engelchöre, in die aufgrund des Luzifersturzes die ganze Menschheitsgeschichte als Chorersatzgeschichte hineingehört, noch nicht abgeschlossen ist, daß also die Erschaffung und Vollendung der Engelwelt das übergreifende Thema des ganzen Stoffes ist.“18 Diese Auffassung, die nicht zuletzt durch die pointierte Vorausnahme der Engelerschaffung und des Engelsturzes vor der Weltschöpfung samt Erschaffung des Menschen gelenkt ist, wurde in der For15 Eßer [Anm. 2], S. 94. 16 Vgl. die Hinweise bei Weller [Anm. 5], S. 60 und Eßer [Anm. 2], S. 95 auf Ps 103, 24 (Quam magnificata sunt opera tua, Domine) und 135, 4 (Qui facit mirabilia magna solus) bzw. auf: Magna et mirabilia opera tua sunt, dominus, deus omnipotens (Apoc 15, 3). 17 Vgl. Beyschlag [Anm. 5], S. 111: „Der Dichter steht bewundernd vor der Größe und dem Schöpfungswerk Gottes, und gewohnt an die preisende Darstellung dieser Dinge, gestaltet er sie in seinem eigenen Werk in dieser gleichen, ihm vertrauten Art.“ 18 Hensing [Anm. 4], S. 32.
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schung m. E. zurecht kritisiert bzw. relativiert.19 Zudem wies Eßer darauf hin, „daß der Begriff wunter ausschließlich in der Urgeschichte verwandt wird (V. 4, 56, 81, 208, 211), danach hingegen fehlt.“20 Aus dieser Beobachtung hat Eßer m. E. freilich nicht die naheliegende und für die paränetische Zielsetzung der Dichtung grundlegende Konsequenz gezogen. Abgesehen vom vorausweisenden Prologschluß (V. 4b: dem gotes wuntere ist niweht gl ch) stehen alle anderen wunter19 Vgl. zusammenfassend Eßer [Anm. 2], S. 167 – 170. Ein starkes, weder von Hensing noch von Eßer erwähntes Argument für den Chorersatz als Werkthema ist die Begründung, die der Autor für die Schaffung des Paradieses und für die Gehorsamsprobe im Zusammenhang mit dem Lebensbaum gibt: Duo wolte unser hÞrre / daz der man in parad so w re unz er s vile chinde / dar inne gewunne, daz ter ch r wurd erfullet / den der tiefel fl s durch ubermuot, daz si denne zen / der tiuren obeze dei f deme boume wurten / d si abe nieht ersturben, unt denne fuoren / zuo den himilisken gn den, d si iemer lebeten, / nehein angest habeten. (270a – 276b) Allerdings zeigt diese Stelle nur, daß die Menschen im Paradies nach einer erfolgreichen Gehorsamsprobe den leeren ch r erfullet hätten, weil sie dem ubermuot der gefallenen Engel nicht erlägen wären. Dieses göttliche Gehorsamsgebot besteht jedoch auch nach dem Ursündenfall weiter und prägt m. E. entscheidend, ganz auf biblischer Grundlage das Gesamtwerk: Die Geschichte Gottes mit den Menschen führt zwar immer wieder vor Augen, daß die Menschen Gott den gebotenen Gehorsam verweigern und daß sie dafür von Gott bestraft werden, aber viel deutlicher wird dabei herausgestellt, daß sich got der guote (V. 2a) dadurch nicht beirren läßt, sondern in seiner Gnade den ungehorsamen Menschen die zusätzliche Möglichkeit eröffnet, sich durch Reue und Buße Gott wieder zuzuwenden und sich mit ihm zu versöhnen. (Noch im Paradies hatte Gott – allerdings erfolglos – Adam und Eva die Chance eingeräumt, im Paradies zu bleiben, wenn sie ihre Schuld bekennen; vgl. V. 380a–383b und 459a–467b.) Auf diese zentrale heilsgeschichtliche Thematik der Dichtung weisen auch Hensing [Anm. 4], S. 60 mit Anm. 31 (S. 208) und vor allem Manfred Zips hin: Göttlicher Heilsplan und menschliches Handeln. Zum Verständnis der Wiener Genesis, in: Österreichische Literatur zur Zeit der Babenberger. Vorträge der Lilienfelder Tagung 1976, Wien 1977 (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 10), S. 297 – 318; zu Zips vgl. auch Eßer [Anm. 2], S. 169 f. 20 Eßer [Anm. 2], S. 95. Eßers Befund ist allerdings zu präzisieren: wunter findet sich auch in der Fügung wunter nemen (V. 837a, 886a, 1184a, 1767a, 1867a, 2205a, 2228a) bzw. mich ist michel wunter (V. 1781a), des mahte si wunter h n (V. 2937b) und des wunder t manech w b ander (V. 894b). Daneben wird wunter zur Steigerung verwendet: vile wunderen starche (V. 690b), vil wunderen gn te (V. 1087b, 1469b) und vile wunteren suozze (V. 1243b). In semantischer Opposition zu gotes wunder stehen dei heidinisken wunter (V. 1666b).
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Stellen nämlich im unmittelbaren Zusammenhang mit der Weltschöpfung: Vile michel ist daz gotes wunder. / er sprach: ,n werde sunder wazzer von der erde, / daz si trukchen werde. diu gruntfeste s gescaffet, / diu steder wole gemachet, diu wazzer d in zwisken rinnen, / sw s si springen.‘ (56a–59b) Duo sprach unser trecht n / – die gn de w ren s n –, er hiez werden vische, / wÞnige unde michele, vogele dem lufte, / wildiu tier der erde, ros unde rinder / unde ander manich wunder die iu nieman nemach erzelen. / er hiez die erde allez daz neren mit dem wuochere unde si b re, / daz si im allem vrume w re als iegeliches nat re w re get n. / er hiez si ez allez biwaren mit ware joch mit reste, mit aller slahte wiste. (78a–85b) er [Adam] scow t al bisunter / die manegen wunter: fihe jouch fogele, / wilde jouch gezogene. er tet ouch goume / wurze jouch boume, michel wunter in habete / daz der fisk in deme wazzere spilete, dere wurme freissam / er nieweht erchom. (208a–212b)
Alle diese Konkretisierungen von Gottes Wundertaten haben eines gemeinsam: Es sind gotes wunder in der sichtbaren und erfahrbaren Welt, die auch nach dem Sündenfall der Ureltern und deren Vertreibung aus dem Paradies bis zum Jüngsten Tag Bestand haben. Nicht nur Adam, sondern alle Menschen können al bisunter die manegen wunter (V. 208) bis in die Gegenwart betrachten und bestaunen. Mit der Fokussierung des Stichwortes wunter auf die Schöpfungsgeschichte weist der Autor nachdrücklich darauf hin, daß Gottes wunderbares Wirken in seiner Schöpfung für alle Zeiten präsent ist – auch und gerade für die Menschen in ihrer Sündenschuld. Darin unterscheiden sie sich von den gefallenen Engeln, für die Gottes Präsenz in der Schöpfung kein gnädiges Angebot ist, im Bewundern von Gottes Wundertaten sich wieder dem Schöpfer zuzuwenden. Die Welt mit allen ihren Wundern hat got der guote (V. 45a) allein für die Menschen geschaffen21 und sie ihnen auch nach dem Sündenfall nicht entzogen. Für sie ist es ein gnädiges Angebot, in der staunenden Bewunderung der Schöpfungswunder die Allmacht Gottes zu erfahren und zu erkennen, daraus Trost zu schöpfen und sich in Reue und Buße der Barmherzigkeit Gottes zuzuwenden. Dafür wollte ihnen der Autor in seiner pastoralen Zielsetzung, die von 21 Hierin mag das entscheidende Motiv des Autors gelegen haben, die Erschaffung und den Sturz der Engel vor die Weltschöpfung zu legen.
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einem unverkennbaren Heilsoptimismus geprägt ist, offenkundig die Augen öffnen. Dieses Anliegen scheint mir auch der Grund für die unerhörte, freilich auf dem medizinischen Wissen seiner Zeit beruhenden Detailfreude bei der ausgedehnten Schilderung von Adams Erschaffen in einer descriptio a capite ad calcem (V. 108a-205b) 22 zu sein: Nicht nur bei der Betrachtung der ihn umgebenden Schöpfung, sondern vor allem im Blick auf den eigenen Körper sollte und konnte der Mensch auch nach dem Sündenfall jederzeit die machtvollen Wundertaten Gottes unmittelbar erfahren.23 In besonderer Weise konkretisiert wird dies bei der Bildung der Hände, die unter den einzelnen Körperteilen am ausführlichsten (V. 132a–148b) berücksichtigt werden. Das Handeln des Menschen begleiten nämlich – daher die Benennung der Funktionen für die einzelnen Finger bis hin zum gerne zitierten minneste[n] finger (V. 146a) – unentwegt seine Hände.24 Dieses stets gegenwärtige Wunderwerk, das sich letztlich den „Händen“25 des gütigen Schöpfers verdankte, erschien dem Autor in seiner pastoralen Absicht offenkundig besonders gut geeignet zu sein, das Nachdenken des Menschen auf Gott als seinen Ursprung und sein Ziel zu lenken. Die detailfreudige, gegenüber der biblischen Quelle geradezu exkurshaft ausgeweitete Schilderung von der Erschaffung Adams als ersten Menschen birgt freilich wieder ein gewisses Risiko in sich: Diese Konkretisierungen stehen nämlich in einer unverkennbaren Spannung zur biblisch begründeten Aussage, daß Gott den Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen habe (V. 46a/b: Gott sprach er wolte machen einen man / n ch s nem bilde get n).26 Besonders deutlich wird dies, als sich der dreifaltige Gott ans Werk macht: Der hÞre werchman / d n ch einen leim nam, als der tuot der z wahsse / ein bilede machet, als brouchet er den leim / swie ez geviel in zwein, 22 Vgl. dazu Eßer [Anm. 2], S. 266 – 401. 23 Das machtvolle Wirken Gottes wird bei der Schöpfung immer wieder hervorgehoben; vgl. die Registerverweise bei Eßer [Anm. 2], S. 513 f. (Gottes Allmacht, Gewalt, Kraft). 24 Nicht zuletzt haben die Hände auch die Folgen des Sündenfalls zu ertragen: Hiuffolter [,Hagebuttenstrauch‘] und dorne / w cheret dir diu erde, / des chr tes muost t dich tragen, / daz muoz t selbe graben (V. 480a–481b). 25 Vgl. daz auch V. 298b: got nam daz w b [Eva] an die hant. 26 Vgl. auch V. 88a/b: N tuon wir ouch einen man / n ch unserem bilidi get n; V. 267a/b: duo worht er den man / n ch s neme bilede get n.
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deme vater jouch deme sune, / der spiritus sanctus al mit ime. ir new ren doch nieht dr : / der eine hÞte namen dr , der tet in s nes vater w sheite / n ch des heiligen geistes geleite z deme leime einen man / n ch s neme bilede get n. D ze deme houbite er bigan / daz bilede mach n: daz houbit tet er sinewel, / z ch uber den gebel ein vel, gab ime guot geb re, / bedacte iz mit h re, gab dem weichen hirne / den gebel ze scirme. (108a – 118b)
Unverkennbar stoßen hier die unterschiedlichen Bedeutungen von bilede als „Ebenbild Gottes“ (V. 114b) und von „geformter Gestalt“ (V. 115b) 27 so hart aufeinander, daß man meinen könnte, Gott eigne die gleiche Körperlichkeit wie dem Menschen – eine Auffassung, die gegen die offizielle theologische Lehrmeinung steht: „Nahezu ausnahmslos beziehen die mal. Theologen die Gottesebenbildlichkeit des Menschen ausschließlich auf dessen Seele, ja Augustinus bezeichnet es sogar als Häresie, den Leib als imago Dei aufzufassen.“28 Natürlich steht der Autor der ,Wiener Genesis‘ hier wie auch sonst völlig außerhalb eines Häresieverdachts, vielmehr nahm er die gewagte Verschränkung der beiden bilede-Bedeutungen im Zusammenhang mit den Konkretisierungen bei der Erschaffung Adams offensichtlich in Kauf, um besonders nachdrücklich auf die göttliche Herkunft des menschlichen Körpers hinzuweisen, dessen Wunderwerk die Menschen auch nach dem Sündenfall an die Macht wie die Zuwendung Gottes erinnern soll. Die pastorale Absicht des Autors ist hier ebenso offenkundig wie bei zwei weiteren hierfür aufschlußreichen Erweiterungen der biblischen Quelle:29 bei der Benennung der Tiere durch Adam und bei der exkursartigen Schilderung der Pflanzenwelt im Paradiesgarten. Der Dichter beläßt es nicht beim schlichten Faktum der Namengebung (Gen 2, 19 f.),30 sondern ergänzt den Vorgang um einen Gegenwartsbezug, der die biblische Vorgabe wiederum konkretisiert: 27 Vgl. neben V. 109b auch V. 200a/b: Duo er [Gott] daz bilede [Adam] Þrlich / gelegete fure sich. 28 Eßer [Anm. 2], S. 236. 29 Beide Erweiterungen beziehen sich auf den Schöpfungsbericht des Jahwisten (Gn 2, 4b–3, 24), der in der Genesis (1. Buch Mose) dem priesterschriftlichen Schöpfungsbericht (Gn 1, 1 – 2, 4a) folgt. 30 (19) Formatis igitur Dominus Deus de humo cunctis animantibus agri et universis volatilibus caeli, adduxit ea ad Adam, ut videret quid vocaret ea; omne enim, quod vocavit Adam animae viventis, ipsum est nomen eius. (20) Appellavitque Adam nominibus suis cuncta pecora et universa volatilia caeli et omnes bestias agri.
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Al daz ter was lebentes, / vliugentes oder gÞntes, wurm oder tiere, / die ch men skiere. die br hte got zuo Adame / daz er in namen g be. den namen den er in duo gab, / den habent si elliu unze an disen h tigen tach. (288a – 291b)
Demnach erinnern sogar die heutigen Tiernamen an das einstige Zusammenwirken von Gott und Mensch, das bis zur Gegenwart Bestand hat.31 In der agrarisch bestimmten Gesellschaft des 11. Jahrhunderts mochte dies ein Appell sein, selbst bei der Nennung der geläufigen Tiernamen den Blick auf den allmächtigen Gott zu wenden, der dem Menschen die Macht gab, die Tiere nach eigenem Gutdünken zu benennen, aber auch über sie zu verfügen (V. 214a–215a). Alle diese Beobachtungen zeigen, daß sich der Autor der ,Wiener Genesis‘ bei der individuellen Gestaltung seines Werks nicht nur vom Prinzip eines Leitbegriffs leiten läßt, sondern vom dezidierten Willen nach einem Gegenwartsbezug. Beide poetologischen Prinzipien stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang: Der Leitbegriff ist so gewählt, daß er nicht auf die biblische Urgeschichte begrenzt bleibt, sondern sich bruchlos und spannungsfrei mit dem Gegenwartsbezug und seiner von der Predigt geleiteten pastoralen Zielsetzung verknüpfen läßt. Noch deutlicher wird das bis in die Gegenwart nachwirkende Schöpfungswerk Gottes bei der Schilderung der Pflanzenwelt im Paradiesgarten erkennbar.32 Dazu trägt nicht zuletzt die Zweiteilung der Schilderung bei. Zunächst richtet sich der Blick nämlich auf einen paradiesischen Zustand, der nach dem Sündenfall für immer verlorengegangen ist: d [im Paradies] wuohs inne / aller obezze wunne, dei wachsent d gn ta / in ieglichem m n de. S daz eine z tg t / daz ander st t, bluot. der r ffe iz nefr ret, / der wint iz ab netr ret, 31 Im Gegensatz zu Hensing [Anm. 4], S. 62 meine ich also nicht, daß es „sich bei dieser kurzen Erzählung wahrscheinlich um eine aus Treue zur biblischen Vorlage übernommene, aber in der Gesamtkomposition unwichtige Notiz“ handelt. 32 Zur Schilderung des Paradiesgartens vgl. Weller [Anm. 5], S. 49 – 53 und die Untersuchung von Rainer Gruenter: Der paradisus der Wiener Genesis, in: Euphorion 49 (1955), S. 121 – 144; Gruenter ist der Meinung, daß der Dichter der ,Wiener Genesis‘ bei der Schilderung des Paradiesgartens zwar den Topos des idealen Ortes (locus amoenus) aufgriff, daß er ihn jedoch durch die Ausgestaltung in der Form „eines heimischen Baumgartens“ (S. 144) individuell und gegenwartsbezogen prägte.
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diu hitze iz nedarret, / nehein snÞ im newirret. Lilia noch r sa / newerdent d nieht b se. aller slahte boume / wahset d sc ne. den der stanch n chumet / neheines mazzes in gezimet: er ist der wunne s sat / daz er ezzen nemach. (235a – 243b)
Der anschließende Pflanzenkatalog expliziert33 zwar konkretisierend diese Freuden des Paradieses, aber im Gegensatz zum vorausgehenden Teil mit der Schilderung der verlustig gegangenen Paradiesesfreuden entfaltet die Vielfalt der Pflanzen als Geschenk Gottes an den Menschen deren gesundheitsfördernde und heilende Kraft bis zur Gegenwart. Wie bei der Betrachtung des eigenen Körpers kann und soll sich der Mensch in seinem täglichen Umgang mit den helfenden und heilenden Pflanzen an den mächtigen und gnädigen Gott erinnern, dessen Fürsorge für die Menschen auch nach dem Sündenfall fortdauert. Steht in den beigezogenen Quellen der medizinische und pharmakologische Nutzen dieser Pflanzen im Vordergrund, so imaginiert der Autor der ,Wiener Genesis‘ in selbstverantworteter Eigenleistung gleichsam einen – in dieser Konkretheit durchaus gewagten34 – Nachgeschmack des Paradieses, der bis heute erfahrbar ist: Zinam n unt zitawar, / galg n unt pheffer, balsamo unt w rouch, / timi m wahset der ouch, mirrun als vil / s man d lesen wil, crocus unt ringele, / tille jouch chonele, mit deme fenechele / diu suoze lavendele, peonia diu guota, / salvaia unt r ta, nardus unt balsam ta, / der stanch wahset s w ta, minz unte epphich, / chres unt lattich, astr za unt w chboum / habent ouch suozen toum. (244a – 252b)
Mit der enumeratio dieser vielfältigen Gottesgeschenke demonstriert der Autor nicht nur die Fürsorge des Schöpfers für die Menschen auch nach ihrer Vertreibung aus dem Paradies, er zeigt auf diese Weise offen33 Auf die explizierende Funktion des Pflanzenkatalogs weist Hensing [Anm. 4], S. 57 hin. 34 Dies schließt auch die zeitgenössischen Namen der Pflanzen ein, die so gebraucht werden, als seien sie paradiesischen Ursprungs. Vgl. zu den Pflanzennamen Oswald Zingerle: Der Paradiesgarten der altdeutschen Genesis. Eine Untersuchung, in: Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Classe der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 112, Wien 1886, S. 785 – 805; für Zingerle besteht kein Zweifel daran, „dass dem Verfasser der Genesis bei Zusammenstellung der einheimischen Pflanzengruppe lediglich die Gartencultur seiner Zeit vor Augen schwebte“ (S. 787).
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kundig auch, daß sich ein Abglanz des Paradieses selbst in das Elend der Welt gerettet hat, wo der Mensch nunmehr von Krankheit und Tod bedroht ist und wo er sich – im manifesten Kontrast zum Paradies – kärglich und sprichwörtlich geworden von Hirse und Kraut ernähren muß.35 Durch die Erinnerung an die Geschenke Gottes, die aus dem Paradies in das irdische Jammertal hinübergerettet wurden, ist der Aspekt der wunne – und damit ein zweiter Leitbegriff – als Folge von Gottes einzigartigem Schöpfungswerk angesprochen, wobei sich wiederum ein charakteristischer Unterschied zwischen der wunne der Engel und der wunne des Paradieses zeigt, das Gott zur Freude des Menschen geschaffen hatte. Merkwürdigerweise spricht der Autor der ,Wiener Genesis‘ im Schöpfungsbericht nicht allgemein von der wunne des Himmels, sondern verknüpft diesen Begriff unmittelbar mit der Erschaffung Luzifers: D hiez er werden einen engel, / der scein z den anderen allen. er was anderer engele wunne, / wante ime got wol gunde wunne in dem himele, / s nes ch res was ein michel menege. (13a – 15b) 36
Als Ort der wunne wird hingegen das Paradies dargestellt.37 Wie wichtig dem Autor die Verbindung von wunne und Paradies offenkundig war, zeigt die Umakzentuierung von Gn 3, 8. Läßt nämlich die Bibel Gott den Herrn in der Abendkühle des Paradieses wandeln (in paradiso ad auram post meridiem), so schreitet er in der ,Wiener Genesis‘ durch die Wonnen des Paradieses: Duo ez duo chom uber mittentach / duo gie der almahtige got hinnen unt ennen / after parad ses wunnen. (372a – 372b) 35 Das zeigt sich bei Kains Landwirtschaft: Er phlanz te s nen garten / mit mislichen chr ten, d er sich mit nerte, / dem hunger sich mit werte. Hirs unt ruobe / w n er ouch uopte. (585a – 587b) 36 Es ist daher nur konsequent, wenn Luzifer die Freuden des Urelternpaares im Paradies als himeliske wunnen bezeichnet, die er verloren hat und die er ihnen so mißgönnt, daß er es zur Übertretung des göttlichen Verbots verführt: Duo der ferw zen / den man sach niezzen die manechfalten gn de / der er wart ne, duo begund er imme erbunnen / der himelisken wunnen. (311a – 313b) Vgl. Peter W. Hurst: The Evocation of Paradise in the ,Wiener Genesis‘ and in the ,Tristan‘ of Gottfried von Straßburg, in: Studien zur frühmittelhochdeutschen Literatur [Anm. 6], S. 215 – 234 (zur Stelle: S. 219; zur ,Wiener Genesis‘: S. 215 – 222). 37 Zum Paradiesgarten und seinen Wonnen vgl. Hensing [Anm. 4], S. 57 – 59.
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Dieser Umakzentuierung entsprechend, wird die Erschaffung des Paradieses, das Gott dann Adam zur Pflege überantwortet, über die Bibel hinaus gleich zu Beginn unter das Signum wunnesam gestellt und anschließend durch die Schilderung der wundervollen Pflanzenwelt (s. o. zu V. 235a – 243b und 244a – 252b) ausgefaltet: Got d n ch began / einen boumgarten phlanzen. der wart file wunnesam, / den hiez er parad sum. in den satz er Adamen, / hiez inen b wen. d wuohs inne / aller obezze wunne. (232a – 235b)
Andererseits bezeichnet gerade der Verlust dieser parad ses wunnen, die der Autor seinem Publikum so eindringlich vor Augen geführt hat, nachdrücklich die Strafe des Urelternpaares für ihren Sündenfall. Der Autorkommentar weist darauf explizit hin: Duo er si dere wunn ne bestiez / ich weiz er si z dem parad se liez vile harte merende / in ditz ellende. Wer mach s n s herte / daz in n ne steche an das herze daz durch s b sen str t / den Adam hÞte unt s n w b al manchunne / sol darben solehere wunne! (500a – 504b)
Des parad ses wunnen sind für die Menschheit auf immer verloren. Dennoch reicht die Erfahrung von wunne – wie bei den Schöpfungswundern – über die Vertreibung aus dem Paradies hinaus bis in ditz ellende. Am deutlichsten wird dies beim Fest nach der erfolgreichen Werbung um Rebecca als künftige Frau Isaacs. Denn dabei imaginiert der Autor eine Freude, die in ihrer Tonlage geradezu an seine Schilderungen der Wonnen im Paradies anklingt: si s zen ze muose / mit vr licheme gech se. d was spil unde wunne / under w ben unde mannen. vone benche ze benche / hiez man all teren w n scenchen. si spilten unde trunchen / unz in iz der sl f binam. (1009a – 1012b)
Sicher zeigt diese Stelle, daß die Zeit der Wonne im ellende zeitlich begrenzt ist (unz in iz der sl f binam), aber unbestritten bleibt dabei auch, daß der Mensch selbst nach dem Verlust des Paradieses zur wunne fähig ist und die Gelegenheit dazu gerne wahrnimmt. So steht auch Jakobs nächtliches Beilager mit Lea (die ihm von Laban an Rahels Stelle untergeschoben wurde) unter dem Vorzeichen der wunne: Jacob und Lia / hÞten ire minne die naht lange / mit chonelicher wunne. (1300a – 1301b)
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Im Rückblick auf den paradiesischen Pflanzenkatalog (s. o. zu V. 235a – 243b und 244a – 252b) scheint es wohl auch nicht zufällig ein – obschon entfernter – Abglanz der wunnen im Paradies zu sein, wenn Josephs Schönheit (sc ne) same diu wunnesame bluome (V. 1866b) ins Auge sticht (V. 1867a: daz si alle wunter nam), obwohl er sich als ambtman (V. 1848b) Potiphars nur von trockenem Brot und Wasser ernährte. Im Vergleich zum ursprünglichen Konzept des Paradieses erscheint – man denke nur an das Welken einer jeden noch so schönen Blume – im ellende das Hochgefühl der wunne freilich nur ein Ausnahmezustand zu sein, dessen Besonderheit es verdient, eigens hervorgehoben zu werden. Das zeigt sich an der überschwenglichen Freude der Brüder Josephs nach ihrer Rückkehr von der zweiten Reise nach Ägypten, wo Benjamin in Geiselhaft saß: Fr lichen si fuoren, / hÞten Benjamin sam ire hÞrren. michele wunne / hine heim brungen, mit mandungen / fur den vater giengen. Judas sprach ime zuo / vile fr l cho: (2488a – 2491b)
Ebenso erfüllt Jakob und die Seinen nach ihrer Übersiedlung nach Ägypten große Freude (V. 2638a/b: Jacob unte s n chunne / was d in michilere wunne), die um so mehr hervorsticht, wenn man an das spätere Los des Volkes Israel in Ägypten denkt. Dagegen erfährt Dan im Jakobsegen, daß er mit lutzeler wunne (V. 2841b) über die Seinen gebieten werde; denn aus Dans Sippe gehe einst der Antichrist hervor: Der gihurnter wurm / daz ist des Antchristes zorn, der giborn wirt vone Dan / s s ich gelesin h n, der zi jungist chumit / s diu werlt ente nimit. (2863a – 2865b)
Auf der Erde ist wunne anders als im Paradies nur eine zeitlich begrenzte Erfahrung. Des parad ses wunnen sind auch nicht mehr zurückzugewinnen. An ihre Stelle tritt nunmehr die himilwunne manichvalt (V. 1040a),38 die Abraham, aber ebenso seinem Sohn Isaac nach dem Tode zuteil wird: diu sÞle fuor ze gn den / zuo ire vater Abrahame. d vand er gn d ne vil, / aller mandunge spil. (1704a – 1705b)
Wenn der Autor der ,Wiener Genesis‘ sowohl Abraham wie Isaac bereits unmittelbar nach deren Tod die himilwunne manichvalt genießen läßt, dann weicht er erkennbar von seiner biblischen Quelle ab, die hier 38 Vgl. auch V. 1048a: d ist fride unde wunne.
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nur vom Hinscheiden der beiden hochbetagten biblischen Väter berichtet.39 Ihre sachliche Begründung findet die Aussage des Autors natürlich im Gleichnis vom reichen Mann und vom armen Lazarus (Lk 16, 19 – 31), wo berichtet wird, daß Lazarus von Engeln in Abrahams Schoß getragen wurde, während der Prasser in inferno leiden muß.40 Die intentionale Begründung für diese Abweichung steht dagegen im Zusammenhang mit einem kommentierenden Einschub, der sich an das Publikum richtet: Swer dar zuo ime wirt besceret / vile wole des ding feret. er nimt in in s nen barm, / d newirt er niemmer arm. er sizzet d same suozze / sam in Abrahames sc zze, wand ime der himilisken wunne / d niemmer zerinnet. (1707a – 1710b) 41
Daß der Autor dabei tatsächlich an das lukanische Gleichnis gedacht hat, zeigt die sprichwörtlich gewordene Wendung sam in Abrahames sc zze, die sich innerhalb der Bibel nur hier findet.42 Diese implizite Bezugnahme auf das Lazarus-Gleichnis mahnt nicht nur die Gläubigen, ihr Heil ebenfalls in Abrahames sc zze zu suchen,43 sie fördert zugleich einen
39 Gn 25, 8: Et deficiens mortuus est Abraham in senectute bona [25, 7: centum septuaginta quinque anni] provectaeque aetatis et plenus dierum congregatusque est ad populum suum. – Gn 35, 28 f.: Et completi sunt dies Isaac centum octoginta annorum; / consumptusque aetate mortuus est et appositus est populo suo senex et plenus dierum. 40 Lk 16, 22 f.: Factum est autem ut moreretur mendicus, et portaretur ab Angelis in sinum Abrahae. Mortuus est autem et dives, et sepultus est in inferno. / Elevans autem oculos suos, cum esset in tormentis, vidit Abraham a longe, et Lazarum in sinu eius. – Da Isaac nach seinem Tode appositus est populo suo, läßt sich damit auch sagen, daß er wie sein Vater Abraham die himilwunne manichvalt genießt: d ist er [Isaac] s n ebens zze, / d intl chet er [Abraham] s ne sc zze (V. 1706a/b). 41 Zur stilistischen Gestaltung der V. 1703a–1710b vgl. Adrian Stevens: Die ,Wiener Genesis‘ in ihrem Verhältnis zur Tradition der christlichen Rhetorik, in: Studien zur frühmittelhochdeutschen Literatur [Anm. 6], S. 151 – 159 (hierzu S. 152 f.). 42 Dazu kommen noch barm und arm als exponierte Reimwörter. 43 Darauf weist der Autor der ,Wiener Genesis‘ bereits früher hin: Des magen wir wol vr s n / daz s guot ist unser treht n: swie wir tuon, / welle wir iz buozzen, das er uns gesetzet suozze / in Abrahames sc zze. (1054a – 1056b) Daß mit Abrahames sc zze natürlich Gottes sc zze gemeint ist, zeigt folgende Stelle: Die got furhtent / und n h ime gerne wurchent, r che oder arme, / die choment alle zuo s nem barme. In s n sc z er si setzet, / alles leides ergetzet.
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weiteren Aspekt der irdischen wunne ans Licht: Sie ist nicht nur zeitlich begrenzt, sondern kann – wie vom reichen Prasser vorgeführt – auch falsch gebraucht werden, indem man sich gleichsam ein Paradies auf Erden schaffen will. Sie mündet dann nicht in Abrahames sc zze und in der Fülle der himilisken wunne, sondern in inferno und in tormentis. Diesem Mißbrauch der irdischen wunne steht ihre richtige Nutzung zur Gewinnung des ewigen Heils gegenüber. Zu diesem Zweck imaginierte der Autor in mehrfachen Erweiterungen der biblischen Quelle die wunter der Schöpfung und die wunne des Paradieses. Sie haben auch nach dem Sündenfall und nach der Verstoßung in ditz ellende ihre den Menschen erfahrbare Wirkung nicht verloren. Richtig gebraucht, können und sollen die Schöpfungswunder und die Fähigkeit zur – wenn auch zeitlich begrenzten und sogar dem Mißbrauch offenen – wunneErfahrung Wegweiser auf Erden sein, die zu den himmlischen Freuden einladen. Wie beim wunter ist also die wunne als zweiter Leitbegriff fest mit einem Gegenwartsbezug gekoppelt. Das Bemerkenswerte an diesem Konzept, das mit quellengestützten Leitwörtern arbeitet und sie präsentisch auffüllt, scheint mir zu sein, daß der Autor der ,Wiener Genesis‘ nicht nur immer wieder mahnend davor warnt, auf Erden das ewige Heil aus dem Blick zu verlieren, sondern als heilsoptimistischer Seelsorger auch einen positiv akzentuierten Weg weist, um dieses alles entscheidende Ziel zu erreichen. Zu diesem Zweck gibt er bei aller Quellengebundenheit seiner Erzählung von der Erschaffung der Welt und des Paradieses einen selbstverantworteten Zuschnitt, der poetologisch durch die Fokussierung auf die historisch perspektivierten Leitbegriffe wunter und wunne bestimmt wird. Beide Begriffe sind biblisch begründet, sie zeugen aber zugleich von der Menschenkenntnis des Autors: Selbst die säkularisierten Formen der Wundergläubigkeit und die auf Erden letztlich unstillbare Sehnsucht nach Freude belegen bis heute, daß er mit der Wahl von wunter und wunne als Leitlinien bei seiner poetischen Ausgestaltung der Schöpfungsund Paradiesesgeschichte offensichtlich grundlegende Momente der stets präsenten conditio humana ansprach. Da sie in seinen Augen auf den Schöpfer selbst zurückgehen, konnte er ihnen auch unbefangen eine exponierte Stellung in der Poetik bei seiner Darstellung des Heptameron (den Paradiesgarten eingeschlossen) zuweisen. s wol den gebornen / der daz scol garnen daz er chumet under die gen zze / die der sitzent in s ner sc zze! (1041a – 1045b)
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Lucet Alexander Lucani luce Eine retractatio zur ,Alexandreis‘ des Walter von Châtillon
Peter von Moos Si quid autem cuipiam asperius sonat, non in se quicquam dictum noverit, sed in meipsum et similes mei, qui mecum cupiunt emendari. Johann von Salisbury: ,Prologus Policratici‘
Lucan hat merkwürdigerweise im Mittelalter (insbesondere im früheren) viel weniger Einfluß auf seine eigene Gattung – das Versepos – gehabt als auf andere Diskurstraditionen wie die Geschichtsschreibung oder die didaktische Literatur.1 Eine gewichtige Ausnahme zu dieser „Regel“ bildet die ,Alexandreis‘ des Walter von Châtillon2, die angesichts ihrer außergewöhnlichen Verbreitung und Vorbildlichkeit seit 1
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In 70er Jahren sind aus meinem Arbeitsvorhaben „Lucan im Mittelalter“ folgende Beiträge hervorgegangen: Lucan und Abelard, in: Hommages à André Boutemy, Collection Latomus (1976), 145, S. 413 – 443; Cornelia und Heloise, in: Latomus 34.4 (1975), S. 1024 – 1059; Lucans tragedia im Hochmittelalter. Pessimismus, contemptus mundi und Gegenwartserfahrung, in: Mittellateinisches Jahrbuch 14 (1979), S. 127 – 186; Poeta und Historicus im Mittelalter. Zum Mimesis-Problem am Beispiel einiger Urteile über Lucan, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 98 (1976), S. 93 – 130. Ein Sommerkurs zum mittelalterlichen Lucan-Nachleben am Centre d’Études supérieures de Civilisation médiévale in Poitiers von 1978 war als Beitrag für die Cahiers de Civilisation Médiévale vorgesehen, blieb dann aber unveröffentlicht. Als ich diese Synthese nach Jahren wieder aufgriff, zwang mich der Fortgang der Forschung zu einer starken Überarbeitung: Lucain au Moyen Age, in: Peter von Moos: Entre histoire et littérature. Communication et culture au Moyen Âge, Firenze 2005, S. 89 – 202. Vgl. Edoardo D’Angelo: La ,Pharsalia‘ nell’epica latina medievale, in: Paolo Esposito/Luciano Nicastri (Hg.): Interpretare Lucano. Miscellanea di studi, Napoli 1999 (Università di studi di Salerno, Quaderni del Dipartimento di Scienze dell’antichità 22), S. 389 – 453, hier S. 440 ff. Nach D’Angelo ist die ,Alexandreis‘ sogar die einzige epische Dichtung des Mittelalters, die auch eine gewisse ideologische Prägung durch die ,Pharsalia‘ erhalten habe.
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Peter von Moos
dem Ende des 12. Jahrhunderts natürlich auch für eine gewisse indirekte Nachwirkung Lucans in der epischen Dichtung gesorgt hat.3 Eberhard der Deutsche weist in seiner ,Laborintus‘ betitelten Poetik in aller Klarheit auf Walters Musterautor: Lucet Alexander Lucani luce. 4 Die ,Alexandreis‘ ist nicht nur in Form und Thematik eine imitatio-aemulatio der ,Pharsalia‘ – beide Dichtungen weisen 10 und nicht wie die ,Aeneis‘ 12 Bücher auf, und ähnliche Szenen finden sich an denselben Gelenkstellen der Gesamtstruktur –, sondern Walter entwickelt auch einen eigentlichen intertextuellen Dialog mit Lucan. Dies ist hinreichend bekannt und bedürfte keiner neuen Analyse, hätte die Diskussion über den Gesamtsinn dieser Alexanderdichtung in den letzten Jahren nicht ganz neue Aspekte in den Vordergrund gerückt, die zu einem kleineren „Paradigmenwechsel“ der Interpretation geführt haben. Noch vor etwa zwanzig Jahren sahen die meisten Mediävisten in diesem Epos ein zur Ehre Alexanders errichtetes Denkmal in Verbindung mit einer Art Fürstenspiegel.5 Einschränkend erwog man 3
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Zur Rezeptionsgeschichte der ,Alexandreis‘ vgl. die Einleitung von Marvin L. Colker (Hg.): Gualteri de Castellione ,Alexandreis‘, Padova 1978, S. XVIIIff.; Rosemary Morris: The ,Gesta Regum Britanniae‘ of William of Rennes: an Arthurian Epic?, in: Arthurian Literature 6 (1986), S. 60 – 123; Thomas Gärtner: Zum ,Karolinus‘ des Aegidius von Paris, in: Traditio 55 (2000), S. 171 – 179; Jean-Yves Tilliette: Introduction, in: Francine Mora (Hg., Übers.): L’Iliade, Epopée du XIIe siècle sur la guerre de Troie [= Joseph von Exeter], Turnhout 2003, S. 24 – 37; Corinna Killermann: Die mittelalterliche Kommentierung der ,Alexandreis‘ Walters von Châtillon als Fall von Interdependenz und Selbstkonstituierung, in: Jan Cölln et al.: Alexanderdichtungen im Mittelalter. Kulturelle Selbstbestimmung im Kontext literarischer Beziehungen, Göttingen 2000, S. 299 – 331, sowie unten Anm. 14, 21. Ich kenne allerdings noch keine Untersuchung über die indirekte Wirkung Lucans aufgrund der ,Alexandreis‘-Lektüre. Edmond Faral (Hg.): Les arts poétiques du XIIe et du XIIIe siècle, Paris 1962 (Bibliothèque de l’École des Hautes Études 238), S. 359, V. 637. Zur verbreiteten figura etymologica: Lucanus a luce, Lucanus lucide canens vgl. E. Mathews Sanford: The manuscripts of Lucan. Accessus and Marginalia, in: Speculum 9 (1934), S. 278 – 295, hier S. 286 f. Einen Überblick über die Forschungsgeschichte gibt Christine Ratkowitsch: Descriptio Picturae. Die literarische Funktion der Beschreibung von Kunstwerken in der lateinischen Großdichtung des 12. Jahrhunderts, Wien 1991, S. 129 – 135 und dies.: Troja–Jerusalem–Babylon–Rom. Allgemeingültiges und Zeitkritik in der ,Alexandreis‘ des Walter von Châtillon, in: Poetica 28.1 – 2 (1996), S. 97 – 131, hier S. 97. Aufgrund der „Autoritäten“ Christensen und Cary hat sich die dominant positive Deutung Alexanders vereinzelt bis heute durchgehalten: Heinrich Christensen: Das ,Alexanderlied‘ Walters von Châ-
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höchstens eine gewisse moralische Ambivalenz und eine in der Endphase negative Charakterentwicklung des Helden: Man sah in Alexander den vorbildlichen Feldherrn, der, solange er als Werkzeug der Providenz handelt, von Sieg zu Sieg schreitet, aber zuletzt die göttliche Unterstützung verliert, sobald er in maßlosem Hochmut alle Erfolge sich selbst zuschreibt. Sein Sturz erschien derart bloß als eine Variante des in den Schulen gelehrten contemptus mundi. 6 Unter rein literarästhetischen Gesichtspunkten galt die ,Alexandreis‘ als das virtuose Bravourstück eines poeta doctissimus, der sich aus Elementen der antiken Dichtung ein höchst raffiniertes Mosaik subtiler Reminiszenzen und Stilformen selbstzwecklich zusammengestellt haben soll. Walters zur Schau gestellte Ambition, Lucan zu überbieten, wurde als Formfetischismus und bloßes l’art pour l’art ausgelegt; seine erklärte Absicht, den Ruhm Homers oder Vergils zu erreichen, wirkte eher erheiternd: Walter hätte einen dem Cäsar Lucans weit überlegenen Helden besingen7 und damit auch Philipp II. August, der den väterlichenVornamen des großen Makedonen trug, durch die Blume schmeicheln wollen.8
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tillon, Halle a. d. Saale 1905; George Cary: The Medieval Alexander, ed. D. J. A. Ross, Cambridge 1956; Henriette Harich: Alexander epicus. Studien zur ,Alexandreis‘ Walters von Châtillon, Graz 1987; Marylène Possamaï-Pérez: Éducation et initiation dans deux ouvrages latins de la fin du XIIe siècle: le ,De nugis curialium‘ de Gautier Map et de Gautier de Châtillon, in: Education, apprentissages, initiation au Moyen Age: Actes du premier colloque international de Montpellier, Les Cahiers du C.R.I.S.I.M.A. 1, Montpellier 1993, Bd. 2, S. 411 – 428. In den letzten Jahren kann man aber auch die umgekehrte Übertreibung feststellen, die dem Bedürfnis entspricht, der opinio communis um jeden Preis zu widersprechen; vgl. unten Anm. 9 zu Kratz. Vgl. Knapp [SV 2], S. 222 – 267; von Moos: Lucans tragedia [Anm. 1], S. 141 ff.; A. Carlotta Dionisotti: Walter of Châtillon and the Greeks, in: Peter Godman/Oswyn Murray (Hg.): Latin Poetry and the Classical Tradition, Oxford 1990, S. 73 – 96, bes. S. 82 ff. Vgl. von Moos: Lucans tragedia [Anm. 1], S. 141 f., 145; Knapp [SV 2], S. 223, 232 ff., 260 ff., 415 ff. Erich Auerbach war zweifellos ein wichtiger Gewährsmann für diese Interpretation; in seinem Werk: Literatursprache und Publikum, Bern 1957, S. 149, bewertete der große Romanist lateinische Dichtungen wie die ,Alexandreis‘ als „technische Spitzenleistungen, die mit den großen geistigen Bewegungen der Zeit nichts zu tun [haben]“. Wahrscheinlich habe ich 1979 aufgrund dieses Urteils die ideengeschichtliche Bedeutung des Werks vernachlässigt, was zu Recht beanstandet worden ist durch Ratkowitsch: Descriptio [Anm. 5], S. 133, und Claudia Wiener: Proles vaesana Philippi totius malleus orbis. Die ,Alexandreis‘ des Walter von Châtillon und ihre Neudeutung von Lucans ,Pharsalia‘ im Sinne des typologischen Geschichtsverständnisses, München, Leipzig 2001 (Beiträge zur Altertumskunde 140), S. 15. Vgl. auch
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Diese Deutungen sind in letzter Zeit stark angefochten worden.9 Eine neue Lesart macht aus der ,Alexandreis‘ eine Tragödie oder Satire
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Jean-Yves Tilliette: L’,Alexandréïde‘ de Gautier de Châtillon: Énéïde médiévale ou „Virgile travesti“?, in: Alexandre le Grand dans les littératures occidentales et proche-orientales, Paris 1999, S. 275 – 288, bes. S. 286: „l’,Alexandréïde‘ est tout autre chose qu’un brillant exercice d’école“. Dennoch setzt sich eine literaturimmanente Intertextualitätsforschung ohne Rücksicht auf religiöse und politische, bildungs- und überlieferungsgeschichtliche Implikationen bis heute fort etwa bei O. Zwierlein: Der prägende Einfluß des antiken Epos auf die ,Alexandreis‘ des Walter von Châtillon, Mainz 1987 (Akademie der Wissenschaften und Literatur, Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse 2); vgl. dazu die Besprechung von Ratkowitsch in: Wiener Studien 102 (1989), S. 307 – 310; ebenso bei Hartmut Wulfram: Explizite Selbstkonstituierung in der ,Alexandreis‘ Walters von Châtillon, in: J. Cölln [Anm. 3], S. 222 – 269 und in unzähligen Miszellen von Thomas Gärtner. Das Urteil Tilliettes zu letzterem gilt für die ganze, dank elektronischer Datenbanken erst richtig ins Kraut schießende Forschungsrichtung (Tilliette [Anm. 3], S. 24): „les rencontres nombreuses identifiées par lui entre le texte de notre auteur et des œuvres comme les ,Puniques‘ de Silius Italicus ou les tragédies de Sénèque, qu’il ne pouvait en aucun cas connaître, sont l’effet ou bien du hasard, ou bien de l’emprunt à un formulaire épique indifférencié et par conséquent anonyme“. Geht man der Frage nach den direkten oder indirekten Wirkungen der auctores (insbesondere über die dichtungssprachliche koin ) aus dem Wege, wird schließlich die ganze lateinische Literatur zu einem einzigen integralen Abhängigkeitssystem, in dem alles mit allem zusammenhängt und niemand mehr in eigenen Worten spricht. Vgl. dazu auch unten Anm. 14 und 48. Diesen Aspekt hebt John Baldwin hervor in: Philippe Auguste et son gouvernement, Paris 1991, S. 458 f., weil die ,Alexandreis‘ tatsächlich ein gemeinsames Modell für einen dem König nahestehenden und huldigenden Kreis von Dichtern und Intellektuellen darstellte (Rigord: Aegidius von Paris, Wilhelm der Bretone u. a.); vgl. auch Wilhelm Berges: Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters, Stuttgart (1938) 1952, S. 73 – 79. Über den umstrittenen „makedonischen“ Ursprung des Namens Philipp bei den Kapetingern vgl. Maura K. Lafferty: Walter of Châtillon’s ,Alexandreis‘: Epic and the Problem of Historical Understanding, Turnhout 1998 (Publ. of the Journal of Medieval Latin 2), S. 1. Vgl. die Übersicht bei Christine Ratkowitsch: Troja [Anm. 5], S. 98 ff.; Dennis M. Kratz, Besprechung von Lafferty [Anm. 8], in: Speculum 75.4 (2000), S. 953 f. Die erste Stellungnahme in diesem Sinn war zweifellos übertrieben und provozierend: Dennis M. Kratz: Mocking Epic. ,Waltharius‘, ,Alexandreis‘ and the Problem of Christian Heroism, Madrid 1980. Was die ,Alexandreis‘ (nicht den ,Waltharius‘) betrifft, war die Ablehnung des Verspottungskonzepts in der Forschung einhellig. In der Folge erschienen die viel ausgewogeneren Arbeiten von Ratkowitsch, Lafferty und Tilliette; vgl. auch
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zum Thema der Hybris eines größenwahnsinnigen Fürsten, der sich nur um die vana gloria dieser Welt kümmert und in seinem hemmungslosen Drang nach der absoluten Macht blind wird für die Zeichen der göttlichen Vorwarnung. Der schmachvolle Untergang dieses falschen Messias und Antipoden aller christlichen Werte ist eine gerechte und aufsehenerregende Strafe Gottes.10 Walter von Châtillon wird derart, so unbestritten seine Meisterschaft in der imitatio auctorum bleibt, zurückbezogen auf seine geistliche Umgebung, seinen Einsatz für den dritten Kreuzzug sowie die Reform von Kirche und Reich. Der bisher kaum beachtete innere Zusammenhang seiner religiösen und satirischen Dichtung mit der ,Alexandreis‘ wird derart deutlicher. Dieser Perspektivewandel scheint mir grundsätzlich überzeugend, auch wenn damit die Diskussion alles andere als abgeschlossen ist.11 Die Komplexität des Gedichts schließt mehrere Bedeutungsebenen ein. Auch wenn man den tieferen „integumentalen“ Sinn dieser großen apokalyptisch gestalteten Magnifikat-Lehre ernst nimmt – „Gewaltige hat er vom Thron gestürzt und Niedrige erhöht“ (Lk 1, 52) –, so braucht man deswegen den früher einseitig übertriebenen Aspekt der militärischen Tugenden des Kriegshelden nicht ganz ad acta zu legen. Auch dürfte dem Verständnis mit bloß textimmanten Hypothesen über die Autorintention wenig gedient sein. Die Untersuchung ist vielmehr auch auf die Rezeption auszudehnen, auf die vielfältigen mittelalterlichen Lektüren dieses wahren „Bestsellers“, der in den Schulen des Triviums gelesen und kommentiert wurde, als gehörte er zum antiken Kanon. Heinrich von Gent gibt zu verstehen, daß dieser moderne „Klassiker“ im 13. Jahrhundert auf Kosten der alten Dichter gepflegt
Glynn Meter: Walter of Châtillon’s ,Alexandreis‘ Book 10. A Commentary, Frankfurt a.M. 1991 (Studien zur klassischen Philologie 60). 10 Die besten Darstellungen dieser Richtung scheinen mir die von Maura Lafferty und Christine Ratkowitsch. Von letzterer möchte ich besonders die Synthese [Anm. 5] in der von Mediävisten wohl zu wenig frequentierten Zeitschrift Poetica hervorheben (Lafferty scheint vielleicht deshalb diese Arbeit nicht zu kennen). – Zur apokalyptischen Rolle Alexanders in der mittelalterlichen Tradition (Antichrist, Satan) vgl. Cary [Anm. 5], S. 133 – 141. Die Anspielung auf Belsazars „Mene Tekel“ (Dan 5, 25) findet sich in der Beschreibung des Schildes von Darius: ,Alexandreis‘ [Anm. 3], II 522 – 526; vgl. Lafferty [Anm. 8], S. 25, 109 ff. 11 Dies zeigt gerade die jüngste (am Ende dieses Beitrags besprochene) Monographie von Claudia Wiener.
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wurde.12 Durch ein ähnliches Mißverständnis wie dasjenige, das aus Lucan den „Sänger Cäsars“ gemacht hat, wird Walter überdies oft als Verherrlicher des großen Alexander redivivus gepriesen.13 Wilhelm der Bretone (Brito), Ratgeber und Panegyriker Philipp Augusts, übernimmt in seiner ,Philippis‘ die Struktur der ,Alexandreis‘ und borgt sich ganze Verse daraus, um die Großtaten des Königs nach dem Sieg von Bouvines zu feiern.14 Dies legt zum mindesten nahe, daß Walters Alexander nicht ausschließlich im Rufe eines dämonischen Gegenexemplums stand. Daß die Verse X 448 – 450 über die Enge des Alexander-Grabes in das Epitaph König Heinrichs II. Plantagenet gelangt sind, legt nahe, daß der Welteroberer, mit dem der Verstorbene nach Art einer heroisierenden Totenklage verglichen werden konnte, zugleich Bewunderung und Mitleid erregte.15 Diese Indizien einer positiven Deutung der Alexandergestalt brauchen nun keineswegs der Intention – bzw. einer der Intentionen – Walters zu widersprechen, die libido dominandi weltlicher Fürsten zu geißeln. Die in den Schulen gelesene und nachgeahmte ,Alexandreis‘ wurde wie die ,Aeneis‘ und andere Dichtungen der Antike zur Einübung in die enucleatio verwendet, die den geheimen spirituellen und moralischen Sinn hinter der weltlichen Oberfläche aufzudecken half.16 Dazu eignete sich ein historisches Epos ebenso gut wie die meist als fiktional geltende ,Aeneis‘.17 In seinem Widmungsschreiben an Wilhelm Weißhand – Erzbischof von Reims, Stiefbruder des Königs und Regent des Königreichs während dessen Abwesenheit auf dem Kreuzzug – redet Walter diesen hohen Prälaten als Modell-Leser an, der 12 ,De scriptoribus ecclesiasticis‘ 20, ed. A. Miraeus: Bibliotheca ecclesiastica I, Antwerpen 1639, S. 165, zitiert bei Colker [Anm. 3], S. XX: Alexandreis in scholis grammaticorum tantae dignitatis est hodie ut prae ipsa ueterum poetarum lectio negligatur. 13 So etwa im Accessus zur ,Alexandreis‘ bei Colker [Anm. 3], S. 349. 14 Baldwin [Anm. 8], S. 456 – 463, 499 – 501. D’Angelo [Anm. 2], S. 417 f. weist auf den Widerspruch hin zwischen Wilhelms Anspruch, Lucan als Musterautor zu folgen, und den faktisch fehlenden Lucan-Reminiszenzen in der ,Philippis‘. Vielleicht läßt sich dies allein aus der Übernahme von Walters Versen zur Lucan-Überbietung erklären. Man müßte in diesem Fall eine Detailanalyse des möglicherweise indirekten Lucan-Einflusses unternehmen. 15 Vgl. Christensen [Anm. 3], S. 10 f. 16 Vgl. Peter von Moos: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im ,Policraticus‘ Johanns von Salisbury, Hildesheim, New York 21996, S. 183 – 188. 17 Vgl. von Moos: Poeta [Anm. 1], S. 122 – 124 zu Otto von Freising.
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„in das Geheimnis der Dinge einzudringen“ verstehe.18 Alexander selbst dient gewissermaßen als Gegenexemplum richtigen Lesens und Auslegens, da einer seiner Hauptfehler gerade darin besteht, die verschlüsselten Vorzeichen seines Untergangs nicht zu verstehen und zu übersehen.19 Der Held der lateinischen ,Alexandreis‘ könnte in dieser hermeneutischen Hinsicht das klerikale Gegenstück zum Ritter und Kriegshelden der gleichzeitig an den Höfen florierenden volkssprachigen Alexanderdichtungen darstellen.20 Mag dies auch nur eine Hypothese sein, da die Verherrlichung des Eroberers in den volkssprachigen Epen und Romanen vielleicht auch ambivalenter ist, als man es früher im Gefolge Carys angenommen hat,21 so ist die Annahme doch nicht von der Hand zu weisen, daß dem klerikalen poeta doctus Walter von Châtillon die Konstruktion eines doppelsinnigen für eine intellektuelle Elite bestimmten Alexander vorgeschwebt haben könnte, die die 18 ,Alexandreis‘ [Anm.3], I, 22 – 23, S. 8: [Phylosophia…] excoctum diu studii fornace, fugata / rerum nube, dedit causas penetrare latentes. Vgl. auch Tilliette [Anm. 7], S. 281 f. 19 Lafferty [Anm. 8], passim; Tilliette [Anm. 7], S. 285 ff. 20 Tilliette, ebd. 276 f.; Dionisotti: [Anm. 7], S. 75 f. 21 Ratkowitsch: Troja [Anm. 5], S. 97; Trude Ehlert: Deutschsprachige Alexanderdichtung des Mittelalters. Zum Verhältnis von Literatur und Geschichte, Frankfurt a. M. 1989. Dieselben Ambivalenzen (Kriegsheld mit moralischen Fehlern wie Stolz, Glücksrittertum, Machthunger u. a.) finden sich auch in Romanen und Geschichtsvulgarisationen über Cäsar wie den ,Faits des Romains‘, die vom Alexanderstoff und möglicherweise sogar von der ,Alexandreis‘ selbst beeinflußt sind; vgl. J. M. A. Beer: A Medieval Caesar, Genève 1976, S. 72 ff., 129 ff., 199 ff. mit dem Fazit: „the greatest hero can be corrupted and eventually destroyed by his own achievement through the sin of pride“ (S. 200). Zu der durch die ,Faits des Romains‘ vermittelten Bedeutung Lucans für das höfische Milieu vgl. auch Bernard Guenée: La culture historique des nobles: le succès des ,Faits des Romains‘ (XIIIe–XVe siècle), in: Philippe Contamine (Hg.): La noblesse au Moyen Âge, Mélanges à la mémoire de Robert Boutruche, Paris 1976, S. 261 – 288; J. Leeker: Die Darstellungen Cäsars in den romanischen Literaturen des Mittelalters (Analecta Romanica 50), Frankfurt a. M. 1986, S. 189 ff.; Richard J. Walsh: Une citation inexacte de Lucain par Charles le Téméraire et Louis XI. De l’évaluation de l’instruction princière au quinzième siècle, in: Le Moyen Âge 86 (1980), S. 439 – 451; Klaus Heitmann: Zur Antike-Rezeption am burgundischen Hof. Olivier de la Marche und der Heroen-Kult Karls des Kühnen, in: A. Buck (Hg.): Die Rezeption der Antike, Hamburg 1981, S. 97 – 118; ders: Olivier de la Marche ,Le Débat de Cuider et de Fortune‘. Eine dichterische Meditation über den Untergang Karls des Kühnen, in: Archiv für Kulturgeschichte 47 (1965), S. 266 – 305.
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„leichte“, „am Äußerlichen haftende“ Literatur der Laienhöfe überbieten sollte.22 Bei aller gebotenen Vorsicht solchen Gesamtdeutungen des Werks gegenüber darf man jedenfalls feststellen, daß die neue Interpretation die ,Pharsalia‘ und die ,Alexandreis‘ einander in einer viel tieferen Schicht annähert, als früher angenommen wurde. Am auffälligsten wird dies in Lucans Schilderung von Cäsars Besuch am Alexandergrab im zehnten Buch, wo der Makedonier in Ausdrücken angeklagt wird, die sonst den Draufgänger Cäsar charakterisieren:23 „Hier ruht der wahnsinnige Sproß Philipps, dieser glückhafte Räuber, den das Schicksal hinwegraffte, um die Welt zu rächen, […] dessen warnendes Beispiel die Welt lehrte, daß so viele Länder nicht unter der Herrschaft eines einzigen Mannes sein können.“ Darauf folgt eine lange Aufzählung der Länder, die Alexander erobert hat und die er noch hätte erobern können, wenn ihn der Tod nicht daran gehindert hätte. „Da gebot der Todestag ihm Halt, konnte die Natur doch nur so dem Größenwahn des Königs ein Ende bereiten.“24 Walter von Châtillon übernimmt aus Buch X einzelne Motive – etwa zum Wahnsinn der Weltherrschaft25 – und Strukturelemente wie den abschließenden allegorischen Höllen-Spuk, den Natura in Bewegung setzt, um den rückhaltlosen Ansturm des dux vaesanus 26 über die Grenzen des Ozeans und Universums hinaus endlich 22 Vgl. Tilliette [Anm. 7], S. 286: „Je me demande […] si Gautier n’a pas voulu, tout en célébrant la grandeur, marquer les limites du personnage pour qui s’enthousiasment alors les destinataires du ,Roman d’Alexandre‘, princes et nobles laïcs. Son œuvre satirique le montre en effet en tenant d’une morale austère, hâtive à démasquer les fausses gloires et à souligner l’inanité des accomplissements purement mondains“. Zu einem ähnlichen, aber eindeutigeren Fall vgl. Francine Mora: L’,Ylias‘ de Joseph d’Exeter: une réaction cléricale au ,Roman de Troie‘ de Benoît de Sainte-Maure, in: Emmanuelle Baumgartner/ Laurence Harf-Lancner (Hg.): Progrès, réaction, décadence dans l’Occident médiéval, Genève 2003, S. 199 – 213. 23 ,Pharsalia‘ ed. Wilhelm Ehlers: Lucanus ,Bellum civile‘ – Der ,Bürgerkrieg‘, München 1973, X 20 – 28: Illic Pellaei proles vaesana Philippi / felix praedo iacet terrarum vindice fato […] non utile mundo / editus exemplum, terras tot posse sub uno / esse viro. 24 ,Pharsalia‘ [Anm. 23], X 41 – 42: occurrit suprema dies, naturaque solum / hunc potuit finem vaesano ponere regi. Man kann solum als Attribut zu finem verstehen, aber auch als Adverb, was hier m. E. vorzuziehen ist. 25 Etwa ,Alexandreis‘ [Anm.3], I 267, 489 – 490. 26 ,Alexandreis‘ [Anm.3], II 366; X 94. Maura K. Lafferty: Nature and an Unnatural Man: Lucan’s Influence on Walter of Châtillon’s Concept of Nature,
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aufzuhalten.27 Auch die im Konditional oder Optativ vorgetragene Aufzählung virtueller Heldentaten und Eroberungen ist ein in der ,Alexandreis‘ häufig angewandtes fiktionales Verfahren.28 Besonders auffällig wird es da, wo Walter die beiden berühmten Feldherren Griechenlands und Roms (und implizit die sie besingenden Dichter) vergleicht: „Wenn der Schicksalsplan es so eingerichtet hätte, daß er [Alexander], ohne vom hohen Alter geschwächt zu sein bis zu unseren Tagen fortgelebt hätte, nie spräche Fama von den Triumphen Cäsars, und der ganze Ruhm des Volkes von Romulus würde verwelken“.29 …qui si senio non fractus inermi Pollice Fatorum nostros uixisset in annos, Cesareos numquam loqueretur fama tryumphos, Totaque Romuleae squaleret gloria gentis.
Vor der Leiche des Darius erklärt Alexander seine Absicht, den Eroberungszug gegen das Abendland fortzusetzen, um den Widerstand Roms zu brechen: Romanas frangere vires (VII 378). Im selben Sinne bekräftigt er nach der Eroberung ganz Asiens, er wolle nicht eher nach Griechenland zurückkehren, als er seinen Zug gegen Italien fortgesetzt habe, „damit die Römer das Joch der Griechen zu tragen lernen“.30 Das Mittelalter sah aufgrund heilsgeschichtlicher Vorgaben auch sonst im Tod Alexanders die providentielle Verhinderung einer unzeitigen Zerstörung Roms zu Beginn des Prinzipats und der Geburt Christi in 27
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in: Classica et mediaevalia 46 (1995), p. 285 – 300 zur Brückenfunktion des Schlüsselwortes vaesanus zwischen ,Pharsalia‘ und ,Alexandreis‘. Zu dieser amplificatio von ,Pharsalia‘ [Anm. 23], X 41 – 42 (und IX 629: natura nocens) vgl. die sorgfältige Analyse Laffertys [Anm. 8], S. 149 ff. und dies. [Anm. 26], passim (bes. S. 293 f.); Tilliette [Anm. 7], S. 279 f. zur Rivalität und Spannung zwischen Walter von Châtillon und Alanus von Lille: Das 10. Buch der ,Alexandreis‘ läßt sich als strukturelle Inversion der Erschaffung des homo novus im ,Anticlaudianus‘ verstehen. Dies bleibt allerdings noch hypothetisch, solange die Entstehungszeiten beider Werke nicht genauer bestimmt werden können (s. unten Anm. 54). Zur Rivalität der beiden Dichter vgl. auch Lafferty [Anm. 8], S. 12 f. und zum Naturbegriff in der ,Alexandreis‘, in Alans ,De planctu naturae‘ und in der ,Cosmographia‘ Bernhards Silvestris, ebd. S. 151 ff. Vgl. unten Anm. 32. ,Alexandreis‘ [Anm.3], I 5 – 8. Colker hat die Variante nostros gegenüber iustos in annos mit Recht bevorzugt. ,Alexandreis‘ [Anm.3], X 183 – 84; vgl. Knapp [SV 25], S. 129 – 152., bes. S. 142 f.; Dionisotti, [Anm. 6], S. 84 ff.; Lafferty [Anm. 8], S. 21 ff. zum Aspekt der translatio imperii von Persien nach Griechenland. Diese translatio wird durch eine zweite, allerdings nur hypothetische von Griechenland nach Italien vervollständigt.
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der pax augusta. 31 Indem Walter pathetisch die Geschichte Alexanders unabsehbar über seinen Tod hinauswirken läßt, schildert er den uchronen Albtraum einer universalen „might have been history“.32 Allein seine bitterere Ironie zeigt hier, daß er aus ,De bello civili‘ nicht nur ein paar manieristische Stilmittel entlehnt, sondern auch die bedrohliche, düstere Gesamtstimmung nachzuahmen versteht. Der Besuch Alexanders an homerischen Erinnerungsorten, den Ruinen Troias und dem Grabe Achills (I 452 – 538), ist weitgehend von Buch IX der ,Pharsalia‘ (961 – 999) inspiriert, das den Abstecher Cäsars zu denselben Gedenkstätten berichtet.33 Walter sucht hier in einer großartigen amplificatio die Sarkasmen Lucans gegen die Eitelkeit der Ruhmbegierde zu überbieten. Christine Ratkowitsch hat feinsinnig dargestellt, wie die Beschreibung der Ruinen sich langsam in eine apokalyptische Trojavision verwandelt: Troja, Stadt der Sünde schlechthin, bildet eine negative Zeitenmitte, die auf Adams Sündenfall und die Sprachverwirrung von Babel zurückverweist und zugleich das Weltende ankündigt.34 Der Dichter der ,Ilias‘ ist wie Lucan und Walter Dichter einer Weltkatastrophe, eines De excidio. Alexanders Rede am Grab Achills betont weit schärfer als Lucans Cäsar in der Parallelszene den Kontrast zwischen der vergangenen Größe und dem Elend des Todes: Er beneidet den Toten, einen Sänger wie Homer gefunden zu haben, und wünscht sich ängstlich, daß er nach all den Eroberungen, die ihm den Platz „der einzigen Sonne, des einzigen Weltfürsten“ sichern werden, doch nicht des poetischen Ruhmes entbehren müsse, der ihm noch viel begehrenswerter erscheint als die ewige Glückseligkeit (I 489 – 492):
31 Vgl. Cary [Anm. 8], S. 103 – 105, 217, 264 f.; Dante: ,Monarchia‘ II 9; ,Convivio‘ IV 11. 32 Zum Konzept vgl. Alexander Demandt: Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: „Was wäre geschehen, wenn…?“, Göttingen 1984; Heinz-Günther Nesselrath: Ungeschehenes Geschehen. „Beinahe-Episoden“ im griechischen und römischen Epos von Homer bis zur Spätantike, Stuttgart 1992; Eric B. Henriet: L’Histoire revisitée. Panorama de l’uchronie sous toutes ses formes, Paris 22005. 33 Vgl. Ratkowitsch [Anm. 5], S. 102 – 112; Lafferty [Anm. 5], S. 31 ff.; Zwierlein [Anm. 7], S. 82 – 86. Die Szene entspricht Cäsars Besuch des AlexanderGrabs ,Pharsalia‘ [Anm. 23], X 20 – 28. 34 Babylon steht auch kompositorisch in der Mitte des Werks (vgl. unten bei Anm. 45 – 47); zum Namen vgl. V 438: Cui dedit eternum labii confusio nomen.
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Et contentus erit sic solo principe mundus Vt solo sole, hoc unum michi deesse timebo, Post mortem cineri ne desit fama sepulto, Elisiisque uelim solam hanc preponere campis.
Die Eitelkeit dieses Strebens wird durch die ironische Anspielung an die Winzigkeit der Urne Achills im Vergleich zur Ausbreitung des ihm von Homer gesicherten ewigen Ruhms verdeutlicht (I 471). Dies antizipiert bereits zu Beginn des Epos das am Ende (X 448 – 451) beschworene Bild des „fünf Fuß langen Grabs“, das Alexander genügen muß, nachdem ihm „der ganze Erdkreis nicht genügt hat.“ Aber der Vergleichspunkt ist hier die Größe des eroberten Erdkreises, zu Beginn aber die zeitliche und räumliche Wirkung des Dichterruhms. Walter übernimmt merkwürdigerweise an dieser Stelle nichts von der Apostrophierung Cäsars durch Lucan (IX 984 – 986): „Solange wie man Smyrnas Dichter ehrt, werden künftige Geschlechter meine Verse und deine Taten lesen: Die Schlacht von Pharsalus wird als Leistung von uns beiden lebendig bleiben, und keine Nachwelt wird uns zu Vergessenheit verdammen.“ Quantum Zmyrnaei durabunt vatis honores. Venturi me teque legent: Pharsalia nostra Vivet et a nullo tenebris damnabimur aevo.
Lucans Ironie liegt darin, daß der Dichter des Bürgerkriegs nicht Großtaten, sondern Verbrechen und Schandtaten eines Caesar in arma furens (II 439) „besingt“. Verdienst und Ruhm fallen dem Dichter zu, Schmach und Abscheu dem Helden.35 Walter dürfte die Verse in diesem Sinne verstanden haben, da er seinerseits das topische Motiv der Interdependenz des Dichters und dessen Gestalt – hier durch das Zeugma me teque hervorgehoben – dazu übernimmt, um die ,Pharsalia‘ zu überbieten.36 35 Vgl. Otto Zwierlein: Lucans Caesar in Troja, in: Hermes 114 (1986), S. 460 – 478; Piet H. Schrijvers: Crise poétique et poésie de crise. La réception de Lucain aux XIXe et XXe siècles, suivi d’une interprétation de la scène de „César à Troie“ (La ,Pharsale‘ 9, 950 – 999), in: Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen, Mededelingen van de Afdeling Letterkunde N.R. 53.1 (1990), S. 31 ff. zu Lucans raffinierter Umkehrung eines vergilischen Topos (Aen. 9, 446 – 447 auf Nisus und Euryalus) ins Gegenteil, zu einer ewigen damnatio memoriae des Helden. 36 Zu den im Folgenden genannten Anklängen an die ,Pharsalia‘ gehört auch die direkte Reminiszenz aus ,Pharsalia‘ IX 985 in ,Alexandreis‘ [Anm.3], Prol. 14 f.: Diu te, o mea Alexandreis, in mente habui semper supprimere […].
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Walter wiederholt an drei verschiedenen Stellen denselben Vers über den gemeinsamen Ruhm des Dichters und des Verherrlichten: vivet cum vate superstes […].Aber der Verherrlichte ist niemals Alexander, sondern es ist einmal Darius, der berühmteste Held unter den vom Makedonier Besiegten, sodann Patron, der beste und „aufrichtigste Freund“ des persischen Königs, und schließlich der Erzbischof Wilhelm, dem das Gedicht gewidmet ist.37 Walter verhält sich so, als wolle er sich von seiner Hauptgestalt ablösen, als distanziere er sich trotz seines Dichterstolzes von seinem Gegenstand – den „nach Servius“ kein antiker Dichter in Angriff zu nehmen gewagt habe38 – wohl einzig deshalb, weil er nicht als der homerische Ruhmesgarant, den Alexander sich so sehr gewünscht hat, dastehen möchte. Dies läßt sich aus den beiden Passagen ableiten, in denen er sich offen als Nachfolger und Rivale Lucans darstellt.
37 Zu Darius vgl. unten Anm. 39 – 41 zu Patron: ,Alexandreis‘ [Anm.3], VI 490 f. und 507 – 510: At Patron, […] Darii non fictus amicus […] si quis / Carmina nostra legat, numquam Patrona tacebit / Gallica posteritas. uiuet cum uate superstes / Gloria Patronis nullum moritura per euum. Zu Wilhelm vgl. X 468 f.: Viuemus pariter. uiuet cum uate superstes / Gloria Guillermi nullum moritura per euum. Die Formel mit der superstes-Klausel ist gewiß konventionell, aber die insistierende Wiederholung an mehreren Stellen dürfte andeuten, daß Walter daraus eine Art „Markenzeichen“ machen wollte. Der Hauptinspiration kommt hier nicht aus ,Pharsalia‘ IX 980 – 986 (Cäsar vor dem Grab Achills), sondern aus den Gedenkversen auf Pompeius ,Pharsalia‘ VII 207 ff.: haec et apud seras gentes populosque nepotum / sive sua tantum venient in saecula fama / sive aliquid magnis nostri quoque cura laboris / nominibus prodesse potest, cum bella legentur, / spesque metusque simul perituraque vota movebunt / attonitique omnes veluti venientia fata, / non transmissa, legent et adhuc tibi, Magne, favebunt. 38 Colker gesteht, die Quelle nicht gefunden zu haben. Es könnte sich um eine fictio auctoris handeln (zum Begriff vgl. Peter von Moos: Fictio auctoris, in: Horst Furmann [Hg.]: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica, München, 16.–19. September 1986, Hannover 1988, Bd. 1, S. 739 – 780). Eine ähnliche Idee findet sich bei Apuleius, wird dort aber auf Bildhauer und Maler bezogen, die Alexander nicht abzubilden gewagt haben (,Florida‘ VII, ed. Helm, Teubner 1959, S. 8). Ich halte es für nicht sehr wahrscheinlich, daß Walter einen so seltenen, wenn auch seit dem 9. Jh. handschriftlich vereinzelt bezeugten Text gekannt hat. Apuleius bezieht sich wie so oft auf eine bereits umlaufende fama. Daraus könnte sich ein Topos verfestigt haben. Daß Walter als Gewährsmann gerade Servius gewählt hat, könnte daran liegen, daß dieser Grammatiker Lucan, sein Hauptmuster, als „Historiker“ aus dem Kanon der Dichter ausgeschlossen hat. Dazu vgl. von Moos [Anm. 1], S. 102 ff.
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Zum Gedenken an Darius entfaltet Walter im siebten Buch ein monumentales Gemälde vom tragischen Untergang des persischen Königs. Dabei vermischt sich das bittere Pathos Lucans mit einer an die vergilische pietas erinnernden Empathie. Darius bildet als positiver Held die Parallele zum Pompeius Lucans. Beide sind wegen ihres ungerecht erscheinenden Loses zu beklagen und für ihre Großherzigkeit und Erhabenheit über Schicksalsschläge zu preisen.39 Walter stellt sie einander ausdrücklich so gegenüber: „Du aber, Darius, falls, was wir eben schreiben, die Leser einmal überzeugen wird, dann wird Frankreich dich mit Recht für ebenso preisenswürdig halten wie Pompeius. Mit dem Dichter wird der Ruhm des Verstorbenen weiterleben und nie mehr sterben.“40 Te tamen, o Dari, si que modo scribimus olim Sunt habitura fidem, Pompeio Francia iuste Laudibus equabit. uiuet cum uate superstes Gloria defuncti nullum moritura per euum.
Diese Anrede bildet den Schlußpunkt einer langen, bewußt anachronistischen, d. h. „uchronen“ Reflexion über verschiedene zeitgenössische Ereignisse und Zustände – die Ermordung Thomas Beckets, die Simonie der Päpste und andere Abscheulichkeiten –, die nicht eingetreten wären, hätten die Menschen sich am Tod des Darius ein Beispiel genommen und an die jenseitige Gerechtigkeit gedacht (VII 306 – 343). Nicht zufällig steht dieses memento mori im Konditional unmittelbar vor der Hommage an den Pompeius-Dichter Lucan, dessen sarkastisch-satirische Vorwegnahmen und Rückblenden im römischen Geschichtszusammenhang Walter hier zweifellos inspiriert haben.41 Eine weitere Gegenüberstellung des mittelalterlichen Dichters und seines antiken Vorbilds ist schwerer zu interpretieren, da sie sich auf zwei verschiedenen Sinnebenen vollzieht. Im fünften Buch (V 491 – 520), nach dem triumphalen Einzug Alexanders in Babylon,42 stilisiert sich Walter als Rivale Lucans, aber scheint dabei nicht dessen poetische Meisterschaft, sondern den in der ,Pharsalia‘ behandelten Stoff überbieten zu wollen, der in jeder, vor allem aber „quantitativer“ Hinsicht 39 Zu Darius als Muster zugleich ritterlicher und klerikaler Tugenden vgl. Marylène Perez: Alexandre le Grand dans l’,Alexandréïde‘, in: Bien dire et bien aprandre 6 (1988), p. 45 – 76 und ebd. 7 (1989), S. 19 – 34. 40 ,Alexandreis‘ [Anm. 3], VII 344 – 347. 41 Zum Uchronie-Prinzip vgl. oben Anm. 32. 42 Ratkowitsch: Troja [Anm. 5], S. 118 – 124; Descriptio [Anm. 5], S. 184 – 186.
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dem seinigen nachsteht. Die ganze Geschichte der „prahlerischen Römer“, iactatrix Roma – wozu überhaupt noch an Leukas, Pharsalos und den tarpeischen Felsen erinnern? – hat keine Triumphe wie die hier geschilderten vorzuweisen. „Ermißt man, welche Großtaten der Makedonier gegen die sieghaften Weltherren in der zarten Jugendblüte mit einem winzigen Heer vollbracht hat und wie alle Völker der Erde sich ihm in kürzester Zeit zu Füßen geworfen haben, dann sind, verglichen mit diesem Herrscher, alle Fürsten, die der spanische Dichter [Lucan] in seinen majestätischen Versen oder Claudian in seinem erhabenen Stil besungen haben, doch nur eine Plebs. Möge Lucan sich schämen [bzw. möge es ihn reuen], mit solchem Glanz Cäsar und Roms Zusammenbruch gefeiert zu haben!“43 Si fide recolas quam raro milite contra Victores mundi tenero sub flore iuuentae Quanta sit aggressus Macedo, quam tempore paruo Totus Alexandri genibus se fuderit orbis, Tota ducum series, uel quos Hyspana poesis Grandiloquo modulata stilo uel Claudius altis Versibus insignit, respectu principis huius Plebs erit, ut pigeat tanto splendore Lucanum Cesareum cecinisse melos Romaeque ruinam.
Dieser Kritik fehlt es nicht an Ironie, denn ein so kunstbewußter Virtuose wie Walter wußte mit Sicherheit, daß der Gegenstand weder das einzige noch das ausschlaggebende Kriterium für die Bewertung eines Dichters ist und daß im Gegenteil ein Künstler, der einem unscheinbaren Gegenstand Glanz verleiht, größeres Verdienst hat als einer, der ein schon von Natur schönes und großes Thema behandelt.44
43 ,Alexandreis‘ [Anm.3], V 500 – 508. 44 Vgl. Paul Michel: Formosa deformitas, Bonn 1976; Alexandru N. Cizek, Imitatio et tractatio. Die literarisch-rhetorischen Grundlagen der Nachahmung in Antike und Mittelalter, Tübingen 1994, S. 32 ff.; von Moos: Poeta [Anm.1], S. 112 ff. – Knapp [SV 2], S. 293 f. nimmt hingegen an, Walter benütze dies als Vorwand, um sein Gedicht über die ,Pharsalia‘ zu stellen und sich so für Lucans Verkennung der Größe Alexanders zu rächen. Eine solche Rivalität scheint mir im Hinblick auf den Bildungsstand Walters doch etwas zu einfach konstruiert. Ich habe selbst in „Lucans tragedia“ ([Anm. 1], S.142) Ähnliches vertreten, muß mich aber heute davon distanzieren: „Dies alles soll etwaige römische Parallelen in den Schatten stellen. Walter legt so großen Wert darauf, nicht weil er den römischen Imperator, sondern weil er den römischen Dichter, dessen Werk damit als wichtiges Muster deklariert wird, verkleinern und überbieten will“.
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Die Position dieser Verse in der Gesamtstruktur des Epos – im Rahmen der Eroberung Babylons – zeigt deren Zweideutigkeit noch besser: Bei Quintus Curtius, der historiographischen Hauptquelle Walters, erscheint dieses Ereignis bereits als die entscheidende Peripetie, die zur Verweichlichung der Truppen im orientalischen Luxus, zu Hofintrigen der Rivalen und zum verfrühten Tod des Eroberers führen wird.45 Walter wählt hier also den Höhepunkt der militärischen Erfolge Alexanders. Die zweite Hälfte der ,Alexandreis‘ ist dem Verfall und Ende des Helden gewidmet, der, durch Hybris verblendet, die Vorzeichen seines Untergangs nicht zu sehen vermag. Am Ende des Epos tritt an die Stelle der noch im fünften Buch verherrlichten Geschwindigkeit der Siege und Eroberungen der ebenso unerwartet schnelle Sturz. Walter verkündet wie Lucan einen Untergang, aber es ist, anders als die Katastrophe Roms, ein „nützlicher“ Untergang, eine Lektion christlicher Werte, die, wie er hofft, ihm zusammen mit dem Gönner Wilhelm, dem Erzbischof von Reims, das ewige Seelenheil sichern mag (X 433 – 469). Der Doppelsinn der Verse über den Triumph von Babylon durchzieht auch die folgende, das fünfte Buch abschließende Partie. Walter scheidet dabei klar die militärischen Verdienste von der spirituellen Dimension. In einer weiteren „Uchronie“, die zweifellos den Sinn hat, die Verherrlichung eines gigantischen Eroberers moralisch zu rechtfertigen, fährt Walter fort: „Wenn aber die göttliche Gnade den Franken einen solchen König [wie Alexander] verliehe, würde der wahre Glaube unverzüglich ringsum auf der ganzen Welt erstrahlen.“46 Wiederum im Modus eines historischen Konditionals oder Optativs, ruft derart der Dichter zum Kreuzzug gegen „unsere Parther“ im Heiligen Land auf, einem Siegeszug, der die Niederlagen Karls des Großen in Spanien rächen und alle Ungläubigen in der Kathedrale von Reims zur Taufe zusammenführen würde. Die eschatologische Utopie verweist in der Tat auf den erbaulichen Schluß des zehnten Buchs. Doch wesentlich ist hier die Unterscheidung zwischen einer an sich – unabhängig vom Ziel – lobenswerten Kriegskunst und deren zwei ge45 Ratkowitsch: Troja [Anm. 1], S. 120, zu Quintus Curtius ,Historia Alexandri Magni‘ 5, 1, 3, 19 – 23. Zum Einfluß der Kritik stoischer Philosophen auf dessen negatives Alexanderbild vgl. Afred Heuss: Alexander der Große und die politische Ideologie des Altertums, in: Antike und Abendland 4 (1954), S. 65 – 104, bes. S. 74 ff., 87 ff. 46 ,Alexandreis‘ [Anm. 3], V 510 – 513: Si gemitu commota pio uotisque suorum / Flebilibus diuina daret clementia talem / Francorum regem, toto radiaret in orbe / Haut mora uera fides […].
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gensätzlichen Zwecken: im Dienste der vana gloria oder der vexilla crucis. Einzig unter dem ersten, dem „professionellen“ Aspekt ist Alexander ein positiver Held.47 Walter von Châtillon war ein großer Bewunderer Lucans, der wahrscheinlich seine imitatio und aemulatio stärker beflügelt hat als Vergil. Im übrigen hat er ausdrücklich den Ehrgeiz, letzteren übertreffen zu wollen, von sich gewiesen (Prolog 19 – 20): Non enim arbitror me esse / meliorem Mantuano vate. 48 Nach antiker und mittelalterlicher Poetik ist die aemulatio, der Versuch wetteifernder Überbietung, die größte Ehre, die man einem Vorgänger in der Dichtung erweisen kann, eine aktive, nicht bloß admirative Ehrung. Doch worin könnte die Überbietung der ,Pharsalia‘ durch die ,Alexandreis‘ bestehen? Im Gegensatz zu dem von Walter selbst im fünften Buch mit ironischer Prahlerei erhobenen Anspruch bildet das Kriterium gerade nicht die materielle „Größe“ des gewählten Gegenstandes, das eklatantere, expansivere Kriegsgeschehen, sondern die unwahrscheinlich aufsehenerregendere Fallhöhe des Helden, die atemberaubende Schnelligkeit seines Sturzes. Walters Alexander ist verglichen mit Lucans Cäsar ein überdimensionierter superbus vaesanus. Während der Dichter des ,Bürgerkriegs‘ nicht Cäsars Sturz, sondern den Untergang Roms, der res publica, als eine Welttragödie verkündet und beklagt, konzentriert Walter seine ganze Handlung auf die ambivalente Gestalt Alexanders. Paradoxerweise hat gerade diese Art der Heroisierung, die Inszenierung des Aufstiegs und Falls eines einzelnen Großen, die im Mittelalter als Definition der tragedia galt, den Sinn für das eigentlich Tragische verstellt, wie es Aristoteles für spätere Zeiten maßgeblich bestimmt hat: das 47 Harich [Anm. 5] unterschätzt diesen Punkt, wenn sie aus Walter einen bedingungslosen Alexanderverehrer und Kreuzzugsprogagandisten macht. Diese Deutung bildet den extremen Gegenpol zu der ebenso einseitigen These von Kratz [Anm. 9]. 48 Zum tatsächlichen Einfluß der namentlich erwähnten Autoren (Vergil, Lucan, Claudian) vgl. die in Anm. 7 genannte Literatur. Seit meiner Studie „Lucans tragedia“ [Anm. 1] von 1979 (vgl. S. 139 – 141) werden im allgemeinen die „ideologischen“ Aspekte der imitatio auctorum vermehrt zur Kenntnis genommen, was dazu geführt hat, daß die Forschung heute eher in Lucan als in Vergil den Leitautor Walters sieht, während man sich früher mit einer schlichten Zählung der Similien ohne Rücksicht auf poetisches Allgemeingut begnügte, was von selbst Vergil privilegierte. Zur Methode der Intertextualitätsforschung vgl. Schrijvers [Anm. 35], S. 17 ff.; meinen Aufsatz: Die Epistolae duorum amantium und die „säkulare Religion der Liebe“, in: Studi Medievali 44. 1 (2003), S. 1 – 115, bes. S. 60 ff. und oben Anm. 7, 14.
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unfaßliche, Furcht und Mitleid erregende Scheitern eines „mittleren“ Helden am Schicksal.49 Das Ende Alexanders ist nach mittelalterlicher Vorstellung im Grunde nur für ihn selbst tragisch, nicht für die providentiell gelenkte Welt. Dies erinnert ein wenig an den Spott Johanns von Salisbury über Kleopatras Fall: „Sie, die zuvor über Könige geherrscht hat, diese Erbärmliche, nicht Erbarmungswürdige (misera non miserabilis), hatte danach ein für sie selbst tragisches, aber für das Römische Reich, das sie umstürzen wollte, komisches Ende.“50 Die großen mittelalterlichen „Tragödien“ zeigen, wie Isidor es programmatisch formuliert hat, „alte Taten und Untaten verbrecherischer Könige“ – antiqua gesta atque facinora sceleratorum regum – und deren verdienten Untergang.51 Damit verlieren sie an tragischer Kraft, was sie an erbaulicher Lehrhaftigkeit gewinnen. Um von dieser allgemeinen diskurstraditionellen Vorgabe auf die ,Alexandreis‘ zurückzukommen, läßt sich dennoch feststellen, daß wohl kein anderer mittelalterlicher Dichter den tragischen Pessimismus, die kalte Ironie und den satirischen Zynismus Lucans besser verstanden hat als Walter von Châtillon.52 In einer der jüngsten Monographien zur ,Alexandreis‘ hat Claudia Wiener sich entschieden gegen die eingangs als Paradigmawechsel begrüßten Interpretationen gewandt, die dem Epos eine gewisse Dosis moralischer Alexanderkritik zuschreiben. In den Augen der Altphilologin entwirft Walter ein großes typologisch-heilsgeschichtliches Drama voller providentieller Entsprechungen zwischen einerseits dem bibli-
49 Vgl. Knapp [SV 56], S. 152 – 170; P. von Moos: Perspektiven der Unabsichtlichkeit, in: Cornelia Bohn/Herbert Willems (Hg.): Sinngeneratoren. Festschrift Alois Hahn, Konstanz 2001, S. 111 – 138. 50 ,Policraticus‘ III 10, 42 – 45, ed. K. S. B. Keats-Rohan (Corpus Christianorum continuatio mediaevalis 118 [1993]), S. 201, 6 – 9: Profecto antea regibus imperauerat, postmodum misera nec miserabilis, sibi forte tragicum, sed Romano imperio, quod subuertere moliebatur, finem comicum fecit. Zum Konzept des Komischen und Tragischen im Mittelalter und bei Johannvon Salisbury vgl. von Moos [Anm. 16], S. 484, 510 ff., 589 ff. 51 ,Etymologiae‘ XVIII 45. Diese Vorstellung war es 1979, die mich in „Lucans tragedia [Anm.1]“ von einer Untersuchung der geistig am meisten von Lucans tragischen Pessimismus bestimmten Werke davon abhielt, auch die ,Alexandreis‘ in diesem Zusammenhang zu analysieren. 52 Zur Auffassung der ,Pharsalia‘ als „Tragödie“ im Sinne des exitus virorum illustrium und als „Satire“ oder dehortatio a civili bello vgl. von Moos: Lucans tragedia [Anm. 1], S. 134 ff.
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schen Alexander, dem vierten Tier des somnium Danielis 53, einer nur sehr schwachen Cäsar-Analogie und vor allem dem Symbol des letzten Weltalters sub lege vor der Ankunft Christi, andererseits zwischen dem „Antityp“ sub gratia, einem zweiten und neuen Alexander der Christenheit in der Gestalt des jungen Philipp August, den Gott dazu bestimmt habe, einen endgültig siegreichen Kreuzzug gegen die Sarazenen zu führen.54 Diese These erinnert an frühe althistorische Forschungen zum hellenistischen Alexanderroman, die sich seit Friedrich Pfister auf die Legendenbildung in den drei Buchreligionen konzentriert haben.55 Zu Walter insbesondere erneuert Wiener die von Christensen am Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte These. Die charismatische Faszination durch einen prometheischen, ja nahezu messianischen Übermenschen stand seit je im Zentrum volkstümlicher Phantasien. Sie setzte sich sogar in den modernen Geisteswissenschaften ideologisch fort in einer bestimmten Bewunderung für „große Männer“ der Geschichte (etwa bei Nietzsche, George, Gundolf oder dem jungen Kantorowicz). Diese „mythische“ Überhöhung war gewiß auch in der Literatur des 12. Jahrhunderts – insbesondere der volkssprachigen – wirksam und konnte Walter nicht unbekannt sein. Aber wie bezieht er sich darauf ? Man sollte nicht übersehen, daß die klerikale Umwelt, die seine lateinische 53 Dan 7, 7: Üblicherweise symbolisiert in der Exegese das vierte Tier mit den Eisenzähnen und den 10 Hörnern das Alexanderreich. Nach Wiener [Anm. 7], S. 57 und ,Alexandreis‘ [Anm. 3], VI 299 – 301 bezieht sich hingegen das dritte Tier, der Leopard aus Dan 7, 6, auf Alexander: Precipitique legens Darii uestigia cursu / Ne fuga surripiat pleni pars magna triumphi / Qui solus superest, pardis instantior instat. Im allgemeinen bezieht sich sonst das dritte Tier auf das Perserreich. 54 Ein großes Verdienst der Arbeit Wieners ([Anm. 7], bes. Kap. VI, S. 91 ff.), liegt darin, daß sie neue Argumente für die Datierung des Werks in die Zeit von 1175 – 1179 beibringt (die letzten Jahre der Regierung Ludwigs VII. und Krönung des jungen Philipp August). Im übrigen finde ich darin die bisher feinsinnigste Analyse der Textparallelen zwischen der ,Pharsalia‘ und der ,Alexandreis‘ (Kap. III, S. 45 ff.). Ich verstehe nur nicht, warum die Autorin, die ohne Zögern die positive Parallele zwischen Darius und Pompeius (und der guten Sache Catos) akzeptiert, die logisch dazu passende und darum (wenigstens partiell) unbestreitbar negative Alexander-Cäsar-Analogie nicht sieht. Vom 6. Buch bis ans Ende des Epos wird diese Parallele immer düsterer und beängstigender, wie dies Ratkovitsch gut gezeigt hat. Deren Gesamtdeutung scheint mir durch Wiener nicht in Frage gestellt zu werden. 55 Wiener [Anm. 7] zitiert mehrere Arbeiten Pfisters aus dem frühen 20. Jahrhundert, die unter dem Titel „Kleine Schriften zum Alexanderroman“ (Meisenheim a. G. 1976) nachgedruckt vorliegen.
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Alexanderdichtung unmittelbar und dauerhaft als Meisterwerk anerkannt hat, vor allem eine „Kultur der Mehrdeutigkeit“56 war, die die Welt nicht beim Buchstaben zu nehmen pflegte, sich vielmehr an Auslegungsschwierigkeiten erfreute und den Zweitsinn aller Evidenzen zu suchen liebte. Es scheint mir darum nicht abwegig, in die Palette der vielen ,Alexandreis‘-Interpretationen auch die eines providentiellen Heilbringers zu integrieren, sofern diese Deutung nicht die Alleinherrschaft beansprucht. Wiener betont selbst den tief „mehrdimensionalen“ Charakter des Werks, das gerade für exegetisch interessierte Leser als Übungs- und Schulungsstoff bei der Auslegung des mehrfachen (historischen, moralischen, mystischen, anagogischen, typologischen) Schriftsinns bestimmt war.57 Man kann darum den Appell zum Kreuzzug im fünften Buch mit der panegyrischen Anspielung an den jungen Thronfolger durchaus als einen Interpretationsschlüssel verstehen, ohne deshalb den gegensätzlichen, genauso wichtigen Code der proles vaesana Philippi aufgeben zu müssen. Die Autorin setzt diesen alexanderkritischen Lucan-Vers (X 20) in ihren Buchtitel, glaubt aber zu Unrecht, er sei durch Walters biblische Charakterisierung Alexanders als totius malleus orbis bei weitem aufgewogen und überboten.58 Dieser die Welt zusammenschlagende „Hammer“ aller Schrecken ist in der Hand Gottes ein Werkzeug der Strafe, Erprobung und exemplarischen Lehre. In dieser Perspektive ist die subjektive Absicht oder Moral Alexanders belanglos. Der Held ist nur noch Werkzeug der Vorsehung, ähnlich wie der Teufel, der „stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ Man konnte im Mittelalter den Erfolg großer Bösewichte schwerlich darstellen, ohne das Problem der Theodizee zu berühren. Die wild gewordene Hybris eines draufgängerischen Welteroberers schließt keineswegs aus, daß er im Heilsplan Gottes einen bestimmten historischen Sinn verwirklicht.59 56 Vgl. B. Roy: Une culture de l’équivoque, Montréal-Paris 1992, bes. S. 9 f. und von Moos [Anm. 16], S. 238 ff. 57 Die von Wiener ins Zentrum gestellte „typologische“ Perspektive ist auch in Ratkowitschs Arbeit präsent (vgl. Descriptio [Anm. 5], etwa S. 186), doch wird sie auf die moralische Ambivalenz Alexanders bezogen. 58 Wiener [Anm. 7], S. 55 ff.; vgl. Jer 50, 23 in ,Alexandreis‘ [Anm.3], VII 423 f. Zu vaesanus vgl. oben Anm. 26. 59 Zur Dialektik einer Vorsehung, die sich selbst der schlimmsten Schurken bedienen kann, um Wahrheiten und Prophetien zu verkünden, ja Wunder zu wirken, vgl. folgenden, für die mittelalterliche Theologie exemplarischen Passus Abaelards in seiner ,Theologia scholarium‘ (Corpus Christianorum
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Das hier „nochmals besuchte“ Arbeitsgebiet war in den 70er Jahren der Anlaß zu meiner allerersten geistigen Begegnung mit Fritz Peter Knapp, der mir danach bis heute bei so vielen Gelegenheiten ein überaus anregender Gesprächspartner geblieben ist. Auch wenn ich unseren damaligen Konsens im vorangehenden Beitrag nicht mehr uneingeschränkt verfechten kann, so sehe ich doch gern auf diesen Beginn unserer vielfältigen Diskussionen zurück. Es ist Ermessenssache, was solche für Festschriften gattungsgemäßen Retrospektiven erbringen, aber sie dürften immerhin lehren, daß in den historischen Wissenschaften schon der bloße Fortgang der Forschung, gleichviel ob er auch Fortschritt bedeute, uns stets nötigt, frühere Erkenntnisse für die je eigene Zeit neu zu denken und umzuformulieren, sollen sie der veritas filia temporis nahe bleiben.
continuatio mediaevalis 13), I 106, p. 359: Cum autem per reprobos deus aut miracula ostendit aut prophetias loquitur aut quelibet magna operatur, non hoc ad utilitatem ipsorum agitur, quibus utitur tamquam instrumentis, sed potius aliorum quos instruere intendit […] Bene autem per indignos seu infideles maxima deus operatur, qui verbis asini prophetam docuit, ne si per magnos tantum magna operaretur, virtutibus meritisque hominum magis quam divine gratie hec tribuerentur. Vgl. Auch J. Ehlers: Gut und Böse in der hochmittelalterlichen Historiographie, in: A. Zimmermann (Hg.): Die Mächte des Guten und des Bösen. Vorstellungen im XII. und XIII. Jahrhundert über ihr Wirken in der Heilsgeschichte. 20., zu Köln veranstaltete Mediävistentagung, 1.–4. Sept. 1977 (Miscellanea Mediaevalia 11), Berlin 1977, S. 27 – 71, bes. S. 34 ff. zu demselben Erklärungsmodell bei Otto von Freising im Hinblick auf den Mißerfolg des 2. Kreuzzugs. Die Altphilologen dürften von ihrer Ausbildung her oft nicht genügend für das Verständnis solch theologischer und literarischer Subtilitäten des Mittelalters gerüstet sein, und ich meine, daß selbst auf dem engeren Gebiet der mittelalterlichen Antikerezeption auf eine solide mediävistische Kompetenz keinesfalls verzichtet werden kann. Dies verstehe ich im übrigen als ceterum censeo gegen die derzeitige Tendenz zur Einrichtung gesamtlatinistischer Lehrstühle.
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Traditionelles Erzählen Zur Poetik des ,Nibelungenliedes‘ Mit einem Exkurs über „Leerstellen“ und „Löcher“
Joachim Heinzle … tota quaestio nostra historica et critica est, non de optabili re, sed de re facta. Potest fieri ut novae ex illa difficultates nascantur, ut augeatur etiam admirabilitas rei: quid id ad nos? Amandae sunt artes, at reverenda est historia. 1
„Im letzten Jahrzehnt war die Forschung zum ,Nibelungenlied‘ so rege wie lange nicht mehr. Sie hat die Befürchtung widerlegt, es möchte sich neuerdings […] eine starre Rechtgläubigkeit ausbilden. […] Man hat sich nachgerade daran gewöhnt, daß in Sachen der Nibelungen jeder s e i n e n Glauben hat.“ – Diese Sätze hat Andreas Heusler geschrieben. Sie stehen im Nachwort zur dritten Auflage von „Nibelungensage und Nibelungenlied“, die 1929 erschienen ist.2 Wer die aktuelle Forschung mustert, wird sie unverändert gültig finden. Er kann den Eindruck gewinnen, daß es so viele Nibelungenlieder gibt wie ,Nibelungenlied‘Forscher. Das Chaos ordnet sich, wenn man die Beiträge zu dem Antagonismus in Beziehung setzt, der seit Friedrich August Wolfs „Prolegomena ad Homerum“ offen oder verdeckt alle Epenforschung bestimmt: dem Antagonismus zwischen einem traditionalistischen (analytischen) und einem individualistischen (unitarischen) Verständnis der Texte. Wolfs Schrift war 1795 „wie eine Bombe in eine friedliche Landschaft innigster deutscher Homerverehrung“3 gefallen. Das homerische 1
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Friedrich August Wolf in der Einleitung zur Ausgabe der ,Ilias‘ von 1794, zitiert nach Gottfried Bernhardy (Hg.): F. A. W.: Kleine Schriften in lateinischer und deutscher Sprache, Bd. I: Scripta latina, Halle 1869 (Nachdruck Hildesheim 2003), S. 197 – 212, hier S. 210 f. Zitiert nach dem Abdruck in der 6. Auflage, Dortmund 1965, S. 156. Joachim Wohlleben: Friedrich August Wolfs „Prolegomena ad Homerum“ in der literarischen Szene der Zeit, in: Poetica 28 (1996), S. 154 – 170, hier S. 155.
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Epos, so lehrte Wolf, sei ein heterogenes Gebilde, eine sekundäre Verbindung traditioneller, ehedem mündlich tradierter Lieder verschiedener Verfasser, die einzelne Episoden des erzählten Geschehens behandelten. Das ergab sich für ihn zwingend aus Brüchen, Widersprüchen, Unebenheiten im Gefüge der Texte. Die Wirkung der Schrift war immens. Sie schreckte nicht nur die Philologen auf, sondern griff massiv in den poetologischen Diskurs der Zeit ein: „Der Coup, dessen man Wolf für schuldig hielt, war vor allem auch gegen das Prinzip der Kunstautonomie gerichtet […]. Was infrage gestellt schien, war das große Genie als einzige Quelle großer Dichtung, das ganze Konzept vom inspirierten Autor und dem aus seiner Imagination entspringenden autonomen Kunstwerk. Ein Glaubensbekenntnis, das seit den Sturm und Drang-Tagen galt, stand auf dem Prüfstand.“4 Entsprechend heftig fiel der Widerspruch aus. Mit immer neuen Argumenten bemühte man sich, das herrschende Bild von Homer als dem Originalgenie katexochen zu retten, suchte man zu beweisen, daß ,Ilias‘ und ,Odyssee‘ allen Ergebnissen der philologischen Analyse zum Trotz Werke aus einem Guß sind. Der Streit ist bis heute nicht entschieden – er kann gar nicht entschieden werden, weil die Alternative falsch ist. Wer die Epen in ihrer historischen Eigenart verstehen will, muß sie aus b e i d e n Perspektiven in den Blick nehmen: aus der traditionalistischen u n d aus der individualistischen. Jede Beschränkung auf die eine oder die andere führt zu Fehlurteilen, verhindert Erkenntnis. Wenn die Forschungsgeschichte der „Homerischen Frage“ eines lehrt, dann dies. Die Mediävisten sind gut beraten, sie zu studieren, wenn sie wissen wollen, was sie tun und was sie zu tun haben, wenn sie sich mit Werken des Genres befassen, mit der ,Chanson de Roland‘ z. B. oder eben dem ,Nibelungenlied‘. * Am Beginn der germanistischen ,Nibelungenlied‘-Forschung stand die Adaptation von Wolfs Homer-Theorie. Karl Lachmann, der Schüler Wolfs, wollte zeigen, „dass unser so genanntes ,Nibelungenlied‘, oder bestimmter, die Gestalt desselben, in der wir es, aus den Anfängen des dreizehnten Jahrhunderts uns überliefert, lesen, aus einer noch jetzt erkennbaren Zusammensetzung einzelner romanzenartiger Lieder ent-
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Wohlleben [Anm. 3], S. 158.
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standen sei“5. Der These liegt, ganz wie bei Wolf, eine Analyse des Textes zugrunde, die diesen auf Widersprüche und Motivationsdefizite abklopft, die als „Spuren der Zusammenfügung“6 erklärt werden. Die weitere Geschichte der Forschung läßt sich am Leitfaden des Standpunkts erzählen, den die Gelehrten zu der Frage einnahmen, inwieweit sich der Text dem Kunstwillen und Kunstvermögen eines individuellen Dichters verdankt und inwieweit er in seiner Faktur von überindividueller Erzähltradition abhängig ist. Extrempositionen sind dabei eher selten vertreten worden – Heusler etwa, dem man nachsagte, er habe am ,Nibelungenlied‘ „hauptsächlich die Leistung der dichtenden Vorgänger“7 geschätzt, hat das Verhältnis von individuellen und traditionellen Momenten in Wahrheit sehr differenziert beurteilt (und mit einer Präzision analysiert, die unerreicht geblieben ist).8 Nur einmal noch seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schien es so, als könne eine Extremposition die Forschung monopolisieren. Das war in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als die Bemühungen um eine W e r k i n t e r p r e t a t i o n des ,Nibelungenliedes‘ in imponierende Gesamtdarstellungen mündeten, die strikt individualistisch ausgerichtet waren. „Eine systematische und umfassende Analyse des ,Nibelungenliedes‘ soll unternommen und die Dichtung einzig aus sich selbst heraus und aus nichts anderem begriffen und erklärt werden – ohne jeden Seitenblick auf die zu errechnende Sagengeschichte und auf andere wirklich vorhandene Heldendichtungen“ – so bestimmte Gottfried Weber 1963 das Programm seines Buches über „Problem und Idee“ des ,Nibelungenliedes‘.9 Das Ergebnis des Unternehmens war vorprogrammiert. Es mußte den Text als eminentes sprachliches Kunstwerk, seinen Dichter als Genie erscheinen lassen: „Daß er in einem überzeitlichen Sinne, in unserem heutigen Wortverstand ein 5
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Karl Lachmann: Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth, Berlin 1816, zitiert nach Karl Müllenhoff (Hg.): K. L.: Kleinere Schriften zur deutschen Philologie, Berlin 1876, hier S. 1. – Vgl. Josef Körner: Nibelungenforschungen der deutschen Romantik, Leipzig 1911 (Nachdruck Darmstadt 1968), S. 191 ff. Lachmann [Anm. 5], S. 4. Heusler [Anm. 2], S. 156. Vgl. Joachim Heinzle: Die Handschriften des ,Nibelungenliedes‘ und die Entwicklung des Textes, in: Joachim Heinzle/Klaus Klein/Ute Obhof (Hg.): Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythos, Wiesbaden 2003, S. 191 – 212, hier S. 193. Gottfried Weber: Das Nibelungenlied. Problem und Idee, Stuttgart 1963, S. 2.
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dichterischer Schöpfer höchsten Ranges war, ist unbestreitbar und wird ja auch immer weniger bestritten.“10 Im Affekt gegen die „zu errechnende Sagengeschichte“ haben wir exakt die Konstellation wieder, die sich nach dem Erscheinen von Wolfs „Prolegomena“ eingestellt hatte: Apologie des Schöpfertums gegen die Zumutungen traditionalistischer Analyse. Der literaturwissenschaftliche Paradigmenwechsel an der Wende von den sechziger zu den siebziger Jahren: die Ersetzung des werkinterpretierenden Modells durch das sozialhistorische,11 hat verhindert, daß die Bäume dieser Art von Individualismus in den Himmel wuchsen. Zu einer wirklichen Neuorientierung der ,Nibelungenlied‘-Forschung führte er nicht. Die sozialhistorischen Deutungen des Textes konnten nicht überzeugen, weil sie – worauf zuerst Fritz Peter Knapp mit Nachdruck hinwies – den Transfer zwischen Literatur- und Geschichtswissenschaft nicht in den Griff bekamen: zu schematisch war ihr methodischer Ansatz, zu wenig fundiert waren sie in der Sache.12 So blieb ein großer Teil der ,Nibelungenlied‘-Forschung – bei weiterhin äußerster Divergenz der Deutungen im einzelnen – einem grundsätzlich individualistisch interessierten Interpretationsansatz verpflichtet. Doch gab die veränderte Gesamtsituation der Literaturwissenschaft nun auch Raum für eine neue Bewertung der Tradition, aus der der Text erwachsen ist. Die Grundannahme dieser Forschungen hat Michael Curschmann prägnant formuliert: „Ordnendes Sammeln steht […] im Vordergrund des Bemühens [des Dichters]. Generelle Richtschnur ist die Faktizität des Überlieferten, und neue, übergreifende Handlungszusammenhänge werden vorzugsweise mit 10 Weber [Anm. 9], S. 198. 11 Vgl. Joachim Heinzle: Literatur und historische Wirklichkeit. Zur fachgeschichtlichen Situierung sozialhistorischer Forschungsprogramme in der Altgermanistik, in: Eckart Conrad Lutz (Hg.): Das Mittelalter und die Germanisten. Zur neueren Methodengeschichte der Germanischen Philologie. Freiburger Colloquium 1997, Freiburg (Schweiz) 1998, S. 93 – 114, hier S. 105 ff. 12 Knapp [SV 52], S. 174 – 189. Vgl. Uwe Meves: Das literarische Mäzenatentum Wolfgers und die Passauer Hofgesellschaft um 1200, in: Egon Boshof/Fritz Peter Knapp (Hg.): Wolfger von Erla Bischof von Passau (1191 – 1204) und Patriarch von Aquileja (1204 – 1218) als Kirchenfürst und Literaturmäzen, Heidelberg 1994, S. 215 – 247, hier S. 241; Joachim Heinzle: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. Kleiner Kommentar zu einer Forschungsperspektive, in: Eckart Conrad Lutz (Hg.): Mittelalterliche Literatur im Lebenszusammenhang. Ergebnisse des Troisième Cycle Romand 1994, Freiburg (Schweiz) 1997, S. 79 – 93, hier S. 85.
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Hilfe vorgeprägter Erzählmuster hergestellt. Daher die Brüchigkeit der Komposition und der gelegentliche Leerlauf, die Doppelbesetzung von Motiven und Rollen, die inneren Widersprüche in Motivation und Handlungsführung, die weitgehende Toleranz gegenüber der sprachlichen, politisch-geschichtlichen und ,ethischen‘ (Neumann) Schichtung der Sage und das Fehlen eindeutiger faktischer oder psychologischer Begründung an kritischen Punkten. […] Der Dichter hat den Stoff nicht von Grund auf neu durchdrungen und von innen durchformt, sondern übernommen und so aufbereitet, daß er unter den literarhistorischen und -ästhetischen Bedingungen seiner Zeit und Umwelt literaturfähig wurde.“13
In ein Forschungsprogramm übersetzt, heißt das: Es geht darum, Hypothesen zu bilden, die die offenkundige Bindung des Dichters an „die Faktizität des Überlieferten“ – die vorgängige Erzähltradition – ebenso berücksichtigen wie das Verfahren der buchepischen Verarbeitung dieser Tradition im Horizont der literarischen Situation der Zeit um 1200. Forschungsgeschichtlich gesehen, läuft das auf das Bemühen hinaus, den Graben zwischen Traditionalismus und Individualismus zuzuschütten, oder, mit Theodore Andersson: „to bridge the traditional gap between those scholars who have studied the ,Nibelungenlied‘ against the background of Germanic heroic legend and those who have sought to locate the poem in the literary situation at the end of the twelfth century.“14 Wie ein solcher Brückenschlag aussehen kann, hat Andersson selbst und hat dann vor allem Alois Wolf in seinem Buch „Heldensage und Epos“ von 1995 demonstriert.15 Indem Wolf im weiten europäischen Rahmen systematisch verfolgte, wie die Konstruktion des schriftlichen Großepos aus mündlicher Erzähltradition möglich wurde, konnte er plausibel machen, daß das ,Nibelungenlied‘ gerade als „Werk des Hochmittelalters“ allein „aus der Auseinandersetzung mit den Nibelungensagen“ zu verstehen ist.16 Im Grundsatz ist das heute wohl unstrittig. Strittig hingegen ist die Frage, in w e l c h e s V e r h ä l t n i s sich 13 Michael Curschmann: Nibelungenlied und Klage, in: 2Verfasserlexikon 6 (1987), Sp. 926 – 969, hier Sp. 946 f. 14 Theodore M. Andersson: A Preface to the Nibelungenlied, Stanford 1987, S. V. Vgl. meine Rezension des Buches in: Zeitschrift für deutsche Philologie 109 (1990), S. 120 – 123. 15 Alois Wolf: Heldensage und Epos. Zur Konstituierung einer mittelalterlichen volkssprachlichen Gattung im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Tübingen 1995. Vgl. meine Rezension in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 118 (1996), S. 293 – 305. 16 Wolf [Anm. 15], S. 314.
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der Dichter (oder die Werkstatt, deren führender Kopf er war) 17 zur Sage, d. h. zur vorgängigen mündlichen Tradition, gesetzt hat. Man kann wiederum tendenziell traditionalistische und tendenziell individualistische Ansätze unterscheiden. Walter Haug hat das geschickt genutzt, indem er zur Profilierung seiner eigenen Position den individualistisch orientierten Ansatz Jan-Dirk Müllers und den traditionalistisch orientierten Ansatz, mit dem ich arbeite, gegeneinander ausspielte.18 Daran anknüpfend, möchte ich im folgenden die Diskussion ein Stück weiterführen. * Ich rekapituliere zunächst die Grundlagen, wie sie sich uns heute darstellen. Die Nibelungensage – der Erzählkomplex vom Untergang der Burgunden und von Siegfried – ist im frühen Mittelalter entstanden, wohl zwischen dem 5. und 7. Jahrhundert bei den Burgunden und Franken.19 Über Jahrhunderte hin mündlich tradiert, verbreitete sich die Sage über die Germania. Bezeugt ist sie spätestens seit dem 10. Jahrhundert in bildlichen Darstellungen aus dem nordwesteuropäischen Raum.20 Verschriftlicht wurde sie zuerst um 1200 im mhd. ,Nibelun17 Die Vorstellung von einer „Nibelungenwerkstatt“, an deren Spitze ein „Meister“ oder „Großmeister“, eben der Nibelungendichter, stand, hat Joachim Bumke, anknüpfend an ältere Überlegungen der Forschung, entwickelt: Die vier Fassungen der Nibelungenklage. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin/ New York 1996, S. 590 ff. Ursula Schulze hat dagegen eingewandt, daß es „für eine besonders ausgeprägte deutschsprachige Handschriftenproduktion […] um 1200 in Passau ebenso wenig wie an anderen Orten Indizien“ gibt (Mündlichkeit und Schriftlichkeit im „Editionsprozess“ des Nibelungenliedes, in: editio 21 (2007), S. 1 – 18, hier S. 10). Der Einwand hat Gewicht, doch macht der Überlieferungsbefund die Annahme unabweislich. Vgl. auch Nikolaus Henkel: Die Nibelungenklage und die *C-Bearbeitung des Nibelungenliedes, in: Heinzle/Klein/Obhof [Anm. 8], S. 113 – 133, hier S. 130. 18 Walter Haug: Hat das ,Nibelungenlied‘ eine Konzeption?, in: John Greenfield (Hg.): Das Nibelungenlied. Actas do Simpósio Internacional 27 de Outobro de 2000, Porto 2001, S. 27 – 49. 19 Vgl. Knapp [SV 9], S. 306 f. 20 Als älteste Zeugnisse gelten gotländische Bildsteine aus dem 8. (oder 9.?) Jahrhundert mit chiffreartigen Darstellungen eines von Schlangen angegriffenen Mannes, die man auf Gunnar im Schlangenhof deutet (vgl. Erik Nylén/Jan Peder Lamm: Bildstenar, 3. Aufl., Stockholm 2003, S. 188, Kat, Nr. 153: Klinte Hunninge I; S. 196, Kat. Nr. 295: Stenkyrka Smiss I; zur Deutung auf Gunnar: Sylvia Althaus: Die gotländischen Bildsteine. Ein Programm, Göp-
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gen-Buch‘ – dem Werkverbund von ,Nibelungenlied‘ und ,Klage‘ –, dann im 13. Jahrhundert in Skandinavien: in der ,Thidrekssaga‘ und in den Liedern der ,Edda‘ und deren Prosatransformation in der ,Völsungasaga‘. Der Vergleich der Zeugnisse belegt, was nicht anders zu erwarten ist: daß die Erzählungen im Zuge der Tradierung nicht unverändert blieben. Es entstanden konkurrierende Versionen, die nebeneinander in Umlauf waren. Aufschlußreich beleuchtet diese Situation ein Text, auf den ich wiederholt hingewiesen habe: das eddische Prosastück ,Frá dauða Sigurðar‘ (,Vom Tod Sigurds‘), das in den Ausgaben gewöhnlich zum ,Ersten Gudrunlied‘ (,Guðrúnarkviða in fyrsta‘) gestellt wird.21 Es sei hier noch einmal zitiert: Hier in diesem Lied wird vom Tode Sigurds gesprochen. Und es läuft darin so ab, als hätten sie ihn draußen getötet. Einige jedoch sagen, dass sie ihn, den Schlafenden, drinnen in seinem Bett erschlagen hätten. Aber deutsche Männer erzählen, sie hätten ihn draußen im Wald getötet. Und im ,alten Gudrunlied‘ wird gesagt, dass Sigurd und Gjukis Söhne zum Thing geritten waren, als er erschlagen wurde. Aber das erzählen alle gleich, dass sie ihn um die Treue betrogen und ihn erschlugen, den Liegenden und Unbewaffneten.22
Für Deutschland ist mit derselben Situation zu rechnen. Dem Dichter und den Bearbeitern des ,Nibelungenliedes‘ und ihrem Publikum muß die Geschichte in verschiedenen Varianten bekannt gewesen sein. Bewahrt sind diese Varianten vor allem in den nordischen Texten. pingen 1993, S. 204). Die Deutung ist allgemein akzeptiert, aber nicht definitiv zu sichern. Unzweifelhaft auf die Nibelungensage (Sigurd und Gunnar) beziehen sich erst die berühmten Steinkreuze von der Isle of Man aus dem 10. Jahrhundert (vgl. zuletzt Joachim Heinzle: Siegfried in Navarra. Zu Motivik und Ikonographie der Drachentötung, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 135 (2006), S. 141 – 163, hier S. 148 ff.). – Grober Überblick über die Zeugnisse bei Joachim Heinzle: Zum literarischen Status des Nibelungenliedes, in: Christoph Fasbender (Hg.): Nibelungenlied und Nibelungenklage. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2005, S. 106 – 121, hier S. 108 f. 21 Vgl. Heinzle, Status [Anm. 20], S. 111; ders.: Nibelungensage und ,Nibelungenlied‘ im späten Mittelalter, in: Horst Brunner/Werner Williams-Krapp (Hg.): Forschungen zur deutschen Literatur des Spätmittelalters. Festschrift für Johannes Janota, Tübingen 2003, S. 15 – 30, hier S. 24. 22 Die Götter- und Heldenlieder der Älteren ,Edda‘, übers., komm. und hrsg. von Arnulf Krause, Stuttgart 2004, S. 357 = ,Edda‘. Die Lieder des Codex Regius nebst verwandten Denkmälern, hg. von Gustav Neckel, Bd. I: Text, 4., umgearb. Aufl. von Hans Kuhn, Heidelberg 1962, S. 201.
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Zeugnisse aus dem späten Mittelalter belegen das zweifelsfrei. Ich erinnere nur an die beiden spektakulärsten, die aus dem 14. oder 15. Jahrhundert stammen.23 Erstens: Die ,Heldenbuch-Prosa‘ erzählt die Geschichte von der Tötung des Etzelsohns in der Variante, die auch die ,Thidrekssaga‘ bietet. Sie weicht entscheidend von der Variante des ,Nibelungenliedes‘ ab, doch spielt dieses in einer berüchtigten Strophe auf sie an. Zweitens: Im Vorspann, der in der Fassung n des Nibelungenliedes der Erzählung vom Burgundenuntergang vorangestellt ist, wird wie in der ,Thidrekssaga‘ berichtet, man habe den Leichnam Siegfrieds der schlafenden Kriemhild ins Bett geworfen. Im ,Nibelungenlied‘ gibt es einen Reflex dieser Variante, sonst läuft der Vorgang ganz anders ab: Die Leiche wird vor Kriemhilds Kemenate gelegt. Es ist so gut wie ausgeschlossen, daß die ,Heldenbuch-Prosa‘ oder die Fassung n des ,Nibelungenliedes‘ die ,Thidrekssaga‘ benutzt haben. Diese schöpft hier vielmehr aus einer mündlichen Tradition, die auch dem Nibelungendichter bekannt war und die in Deutschland neben dem ,Nibelungenlied‘ mindestens bis in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts weitergelebt hat. * Das bedeutet, daß das ,Nibelungenlied‘ bis zum Ende seiner Tradierung im Horizont der Sage stand. Als Teil einer umfassenden Erzähltradition, aus der es entwickelt und in deren Zusammenhang es rezipiert wurde, genügte es sich als Text nicht selbst. Im Hinblick auf konkurrierende Versionen entworfen, war es darauf berechnet, vor deren Hintergrund wahrgenommen zu werden. Soweit wir sehen, gilt das grundsätzlich für alle heroische Dichtung, für die germanische so gut wie für die altgriechische oder die altfranzösische. Wir haben es m it n a r r a t i v e n D i s k u r s e n zu tun, für die ich die Bezeichnung t r a d i t i o n e l l e s E r z ä h l e n vorschlage. Dem traditionellen Erzählen liegt eine eigentümliche Poetik zugrunde, der man mit dem werkinterpretierenden Verfahren nicht gerecht werden kann. Am Prosastück von Siegfrieds Tod läßt sich ein wesentliches Moment dieser Poetik ablesen. Der Verfasser fragt nicht, welche der konkurrierenden Varianten die richtige sei, sondern hebt heraus, was allen gemeinsam ist. Er ist darauf bedacht, das Divergente zu integrieren. Und eben dies: I n t e g r a t i o n d e s D i v e r g e n t e n ist offenbar auch eine Leitlinie bei der Verschriftlichung der Nibelun23 Nachweise bei Heinzle [Anm. 21], S. 20 ff. und 27 ff.
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gensage im ,Nibelungenlied‘ gewesen. Sie zielt da, wenn man so will, auf S u m m e n b i l d u n g : Varianten werden nicht einfach ausgeschieden, sondern versammelt und verbunden. Den Grund dafür möchte ich im Wahrheitsanspruch der Überlieferung sehen, in ihrer Verbindlichkeit als V o r z e i t k u n d e .24 Das neue Medium hielt nicht nur an dieser Verbindlichkeit fest, es stellte sie auf eine neue Grundlage: Indem die Varianten im Schriftwerk zusammengebracht werden, wird ihre Validität beglaubigt. Der Verfasser des Buchepos „emanzipiert“ sich nicht von der mündlichen Tradition,25 er s c h r e i b t sie in einer spezifischen Weise fort. Den Verbindlichkeitsanspruch der mündlichen Tradition konnte das Schriftwerk schon deshalb nicht aufgeben, weil es bis zum Ende der Überlieferung an diese Tradition gebunden blieb und sich in Konkurrenz zu ihr behaupten mußte. Die Fassungen m und n zeigen das mit wünschenswerter Deutlichkeit.26 * Das ist der Rahmen, in dem m. E. auch die Widersprüche im Motivationsgefüge des Textes zu verstehen sind. Sie kommen gewiß nicht nur, aber doch wohl auch und in signifikanter Weise dadurch zustande, daß konkurrierende Varianten handlungslogisch nicht voll integriert sind.27 In diesem Sinne halte ich am analytischen Ansatz der Epenfor-
24 Vgl. Joachim Heinzle: Konstanten der Nibelungenrezeption in Mittelalter und Neuzeit, in: Klaus Zatloukal (Hg.): 3. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Die Rezeption des Nibelungenliedes, Wien 1995, S. 81 – 107, hier S. 88 ff. 25 So zuletzt Cordula Kropik: Reflexionen des Geschichtlichen. Zur literarischen Konstituierung mittelhochdeutscher Heldenepik, Heidelberg 2008, S. 34: „[…] ist die Verlängerung der Tradition ins Literarische in erster Linie als dichterische Emanzipationsbestrebung zu verstehen“. 26 Vgl. Heinzle [Anm. 8], S. 205 f.; zur Fassung n, in die möglicherweise ein komplettes Lied aus der mündlichen Tradition eingebaut wurde: Joachim Heinzle: Wiedererzählen in der Heldendichtung. Zur Fassung n des ,Nibelungenliedes‘, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 124 (2005), Sonderheft: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur, S. 139 – 158. 27 Daß nicht a l l e Unstimmigkeiten stoffgeschichtlich bedingt sind, und daß sie, selbst wenn sie es sind, nicht zwangsläufig ein künstlerisches Manko sein müssen, bleibt unbestritten. Ich habe solche Fälle beschrieben und versucht, so etwas wie eine Theorie der stilistischen Funktionalität von Unstimmigkeiten zu entwerfen: Mittelhochdeutsche Dietrichepik. Untersuchungen zur Tradierungsweise, Überlieferungskritik und Gattungsgeschichte später Heldendichtung, München 1978, S. 170 ff. Vgl. Karen J. Campbell: Some Types of In-
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schung fest. Und ich bleibe auch dabei, daß die Varianten in erster Linie durch den Vergleich mit den nordischen Nibelungentexten identifizierbar sind. Dabei geht es nicht darum, die „Sagengeschichte als Joker“ zu benutzen, „der immer dann gespielt wird, wenn der Interpret in seinem Bemühen um handlungslogische und psychologische Stimmigkeit mit seinem Latein am Ende ist“.28 Die nordischen Texte sind ihrerseits alles andere als handlungslogisch und psychologisch stimmig: ,Thidrekssaga‘ und ,Edda‘-Lieder muten dem Leser Widersprüche zu, gegen die die Widersprüche des ,Nibelungenliedes‘ eher harmlos sind. Doch sind die Verwerfungen in den verschiedenen Texten unterschiedlich gelagert, und deshalb ist es bis zu einem gewissen Grad möglich, in vergleichender Analyse ihre Genese zu rekonstruieren. Sie sind das Produkt einer Integrationsarbeit, die nicht zum Abschluß gekommen ist. Demgegenüber will Jan-Dirk Müller die Widersprüche nicht „als ,Fehler‘ betrachtet“ wissen, „sondern als Spuren, die auf eine andere Sicht der Welt und eine andere Ästhetik hinführen“29. Das ist als eine Art ethnologische Wende der Nibelungenforschung gemeint: Da der Text, mißt man ihn an vertrauten narrativen Konventionen, defizient erscheint, wird er in eine Distanz gerückt, die ihn zum Fremden macht. Und eben als Fremder, als „künstlicher Wilder“30, soll er kenntlich werden. Die Distanznahme, „die Suspension vertrauter Kulturmuster“31, soll verständlich machen und als geglückt erscheinen lassen, was aus der Nahsicht unverständlich ist und als mißlungen erscheinen kann. Im Ergebnis läuft das wiederum auf das Postulat der g e l u n g e n e n D i c h t u n g hinaus, mit dem zugleich – wie Haug bemerkt hat – der „souveräne Autor“ zurückgeholt wird,32 das Dichterindividuum, das sich den Vorgaben der Tradition nicht unterwirft, sondern mit ihnen schaltet, wie sein Ingenium es will. Mit Recht wendet sich Müller gegen eine Lektüre des ,Nibelungenliedes‘, die Motivationen erwartet, „wie sie die Alltagserfahrung 28 29 30 31 32
coherence in Middle High German Epic, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 109 (1987), S. 350 – 374. Jan-Dirk Müller: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, S. 22. Müller [Anm. 28], S. 2. Clifford Geertz: Die künstlichen Wilden. Der Anthropologe als Schriftsteller, München/Wien 1990. Müller [Anm. 28], S. 14. Haug [Anm. 18], S. 42.
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unterstellt und wie sie die Erzähltheorie des 18. Jahrhunderts entwarf“33. Doch ist es offenkundig, daß das Erzählgefüge des ,Nibelungenliedes‘ gerade auch im Vergleich mit Texten defizient wirkt, die den Zeitgenossen vertraut waren: im Vergleich mit den höfischen Romanen und mit dem Werk, das irgendwie hinter aller Großepik im Mittelalter steht, der ,Aeneis‘. Die Zeitgenossen kannten sehr wohl ein Erzählen, das sich Kohärenzbedingungen unterwarf, die im ,Nibelungenlied‘ nicht erfüllt sind. Wenn die Analyse auf solche Bedingungen abhebt, ist das keineswegs anachronistisch, sondern die einzige Möglichkeit, den Text in seiner zeitgenössischen Besonderheit zu erfassen. * Die Positionen, um deren Abklärung es geht, lassen sich passend mit einem Beispiel aus der Ethnologie verdeutlichen: dem Ryleschen „Zwinker-Beispiel“, das durch Clifford Geertz – Müllers ethnologischen Gewährsmann – bekannt geworden ist.34 Ich zitiere es in der vereinfachten Form, in der es der amerikanische Wissenschaftsjournalist John Horgan in einem boshaften Porträt von Geertz wiedergegeben hat: Wenn jemand mit den Augen zwinkert, kann das ein unwillkürliches Zucken sein, das auf eine neurologische Erkrankung, auf Ermüdung oder auf Nervosität zurückzuführen ist. Vielleicht aber ist es auch ein Wink, ein intentionales Zeichen, das viele mögliche Bedeutungen hat. Eine Kultur besteht aus einer praktisch unendlichen Anzahl solcher Botschaften bzw. Zeichen, und die Aufgabe des Anthropologen besteht darin, diese zu deuten.35
Ich interpretiere die Widersprüche im ,Nibelungenlied‘ als ein unwillkürliches Zucken des Textes, Jan-Dirk Müller interpretiert sie als intentionale Zeichen. Als solche sind sie für ihn Teil einer raffinierten Strategie der Dekonstruktion der nibelungischen Welt, die der Dichter verfolgt haben soll: Das Epos zwingt zusammen und setzt in Beziehung, was sich als Motiv, Handlungselement, Verlaufsmuster, Deutungsperspektive aus einer (uns meist nicht mehr greifbaren) Tradition und einer nur in Spuren zugäng33 Müller [Anm. 28], S. 13. 34 Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur, in: C. G.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M. 1987, S. 7 – 43, hier S. 10 ff. 35 John Horgan: An den Grenzen des Wissens. Siegeszug und Dilemma der Naturwissenschaften, München 1997, S. 249.
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lichen Erfahrung anbietet, und spielt seine Alternativen durch. Sein Darstellungsmodus ist die Entstellung und damit die Aufdeckung dessen, was das zuvor Aufgestellte an Ambivalenzen und Widersprüchen verdeckte. Die Bewegung fortschreitender Entstellung ist nicht ziellos (denn das Ziel ist allgemeine Zerstörung), wohl aber ohne Ergebnis, Appell, Botschaft. […] Was als Widerspruch die Interpreten verwirrte, resultiert aus dem Impetus eines Erzählens, das Positionen nur setzt, um ihnen andere zu konfrontieren.36
Das ist ersichtlich poststrukturalistisch gedacht, und es fragt sich, ob man damit einem mittelalterlichen Text überhaupt gerecht werden kann. Ich bezweifle es, aber ich weiß, daß sich hier nichts objektivieren läßt. Wohl aber kann man zeigen, daß sich die These an einem historischen Faktum stößt: an der Überlieferung. Das ,Nibelungenlied‘ ist nicht in einem Zug entstanden. Die ,Not‘Version, die der Interpretation zugrundeliegt, ist nicht d a s Werk, sie repräsentiert nur den ältesten Textzustand, den wir fassen können. Er genügte den Ansprüchen des Verfassers und/oder des Publikums offenbar nicht und wurde umgehend fortentwickelt in der ,Lied‘-Version. Diese trieb den Prozeß der Integration des heterogenen Sagenmaterials weiter, indem sie Widersprüche tilgte oder milderte, und sie schrieb der Erzählung eine klare Sinnperspektive ein: diejenige, die in der ,Klage‘ räsonnierend entwickelt ist. Dem an der Komplexität moderner Literatur geschulten Blick mögen ,Lied‘-Fassung und ,Klage‘ trivial erscheinen. Die Zeitgenossen haben es anders gesehen: Sie haben das ,Nibelungenlied‘ vorzugsweise in der ,Lied‘-Version und gewöhnlich zusammen mit der ,Klage‘ gelesen, die vielleicht – ich meine: sehr wahrscheinlich – als integraler Teil des Verschriftlichungsprojekts von Anfang an mit ihm verbunden war.37 Wer annimmt, daß die ,Lied‘Version und die ,Klage‘ dem Anspruch des Ausgangstextes nicht genügen, muß dessen Verfasser für ein verkanntes Genie halten, das schon 36 Müller [Anm. 28], S. 455. 37 Zur Dominanz der ,Lied‘-Fassung in der Überlieferung vgl. zuletzt Joachim Heinzle: Zu den Handschriftenverhältnissen des ,Nibelungenliedes‘, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 137 (2008), S. 305 – 334, hier S. 329 ff.; zur Bedeutung der ,Klage‘ im Verschriftlichungsprozeß vor allem Nikolaus Henkel: ,Nibelungenlied‘ und ,Klage‘. Überlegungen zum Nibelungenverständnis um 1200, in: Nigel F. Palmer/Hans-Jochen Schiewer (Hg.): Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9.–11. Oktober 1997, Tübingen 1999, S. 73 – 98, ferner Henkel [Anm. 17], Heinzle [Anm. 8], S. 197 f., Kropik [Anm. 25], S. 136 ff.
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in seinem unmittelbaren Umfeld nichts galt. Das ist eine ziemlich gewagte Position. Ein Historiker, der es besser wissen will als die Zeitgenossen, hat keine guten Karten. Das wird schlagartig klar, wenn man die ,Klage‘ mit Fritz Peter Knapp in den Horizont des philosophischtheologischen Denkens der Zeit stellt: Das vermeintlich schlichte Moralisieren erweist sich dann als Ausdruck eines durchaus ambitionierten geschichtstheoretischen Konzepts.38 * Die Poetik des traditionellen Erzählens ist mehr als nur eine Strategie zur Bewältigung von Widersprüchen. Victor Millet hat unlängst zu zeigen versucht, daß der *C-Bearbeiter seine Zeichnung der Figuren Kriemhilds und Hagens gezielt auf ein Publikum hin entworfen hat, das mit der Sage vertraut war.39 Wenn es sich so verhält, wenn man grundsätzlich damit zu rechnen hat, daß die Verfasser/Redaktoren die „Traditionskenntnis“ der Hörer und Leser als p o e t o l o g i s c h e n F a k t o r einkalkuliert haben, dann klärt sich manches im ,Nibelungenlied‘, das in der Perspektive individualistisch-werkimmanenter Interpretation merkwürdig erscheinen muß. Ich will das am Beispiel der Jugendgeschichte Siegfrieds erläutern. Dem Nibelungendichter war bekanntlich daran gelegen, Siegfried als höfischen Prinzen erscheinen zu lassen. Daher hat er die traditionellen Jung-Siegfried-Abenteuer marginalisiert und es vermieden, direkt von ihnen zu berichten. Was für den Zusammenhang wichtig ist: Gewinn des Hortes, Drachenkampf, Erwerb der Hornhaut mit verwundbarer Stelle, läßt er Figuren – Hagen und Kriemhild – mitteilen. Die beiden Siegfried-Bilder – das des Prinzen und das des Abenteurers – überlagern sich in der ,Not‘-Fassung auf eine etwas unklare Weise und werden dann in der ,Lied‘-Fassung handlungslogisch hinlänglich fest miteinander verzahnt.40 Eine Zusatzstrophe dort (*C 21) antwortet mit 38 Knapp [SV 56], S. 152 – 170, hier S. 166 ff. 39 Victor Millet: Die Sage, der Text und der Leser. Überlegungen zur Rezeption Kriemhilts und zum Verhältnis der Fassungen *B und *C des ,Nibelungenliedes‘, in: Gisela Vollmann-Profe u. a. (Hg.): Impulse und Resonanzen. Tübinger mediävistische Beiträge zum 80. Geburtstag von Walter Haug, Tübingen 2007, S. 57 – 70 (das folgende Zitat S. 68). 40 Vgl. Heinzle, Status [Anm. 20], S. 113 ff.; dagegen jetzt Kropik ([Anm. 25], S. 72 ff.), die meint, einen veritablen Widerspruch zwischen den beiden Siegfried-Bildern feststellen zu können, und daraus weitreichende Schlüsse zieht. Das geht am Text vorbei.
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einer Transitio-Aposiopese direkt auf die Erwartungen eines Publikums, das mit den Jung-Siegfried-Abenteuern vertraut war. Zu diesen Abenteuern gehört auch die Begegnung des Helden mit Brünhild, mit der er sich verbindet und von der er sich dann lösen muß, um Kriemhild zu heiraten. Hätte der Dichter davon erzählt, hätte die Brünhild-Tragödie die Liebe zwischen den beiden Königskindern überschattet und damit seine Konzeption gefährdet, die das Geschehen bis zum Untergang aus dieser Liebe heraus entwickelt. Doch war die Begegnung ein fester Bestandteil der Sage, und sie wurde auch gebraucht, um den handlungsnotwendigen Betrug bei der Werbung um Brünhild zu motivieren. Das mutmaßliche Sagenwissen des Publikums bestätigend, setzt der Dichter als bekannt voraus, daß Siegfried schon einmal bei Brünhild in Island war:41 Siegfried rät von dem Werbungsunternehmen ab, weil er weiß, wie gefährlich es ist, sich mit Brünhild einzulassen (330); er kennt die Pracht ihrer Hofhaltung (344); er ist mit der Schiffsroute nach Island vertraut und identifiziert das Land am Ende der Fahrt (378, 382, 384); er kennt die Gepflogenheiten an Brünhilds Hof (406 f.); er kennt Brünhild (393), und sie kennt ihn (419). Zur Logik der Geschichte gehört, daß es begründungsbedürftig ist, warum nicht Siegfried als Werber auftritt, sondern Gunther. In der ,Thidrekssaga‘, in der Sigurd Brünhild „bei ihrem ersten Zusammentreffen […] mit Eiden gelobt“ hatte, „keine andere als sie zur Frau zu nehmen“, preist er ihr (wie im ,Nibelungenlied‘ 422) Gunnar als mächtigen König an: „Ihr scheint mir gut zusammenzupassen, du und er. Und seine Schwester nahm ich deswegen lieber als dich, weil du keinen Bruder hast. Er aber und ich haben einander geschworen, daß er mein und ich sein Bruder sein soll.“42 Im ,Nibelungenlied‘ liefert die Standeslüge die Begründung. Daß eine solche Begründung überhaupt nötig war, ergibt sich allein aus der Vorgeschichte. Sie wird nicht erzählt, aber sie ist, markiert durch eine Kette von Verweisen, verständnisleitend präsent. Die Feststellung, daß das ,Nibelungenlied‘ die vorgängige Begegnung zwischen Siegfried und Brünhild voraussetzt, ist nicht neu.43 Sie 41 Strophenzahlen im folgenden nach Bartsch/de Boor. 42 Die Geschichte ,Thidreks von Bern‘, übertr. von Fine Erichsen, Düsseldorf/ Köln 1967, S. 266 f. = ,þiðriks Saga af Bern‘, hrsg. von Henrik Bertelsen, Bd. II, Kopenhagen 1908 – 11, S. 38 f. 43 Vgl. z. B. Joachim Bumke: Die Quellen der Brünhildfabel im Nibelungenlied, in: Euphorion 54 (1960), S. 1 – 38, hier S. 5 f.; Theodore Andersson: The
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hat bei den Versuchen, Vorstufen zu rekonstruieren, von jeher eine wichtige Rolle gespielt. Mir geht es nicht um Vorstufen. Es kommt mir auf die Poetik des gegebenen Textes an, deren Besonderheit ich eben darin sehen möchte, daß die Ökonomie des Erzählens über eine textexterne Instanz gesteuert wird: die Erzähltradition, die S a g e . * Noch einmal zu den Widersprüchen. Ein Paradebeispiel für die Art, wie die Forschung mit ihnen umgeht, ist die Hortforderung am Schluß. Man hat heftig darüber gestritten, ob es ein Bruch im Motivationsgefüge des Textes ist, wenn sich Kriemhild auf einmal bereit erklärt, Hagen ziehen zu lassen, wofern er nur den Hort herausgibt. Für mich ist es keine Frage: Indem Kriemhild im Zuge der Entwicklung der Sage in die Rolle des goldgierigen Hunnenkönigs eintrat, kam ein massiver Widerspruch in die Erzählung, den selbst der *C-Bearbeiter nur mildern, nicht beseitigen konnte.44 Dies festzustellen, ist eines. Ein anderes ist es, nach der ästhetischen Qualität der Szene zu fragen. Man kann sie für beträchtlich halten – die Szene gehört ohne Zweifel zum Eindrucksvollsten, was der an darstellerischen Höhepunkten wahrlich nicht arme Text zu bieten hat. Wie geht das zusammen: Defizienz der Erzählung und Perfektion des Erzählens? Das scheinbare Paradox verweist auf die doppelte Orientierung des Genres. Die Defizienz ist die Folge der Bindung des Verfassers an die Überlieferung, aus der er sich nicht lösen kann. Das ist die traditionelle Seite. Er ist aber zufolge seiner Erzählkunst in der Lage, die Defizienz zu überspielen und das narrative Potential der Vorgabe in neuer Weise zur Geltung zu bringen.45 Das ist die individuelle Seite. Legend of Brynhild, Ithaca/London 1980, S. 170 ff.; Hermann Reichert: Das ,Nibelungenlied‘, Berlin/New York 2005, S. 389 f. – Dagegen hat Jan-Dirk Müller Siegfrieds Kenntnisse aus einer „Affinität“ des Helden „zur Welt ,draußen‘“ erklärt: „Sein Wissen von der anderen Welt ist Ausdruck jener Affinität. Daß er Prünhilt dafür vorher gekannt haben muß, ist innerhalb der Erzähllogik des ,Nibelungenliedes‘ gänzlich überflüssig“ ([Anm. 28], S. 81). Das ist die individualistische Position: der Text soll aus sich selbst heraus verstanden werden. 44 Joachim Heinzle: Gnade für Hagen? Die epische Struktur des ,Nibelungenliedes‘ und das Dilemma der Interpreten, in: F. P. Knapp (Hg.): ,Nibelungenlied‘ und ,Klage‘ [Anm. 38], S. 257 – 276. 45 Wie er das getan hat, habe ich an anderer Stelle zu zeigen versucht ([Anm. 26], S. 151 ff.).
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Wer sich auf das Genre einläßt, muß mit der Spannung leben, die zwischen den beiden Orientierungen immer wieder aufbricht. Das hat auf seine Weise schon Friedrich August Wolf schmerzlich erfahren. Was der Philologe Wolf als historisch richtig erkannt hatte, widersprach dem Kunsturteil des Literaten Wolf. Der Zwiespalt zwischen der „durch unmittelbare Anschauung gewonnenen Einsicht in die von einem Genie gefügte Einheit der homerischen Epen“ und dem „neuen geschichtlichen Denken“, das die Annahme einer solchen Einheit verwerfen mußte, war für ihn nicht zu überbrücken.46 Am Schnittpunkt von Ästhetik und Philologie gibt es keine Gewißheiten. Das ist das Elend der Literaturwissenschaft. Wir entrinnen ihm nicht, wir können es bloß reflektieren. Zu Erkenntnissen, wie prekär auch immer sie sein mögen, gelangt solche Reflexion freilich nur, wenn sie vom „empirisch Erkennbaren“47 ausgeht. In diesem Sinne halte ich mich an die Devise, zu der sich Wolf am Ende durchgerungen hat: Amandae sunt artes, at reverenda est historia …
Exkurs: „Leerstellen“ und „Löcher“ Um zu erläutern, weshalb die Versuche, die Hortforderung auch im Handlungszusammenhang des ,Nibelungenliedes‘ als wohlmotiviert zu verstehen, so unbefriedigend sind, habe ich seinerzeit Wolfgang Isers Theorie von der Appellstruktur der Texte48 herangezogen.49 Das hat hier und da zu Mißverständnissen geführt.50 Ich will versuchen, sie auszuräumen. 46 Manfred Fuhrmann: Friedrich August Wolf. Zur 200. Wiederkehr seines Geburtstages am 15. Februar 1959, in: Deutsche Vierteljahresschrift 33 (1959), S. 187 – 236, hier S. 225 f. 47 Nikolaus Wegmann: Was heißt einen „Klassischen Text“ lesen? Philologische Selbstreflexion zwischen Wissenschaft und Bildung, in: Jürgen Fohrmann/ Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 1994, S. 334 – 370, hier S. 369. 48 Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte, in: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1975, S. 228 – 252 (zuerst separat: Konstanz 1970). 49 Heinzle [Anm. 44], S. 265 ff. 50 Werner Schröder: Wolfram von Eschenbach, das ,Nibelungenlied‘ und die ,Klage‘, Stuttgart 1989, S. 37; Edward R. Haymes: A Rhetorical Reading of the „Hortforderungszene“ in the ,Nibelungenlied‘, in: Werner Wunderlich/
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Die Theorie ist im Grunde simpel, ja banal. Iser stellt sich vor, daß „literarische Gegenstände […] dadurch zustande“ kommen, „daß der Text eine Mannigfaltigkeit von Ansichten entrollt, die den Gegenstand schrittweise hervorbringen und ihn gleichzeitig für die Anschauung des Lesers konkret machen“. Jede dieser „schematisierten Ansichten“ bringt aber „in der Regel nur einen Aspekt zur Geltung“ und „bestimmt daher den literarischen Gegenstand genauso, wie sie eine neue Bestimmungsbedürftigkeit zurückläßt. Das aber heißt, daß ein sogenannter literarischer Gegenstand nie an das Ende seiner allseitigen Bestimmtheit gelangt.“51 Die Ansichten stoßen „oftmals unvermittelt aneinander“, zwischen „ihnen entsteht eine Leerstelle“, und „solche Leerstellen eröffnen dann einen Auslegungsspielraum für die Art, in der man die in den Ansichten vorgestellten Aspekte aufeinanders beziehen kann“.52 Die Leerstellen sind elementare „Kommunikationsbedingungen des Textes“.53 Indem der Leser die ausgesparten „Anschlüsse“ zwischen den Ansichten selbst herstellen muß, „gewähren“ ihm die Leerstellen „einen Anteil am Mitvollzug und an der Sinnkonstitution des Geschehens“, ja sie machen den Text allererst „adaptierfähig“: Sie „ermöglichen es dem Leser, die Fremderfahrung der Texte im Lesen zu einer privaten zu machen“.54 Der Ansatz tendiert dazu, das Moment der Rezeption bei der Konstituierung des Textsinns zu verabsolutieren. Iser hat zwar betont, daß „die in der Lektüre sich einstellende Bedeutung vom Text konditioniert“55 ist, aber er hat es versäumt, diese Konditionierung hinlänglich präzis zu fassen: „Die Leerstellentheorie changiert“ so auf eine schwer durchschaubare Weise „zwischen Hervorbringung oder bloßer
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Ulrich Müller (Hg.): Waz sider da geschach. American-German Studies on the ,Nibelungenlied‘, Göppingen 1992, S. 81 – 88, hier S. 83; Müller [Anm. 28], S. 17, Anm. 31; Millet [Anm. 39], S. 59; Kropik [Anm. 25], S. 83, Anm. 119. Iser [Anm. 48], S. 234. – Zur Kritik dieser Vorstellung vgl. vor allem Gerhard Kaiser: Nachruf auf die Interpretation?, in: G. K.: Antithesen. Zwischenbilanz eines Germanisten 1970 – 1972, Frankfurt a.M. 1973, S. 51 – 70, hier S. 63: „Iser verwechselt die Gegenständlichkeit der Dichtung mit der der Wirklichkeit, wenn er meint, sie könne noch unter Bestimmungen gebracht werden, unter denen sie in der Dichtung nicht erscheint. Er tritt quasi hinters Bild, um die gemalte Kuh von hinten zu betrachten.“ Iser [Anm. 48], S. 235. Wolfgang Iser: Im Lichte der Kritik, in: Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik [Anm. 48], S. 325 – 342, hier S. 326 Iser [Anm. 48], S. 236 und 249. Iser [Anm. 48], S. 248.
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Aktualisierung von Beziehungen, die im Text latent angelegt gedacht werden“56. Die Kontroverse, die um Isers Theorie geführt worden ist, muß hier nicht weiter referiert werden. Die große Theorieschlacht, in der sie nur ein harmloses Vorgeplänkel war, ist längst geschlagen.57 Indem sie das Moment der strukturellen Vorgabe des Textes und das Moment der von ihr stimulierten Aktivität des Lesers in einer anschaulichen Metapher verknüpft, bleibt die Rede von den auszufüllenden Leerstellen eine unverächtliche Hilfe für das Verständnis des komplexen Vorgangs der Generierung von Textsinn, der nicht ein für allemal gegeben, aber auch nicht völlig beliebig ist. Allerdings berechtigt nichts zu der Annahme, daß zwischen j e d e m Aneinanderstoßen zweier „schematischer Ansichten“ eine Unbestimmtheit liegt, die im „sinnkonstituierenden System“58 des literarischen Textes eine Funktion hat. Ansichten können sehr wohl auch beziehungslos, ohne „Systemreferenz“59, nebeneinander stehen. Der Text ist dann defekt. Um diesen Sachverhalt zu bezeichnen, spreche ich mit einem Begriff, den ich aus der Iser-Kontroverse übernommen habe,60 terminologisch von „Löchern“ im Text. Ob eine Unbestimmtheit als konstruktives Moment oder als Defekt zu gelten hat: als „Leerstelle“ eben oder als „Loch“, ist durch Interpretation zu ermitteln. Selbstverständlich gibt es im ,Nibelungenlied‘ wohlkalkulierte Leerstellen. Sonst würde es als Text überhaupt nicht funktionieren. Ob und in welchem Umfang es auch Löcher aufweist und wie sie gegebenfalls zu beurteilen sind: das ist die Frage, über die wir uns verständigen müssen.
56 Gerhard Kaiser: Neue Antithesen eines Germanisten 1974 – 1975, Kronberg 1976, S. 9. 57 Die Ergebnisse sind bei Umberto Eco zu besichtigen: Die Grenzen der Interpretation, München 1992. 58 Iser [Anm. 53], S. 326. 59 Iser [Anm. 53], S. 326. 60 Iser [Anm. 53], S. 328.
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Poetologie der Sage
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Wilhelm Grimms Nibelungenkolleg Zur Unterscheidung des Historischen vom Mythischen und zur Naturgeschichte der Sage
Hartmut Kugler I. Das ,Nibelungenlied‘ unterwegs zum Nationalepos Wilhelm Grimm bot an der Universität Göttingen im Sommersemester 1832 ein Vorlesung an und berichtete darüber in einem Brief an Karl Lachmann: „Ich erkläre diesen Sommer das Nibelungenlied […]. Wenn ich den geringen Stand der […] Universität betrachte, so ist mein Auditorium, in welchem 22 rechtmäßige Hörer sitzen, ansehnlich genug. Nur darf mich das nicht stolz machen, denn es ist bloß Folge der Anordnung, daß diejenigen, welche Gymnasiallehrer werden wollen, auch in der altdeutschen Sprache sollen examiniert werden und seit einem halben Jahr (durch Jacob) auch examiniert sind.“1 Das Studium der älteren deutschen Sprache und Literatur – und mithin des ,Nibelungenlieds‘ – hatte im frühen 19. Jahrhundert Einzug in die Lehrerausbildung gehalten. August Wilhelm Schlegels vielzitiertes Diktum, das ,Nibelungenlied‘ tauge dazu, ein „Hauptbuch bey der Erziehung der deutschen Jugend“ zu werden, wurde von vielen patriotisch gesinnten Hochschul- und Schulphilologen mit Schwung und Begeisterung aufgegriffen und praktisch umgesetzt. Das geschah in einer politisch höchst aufgeladenen Situation. Nach dem formellen Begräbnis des ,Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation‘ im Reichsdeputationshauptschluß von 1803, nach Napoleons Sieg über Preußen 1806 und schließlich in den sog. Befreiungskriegen 1812 – 1815 war es zur Mode geworden, die nibelungendeutschen Tugenden der bedingungslosen Gefolgschaftstreue und Selbstaufopferung im Kampf gegen den Feind zu beschwören. Der Feind, das waren die Napoleonischen Franzosen. 1815 legte der Berliner Blindenlehrer Zeune „eine mit großer Zustimmung 1
Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit Karl Lachmann, hg. von Albert Leitzmann, Bd. 2, Jena 1927, S. 861, Brief vom 22. Mai 1832.
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aufgenommene erste Schulausgabe“ des ,Nibelungenlieds‘ vor. Sie sollte als „treulicher Feld- und Zeltgesell“ den jungen Soldaten mitgegeben werden, die sich nach Napoleons Rückkehr von Elba wieder zu den Fahnen drängten.2 Freilich flaute die Begeisterung für das Heldenepos in seiner sperrigen Sprachgestalt bald ab, „und nach dem Wiener Kongress hatte die Reaktion kein Interesse, mit Hilfe des ,Nibelungenliedes‘ unfreiwillig bürgerlichen Nationalstolz und nationalliberale Einstellungen zu fördern.“3 Der Metternich-Ära war die Idee des Nationalen suspekt, denn sie war zu sehr mit liberalen Gedanken verquickt. Erst mit der Reichsgründung nach dem preußischen Sieg über Frankreich 1870/71, mit der Krönung des Preußenkönigs zum Deutschen Kaiser schlug die Stunde der programmatisch ,deutschen‘ Schulbildung und konnte das ,Nibelungenlied‘ zum ,Nationalepos‘ promoviert werden. Gegen den Widerstand bedeutender Germanisten wie Wilhelm Wilmanns setzte sich die Praxis durch, Ausschnitte des ,Nibelungenlieds‘ in SchulbuchAnthologien zu plazieren und daran die männlichen Tugenden der Gefolgschaftstreue, der Ehre, der Todesbereitschaft und die weiblichen Tugenden der Keuschheit und der Gattenliebe durchzudeklinieren. Von später her, nach der Erfahrung der beiden Weltkriege, scheint die Rezeptionsgeschichte des ,Nibelungenlieds‘ im 19. und 20. Jahrhundert eine mit sinistrer Folgerichtigkeit ablaufende Fatalität zu bezeugen, eine Schleifspur zum Untergang, die Bereitschaft, den einmal eingeschlagenen Weg bis zum bitteren Ende zu gehen. Der von Joachim Heinzle und Anneliese Waldschmidt 1991 herausgegebene Sammelband stellt unter dem Titel: ,Die Nibelungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum‘ viele einschlägige Äußerungen zusammen. Der angesehene Germanist Gustav Roethe erklärte im Jahr 1915, das Kostbare an der deutschen Treue sei „das rückhaltlose Einsetzen des ganzen Menschen, das nicht dingt, nicht wägt, nicht schwankt, sondern durchhält bis zuletzt, und mag der Erdball darüber in Trümmer gehen.“ Gut zwei Jahrzehnte später beschwor Göring im Zweiten Weltkrieg die in Stalingrad eingeschlossene Armee zum bedingungslosen Durchhalten, 2
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Werner Wunderlich: „Ein Hauptbuch bey der Erziehung der deutschen Jugend…“. Zur pädagogischen Indienstnahme des Nibelungenliedes für Schule und Unterricht im 19. und 20. Jahrhundert, in: Joachim Heinzle/Anneliese Waldschmidt (Hg.): Die Nibelungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum. Studien und Dokumente zur Rezeption des Nibelungenstoffs im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt 1991, S. 119 – 150, hier S. 122. Ebd., S. 122 f.
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nach dem Beispiel des heroischen Untergangs der Nibelungen am Hunnenhof.4 Wer abergläubisch ist, könnte meinen, daß der Fluch, der in der Sage auf dem Nibelungenhort liegt und jeden Hortbesitzer in den Untergang treibt, daß dieser Fluch sich mit und aus dem Epos heraus in die deutsche Geschichte übertragen und den Deutschen, die das ,Nibelungenlied‘ entschlossen in ihren Besitz gerissen hatten, ihre Untergänge beschert habe. Das ,Nibelungenlied‘ enthielt und enthält ein politisierbares, ein ideologisierbares Potential. Das ist nicht zu bezweifeln. Aber aus der Sache heraus war eine Mobilisierung dieses Potentials nicht zwangsläufig und nicht unausweichlich. Den Brüdern Wilhelm und Jacob Grimm hat die neuere Forschung gelegentlich unterstellt, sie hätten mit ihrer Wissenschaft ein „außerwissenschaftliches Anwendungsziel“ verfolgt.5 Hat Wilhelm Grimms Nibelungenkolleg der Ideologisierung Vorschub geleistet und gar mitgeholfen, der Verengung auf die Deutungsmagistrale eines Durchhalteepos den Boden zu bereiten? Es ist nicht der Fall. Die Ideologiekritik der germanistischen Fachgeschichte kann aus dem spröden Manuskript wenig Zitierbares holen.6 Das Programm des Grimmschen Nibelungenkollegs weist nicht zum ,deutschen Nationalepos‘ hin, im Gegenteil, es weist von ihm weg. Die Lektüre der Kollegmitschrift erscheint geeignet, einiges vom ,vorgermanistischen‘ Zustand der noch im Werden befindlichen Wissenschaft von der deutschen Literatur und Sprache näher kennenzulernen. Gegen den Strich gelesen, zeichnen sich in Wilhelm Grimms Vorlesung, auch wenn der Verfasser selbst auf die Denkfigur eines ,deutschen Altertums‘ verpflichtet gewesen sein mag, im Hintergrund die Grundlinien eines ,europäischen Altertums‘ ab, in welchem die Parameter des germanischen und romanischen (zudem des keltischen und des slawischen) Mittelalters mit denen der lateinischen und griechischen Antike zusammenwirkten. Doch auch ein solches ,europäisch‘ zu nennendes 4 5 6
Gustav Roethe: Von deutscher Art und Kultur, Berlin 1915, S. 36. Zur Göring-Rede siehe Peter Krüger: Etzels Halle und Stalingrad, in: Heinzle/ Waldschmidt [Anm. 2], S. 165. Peter von Polenz: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, Bd. 1: Einführung. Grundbegriffe. Deutsch in der frühbürgerlichen Zeit, Berlin/New York 1991 (Sammlung Göschen 2237). Wilhelm Grimms Nibelungenkolleg, bearb. und hg. von Else Ebel, Marburg 1985 (Schriften der Brüder Grimm-Gesellschaft Kassel e. V. 10). – Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert. Die den Zitaten beigegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf Ebels Edition.
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Konstrukt (Wilhelm Grimm verwendet den Europa-Begriff nicht) ist nurmehr eine Hilfskonstruktion, ist Mittel zum Zweck der Analyse. Diese arbeitet sich an den historischen Ausprägungen der Texte ab, die in den Handschriften überliefert sind, und sucht dabei dem ,Ursprung der Sage‘ im Metahistorischen auf die Spur zu kommen. Den ,Ursprung‘ kann die Philologie immer nur näherungsweise umschreiben. „Die Dichtungen, welche die Heldensage überliefern, stamme sie aus dem griechischen oder indischen Alterthume, aus der Vorzeit der Deutschen, Galen, Slaven, oder aus den christlichen Jahrhunderten romanischer Völker, sie unterscheiden sich zwar durch große Verschiedenheit des Inhaltes wie der Darstellung, dennoch aber geht ein verwandter Geist durch alle hin und läßt uns eine gemeinsame Natur erkennen.“ Diese programmatische Aussage Wilhelm Grimms in seiner Abhandlung ,Ursprung und Fortbildung‘, die er 1829 seinem Buch über die ,Deutsche Heldensage‘ als „zweite Abhandlung“ fast entschuldigend eingefügt hat,7 benennt das Erkenntnisziel der Sagenanalyse in der „gemeinsamen Natur“ aller historisch verschiedenen Ausprägungen. Diese Natur wird nicht in einem weit zurückliegenden Urzustand romantischer Universalpoesie aufgesucht. Sie findet sich in immer neuen und immer anderen Gestaltungen gegenwärtig. Die Frage nach der ,Natur der Sage‘ konvergiert mit der Frage nach der Natur des menschlichen Denkens und Sprechens. Wilhelm Grimms Nibelungenkolleg ist ein Reflex seiner Sagenforschung in der akademischen Lehre. Er probierte aus, was sich an Kenntnissen und Erkenntnissen im Schutzraum der akademischen Vorlesung weitergeben ließ, und scheint dabei gelegentlich zu Formulierungen gefunden zu haben, die in strenger wissenschaftlicher Publikation wohl so nicht überlebt hätten. Die Vorlesungsmitschrift ist kein autorisierter Text. Sie kann vom Verdacht studentischer Mißverständnisse und Unachtsamkeiten nie ganz freigesprochen werden. Dennoch darf sie aus zwei Gründen neue Aufmerksamkeit beanspruchen. Erstens zeigt sie, daß Grimm am Status des ,Nibelungenlieds‘ als dem ,deutschen Nationalepos‘ nur mäßig interessiert war. In den 1830er 7
Wilhelm Grimm: Vorrede zur ,Deutschen Heldensage‘, Cassel 1829: „Ich weiß nicht, ob ich mich über die zugegebene zweite Abhandlung entschuldigen soll; vielleicht wäre es besser, Betrachtungen dieser Art noch zurückzuhalten. Indessen konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, nach dem mühsam zurückgelegten Weg einmal umzublicken, um die Weite der gewonnenen Aussicht zu messen.“
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Jahren, während das ,Nibelungenlied‘ „für die gebildeten Stände“ längst und selbstverständlich als „das deutsche Nationalepos“ gebucht war8, wählte er eine Betrachtungsebene, auf der das Nationale allenfalls in der zweiten oder dritten Ableitung vorkam. Zweitens zeichnet sich in seinem Nachdenken über den Sagen-Ursprung, den „Kern des Nibelungenmythus“9, eine deutliche Analogie zu Jacob Grimms Überlegungen über den Sprachursprung ab. Beide begegnen sich weit jenseits nationaler Verengung auf einer Metaebene, auf der das Projekt einer Naturgeschichte der Sage wie der Sprache angedeutet ist, einer Aufgabe, der sich die Literatur- und die Sprachwissenschaft in Koordination mit naturwissenschaftlichen Disziplinen anzunehmen hätte. Das soll im Folgenden skizziert werden. Zunächst werde ich, im II. Kapitel, den Aufbau und die Hauptlinie der Vorlesung darstellen, danach, im III. Kapitel, einen Hauptaspekt der Vorlesung besonders herausarbeiten: Grimms Reflexion über die Unterscheidung des „historischen“ und des „mythischen Elements“ sowie den „Kern“ der Nibelungensage. Schließlich wird, im IV. Kapitel, die Verwandtschaft von Sagenursprungs- und Sprachursprungsforschung thematisiert. Ein knappes Schlußwort (V.) stellt sich resümierend unter das Stichwort ,Naturgeschichte der Sage‘.
II. Der Aufbau der ,Nibelungenlied‘-Vorlesung Wilhelm Grimm hat seine Vorlesung mehrfach und anscheinend über weite Strecken wortgleich wiederholt: in den Sommersemestern 1833, 1834, 1835 und 1837 sowie im Wintersemester 1837/38. Ein Originalmanuskript ist nicht erhalten, Grimm hat vielleicht zum Teil frei gesprochen. Else Ebels Ausgabe der Vorlesung beruht auf drei studen-
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Allgemeine deutsche Real=Encyclopädie für die gebildeten Stände in zwölf Bänden, Bd. 7: M bis Nz, 8. Originalauflage, Leipzig 1835, S. 799; ebd.: „Nibelungenlied, ,der Nibelunge Not‘, das deutsche Nationalepos, ist mit der ,Gudrun‘ das bedeutendste Denkmal der volksmäßigen mittelhochdeutschen Poesie.“ Für Wilhelm Grimm war das ,Nibelungenlied‘ „vorzüglich geeignet, hieran allgemeine Grundzüge zur Entstehung des Volksepos zu entwickeln“ (Ebel [Anm. 6], Einleitung, S. 5).
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tischen Mitschriften, die relativ zuverlässig erscheinen, da sie weitgehend übereinstimmen.10 Der offizielle Ankündigungs-Titel des Kollegs heißt „Die Erklärung des Gedichtes der Nibelungen“. Eingangs wird eine denkbar knappe Eingrenzung der „epischen Gedichte des Mittelalters“ vollzogen. „Sie zerfallen in zwei Klassen: 1) Gedichte romanischen Ursprungs, 2) ursprünglich deutsche Gedichte, auf deutscher Sage begründet“ (S. 13). Nur die zweite Klasse, die „auf deutscher Sage begründete“ Epik, soll Gegenstand der Vorlesung sein. Unter den „Nationalgedichten“ sei das ,Nibelungenlied‘ „die Blüte des Ganzen in Hinsicht des Inhalts sowohl als der poetischen Darstellung.“ Aber von vornherein wird klar gemacht: „Der Inhalt der deutschen Heldensage, der sich in einer beträchtlichen Anzahl einzelner Gedichte darstellt, bildet ein großes Ganzes. Kein Gedicht kann für sich allein seinem Inhalte nach verstanden werden.“ Dementsprechend bietet der erste Hauptteil der Vorlesung eine zunächst inhaltlich referierende Aufreihung aller in den mittelalterlichen Handschriften erhaltenen Zeugnisse der Heldenepik. Dazu gehören das ,Hildebrandslied‘, ,Waltharius manu fortis‘, ,König Rother‘, ,Biterolf‘, ,Dietrichs Flucht‘, ,Rabenschlacht‘, ,Alphart‘, ,Wunderer‘, ,Ecke‘, ,Sigenot‘, ,Dietrichs Drachenkämpfe‘, ,Rosengarten‘, ,Der kleine Rosengarten oder Laurin‘. An letzter Stelle, aber ganz selbstverständlich
10 Von den drei studentischen Mitschriften „wurden zwei im Sommersemester 1832 von den Studenten Ludwig Conrad Bethmann aus Badenhausen/ Braunschweig, Matr. 35377, und Heinrich Wilhelm Schweckendieck aus Hildesheim/Hannover, Matr. 35431, angefertigt; die dritte stammt von Georg Karl Frommann aus Coburg/Sachsen, Matr. 38385, der die Vorlesung im Sommersemester 1837 hörte“ (Ebel [Anm. 6] in ihrer Einleitung zur Ausgabe, S. 7). – Bethmann war später Mitarbeiter bei den Monumenta Germaniae Historica in Hannover und Bibliothekar an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, Schweckendieck arbeitete am Grimmschen Wörterbuch mit. Frommann arbeitete nach seiner Heidelberger Promotion (1837) zunächst in Coburg im Schuldienst, dann (ab 1853) am Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg. Über seine wissenschaftlichen Publikationen, angefangen mit seiner Edition Herborts von Fritzlar ,Liet von Troye‘, Quedlinburg und Leipzig 1837, blieb er zeitlebens mit den Brüdern Grimm in Verbindung. Frommanns Kollegmitschrift bildet die Grundlage von Ebels Ausgabe.
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hinzugenommen ist der altnordische Saga-Bestand, besonders die ,Vilkina Saga‘, „richtiger Thidrek Saga“ (S. 23). Der Aufreihung folgt (S. 24 – 27) eine systematisierte Übersicht aller bisher genannten Gedichte zuzüglich der verlorenen Überlieferung. Die altnordischen Gedichte sind feiner ausdifferenziert. Die Aufstellung gliedert sich in neun Hauptabteilungen (A. Dietrich und Ermenrich, B. Etzel, C. Dietrichs Helden, D. Etzels Helden, E. Samson, F. Wieland, G. Iran und Apollonius, H. Hertnit, I. Oserich, d. i. König Rother). Als „entfernt an diesen Sagenkreis“ grenzend werden noch Ortnit, Wolfdietrich und Gudrun hinzugesetzt (S. 27). Damit ist die Skizze einer vergleichenden Geschichte der Heldensagen angelegt, eine Sammlung von Bausteinen zu einer historisch-genetischen Rekonstruktion der Grundfabeln eines ,Heroic Age‘ der germanischen Völker. In der Vorlesungsmitschrift schließen einige grundsätzliche Betrachtungen an. Sie werden in meinem III. Kapitel zur Sprache kommen. Es folgen etliche Passagen mit sprachlich erläuternden Notizen zu etwa zwei Dutzend Strophen des ,Nibelungenlieds‘ (S. 31 f.) – offenbar bot Grimm in kursorischer Lektüre Übersetzungen und Erläuterungen, die zu sorgfältigem Mitschreiben nicht reizten. Endlich wird der „Sagenkreis der Nibelungen“ ins Visier genommen, auf Seite 32 von insgesamt 60 Seiten der Mitschrift, also ungefähr in der Halbzeit des Semesters: 1. ,Siegfriedslied‘ (nach zwei alten Drucken); 2. ,Der Nibelunge Noth‘ (S. 34 – 37); 3. die nordische Sage – nach der ,Edda Saemundar‘, der ,Snorra Edda‘, der ,Völsunga Saga‘ und der ,Norna Gests Saga‘ (S. 37 – 42); 4. die ,Thidreks Saga‘ oder ,Niflunga Saga‘; 5. färöische Lieder (um 1820 von Lyngbye „aus dem Munde des Volkes gesammelt“) (S. 43); 6. die dänischen Heldenlieder; 7. die ,Hvenische Chronik‘; 8. der Anhang des Heldenbuches. Dazu der Hinweis: „Die noch unter uns lebenden Überlieferungen der Nibelungensage sind im 2. Band der Hausmärchen enthalten“ (S. 44). Eine ausgiebige Forschungsdiskussion schließt sich an. Verschiedene Ansätze zur „Entstehung und ursprünglichen Bedeutung der Nibelungensage“ werden besprochen. Es ist fesselnd zu lesen, wie in der Goldgräberzeit der Altgermanistik die verschiedensten Deutungsmuster
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schon einmal ausprobiert waren, mit unterschiedlicher Kombinationsgabe aus dem mythologischen und aus dem historiographischen Register sich bedienend. Von der Hagen11 sehe „in Siegfried einen Sonnengott, in der Sage überhaupt allgemeine, den Indiern, Griechen, Skandinaviern etc. angehörige Ideen von Tod, Untergang und Weltende.“ Wilhelm Grimm bemerkt dazu: „Hier ist alles ein und dasselbe, und die Sage verschwindet uns, wird zu nichts, und die Aussicht, die uns von der Hagen eröffnet, ist grau und unabsehbar“ (S. 46). Auch die Erklärung des Peter Erasmus Müller12 verfällt wegen der allzu großen Beliebigkeit ihrer Setzungen und Umbesetzungen der Ablehnung. Müller hatte die Nibelungensage als „Mythe vom goldführenden Flusse“ gedeutet, „welcher aus den asiatischen Stammsitzen der Germanen hergebracht wurde, und sonach älter (sei) als die Einwanderung der Asen.“ Dann sei mit der „Mythe von der Entdeckung des Goldes […] die von dem Unglücke des Besitzes des Goldes verbunden, der historische Attila hinzugefügt“, und zwar anstelle „Atels, eines Königs an der Wolga, die bei den arabischen Völkern Atel heißt“ (S. 46). Ein Zusatz in einer Mitschrift vermerkt: „Trautvetter in seinem Schlüssel der Edda, Berlin 1816, deutet die Nibelungen auf eine naturphilosophische Weise: Etzel sei der Kalk, Siegfried die Salzsäure, Brünhild die Luftsäure, Kriemhild das schwarze Aussehen der Kohle, Siegfrieds Ermordung das Verdampfen der Salzsäure“13 (S. 46). Die Mitschrift verzeichnet dazu keinen Kommentar Grimms. Scharf zurückgewiesen wird Göttlings14 Gleichsetzung der Nibelungen mit den historischen Gibelinen und ihres Gegenparts, der Wülflinge, mit den historischen Welfen (S. 45). Derartige historische Identifikationen sind Wilhelm Grimm ein Greuel. Vermutlich hätte er für die von Otto Höfler beförderte und jüngst von einer populären Wissenschaftsredaktion reanimierte Identifizierung Siegfrieds mit Hermann dem Cherusker15 nur ein spöttisches Lächeln übrig gehabt. Er 11 Friedrich Heinrich von der Hagen: Die Nibelungen: Ihre Bedeutung für die Gegenwart und für immer, Breslau 1819. 12 Peter Erasmus Müller: Sagabibliothek med Anmaerkninger og inledende Afhandlinger, 3 Bde., Kopenhagen 1817 – 1820. 13 Ernst Christian Trautvetter: Der Schlüssel zur Edda, Berlin 1816. 14 Karl Wilhelm Göttling: Nibelungen und Gibellinen, Rudolstadt 1816. 15 Titelgeschichte im Wochenmagazin DER SPIEGEL Nr. 20/14. Mai 2005: Die Nibelungen. Auf den Spuren der deutschen Sage, S. 148 – 159; Verfasser: Matthias Schulz.
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breitet demgegenüber seine eigene Erklärung aus, wobei er sich in den Grundzügen mit Karl Lachmann einig weiß. Seine Referenzliteratur sind zwei große, erst wenige Jahre zuvor publizierte Bücher: Seine eigene ,Deutsche Heldensage‘, 1829 erschienen, und Karl Lachmanns ,Kritik der Sage von den Nibelungen‘, ungefähr gleichzeitig entstanden, aber erst 1831 gedruckt.16 Mehr dazu im III. Kapitel. Die Vorlesung schließt unpointiert nüchtern mit je einem kurzen Abschnitt über „das Äußere des Nibelungenliedes“. Dargeboten ist vorwiegend Handschriftenkritik, angeschlossen sind etliche Erläuterungen zur Metrik der Nibelungenstrophe, erkennbar mit dem Bestreben, den Hörern abprüfbare Lerninhalte für ihre Lehramtsprüfung zu vermitteln.
III. „Unterscheidung des historischen und mythischen Elements“ Nun zu den grundsätzlichen Überlegungen, die ich im vorigen übersprungen habe: Bemerkenswert ist zunächst einmal Grimms entschlossene Zurückweisung aller Versuche, das Nibelungenepos in seiner Entstehung mit geschichtlichen Namen, Daten und Fakten zu identifizieren. Nur eine solche Identifikation mit frühen Ereignissen der deutschen Geschichte könnte eigentlich die Gewähr bieten, daß man es mit einem nationalen deutschen Stoff zu tun habe und mithin die großartige Ausformung des ,Nibelungenliedes‘ den Rang eines Nationalepos der Deutschen einnehmen dürfe. Gerade daran ist Wilhelm Grimm aber überhaupt nicht gelegen. In seinem Untersuchungsgang kommt das ,Nibelungenlied‘ nicht sonderlich gut weg. Es erscheint als ein nachrangig abgeleitetes und etwas schwächelndes Opus. „Denn, obgleich durch das Ganze ein Geist, eine Farbe, eine Darstellungsweise gehen, so zeigt sich uns doch bei genauerer Betrachtung ein gestörter Organismus: unnötige Wiederholungen, eingefügte oder verstellte Strophen, eingeschobene Personen, Widersprüche lassen sich entdecken“ (S. 53). Und weiter: „Man fühlt, wieviel reiner, einfacher und dennoch bedeutender die Sage in der Edda erscheint. […] [D]ie ursprüngliche Kraft der Sage scheint erschlafft, wenn Brünhild in der 16 Karl Lachmann: Kritik der Sage von den Nibelungen, Rheinisches Museum 1831.
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deutschen Sage fortlebt und in einer ihrem Charakter unwürdigen Weise verschwindet“ (S. 41). Folgerichtig gelten auch alle historischen Anklänge lediglich als Gebrauchsspuren, die mit der vermuteten Reinform der Sage nichts zu tun haben. Im Epos des Mittelalters treten Ermenreich, Etzel und Dietrich als der historische Ermanarich, Attila und Theoderich auf; allein die Erzählung von ihnen stimmt gar nicht mit der Geschichte überein, ja, sie ist das gerade Gegenteil. Diese geringe Übereinstimmung mit der Geschichte wird immer geringer, je älter die Denkmäler sind. (S. 31) Eine Wahrheit setzen die erhaltenen Denkmäler außer Zweifel: nirgends eine Spur von rohen, unvollkommenen Anfängen, sondern das Epos ist vielmehr im Fortgang der Zeit herabgesunken wie die Sprache. Je älter das Epos, desto reiner, einfacher, konsequenter. (S. 29) Die Sage hat nie im Bewußtsein ihrer Idee gestanden; sie ist nie auf demselben Wege fortdauernd fortgeschritten. Sie hat den Grund ihrer Fortbildung im menschlichen Dasein gefunden. (S. 29)
Das sind, auf den ersten und auch auf den zweiten Blick, einigermaßen rätselhafte Sätze. Doch Wilhelm Grimm legt auf diese Pointe großen Wert und weiß sich gerade hierin „in der Hauptsache“ mit Lachmann einig: nämlich „in der Scheidung des historischen und mythischen Elements und in der Überzeugung, daß beide nur gradweise dem Inhalte des Mythus sich nähern können“ (S. 47). Der letzte Halbsatz scheint mir der entscheidende zu sein: „daß beide nur gradweise dem Inhalte des Mythus sich nähern können“. Das heißt, der „Inhalt des Mythus“ ist etwas Metahistorisches. Er läßt sich nur näherungsweise begreifen, dort, wo er in „historischen Beziehungen, verbunden mit den geographischen“, zur Sprache gekommen ist und Textgestalt gefunden hat. Grimm listet zunächst diese historischen Beziehungen auf, durchaus konkret: 1. Gibich am Rhein, genauer in Worms; 2. Franken und Burgunden am Rhein; 3. Namen der Gibichen in der ,Lex Burgundionum‘ des 6. Jahrhunderts; 4. der burgundische König Gundichari, der von den Hunnen zu Attilas Zeit vernichtet wurde; 5. Etzel, der historische Attila, mit seinem Bruder Bloedel (= Bleda) und seiner ersten Gemahlin Helche (= Kerka); 6. Irnfrit, Landgraf von Thüringen, als Vertriebener am Hunnenhof; 7. Dietrich von Bern als der ostgotische König Theoderich (S. 48). Doch auf alle diese Beziehungen kommt es letztendlich nicht an. Grimm weist jeden Versuch ab, hinter der Nibelungensage eine stim-
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mige Geschichtserzählung zu entschlüsseln. Denn die „historischen Beziehungen erscheinen geringer in den älteren Denkmälern und scheinen daher nicht ursprünglich zur Sage zu gehören, sondern erst durch fortschreitende Umbildung eingedrungen zu sein“ (S. 49). Die historisch-geographischen Beziehungen sind lediglich eine Komponente der Sage, freilich eine notwendige Komponente, denn sie gewährleisten der Sage ihre Erzählbarkeit, ermöglichen erst ihre epische Gestaltung. Die andere Komponente besteht in dem, was Grimm als „mythisches Element“ umschreibt; auch dieses wird wieder konkret ausgegliedert (S. 51): 1. Die Völsungen (nur in der nordischen Sage Siegfrieds Geschlecht) heißen wörtlich „die Prächtigen, Glänzenden“. Die Nibelungen, ihnen entgegengestellt, heißen „die Dunklen, Nächtlichen“. 2. „Brünhild zeigt in der deutschen Sage etwas Befremdendes und Übernatürliches in ihrem Wesen“. 3. „Von großer Bedeutung ist in der Sage der Hort, den Siegfried den Unterirdischen abgewinnt“ (S. 51). Diese Konkretionen haben wiederum freilich nur den Wert von Annäherungen an das Eigentliche. Das, was Grimm als „Kern der Sage“ umschreibt, befindet sich auf einer anderen Ebene und ist mindestens um eine Stufe abstrakter: Zwei überirdische Geschlechter, ein glänzendes und ein nächtliches, geraten in Berührung, und in dem Schicksal, welches sich daraus entwickelt, geht der Fluch in Erfüllung, der auf einem, dem nächtlichen Geschlechte geraubten Schatze liegt. (S. 52)
Diese aufs Äußerste getriebene Typisierung ist denkbar weit entfernt von den Identifikationsmöglichkeiten eines Nationalepos. Sie erscheint ohne weiteres ,globalisierbar‘ und könnte als Typenschild auch für modern gestaltete Sagenkomplexe, etwa für die drei Großfilme des ,Herrn der Ringe‘ oder für die dreiteilige Star-Wars-Serie, brauchbar sein. Auf die klare Unterscheidbarkeit des „historischen“ und des „mythischen Elements“ legt Grimm großes Gewicht. Von hier aus unterzieht er die Forschungsarbeiten, die er referiert, der schärfsten Kritik. Bemerkenswert ist dabei die Selbstverständlichkeit, mit der er naturphilosophische Deutungsansätze in seinem Vorlesungsprogramm überhaupt der Erwähnung für wert gehalten hat. Er referiert Franz Joseph
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Mones17 Deutung Siegfrieds als eines „Sonnengottes“, der „sittlichen Tod und ewigen Wechsel“ bedeute, „in der Natur aber die sinkende und fallende Sonne; Siegfrieds Mord bezeichnet das Johannisfest“ (S. 45). Er referiert Trautvetters ,Schlüssel zur Edda‘, wonach „Siegfried die Salzsäure, Brünhild die Luftsäure“ etc. bedeuten sollen, ohne daß die mitschreibenden Hörer abfällige Bemerkungen dazu notiert hätten. Zweifellos galten Trautvetters Spekulationen als verworren, aber sie waren in der Diskussion. Man hätte, aus heutiger Sicht, einen Hinweis auf die kategoriale Verschiedenheit von natur- und geisteswissenschaftlichen Herangehensweisen erwarten dürfen. Der Hinweis ist unterblieben; die ,zwei Kulturen‘ waren im Wissenschaftsverständnis des frühen 19. Jahrhunderts anscheinend noch nicht so weit auseinandergetreten. Jacob Grimm hat Trautvetters Studie 1816 als „sehr tadelnswerth“ rezensiert. Trautvetters Versuch, die Edda zu erklären, indem er „den meisten darin vorkommenden namen und sachen das historische und poetische abziehen und einen chemischen naturprocess dahinter aufdecken“ wolle, sei haltlos wegen des Verfassers völlig unzureichender Sach- und Sprachkenntnis des Altnordischen. Bemerkenswert ist aber, daß Jacob Grimm Trautvetters Anliegen, literarische und naturkundliche Gegebenheiten zusammenzusehen, prinzipiell zustimmt: „rec. ist weit entfernt, einen innern und den innersten zusammenhang der natur mit allen dingen, wörtern und den menschen selbst abzuleugnen, sondern er glaubt daran […].“18 Die Überzeugung, daß ein „innerster Zusammenhang“ der Natur mit Dingen, Wörtern und Menschen gegeben und daß seine Erkundung der philologischen Arbeit aufgegeben sei, regiert auch Wilhelm Grimms Nibelungenkolleg mehr oder weniger selbstverständlich. Mythenforschung ist ihm im weiten Sinne Naturforschung. Hier ist der Punkt erreicht, an dem sich meine GrimmkollegLektüre auf den Aspekt konzentrieren kann, der eingangs bereits angedeutet war, auf die Ähnlichkeit der Grimmschen Theorien von Sagen- und Sprachursprung.19 17 Franz Joseph Mone: Geschichte des Heidenthums im nördlichen Europa, 2 Tle., Leipzig/Darmstadt 1822 – 1823. 18 Jacob Grimm rezensierte Trautvetters Buch in der Leipziger Literatur-Zeitung 1816, Bd. 1, No. 31, S. 241 f. Wieder abgedruckt in: Jacob Grimm: Kleinere Schriften, Bd. 6, Tl. 3, Berlin 1882, S. 199 f. 19 Der Kontext des Grimmschen Nibelungenkollegs öffnet viele Problemfelder, die hier beiseite bleiben können. Unter anderem wäre nach dem Verhältnis zu
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IV. Natur der Sage – Natur der Sprache In einer Passage der zwischenbilanzierenden „Betrachtung“ des Nibelungenkollegs steht der Satz: „Die Sage bewahrt sich als etwas Lebendiges […]. Wie eine Wurzel, ein einzelnes Symptom, plötzlich in einer kleinen Mundart wieder erscheint, so auch die Sage“ (S. 28, Mitschrift B und S). Hier ist eine klare Analogie von Sagenentwicklung und Sprachentwicklung formuliert. Der Referenzraum, in welchem sich über die Natur der Sage „näherungsweise“ Aussagen machen lassen, ist für Wilhelm Grimm der Zeitraum seit der Völkerwanderung. In jener frühen Periode des Aufbruchs vermutet er die „reineren“, „einfacheren“, „konsequenteren“ Ausprägungen des Mythischen.20 Es ist dieselbe Periode, in der auch Jacob Grimm das deutlichste Merkmal sprachbildender Kraft ausmacht, nämlich die zweite Lautverschiebung: jetzt erhob sich statt des langsamen und verweilenden zugs, den sie [sc. die Germanen] von Asien her unvordenkliche jahrhunderte hindurch eingehalten hatten, ein rascherer sturm, den die geschichte vorzugsweise völkerwanderung nennt. Nur die wenigsten stämme blieben in ihrem sitz haften. Wie sollte es anders sein, daß ein so heftiger aufbruch des volks nicht auch seine sprache erregt hätte, sie zugleich aus hergebrachten fugen rückend und erhöhend? Liegt nicht ein gewisser mut und stolz darin, media in tenuis, tenuis in aspirata zu verstärken? Die vordersten und rührigsten in der großen bewegung, Franken, Alamannen und die übrigen Hochdeutschen, wird es nicht erklärlich, warum sie alle von der zweiten auf die dritte stufe schritten? 21
Jenen Völkern im Aufbruch, denen Jacob Grimm die Kraft zu neuer Sprachgestaltung zuerkennt, scheint Wilhelm Grimm auch die Kraft zu neuer Gestaltung des Mythus zugetraut zu haben. Freilich ist auch da die „Natur“ des Mythus nur „näherungsweise“ erfaßt. Denn die Denkfigur des „Herabsinkens“ aus einem vollkommeneren Ausgangszustand strukturiert zwar Grimms kursorischen Durchgang durch tausend Jahre Überlieferungsgeschichte; hier bleibt die romantische Denkgewohnheit den Klassifikations-Schemata der vergleichenden Sagenforschung und denen der Märchenforschung zu fragen. 20 „Das früheste Zeugnis gibt Jornandes. Die letzten Auffassungen der Sage fallen ins 16. Jahrhundert. Sonach lebte der ganze Zyklus wenigstens 1000 Jahre unter dem deutschen Volke und ist noch in unseren Volksbüchern erhalten, ja in Skandinavien lebt sie noch im Munde des Volkes. Diese Zeugnisse enthalten in sich die Grundgeschichte eines deutschen Volksepos“ (Mitschrift S. 28). 21 Jacob Grimm: Geschichte der deutschen Sprache, Bd. 1, Leipzig 1848, S. 437 f.
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wirksam. Doch die Genese des Mythus ist nicht auf der Zeitachse zu finden und kennt kein Entstehungsdatum. Der „Kern der Sage“ läßt sich auf keine Zeitstufe festlegen, er ist außerzeitlich, naturgegeben. Er liegt in der Natur des menschlichen Denkens, modern gesagt, in der genetischen Struktur des menschlichen Denkens. So verstehe ich Grimms Erläuterung, die Sage habe „den Grund ihrer Fortbildung im menschlichen Dasein gefunden“ (S. 29; s. o.). Das Mythische ist nichts Prähistorisches und auf keine Vorstufe des Historischen zu verpflichten, sondern es weist in die Natur des menschlichen Denkens hinein. Die Suche nach dem „Kern der Sage“ zielt letztlich auf die Frage, wie menschliches Denken zustande kommt und funktioniert. Das hat mit den Fragen der Interpretation von Texten verschiedener historischer Ausprägungen nur vermittelt zu tun. Deshalb legt Grimm auf die Unterscheidung des mythischen vom historischen Element so großen Nachdruck. Maria Herrlich hat an Jacob Grimms ,Deutscher Grammatik‘ und besonders seiner ,Geschichte der deutschen Sprache‘ einen Grundzug der Grimmschen Sprachgeschichtsschreibung herausgearbeitet, den sie als „Organismuskonzept“ bezeichnet.22 Die Entwicklung einer Sprache folge im Konzept Jacob Grimms „einer organischen Gesetzmäßigkeit“. Ihre Qualitäten seien „in jedem historisch wahrnehmbaren System ,ursprünglich‘ angelegt“; anders gesagt, Jacob Grimm habe eine „evolutive Entwicklung des Sprachsystems“ angenommen. Sprachen entfalten sich „im Rahmen genetischer Vorgaben“.23 Wenn diese Charakterisierung zutrifft, so muß man dabei freilich im Auge behalten, daß die Begriffe der Evolution und der Genetik ihre moderne Ausformung erst im Anschluß an die Darwinsche Evolutionslehre erhalten haben und somit ein begriffliches Instrumentarium sind, das Jacob Grimm nicht zur Verfügung stehen konnte. Solche Rückübertragungen moderner Begriffe auf frühere Wissenschaftskonstellationen sind zweifellos legitim, sofern sich damit etwas Wesentliches der früheren Konstellation für unser Verständnis erhellen läßt. Das dürfte hier gegeben sein, auch 22 Maria Herrlich: Organismus und Sprachgeschichtsschreibung. Die ,Geschichte der deutschen Sprache‘ von Jacob Grimm, Hildesheim 1998 (Schriftenreihe Werke der Brüder Jacob Grimm und Wilhelm Grimm 1). – Ebd., S. 158 f.: Ein Vorzug des Organismuskonzeptes der ,Geschichte der deutschen Sprache‘ sei es, daß hier „Systemhaftigkeit und Geschichtlichkeit von Sprache als ständig aufeinander bezogene und doch ungleichartige Faktoren in eine Synthese gebracht werden.“ 23 Ebd., S. 159.
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wenn sich dabei Tücken und Lücken auftun. Die Entfaltung der evolutiven Logik „im Inneren der Sprache“ schreibe Jacob Grimm „einstweilen der Wirksamkeit eines obskuren ,Sprachgeistes‘ zu“, so Maria Herrlich.24 Die Metapher des ,Sprachgeistes‘ mag mit ihren Konnotationen von Geisterbeschwörung und dergleichen etwas seltsam anmuten. Man macht es sich aber zu leicht, wenn man, wie Maria Herrlich es tut, den „Sprachgeist“ mit dem stehenden Attribut „obskur“ abqualifiziert und ihn damit als einen Spleen oder eine Aberration aus dem übrigen Organismuskonzept hinauskomplimentiert. Vielmehr wäre es konsequent, den „Sprachgeist“ in einen nach-darwinschen Begriff zu übersetzen, etwa in den der ,genetischen Struktur‘ oder des ,genetischen Codes‘.25 Dann wäre deutlicher, daß Grimms Begriffsgebrauch des „Organischen“ nicht metaphorisch zu verstehen ist, sondern ganz unmittelbar die Sprache als Bestandteil der Natur des Menschen und seiner Sprachorgane zu fassen sucht. Die Charakterisierung als „organisch“ gilt im gleichen Maß und mit derselben Qualität auch für das Sagenverständnis Wilhelm Grimms. Seine an die Stoffkreis-Übersicht anschließende allgemeine „Betrachtung“ betont in immer neuen Wendungen, die Sage bewahre „sich als etwas Lebendiges. […] Bald läßt sie einen wichtigen Teil fallen, bildet einen anderen mit Liebe aus und setzt ihn bald an diesen, bald an jenen Zweig des Stammes, der immer derselbe ist. Sie scheint oft zu verschwinden, bricht wieder hervor aus neuer Quelle. Im Einzelnen gemahnt es uns an Willkür und Zufall, im Ganzen ist es eine Naturnotwendigkeit.“26 Der Terminus der Naturnotwendigkeit gibt die Richtung an, in der diese Aussage zu verstehen sein dürfte: Die Sage „als etwas Lebendiges“ hat ihren Sitz im Denken des Menschen, in der Natur des denkenden, sprechenden, erzählenden Menschen, der sie über Generationen und Länder verteilt immer neu und anders darbringt; aber nie „hat sie sich in einer ruhenden, festen Form ausgeprägt; sie ist in ständiger Bewegung geblieben“ (S. 29). Das heißt, die lebendige Sage hat nur eine potentielle Existenzform, hat keine „wirkliche Erscheinung“, hat nur die Immaterialität einer Idee; sie erschließt sich 24 Ebd., S. 157. 25 Was ein ,genetischer Code‘ ist, erschließt sich dem philologischen Normalverständnis vermutlich so wenig wie der „Sprachgeist“; der moderne Terminus scheint aber den weißen Fleck auf der Landkarte des Wissens deutlicher zu bezeichnen. 26 Mitschrift B und S, S. 28.
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nur „in einer gewissen inneren Konsequenz; einem Zusammenhange, einer Durchsichtigkeit des Inhalts“ (S. 30). Indem Wilhelm Grimm die Volkssage als „etwas Lebendiges“ auffaßt, darf man seiner Sagenforschung zugestehen, sie enthalte, ähnlich wie Jacob Grimms Sprachforschung, den Gedanken der „organischen Gesetzmäßigkeit“ und den der „evolutiven Entwicklung“ avant la lettre. Beiseite bleiben soll die heikle – und auch von Wilhelm Grimm vorsichtig umgangene – Frage, ob man verschiedene Ursagen für verschiedene Völker und Völkerverbände zu veranschlagen habe und ihnen einen quasi biologischen Lebenszyklus von Aufgang, Blüte und Verfall beimessen müsse. Beim „Sagenkreis der Nibelungen“ und seinen germanischen Umkreisen sind im Fortgang der Vorlesung die Metaphern des Aufblühens und Niedersinkens unübersehbar präsent; allerdings wird die Möglichkeit der Erneuerung, die dem Hereinwirken neuer historischer Konstellationen und Kräfte verdankt sein könne, nie ausgeschlossen. Wilhelm Grimm hat keinen Geschwisterbegriff zu Jacob Grimms Metapher des „Sprachgeistes“ gebildet und ist nicht auf die Metapher des „Sagengeistes“ verfallen. Die dem „Sprachgeist“ analoge Position ist begrifflich anders besetzt, es steht da „einfache Sage“, „Ursage“ (Urmythus), besonders aber „Kern der Sage“, Sagenkern, Mythenkern. Auch der Begriff des ,Kerns‘ gehört in den Bereich des Biologischen, des Organischen. In der Konsequenz der Analogie von Sprachorganismus und Sagenorganismus wäre auch hier eine Übersetzung in die nach-darwinsche Terminologie angezeigt. An die Stelle des ,Sagenkerns‘ ließe sich der Begriff der ,genetischen Struktur‘ setzen. Beides umschreibt einen dem analytischen Beobachten nicht zugänglichen Bezirk in der Natur des menschliche Denkens, jenen „Inhalt des Mythus“, dem man, wie Wilhelm Grimm mit Lachmann überzeugt war, immer „nur gradweise […] sich nähern“ kann. Der als „Mythe“ bezeichneten Grundfabel wäre dann nahezu die Qualität einer ,anthropologischen Konstante‘ zuzuweisen, und die Sagenforschung rückte ins weite Feld der historischen Anthropologie.
V. Naturgeschichte der Sage Wilhelm Grimms Vorlesung ,Erklärung des Gedichtes der Nibelungen‘ bewegt sich weit weg vom Erwartungshorizont einer literaturwissenschaftlichen Textinterpretation. Im Gang der Vorlesung zeichnet sich
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vielmehr ein Forschungsinteresse und ein Forschungsfeld ab, das den Entwurf einer ,Naturgeschichte der Sage‘ in den Blick nimmt. Sie scheint dem Entwurf einer ,Naturgeschichte der Sprache‘ in Jacob Grimms Sprachstudien eng verwandt und zum Teil gar mit ihr identisch zu sein. Jacob Grimm hat in seiner Akademierede ,Über den ursprung der sprache‘ (1851) die Gleichgerichtetheit von Sprach- und Sagenforschung eindringlich beschworen: „Traun geheimnisvoll und wunderbar ist der sprache ursprung, doch rings umgeben von andern wundern und geheimnissen. Schwerlich ein kleineres liegt in dem der sage, die bei allen völkern über den ganzen erdboden in gleicher unermessenheit und abwechslung zuckt und auftaucht, durch lange gemeinschaft der menschen erwachsen und weit fortgepflanzt worden sein musz.“27 Das ist eine in romantisches Pathos gekleidete kühne Aufforderung an die Wissenschaft, sie solle alles daransetzen, den „geheimnissen“ des Sprachursprungs wie des Sagenursprungs auf die Spur zu kommen. Der Weg dahin führt über die Analyse des ,Mythischen‘. Diese soll sich nur insoweit mit der grauen Vorzeit des Menschengeschlechts beschäftigen, als darin Aufschlüsse über die Natur des menschlichen Denkens zu gewinnen sind. Ihr Ausgangsgrund ist die Sprachlichkeit des menschlichen Denkens. Das griechische Wort mythos sei auf die Wortwurzel my (,Laut‘) zurückzuführen und meine in seiner ersten Bedeutung die ,Ver-laut-barung‘, die menschliche Fähigkeit des Redens.28 Das Forschen nach dem Ursprung von my und mythos wäre mithin als eine philologische und zugleich naturwissenschaftliche Aufgabe zu begreifen. Die Bestimmung der Sprache wie der Sage als etwas ,Organisches‘ ist nicht metaphorisch gemeint, sondern lenkt die Ursprungssuche unmittelbar in die Natur der menschlichen Denk- und Sprachorgane hinein.29 Weil aber das menschliche Sprechen wie auch 27 Jacob Grimm: Über den ursprung der sprache. Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 9. Januar 1851; Abdruck in: Jacob Grimm: Kleinere Schriften, Bd. 1, Berlin 1864, S. 255 – 298. 28 Hjalmar Grimm: Griechisches etymologisches Wörterbuch, 3 Bde., Heidelberg 1960 – 1970. 29 Die Aktualität des Problemkomplexes liegt auf der Hand; siehe den Tagungsbericht über die Internationale Tagung ,Origins of Language‘ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 1999: „Die unterschiedlichen Vorstellungen über den Sprachursprung sind Ausdruck von tief liegenden, konfligierenden Überzeugungen, wie etwa, ob die Sprache gottgegeben oder menschengemacht ist, ob sie ein Instrument für Kommunikation ist oder ein kognitives Problem löst, ob es zu Beginn der Menschheitsgeschichte eine gemeinsame oder verschiedene Sprachen gab. Die unterschiedlichen
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das Forschen immer der Geschichtlichkeit unterliegt, kann man dem Ursprünglichen immer „nur gradweise […] sich nähern“, indem man historische Spurensuche betreibt. Wilhelm Grimms Nibelungenkolleg enthält, so gesehen, im Keim den Entwurf einer ,Naturgeschichte der Sage‘.
Antworten auf diese Fragen haben weitreichende Folgerungen für die Wissenschaften und für das Selbstverständnis der Menschen. – Die Frage ist heute wieder auf der Tagesordnung der sprachthematisierenden Disziplinen, weil Evolutionsbiologie, Genetik, Kognitionspsychologie und Paläanthropologie eine ganze Reihe neuer Einsichten in die Vorgeschichte des Menschen gebracht haben, denen sich auch die Linguistik nicht mehr verschließt.“ – Vgl. Jürgen Trabant/Sean Ward (Hg.): New essays on the origin of language, Berlin/New York 2001 (Trends in linguistics: Studies and monographs 133).
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Heldensage als Exemplum Zur Anspielungsrezeption der Dietrichsage
Elisabeth Lienert Auf einen seltenen Reflex der poetikfernsten der mittelalterlichen volkssprachlichen Erzählgattungen, der Heldendichtung, in gelehrt-lateinischer Theorie hat Fritz Peter Knapp aufmerksam gemacht:1 Engelbert von Admont (um 12501331) zählt in seinem Fürstenspiegel ,Speculum virtutum‘ (um 1300/1309) heldenepische Stoffe apud Theotonicos, Geschichten de Theodorico de Verona et rege Attila et de Ekkone et Hiltebrando, „von Dietrich von Bern und Attila-Etzel, von Ecke und Hildebrand“, zu den fabulae fictae, zu Unterhaltungszwecken erfundenen Geschichten, die aber gleichwohl ihre Berechtigung haben, als Mittel nämlich, den Menschen zu gefälliger Rede zu befähigen.2 Neben dem transnationalen Zugriff des steirischen Abtes, der außer der deutschsprachigen auch die romanische heroische Überlieferung erwähnt, fabule apud Ytalicos de Ru˚lando et Olivero et apud Francigenas de Karolo et Arbegasto,3 fällt hier aus gattungspoetologischer Sicht vor allem die gerade in ihrer selbstverständlichen Beiläufigkeit dezidierte Feststellung der Nicht-Historizität von Heldensage auf:4 Innerhalb der traditionellen Dreigliedrigkeit der verschiedenen Formen des letztlich aristotelischen paradeigma (exemplum im weiteren Sinn) – historia sive exemplum, parabola, fabula – wird die Heldensage der Form mit der geringsten Verbindlichkeit zugeordnet, der fabula, nicht dem mit der historia gleichgesetzten 1 2
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Knapp [SV 66], S. 122, hier S. 814, bes. S. 1214. Engelbert von Admont: ,Speculum virtutum‘, in: Karl Ubl (Hg.): Die Schriften des Alexander von Roes und des Engelbert von Admont, Bd. 2, Hannover 2004 (Monumenta Germaniae Historica Scriptores: Staatsschriften des späteren Mittelalters 1,2), S. 93465, hier S. 345 (X,18). Ebd. Daß damit lediglich die Historizität bestimmter Erzählzusammenhänge, nicht die Historizität von Gestalten wie Karl dem Großen, Theoderich, Attila und deren Geschichte, in Frage gestellt wird, versteht sich: vgl. Knapp [SV 103], wieder in [SV 16, zit.], S. 39 – 59, hier S. 46.
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exemplum im engeren Sinn.5 Für Engelbert sind Dietrichsage und Dietrichdichtung Fiktion, ihre Verwendung zu rhetorischen Zwecken aber legitim. Thema hier ist gleichwohl nicht die bekannte Diskussion um Historizität oder Fiktionalität der Heldensage, die sich vom Ende des 11. bis ins 16. Jahrhundert zieht, von der Kritik an den Anachronismen der Sage seit Frutolf von Michelsberg bis zur künstlichen Rehabilitation der aventiurehaften Dietrichdichtung als quasi-allegorischer Geschichtsdarstellung bei Cyriacus Spangenberg, sondern das Verhältnis von Heldensage und Rhetorik im Feld mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Dietrichsagenanspielungen, die Einpassung der Dietrichsage und -sagenzeugnisse in das literarische System von Gattungen und rhetorischen Topoi. Kronzeuge für eine solche Engführung von Sage und Rhetorik ist eben Engelbert von Admont – seine theoretische Position bleibt zwar vereinzelt; die Verwendung der Dietrichsage als Reservoir für Beispielgeschichten und Beispielfiguren aber begegnet häufig. Materialbasis für die folgenden Beobachtungen ist die Bremer Zusammenstellung der Dietrich-Testimonien des 6. bis 16. Jahrhunderts,6 und zwar – entsprechend der Definition von Exempel als in einen neuen Text von außen integrierte bekannte Texteinheit7 – nicht die umfangreicheren Dietrichdichtungen (daß auch dort deren Protagonisten als beispielhaft propagiert werden können, versteht sich), sondern die Anspielungsrezeption, die hier anhand repräsentativer Beispiele im Blick auf Exempla und Exempelfiguren analysiert wird. Festzuhalten ist nämlich in erster Linie die strukturelle und pragmatisch-funktionale Analogie zahlreicher Dietrichanspielungen nicht 5 6
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Engelbert von Admont: ,Speculum virtutum‘ [Anm. 2], S. 338 (X,14). Elisabeth Lienert u. a. (Hg.): Dietrich-Testimonien des 6. bis 16. Jahrhunderts, Tübingen 2008 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 4); Grundlage der Neuzusammenstellung ist: Wilhelm Grimm: Die deutsche Heldensage, 4. Aufl. unter Hinzufügung der Nachträge von Karl Müllenhoff und Oskar Jänicke aus der Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Sprache, Darmstadt 1957. Unveränderter fotomechanischer Nachdruck der von Reinhold Steig 1889 besorgten 3. Aufl. und der Nachträge aus der Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Sprache 12 (1865). Die Kennzeichnung „Test.-Nr.“ bezieht sich stets auf die ,Dietrich-Testimonien‘, auf die auch in den meisten Fällen für Quellen- und Literaturangaben verwiesen werden muß, um Anmerkungen in einem vertretbaren Umfang zu halten. Vgl. z. B. Ulrike Draesner: Wege durch erzählte Welten. Intertextuelle Verweise als Mittel der Bedeutungskonstitution in Wolframs ,Parzival‘, Frankfurt a.M. 1993, S. 70.
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etwa zur fabula ficta in einem spezifischen, sondern zum exemplum in einem unspezifischen Sinn: als „in einem argumentativen oder narrativen Zusammenhang ,von außen‘ beigezogene, durch ihn in Sinn und Funktion festgelegte und von ihm isolierbare […] Texteinheit, die über ein tertium comparationis auf den Kontext bezogen ist,“8 sei es illustrativ bzw. implizit wertend, sei es persuasiv im Sinne einer (versuchten) Handlungssteuerung.9 Weit häufiger als die beispielhafte Erzählung freilich begegnet deren auf eine nicht-narrative Anspielung reduzierte Schwundstufe, meist als „Reduktion des Exempels auf den bloßen Namen einer beispielgebenden Person“,10 d. h. als Vergleichs- bzw. Beispielfigur: Die rhetorische Vorliebe für personenbezogene exempla trifft sich mit der Rolle der Namen als „Erinnerungskernen“ ( Joachim Heinzle) im kollektiven Gedächtnis. Was Historizität oder Fiktionalität der Namen oder (seltener) Ereignisse betrifft, verhalten sich die Anspielungen gleichsam neutral. Die Anspielungsrezeption betrifft primär den Sagenhelden, Dietrich von Bern und seine Gefährten, seltener die historische Gestalt, freilich ohne daß Sage und Historie gegeneinander ausgespielt würden. Wahrheit wird in der Regel weder beteuert noch bezweifelt (Sagenschelte und Sagenapologie begegnen im Rahmen der Anspielungsrezeption nicht); es kommt anscheinend nicht auf Wahrheit an, sondern lediglich auf den intersubjektiv gemeinsamen Wissenshorizont, weniger auf die Verbindlichkeit der Fakten als auf die der Tradition, die Verläßlichkeit der Zuordnung zu den Ereignissen oder Eigenschaften, für die der Sagenname steht. Das wird nämlich selten 8 Gerd Dicke: Exempel, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. I, Berlin/New York 1997, S. 534 – 537, hier S. 534. 9 Aus der schier uferlosen Forschung zum Exemplum weise ich – unter vollständiger Ausklammerung der Literatur, die den Begriff auf die homiletischdidaktische Beispielerzählung einengt – lediglich auf einige ausgewählte Titel hin (dort jeweils weiterführende Literatur): Knapp [SV 2], S. 76 – 102; Christoph Daxelmüller: Exemplum, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 4, Berlin/ New York 1984, Sp. 627 – 649; Peter von Moos: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im ,Policraticus‘ Johanns von Salisbury, Hildesheim/Zürich/New York 1988; Dicke [Anm. 8]; Markus Schürer: Das Beispiel im Begriff. Aspekte einer begriffsgeschichtlichen Erschließung exemplarischen Erzählens im Mittelalter, in: Mittellateinisches Jahrbuch 38 (2003), S. 199 – 237. 10 Nach Dicke [Anm. 8], S. 534, Typ (3) des Exempels. Mit der durch Curtius in der Forschung weit verbreiteten verfehlten Abgrenzung von Exemplum (Beispielerzählung) und Imago (Beispielfigur) hat von Moos: Geschichte als Topik [Anm. 9], S. 583 – 597, gründlich aufgeräumt.
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auserzählt, häufig nur angedeutet, bisweilen gar stillschweigend als bekannt vorausgesetzt. Ausführliche Erzählungen als illustrative oder persuasive Einschaltungen gibt es selten; lediglich eine Version der Geschichte von Theoderichs Höllenritt wird einmal, im spanischen ,Libro de los exemplos‘ des Clemente Sánchez de Vercial (Anfang 15. Jh.), so detailliert geschildert, daß sie auch ohne Vorwissen verständlich ist; zugleich handelt es sich um eines der in diesem Stoffkreis seltenen Beispiele für den Typus des homiletisch-didaktischen Exemplums: Theoderichs Ende demonstriert beispielhaft den Satz, „daß, wer dem Teufel dient, mit ihm sterben muß“;11 Theoderich wird seine Entführung durch den Teufel angekündigt; am Abend ruft der König im Bad den Teufel herbei; ein finsterer Reiter auf einem schwarzen, feuerspeienden Pferd erscheint; Theoderich steigt auf und wird in die Hölle getragen.12 Im 16. Jahrhundert wird (außerhalb der Anspielungsrezeption) bisweilen grundsätzlich die Eignung der Sage als Exempel propagiert, meist im Rahmen von Adels- oder Fürstenlehre und oft gerade dann, wenn der Sage Wahrheit ab- oder nur in einem allegorischen Sinn zugesprochen wird, etwa bei Heinrich Bebel, Johannes Agricola, Heinrich Pantaleon und Cyriacus Spangenberg.13 In der Anspielungsrezeption insgesamt geht es um Belehrung meist nicht in erster Linie; ihr Fokus sind thematisch Tapferkeit und Gewalt, strukturell der Vergleich mit den bekannten Exempelfiguren. Gleichwohl gibt es bei den Anspielungen auf den historischen Theoderich wie auch bei den Dietrichsagenanspielungen im engeren Sinn eine gewisse (begrenzte) thematische Varianz: Der Gotenkönig Theoderich erscheint mehrfach als Negativexempel eines schlechten, 11 Grimm [Anm. 6], S. 475. 12 ,Libro de los exemplos por a. b. c‘., hg. von John Esten Keller, Madrid 1961, Nr. 114, S. 103 f.; Test.-Nr. [Anm. 6] 220; vgl. bes. Reinhold Köhler: Eine Sage von Theoderichs Ende in dem ,Libro de los enxemplos‘, in: Germania 18 (1873), S. 147152. 13 Vgl. Test.-Nr. [Anm. 6] 275, 301, 330, 346; vgl. bes. Jens Haustein: Der Helden Buch. Zur Erforschung deutscher Dietrichepik im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Tübingen 1989 (Hermaea 58), bes. S. 119124; Jan-Dirk Müller: Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I., München 1982 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 2), S. 197, 202; Jan-Dirk Müller: Wandel von Geschichtserfahrung in spätmittelalterlicher Heldenepik, in: Christoph Gerhardt/Nigel F. Palmer/Burghart Wachinger (Hg.), Geschichtsbewußtsein in der deutschen Literatur des Mittelalters. Tübinger Colloquium 1983, Tübingen 1985, S. 7287, hier S. 85 – 87.
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tyrannischen Herrschers;14 lediglich Otto von St. Blasien bezieht sich in seiner ,Chronica‘ (nach 1209) auf ein historisch-konkretes Spezifikum (das dann freilich, anders als die Stereotypen, der Erläuterung bedarf), Theoderich als Vergleichsfigur für Heirats- und Bündnispolitik Friedrich Barbarossas.15 Der aus klerikaler Tradition stammende angebliche Vulkansturz des zur Strafe für seine Untaten zur Verdammnis bestimmten Gotenkönigs dient für Unterdrückte als Trost-, für Fürsten als Warnexempel.16 Im altenglischen ,D ¯ eor‘ (wohl Mitte 9. Jh.) 17 erscheint Dietrich als Exempelfigur für langjähriges, aber tröstlicherweise nicht endloses Leiden, wohl eine Anspielung auf Dietrichs Exil (und Rückkehr?), freilich nicht als literarische Reminiszenz, sondern quasi als Erinnerung aus der gemeinsamen Welt der heroischen Überlieferung heraufbeschworen. Zwei prominente Beispiele für die Exempelfunktion der Sage beziehen sich auf Ermanarich, ohne spezifischen Bezug zur Theoderich-/Dietrichüberlieferung, das erste zukunftsgerichtet-adhortativ, das zweite vergangenheitsbezogen illustrativ und wertend: Flodoards von Reims ,Historia Remensis ecclesiae‘ (um 950) gibt einen Brief des Erzbischofs Fulco von Reims (883900) an den ostfränkischen König Arnulf von Kärnten aus dem Jahr 883 wieder, in dem Fulco um Arnulfs Unterstützung für Karl den Einfältigen wirbt, den letzten westfränkischen Karolinger, und vor dem drohenden Untergang der karolingischen Sippe warnt, indem er den notorischen Verwandtenfeind Ermanarich und die Auslöschung von dessen Geschlecht als Schreckund Warnbild herbeizitiert.18 In einer Handschrift der ,Dialogi‘ Gregors 14 Vgl. Manegold von Lautenbach: ,Liber ad Gebehardum‘, um 1085, Test.-Nr. [Anm. 6] 77; Leo Marsicanus: ,Chronica monasterii Casinensis‘, um 1100, Test.-Nr. 80; ,Historia monasterii Manse metrica‘, 12. Jh., Test.-Nr. 107. 15 ,Chronici ab Ottone Frisigensi conscripti continuatio. Auctore, uti videtur, Ottone S. Blasii Monacho‘, hg. von Rudolf Wilmans, Hannover 1868 (Monumenta Germaniae Historica Scriptores 20), S. 304337, hier S. 318; Test.Nr. [Anm. 6] 113. 16 Felix Hemmerlin: ,Dyalogus de consolatione inique suppressorum‘, Test.-Nr. [Anm. 6] 228; Hans Sachs: ,Boecii, des christlichen philosophi und poeten, history‘, Test.-Nr. 327. 17 ,Deor‘, in: ,The Exeter Anthology of Old English Poetry‘. An Edition of Exeter Dean and Chapter MS 3501, 2 Bde., hg. von Bernard J. Muir, Exeter 1994, Bd. I, S. 283 – 285, bes. V. 1416; Test.-Nr. [Anm. 6] 52; vgl. bes. Joachim Heinzle: Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik, Berlin/ New York 1999 (De Gruyter Studienbuch), S. 15 f. 18 Flodoard von Reims: ,Die Geschichte der Reimser Kirche‘, hg. von Martina Stratmann, Hannover 1998 (Monumenta Germaniae Historica Scriptores 36),
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des Großen (Clm 18140, 11. Jh.) wird der Bericht vom Tod des [H]Erminegeld († 585), Sohn des Westgotenkönigs Leovigildus, mit der Glosse Ermanric versehen, Leovigildus, der seinen Sohn als Empörer hinrichten ließ, auf diese Weise in denkbar verkürzter Form mit dem Sohnesmörder Ermanarich gleichgesetzt und abgeurteilt:19 Der Name wird zur Bezeichnung für den Typus. Ein gattungstypisches Anspielungsmuster der späten Sangspruchdichtung und des Meisterliedes,20 ähnlich in Johannes von Tepls ,Ackermann‘ (1401?),21 ist die Vorstellung von der Sterblichkeit selbst der größten Helden, die als Exempelfiguren die Übermacht des Todes und die Nutzlosigkeit von Ruhm und Tapferkeit illustrieren. Einzelne Sonderfälle (ich beschränke mich auf wenige Beispiele) beziehen sich auf unterschiedlichste Figuren und Ereignisse: In Wolframs von Eschenbach ,Willehalm‘ (um 1210/1220) erscheint Hildebrands Gemahlin Ute, die (so ist zu ergänzen) die langen Jahre des Exils auf diesen warten mußte, als Inbegriff von Treue und insofern, völlig abstrahiert von der konkreten Situation, als Vergleichsfigur für den Heidenkönig Terramer, der den Rückzug der Seinen deckt.22 In Albrechts ,Jüngerem Titurel‘ (Ende 13. Jh.) 23 ist der Turnierplatz am Artushof so dimensioniert, daß er sogar als Schlachtfeld
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IV,5, S. 383; Test.-Nr. [Anm. 6] 60; vgl. bes. Wolfgang Haubrichs: Ein Held für viele Zwecke. Dietrich von Bern und sein Widerpart in den Heldensagenzeugnissen des frühen Mittelalters, in: W. H. u. a. (Hg.): Theodisca. Beiträge zur althochdeutschen und altniederdeutschen Sprache und Literatur in der Kultur des frühen Mittelalters, Berlin/New York 2000 (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 22), S. 330363, hier S. 340 f. Elias Steinmeyer/Eduard Sievers (Hg.): Die althochdeutschen Glossen, Bd. II, Berlin 1882, Nachdruck Dublin/Zürich 1969, S. 257; Test.-Nr. [Anm. 6] 75; vgl. bes. Haubrichs [Anm. 18], S. 341 f. Ps.-Frauenlob: Sangspruch im Gr nen Ton, Test.-Nr. [Anm. 6] 243; Ps.Harder: Ich stuend ob eines grabes grunde, Test.-Nr. 244; Ein ,lied von dem tod‘, Test.-Nr. 287. Johannes von Tepl: ,Der Ackermann‘. Frühneuhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hg. und kommentiert von Christian Kiening, Stuttgart 2000, 30,2517; Test.Nr. [Anm. 6] 210; vgl. bes. Arthur Hübner: Das Deutsche im Ackermann aus Böhmen, in: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Kl. 18, Berlin 1935, S. 321398, hier bes. S. 373382. Wolfram von Eschenbach: ,Willehalm‘. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung, Kommentar, hg. von Joachim Heinzle […], Frankfurt a.M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters 9), 439,16 – 18; Test.-Nr. [Anm. 6] 116. Albrecht: ,Jüngerer Titurel‘. Nach den Grundsätzen von Werner Wolf kritisch hg. von Kurt Nyholm, Berlin 19851995 (Deutsche Texte des Mittelalters 73), 1745,4; Test.-Nr. [Anm. 6] 154.
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für Amelungen und Hunnen, d. h. wohl für die Schlachten der „historischen“ Dietrichüberlieferung dienen könnte. Zu den exemplarisch bösen Frauen der Tradition, mit denen in einem Lied Michel Beheims (3. V. 15. Jh.) 24 die treulose Geliebte verglichen wird, zählt die Riesin Rutze, Fasolds Base, die Dietrich in der Druckversion des ,Eckenlieds‘ tötet. Das aber sind Einzelfälle. Ansonsten herrscht Stereotypie vor. Gattungsübergreifend – in Chronistik, Märe, Ereignislied, geistlichem Spiel, bisweilen auch im höfischen Roman – erscheinen Sagenhelden als Beispiel- und Vergleichsfiguren für Kampfkraft, heldenepische Schwerter als Vergleichsgrößen für Waffen und Rüstungen: Dietrichs und Hildebrands kämpferische Potenz reicht schwerlich an die von Kehenis und Tristrant heran (Eilhart von Oberg, ,Tristrant‘, wohl um 1175/80);25 Eneas’ neu geschmiedetes Schwert, daz scharpher unde herter was dan der t re Eckesas noch der m re M mink noch der g te Nagelrink noch Haltecleir noch Durendart (Heinrich von Veldeke, ,Eneas‘, um 1170/1174 – um 1185),26
übertrifft selbst die Schwerter Dietrichs (und Eckes), Witeges und Heimes sowie der Helden der Rolandsage. Erläuterungen fehlen, d. h. Sagenwissen ist vorausgesetzt. Nur in wenigen Fällen sind derartige Anspielungen an eine konkrete Episode der Sagenüberlieferung oder intertextuell an bestimmte Dichtungen geknüpft: In Ottokars von Steiermark ,Steirischer Reimchronik‘ (um 1301/19) wird die Rüstung zweier Kämpfer mit der des im ,Eckenlied‘ von drei Damen gegen Dietrich ausgesandten Riesen Ecke verglichen, die Tapferkeit Königs Ottokars II. von Böhmen im Kampf vor seinem Tod mit der Dietrichs im Kampf gegen Siegfried im 24 Die Gedichte des Michel Beheim, hg. von Hans Gille/Ingeborg Spriewald, Bd. 2, Berlin 1970, Nr. 348, S. 751 – 756, V. 136138; Test.-Nr. 245. 25 Eilhart von Oberg: ,Tristrant‘, hg. von Danielle Buschinger, Greifswald 1995, V. 6208 – 6211 [5974 – 5978]; Test.-Nr. 101. 26 Heinrich von Veldeke: ,Eneasroman‘. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke, Stuttgart 1997, 160,21 – 25 / V. 57275731; Test.-Nr. [Anm. 6] 103; vgl. bes. Heinzle [Anm. 17], S. 120 f.
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,Rosengarten‘.27 Hermann von Sachsenheim spielt im ,Spiegel‘ (um 1452) auf den ,Laurin‘ an, wo die Begrüßung durch einen Zwerg weit unfreundlicher abläuft als für Hermanns Ich-Erzähler (Laurin fordert Hand und Fuß als Pfand für die Zerstörung seines Rosengartens).28 Mehrmals wird bei besonders heftigen und ruhmreichen Kämpfen auf Eckes tödlichen Zweikampf gegen Dietrich Bezug genommen.29 Etwas häufiger sind die zentralen Sagenrollen, die sich so fest an bekannte Namen knüpfen, daß oft schon winzige Andeutungen oder bloße Namensnennungen genügen, um die typische Rolle aufzurufen: Ermenrich als Verwandtenfeind (siehe oben), Sibeche als treuloser Ratgeber,30 Wolfhart als tollkühner Draufgänger.31 Insgesamt ist (markierte) Einzeltextreferenz selten, „Wissensreferenz“ (Michael Titzmann), d. h. einzeltextunabhängige Stoffkenntnis, die Regel.32 Das bei weitem häufigste der stereotypen Muster ist Dietrich (gelegentlich auch einer seiner Helden oder Gegenspieler) als Beispielfigur für den unüberwindlich tapferen Kämpfer schlechthin, losgelöst von konkreten Ereigniszusammenhängen oder Erzählepisoden. Dieses Muster überschreitet Gattungs- wie Sprachgrenzen und bleibt beliebt 27 Ottokars ,Österreichische Reimchronik‘. Nach den Abschriften Franz Lichtensteins hg. von Joseph Seemüller, 2 Bde., Hannover 18901893. Unveränd. Nachdruck, München 1980 (Monumenta Germaniae Historica, Deutsche Chroniken 5/12), V. 2999530002 und V. 1659816603; Test.-Nr. [Anm. 6] 185; vgl. bes. Christoph März: Geborgte Helden, geliehene Gefühle. Heldenepos und höfischer Roman in Ottokars ,Österreichischer Reimchronik‘, in: Klaus Zatloukal (Hg.): 4. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Heldendichtung in Österreich – Österreich in der Heldendichtung, Wien 1997, S. 123136. 28 Hermann von Sachsenheim: ,Des Spiegels Abenteuer‘, hg. von Thomas Kerth, Göppingen 1986 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 451), V. 656 – 659; Test.-Nr. [Anm. 6] 234; vgl. bes. Dietrich Huschenbett: Hermann von Sachsenheim. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte des 15. Jahrhunderts, Berlin 1962 (Philologische Studien und Quellen 12), S. 8486. 29 Z.B. Jans von Wien: ,Fürstenbuch‘, Test.-Nr. [Anm. 6] 156; ,Livländische Reimchronik‘, Test.-Nr. 166 30 Im Rahmen der Anspielungsrezeption insbesondere Test.-Nr. [Anm. 6] 71, 111 (Walther von der Vogelweide), 118, 127 (Reinmar von Zweter), 181. 31 Vgl. bes. Test.-Nr. [Anm. 6] 112 (,Parzival‘) und 177 (,Der Reiher‘), siehe unten. 32 Ich beziehe mich auf die Systematisierung der Begrifflichkeit zur Erfassung heldenepischer Intertextualität bei Sonja Kerth: Gattungsinterferenzen in der späten Heldendichtung, Wiesbaden 2008 (Imagines Medii Aevi 21), bes. S. 39 – 115 (dort Literaturhinweise).
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bis in die Frühe Neuzeit. Noch 1516 vergleicht Hans Umperlin in einem politischen Ereignislied aus dem Umfeld der Auseinandersetzungen um die Ermordung des Hans von Hutten durch Ulrich von Württemberg den angeblich heldenhaften Herzog mit dem Sagenhelden: Er ist hinauß geritten als Dieterich von Bern, manhaft on alles zittren. 33
Die zugrundeliegenden Argumentationsmuster variieren in der Tiefenstruktur kaum und auf der sprachlichen Oberfläche nur wenig: Der aktuelle Protagonist des Folgetextes ist bzw. kämpft so tapfer und kampflustig wie oder gar tapferer und kampflustiger als Dietrich (und/ oder ein Dietrichheld); der Kampf, den es zu schildern gilt, ist so heftig wie oder gar heftiger als Dietrichs Kämpfe, das Schwert des Protagonisten so scharf wie oder gar schärfer als die berühmten Sagenschwerter, in erster Linie Mimming. Die Überbietungsstruktur34 ist, der epischen Vorliebe für die Hyperbel entsprechend, häufiger als der einfache Vergleich. Manchmal wird der gleiche Sachverhalt negativ formuliert: Selbst Dietrichs bzw. der Dietrichhelden Tapferkeit kommt der des neuen Protagonisten nicht gleich, selbst die berühmten Kämpfe der Sage lassen sich mit denen des Folgetextes nicht vergleichen, die Gegner des aktuellen Helden sind gefährlicher als die Dietrichs. Ich beschränke mich im Folgenden auf einige wenige weitere Beispiele: Während der Auseinandersetzungen um die Stadtherrschaft in Gottfried Hagens ,Reimchronik der Stadt Köln‘ (1270) kämpfen vor allem Angehörige der eigenen Seite als Dederich van Berne bzw. als it Witge ind Heyman were. 35 Laut Jans von Wien (,Weltchronik‘, ,Fürstenbuch‘, nach 1277) 36
33 Rochus von Liliencron: Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert, 4 Bde. Leipzig 1865 – 1869, Nachdruck Hildesheim 1966, Bd. 3, Nr. 299, S. 193196, 19,13; Test.-Nr. [Anm. 6] 286; vgl. Sonja Kerth: Der landsfrid ist zerbrochen. Das Bild des Krieges in den politischen Ereignisdichtungen des 13. bis 16. Jahrhunderts, Wiesbaden 1997 (Imagines Medii Aevi 1), bes. S. 276278, 310312. 34 Auch in der Anspielungsrezeption antiker Stoffe, bei antiken Exempel- und Vergleichsstrukturen ist Vergleichbares zu beobachten: vgl. Manfred Kern: Edle Tropfen vom Helikon. Zur Anspielungsrezeption der antiken Mythologie in der deutschen höfischen Lyrik und Epik von 1180 – 1300, Amsterdam/Atlanta 1998 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 135), S. 137 – 140, 147 – 157, 193, 267 u. ö.
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sind nicht einmal die Kämpfe Dietrichs von Bern oder Eckes mit einem Zweikampf zwischen Hector und Achill oder dem zwischen zwei Teilnehmern in der Schlacht bei Laa zu vergleichen. Im ,Reinfried von Braunschweig‘ (nach 1291) könnten sich nicht einmal Goldemars Riesen, die Gegner von Dietrichs Wölfingen (anscheinend beim Befreiungskampf für die entführte Prinzessin Hertlin), mit den riesenhaften Feinden des Helden vergleichen.37 Wolfram zitiert im ,Willehalm‘ bei der Schilderung der zweiten Schlacht vor Alischanz, die alle bisherigen Schlachten in den Schatten stellt, mit dem Personal der „historischen“ Dietrichepik deren Massenschlachten an: swaz man von Etzelen ie gesprach und ouch von Ermenr che, ir str t wac ungel che 38
und distanziert sich zugleich von unglaubwürdiger heldenepischer Hyperbolik, die Witege die Tötung Tausender an einem Tag zuschreibt.39 Bisweilen wird der Vergleich variiert durch die Vorstellung von einer direkten Auseinandersetzung zwischen aktuellen Protagonisten und fernen Sagenhelden, als agierten diese im neuen Text: Gegen Johanns von Würzburg Romanhelden könnten sich nicht einmal Dietrich und Ecke im Sattel halten (,Wilhelm von Österreich‘, 1314).40 35 Gottfried Hagen: ,Reimchronik der Stadt Köln‘, hg. von Kurt Gärtner [u.a.], Düsseldorf 2008, V. 4757, 4898 f.; vgl. auch V. 3685, 5007, 5691, 4813, 5027; Test.-Nr. [Anm. 6] 153: vgl. bes. Horst Wenzel: Aristokratisches Selbstverständnis im städtischen Patriziat von Köln, dargestellt an der Kölner Chronik Gottfried Hagens, in: Gert Kaiser (Hg.): Literatur, Publikum, historischer Kontext, Bern/Frankfurt a.M./Las Vegas 1977, S. 9 – 28, hier bes. S. 24 – 26; zum Vergleich mit Witege vgl. auch Albrecht: ,Jüngerer Titurel‘, Test.-Nr. [Anm. 6] 154. 36 Jansen Enikels Werke: ,Weltchronik‘, ,Fürstenbuch‘, hg. von Philipp Strauch, Hannover 1891 – 1900, Nachdruck München 1980 (Monumenta Germaniae Historica, Deutsche Chroniken 3), ,Weltchronik‘, S. 1596, bes. V. 16296300; ,Fürstenbuch‘, S. 597679, bes. V. 3604 – 14; Test.-Nr. [Anm. 6] 156; vgl. auch ,Livländische Reimchronik‘, Test.-Nr. 165. 37 ,Reinfrid von Braunschweig‘, hg. von Karl Bartsch, Tübingen 1871 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 109), Nachdruck Hildesheim [u.a.] 1997, V. 2527425279; Test.-Nr. [Anm. 6] 166; vgl. bes. Heinzle [Anm. 17], S. 106 f. 38 Wolfram von Eschenbach: ‘Willehalm‘, 384,20 – 26; Test.-Nr. [Anm. 6] 116. 39 Ebd., 384,27 – 30. 40 Johann von Würzburg: ,Wilhelm von Österreich‘. Aus der Gothaer Handschrift hg. von Ernst Regel, Berlin 1906 (Deutsche Texte des Mittelalters 3), Nachdruck Dublin/Zürich 1970, V. 1778417787; Test.-Nr. [Anm. 6] 183.
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Im ,Lohengrin‘ (nach 1283) trauen sich die kaiserlichen Ritter zu, selbst Dietrich zu besiegen: Die w ren als muotes r ch, daz iegel chen d ht, und waer her Dietr ch von Bern im kumen, im w rde s n verch entrennet. 41
In der schwedischen Reimchronik (,Erikskrönikan‘, um 1322/32) steht diese Qualität der schwedischen Ritterschaft sogar für den Erzähler außer Zweifel.42. Weitere Varianten des Vergleichs sind Gleichsetzung („identifizierende Metapher“43) und Nachbenennung: Ein heldenhafter Kämpfer kommt sich vor wie Dietrich, wird als Dietrich von Bern tituliert – in ernstem Lob oder ironisch: In der böhmischen Reimchronik ,Dalimilova kronika‘ (Anfang 14. Jh., dt. Fassung 1344/46) wird ein Gegner der Deutschen mit einem Ehrentitel Ditrich von Bern genannt: Si vor[ch]ten sich also ser, daz si [in] [Hynek von Dubé] in irm her Ditrich von Bern nantin, den si doch wol irkantin. 44
Im bereits erwähnten ,Lohengrin‘ wird die Selbstüberschätzung eines der vielen, die sich als Kämpfer für die bedrängte Herzogin von Brabant berufen fühlen, an der Identifikation mit dem Sagenhelden deutlich: I rant sich d ht ein Dieter ch von Berne. 45
Seltener ist die negative Variante: Der Protagonist des Folgetextes ist nicht so tapfer wie Dietrich (und/oder ein Dietrichheld), auch wenn er sich das vielleicht wünschte – oder im Irrealis: Selbst wenn er so tapfer wäre wie der Sagenheld, würde ihm das nichts nützen: Im Märe ,Die 41 ,Lohengrin‘. Edition und Untersuchungen, hg. von Thomas Cramer, München 1971, Str. 417/V. 41644146; Test.-Nr. [Anm. 6] 161. 42 ,Erikskrönikan‘, hg. von Rolf Pipping, Uppsala 1921, Nachdruck Amsterdam 1963, V. 20; Test.-Nr. [Anm. 6] 190. 43 Knapp [SV 150], S. 99 – 121, hier S. 110. 44 Josef Jirecˇek (Hg.): ,Ry´movaná kronika cˇeská tak ˇrecˇeného Dalimila‘. ,Di tutsch kronik von Behemlant‘, in: Fontes rerum Bohemicarum 3, Prag 1878, Nachdruck Hildesheim 2004, S. 3224, 93,7982; ähnlich in der tschechischen Version 93,41 f.; Test.-Nr. [Anm. 6] 184; vgl. bes. Václav Bok: Zur Kenntnis der Dietrich-Sagen im mittelalterlichen Böhmen, in: Wernfried Hofmeister/Bernd Steinbauer (Hg.): Durch aubenteuer muess man wagen vil. Festschrift Anton Schwob, Innsbruck 1997, S. 2735, hier S. 28 f. 45 ,Lohengrin‘ [Anm. 41], Str. 58/V. 576.
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Heidin‘ (um/nach 1250) droht dem Liebenden selbst dann der Tod, wenn er so kampftüchtig wäre wie Dietrich und Ecke.46 Selbst wenn ihr Ehemann über Sagenheldenstärke verfügte, würde das die Gattin vorerst nicht zum Gehorsam bewegen (,Die gezähmte Widerspenstige‘, wohl 14. Jh.).47 Manche Gefahren erscheinen so einschüchternd, daß der Protagonist verzagen müßte, selbst wenn er über Dietrichs Stärke und Tapferkeit verfügt hätte,48 ja daß sie sogar Dietrich selbst in Schrecken versetzen könnten.49 Bei diesem Typus ist die Grenze zu Komik und Ironie fließend. Ausschließlich komischen Kontexten vorbehalten sind Wunschvorstellungen bzw. deren Negierung: Der (schwächliche) Protagonist wünscht sich, er wäre Dietrich (so eine Gestalt in Hermanns von Sachsenheim ,Mörin‘, wohl 1453, der eine heftige verbale Auseinandersetzung bevorsteht), oder muß sich kleinlaut eingestehen, daß das nicht möglich ist (so im gleichen Text der Ich-Erzähler).50 Satirisch-karikierende Funktion gehört grundsätzlich zum Potential des Exempels; bei den Dietrichsagenexempeln freilich scheint die Tendenz zur Komisierung besonders ausgeprägt. Voran geht bereits Wolfram von Eschenbach im ,Parzival‘ (um 1200 – 1210).51 Herzog Liddamus, ein skrupelloser und pragmatischer Realpolitiker, zieht bekanntlich Heldensagengestalten – aus der Dietrichüberlieferung Wolfhart und Sibeche – als Maßstäbe für sein eigenes Verhalten heran. 46 ,Die Heidin (B)‘, in: Klaus Grubmüller (Hg.): Novellistik des Mittelalters. Märendichtung, Frankfurt 1996 (Bibliothek des Mittelalters 23), S. 364469, v. 936 – 940; Test.-Nr. [Anm. 6] 143. 47 Heinrich Niewöhner (Hg.): Neues Gesamtabenteuer, Bd. I, 2. Aufl. hg. von Werner Simon. Mit den Lesarten besorgt von Max Boeters/Karl Schacks, Dublin u. a. 1967, Nr. 2, S. 3639, V. 5561; Test. Nr. [Anm. 6] 180. 48 Ottokar von Steiermark: ,Steirische Reimchronik‘, V. 5704157044; Test.Nr. [Anm. 6] 185. 49 Hermann von Sachsenheim [Anm. 28], V. 2530 f. 50 Hermann von Sachsenheim: ,Die Mörin‘. Nach der Wiener Handschrift ÖNB 2946 hg. und kommentiert von Horst Dieter Schlosser, Wiesbaden 1974 (Deutsche Klassiker des Mittelalters N. F. 3), V. 2442 f., 4444 f.; Test.-Nr. [Anm. 6] 235; vgl. bes. Huschenbett [Anm. 28], S. 84. 51 Wolfram von Eschenbach, ,Parzival‘. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der 6. Aufl. von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Einführung zum Text von Bernd Schirok, Berlin/New York 1998, hier bes. 420,20 – 22, 421,23 – 28; Test.-Nr. [Anm. 6] 112; vgl. bes. George Gillespie: Wolframs Beziehung zur Heldendichtung, in: Kurt Gärtner/Joachim Heinzle (Hg.): Studien zu Wolfram von Eschenbach. Festschrift Werner Schröder, Tübingen 1989, S. 6774; Knapp [SV 150], hier bes. S. 108 f., 110 u. ö.; Draesner [Anm. 7], bes. S. 323 – 325, 330 f.
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Abgelehnt werden mit Wolfhart – waz Wolfhartes solt ich s n? (420, 22) – die heroischen Verhaltensmuster von Tapferkeit und Gewaltbereitschaft, für die Wolfhart steht, auch ohne daß das ausdrücklich betont werden muß. Mit Sibeche lehnt Liddamus sich an eine denkbar unheroische Figur an: Sibche nie swert erz ch, er was ie b [den] d man vl ch: doch muose man in vlÞhen, gr z gebe und starkiu lÞhen enpfienger von Ermr che genuoc: nie swert er doch durch helm gesluoc. (421,23 – 28)
Die Pointe dieser Anspielung besteht darin, daß Wolfram Liddamus Feigheit und Macht des Sibeche ausführlich erläutern läßt, das eigentliche Rollenstereotyp des treulosen Ratgebers (das u. a. etwa gleichzeitig bei Walther von der Vogelweide und wenig später bei Reinmar von Zweter als bekannt bezeugt ist) aber ausspart: zugleich eine Leerstelle für Sagenwissen und damit Bewertungskompetenz des Rezipienten und komische Selbstentlarvung des fragwürdigen Liddamus. Einige weitere Beispiele für Einzelfälle von Komisierung im Bereich der Dietrichsagenanspielungen sollen genügen: Schon der bloße Vergleich mit Sagenhelden kann, je nach Kontext, ironisch sein; das gilt etwa für ein Spottlied auf Ludwig den Baiern und Graf Rudolf von Hohenberg (,Zug nach Feldkirch‘, 2. V. 14. Jh.), das diese ironisch mit Dietrich von Bern und Siegfried gleichsetzt.52 Ein entsprechender Selbstvergleich kennzeichnet in Hugos von Montfort Lied Nr. 7 (vor 1401) die grundlose Prahlerei vieler Feiglinge, die mehr Hasen gefangen haben wollen als Ecke.53 In der Fabel ,Wolf und Geiß I‘ (1. H. 13. Jh.) verspottet die Geiß den Wolf durch Anspielung auf die Tötung der Helchesöhne: ir redet, als der da gerne ræche / div helchen chint, wesser wa. 54 Ob die Formulierung von der „Rache für die Helchensöhne“ derb52 Liliencron [Anm. 33], Bd. 1, Nr. 11, S. 4045, V. 68 f.; Test.-Nr. [Anm. 6] 193; vgl. bes. Kerth [Anm. 33], S. 112 f., 226 f.; vgl. auch den ironischen Vergleich des Prozeßverteidigers Eckhart mit dem (zu Beginn seiner Auseinandersetzung mit Ecke alles andere als) tapferen Dietrich in der bereits erwähnten ,Mörin‘ (V. 1792 f.). 53 Hugo von Montfort: Das poetische Werk, hg. von Wernfried Hofmeister. Mit einem Melodie-Anhang von Agnes Grond, Berlin/New York 2005, Nr. 7, S. 31 A. 2; Test.-Nr. [Anm. 6] 209. 54 Bernhard Kosak: Die Reimpaarfabel im Spätmittelalter, Göppingen 1977 (GAG 223), Nr. 37, S. 510 – 518, V. 34 f.; Test.-Nr. [Anm. 6] 117.
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erotische Bedeutung hat wie im gleichnamigen Märenfragment (Hs. Mitte 14. Jh.) 55, ist nicht sicher; um den spezifischen Sagenkontext geht es kaum mehr, wohl aber um die satirische Entlarvung dessen, den mit Dietrichs Tapferkeit wenig, mit dem auch in seinem Rachebestreben scheiternden Helden umso mehr verbindet. Komik entsteht bisweilen lediglich durch die Unangemessenheit des Vergleichs, wenn etwa in Georg Rollenhagens enzyklopädischem Tierepos ,Froschmeuseler‘ (vor 1595) wenig heroische Tiere mit Sagenhelden verglichen werden, Federkleid und Beine des Storchs mit der drachenblutgehärteten Rüstung Sigenots und ausgerechnet eine kriegerische Maus mit dem Wilde[n] Mann / Der mit Bernern zu streiten kam.56 Bisweilen aber ist eine Umund Abwertung der Sagenhelden impliziert. Die Seriosität der Vergleichsfiguren kippt unter Umständen schnell. Während etwa in Michel Beheims ,Buch von den Wienern‘ (1462/66) einer der Kämpfer bei der Belagerung der kaiserlichen Burg ernsthaft mit dem fraidigen munch ulsam verglichen wird,57 erscheint in Sebastian Brants ,Narrenschiff‘ (1494) m nch Eylsam mit sym bart als komisch-grobianische Vergleichsfigur für die groben narren der Gegenwart.58 Bezeichnend freilich ist, daß die Komisierung von Heldensage ihre eigenen Stereotype entwickelt; eines davon ist der Einsatz Dietrichs, seiner Helden und Kämpfe als Vergleichsgrößen für den Ehekrieg im Märe. Das bekannteste Beispiel ist ,Die böse Frau‘ (um 1250?): Dort stellt der Erzähler sein Leiden im Ehekrieg u. a. in komischer Übertreibung über Witeges und Dietrichs Kampfesnot (V. 257 – 261, vgl. auch ff.); Kampfkraft und Gewalttätigkeit der Ehefrau gleichen derjenigen Hildebrands (V. 527 – 530); die übermächtige Gegnerin nimmt quasi Dietrichs Position ein, und in komischer Verzweiflung beklagt der Ehemann, daß er nicht das Zeug zu einem Witege hat:
55 Test.-Nr. [Anm. 6] 197. 56 Georg Rollenhagen: ,Froschmeuseler‘, hg. von Dietmar Peil, Frankfurt a. M. 1989 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 12), Buch II, V. 60996102; Buch III, V. 3279 f.; Test.-Nr. [Anm. 6] 350. 57 Michael Beheims ,Buch von den Wienern‘. 1462 – 1465, hg. von Th[eodor] G[eorg] von Karajan, Wien 1867, 58,14; Test.-Nr. [Anm. 6] 249. 58 Sebastian Brant: ,Das Narrenschiff‘. Studienausgabe, hg. von Joachim Knape, Stuttgart 2005, Kap. 72, bes. 72,25; Test.-Nr. [Anm. 6] 264.
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s ist her Dietr ch ze mir; ouwÞ daz ich gegen ir niht her Witege werden mac. (531 – 533, vgl. auch ff.) 59
Die Komik gipfelt darin, daß Witege gegen Dietrich chancenlos bleibt und allenfalls fliehen kann, wie es denn auch der Ehemann tut.60 Im Schwankmäre ,Der Reiher‘ (um 1300) legt sich ein über seine Frau erboster Bauer auf Rache sinnend – in Wolfhartes muote – ins Bett; sein Zorn läuft freilich aufgrund der überlegenen List der Frau ins Leere.61 Ein weiteres gattungsspezifisch rekurrentes Muster entwickelt das geistliche Spiel, wo durch prahlerische Selbstvergleiche der Grabwächter mit Sagenhelden die stereotype Rolle des tapferen Dietrich nicht nur komisch gebrochen, sondern zugleich in heilsgeschichtlichen Ernst überführt wird: Im ,Alsfelder Passionsspiel‘ (Ende 15. Jh.) sucht sich der secundus miles durch den Selbstvergleich mit Dietrich als Bewacher von Christi Grab zu qualifizieren: Ich stryden auch alszo gern, als ye gethet Diederich von Bern. Ich wel mich her legen vorholn vnd hudden, das hie vns icht werde gestoln, Ihesus vß dem grabe. 62
Wenn in anderen Spielen63 Grabwächter und Peiniger Christi selbst Heldensagennamen tragen (oder das Sagenschwert Mimming führen), ist auch in dieser Nachbenennung (ähnlich wie bei Neidharts Bauern) ein Vergleich mit den Sagenhelden impliziert; die Gewalt der Heldensage wird so freilich nicht nur komisiert, sondern auch in den Kontext der Heillosigkeit von Christi Widersachern gerückt. 59 ,Daz buoch von dem übeln wîbe‘, hg. von Ernst A. Ebbinghaus, 2., neubearb. Aufl. Tübingen 1968 (AltdeutscheTextbibliothek 46), bes. V. 257 – 261, 527 – 533; Test.-Nr. [Anm. 6] 141; vgl. bes. Kerth [Anm. 32], S. 366371. 60 Die Annahme anderer als der überlieferten Motive in mündlicher Erzähltradition (so Kerth [Anm. 32], S. 368), ist unnötig, obwohl die ,Thidrekssaga‘ immerhin Witeges kämpferische Überlegenheit kennt. 61 Niewöhner (Hg.): Neues Gesamtabenteuer I, Nr. 15, S. 100107, V 375; Test.-Nr. [Anm. 6] 177. 62 ,Alsfelder Passionsspiel‘. ,Frankfurter Dirigierrolle‘ mit den Paralleltexten. Weitere Spielzeugnisse. ,Alsfelder Passionsspiel‘ mit den Paralleltexten, hg. von Johannes Janota. Edition der Melodien von Horst Brunner. Tübingen 2002 (Die Hessische Passionsspielgruppe. Edition im Paralleldruck. Bd. II), V. 6929 – 6933; Test.-Nr. [Anm. 6] 270. 63 Vgl. ferner ,Bozner Osterspiel I‘, ,Bozner Osterspiel III‘, ,Redentiner Osterspiel‘, ,Egerer Passionsspiel‘; Test.-Nr. [Anm. 6] 196, 230, 231, 248, 272.
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Elisabeth Lienert
Ein Stereotyp anderer Art ist die mehrfach belegte Redensart „Ecke ist an den Berner geraten“; lediglich über die strukturelle Entsprechung einer Überlegenheitskonstellation, ohne Bezug zur ursprünglichen Kampfsituation, werden Dietrich und Ecke hier zu sprichwörtlichen Vergleichsfiguren. Von einem Dorfpfarrer zu einem Rätselwettbewerb herausgefordert, prophezeit der Pfaffe vom Kalenberg: es kumpt gleich Eck an Berner (sinngemäß: „der wird seinen Meister finden“).64 Hans Sachs verwendet die Formulierung gar im Sinne von „Der Betrüger hat seinen Meister gefunden“, etwa als Eulenspiegel einen Wirt, der ihm Bratengeruch in Rechnung stellt, mit dem Klang des Geldes bezahlt (,Eulenspiegel mit dem Wirt‘, 1547).65 Von Dietrichs Reputation scheint hier nichts mehr geblieben, der Anspielung kein inhaltlicher Bezug zu den Sagenstoffen innezuwohnen. Deren Funktion erscheint in manchen Kontexten gerade der Anspielungsrezeption reduziert auf Unterhaltung und Selbstvergewisserung des Publikums im gemeinsamen, fast schon abgedroschenen und damit bei aller Stereotypie doch denkbar unterschiedlichen Funktionen verfügbar werdenden Wissen. Insgesamt läßt sich die Entstehung gleichsam sageneigener Topoi und Exempelfiguren feststellen. In erster Linie dienen Helden, wie erläutert, als Exempelfiguren für Kampfkraft oder Kampfzorn, Dietrich ebenso wie Hector oder Achill. Trotz der Tendenz zur Pointierung, der Herausbildung stereotyper, aber unterschiedlicher Rollen impliziert das Nivellierung: Problematisierung und Ambivalenz der Heldenkonzeptionen, wie sie die Dietrichepen selbst durchaus kennen, sind weitgehend aufgehoben, wenn etwa der „arme“ Dietrich, der victor victus der historischen, der Zauderer der aventiurehaften Dietrichepik und sogar der ambivalente Witege, Retter Dietrichs, Verräter und Töter junger Helden zugleich, zu nichts als exemplarisch tapferen Kämpfern neutralisiert werden. Die beschriebene Komisierung kann allerdings problematische heroische Gewalt auf andere Weise relativieren, die Neutralisierung des Inhaltlichen andere Verwendungsweisen ermöglichen: Die Möglichkeiten der Funktionalisierung sind bei aller Stereotypie vielfältig, bis hin zur Aufladung mit gattungsfremden Inhalten oder gar 64 Viktor Dollmayr (Hg.): ,Die Geschichte des Pfarrers vom Kalenberg‘, Halle a. d.S. 1907 (Neudrucke deutscher Litteraturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts 212 – 214), V. 514; Test.-Nr. [Anm. 6] 253. 65 Edmund Goetze/Carl Drescher (Hg.): Sämtliche Fabeln und Schwänke von Hans Sachs, 6 Bde. Halle a. d. S. 1893 – 1913, hier Bd. 4 (1903), Nr. 366, S. 198200, V. 58; Test.-Nr. [Anm. 6] 317; vgl. auch: ,Ein abentewrer mit eim or‘, 1536 (ebd., Bd. 3, Nr. 63, S. 153 f.), V. 47; Test.-Nr. 303.
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Loslösung von allen Kontexten durch spielerische Verselbständigung der Formulierungen. Die Eigentopik der Heldensage unterscheidet sich nur stofflich und im Namenmaterial, nicht aber strukturell und pragmatisch von biblischen oder antiken Exempla.66 Wohl aus diesem Grund ist die bekannte – angesichts der Hybridisierung später Heldendichtung besonders auffällige – Trennung der Stoffkreise von Heldensage und höfischem Roman, die im wesentlichen bis ins Spätmittelalter erhalten bleibt, im Bereich der Anspielungsrezeption und der Exempla aufgehoben: Als Exempelfiguren (und nur als solche) begegnen Sagenhelden auch im Roman. Anders als bei den antiken Exempelfiguren freilich deutet die Komisierung der Heldensage (im geistlichen Spiel wie seit je grundsätzlich in geistlichen Kontexten mit deutlicher Abwertung verbunden) auf geringere und tendenziell schwindende Dignität der Heldenepik und ihrer Figuren. Aktualisierung, Rehistorisierung, Apologie im Einzelfall (etwa bei Kaiser Maximilians Heldensagenrezeption67) schließt dies freilich nicht aus. Engelberts Votum zur Unterhaltungsfunktion der Sagen entspricht durchaus einem weit verbreiteten Usus; auch die Entfernung von der Historie wird an den Sagenexempeln noch deutlicher als an den Dietrichdichtungen selbst. Um rhetorikferne Stoffe wie die der Sage in Exempla zu überführen, bedarf es des Studiums der Poetiken selbstverständlich nicht; Beispielfiguren und Beispielerzählungen sind ein universaler Modus der Vermittlung von Wissen und der Selbstvergewisserung der Wissenden, unabhängig von zufälligen und vereinzelten Reflexen in der Theorie.
66 Lediglich der bei der Anspielungsrezeption antiker Stoffe häufige Typus des Bildzitats kommt bei heroischen Stoffen nur vereinzelt vor, in Helmbrechts Haube bei Wernher dem Gartenaere, die auch Dietrichsagengeschehen abbildet; doch hat das mit dem Exempel-Typus nur insofern zu tun, als Etzels ungehorsame und unglückliche Söhne dem Meierssohn als Beispielfiguren für die Folgen kindlichen Ungehorsams dienen mögen; vgl. Test.-Nr. [Anm. 6] 164. 67 Müller [Anm. 13], S. 190 – 206.
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Gattungsübergreifendes Erzählen
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Gattungschaos im ,Seghelijn van Jherusalem‘: An die Grenzen der Interpretabilität Geert H. M. Claassens 1 I. Einführung Unsere Gattungsdefinitionen und -instinkte sind von den Wurzeln der volkssprachlichen Philologien des 19. Jahrhunderts geprägt. Nicht nur hat das Fach es damals ,erlernt‘, in mittelalterlichen Texten aus der Sicht einer aristotelisch geschulten Ästhetik nach Strukturen zu suchen (und diese dementsprechend zu evaluieren), sondern diese Texte wurden auch nach einem anachronistischen Gattungssystem klassifiziert. Der einfachste – allerdings vielleicht auch fatalste – Klassifikationsterminus ist jener einer ,profanen‘ versus einer ,sakralen‘, einer weltlichen versus einer geistlichen Literatur. Solange sich die Literaturwissenschaft des ahistorischen Charakters dieser Gliederung bewußt ist, gibt es im Grunde kein Problem, doch es spricht für sich selbst, daß wir diesen Gegensatz manchmal auch auf das mittelalterliche Literatursystem selbst projizieren. An mancher Stelle in der modernen Forschungsliteratur taucht diese Dichotomie auf – und wird ihr argumentative Bedeutung beigemessen.2 Daß mittelalterliche Texte sich anhand dieser (und anderer) Kategorien nicht adäquat einteilen lassen, ist ebenfalls genügend bekannt – offensichtlich sind Helden und Heiligen viele Züge gemeinsam –, und welche Kategorien wir auch definieren, immer wird sich wohl ein definitionssprengender Fall finden lassen, der zu weiterer 1
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Gerne möchte ich mich bei Frau Katty De Bundel, wissenschaftlicher Mitarbeiterin, für ihre kritische Lektüre einer früheren Fassung dieses Aufsatzes und bei Dr. Iannis Goerlandt, der sich als besonders fähiger und aufmerksamer Übersetzer erwiesen hat, bedanken. Wenn dieser Beitrag unverhofft doch noch Mängel aufwiese, wären diese sicherlich nicht ihren Anstrengungen zuzuschreiben. Ich nenne an dieser Stelle keine Beispiele, sondern beschränke mich auf das Geständnis, auch ich habe auf diesem Gebiet gesündigt (sofern man hier wirklich von ,sündigen‘ sprechen kann).
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Nuancierung oder sogar Neudefinierung Anlaß gibt. Doch wie weit können wir in dieser Nuancierung und Neudefinierung gehen? Mit den folgenden Betrachtungen möchte ich einen mittelniederländischen Ritterroman aus dem 14. Jahrhundert vorstellen, der jeder Gattungsgrenze zu trotzen scheint, der uns jedoch folglich auch mit den Grenzen der Interpretabilität konfrontiert. Einer kurzen Situierung und Zusammenfassung dieses Textes, der in der Literaturgeschichte unter dem Namen ,Seghelijn van Jherusalem‘ [im Folgenden: SvJ] bekannt ist, folgt eine knappe Darstellung der Verwendung von äußerst diversen Quellen im Text. Danach gehe ich auf das Gattungsproblem und die exegetischen Schwierigkeiten in Bezug auf SvJ ein, in der Hoffnung, so die literaturwissenschaftlichen Herausforderungen des Romans ans Licht zu bringen.3
II. ,Seghelijn van Jherusalem‘: Literaturhistorische Koordinaten und Synopsis Innerhalb der gesamten mittelniederländischen Literatur ist SvJ als ein großzügig überlieferter Text zu betrachten. Der Roman ist in einer nahezu vollständigen Handschrift aus dem frühen 15. Jahrhundert überliefert,4 bei der es sich allerdings wahrscheinlich um eine Abschrift durch einen Kopisten mit nur beschränkten Kenntnissen des Mittelniederländischen handelt: Sie enthält nämlich einige sonderbare Fehler. Weiter kennen wir noch ein Exzerpt aus einer Sammelhandschrift aus dem 15. Jahrhundert5 – Exzerpte sind bekanntlich gute Indizien für die 3
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Selbstverständlich werde ich die einschlägige Forschungsliteratur zu ,Seghelijn van Jherusalem‘ in meine Betrachtungen mit einbeziehen und als Untermauerung verwenden, doch möchte ich bewußt den mittelniederländischen Text selbst in den Mittelpunkt rücken. Gerne nutze ich denn auch die Gelegenheit, nach langer und intensiver Forschungsarbeit meine Überlegungen und Intuitionen zu SvJ auszuschreiben und zur Diskussion vorzulegen. Daß ich das an dieser Stelle mache, hat noch einen weiteren Grund: Ich danke Fritz Peter Knapp für die freundschaftliche Kollegialität, mit der er mir stets begegnet, und nicht minder für seine dringende Warnung, den Primärtext nicht aus den Augen zu verlieren – deshalb widme ich diesen Aufsatz, begleitet von meinen besten Wünschen, Fritz Peter Knapp. Es handelt sich um Berlin, SPK, Ms. Germ. Fol. 922; in diese Sammelhandschrift ist der Text auf fol. 71 – 122 aufgenommen. Zum Exzerpt siehe W. L. Braekman: Middelnederlandse didactische gedichten en rijmspreuken, in: Verslagen en Medede(e)lingen der Koninklijke Vla-
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Beliebtheit eines Werkes6 –, eine Inkunabel sowie fünf Drucke jüngeren Datums.7 Man kann die Überlieferung großzügig nennen, doch sie ist problematisch in dem Sinne, daß die Textzeugen sich nicht ohne weiteres zusammenfügen lassen, so daß die tatsächliche ursprüngliche Textgestalt nicht mit Sicherheit festgelegt werden kann. SvJ wird in seiner ursprünglichen Form ungefähr 12 000 Verse gezählt haben; vom Umfang her ist er mit einem Text wie dem ,Roman van Walewein‘ vergleichbar.8 Die Sprache des Textes ist Flämisch, eine Charakterisierung, die wir unter Vorbehalt als Westflämisch näher bestimmen können,9 doch gibt dies über die soziokulturellen Umstände, unter denen
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ams(ch)e Academie voor Taal- en Letterkunde 1969, S. 79 – 111, und Geert Claassens: Dat en is sonder reden niet. Over de zeven vragen van Seghelijn van Jherusalem, in: Spiegel der Letteren 40 (1998), S. 25 – 54. Möglicherweise lassen sich noch zwei weitere Exzerpte nachweisen, doch daß es sich bei den betreffenden Textteilen – zwei Gebeten – um jüngere Repräsentanten des Materials handelt, das der Dichter des SvJ in sein Werk aufgenommen hat, kann nicht ausgeschlossen werden; siehe dazu Johan Oosterman: De gratie van het gebed. Overlevering en functie van Middelnederlandse berijmde gebeden, 2 Bde., Amsterdam 1995, Bd. 1, S. 52 und Anm. 22, sowie Geert Claassens [Anm. 5], S. 26, Anm. 1. Vgl. Berryl Smalley: The Study of the Bible in the Middle Ages, Notre Dame 1964, S. 177. Für eine Erörterung der Überlieferung des SvJ siehe Ingrid Van de Wijer: Segheliin van Jherusalem. Tekstoverlevering van een Middelnederlands ridderdicht, in: Quaerendo 14 (1984), S. 273 – 304. Die Angaben zur Länge (ausgedrückt in Versen) basieren auf der Edition Verdams (Seghelijn van Jherusalem, naar het Berlijnse handschrift en den ouden druk uitgegeven door Jakob Verdam, Leiden 1878), doch es liegt auf der Hand, daß diese Edition, in der mit dem vorhandenen Quellenmaterial ziemlich frei umgesprungen wird, nicht der wirklichen Textgestalt entspricht. In diesem Beitrag gehe ich von dem Text, wie er in die fast vollständige Berliner Handschrift aufgenommen ist, und von der ältesten Druckfassung aus (Gent, Universitätsbibliothek, Res. 1405). Diplomatisch abgedruckt sind diese Quellen in Ingrid Van de Wijers Löwener Dissertation (Ingrid Van de Wijer: Segheliin. Codicologische, bibliografische en tekstkritische studie en editie, 2 Bde., Löwen 1983), die allerdings nie in den Handel gebracht worden ist. In Erwartung einer in Vorbereitung begriffenen neuen Edition beziehen sich die Quellenangaben in der folgenden Erörterung auf die erwähnte Edition Verdams. In ihrer Dissertation nimmt Van de Wijer eine knappe dialektologische Analyse vor, aus der hervorgeht, daß die unterste Textschicht Flämisch ist, „misschien zelfs meer specifiek (Zuid?-)Westvlaams“ („vielleicht eher noch, und spezifischer: (Süd?-)Westflämisch“), mit einer Brabanter Schicht darüber, welche der Abschrift in der Berliner Handschrift eigen ist (vgl. Van de Wijer [Anm. 8], Bd. 1, S. 89 – 99, Zitat S. 91).
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der Text zustande gekommen ist, weiter keinen Aufschluß: Konkrete Auskünfte über einen etwaigen Mäzen oder das intendierte Publikum fehlen.10 Der Dichter, der sein Werk vermutlich um die Mitte des 14. Jahrhunderts schrieb,11 ist eigentlich ein Unbekannter. Manchmal wird als Andeutung des Autors der Name Loy Latewaert verwendet, doch dieser findet sich nur in den Kolophonen der gedruckten Fassungen (und dann noch in unterschiedlicher Form). Wenn ich im folgenden den Namen Latewaert verwende, dann der Kürze halber und unter großem Vorbehalt. Der Text selbst demonstriert deutlich, daß Latewaert ein gut ausgebildeter Mann gewesen sein muß: Die verwendeten Quellen zeugen von weiten Kenntnissen lateinischer und altfranzösischer Literatur. Wie gesagt ist SvJ ein stattlicher Roman, der sich nur mit Mühe nacherzählen läßt. Da ich jedoch davon ausgehe, daß viele Leser mit dem Text nicht vertraut sind, biete ich hier eine kurze Zusammenfas10 Es liegt vielleicht auf der Hand, daß das intendierte Publikum die Aristokratie war; schließlich rückt die Geschichte die Großen der Welt in den Mittelpunkt. Janssens bricht eine Lanze für die flämischen gräflichen Hofkreise als primär adressiertes Publikum ( Jozef D. Janssens: Dichter en publiek in creatief samenspel. Over interpretatie van Middelnederlandse ridderromans, Löwen/ Amersfoort 1988, S. 169 – 183), und De Bundel neigt dazu, ihm beizupflichten (Katty De Bundel: Een heldin voor het gerecht. Een vergelijkende analyse van een episode uit de Seghelijn van Jherusalem, in: Spiegel der Letteren 44 [2002], S. 115 – 147). Doch wenn wir versuchen, diese Annahme mit der Sprache des SvJ in Einklang zu bringen, führt sie zu einem Problem: Welches adelige flämische Publikum müssen wir uns dabei vorstellen? Der höhere flämische Adel war in seinen literarischen Vorlieben schließlich lange Zeit französisch orientiert (siehe dazu Bart Besamusca: Het publiek van de Middelnederlandse Arturromans, in: Jozef D. Janssens u. a.: Op avontuur. Middeleeuwse epiek in de Lage Landen, Amsterdam 1998, S. 145 – 157, 327 – 329). Auch wenn Latewaert ein adeliges Publikum intendiert haben sollte, so stand das übrigens nachweislich einer Rezeption in bürgerlichen Kreisen nicht im Wege. Der Nachlaß des Genter Erbbürgers Jhan Wasselins (gestorben 1388) enthielt bekanntlich ein Exemplar des SvJ; siehe dazu Ingrid Van de Wijer: En geen mens die de achtergrond niet onmiddellijk zag. Naar een interpretatie van de Middelnederlandse ,Seghelijn‘, in: G. Van Eemeren/F. Willaert (Hg.): ’t Ondersoeck leert. Studies over middeleeuwse en 17de-eeuwse literatuur ter nagedachtenis van Prof. Dr. L. Rens, Löwen/Amersfoort 1986, S. 65 – 77, v. a. S. 65. 11 Jhan Wasselins’ Nachlaß (vgl. Anm. 10) liefert einen eindeutigen Terminus ante quem von 1388. Zur Datierung siehe weiter Janssens [Anm. 10], S. 169, wo er schlußfolgert, der Text sei vermutlich um 1350 in Flandern geschrieben worden.
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sung (in der notwendigerweise viele Details unbeleuchtet bleiben müssen). Der Roman beginnt mit einem Prolog, in dem der Dichter seinem Publikum die wohlbekannte Geschichte von Sankt Helena, die das Heilige Kreuz gefunden hat, in Erinnerung bringt. Er fügt gleich hinzu, bei diesem Unterfangen habe sie – was nur die wenigsten wissen – ein kühner Ritter namens Seghelijn begleitet. Die eigentliche Geschichte beginnt in Jerusalem, viele Jahre nachdem Christus am Kreuze gestorben ist.12 Damals herrscht dort der Heide Prides. Braffeleur, die Frau des Königs, verspricht, zum Christentum zu konvertieren, wenn sie einen Sohn bekommt. Als sie später schwanger wird, liest Prides’ Hofastrologe in den Sternen, daß der erwartete Königssohn – falls er nicht umgebracht wird – den heidnischen Glauben abschaffen und seine Eltern erschlagen wird. Braffeleur beteuert darauf ihrem Gatten, sie werde das Kind eigenhändig töten. Kurz vor der Niederkunft flieht Braffeleur in den Wald, wo ihr während der Entbindung von drei Prophetinnen Beistand geleistet wird. Ihren Sohn tauft sie Seghelijn, und von den Prophetinnen empfängt er drei Taufgeschenke: Erstens wird er in jedem Kampf siegreich sein; zweitens wird niemand, der dem Kinde in die Augen schaut, ihm etwas verweigern können; und drittens wird ihm sein Lebenswandel eine Himmelfahrt gewähren. Mit dem zweiten Geschenk ist allerdings eine Bedingung verbunden: Seghelijn darf nicht lügen, sonst muß er dreizehn Tage warten, bevor seine Bitte erfüllt wird. Seghelijn wird einem armen Fischerehepaar anvertraut. Er bekommt einen Ring mit, der später als Erkennungszeichen fungieren wird. Seine Pflegeeltern schicken ihn in die Schule, wo er ihrer Meinung nach jedoch zu viel über das Christentum lernt, weshalb sie ihn mit fünfzehn Jahren ausschulen und zwingen, als Fischerknecht zu arbeiten. Wenn ihn sein Pflegevater mit Körben voll Fisch an Prides’ Hof schickt, schelten ihn die Köche. Braffeleur trifft auf den weinenden Jungen und schenkt ihm etwas Geld, das der Fischer ihm aber nimmt – wodurch Seghelijn zu vermuten beginnt, daß jener nicht sein wirklicher Vater ist. Bei einem weiteren Besuch am Hof kommt es zu einer tätlichen Auseinandersetzung mit den Köchen. Als Seghelijn zu Hause eintrifft, verplappert sich der wütende Pflegevater: Er schimpft den Fünfzehnjährigen ein Findelkind. Die Fischerfrau erklärt ihm, welche Bewandtnis es damit hat, und gibt ihm den Ring zurück. Seghelijn faßt dann den Entschluß, seine Eltern zu suchen, und beim Abschied schenkt ihm der Fischer ein Schwert. Dieses Schwert, Rosebrant genannt, ist für den Fischer nichts als ein rostiges Stück Eisen, doch Seghelijn erkennt sofort seinen besonderen Wert: Es handelt sich nämlich um das Schwert, das einst Mose gehörte und mit dem viel später Simon Petrus dem Knecht Malchus das rechte Ohr abhieb. Seghelijn geht zum Palast, wo die Köche im Hinterhalt liegen. Er verwundet oder tötet sie und ergibt sich dann Prides. Der König schaut ihm in die Augen und spricht ihn von aller Schuld frei. Prides verspricht sogar, Seghelijn 12 Die Drucke lesen hier dertich jaer („dreißig Jahre“).
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zum Ritter zu schlagen, und er organisiert seine Ausbildung. Eng beteiligt daran ist auch Braffeleur, und bald erkennen Mutter und Sohn einander wieder. Mit Seghelijns Ausbildung geht es gut voran: schon bald gewinnt er gegen seine Lehrmeister. Als Prides ihn zum Ritter schlägt und ihn den Rittereid ablegen läßt, kommt es zu einem Konflikt: Seghelijn weigert sich, den Eid auf den Namen Mohammed zu schwören. Im dem Ritterschlag folgenden Turnier hetzt Prides einige Teilnehmer dazu auf, Seghelijn umzubringen. Mit Gottes Hilfe überlebt der junge Ritter das Turnier. Dann greift ihn Prides selbst an, doch Seghelijn weigert sich, gegen ihn zu kämpfen: schließlich ist er sein Vater – was Prides nicht weiß! Es kommt, wieder dank dem zweiten Taufgeschenk, zu einer scheinbaren Versöhnung. Am Hofe sieht der Verräter Robbelijn, wie Seghelijn Braffeleur küßt, und natürlich plaudert er dies aus, worauf Prides sofort neue Mordpläne schmiedet. Doch Gott warnt Seghelijn: Er schickt einen Engel in der Gestalt eines Hirsches, der Seghelijn beauftragt, Jerusalem zu verlassen, weil er sonst seine Eltern töten wird. Äußerst betrübt reitet Seghelijn von dannen und irrt fünfzehn Tage in einem großen Wald herum. Nachdem er mit Hilfe seines wundersamen Rosses Glorifier fünfzehn Schurken besiegt hat, erreicht er eine verlassene Stadt. Ein Zwerg, der sich als Braffeleurs Bruder herausstellt, erzählt ihm von zwei die Gegend terrorisierenden Riesen, Clincker und Clinkaert, König Prides’ Brüdern. Als der Zwerg erfährt, wer Seghelijn ist, sieht er ein, daß eine andere Prophezeiung in Erfüllung gehen wird, denn nur ein ,Kind von Jerusalem‘ kann die Riesen besiegen. Der Zwerg nimmt Seghelijn bei sich auf, und vor dem Essen erscheint eine Reliquienprozession: Die Kinder des Zwergs tragen ein vergoldetes Faß und eine Geißel mit fünf Knoten an der Gesellschaft entlang. Weil Seghelijn der auserwählte Ritter Gottes ist, werden ihm die Reliquien anvertraut. Am nächsten Tag nimmt Seghelijn den Kampf mit den Riesen auf, die er selbstverständlich beide besiegt. Von ihnen erobert er dann noch zwei weitere Passionswerkzeuge: die Dornenkrone und die drei Nägel des Kreuzes. Danach zieht er weiter, um zehn Tage später die belagerte Stadt Oliferne zu erreichen. Der Bote Galopijn berichtet ihm, König Olifier von Oliferne halte in einem Turm sieben Königstöchter gefangen: Ein neidischer Fürst wolle diese Frauen für sich haben und hungere deswegen die Stadt aus. Seghelijn stürzt sich in den Kampf und besiegt die Belagerer. Zur Belohnung gewährt Olifier ihm den Eintritt zum Turm, wo sich die Königstöchter um seine Gunst zanken. Innerhalb einer Woche zeugt Seghelijn mit jeder der Königstöchter einen Sohn. Nach dieser Woche kehrt Seghelijn zum eifersüchtigen Olifier zurück, und an seiner Seite bekämpft er die übrigen Sarazenen. Allerdings bringt ein Engel Seghelijn die Nachricht, er werde wegen der von ihm begangenen Sünde mit den Königstöchtern im Turm seine Unbesiegbarkeit verlieren, für fünfzehn lange Jahre.13
13 NB: Nicht den Zeugungsakt an sich brandmarkt der Engel als Sünde, sondern die Tatsache, daß die sieben Königstöchter nicht getauft sind.
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Olifier verrät Seghelijn dann dem babylonischen Sultan, der ihn in einen Kerker einsperren läßt. Inzwischen haben der Zwerg und seine Söhne den verräterischen König Olifier getötet und die Stadt Oliferne eingenommen. Die sieben schwangeren Königstöchter sind nach Rom geflohen, wo die sieben Jungen zur Welt kommen. Sie wachsen glücklich und in großer Weisheit heran und werden später als ,Die sieben weisen Meister aus Rom‘ bekannt werden. Seghelijn aber schmachtet im Kerker des Sultans – gefangen, doch nicht völlig von Gott verlassen: Jeden Freitag erscheint ihm der Gekreuzigte, der ihm Trost spendet. Nach fünfzehn Jahren erscheint Seghelijn aufs Neue ein Engel, mit der Mitteilung, ihm seien seine Sünden vergeben worden. Ihm fallen die Haare aus, und er wird rehabilitiert. Draußen vor der geöffneten Kerkertür findet er seine Waffen, sein Roß und die Passionswerkzeuge. Der Engel gibt ihm den Auftrag, den Zwerg im belagerten Oliferne zu entsetzen, doch während seines Ausbruchs aus Babylon schlachtet er erst noch 500 schlafende Heiden ab und tötet den Sultan im Zweikampf. Nach einem dreitägigen Ritt erreicht er das Schloß des Riesen Bonacroy, der die Lanze des Longinus in Besitz hat. Mit einer List gelingt es Seghelijn, von ihr Besitz zu ergreifen und den Riesen umzubringen. Er zieht nach Oliferne und entsetzt abermals die Stadt, um sie danach für immer zu verlassen. Im Wald begegnet er dem Boten Beenaley, der im Auftrag des römischen Kaisers Constantijn Hilfe sucht. Rom wird nämlich vom König von Barbarien belagert, der fest entschlossen ist, die Kaisertochter Florette zu entführen. Constantijn hat versprochen, zum Christentum zu konvertieren, wenn es ihm gelänge, die Barbaren zu besiegen. Seghelijn zögert nicht und reitet gen Rom. Dort hat Constantijn in einer Vision gesehen, daß er im Zeichen des Kreuzes siegreich sein wird. Am nächsten Tag beginnen alle Glocken von selbst zu läuten: Seghelijn ist im Anzug mit den Passionswerkzeugen. Es versteht sich von selbst, daß die Belagerer besiegt werden. Die Reliquien werden in der Peterskirche aufgestellt, und am selben Tag noch werden Constantijn, seine Frau Helena und ihre Kinder getauft. Constantijns Tochter Florette hat sich in Seghelijn verliebt und er sich in sie. Constantijn verspricht dem Helden Florette, und die Heirat wird vorbereitet. Am Hochzeitstag erscheinen Seghelijns sieben Söhne im Palast und geben sich zu erkennen. Florette ist äußerst erschrocken, doch Seghelijn beteuert ihr, die Königstöchter hätten ihm nichts bedeutet, eine Lüge, die er noch büßen soll. Als Seghelijn plötzlich wieder fortreiten muß, diesmal um den heidnischen Riesen Claudes zu besiegen, stellt sich während des Kampfes heraus, daß zwei Verräter sein Schwert Rosebrant gegen ein wertloses Stück Rost getauscht haben. Der Kampf droht für Seghelijn traurig auszugehen – die Strafe für seine Lüge Florette gegenüber –, doch voller Reue betet der Held zu Maria, die seine Wunden heilt und ihm den Sieg schenkt. Noch während der Hochzeitsfeier sucht Helena ihren neuen Schwiegersohn auf und schlägt ihm vor, das Kreuz Christi zu holen, um die römische Sammlung der Passionswerkzeuge zu vervollständigen. Gleich fängt Seghelijn mit den Vorbereitungen an. Helena, die sieben Söhne und ein mächtiges Heer werden ihn begleiten. Die mittlerweile schwangere Florette und die sieben
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Königstöchter werden einem Herrn Gaures anvertraut. Dann kündigt der Dichter den dramatischen Höhepunkt der Geschichte an, mit der Mitteilung, nun stünden ihnen schwere Zeiten bevor. Zuerst erzählt er vom Schicksal Florettes und der sieben Königstöchter, derer Kammerjungfern. Gaures, ein übler Verräter, tötet die Königstöchter im Wald, und nur seine Begierde hält ihn davon ab, auch Florette umzubringen. Sie leistet Widerstand und wird von Gaures mit den Haaren an einem Baum festgebunden. Mit knapper Not rettet Herzog Gautier von Loriken die Gefangene, wonach Florettes einsame Irrfahrten ihren Anfang nehmen: Sie wird fast hingerichtet, verliert ihr Neugeborenes, irrt umher und rettet einen Dieb vom Galgen, der sie verraten und einem Lüstling von Seemann verkaufen wird. Dieser schottische Kapitän sticht mit ihr in See und versucht, sich dort an ihr zu vergreifen. Nur ein Schiffbruch kann sie vor dieser Schande hüten, wonach sie auf einem Holzbrett im Meer umhertreibt. Inzwischen belagern Seghelijn und die Seinen die Stadt Ysona unweit Jerusalems, wo sie hoffen, das Kreuz Christi anzutreffen. Auf beiden Seiten gibt es Tote, doch den Christen wird himmlischer Beistand zuteil: Es regnet Nahrung, und eine Engelschar eilt ihnen zu Hilfe. So gelingt es ihnen, die Stadt zu erobern. Der Anführer Ysonas, der Jude Judas, der Sohn des Judas Makkabäus, führt Seghelijn und Helena unter Gewaltandrohung zum Hügel Golgotha. Dort finden sie das Kreuz Christi, wonach der Jude zum Christentum konvertiert. Mit dem Kreuz in ihrem Besitz wollen die Christen jetzt nach Rom zurückkehren. Sie ziehen durch einen Paß, der vom Riesen Gloriclaudes bewacht wird. Dieser verfügt über ein Fläschchen Öl, mit dem der Leichnam Christi einbalsamiert wurde – eine äußerst heilkräftige Reliquie. Seghelijn tötet den Riesen und erwirbt auch diese Reliquie; seine sieben Söhne erschlagen jeden Handlanger Gloriclaudes’. So können sie über den Paß ans Meer ziehen, wo sie sich nach Rom einschiffen. Unterwegs fischen sie – Wunder über Wunder! – Florette aus dem Wasser auf, und nach dieser Wiedervereinigung ziehen sie freudvoll in Rom ein. Die römische Reliquiensammlung zieht viele Kranke auf der Suche nach Heilung an; unter ihnen auch alle Verräter aus der Geschichte, die – insoweit ihnen noch nicht der Garaus gemacht wurde – aussätzig geworden sind. In Rom werden sie geheilt, doch zuvor müssen sie beichten. Das heißt, daß sie, einmal durch die Reliquien geheilt, ihrer Untaten wegen zum Tode verurteilt werden. Die Bestrafung entspricht ihren Verbrechen: Der Verräter Gaures wird wegen der Ermordung der sieben Königstöchter von Seghelijns sieben Söhnen sieben Tage lang gemartert (wobei die Passionswerkzeuge sicherstellen, daß er nicht eher stirbt, als bis jeder Sohn seinen Anteil an den Martern hat vollstrecken können). Als Constantijn und Helena sterben, wird Seghelijn Kaiser, und er ordnet sofort an, daß alle Reisenden aus Jerusalem vor ihn geführt werden sollen. Der alte, kranke König Prides, Seghelijns Vater, hat von den mirakulösen Heilungen in Rom gehört und erwägt, zum Christentum zu konvertieren, falls er in Rom geheilt wird. Zusammen mit Braffeleur macht er sich auf den Weg, und – in Rom angekommen – werden sie vor Florette geführt, da Seghelijn selbst auf der Jagd ist. Als Florette erfährt, wer diese Reisenden sind, nimmt sie sie
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herzlich auf und bietet ihnen sogar das Ehebett an, um sich auszuruhen. Doch davon hat der Verräter Gordes etwas aufgeschnappt: Er reitet zu Seghelijn und zeiht Florette des Ehebruchs. Seghelijn eilt nach Hause und in einem Wutanfall tötet er die vermeintlichen Ehebrecher im Bett. Dann erscheint wiederum ein Engel, der ihm mitteilt, Gottes Gebot – die alte Prophezeiung, Seghelijn würde seine Eltern töten – sei nun erfüllt. Vor Kummer stirbt Florette an Ort und Stelle, Seghelijn dankt ab und zieht sich in den Wald zurück, wo er fünfzehn Jahre in einem Baum sitzt. Als er spürt, daß er bald sterben wird, bestimmt der amtierende Papst Coelestin Seghelijn zu seinem Nachfolger. Seghelijn nimmt den Namen Benedikt I. an. Im hohen Alter verscheidet er in einem Duft von Heiligkeit.
III. Die Grenzen der Ursprünglichkeit: Quellen, Anlehnungen und Anspielungen Der SvJ ist als ursprünglich mittelniederländischer Ritterroman bekannt, womit gemeint ist, daß keine anderssprachige (und dabei dürfen wir in erster Linie ans Altfranzösische denken) Fassung dieses Textes bekannt ist, wovon der SvJ dann eine vollständige Übersetzung oder Bearbeitung wäre. Doch bereits aus der Zusammenfassung dürfte hervorgegangen sein, daß sich der Text auf eine Reihe äußerst verschiedener mittelalterlicher Texte stützt. Zu den Quellen des SvJ gibt es mittlerweile mehrere Forschungsarbeiten, die zu einem überaus vielschichtigen Bild führen. Es wurden hagiographische Quellen verarbeitet (die Heiligenleben des Eustatius, des Julianus, des Judas und des Andreas, die ,Inventio crucis‘, die ,Visio Constantini‘), doch gleichzeitig ist offenkundig, daß auch die profane Ritterepik herangezogen wurde (,Fierabras‘, ,Florence de Rome‘, Gralsdichtung, ,Roman de Berinus‘, ,Ferguut‘, ,Elie de St. Gilles‘, ,Arturs doet‘).14 In diese Aufzählung sind jedoch nur diejenigen Texte aufgenommen, die auf die Erzählstruktur einen rekonstruierbaren Einfluß gehabt haben. Wenn wir weitere kleinere Anlehnungen und Anspielungen hinzufügen, wird das kaleidoskopische Bild noch facettenreicher. Nicht nur biblische Verweise sind erkennbar (u. a. Gen 1,26, Hos, Joh 18,10, Lk 17,11 – 19), sondern 14 Zu den bisher identifizierten Quellen des SvJ siehe Jozef D. Janssens: ,Oorspronkelijkheid‘ en traditionalisme in Seghelijn van Jherusalem, in: Leuvense Bijdragen 67 (1978), S. 23 – 46; Janssens [Anm. 10], S. 112 – 143; Claassens [Anm. 5] und De Bundel [Anm. 10]. Übrigens sei dahingestellt, ob Loy Latewaert jede identifizierte Quelle in der Originalsprache gelesen hat oder aber – soweit dies möglich war – mittelniederländische Übersetzungen benutzt hat.
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auch bernhardinische Einflüsse wie ,De lauda novae militiae‘ und ,De gratia et de libero arbitrio‘. Außerdem ist es sehr plausibel, daß Loy Latewaert die älteren Kreuzfahrtchroniken (u. a. Fulkerts von Chartres ,Historia Hierosolymitana‘) und die spätmittelalterliche (lateinische) Traktatliteratur kannte, in der die religiösen und politischen Aspekte der Kreuzfahrten reflektiert werden (z. B. das ,Directorium ad Philippum regem Franciae‘ des weiter unbekannten Propagandisten Burcard aus dem 14. Jahrhundert).15 Und im Motiv der sieben Söhne wird eine explizite, doch nicht weiter ausgearbeitete Verbindung zu ,Vanden vii vroeden van binnen Rome‘ hergestellt.16 Diese Vorstellung der Anlehnungen und Anspielungen ist nicht erschöpfend, und es kann erwartet werden, daß künftige Forschungsarbeiten noch mehr Quellen und intertextuelle Querverbindungen aufdecken werden, doch unvermeidlich führt auch der heutige Forschungsstand über die von Loy Latewaert für seinen Ritterroman herangezogene ,virtuelle Bibliothek‘ zur Frage, was denn der SvJ wohl für einen Text sei und was Latewaert mit seiner Erzählung habe ausdrücken wollen.
IV. Struktur und Motive – Gattung und Bedeutung Die Basisstruktur des SvJ ist die einer Biographie. Im Prinzip umfaßt sie den gesamten Lebensweg des Protagonisten, einschließlich der Vorgeschichte seiner Empfängnis (Seghelijn ist die Erfüllung eines Kinderwunsches nach dem Versprechen der Konversion) und der Nachgeschichte (daß er als Heiliger stirbt, impliziert die Erwerbung der beata visio pacis im Jenseits). Bereits Vor- und Nachgeschichte verschaffen dieser Lebensgeschichte also einen ausgesprochen religiösen Rahmen, doch die Tatsache, daß die primäre Struktur des Textes biographisch ist, lenkt den Blick auch gleich in die Richtung einer hagiographischen 15 Siehe dazu Geert Claassens: Die Kerstenwet stercken. Kruisvaartideologie en -kritiek in de Seghelijn van Jherusalem, in: Tijdschrift voor Nederlandse Taal- en Letterkunde 107 (1991), S. 235 – 273, und Geert Claassens: Membra disiecta. Excessief geweld in de ridderroman Seghelijn van Jherusalem, in: Elke Brems/An Faems/Eveline Vanfraussen (Hg.): Kabaal! Feest en strijd in de Nederlandse literatuur, Löwen 2004, S. 25 – 55. 16 Dies ist ein klarer Fall von „[l]es fils ont engendré les pères“ (vgl. Jean Frappier: Les Chansons de geste du cycle de Guillaume d’Orange, 2 Bde., Paris 1955, Bd. 1, S. 63) und paßt hervorragend zur mittelalterlichen Tendenz, Zyklen zu bilden, indem erfolgreichen Erzählungen Vorgeschichten hinzugefügt werden.
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Vita. Doch kann man den SvJ als Heiligenleben betrachten? Zu dieser Vermutung gibt der Text in mehr als einem Motiv Anlaß. Seghelijns Geburt enthält Reminiszenzen an die Geburt Christi: Seghelijn kommt in einem Wald zur Welt, während seiner Mutter drei Prophetinnen beistehen, die Seghelijn alle ein beachtliches Taufgeschenk anbieten (V. 210 – 249).17 Besonders das dritte dieser Taufgeschenke ist ein Vorzeichen: Schließlich wird ihm der Zutritt zum Himmel gewährt, womit er a priori heilig gesprochen wird.18 Selbstverständlich bleibt es sehr lange eine offene Frage, wie er diese Heiligsprechung erreichen wird. Ein weiteres Indiz dafür, daß es sich bei der Geschichte um eine Hagiographie handeln könnte, ist, daß Seghelijn als idealer miles Christi dargestellt wird.19 Am prägnantesten kommt dies in der Begebenheit zum Ausdruck, daß er mit einem grünen Kreuz (auf dem der Leib Christi sichtbar ist) auf der Brust und einem goldenen Kreuz zwischen den Schulterblättern geboren wird (V. 252 – 262). Das Roß Glorifier, das Seghelijn auf seinem Lebensweg begleitet, weist mit dem ,ungewöhnlichen Helfer‘ der Viten unverkennbare Übereinstimmungen auf, die sogar so weit gehen, daß es seinen Reiter retten muß, wenn dieser (religiöser!) Fahrlässigkeit wegen in Schwierigkeiten gerät.20 Auch Seghelijns erzwungener fünfzehnjähriger Aufenthalt im Kerker des babylonischen Sultans hat unmißverständlich hagiographische Züge (V. 5442 – 5507, 5754 – 6000). Die Tatsache, daß ihm jeden Freitag eine Vision der heiligen Dreieinigkeit gezeigt wird, aus der er Mut schöpfen kann, ist mit einer Episode aus der Vita des Vinzenz von Saragossa vergleichbar, doch insgesamt kann der Kerkeraufenthalt sehr wohl als Realisation des Motivs des in vielen Viten vorkommenden symbolischen Todes gedeutet werden.21 Und wie ist Seghelijns Ankunft im 17 Daß Seghelijns Existenz mit einer Prophezeiung während der Schwangerschaft der Mutter verknüpft wird, ist ebenfalls als geläufiges hagiographisches Motiv zu betrachten. 18 Nur von den Heiligen wissen wir – laut katholischer Doktrin – mit Sicherheit, daß sie in den Himmel aufgenommen worden sind, bevor das Jüngste Gericht die Guten von den Bösen trennen wird. 19 Vgl. Claassens [Anm. 15], S. 244 – 249. 20 Zu diesem hagiographischen Motiv siehe Alison Godard Elliott: Roads to Paradise. Reading the Lives of the early Saints, Hannover/London 1987, S. 116 – 119, 149. Seghelijns Rettung durch Glorifier wird in V. 5166 – 5186 beschrieben. 21 Vgl. Elliott [Anm. 20], S. 104 – 107. Im Schluß dieser Episode begegnen übrigens Reminiszenzen an die Geschichte Samsons aus dem ,Buch der Richter‘:
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belagerten Rom zu interpretieren, wo die Glocken von selbst zu läuten anfangen, als er sich der Stadt nähert (V. 7349 – 7369)? 22 Läßt sich diese Szene nicht mit Paulus’ Einzug in Antiochia vergleichen (die möglichen Reminiszenzen an den Einzug Christi in Jerusalem noch außer Betracht gelassen)? Nicht hagiographisch im engeren Sinne, sondern durchaus sakral gefärbt ist die Episode, in der Seghelijn während seiner Irrfahrten dem naen (was sich als „Zwerg“ übersetzen läßt) begegnet (V. 3188 – 3378). Dieser stellt sich als ein Onkel mütterlicherseits heraus und nimmt Seghelijn freundlich auf. Als sie zusammen beim Mahl sitzen, erscheinen die fünf Söhne des naen, Seghelijns Neffen. Zwei von ihnen tragen ein vergoldetes Faß, worüber der mittlere eine Geißel mit fünf Knoten hält, an denen je ein Tropfen frischen Blutes hängt. Der Erzähler erklärt, es handele sich um die Geißel, mit der Christus gegeißelt wurde, und den Becher, aus dem Er am Kreuze mit Essig gemischte Galle trank. Die Prozession kommt herein, Seghelijn und der naen knien nieder. Dann fällt ein Tropfen Blut von der Geißel ins Faß, was der naen bemerkt, worauf er erfreut erzählt, dies sei ein Zeichen dafür, daß Seghelijn der beste unter den Rittern sei und dazu auserwählt, Gottes Passion zu gedenken und zu rächen. Seghelijn bittet Gott um Kraft und bietet Ihm wiederum seine Dienste an. Der naen pflichtet ihm bei und fügt hinzu, seine fünf Söhne und die beiden Passionswerkzeuge würden Seghelijn begleiten. Seghelijn dankt seinen Verwandten für ihre Treue und verspricht Gegentreue, wonach man ißt. Die Bezüge zur Gralliteratur sind unverkennbar,23 doch ist hier die Erscheinung des Grals nicht die Ouvertüre einer Suche, welche die irdische Ritterschaft in eine spirituelle Ritterschaft transformieren soll (mit persönlicher und individueller Erlösung als höchstem Ziel, wie zum Beispiel in ,La Queste del Saint Graal‘). Im Gegenteil: In dieser Episode bedeutet die Erscheinung Seghelijns Transformation im hic et nunc zu einem Ritter, der kein persönliches Ziel verfolgt, sondern sich in den Dienst Gottes und Seiner Kirche stellt, was die Deutung, die der naen für den während der Prozession ins Faß gefallenen Tropfen gibt, prägnant verdeutlicht: Seghelijn erhält seine ,alte Gestalt‘ zurück, verliert die Haare und kämpft sich ohne Probleme nach draußen. 22 In V. 7366 – 7369 wird klargemacht, daß die Glocken nicht nur für Seghelijn läuten: Daß er die Passionswerkzeuge bei sich trägt, spielt selbstverständlich eine bedeutende Rolle. 23 Obwohl diese Episode bisher nicht mit einem spezifischen Text aus dem mittelalterlichen Gralkorpus verbunden werden konnte.
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Dats een teken dat ghi soudt dencken Om Gods passie, ende soudt wreken, Beide doot slaen ende steken Goeds vianden daer ghi moeght, Ende daerbi soude sijn verhoecht Die passie ontfinc voer die werelt wijt; Want ghire toe vercoren sijt. (3356 – 3362) (Das ist ein Zeichen dafür, daß du Gottes Leiden gedenken und rächen sollst, indem du Gottes Feinde tötest, wo du nur kannst. Und das wird Ihm, der für die ganze Welt die Passion empfing, eine Freude sein; denn du bist dazu auserwählt.)
Dem naen zufolge freut sich Christus des vergossenen Blutes Seiner Feinde, und Seghelijn ist das Instrument, durch das die Passion an allen Widersachern des Glaubens gerächt werden kann – womit wir uns sehr weit vom Streben nach Erlösung durch Anschauung des Mysteriums des Grals entfernt haben. Ein letztes auf die sakrale Literatur hindeutendes Erzählelement ist die ausführliche Bestrafung des Verräters Gaures (V. 11491 – 11767).24 Als Seghelijn und die Seinen aus dem Heiligen Land zurückgekehrt und alle Passionswerkzeuge in der Peterskirche versammelt sind, strömen auf der Suche nach Heilung aus nah und fern Kranke herbei – so auch alle Schurken der Geschichte. Nachdem sie ihre Sünden gebeichtet haben, finden sie die gesuchte Heilung, der jedoch eine angemessene Strafe folgt.25 Der größte Schurke, Gaures, der die sieben Mütter von Seghelijns sieben Söhnen ermordet hat, ist der einzige, der nicht alle seine Sünden beichtet, und ihm wird die härteste Strafe auferlegt. Seghelijn übergibt Gaures seinen sieben Söhnen (die zu dieser Zeit als penetanciere – poenitentiari – den kranken Papst vertreten). Sie werden Gaures zur Vergeltung der sieben ermordeten Königstöchter sieben Tode sterben lassen. Der älteste schlägt vor, jeder einen Teil von Gaures’ Körper zu wählen, den sie dann martern können, jeder einen ganzen Tag lang. Die anderen stimmen zu und treffen ihre Wahl. Der erste fängt an, die rechte Hand und den rechten Arm zu martern. Der zweite denkt eine Nacht lang darüber nach, wie er die vollzogenen Peinigungen an der linken Hand und dem linken Arm überbieten kann. Der dritte läßt alle 24 Diese Episode habe ich in dem Aufsatz ,Membra disiecta‘ [Anm. 15] ausführlich analysiert. 25 Womit klar gemacht wird, daß das Leben auf Erden dem Leben im Jenseits absolut untergeordnet ist – dieses ist dem bestraften Schurken auf jeden Fall nicht a priori verschlossen.
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Zehen des rechten Fußes einzeln abhauen, um danach das Bein selbst an zehn Stellen durchhauen zu lassen. Der vierte häutet das linke Bein und bearbeitet es mit siedendem Schwefel und Blei. Als Gaures um einen gnädigen Tod fleht, haut er ihm alle Zehen ab und zerhackt das Bein in vier Stücke. Jeden Tag wird Gaures mit einem der Passionswerkzeuge – dem heiligen Balsam – geheilt, um seine Martern verlängern zu können. Am fünften Tage stürzt sich der fünfte Sohn auf Gaures’ rechten Schenkel, den er bis auf den Knochen kahl hackt, mit siedendem Blei und Schwefel bearbeitet und dann in vier Stücke zersägt. Wiederum wird Gaures mit dem Balsam geheilt. Der sechste bearbeitet den linken Schenkel mit glühenden Eisen und geschmolzenem Blei, und als Gaures um Gnade fleht, sagt er, daran hätte er früher denken müssen. Am siebten Tage ist der jüngste Sohn an der Reihe: Er haspelt Gaures’ Gedärme heraus, legt ihn auf eine Streckbank, häutet ihn und schmiert ihn mit Honig ein. Dann versengt er ihm noch die Augen, bevor Gaures, den Fliegen und Bienen zum Fraß, schließlich außerhalb der Stadt an ein Rad befestigt wird – er stirbt einen Tod, der jedes Verräters würdig ist. So hätten die sieben Geschwister den Tod ihrer Mutter gerächt, beschließt der Erzähler diese Episode: Es sei der grausamste Tod, von dem er in allen von ihm gelesenen Büchern je gehört habe. Die Vollstreckung der Gerechtigkeit an Gaures gewinnt hier eine stark religiöse Dimension: nicht nur, weil der Martertod von kirchlichen Amtsträgern vollzogen wird – Seghelijns sieben Söhne stehen ja im Dienst der Kirche –, sondern auch, weil die Martern mit Hilfe eines Passionswerkzeugs, des Balsams, verlängert werden. Die caritas wird hier von der göttlichen iustitia als einer von höchster Instanz sanktionierten, grausamen Gerechtigkeit begleitet. Die Struktur der Episode bestätigt dies, denn darin läßt sich leicht eine Variation zur Wochenmeditation über die Leiden Christi erkennen. Zum Beispiel in Arnulfs von Löwen ,Ave mundi salutare‘ wird der Passion Christi in einem Liederzyklus gedacht, in dem jedes Lied eine von Seinen Wunden ins Gedächtnis zurückruft.26 Arnulfs ursprünglichen Zyklus von fünf Liedern kennen wir auch in siebenteiliger Form, in dem für jeden Tag der Woche die 26 Siehe zu diesem Gebet Franz Josef Worstbrock: Arnulf von Löwen, in: 2 Verfasserlexikon 1 (1978), Sp. 500 – 502. Im Mittelalter wurde dieser Text oft Bernhard von Clairvaux zugeschrieben, doch der eigentliche Verfasser war Arnulf von Löwen († 1250), ein jüngerer Ordensgenosse von Bernhard. Der lateinische Text ist in der Patrologia Latina, Bd. 184, Sp. 1319 – 1324, gedruckt (dort auch die Fehlzuschreibung an Bernhard).
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Begrüßung eines Körperteils Christi vorgesehen ist.27 Daß die Marterepisode einer vergleichbaren Wochenmeditation über die Leiden Christi nachgebildet ist, bedeutet nicht, daß es sich hier um eine Parodie oder Pervertierung handeln würde: Die Spiegelung ist funktional in dem Sinne, daß sie aufs Eindringlichste die absolute Komplementarität von caritas und iustitia anzeigt. Neben diesen hagiographischen und sakralen Indizien gibt es allerdings auch andere: Das Bild des ,heiligen‘ Seghelijn wird von bestimmten Erzählmomenten, die eher in die Richtung eines Ritterromans deuten, einigermaßen verzerrt. Ich nenne als Beispiel die Szene, in der Seghelijn seinem Vater gegenüber den Rittereid ablegt. Dieser Eid weicht einerseits von dem, was wir aus der höfischen Ritterliteratur kennen, nicht ab, wurzelt aber andererseits auch deutlich außerhalb dieser Literatur (V. 1620 – 1639).28 Daß Seghelijn erklärt, den Eid niemals im Namen Mohammeds schwören zu wollen, sondern nur im Namen des Herrn, charakterisiert ihn als guten Christen, doch im übrigen und an erster Stelle bekommt er den Ritterschlag nach dem üblichen Ritual. Daß er gleich darauf für eine gute Verpflegung des Fischerehepaars, seiner Pflegeeltern (V. 1679 – 1719), sorgt, können wir als Äußerung höfischer largesse deuten, auch wenn diese sich stärker am fünften Gebot des Dekalogs – ,Ehre deinen Vater und deine Mutter‘ – 27 Ich beziehe mich auf die in Luc Indestege: Een Diets gebedenboek uit het begin der zestiende eeuw herkomstig uit het voormalig klooster Sint-Hieronymusdal te Sint-Truiden, Gent 1961, S. 70 – 76, gedruckte mittelniederländische Fassung, die ebenfalls eine Zuschreibung an Bernhard enthält. Das Konzept eines Gebets oder einer Meditation, das oder die mit den Tagen der Woche verknüpft werden, findet sich übrigens nicht nur im ,Ave mundi salutare‘: Stracke nennt eine ,Wochen-Übung über das Herz Christi‘; vgl. D. A. Stracke: Een devote week-oefening tot het H. Hart van Jesus, in: Ons Geestelijk Erf 12 (1938), S. 187 – 208. Ein weiteres sprechendes Beispiel begegnet in der Vita von Lidwina der Dulderin, die während ihres nahezu endlosen Krankenlagers die Leidensgeschichte Christi über die sieben Tage der Woche verteilt (vgl. Ludo Jongen/Cees Schotel: Het leven van Liedewij, de maagd van Schiedam, Schiedam 1989, S. 38 – 39). Oosterman deutet auf ähnliche Konstruktionen in ,Den berch van Calvarien‘ und der ,Gheestelicke melodie‘ hin, zwei Texten jüngeren Datums: Johan Oosterman: Ik breng u de mei. Meigebruiken, meitakken en meibomen in Middelnederlandse meiliederen, in: Barbara Baert/Veerle Fraeters (Hg.): Aan de vruchten kent men de boom. De boom in tekst en beeld in de middeleeuwse Nederlanden, Löwen 2001, S. 167 – 189, hier S. 177 – 178. 28 Vgl. Johanna Maria Van Winter: Ridderschap. Ideaal en werkelijkheid, Haarlem 1982, S. 23 – 80, insbes. S. 40 – 64.
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zu orientieren scheint, als daß sie darauf abzielte, die Bande innerhalb der eigenen Peergroup enger zu knüpfen. Doch der Einfluß der höfischen Literatur zeigt sich vielleicht am deutlichsten in Seghelijns Umgang mit Frauen und mit der Liebe, ein in gespiegelter Form in den Text eingeflochtenes Motiv, auf das ich etwas ausführlicher eingehe, weil gerade daraus deutlich zu werden vermag, wie leicht Loy Latewaert sich zwischen dem Sakralen und dem Profanen bewegt – oder besser: mit welcher Leichtigkeit und Dichte er beide Ebenen miteinander zu verweben weiß. Die eine Seite dieses gespiegelten Motivs bildet die Episode mit den sieben Königstöchtern (V. 4658 – 5312). Als Seghelijn das belagerte Oliferne entsetzt, erteilt der regierende König Olifiere ihm die Erlaubnis, den ,Harem‘ zu betreten, in dem sich – neben einer nicht näher genannten Zahl anderer Frauen – sieben Königstöchter aufhalten. Die Königstöchter streiten sich um Seghelijns Gunst, und dieser kann einem Handgemenge nur zuvorkommen, indem er verspricht, mit jeder von ihnen eine Nacht zu verbringen.29 Als Seghelijn nach sieben Tagen (und Nächten) den Turm wieder verläßt, hat er – notabene bider Goeds cracht („durch Gottes Kraft“) (V. 4832) – mit jeder Frau einen Sohn gezeugt und hat jede Frau ihm ein Minnepfand geschenkt. Olifiere fragt ihn, was im Turm geschehen sei, worauf Seghelijn antwortet, es sei nur etwas geküßt worden: eine Lüge, die das zweite Taufgeschenk gefährdet.30 Am nächsten Morgen machen sie einen Ausfall. Seghelijn ist mit den Minnepfändern behängt, und im Turm streiten sich die Frauen darüber, welches Minnepfand das wichtigste ist: Dieser Disput wird mit aus der höfischen Symbolik schöpfenden Argumenten geführt.31 Auf dem Schlachtfeld beschuldigt der Anführer der Belagerer, König Odorijn, seinen Gegner der Unbeständigkeit in der Liebe, und es kommt zum Kampf. Als Seghelijn Odorijn besiegt und ihm den Kopf abschlägt, meint er, die sieben Frauen für sich zu haben, weil sein 29 Dieser Zwist zwischen den sieben Königstöchtern wird schon in V. 4554 – 4649 vorbereitet, wo erzählt wird, wie sich die ,Damen‘, als sie Seghelijn von den Zinnen des Schlosses nahen sehen, fast darum prügeln, wer auf seine Minnegunst am meisten Anspruch erheben kann. 30 Ich erinnere daran, daß, wenn Seghelijn lügt, seine Gabe, wonach niemand ihm eine Bitte verweigern kann, für dreizehn Tage aufgehoben wird (vgl. V. 235 – 242). 31 V. 4918 – 5026, worin sich die Königstöchter darum zanken, was sie aus den jeweiligen Stellen an Seghelijns Rüstung, an denen ihre Minnepfänder angeheftet sind, folgern zu dürfen meinen.
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Nebenbuhler aus dem Wege geräumt sei. Bei dem Versuch, Olifiere aus bedrängter Lage zu retten, gerät er jedoch selbst in Gefahr. Die Minnepfänder werden von seiner Rüstung abgeschlagen, und Seghelijn überlebt den Angriff nur durch die Hilfe seines wunderbaren Rosses Glorifier und dank seiner Templerrüstung.32 Auf dem Schlachtfeld bringt ein Engel ihm die Nachricht, sein Minnespiel mit den Frauen sei eine törichte und sündige Tat gewesen: Ihm werde auf göttliches Geheiß eine fünfzehnjährige Bußübung verordnet. Seine Rückkehr zu den Königstöchtern ist denn auch alles andere als feierlich. Was ist geschehen? Die goede ridder heeft besuert / Alle die minne van eertrike („Der gute Ritter hat alle Minne der Welt bereuen müssen“) (V. 5170 – 5171). Seinen Anteil am höfischen Minnespiel wird Seghelijn teuer bezahlen, doch die Frage ist, ob es sich hier tatsächlich um ,höfische‘ Liebe handelt. Das Benehmen der sieben Frauen ist bar jeder Besonnenheit, jeder Selbstbeherrschung oder jeden Anstands. Redegewandt sind sie bisweilen schon, doch immer mit eindeutig selbstsüchtigen Motiven. Von Rücksicht auf die Gefühle anderer ist hier kaum die Rede. Und auch Seghelijns Einsatz kann schwerlich ,höfisch‘ genannt werden. Mag er den Belagerten mit Essen und seinem tatkräftigen Auftreten zu Hilfe gekommen sein: Seine Ausschweifungen im Turm nach der Schlacht lassen sich nur zu gut mit dem Benehmen eines kleinen Jungen vergleichen, der sich unbeaufsichtigt in einem Süßwarengeschäft austoben darf. Zwar ist der Passus mit Symbolen aus dem höfischen Liebesdiskurs gespickt, doch zugleich ist klar, daß diese auf groteske Weise parodiert werden. Dabei kulminiert diese Parodie in Seghelijns Gang zum Schlachtfeld, mit den Minnepfändern der sieben Königstöchter behängt. Weder diese Damen noch Seghelijn sind höfisch, deshalb muß die Geschichte wohl übel ausgehen. Von echter höfischer Liebe hat Seghelijn noch keinen blassen Dunst, als er in Oliferne sein amouröses Abenteuer erlebt. Was die Liebe anbetrifft, ist er tatsächlich noch ein unbeschriebenes Blatt. Die einzige Form der Liebe, die er bis dahin kennengelernt hat, ist die vom Dichter als ,natürlich‘, aufrichtig und unbefleckt dargestellte Mutter32 Im Nachspiel des Turniers anläßlich seines Ritterschlags bekommt Seghelijn eine neue Rüstung, die ihm ein Engel in der Gestalt eines Hirschs zuweist. Diese Rüstung trägt zur Darstellung Seghelijns als miles Christi bei; die Rüstung wird als die traditionelle Tracht der Templer beschrieben; vgl. V. 2484 – 2561. Siehe dazu Claassens [Anm. 15], S. 246 – 247.
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liebe.33 Der Haremsturm ist Seghelijns ,Schule der Liebe‘, und er muß sein Lehrgeld bezahlen. Daß dabei die Hand Gottes mit im Spiel ist, dürfte klar sein. Seghelijn zeugt seine Söhne – die späteren Sieben weisen Meister aus Rom – mit Gottes Hilfe. Nach seinem Sündenfall bestraft Gott ihn, doch während er fünfzehn Jahre in sarazenischer Kerkerhaft büßt, steht Er ihm bei, so daß er, nachdem er diese Strafe verbüßt hat, wieder zu Kräften kommt und seine Abenteuer weiterführen kann. Wenn er danach erneut mit der Liebe konfrontiert wird, geht er damit deutlich anders um. Wir überspringen ungefähr 2000 Verse, und Seghelijn darf wieder einmal eine belagerte Stadt entsetzen, diesmal Rom. Auf der Suche nach Hilfe informiert ein Knappe Seghelijn, ein König von Barbarien wolle nicht nur das Land, sondern auch Florette, die Tochter des römischen Kaisers Constantijn, erobern. Seghelijn fragt, ob Florette „die Minne schon ertrage“, worauf der Knappe erwidert, sie sei von Geburt an einem bestimmten Seghelijn von Jherusalem vorbestimmt. Und dieser stammelt dann nur noch Ay scone joncfrouwe Florette / Hoe gherne soude ic u sien („Ach, schönes Edelfräulein Florette, wie gerne sähe ich Sie“) (V. 6942 – 6943). Der Ton ist ein ganz anderer als in der vorigen Episode, wo Seghelijn Olifieres Knappen erwidert, zuerst sei Ysaude an der Reihe, Ende daernaer den anderen sesse / Sallic leeren die selve lesse („Und danach werde ich den anderen sechs dieselbe Lektion geben“) (V. 4337 – 4338). In diesem neuen Ton wird Seghelijns und Florettes Liebesgeschichte sich von nun an weiter entfalten. Als Seghelijn nach seiner Ankunft in Rom im kaiserlichen Palast Florette begegnet, weist die Prinzessin alle Anzeichen der Verliebtheit auf: Daer mochtmen aen haer manieren Wel verstaen, dat sine minde. Want die scone, die wel ghesinde, Wart al root alse een bloet, Daer si voer den ridder stoet Ende daerna wart si vale, Ende haer ghebrac haer tale. (7388 – 7394) (Dann konnte man aus ihrem Benehmen wohl schließen, daß sie ihn liebte. Denn die Schöne, die gut Gesinnte, errötete, als sie vor dem Ritter stand, und danach erblaßte sie und konnte kein Wort mehr herausbringen.)
33 Vgl. V. 1298 – 1303, aber auch V. 2428 – 2443, wo Seghelijn doch wenigstens einige theoretische Kenntnisse der Liebe aufweist.
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Alle Symptome der ovidischen Liebespathologie sind vorhanden. Völlig nach höfischer Vorschrift wird sie in ein Zimmer getragen, wo sie getrost in Ohnmacht fallen kann. Wieder zu sich gekommen, äußert sie eine Minneklage: Sie sei von einem Liebespfeil verwundet worden und fürchte, vor Liebe sterben zu müssen. Sie beschließt ihren Seufzer mit Hi die dit beteren mach, / Is hovesch ende vroet van wese („Wer darin für Linderung sorgen kann, dessen Art ist höfisch und weise“) (V. 7428 – 7429). Florette kennt die Spielregeln und nimmt an, Seghelijn auch. Als sie ihm wieder begegnet, nach einem Festmahl zu Ehren seiner Ankunft, führt sie ihn durch den Palast: Si sprac te hem met soeter tale, / Also gherechte minres plien („Sie sprach zu ihm mit süßen Worten, wie es wahre Geliebte zu tun pflegen“) (V. 7548 – 7549). Noch einmal fällt Florette in Seghelijns Schoß in Ohnmacht, was dieser allerdings nicht ausnutzt – er folgert nur: Dat ghi mi mint al sonder quaet; / Soe help mi God, soe doe ic u („Daß Sie mich lieben, ganz ohne Böses im Sinne; und so liebe ich Sie, so helfe mir Gott“) (V. 7558 – 7559). Ein paar Küsse werden getauscht, was nicht unbemerkt bleibt: Der Verräter Gallijn, der sich ebenfalls Florette in den Kopf gesetzt hat, berichtet Constantijn davon,34 doch als dieser bei Seghelijn und Florette eintrifft, glaubt er, sich entschuldigen zu müssen: Nu sijt op mi niet gram Dat ic hier quam ende u benam Uwe sprake van minnen goet. Verwallet es mi al mijn bloet Van Galline, den verrader, Die seide dat ghi beidegader Hadt gheleghen in dorpernien; Des was ic op hem wel nien. Ic wist wel dat loeghen was. (7611 – 7619) (Nun seien Sie mir nicht gram, daß ich Sie in Ihrem Gespräch über die wahre Liebe gestört habe. Mir kocht das Blut wegen des Verräters Gallijn, der gesagt hat, Sie hätten in Unhöflichkeit zusammengelegen; darüber war ich ihm sehr böse. Ich wußte schon, daß es eine Lüge war.)
Constantijn versichert Seghelijn, er wisse, daß seine Tochter bei ihm in guten Händen sei, und verspreche ihm an Ort und Stelle ihre Hand. 34 Hier wird ein früherer Passus gespiegelt: Als Seghelijn und seine Mutter einander wiedererkennen und dabei harmlose Küsse tauschen, bemerkt auch dies ein Verräter, der es gleich König Prides weitererzählt (V. 2312 – 2452). Während diese Szene Seghelijns Aufbruch in die Welt bedeutet, können wir den oben angeführten Passus als Seghelijns ,Heimkehr‘ interpretieren.
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Nicht lange danach heiraten die beiden. Seghelijns Benehmen in dieser Szene kann durchaus höfisch genannt werden. Er beherrscht sich, bleibt anständig, reagiert besonnen, mit Gespür für das Wohlbefinden der anderen. Unser Dichter erklärt nicht, wo Seghelijn dies gelernt hat, doch in der kurzen Episode, in der Seghelijn auf Freiersfüßen wandelt, ist sein Benehmen dem anderen Geschlecht gegenüber sicherlich höfisch. Nach seinen sieben ,One-Night-Stands‘ in Olifieres Harem begegnet er letztendlich seiner wahren Liebe, die er auf dem Weg zum Altar sittsam umwirbt. In diesem Lichte können die beiden Episoden als einander spiegelbildlich gegenübergestellt betrachtet werden. In der ersten wird gezeigt, was sich nicht ziemt, in der zweiten, wie man es wohl machen sollte. Der Gegensatz wird jedoch durch die religiöse Aufladung noch verstärkt: Im ersten Flügel des Diptychons ist sie ostentativ vorhanden, während sie im zweiten nicht fortgeführt wird – Loy Latewaert weist die höfische Liebe einer rein religiösen caritas zugunsten nicht zurück. Jozef Janssens möchte in dieser Spiegelung eine Ablehnung der höfischen Liebe erblicken, doch kann ich seiner Schlußfolgerung, der SvJ sei als „ein antihöfischer religiöser Ritterroman“ zu betrachten, „der fälschlich zu den höfischen Abenteuer- oder Liebesromanen gerechnet wird“,35 nicht zustimmen. Daß der SvJ eine beachtliche religiöse Aufladung aufweist, scheint mir klar, und ich kann auch Janssens’ Ablehnung des Etiketts eines ,höfischen Abenteuer- und Liebesromans‘ akzeptieren. ,Antihöfisch‘ würde ich den Text allerdings auf keinen Fall nennen: Latewaerts Anliegen scheint vor allem darin zu bestehen, die Exzesse höfischer Rituale zu kritisieren, doch liegt darin – wie aus Seghelijns höfischem Werbungsverhalten um Florette hervorgeht – noch keine grundsätzliche Ablehnung des höfischen Wertekodex. Der SvJ scheint sich also in erster Linie als ,biographischer Roman‘ zu präsentieren, der Elemente aus hagiographischen Quellen problemlos mit Erzählstoffen aus dem profanen Bereich kombiniert. Doch damit noch nicht genug: Die strenge Linearität der biographischen Konstruktion wird von einem vollständig Florette, Seghelijns gesetzlicher Ehefrau, gewidmeten Erzählstrang unterbrochen (V. 8764 – 9966, 11162 – 11277). Den Erzählstrang um Florette kann man nicht als dürftiges Divertimento abtun: Er nimmt ungefähr 1300 Verse ein, mehr als ein Zehntel der gesamten Geschichte. In dieser – insbesondere der 35 Vgl. Janssens [Anm. 10], S 162: „een anti-hoofse religieuze ridderroman, die ten onrechte bij de hoofse avonturen- of liefdesromans wordt gecatalogiseerd“.
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,Florence de Rome‘ entlehnten, doch mit einer markanten Entlehnung aus ,Arturs doet‘ versehenen36 – Abzweigung in der Erzählstruktur erlebt Florette eine Reihe von Abenteuern, die sowohl darauf aus sind, sie ganz konkret in Berührung mit der Gerichtsbarkeit zu bringen, als auch darauf, sie (und mit ihr das Publikum) im allgemeinen mit Recht und Gerechtigkeit zu konfrontieren. Das Ergebnis dieses Exkurses ist, und darin pflichte ich De Bundel bei,37 daß Gerechtigkeit im Diesseits etwas äußerst Problematisches ist, was an der nicht gegen Irrtümer gefeiten menschlichen Rechtsprechung dargestellt wird. Daraus können wir schließen, daß Loy Latewaert die höchste Priorität nicht einer glatten, linearen Erzählstruktur einräumte, sondern daß er seine Geschichte in erster Linie als ein Vehikel für seine Ideen und Überzeugungen betrachtete.
Schlußbetrachtung Wer den Text nun selbst in die Hand nimmt, wird sofort feststellen, daß meine Darstellung von Anlehnungen, Anspielungen und Motiven alles andere als vollständig ist (eine solche forderte eine starke Monographie), doch die Frage, die ich jetzt stellen möchte, ist folgende: Ist es möglich, alle Fäden im Bedeutungsgeflecht dieses Textes miteinander in Einklang zu bringen? In der Vergangenheit habe ich selbst versucht, aus einem spezifischen Motiv heraus – den sieben Fragen des Seghelijn von Jherusalem – einen Schlüssel für die Interpretation des Gesamttextes zu konstruieren.38 Dieses Motiv taucht im SvJ zweimal auf, das erste Mal ungefähr in der Mitte der Geschichte, wenn Seghelijn vom Schlachtfeld vor der Stadt Oliferne heimkehrt. Er hat soeben von einem Engel vernehmen müssen, daß er wegen der Schwängerung der sieben ungetauften Königstöchter bestraft werden soll. Der Engel hat ihn auch beauftragt, jedem seiner Söhne einen Brief zu schreiben, welchen sie erst lesen dürfen, wenn sie weise genug geworden sind.39 Im ersten Brief schreibt er, sein Sohn solle ihn nicht suchen, bevor er die Weisheit erlangt habe 36 Siehe dazu De Bundel [Anm. 10], passim. 37 Siehe ebd., S. 144. 38 Siehe Geert Claassens: Dat en is sonder reden niet. Over de zeven vragen van Seghelijn van Jherusalem, in: Spiegel der Letteren 40 (1998), S. 25 – 54. 39 Der Passus, in dem der Inhalt der sieben Briefe erörtert wird, findet sich in V. 5347 – 5382.
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und wisse, wo Gott das größte Wunder an der kleinsten Stelle gewirkt habe. Im zweiten Brief fragt er nach dem Abstand zwischen Himmel und Erde. Im dritten nach dem höchsten Punkt in der Welt. Im vierten, warum Gott aus Liebe für den Menschen, nicht jedoch für die gefallenen Engel gestorben sei. Im sechsten, warum Gott den einen Menschen arm, den anderen aber reich geschaffen habe, obwohl doch alle Menschen Gottes Kinder seien. Im siebten, ob Gott allmächtig sei. Das zweite Mal, daß diese Fragen behandelt werden, ist während Seghelijns und Florettes Heirat in Rom (V. 7864 – 7974).40 Die sieben Söhne sind inzwischen erwachsen, tauchen wieder im Leben ihres Vaters auf – und haben die nötige Weisheit erlangt, um die Fragen zu beantworten. Sehr augenfällig ist die für diesen Passus gewählte, abweichende Reimform, die ihn vom Gesamttext abhebt: Anstatt des üblichen Paarreims werden Fragen und Antworten hier im Kreuzreim formuliert.41 Wenn wir die Antworten der Söhne als den Interpretationsschlüssel betrachten dürfen, den Latewaert seinem Publikum anbietet, nachdem bereits drei Viertel der Geschichte erzählt worden sind, dann handelt es sich im SvJ vor allem um die göttliche Allmacht, welche die Schöpfung lenkt, und um den Menschen, dem darin eine besondere Stellung zukommt. Diese sollte man nicht als eine rein passive verstehen: Unterstellt wird, daß der Mensch aktiv ein Gleichgewicht zwischen göttlicher Allmacht und Schicksal einerseits und dem Anteil des menschlichen freien Willens andererseits sucht.42 Die Konsequenz dieses Interpretationsschlüssels ist aber, daß die interne Kohärenz des Textes nicht auf der Ebene der horizontalen Kausalität der Erzählstruktur zu 40 Diese Fragen und Antworten sind an und für sich bereits exemplarisch für Latewaerts sehr eklektische Quellenverwendung. Es begegnen Anlehnungen an und Anspielungen auf u. a. Gen 1,26 – 27, Lk 12,5 und Mt 19,24, doch allem Anschein nach hat Latewaert die Idee des Fragenkatalogs der Andreaslegende, wie wir sie aus der ,Legenda aurea‘ kennen, entnommen (siehe Claassens [Anm. 38], S. 45 – 47). 41 Daß diesem Passus aufgrund seiner abweichenden Reimform ein besonderer Charakter zukommt, wird auch dadurch belegt, daß gerade er als Exzerpt in die Handschrift Brüssel, Königliche Bibliothek, II 116, fol. 2v–5r aufgenommen ist; siehe dazu Claassens [Anm. 38], S. 26 f. 42 Deswegen kann ich Janssens’ Vorschlag, den Text als Schicksalsroman zu charakterisieren, nicht beipflichten ( Janssens [Anm. 10], S. 165 – 169). Übereinstimmungen mit einem Text wie z. B. Hartmanns von Aue ,Gregorius‘ fallen ins Auge, doch bin ich der Überzeugung, daß es dem SvJ nicht gerecht wird, wenn die Rolle des Schicksals als wichtigste Interpretationsperspektive angenommen wird.
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suchen ist, sondern eher auf der Bedeutungsebene: Was trägt jedes Erzählelement zum Ausdruck der zentralen Bedeutung bei? Man kann sich allerdings auch fragen, ob eine solche zentrale ,Bedeutung‘ nicht so unscharf formuliert ist, daß sie für die Interpretation des Textes an Überzeugungskraft einbüßen muß. Und damit stießen wir an die Grenzen der Interpretabilität. Vieles wird aus dieser Perspektive heraus verständlich, doch im Roman tauchen unaufhörlich neue interpretatorische Horizonte auf. Ich frage mich, ob wir dem Dichter nicht zu viel Planmäßigkeit unterstellen, wenn wir in der narrativen Vielseitigkeit mit Gewalt eine bedeutungsvolle Einheit erblicken möchten. Ist das Gattungschaos im ,Seghelijn van Jherusalem‘ beabsichtigt, und sollten wir den Text als durchgearbeiteten Ideenroman betrachten? Oder haben wir das Produkt einer ungezügelten ,Lust am Fabulieren‘ vor uns? Ist dieser Text das Resultat durchdachter poetologischer Überlegungen oder aber genau des Fehlens solcher? Und angenommen, wir könnten diese letzte Frage beantworten: Welches Gesamturteil ginge dann mit dieser Antwort einher? Ist es ein ,guter‘ Roman, weil ein solides poetologisches Fundament vorhanden ist, oder ein ,schlechter‘, weil ein solches fehlt? Ich möchte diese Frage hier nicht beantworten – jeder Leser des ,Seghelijn‘ sollte für sich selbst eine Antwort formulieren. In diesem Zusammenhang möchte ich aber noch auf die auffällige Diskrepanz zwischen der schwachen Anerkennung des Textes in den Literaturgeschichten der letzten 150 Jahre und seiner ungewöhnlichen Überlieferung hinweisen. Die Literaturhistoriker haben den Roman fast einhellig abgelehnt,43 doch sind von diesem mehr Textzeugen überliefert als von den ,geheiligten‘ Kronjuwelen der mittelniederländischen Literatur wie dem ,Roman van Walewein‘, der ,Ferguut‘ oder der ,Beatrijs‘. Während wir – wie die Zielsetzungen unserer akademischen Disziplin es uns vorgeben – uns fragen (und damit nicht fertig werden), was für ein Text der ,Seghelijn‘ nun eigentlich ist und wie er seinerzeit verstanden wurde, hat das mittelalterliche Publikum den Text offenbar einfach nur genossen.
43 Eine Blütenlese aus diesen Urteilen bietet Van de Wijer [Anm. 8], S. 273 – 275.
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Rust’avelis ,Held im Pantherfell‘ aus europäisch-mediävistischer Sicht Helmut Birkhan Einem Mediävisten, der gewohnt ist, seine literaturwissenschaftlichen Kategorien aus der europäischen Literatur abzuleiten, bietet Sˇot’a Rust’avelis ,Vep’hist qaosani‘, „Der Pantherfell trägt“,1 eine Fülle interessanter Aspekte, vor allem auch deshalb, weil Rust’avelis Werk in die magische Zeit „um 1200“ fallen dürfte2 und damit ziemlich genau auf einer Zeitstufe mit der ,Blütezeit‘ der französischen und deutschen Literatur der Stauferzeit steht. 1
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Selbst des Georgischen nicht mächtig, lege ich für den Text des ,Helden im Pantherfell‘ zugrunde: Shota Rustaveli: The Man in the Panther’s Skin, transl. from the Georgian by Marjory Wardrop (Oriental Translation Fund N. S. 21) 1912 (Nachdruck mit Vorwort von Donald Rayfield, Richmond 2001), zitiert als: Wardrop (2001). Die Zahlenangabe bezieht sich auf die Strophennummer. Das Hauptwerk der mittelalterlichen, wenn nicht überhaupt der georgischen Literatur schlechthin steht so hoch im Kurs, daß es jungen Hochzeitspaaren als obligates Hochzeitsgeschenk überreicht wird und es viele Georgier zumindest abschnittsweise auswendig kennen. Das hat dazu geführt, daß im Laufe der Zeit Strophen hinzugedichtet wurden und das Werk daher heute in seinem Umfang schwankt: Neben der von mir verwendeten Übersetzung Wardrop (2001) mit 1576 Strophen bringt es die in Tiflis 1986 erschienene englische HexameterÜbersetzung von Venera Urushadze auf 1587 Strophen. Das Werk scheint im Westen zuerst in Frankreich und Deutschland bekannt geworden zu sein; Chota Roustaveli: Le preux à la peau de tigre. Texte français d’Élisabeth Orbeliani/Solomon Iordanichvili, Tbilissi 1977, S. 8 – 10. Es gibt auch mindestens vier deutsche Übersetzungen, die Ulrich Müller nennt: Lado Mirianashvili/ Felix Müller u. a.: Schota Rustveli ,Der Ritter im Tigerfell‘: Das georgische höfische Epos des hohen Mittelalters, in: Fata Libellorum. FS für Franzjosef Pensel zum 70. Geburtstag (GAG 648), Göppingen 1999 = http://www. fmueller.net/rustaveli_de.html (5. 9. 2008). Dort auch weitere Details zur Ausgabe des georgischen Grundtextes. Allerdings liegt manchen der Übertragungen nicht das georgische Original, sondern die russische Übersetzung zu Grunde. Soweit ich sehe, erfreut sich das Werk Wardrops allgemeiner Anerkennung. Dazu die Ausführungen von Lado Mirianashvili, in: http://www.fmueller.net/ rustaveli_de.html (5. 9. 2008).
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In Frankreich gab es damals seit etwa zwei Dezennien die Werke des Chrestien de Troyes, sein unvollendet gebliebener ,Perceval‘ wurde gerade von den ersten beiden Fortsetzern und Manessier fortgeführt, der gewaltige ,Prosa-Lancelot‘ war im Entstehen, Thomas von Britannien hatte seinen Tristanroman abgeschlossen und in der Gattung der Chansons de geste waren eben ,Fierebrac‘ (,Fierrabras‘) und Jean Bodels ,La Chanson des Saxons‘ entstanden. In der deutschen Literatur konnte man Henrics van Veldeke ,Eneide‘ und die Werke Hartmanns von Aue lesen, Wolfram von Eschenbach arbeitete am ,Parzival‘, Gottfried von Straßburg am ,Tristan‘ und in Passau entstanden gerade die letzten Fassungen der Nibelungendichtung. In der Provence, in Frankreich und Deutschland blühte der Minnesang. In das Jahr 1203 fällt das einzige urkundliche Lebenszeugnis Walthers von der Vogelweide. In England konnte man sich durch Layamons seltsame Stabreimdichtung ,Brut‘ in die britannische Vorzeit versenken. In Dänemark verfaßte Saxo Grammaticus seine ,Gesta Danorum‘ und in Island sollte Snorri Sturluson bald an die Abfassung der ,Snorra Edda‘ gehen. In Irland war gerade die letzte Fassung des ,Lebor Gabála Érenn‘, des irischen ,Landnahmebuches‘, entstanden und die Aufzeichnungen der Balladen von ,Finn mac Umail‘, die später als Balladen Ossians wiederaufgegriffen werden sollten, hatten begonnen. Neben all diesen Werken, so verschiedenartig sie sein mögen, nimmt sich die Dichtung Rust’avelis seltsam genug aus. Immerhin gleich den französischen und deutschen Romanen ist der ,Held im Pantherfell‘ ein Paradebeispiel höchst verfeinerter Ritterkultur mit ihren adeligen Werten des Frauendienstes, die mit dem Herrendienst in Konflikt treten können (153), mit der immer wieder betonten largesse und dem Zentralereignis des höfischen Festes mit Jagd und Spiel.3 3
Schon C. M. Bowra: Heroic Poetry, London/Bombay u. a. 1952, S. 546, erkannte, daß das Werk Rust’avelis kein Heldenepos ist, wenn er sagte: „Whatever heroic poetry the Georgians had before him, ceased with him and was replaced by a new art of romance which in most essential qualities resembles that of mediaeval France. … ,The Knight in the Tiger’s Skin‘ is not a heroic poem; for its heroic doings are related less from a direct delight in human prowess than from the tribute which they pay to the inspiring influence of love. The parallel with French romance is indeed so close that we might almost conclude that the transition from heroic poetry to romance is a natural change, which comes when feudal society has ceased to believe in its old standards and turns for inspiration to something more courtly and more complicated.“ Im Folgenden vergleicht Bowra Rust’avelis Dichtung mit dem ,Nibelungenlied‘, dem er eine ähnliche Übergangsposition vom Epos zum Roman zuschreibt.
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Schwierig genug ist es schon, die Gattung zu bestimmen. Wenn wir von Schillers Unterscheidung von „naiver“ und „sentimentalischer Dichtung“ ausgehen, so besteht kein Zweifel, daß der ,Held im Pantherfell‘ in die Gruppe der sentimentalischen Epopöen gehört. Rust’avelis Werk ist aber nicht nur sentimentalisch sondern auch sentimental.4 Die Übersetzerin Marjory Wardrop hat, dem Sprachgebrauch ihrer Zeit folgend, das Werk „a romantic epic“ genannt. Das Wort drängt sich auf, wenn Awt’andil an Stelle der fernen Geliebten eine Rose küßt und mit ihr spricht (1305) und wenn er in Tränen sein Liebesleid singt, scheint selbst die Stimme der Nachtigall eulengleich, die Tiere des Feldes kommen, um zu lauschen, und aus dem Wasser steigen die Steine empor, um bewundernd zuzuhören und mitzuweinen (947). In diesem Werk ist alles differenzierte, feinsinnige Empfindung, das eigentliche heroische Handlungsgeschehen, meist im Sinne kriegerischer Aktionen,5 ist erstaunlich kurz zusammengefaßt. Ausgedehnte Schlachtschilderungen, wie sie die Chanson de geste so liebt, aber auch spektakuläre Tjosten, wie wir sie aus dem Artusroman kennen, sind dem Werk fremd. Die breitausgeführte Welt der Gefühle ist aber bei aller zarten Differenziertheit weniger individualistisch als etwa bei Chrestien, Thomas, Wolfram oder Gottfried, sie bedient sich im Gegensatz zum europäischen Roman auch nicht der Allegorie, wie es etwa durch die Tradition der Psychomachie zu erwarten wäre. Die Gefühlswelt der Helden zeigt auch in ihren extremsten Ausbrüchen eine Art genormter Künstlichkeit, ja ich möchte sogar von einer ,Ritualisierung‘ der 4
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Als beliebiges Beispiel zitiere ich Awt’andil (900 f.): „Oh meine eigene Geliebte! Wie kann ich ohne dich leben? Ohne dich ist mein Leben armselig. Wer kann dir sagen, wie ich leide oder wie schmerzlich mich das Feuer brennt? Wie kann denn die Rose [die Geliebte T’inat’in] denken: ,wenn die Sonne von hinnen geht, werde ich nicht welken‘? Ach, was wird nur unser Los sein, wenn die Sonne hinter dem Hügel verschwindet? Herz, es ist besser für dich, daß du dich verhärtest und selbst ganz und gar zu Stein wirst. Vielleicht könnte es Dir zuteil werden, daß du sie siehst! Ach, verlier doch nicht völlig den Verstand!“ Diese können mitunter bei aller Kürze recht grausam sein. An einer merkwürdigen Stelle heißt es von den Feinden P’ridons (601): „… mit Steinen brachen wir ihre Knochen, ihre Haut gerbten wir zu Leder“. Dazu bemerkt Wardrop (2001) [Anm. 1], S. 95, Anm. 7: „an obscure passage“. Soll man an Präparation der Haut als Trophäe denken, ähnlich wie Herodot (IV, 63 ff.) von den Skythen berichtet, daß sie aus der Kopfhaut der Feinde „Fingertücher“ gemacht hätten? Könnte dieser Brauch bei den Nachfahren der Skythen, den Osseten, in Georgien weitergelebt haben?
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Empfindungen und ihrer äußeren Manifestationen sprechen. Diese sind in erster Linie die Tränen – mir ist noch kein Werk untergekommen, in dem so viel (und noch im allerletzten Satz) geweint wird6 – und das Zerkratzen der Wangen.7 Es gehört zur Ritualisierung der Klage, daß ihre „Eleganz“ betont wird (z. B. 822, 984, 1312, 1318). Wenn Lessing im ,Laokoon‘ behauptete, daß der barbarische Held wie in den nordischen Traditionen, aber auch bei den Trojanern nicht weinen dürfe, weil er sonst als Krieger versage – weshalb Priamos das Klagen ausdrücklich verbiete –, während der Hellene trotz aller Tränen als Held kämpfen könne, so müßte man Rust’avelis Helden jedenfalls den achäischen an die Seite stellen. Wegen der Ritualisierung der Emotionen wird es dem Leser nicht leicht fallen, eine Art Psychogramm der männlichen Haupthelden zu 6
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Nach meiner kursorischen ,Tränenstatistik‘ ist in 16 % der 1583 Strophen, d. h. in jeder 6. Strophe, vom Weinen die Rede! Aber auch zwischen jenen Strophenblöcken, in denen in epischem Bericht vom Weinen erzählt wird, strömen dem Helden oder der Heldin Tränen aus den Augen, ohne daß ich diese Stellen hier mitgezählt hätte. Die Tränen sind oft mit Blut gemischt, da sich die Protagonisten vor Schmerz die Wangen aufreißen oder überhaupt blutige Tränen weinen. Die Leser werden zum Mitweinen eingeladen (922). Die treue Asmat’ weint mit ihren Tränen Rinnen in die Felsen (896). Die Tränen rinnen wie Wasser von einem überkochenden Kessel (1550). Die Tiere der Wildnis finden ihren Wasserbedarf an den vergossenen Tränen der beiden Helden (933). Gelegentlich gibt es auch etwas schiefe Bilder, wenn von dem weinenden Tariel gesagt wird (954): „… die Narzissen seiner Augen donnern, es regnet Tränen, die den Kristall und das Glas seines Antlitzes baden.“ Es gehört zur weitestgehenden Stilisierung, daß das fast ständige Weinen der Schönheit der Hauptpersonen keinen Abbruch tut, und es klingt seltsam, wenn der ständig weinende Awt’andil erklärt (843), weinen führe zu nichts, besser sei es, über geeignete Taten nachzudenken. Später (855) belehrt Awt’andil Tariel: „Ein Mann muß mannhaft sein, es ist besser, daß er so wenig wie möglich weint. Im Kummer sollte man sich wie eine Steinmauer verhärten.“ Auch in der mittelalterlichen deutschen Literatur gibt es Werke, in denen viel geweint wird: im ,Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach (vgl. Lydia Miklautsch: Waz touc helden sçlh geschrei? Tränen als Gesten der Trauer in Wolframs ,Willehalm‘, in: Zeitschrift für Germanistik NF 2 [2000], S. 245 – 257), im ,Wilhelm von Orlens‘ und im ,Guoten Gêrhart‘ des Rudolf von Ems, im ,Engelhard‘ des Konrad von Würzburg, aber keines dieser Werke erreicht nur annähernd die ,Weinfrequenz‘ des ,Helden im Pantherfell‘; zur Gebärde des Leides s. Hannes Stubbe: Formen der Trauer. Eine kulturanthropologische Untersuchung, Berlin 1983. Die eigentlichen Helden sind noch jugendlich und bartlos. Bärtige raufen sich dann vor Schmerz den Bart aus und bei Awt’andils zweiter Abreise kommt es am „arabischen“ Hof gar zu einem „Massen-Bartriß“ (802, 806, 809).
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entwerfen. Zwar scheint Awt’andil auf den ersten Blick weltverwurzelter und weniger exaltiert als Tariel, aber der Eindruck täuscht wohl, da die existentiellen Anforderungen an Tariel durch den Verlust der Geliebten ungleich stärker sind als jene, die Awt’andil treffen, was dieser übrigens (1449 f.) selbst ausspricht. Diesen Mangel an individualisierenden Momenten beobachten wir auch an den Heldinnen, lediglich die Matrone P’atman weist eine stärkere individuelle Charakterzeichnung auf. Diese Figur könnte Gefahr laufen, zum Typus der lächerlichen, ,geilen Alten‘ verzerrt zu werden, doch entzieht sich Rust’aveli auf bravoureuse Weise dieser Gefahr, und so wird die enttäuschte alternde Ehefrau zu einem nicht nur individuellen, sondern sogar rührenden Charakter. Die relative Handlungsarmut und die exaltierte, überaus reich entfaltete, wenn auch ritualisierte Gefühlswelt könnten eher dazu verführen, den ,Helden im Pantherfell‘ als Roman anzusehen denn als Epos. Der mittelalterliche Roman unterscheidet sich vom modernen ohnehin dadurch, daß seine Figuren nicht immer durchindividualisiert sein müssen, sondern oft in Typenhaftigkeit verbleiben können, so daß das Wesen des Romans am ehesten durch seine Fiktionalität8 bestimmbar ist. Dem steht aber die Tatsache entgegen, daß zumindest am Beginn des 20. Jahrhunderts angeblich Teile des Werkes oder Handlungsepisoden in Gebirgsgegenden in balladenartiger Form gesungen worden sein sollen,9 und für Zugehörigkeit zum Epos spricht auch die weitgehende Formelhaftigkeit der Sprache, vor allem – wie erwähnt – bei der Darstellung der Gefühle. Der Dichter spricht (1574) selbst davon, daß er sein Poem zur „Harfe Davids“ singe und die vierzeilige Strophenform ˇsairi, deren durch Zäsur gegliederte Langzeilen ganz von Ferne an die Nibelungenstrophe erinnert, jedoch silbenzählend (16 Silben) und nach dem 8
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,Fiktional‘ ist seit der Antike auch das verisimile der historischen Darstellung. Dagegen ist die Fiktionalität des höfischen Romans dadurch gekennzeichnet, daß sie eben nicht ,wahrscheinlich‘ ist, wohl aber den gesellschaftlichen Normen des Höfischen untersteht. Wardrop (2001) [Anm. 1], S. XII. Aus Wardrops Formulierung läßt sich nicht entnehmen, ob einzelne Abschnitte von Rust’avelis Werk gesungen wurden oder nur der S t o f f in sangbarer Form kursierte. Die Germanisten der Universität Tiflis, mit denen ich die Frage besprechen konnte, wissen nichts Konkretes über solch gesungene Versionen, halten sie aber für entlegene Landesteile im swanischen Gebiet für möglich.
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„Goldenen Schnitt“ gebaut ist,10 legt auch die Realisierung durch heldenepischen Gesang nahe, selbst wenn einmal die Leser als solche angeredet werden (933).11 Das ist für den mitteleuropäischen Mediävisten sehr erstaunlich, denn die ihm geläufige Heldenepik hat in ihrem narrativen Duktus, der im Großen und Ganzen doch eher geradlinig und direkt verläuft, wenig Ähnlichkeit mit diesem Werk, das über große Strecken hinweg bis zu dreifach ineinander verschachtelte direkte Reden enthält12 und in dem einander die Hauptpersonen ständig Briefe schreiben, wogegen es in unserer Heldenepik fast eine Auszeichnung des Helden ist, illiterat zu sein. Gunther schreibt der Brünhilt nach Isenstein keinen Brief, und auch Etzel wirbt um Kriemhild durch Boten, nicht etwa durch eine Epistel! Anders als unsere Heldenepik wendet sich Rust’avelis Werk an eine weitgehend literate Gesellschaft, in welcher der häufige Briefwechsel zwischen den Hauptpersonen glaubhaft erscheinen kann. Dennoch: Das Vorsingen ineinander verschachtelter Reden und von Briefinhalten scheint uns heldenepisch wenig attraktiv, setzt jedenfalls einen hohen Grad von Stilisierungswillen voraus. Wenn man an der deutschen mündlichen Epik (oder was man dafür hält) gelegentlich konstatiert, es handle sich vielleicht um durchaus buchliterarische Dichtungen, die sich nur des Stilmerkmals gesprochener, bzw. gesungener Rede bedienen, so liegt hier der Fall anscheinend umgekehrt: Der Inhalt ist seinem Stil nach so buchliterarisch, daß es schwer vorstellbar ist, daß er jemals nach heldenepischer Art gesungen worden sei. Wahrscheinlich gab es vor Rust’aveli den Stoff schon in kürzeren balladenartigen gesungenen Texten als Vorstufe, aus der dann der Mesheche den ,Helden im Pantherfell‘ in der uns bekannten Form nach einer sangbaren Strophe auch unter Verwendung 10 Dazu s. Mirianashvili, in: http://www.fmueller.net/rustaveli_de.html (5. 9. 2008). Dort findet sich in Anm. 15 der Hinweis, daß der Georgier Konstantine Tschitschinadze (1891 – 1960) seiner Übersetzung des ,Nibelungenliedes‘ eben jene Strophe ˇsairi zugrundelegte, offenbar weil die Inhaltsstruktur sich bequem in den quantitativ etwa gleich großen metrischen Einheiten gestalten läßt. 11 In 1349 wird ein Maler aufgefordert, die zwei schmucken Schwurbrüder abzukonterfeien. 12 Z. B. in 1211 – 1213 erzählt P’atman dem Awt’andil, wie sie aus der Erzählung eines Sklaven belauscht habe, was der Sklavenhauptmann Roshak gesagt habe. Vgl. dazu den byzantinischen Roman ,Lybistos und Rhodamne‘, in dem sich ähnlich eingebettete Reden finden; Hans-Georg Beck: Geschichte der byzantinischen Volksliteratur, München 1971, S. 123. Solche verschachtelte Reden kommen allerdings auch in ,Tausendundeiner Nacht‘ vor und wurden vielleicht beim Vortrag durch verstellte Stimme zum Ausdruck gebracht.
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geläufiger Vorbilder für Klage- und Preisdichtung13 schuf. Formal bietet vielleicht das mittelhochdeutsche ,Titurel‘-Epos die beste Parallele: auch dieses ist in sangbarer Strophe (samt Melodie!) überliefert, aber in der umfangreichen Fortführung des ,Jüngeren Titurel‘ wohl nicht gesungen worden und trotz seiner Form eher der Romanliteratur zuzurechnen. Dem ,Helden im Pantherfell‘ fehlen jedenfalls im Gegensatz zu vielen europäischen Epen die als typisch geltenden Vorausdeutungen fast völlig. Wenn es ein wesentliches Merkmal der Heldenepik ist, daß ihr ein historischer Kern zugrundeliegt, der in irgendeiner Weise mythisiert erscheint, so wäre hier nach der Historizität der Ereignisse zu fragen. Ich fühle mich nicht berufen, diese Frage, die tief in die georgische, iranische und vielleicht auch indische Geschichte hineinreicht, zu beantworten. Daß das Vorbild von Ferdousis ,Schachnameh‘, dessen Held Rostem gleich Tariel ein Pantherfell trägt, nicht gering bewertet werden darf, deutet Rust’aveli an, indem er sein Epos eine „persische Geschichte“ nennt (16). Weil ja die Handlung für sich schon ein bestimmtes erzählerisches ,pattern‘ bildet, muß die historische Grundlage natürlich nicht unbedingt den Ereignissen, die Rust’aveli schildert, entsprochen haben. Wichtig wären die Übereinstimmung von Namen und ein auch noch so punktuelles Detail, das die Keimzelle der Sage, die dem Epos zugrundeliegt, bilden konnte. Der Inhalt der in sich verschachtelten Handlung gehört im Grunde genommen dem Typus der Brautwerbungsgeschichte an, die nach dem Schema „Gewinn, Verlust und Wiedererringung der Braut“ verläuft (Nr. Aarne-Thompson 400 „The Man on a Quest for his Lost Wife, bzw. Stith-Thompson H 1381.3.2 „Quest for bride“ und H 1385.3 „Quest for vanished wife [mistress]“). Dabei sind beide Brautwerberfabeln kunstvoll ineinander verflochten: In der Rahmenhandlung gewinnt Awt’andil die Geliebte T’inat’in, indem er die Brautwerbergeschichte Tariels aufspürt. In der Binnenhandlung hat Tariel die indische Prinzessin Nestan-Daredzˇan 13 Dazu Wardrop (2001) [Anm. 1], S. 158, Anm. 6. Einzelne kleine Unstimmigkeiten könnte man vielleicht als Nahtstellen interpretieren, so die Merkwürdigkeit, daß Tariel ab 1384 plötzlich mehrfach Taria genannt wird wie sonst früher nur einmal (334); wichtiger aber scheint mir, daß der „König des Meeresreiches“ (mit Hauptstadt Gulansharo) nach der Rückgewinnung Nestan-Daredzˇans so eingeführt wird (1404 – 1410), als sähe er die Schöne zum ersten Mal, während er sie doch selbst früher für seinen Sohn aus dem Haus der P’atman entführt hat (1149 – 1166).
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zumindest ihrem Willen nach errungen, indem er das Volk der Cathay (Chinesen?) besiegte. Er verliert letztlich aus eigener Schuld – er unterläßt die Werbung beim Brautvater P’arsadan – und aus politischer Raison14 – P’arsadan strebt eine indisch-iranische Union an – die Geliebte, die in die Hände von Zauberern gerät. So verzehrt sich Tariel in Einöden und Wüsteneien in einer Art tränenreicher Dauertrance. Zurück zum Rahmen! Das alles hat Awt’andil in dreijährigen Recherchen in Erfahrung gebracht und könnte nun T’inat’in heimführen, doch siegt in ihm die freundesethische und mit einem Schwur (650 – 653) besiegelte Verpflichtung (643 f.), Tariel bei der Erringung NestanDaredzˇans zu unterstützen, was ihn in die Ferne treibt und seiner Geliebten sowie dem Brautvater Rostevan entfremdet. Man könnte dies dem Brautverlust im geläufigen Schema strukturell an die Seite stellen.15 Indem nun Awt’andil in der Binnenhandlung Tariel zu seiner Braut verhilft, gewinnt er in der Rahmenhandlung seine eigene Braut wieder. In beiden Fällen ist die Erringung der Braut auch mit Erringung von Herrschaft verbunden. Beide Helden gehen vom Hof des Brautvaters (in „Arabien“ bzw. Indien) aus, kommen nach Erfüllung einer Aufgabe (Erforschung der Umstände Tariels bzw. Krieg gegen Cathay) wieder an den Hof, brechen wieder zur Rückholung (Tariel) bzw. endgültigen Gewinnung der Braut (Awt’andil durch Unterstützung Tariels) auf und kehren zuletzt wieder an den Ausgangshof zurück, wobei für Awt’andil diese Rückkehr auch die eigentliche Gewinnung der Braut bedeutet. Dadurch ergibt sich etwas, das sich von Ferne mit dem „doppelten Kursus“16 und der queste im Artusroman vergleichen läßt und in der deutschen Literatur einigermaßen zur Handlung der sogenannten ,Spielmannsepen‘ vom Typus des ,König Rother‘17 stimmt. Wenn wir den ,plot‘ des ,Helden im Pantherfell‘ in dieser Weise schematisieren, liegt für die Rückgewinnung der Braut die archetypische Vorstellung der Rückholung der Seele aus der Anderen Welt18 14 Der Gedanke wird später wieder aufgegriffen (1283). 15 Freilich wäre das Schema besser erfüllt, wenn z. B. T’inat’in in Awt’andils Abwesenheit entführt worden wäre. 16 Dazu Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, 1985 (Darmstadt 21992), S. 93 – 100. 17 Vgl. Haug [Anm. 16], S. 80 – 83. 18 Die Vorstellung von der Anderen Welt als paradiesischer Lustort mit höchstem Reichtum und der Eigenheit, die Menschen zu verjüngen, begegnet uns schon in der „Blumenstadt“ Gulansharo (1043 f.), wo die Episode mit Frau P’atman, der Helferfigur, spielt. Eine weitere Version der Anderen Welt finden wir in
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(dem Totenreich) nahe. Daß Kadjethi, der Aufenthaltsort der entführten Nestan-Daredzˇan, als Andere Welt im Sinne der Volkserzählung vorgestellt ist, geht schon aus der Unzugänglichkeit des ferne im Meer liegenden Burgberges (vgl. den „Glasberg“ in den Märchen) und aus dem dämonischen Charakter der Bewacher hervor (1220 – 1226, 1277). Daß hier sehr alte Vorstellungen vorliegen, zeigt der kuriose Plan P’ridons, als akrobatischer Seiltänzer Nestan-Daredzˇan zu befreien (1370 f.), der letztlich wohl auf der Vorstellung von der schmalen Jenseitsbrücke beruht, die wir als Brücke Cinvat aus der altiranischen Mythologie kennen.19 Die enge Jenseitsbrücke ist auch dem Abendland vor allem aus Jenseitsvisionen wohlvertraut20 und hat in der irischen Heldenepik eine gute Entsprechung in der Sage ,Tochmarc Emire‘, in der der Held CúChulainn auf der Brautwerbung als Seiltänzer (wie P’ridon!) einen schauerlichen Abgrund überwindet.21 Das sind freilich unabhängig voneinander entstandene Spontanparallelen einer weitverbreiteten (,archetypischen‘) Vorstellung des schwierigen Zugangs zur Anderen Welt, die vielleicht letztlich schamanische Wurzeln hat, die hier jedoch nicht zu Tage treten. Im ,Helden im Pantherfell‘ klingt die Jenseitsbrücke nur als ,blindes Motiv‘ an, um von Awt’andil durch einen Gegenvorschlag verworfen zu werden (1372 f.). Auf dem Weg in die Andere Welt findet sich die Helfergestalt der Frau P’atman, welche die Heldin vor ihrem Mann in ähnlicher Weise verstecken muß (1128 – 1130) wie es in den Märchen die Menschenfresserfrau vor ihrem kannibalischen Gatten tut. Neben diesem Handlungsmuster von der Rückholung der Braut aus der Anderen Welt steht interferierend das der Trennung der Liebenden, wie es der spätantike Roman, etwa die ,Aithiopica‘ des Heliodor, ,Daphnis und Chloë‘ von Longos oder die anonyme Geschichte des ,Apollonius von Tyrus‘22 (alles Werke des 3. Jahrhunderts n. Chr.) ge-
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der Höhle, die Tariel den devis abgekämpft hat und die hinter 40 (!) Türen 40 Schatzkammern enthält (1340 – 1346). Dort finden sich auch in guter Märchenmanier wunderbare Rüstungen für die drei Helden. Weniger wahrscheinlich ist die Beeinflussung durch ,Vı¯s und Ra¯mı¯n‘, wo die in einer unzugänglichen Burg eingeschlossene Vı¯s von ihrem Geliebten auf halsbrecherische Weise aufgesucht wird, indem er an aneinandergeknoteten Tüchern emporklettert. Peter Dinzelbacher: Mittelalterliche Visionenliteratur, Darmstadt 1989. Rudolf Thurneysen: Die irische Helden- und Königssage bis zum siebzehnten Jahrhundert I, Halle (Saale) 1921, S. 391 f. So wurde z. B. die Inzest-Rätselfrage des Antiochus aus dem ,Apolloniusroman‘ in einem nicht weiter datierbaren Graffito aus byzantinischer Zeit in Pergamon
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staltet. Diese Werke haben in Byzanz weitergelebt23 und könnten so die Folie bilden, vor deren Hintergrund dann Rust’aveli sein Werk schrieb. entdeckt; Carl Werner Müller: Der Romanheld als Rätsellöser in der Historia Apollonii Regis Tyri, in: Würzburger Jbb. f. d. Altertumswissenschaft, NF 17 (1991), S. 272, Anm. 26. 23 Erwin Rohde: Der griechische Roman und seine Vorläufer, Leipzig 31914 (ND 1960). Dazu die byzantinischen Romane ,Rhodanthe und Dosikles‘ von Theodoros Prodromos, ,Aristandros und Kallithea‘ von Konstantinos Manasse, ,Hysmine und Hysminias‘ von Eustathios Makrembolites und ,Drosilla und Charikles‘ von Niketas Eugenianos, die alle vor der Mitte des 12. Jh.s entstanden sind; Herbert Hunger: Die hochsprachliche profane Literatur der Byzantiner II, München 1978, S. 119 – 142. Otto Mazal: Der Roman des Konstantinos Manasses. Überlieferung, Rekonstruktion, Textausgabe der Fragmente (Wiener byzantinische Studien IV), Wien 1967, S. 77 – 85, gibt eine Übersicht über die Handlungen der Romane des Prodromos, des Makrembolites und des Eugenianos und rekonstruiert die Handlung des großteils verlorenen Romans des Manasses. Sie steht der des georgischen Werkes ferne, verrät aber doch da und dort Übereinstimmungen der Mentalität, so wenn die beruhigende Wirkung der Erzählung fremden Leides betont wird oder gemeinsame Beziehungen aus gleichem Leid hergeleitet werden (S. 19). Doch sind dies letztlich Allerweltsaussagen, die auf der Basis der Empfindsamkeit überall zu erwarten sind. Hunger stellt 12 Merkmale dieser Romane heraus, die sie aus dem antiken Roman übernommen haben: (1) Trennung und Wiedervereinigung der Liebenden, die einander oft nicht wiedererkennen. (2) Gefahren und Abenteuer bedrohen das Liebespaar. (3) Die Treue der Liebenden wird durch fremde Liebesanträge auf die Probe gestellt. (4) Weite Reisen mit Schiffbruch etc. (5) Liebe auf den ersten Blick. (6) Orakelsprüche und Träume führen die Liebespaare zusammen. (7) Die Eltern holen die Kinder heim. (8) Die Liebenden sind durch Mord, Folterungen und andere Grausamkeiten bedroht. (9) Der Gott Eros als Tyrannos hat alles verschuldet. (10) Tyche als allgegenwärtige, mißgünstige Lebensmacht. (11) Sensibilität und psychophysische Schwäche der Helden (Ohnmachten). (12) Betonte Bewahrung sexueller Unberührtheit. Nur wenige dieser Merkmale sind in Rust’avelis Werk vorhanden und auch hier nur in der Tariel-Handlung: (1) – (2)? – (4)? – (10) – (11). Mehr Übereinstimmungen struktureller Art hat die volkssprachliche Erzählung ,Lybistos und Rhodamne‘ ()v¶cgsir Kib¼stou), die jedoch erst aus dem 14. Jh. stammt. Hier ist das Freundschaftsmotiv eine wichtige Übereinstimmung: Kleitobos trifft auf einsamer Straße einen jungen Helden (Libystos) klagend und weinend in tiefstem Leid. Er wurde gemäß einer Weissagung von seiner Gemahlin Rhodamne getrennt. Kleitobos und Libystos bilden einen Freundschaftsbund. Sie gewinnen Rhodamne zurück; Beck [Anm. 12], S. 122 – 124; übers.: Vincenzo Rotolo: Libistro e Rodamne. Romanzo cavalleresco bizantino, Athen 1965. Für dieses Werk, sowie die nahe verwandte Erzählung von ,Belthandros und Chrysantza‘ (s. Anm. 25) nimmt man
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Doch sind beide Alternativen wohl nicht unversöhnlich, da man ja auch für den spätantiken Roman die Herkunft aus Mythos und Kult, nämlich aus den Mysterienreligionen,24 erwogen hat. Die Brauterringungsfabel ist wohl der Kern der Geschichte, der mit dem Freundschaftsmotiv verbunden wurde. Auch in den ,Aithiopica‘ dient Knemon dem Theagenes, um die Geliebte Charikleia wiederzufinden. Allerdings möchte ich wegen der Symmetrie der Handlung vermuten, daß es sich ursprünglich nur um zwei Freunde handelte, denn nur Awt’andil und Tariel finden am Ende eine Gemahlin. P’ridon geht leer aus. Freilich wäre auch ein Schluß vorstellbar, nach dem der dritte Freund die getreue Asmat’25 (zu ihrem Ruhm vgl. 877 – 880) erhielte, wird sie doch mit einem Siebentel Indiens begabt (1560) und ist so durchaus eine beachtliche Partie. Mich jedenfalls hat es bei der ersten Lektüre sehr erstaunt, daß die Gefährtin Nestan-Daredzˇans für ihr jahrelanges Ausharren in unwirtlichen Felshöhlen mit dem verwirrten Tariel nicht durch die Vermählung mit dem König von Mulghazanzar belohnt wird, aber offenbar war sie doch nicht genug Standesperson, um eine gleichwertige Partnerin zu sein. Sie mit P’ridon zu vermählen hätte ein ungleiches Element in das Ganze gebracht und es an den Komödienschluß angenähert, in welchem dem ,ernsten Paar‘ ein ,heiteres Paar‘ auf Bedientenebene zur Seite steht (wie etwa in der ,Zauberflöte‘). Obwohl P’ridon als König eines relativ kleinen Gebietes (583) es mit Tariel, dem König von Indien, und Awt’andil, dem Prinzgemahl der Königin von „Arabia“, nicht aufnehmen kann, sollte doch seine Ebenbürtigkeit (u. a. durch einen eigenen „Thron“ am Hof Awt’andils; 1557) herausgestellt werden, weshalb auch Tariel und abendländischen („fränkischen“) Einfluß nach 1204, der Einnahme Konstantinopels durch die „Franken“, an. 24 Karl Kerényi: Die griechisch-orientalische Romanliteratur in religionsgeschichtlicher Beleuchtung, Tübingen 1927; Reinhold Merkelbach: Roman und Mysterium in der Antike, München/Berlin 1962. 25 Als getreue Helferin der Liebenden hat sie in Phaidrokaza in der Di¶cgsir 1na¸qetor Bekh²mdqou toO Uyla¸ou („Außergewöhnliche Geschichte von Belthandros dem Byzantiner“, meist ,Belthandros und Chrysantza‘ genannt) eine funktionale Entsprechung. Um den Verdacht, Belthandros habe mit der antiochenischen Prinzessin Chrysantza ein Verhältnis, zu zerstreuen, gibt sich deren Vertraute Phaidrokaza dazu her, mit dem Helden eine Scheinehe einzugehen. Man hat in diesem Zusammenhang Einfluß der Brangänengestalt in den Tristantraditionen angenommen; für mich nicht ganz überzeugend. Jedenfalls kämen solche nach 1204 mögliche westeuropäische Einflüsse (vgl. auch ,Lybistos und Rhodamne‘) für Rust’avelis Werk wohl zu spät.
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Nestan gerade an seinem Hof vermählt werden und nicht etwa, wie es naheliegender gewesen wäre, in Indien. Wie schon mehrfach festgestellt wurde, bildet die Freundschaft das Hauptthema des Werkes. So sagt Awt’andil, als er T’inat’in eröffnet, daß er Tariel bei der Wiedergewinnung der Braut unterstützen und sie dazu verlassen werde (685, vgl. auch 750): „Ein Freund sollte für seinen Freund keine Mühe scheuen, er sollte Herz zu Herzen setzen, die Liebe als Weg und Brücke. Dann sollte der Kummer des geliebten [Freundes] ihm auch das große Leid um des Liebenden willen sein. Sieh nur: ohne ihn bedeutet mir Freude nichts und ich kümmere mich nicht darum.“ Darauf erwidert die verständnisvolle Geliebte (688): „Du tust gut daran, den Eid, den du geleistet hast, nicht zu brechen. Es ist nötig, der bezwingenden Liebe zum Freund nachzugeben, auf seine Heilung zu sinnen … Doch sage mir: was soll ich Unglückliche tun, wenn mir die Sonne meines Himmels verborgen ist?“ Für den mitteleuropäischen Leser zumal des 20. und 21. Jahrhunderts erweckt diese Freundschaft sehr stark den Eindruck von Homoerotik (z. B. 814 – 816, 988, 1027, 1116, 1311 f., 1411, 1508), dem Orientalen, der an viel intimere Kontakte gleichgeschlechtiger Personen, vor allem von Männern untereinander, gewöhnt ist, wird sich das anders darstellen. In diesem Sinn ist uns auch der homoerotische Freundschaftskult der Goethezeit ganz fremd. Auch in der europäischen Literatur des Mittelalters ist es durchaus geläufig, daß sich Freunde an den Händen fassen und Hand in Hand gehen, aber intimere Kontakte, wie sie unter den Freunden in unserem Epos gang und gäbe sind, Brust an Brust, Nacken an Nacken und Wange an Wange zu pressen und einander innig zu küssen (z. B. 276), sind eher ungewöhnlich. Ich verwende den Begriff ,Homoerotik‘ hier wertneutral. Entscheidend ist nur, was jeweils als noch im Rahmen der Norm liegend empfunden wird, und hier liegt die Reizschwelle gewiß höher als im europäischen Mittelalter und dort wieder höher als im 20. und 21. Jahrhundert im deutschen Sprachgebiet. Dem hohen Maß an Homoerotik im Verhalten der Personen steht bei Rust’aveli ein verhältnismäßig geringes Maß an geübter Heteroerotik gegenüber.26 Es ist schon sehr erstaunlich, daß bei Beschreibung der fast immer exzessiven Schönheit der edlen Charaktere eigentlich 26 Ich kann nicht beurteilen, ob Wardrops Wortwahl „both maidens“ (1544) tatsächlich nahelegt, daß Nestan-Daredzˇan und T’inat’in einige Zeit nach der Hochzeit immer noch als Jungfrauen gedacht sind.
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kein Unterschied zwischen den Geschlechtern gemacht wird. Der formelhafte Vergleich mit Sonne und Mond, die Schönheit der pechschwarzen Wimpern, der perlweißen Zähne und der einem hochgewachsenen Baum27 gleichenden Gestalt gilt da wie dort. Wenn uns dies auch heute aus ,Tausendundeiner Nacht‘ nicht ganz ungeläufig ist, so wäre doch keinem Autor des europäischen Mittelalters so leicht eingefallen, die Wimpern seines Helden zu preisen. Eher kommt es auf athletische Schönheit (starke Schultern, Arme und Beine) an. Bei der weiblichen Schönheit faszinieren Rust’aveli und die Europäer der rote Mund, aber schon für die normative Frauenschönheit gelten letzteren andere Bezugspunkte wie die schlanke Taille, die immer kleinen und festen Brüstchen und vor allem das blondgelockte Haar. Seltener erwähnt der georgische Dichter die rubinfarbenen Wangen der NestanDaredzˇan (1517), aber auch Tariels (84), und das rabenschwarze Haar seiner Gemahlin (1469). Während viele europäische Autoren die körperlichen Reize ihrer Heldinnen fast liebkosend preisen, folgt Rust’aveli der form- und formelstrengen Ästhetik, die in gleicher Weise auch für den Mann gilt. Die Gefolgsmannen P’ridons, die Awt’andil an dessen Hof bringen sollen, sagen angesichts der Schönheit des Letzteren (949): „wir werden dir von ihm [P’ridon] berichten, wenn wir nicht, indem wir dich anstarren, in Ohnmacht fallen.“ Das soll nun nicht bedeuten, daß die Liebe zum anderen Geschlecht gegenüber der Homoerotik bedeutungslos ist; ganz im Gegenteil: Tariel, der Held im Pantherfell, hat ja eben gerade durch den Verlust der Geliebten den Boden unter den Füßen verloren und ist in eine merkwürdige Lethargie verfallen, die ihn hindert, eben jene Nachforschungen anzustellen, die dann seinen Freund Awt’andil auf die rechte Spur führen, freilich nachdem auch er aus Liebesleid der wenig mitteilsamen Asmat’ fast etwas angetan hätte (234 f.).28 Das erotische Moment kommt zeichenhaft schon durch das Pantherfell zum Ausdruck, denn der Panther ist selbst eine Art Symboltier des Erotischen und Weiblichen. 27 Wardrop [Anm. 1], übersetzte georg. alva regelmäßig mit „aloe-tree“ (77 und passim). Der Grund dafür ist mir unklar, da das georgische Wort laut Wardrop auch „Pappel“, „Platane“ oder „Zypresse“ bedeuten kann. Man muß kein Botaniker sein, um zu wissen, daß ein „Aloe-Baum“ ein Unding ist. 28 Wardrop (2001) [Anm. 1], S. VI, bemerkte zu der Stelle: „the passage … in which Avt’handil forgets for a moment that he is a ,gentleman‘ makes every Georgian blush“.
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An einer eigenartigen, faszinierenden Stelle erzählt Tariel unter den unvermeidlichen Tränen dem Awt’andil ein merkwürdiges Erlebnis (887 – 892): Er habe in der Nähe seiner Höhle, in der er den Freund erwartend sich mit Asmat’ aufgehalten, einen Löwen und einen Panther29 gesehen, die sich so verhalten hätten, als ob sie ineinander verliebt wären. Wie ein Liebespaar seien sie auf ihn zu gekommen, doch plötzlich hätten sie miteinander zu kämpfen begonnen, jedes Tier hätte das andere mit den Pranken verletzt, und sie hätten keine Furcht gekannt. Endlich habe der Panther dann doch „nach Art einer Frau“ seine Beherztheit verloren (889) und habe die Flucht ergriffen, vom Löwen wild verfolgt. Mit dem Ruf: „Du bist wahnsinnig! Warum reizest du deine Geliebte?“ habe sich Tariel auf den Löwen gestürzt, ihn mit dem Speer durchbohrt, enthauptet, kurzum „vom Leid dieser Welt erlöst“ (890). Ich warf mein Schwert von mir, sprang vom Pferd zu Boden und fing den Panther mit meinen Händen ein, um ihn im Namen jener zu küssen, um deretwillen mich heißes Feuer verzehrt. Doch er brüllte mich an und verletzte mich mit seinen blutrünstigen Pranken. Das konnte ich nicht länger ertragen. Voll Zorn im Herzen tötete ich auch ihn. Wie sanft ich auch mit ihm umging, der Panther beruhigte sich nicht … Ich mußte daran denken, wie ich mit meiner Geliebten gestritten hatte. Dennoch riß sich meine Seele nicht von mir los! Und da wundert es dich, daß ich Tränen vergieße! (891 f.)
Die Stelle bietet sich für allerlei Spekulationen an: Tariel hat den Panther, dessen Fell er trägt und nach dem er genannt wird, als eine Art Sympathie- oder Totemtier, mit dessen Tötung er sich gleichsam selbst tötet, das ihm aber andererseits auch Bild der Geliebten ist (vgl. 639, 1137, 1154), an der er sich im Streit vergangen hat und durch die Vergeblichkeit der Suche noch zu vergehen vorwirft. Diese durch Liebe ausgelöste Verwirrung – Rust’aveli zitiert dazu ein arabisches Wort, das „Verrückter“ bedeutet (29) – ist nun ein Punkt, der auch dem europäischen Mittelalter um 1200 durchaus geläufig ist: Während Perceval/Parzival durch die Betrachtung von drei Blutstropfen im Schnee, die ihn an die Schönheit der Geliebten erinnern, in 29 Die Übersetzungen sprechen bald von einem Tiger, bald von einem Panther, was den kaukasiologischen Laien erstaunt, denn der Unterschied zwischen beiden Großkatzen müßte doch im Georgischen zum Ausdruck kommen. Wichtig ist wohl nur, daß das Katzentier zarter als der Löwe ist und durch das Fehlen einer Mähne weiblich wirkt. Physiologusbezüge zu Löwe und Panther sind wohl nicht vorhanden.
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Trance verfällt und unbewußt zwei Ritter vom Pferd sticht, verlieren Yvain/Iwein bei Chrestien und Hartmann von Aue ebenso den Verstand30 wie der von Meliur verstoßene Partonopier bei Denis Pyramus und später auch Konrad von Würzburg. Während in den Tristanversionen die unerfüllte Sehnsucht die Protagonisten zu stets neuen Listen anstachelt, ist dem Minnesang der Verlust der Sinne und des Verstandes durch Liebe ganz geläufig. Hätte Tariel bei P’arsadan um NestanDaredzˇans Hand angehalten statt von ihrer Schönheit geblendet und von der Minne betört sie anzustarren, so hätte er sie nie verloren! Was die Auswirkung des Liebesleides angeht, so könnte der um seine Höhle umherirrende Tariel ohne weiteres aus einem französischen oder deutschen Roman stammen. Die Höhle selbst enthält schon das Moment des Asketentums und damit der totalen existentiellen Hingabe, allerdings nicht an Gott sondern an die irdische Geliebte. Auch Lancelot31 vergißt aus übergroßer Liebe sich selbst, was sich im Vergessen des eigenen Namens kundtut, und handelt traumwandlerisch wie Tariel, wenn auch effizienter. Der Held im Pantherfell ist in Gedanken an die verschwundene Nestan-Daredzˇan in tränenreiches Nachsinnen und eine Art Trance verfallen (88 f.), nimmt die ihn befragenden und dann angreifenden „Sklaven“32 König Rostevans ebensowenig wahr wie Perceval/Parzival die ihn anrennenden Ritter und läßt sie in gleicher Weise sozusagen unbewußt zuschanden werden. Ähnliches wiederholt sich später, als drei Brüder aus Cathay, die sich auf der Jagd befinden, auf den vor Leid völlig entrückten Tariel stoßen, den sie berauben wollen. Gleichsam unbewußt verwundet er einen der drei schwer mit einem Peitschenhieb (196 – 207). Jedenfalls verbindet die Idee der überwältigenden Minne hier Georgien mit dem romanischen und deutschen Sprachraum und der ,Jahrhundertfrage‘ (,Eneit‘ 9799): dorch got, waz ist diu Minne? Man kann eine der Wurzeln dafür in der Annahme suchen, daß in beiden Fällen die arabische Liebesdichtung den Grund legte. Nicht selten wurde die Tristantradition mit der iranischen von ,Vı¯s und Ra¯mı¯n‘ verglichen oder sogar genetisch in Beziehung gesetzt (der Orient als der Gebende, 30 Diese Beispiele auch bei Ulrich Müller, in: http://www.fmueller.net/rustav eli_de.html (5. 9. 2008). 31 Vgl. ebd. Müller erinnert auch an den ,Orlando furioso‘. 32 „Sklaven“ kommen in der Übersetzung Wardrops oft dort vor, wo wir von Gefolgsleuten sprechen würden. Ich bin zu wenig mit den mittelalterlichen Gesellschaftsverhältnissen Georgiens vertraut, um entscheiden zu können, um welche Art der Unfreiheit es sich an den einzelnen Stellen handelt.
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der Okzident als der Nehmende), und es ist gewiß kein Zufall, daß das berühmte iranische Liebespaar des Fahr o’d-din as’ad Gorga¯ni33 von Rust’aveli dreimal zitiert wird (182, 1058, 1519). In der Prosaerzählung ,Visramiani‘ hat Sargis T’mogveli die persische Sage ja schon 1200 auch in georgischer Sprache gestaltet.34 Ganz im Sinne auch europäischer Minneideologie fordert Rust’aveli im Prooemium des Werkes die Geheimhaltung der Geliebten (13), vergleicht diese mit dem Mond (504), bezeichnet die Liebste als „Töterin“ (170), was an Heinrich von Morungen (MF 147,4) erinnert, und redet vom Herzenstausch (675) 35 oder Herzensverlust (827) 36 der Liebenden.37 Spekulationen über die Handlungsfähigkeit eines Helden, der sein Herz verloren hat (827 f.), erinnern fast wörtlich an solche im ,Yvain‘.38 33 ‘Vı¯s and Ra¯mı¯n‘, translated from the Persian of Fakhr du-Dı¯n Gurga¯nı¯ by George Morrison, New York/London 1972. 34 Vgl. Angelika Hartmann: Das persische Epos ,Wis und Ramin‘, in: Tristan und Isolt im Spätmittelalter. Vorträge eines interdisziplinären Symposiums vom 3. bis 8. Juni 1996 an der Justus-Liebig-Universität Gießen, hg. von Xenja von Ertzdorff … (Chloe Beihefte zum Daphnis 29), Amsterdam 1999, S. 130. 35 Das Thema hat seine berühmte Entsprechung in Hartmanns ,Iwein‘: si wehselten beide / der herzen under in zwein, / diu vrouwe und her wein: / im volget ir herze und s n l p, / und beleip s n herze und das w p… (2990 – 2994). Eine verwandte Vorstellung findet sich in Gottfrieds ,Tristan‘, nur daß hier statt herze das leben erscheint: n weiz ich doch vil wol, daz ir / von iuwerm lebene ziehet, / swenne ir solde fliehet; / wan iuwer leben, daz bin ich. / iht mÞre m get ir ne mich / iemer geleben dekeinen tac, / dan ich ne iuch geleben mac. / unser l p und unser leben / diu sint s sÞre inein geweben, / s g r verstricket under in, / daz ir m n leben f eret hin / und l zet mir daz iuwer hie (18500 – 18511). 36 In seiner Verwirrung aus Liebesschmerz hat Tariel den Schwur, Awt’andil bei der Höhle Asmat’s zu erwarten, gebrochen. Der Dichter entschuldigt dies sophistisch mit dem Satz (827): „braucht man denn nicht ein Herz, um einen Eid … einzuhalten?“ 37 Ein wichtiges, immer wiederkehrendes Thema, das uns vor allem in Veldekes ,Eneide‘ begegnet. In einem Aufklärungsgespräch fragt hier Lavinia ihre Mutter, wie sie denn ohne Herz leben könne, wenn sie es einem Mann geschenkt habe. Die klassische Antwort, daß sie ja das Herz des Geliebten dafür erhalte, daß also die Herzen getauscht würden, wird hier noch nicht gegeben (9791 f.). 38 Bei Chrestien heißt es: „Mein Herr Yvain ist so verzweifelt, daß er seine Dame verlassen soll, daß sein Herz zurückbleibt. Der König kann seinen Leib davonnehmen, aber er kann nicht sein Herz hinwegführen. Die, die zurückbleibt, hängt so fest an seinem Herzen, daß der König nicht die Macht hat, es mit sich zu nehmen. Wenn der Körper ohne Herz ist, kann er unmöglich weiterleben,
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Ein wesentliches Element, das den ,Helden im Pantherfell‘ mit dem Minnesang verbindet, ist die Liebesklage, und wenn Rust’aveli mehrfach betont, wie „elegant“ seine Helden ihr Los beklagten, so läßt sich dagegen an Reimar den Alten erinnern, der sich dessen rühmt, daß niemand so „schön“ zu klagen verstehe wie er.39 Vor allem auch das Verstummen und Schweigen angesichts der und des Geliebten sowie die Ohnmacht und den Todeswunsch als fakultative Symptome der wahnhaften Minnekrankheit (z. B. 335 – 341, 349 – 357, 467, 473, 481 – 48340, 861 – 866, 1316 – 132241 usw.) gibt es hier wie dort. Aber auch in ,Vı¯s und Ra¯mı¯n‘ überkommt den Helden Ra¯mı¯n beim Anblick seiner geliebten Vı¯s eine Ohnmacht, so daß er vom Pferd stürzt.42 Auch in dem aus dem arabischen Raum stammenden und von Bernard von Gordon um 1305 übersetzten medizinischen Lehrbuch ,Practica dicta Lilium medicinae‘ wird die Liebeskrankheit (particulum II, cap. XI ,de amore‘ …) durchaus wichtig genommen und ernsthaft behandelt.43 Für die europäische Minnetradition ist natürlich auch die Konzeption der sinnverwirrenden Venusminne im Zusammenhang mit der ,Aeneis‘-Rezeption und der mittellateinischen Dichtung im Auge zu behalten, und für den byzantinischen Raum wäre wieder an den spätantiken Liebesroman zu erinnern,44 dessen toposhafte Piratenabenteuer
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denn solch ein Wunder, daß ein Körper ohne Herz lebt, ward nie gesehen. Und dennoch: jetzt trat dieses Wunder ein… (des que li cors est sanz le cuer / don ne puet il estre a nul fuer / et se li cors sanz le cuer vit / tel mervoille nus hom ne vit. / Ceste mervoille est avenue…; 2649 – 2653). Bei Hartmann von Aue wird der einseitige Herzensverlust durch den Herzenstausch ersetzt. Auch in seinem ,Büchlein‘ hat Hartmann das Verhältnis von Herz und Leib ausführlich thematisiert. Des einen und dekeines mÞ / wil ich meister s n, al die w le ich lebe: / daz lop wil ich, daz mir bestÞ / und mir die kunst diu werlt gemeine gebe, / Daz nieman s n leit als sch ne kan getragen (MF 163,5). Hier verursachen allein die Erinnerung an die Geliebte und der Aufweis ihres Liebespfandes die Ohnmacht, ja fast den Scheintod Tariels. Auslösendes Moment ist jetzt ein Brief mit Wahrzeichen aus der Hand NestanDaredzˇans. Awt’andil kann Tariel durch Besprenkeln mit Löwenblut wiederbeleben. Morrison [Anm. 33], S. 60 f. John Livingston Lowes: The Loveres Maladye of Hereos, in: Modern Philology 11 (1913/14), S. 491 – 546. In einer Reihe byzantinischer Romane erscheint Eros als Liebesgott, der sich der Helden bemächtigt. Etwa in ,Belthandros und Chrysantza‘ kommt der Held in das in Armenien gedachte Erotokastron, die Burg des Eros, wo er sein Liebesschicksal vorgezeichnet findet. Ebenso begegnet in den byzantinischen
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übrigens auch bei Rust’aveli (1012 – 1025) vielleicht noch relikthaft anklingen. Die Liebe ist auch das auslösende Moment großer Taten, die als Aristie der Helden dienen können: Als in der Rahmenhandlung auch nach einem Jahr die Kundschafter des „arabischen“ Hofes nicht in Erfahrung bringen konnten, wer der schöne weinende Jüngling, den Rostevan und Awt’andil auf der Jagd gesehen hatten, war, fordert T’inat’in ihren Verlobten auf, drei Jahre lang nach dem Helden im Pantherfell zu suchen (127 – 132). In der altfranzösischen Literatur würde man hier von einer typischen Queste sprechen. Sie nennt dafür drei Gründe: Awt’andil sei ein unvergleichlicher Ritter, er sei ihr besonders ergeben und solle dies unter Beweis stellen und werde damit (drittens) ihre Liebe zu ihm verstärken, indem er das Veilchen der Hoffnung in ihr Herz pflanze und Rosen streue. Wenn er, ein Löwe, dann zurückkehre, werde sie ihn als seine Sonne begrüßen usw. Das erinnert den Germanisten an die Szene im ,Titurel‘ Wolframs und Albrechts, wo Sigune in kindlicher Laune ihren Geliebten Tschionatulander aussendet, ihr das reich mit Schriftzeichen versehene Leitseil eines Bracken, dessen Text sie nicht zu Ende lesen konnte, zu beschaffen. Im Gegensatz zu Awt’andils Queste endet die Tschionatulanders mit dessen tragischem Tod in der Erfüllung der Minnepflicht. Natürlich keine genetische Parallele, aber doch eine typologische, die kapriziöse Minneherrin! So wie die „arabische“ Prinzessin T’inat’in ihren Liebsten auf Queste aussendet, so die indische Prinzessin Nestan-Daredzˇan ihren jungen Geliebten Tariel, damit er das Indien bedrohende Volk von Cathay vernichte (364 – 366). Auch hier bewährt sich der Ausgesendete, indem er dem indischen König P’arsadan einen gewaltigen Sieg über die Feinde erficht. Beides sind auf Grund des Wunsches jungfräulicher Prinzessinnen höchst ehrenwerte heroische Unternehmungen, wie sie eben auch im europäischen Roman vorkommen könnten – dieser bleibt hier bekanntlich nicht stehen: Die Wünsche der Damen werden wie im Lancelotroman zur Laune, und um 1240 sollte der Minnesänger Tannhäuser diese Launen als verrückt und unrealisierbar parodieren. Im ,Helden im Pantherfell‘ begegnen freilich auch weibliche Wünsche, die in das Verbrecherische gehen und in der höfischen LiRomanen die Vorstellung von der Liebeswunde und vor allem auch von der sinnverwirrenden Macht der Liebe.
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teratur Frankreichs und Deutschlands wohl kaum45 von der Hauptheldin geäußert werden könnten. Ich meine Nestan-Daredzˇans Wunsch, Tariel möge den ihr unlieben Freier aus Iran, Hvarazmsˇa, meuchlerisch ˘ aller Helden, ermorde ermorden: „Handle so, mein Löwe, glänzendster den Bräutigam insgeheim, nimm dazu keine Soldaten, metzle nicht seine Armee wie Rindvieh oder Esel hin! Wie könnte ein Mann die Menge so viel vergossenen unschuldigen Blutes ertragen?“ (527). Trotz der humanen Rechtfertigung des Mordbefehls im Nachsatz bleibt das Ansinnen für einen europäischen Roman des Mittelalters ungeheuerlich. Hier wäre es wohl am ehesten zu einer Tjoste gekommen, bei welcher der unliebsame Freier überwunden, nicht unbedingt getötet worden wäre. Wir assoziieren die Art, wie hier der iranische Prinz aus dem Weg geräumt wird, eher mit byzantinischen Methoden, doch ist sich Rust’aveli des Vergehens voll bewußt, denn Tariel erinnert sich: „Es ist der Zunge schrecklich zu sagen, wie der Bräutigam dalag, ich tötete den Jüngling, ohne das Blut (seiner Leute?) zu vergießen, dennoch schrie sein Blut auf, als es dahinfloß“ (541). Es ist eben der Wunsch der Geliebten, der alle Bedenken gar nicht erst laut werden läßt. Die zweite erstaunliche Stelle schildert, wie Awt’andil auf Wunsch von Frau P’atman den Lauscher, der ihn und die Kaufmannsfrau beim Liebesspiel beobachtete, ermordet, um zu verhindern, daß das Verhältnis der beiden bei Hof bekannt und P’atmans Gemahl Usen hinterbracht werde. Hier sagt die Matrone zu Awt’andil: „Wenn du kannst, töte den Mann, erschlage ihn meuchlings bei Nacht…“ (1085), und Awt’andil rechtfertigt den Mord damit, daß der Hofbeamte (?) ohnedies keine Standesperson sei (1088). Rust’aveli kommentiert den heimtückischen Mord mit einem der geläufigen Fürstenpreisstrophen: „Er [Awt’andil] ist denen, die ihn bewundern, eine Sonne und denen, die ihm entgegentreten, ein wildes Tier und ein Schrecken…“ Nachdem Awt’andil dem Ermordeten den Ringfinger mit dem Ring abgeschlagen hat, wirft er den Toten aus dem Fenster auf den Meeresstrand: „dort vermischte sich der Leichnam mit dem Sand des Meeres. Für ihn gibt es keine Gruft noch einen Spaten, um damit ein Grab auszuheben“ (1094). Später stellt sich heraus, daß der Ermordete ein Liebhaber der P’atman gewesen war, den sie bezüglich ihrer Befreiung der NestanDaredzˇan ins Vertrauen gezogen hatte, der sie aber wegen ihres Geheimnisses zu erpressen drohte. 45 Eine Ausnahme bildet nur Isoldes Mordplan gegen Brangäne.
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Schon die kurze Beziehung des einen Haupthelden zu Frau P’atman wäre in einer europäischen mittelalterlichen Erzählung undenkbar. Die von ihrem eigenen Ehegatten Usen frustrierte reiche und reife Kaufmannsfrau hat sich auf den ersten Blick in Awt’andil verliebt. Er geht auf ihren Werbebrief (!) widerwillig mit einem entsprechenden Antwortschreiben ein, da er sich als Gegenleistung für seine Hingabe Nachrichten über den Aufenthalt der entführten indischen Prinzessin verspricht: Wenn eine Frau jemanden liebt, mit ihm intim wird und ihm ihr Herz schenkt, setzt sie in ihrer Verfallenheit alle Scham und alle Fragen der Ehre hintan, dann erzählt sie alles, was sie weiß und gibt jedes Geheimnis preis (1071).46
Während des Liebesaktes drängen sich dann Awt’andil doch immer wieder Gedanken an seine Verlobte T’inat’in auf. Er denkt: „Seht mich an, ihr Liebenden, mich, der ich eine Rose mein Eigen nenne! Fern von ihr sitze ich, die Nachtigall, wie eine Aaskrähe auf dem Misthaufen.“ Dabei flossen seine Tränen in Strömen, so daß es einen Stein erweicht hätte. Das Dickicht seiner kohlschwarzen Wimpern staute sie auf, „so daß sich auf dem Rosenfeld (des Gesichtes?) ein Teich bildete. P’atman erfreute sich seiner, als wäre sie eine Nachtigall. Wenn eine Krähe eine Rose findet, so dünkt sie sich eine Nachtigall“ (1231 f.). Der ungewollte Liebesakt mit der verblühenden Lebedame wird zum Liebesopfer für den Freund und dessen Geliebter, emporstilisiert. Schon aus diesem Grund kann ich nicht glauben, daß T’inat’in, Nestan und P’atman poetische Abbilder T’amars sein sollen.47 Als dann Awt’andil Frau P’atman seine wahre Identität, seine Bindung an T’inat’in und seinen Dienst für Tariel gesteht, reagiert sie nicht etwa mit Eifersucht, wie man erwarten könnte, sondern preist Gott für diese Nachrichten, so sehr geht auch sie im Freundschaftsdienst für Nestan-Daredzˇan auf! Was also Unehrlichkeit, Intrige und Verworfenheit scheint, ist in Wirklichkeit Dienst an den Freunden und an der Liebe, der umso größer ist, je mehr sich die Personen durch ihre Handlungen erniedrigen. Neben der Freundschaft gibt es auch Höflichkeit bzw. gesellschaftliche Verbindlichkeit, die zu ziemlich weitgehender Unterwür46 So schläft auch Ra¯mı¯n mit der Amme der Vı¯s, um auf diese Weise eher an die Geliebte heranzukommen; Morrison [Anm. 33], S. 83 ff. 47 So Mirianashvili, in: http://www.fmueller.net/rustaveli_de.html (5. 9. 2008). Auch die „Gleichsetzung“ der ritterlichen Helden als „Krieger des Lichts“ mit St. Georg und letztlich Gott ist zu undifferenziert, um zu überzeugen.
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figkeit führen kann. So bittet Tariel König Rostevan für Awt’andil um T’inat’ins Hand: ,… ich bitte dich kniefällig, laß sie sich nicht länger in Liebesglut verzehren, gib deine Tochter dem Starkarmigen, dem Beherzten …‘ Er zog sein Taschentuch hervor und band es sich um den Hals,48 erhob sich, beugte dann wieder die Knie und flehte Rostevan an wie ein Schüler den Lehrer. Alle, die davon hörten, staunten. Als Rostevan Tariel auf den Knien sah, mißfiel es ihm. Er trat weit zurück, bezeugte ihm seine Verehrung und warf sich zu Boden, indem er sprach: ,Oh Herrscher, all meine Freude ist dahin. Deine Erniedrigung war für mich ein wahrhaft trauriger Anblick. Wie könnte es denn sein, daß dir jemand etwas abschlägt, was du begehrst, oder daß ich meine Tochter beklagen wollte, wenn du über sie den Tod oder gar die Sklaverei verhängt hättest, sogar wenn du es aus der Ferne befohlen hättest, selbst dann würden meine Tränen nicht fließen…‘(1498 – 1501)
Seltsam genug nimmt sich daneben der Selbstruhm aus, den wir da und dort als Merkmal heldenepischer Gestaltung49 im Mund des Helden finden (z. B. 438 – 440, 463 f., 604, 615, 1019). Darüber hinaus ist das ganze Werk von einer auffälligen Hochschätzung der Frau durchdrungen, was gewiß auch mit seiner Widmung zu tun hat. 1178 hatte König Giorgi III., der keinen Sohn hatte, seine Tochter T’amar zur Mitregentin erhoben, 1184 wurde sie Alleinregentin und führte das Goldene Zeitalter Georgiens herauf. Ihr und ihrem Gemahl Davit Soslan ist das Epos gewidmet (und dadurch auch datiert50). Es war etwas Ungewöhnliches, daß in einer agnatischen Gesellschaft das Königtum in weiblicher Linie weitergegeben wurde, und es ist gewiß kein Zufall, daß Rust’aveli eben dies gleich zwiefach in dem Epos exemplifiziert. Tariel, selbst Prinz eines Königreiches, das den vierten Teil Indiens umfaßt, wird durch die Ehe mit Nestan-Daredzˇan König über ganz Indien, aber noch deutlicher entspricht die Lage am „arabischen“ Hof jener in Georgien. König Rostevan setzt gegenüber seinen Wesiren die Nachfolge seiner Tochter T’inat’in mit Worten 48 Offenbar ein Unterwerfungsgestus, der das Anschirren symbolisiert; vgl. unser ,Unterjochen‘! 49 So etwa im byzantinisch-neugriechischen Heldenepos ,Digenìs Akritas‘, das Rust’avelis Werk sonst ganz ferne steht; John Mavrogordato: Digenes Akrites. Edited with an Introduction, Tanslation and Cpommentary, Oxford 1956, S. XLIVf. 50 Das Herrscherpaar regierte zusammen zwischen 1189 und 1207; Ronald Rayfield, in: Wardrop (2001) [Anm. 1], foreword.
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durch, die auch die Krönung der Königin Tamar (1178) zu reflektieren scheinen: Obwohl sie eine Frau ist, ist sie doch von Gott zur Herrscherin geschaffen worden. Sie versteht sich auf das Regieren. Wir sagen das nicht, um euch zu beeindrucken, nein, wir selbst sagen das oft in eurer Abwesenheit. Ihre Taten, ebenso wie ihre Schönheit, sind hell und sichtbar wie das Sonnenlicht. Die Löwenjungen sind den alten Löwen gleich, seien sie nun männlich oder weiblich. (39)
Das Einheiraten in Fürstentümer kennt der Artusroman auch – Yvain/ Iwein wird durch Einheirat Landesherr im Reich des Zauberbrunnens, Perceval/Parzival Herr über Beaurepaire/Belrapeire –, aber daß ein König resigniert und seine Tochter als Nachfolgerin einsetzt, ist kein arthurisches Thema. Allerdings gab es historische Ereignisse, die räumlich und zeitlich gar nicht so ferne von Rust’avelis Epos liegen und die man nicht übersehen sollte. Nach dem Tod des erst 6-jährigen Balduin V. im Jahr 1186 herrschte Sibylle als Königin über das Hl. Land. Als sie nach vier Jahren 1190 verstarb, war Isabella I. Erbin von Jerusalem und als solche insgesamt dreimal verheiratet (mit Konrad von Montferrat, Heinrich II. von Champagne, Amalrich von Zypern), allerdings stets auf Drängen ihrer Barone, die offenbar einen Partner ihrer Herrin für unabdingbar hielten. Was dem europäischen Mediävisten am ,Helden im Pantherfell‘ besonders auffällt, ist die weitgehende religiöse Toleranz oder gar Indifferenz, die in dem Werk herrscht. Im Gegensatz zu der geläufigen Kreuzzugsdichtung des europäischen Mittelalters und zum etwa zeitgenössischen ,Visramiani‘51 spielt die Frage des Glaubens bei Rust’aveli kaum eine Rolle. Dem Leser fällt es gar nicht leicht, den einzelnen Helden und Heldinnen Religionen zuzuordnen. Daß eine christliche ,Tiefenstruktur‘ da ist, ist unbestritten und läßt sich ja auch aus dem Wenigen, was wir über die Person Rust’avelis zu wissen glauben, herauslesen.52 Aber ebenso unbestritten ist, daß dieses Christentum nicht signifikant in Erscheinung tritt. So wird der Name Christi nie genannt, und die wenigen Hinweise auf die Bibel beziehen sich fast immer auf entlegene, ungenau zitierte Stellen.53 In einer kuriosen Passage (1023) 51 Hartmann [Anm. 34], S. 130. 52 Rayfield bei Wardrop (2001) [Anm. 1], foreword, und Wardrop, S. VIIIf.; Ruth Neukomm, in: Kindlers Neues Literatur Lexikon 14 (1988), Sp. 500. 53 So wie das sprichwörtliche „wie der Hirsch nach der Quelle lechzt“ (835, 1564), das aber in ganz weltlichem Zusammenhang gebraucht wird. Beim Satz
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heißt es: „Wahrheitsgemäß sagt der A p o s t e l Johannes: ,Furcht bewirkt Liebe.‘“ Dazu konnte Wardrop nur einen Satz im ersten Brief des Evangelisten Johannes beibringen, der aber mißverstanden und in seinem Sinn völlig verdreht scheint.54 Sicher ist wohl, daß alle Personen dem Monotheismus huldigen, auch Tariel, obwohl einmal (1351) Hindo genannt, ist gewiß kein Hindu. Eher ließe sich erwägen, ob nicht parsisch-zoroastrische Elemente in dem Werk enthalten sind. Dazu berief man sich auf die auf die Sonne abgelegten Eide (66), doch ist das Argument deswegen problematisch, weil „Sonne“ eine ganz geläufige Metapher für den Helden (z. B. 670, 1281) 55 und die Heldin (z. B. 674) ist und auch für „Leben“ stehen kann (z. B. 431). Ein Schwur „bei der Sonne“ ist also ein Schwur bei einer Person oder ihrem Leben. Von einer Anbetung der Sonne hat man in bezug auf zwei Stellen gesprochen. Doch 816 f. wird die Sonne als das „Bildnis des Einen“ apostrophiert und nur gesagt, daß frühere Philosophen sie als „Bild Gottes“ „die Liebe endet nie“ (1520) kann man an Kor. I, 13, 8 denken. Zu einem Satz Awt’andils über die Gefährlichkeit falscher Freunde (1189) verweist Wardrop (2001) [Anm. 1], S. 193, auf Ecclesiasticus 37, 2 und Matth. 10, 36, wobei beide Stellen eigentlich nicht wirklich dazu passen. Aber auch im Koran scheint sich nichts Einschlägiges zu finden. An einer anderen Stelle (772) beruft sich Rust’aveli ganz allgemein für die Hochschätzung der Liebe auf „die Apostel“, was sich auf eine Paulusstelle aber auch auf den ersten Brief des Johannes, den der Dichter mit dem Apostel gleichen Namens verwechselte (!), beziehen wird. Wenig vorher (770) wurde Platon der nicht nachweisbare Satz „Falschheit und Doppelzüngigkeit verletzen Körper und Seele“ in den Mund gelegt. Um T’inat’in würdig zu preisen, brauchte es Tausende von Zungen athenischer Weiser (676). Dionysius Areopagita wird zweimal (176, 1468) in wenig spezifischen Zusammenhängen zitiert. Die Hinweise auf griechische Philosophen würde ich etwa auf eine Stufe mit dem Hinweis auf eine chinesische Inschrift (834) stellen, die besagt, daß der sein eigener Feind ist, der sich nicht einen Freund sucht. Kurios sind zwei Stellen, die geradezu an Rust’avelis Kenntnis des Alten Testamentes zweifeln lassen könnten. So heißt es (1316): „Weder Kain noch gar Salomon hätten solches Leid ertragen können“ – wie kann man beide in einem Atem nennen? Gegen Ende (1511) nennt der Dichter die drei Schwurbrüder „drei Goliathe“! Während man für die erste Stelle den Stein des Anstoßes philologisch beseitigen kann, indem man statt Kain Kaisi (den Namen eines berühmten arabischen Liebeshelden) liest, müßte man wohl den unpassenden Vergleich mit Goliath humoristisch (?) deuten. 54 Joh. I, 4, 18: Timor non est in charitate … qui autem timet non est perfectus in charitate; Wardrop (2001) [Anm. 1], S. 65. 55 Da die Sonne Zeichen von Schönwetter, aber auch Metapher für den Helden ist, kann der Dichter sagen, daß Tariel ein Schönwetter-Bringer sei (595). Auch bei uns sagt man mitunter scherzhaft, wenn eine Dame hereinkommt: „die Sonne geht auf.“
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bezeichnet hätten. Das erinnert an ,Vı¯s und Ra¯mı¯n‘, wo Gorga¯ni den nicht-personalen Gott vor allem als Schöpfer des nächtlichen Himmelszeltes preist.56 Die andere Stelle (935 – 944) trägt allerdings wirklich heidnisches Gepräge, da hier Awt’andil die sieben Planeten beschwört, deren einer die Sonne ist. Auch hier geht der Gedanke von der sonnengleichen T’inat’in aus (935 – 937), deren Abwesenheit die Landschaft in den Winter versetzt. Dann werden mit der Sonne beginnend der Reihe nach die Planeten um Hilfe angefleht (937 – 944; vgl. 1385, 1391, 1396 f.). Die Stelle ist in der Tat auffällig, kann aber auch rhetorisch verstanden werden und setzt nicht unbedingt den altorientalischen Glauben an Planetengötter in einem höheren Ausmaß voraus, als dies die allgemein geübte Astrologie tut. Man gewinnt den Eindruck, daß Awt’andil und der „arabische“ Hof Christen sind,57 während Tariel,58 P’ridon und Frau P’atman wohl eher Muselmanen sein werden. Von einer eher negativen Beurteilung des Islam finde ich im Gegensatz zu Wardrop und Rayfield nichts,59 immerhin legt Tariel einen höchst pathetischen Reinigungseid auf den Koran ab (514). Die nicht gerade seltenen Nennungen des Gottesnamens sind so allgemein, daß sie sich auf alle drei monotheistischen Hochreligionen beziehen könnten.60 56 Vgl. Hartmann [Anm. 34], S. 109. 57 Die meisten Bibelzitate stehen im Zusammenhang mit Awt’andil. Die Überschrift (22. Kapitel) „Awt’andils Gebet in der Moschee und seine Flucht“ ist, wie Wardrop (2001) [Anm. 1], S. 126, Anm. 3, betont, nicht zeitgleich mit dem Text Rust’avelis. 58 Allerdings sagt er, daß die Ankunft des iranischen Bräutigams der NestanDaredzˇan für ihn nicht gerade der „Vorabend des Osterfestes“ gewesen sei (536). 59 Wardrop (2001) [Anm. 1], foreword und S. IV. Daß die muqris und Mullahs gestützt auf den Koran ebensowenig Tariels Liebesschmerzen diagnostizieren können wie die Ärzte (339 f.), ist keine Kritik am Islam! Von dem betrunkenen Kaufmann Usen heißt es (1144): „… er vergaß die Eide. Was bedeuteten ihm Koran und Mekka?“ Auch dies ist natürlich nicht Ausdruck einer Ablehnung des Islam. 60 Viele der Stellen, an denen Gott erwähnt wird, sind rein metaphorisch oder nur Redensarten, so wenn es (836) heißt, Rostevan sei „gottgleich“. Gott ist der Eine, der Ewige, der Schöpfer, der alles sieht, nichts Böses erschafft, die Welt trotz ihrer Unvollkommenheit erhält, darauf sieht, daß das Gute siegt, Grausamkeit gegen Tiere haßt und mit der Sonne vergleichbar ist. Es gibt eine Vorsehung, Sünde und Bestrafung, die Unsterblichkeit der Seligen besteht in der Vereinigung mit Gott. Almosengeben ist ein gottgefälliges Werk. Es gibt ein Paradies, den Garten Eden, die Paradiesflüsse, den Teufel, der Satan oder Beelzebub heißt; die Stellen bei Wardrop (2001) [Anm. 1], S. 272. Die Seelen
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Dazu stimmt auch der Glaube an Vorsehung und Schicksal, der nicht unbedingt als Vorstellung vom kismet interpretiert werden muß und der sich in der Redewendung „das Schicksal trinkt gerade mein Blut“ (483, 694) für ,ich leide‘ äußert, der Glaube an eine Hölle und an 7 oder 9 Himmel (z. B. 132, 399, 410, 507). So sagt Tariel (1430 f.): Da Gott es veranlaßt hat, daß wir uns freuen, sei seine Göttlichkeit gepriesen … er, der uns die Wunde zufügte, hat auch die Kraft, sie zu heilen … Sie, die [im Laufe der Auseinandersetzung mit den Zauberern] ihr Leben lassen mußten, stellten fest, daß die ewige Freude Wirklichkeit und kein Traum ist. Sie haben die Vereinigung61 mit dem Einen erreicht; ihr Ruhm hat sich hundertzwanzigfach vermehrt.
Diese tolerante Haltung ist gerade für die mutmaßliche Entstehungszeit „um 1200“ ein Skandalon. Sie verträgt sich mit der Kreuzzugsstimmung und -propaganda in Europa keineswegs, mag sich auch als große Ausnahme bei Wolfram von Eschenbach ein berühmt humanes Heidenbild abzeichnen. In Georgien hatte König David IV., das „Schwert des Messias“, die Seldschuken 1122/3 aus dem Land vertrieben, und sein Nachfolger Grigori III. (1156 – 1184) konnte sogar die Vorherrschaft des christlichen Reiches in Transkaukasien auf Kosten der Türken weiter ausbauen. Unter Grigoris Tochter T’amar (reg. 1178 – 1213) erlebte das Land seinen politischen und kulturellen Höhepunkt, einen Zeitraum innerer Stabilität und künstlerischer Entfaltung.62 Es ließe sich vermuten, daß diese auffallende religiöse Toleranz in dem Werk aus dem Bewußtsein der Überlegenheit und dem Gefühl innerer Sicherheit derer, die für ihren Herren sterben, „fliegen nach oben“ (425). Gott vergibt den Sündern (455) und soll Gebete erhören, selbst wenn er das Leben des Betenden verkürzt (845). Wenn Tariel und Nestan-Daredzˇan einander ihre Treue über dem „Buch der Eide“ beschwören (402), so muß es natürlich offenbleiben, ob damit der Koran gemeint ist. Die Stellung zum Judentum ist unklar: Nur an einer Stelle (797) kommt ein „Jude Levi“ in einer Beteuerungsformel vor, wenn nämlich Rostevan auf eine unglaubliche Nachricht erwidert: „Ich möchte der Jude Levi sein, wenn ich dich nicht für verrückt halte…“ Die Stelle dürfte sich weniger auf Gen. 49, 5 – 7 (Verfluchung von Levi und Simeon) beziehen als auf eine sprichwörtliche Redensart, der die Geringschätzung der Juden zugrundeliegt. 61 Ich kann nicht entscheiden, ob das hier verwendete Wort saziarod mit ziareba und swanetischem diar „Brot“ zu tun hat, wie Wardrop (2001) [Anm. 1] andeutet (S. 233, Anm. 9). Wäre dem so, so hätte Rust’aveli dem sonst nicht spezifisch christlich denkenden Tariel eine christliche, religiöse Vorstellung in den Mund gelegt. 62 Vgl. dazu Mirianashvili, in: http://www.fmueller.net/rustaveli_de.html (5. 9. 2008).
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erwuchs, aber nicht nur als eine allgemein bestehende Tendenz, sondern geradezu als eine Art idealer Entwurf des aufgeklärten ,Humanisten‘ Rust’aveli. Kommen wir nochmals auf das eine Hauptthema des ,Helden im Pantherfell‘ zurück: Es ist die so überaus differenziert dargestellte höfische Liebe. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß eine der Wurzeln für das Aufblühen des Liebes- und Minnethemas in Georgien und Europa die Rezeption der arabischen Liebesdichtung sein wird. Damit ist freilich nicht geklärt, warum etwa zwischen 1170 und 1200 hier wie dort diese Dichtung aufgegriffen und in der doch frappant übereinstimmenden Weise weitergeführt wird. Mein lieber Freund Fritz Peter Knapp hat sich in fast all seinen Werken gerade zu den hier erwähnten Themen Gedanken gemacht und sie in einer Fülle von wichtigen Arbeiten niedergelegt. Ich hätte viel aus ihnen, von ,Chevalier errant und fin’amor‘ [SV 7] bis zu ,Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik‘ [SV 10] und seiner gewaltigen ,Geschichte der Literatur in Österreich‘ [SV 11 u. 15] zitieren können oder müssen, begnügte mich aber schon aus Raumgründen damit, eher das Charakteristische und Erstaunliche an dem Hauptwerk der georgischen Literatur herauszuarbeiten. Es schien mir ein faszinierender Gedanke, daß an weitentfernten Stellen, offenbar ohne nennenswerte Kontakte, zur gleichen Zeit sehr ähnliche literarische Gebilde entstehen konnten, auf der Grundlage einer verfeinerten höfischen Kultur, die sich vor allem an den Werten von Dienst und Liebe orientierten.
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Pulchrum et verum convertuntur Zur Wahrheit des Ästhetischen in der Poetik des Mittelalters
Benedikt Konrad Vollmann Im Jahre 1492 veröffentlichte Petrus Popon, Magister der Würzburger Domschule, unter dem Titel ,Libellus facetus gestas res viginti quattuor Parasitum iocundissime pertractans‘ einen Gedichtzyklus des Heinrich Euticus (Geratwol), in welchem dieser die Verhaltensweisen des Parasiten vorführt.1 Die Überschrift zum 18. Gedicht lautet: „Er machte sich zu einem hervorragenden Glätter und Polierer“.2 Im Text spricht der Parasit: „Als ich neulich eingeladen war und wir uns freundschaftlich besonders nahe kamen, begann ich – aufgefordert natürlich – einige wunderliche und fabulöse Geschichten zu erzählen von der Art des Typheuskampfes oder des staunenswerten Daedalusfluges. Etwas Ähnliches und ebenso Wahres erzählte ich, und keiner konnte etwas dagegen sagen, weil ich so schön und so geschickt die mit scharfer Feile geglättete Darstellung polierte und steuerte. Als Zeuge (für die Richtigkeit des Gesagten) diente jemand, der von den äußersten Grenzen des Gethenreichs und von den Ufern des Ganges und des reißenden Aufidus herbeigerufen worden war. Den soll einer, der nicht glaubt, daß es sich so verhält, befragen und dann mir glauben, der ich frei von Trug bin.“3 Der Sprecher wird als Schmarotzer charakterisiert, der – wohl in der Erwartung weiterer Mahlzeiten – die Tischgesellschaft mit Erzäh1 2
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Vgl. Franz Josef Worstbrock: Popon (Bopo), Petrus, in: 2Verfasserlexikon 7 (1989), Sp. 782 – 785. Et leuigatorem et limatorem sese fecit optimum. – Der Text ist entnommen dem Inkunabeldruck Leipzig: Martin Landsberg 1492 (Hain 12396; Exemplar der BSB München 48 Inc. s. a. 781). – Recte geschriebene Buchstaben sind konjektural. Conuiua nuper iunctiorque amicis / Narrare caepi – namque eram rogatus – / Monstrosa quedam et fabulosa dicta, / Esset velut vel prelium typhoei / Vel daedali mirabilis volatus. / Quiddam simile vaeroque sic propinquum / Dixi, nec ullus quiuit improbare; / Tam pulchre rado dirigoque docte / Sermonem acuta limula politum. / Ac testis est ex vltimis getharum / Et gange rapidoque aufido vocatus. / Hunc, qui putat non esse sic, rogato / Post crediturus fraudibus carenti.
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lungen unterhält. Der Text ist gespickt mit Anspielungen auf Themen, die im Zusammenhang mit literarischer Produktion ventiliert wurden: Aufforderung zum Schreiben – mythologische Stoffe – Wahrheitsanspruch – Zweifel des Publikums – Schönheit einer Dichtung – Glätten des Sprachkunstwerks – Zeugenbeweis – Glaubwürdigkeit des Dichters – Lüge. Natürlich erwartet Euticus, daß alle Aussagen des Schmarotzers vom Rezipienten des Gedichts als ironice dicta verstanden werden: der Parasit hat sich selbst eingeladen; er ist weder ein Freund des Gastgebers, noch hat man ihn zum Vortrag aufgefordert; mythologische Stoffe werden durch geschliffene Formulierungen nicht wahrer; die Glaubwürdigkeit eines von weither kommenden und deshalb unbekannten Zeugen ist gleich null; der Erzähler ist ein Erzlügner. Es ist hier nicht der Ort, auf all die genannten, bereits vielfach erörterten Themen näher einzugehen. Der vorliegende kleine Beitrag beabsichtigt nur, aus dem satirischen Gedichtlein ein Begriffspaar herauszugreifen und damit einige Überlegungen zu verknüpfen. Gemeint ist das Begriffspaar verum – pulchrum. Liest man den Text per antiphrasim, wird zwar rasch klar, daß Euticus es ablehnt, ein Gedicht für wahr zu halten, weil es schön gemacht ist, doch ist die Aussage „schön gleich wahr“, die er dem Sprecher in den Mund legt, nicht völlig aus der Luft gegriffen: Sie ist in der mittelalterlichen Literatur mehrfach bezeugt.4 Johannes Scotus Eriugena: ,Expositiones super ierarchiam Dionysii‘ I,3: „(Der menschliche Geist stellt fest), daß die sichtbaren Formen, die er in der Natur der Dinge und in den heiligsten Geheimnissen der Hl. Schrift betrachtet, […] Bilder der unsichtbaren Schönheit sind, durch die die göttliche Vorsehung den menschlichen Geist in die reine und unsichtbare Schönheit der Wahrheit selbst […] zurückruft.“5 Hugo von St. Viktor: ,Expositio in hierarchiam coelestem S. Dionysii‘ II,1: „Unsere Seele kann nicht direkt zur Wahrheit des Unsichtbaren aufsteigen, es sei denn, sie wäre durch die Betrachtung des Sichtbaren geschult und zwar so, daß sie in den sichtbaren Formen Sinnbilder der unsichtbaren Schönheit erkennt. Da nun aber die Schönheit der sichtbaren Dinge in 4
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Die folgenden Texte und ihre Übersetzung sind genommen aus Mario Assunto: Die Theorie des Schönen im Mittelalter, Köln 1963, S. 150 – 192, und Glenn W. Most u. a.: Schöne (das), in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 8, Darmstadt 1992, Sp. 1343 – 1385. (Humanus animus iudicat) visibiles formas, sive quas in natura rerum, sive quas in sanctissimis divinae Scripturae sacramentis contemplatur […] invisibilis pulchritudinis imaginationes esse, per quas divina Providentia in ipsam puram et invisibilem pulchritudinem ipsius veritatis […] humanos animos revocat (Migne, Patrologia Latina 122, 138 C–139 A).
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ihren Formen gegeben ist, wird, wie er sagt, aus den sichtbaren Formen in entsprechender Weise die unsichtbare Schönheit erwiesen, weil die sichtbare Schönheit ein Abbild der unsichtbaren Schönheit ist.“6 Suger von St. Denis: ,De rebus in administratione sua gestis‘ XXVII: „Edel erstrahlt das Werk. […] Der schwache Geist erhebt sich zum Wahren durch das Materielle / Und sehnend erhebt er sich durch das Licht aus seiner Versunkenheit.“7 Richard von St. Viktor: ,Benjamin Minor‘ I: „Man weiß, […] daß Jakob zwei Frauen hatte. Die eine hieß Lea, die andere Rahel. Lea war fruchtbar, Rahel war schön. […] Rahel ist die Lehre der Wahrheit. […] Was wird brennender geliebt, was ist süßer zu besitzen als die Weisheit? Ihre Anmut übersteigt alle Schönheit, ihre Süßigkeit übertrifft alle Lieblichkeit. Sie ist ja, wie jemand gesagt hat, schöner als die Sonne und jedes Sternbild.“8
Es gibt sie also, die Vorstellung, daß Wahrheit und Schönheit so eng zusammengehören, daß das eine nicht ohne das andere sein und gedacht werden kann. Fragen wir aber nach, auf welche Objektsbereiche in den von Assunto und dem Historischen Wörterbuch der Philosophie angeführten Zitaten Bezug genommen wird, so stellen wir fest: Es ist zum einen die Natur als ganze oder in ihren Teilen – die Natur ist wahr und schön, weil sie dem Kosmos der Ideen bzw. der Schöpfungsordnung Gottes entspricht – und es ist zum anderen die nachschaffende Kunst vor allem in der Architektur. Das Sprachkunstwerk wird in diesem Zusammenhang kaum erwähnt; es taugt nicht als Stütze für die Behauptung, Schönheit und Wahrheit seien austauschbare Begriffe. Im Gegenteil. Wenn man sich im Altertum und im Mittelalter Gedanken über das Wesen von Dichtung machte, tauchten rasch zwei Axiome auf: „Dichter lügen“ (poetae mentiuntur) und „sie vermischen Wahres mit 6
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Non potest noster animus ad invisibilium ipsorum veritatem ascendere, nisi per visibilium considerationem eruditus, ita videlicet, ut arbitretur visibiles formas esse imaginationes invisibilis pulchritudinis. Quia enim in formis rerum visibilium pulchritudo earumdem consistit, congrue ex formis visibilibus invisibilem pulchritudinem demonstrari dicit, quoniam visibilis pulchritudo invisibilis pulchritudinis imago est (Migne, Patrologia Latina 175, 949 AB). Nobile claret opus. […] Mens hebes ad verum per materialia surgit, / Et demersa prius hac visa luce resurgit. (Œuvres complètes de Suger, hg. von A. Lecoy de la Marche, Paris 1867 [Nachdruck Hildesheim/New York 1979], S. 189). Duas […] uxores Jacob habuisse cognoscitur. Una Lia, altera Rachel dicebatur: Lia fecundior, Rachel formosior. […] Rachel doctrina veritatis. […] Quid enim sapientia ardentius diligitur, dulcius possidetur? Ejus decor omnem superat pulchritudinem, ejus dulcor omnem excedit suavitatem. Est enim, ut ait quidam, speciosior sole, et super omnem stellarum dispositionem (Migne, Patrologia Latina 196, 1 B).
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Falschem“ (veris falsa miscent).9 Der Vorwurf der Lüge wurde ernst genommen, von den Kirchenvätern noch mehr als von den heidnischen Philosophen, und er führte in der Tat zu einer mißtrauischen Haltung gegenüber der Dichtung insgesamt und einem partiellen Verbot der Lektüre heidnischer Dichtung.10 Wenn man trotzdem an der paganen Poesie festhalten wollte, mußte der Vorwurf des Lügnerischen entschärft werden. Dies gelang Laktanz mit seiner berühmten, von Isidor ins Mittelalter weitergereichten Definition: „Die Aufgabe des Dichters besteht darin, mittels verhüllender Umgestaltung das, was wirklich geschehen ist, auf ästhetisch ansprechende Weise in andere Erscheinungsformen verwandelnd zu überführen.“11 Der Wahrheitskern einer Geschichte ist das eine (quae uere gesta sunt), deren ingeniöse Verfremdung das andere. Aber gerade die nicht-plane, transfigurierte Form der Wahrheit verleiht dieser ihren Reiz – die entsprechenden Signalwörter bei Laktanz sind species „schöne Gestalt“ und cum decore „mit Schmuck, mit Zierde“ –, und eben dieses Transfigurieren nennt Laktanz „in Lüge einhüllen“.12 Er entschärft somit den diskriminierenden Vorwurf, indem er die Berechtigung einer partiellen „Lüge“ begründet: Sie wird gebraucht, um die Wahrheit schön zu machen. Die Beispiele, die Laktanz anführt,13 zeigen, wie er zur Vorstellung einer „schönen Lüge“ kommt. Nehmen wir den Danae-Mythos, der in der euhemeristischen Deutung auf folgenden „historischen“ Kern zurückgeführt wird: Ein reicher Mann namens Jupiter verführt eine Jungfrau, indem er ihr eine große Menge Goldmünzen in den Schoß legt. Dazu die „lügenhafte“, poetische Version: Der Göttervater Jupiter strömt, sich in einen Goldregen verwandelnd, in den Schoß der im unterirdischen Gewölbe 9 Vgl. August Otto: Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Römer, Leipzig 1890, § 1444; Ludwig Gompf: Figmenta poetarum, in: Alf Önnerfors (Hg.), Literatur und Sprache im europäischen Mittelalter (Festschrift Karl Langosch), Darmstadt 1973, S. 53 – 62. – Dem Mittelalter am vertrautesten dürfte Horaz: ,Ars poetica‘ V. 151 gewesen sein: atque ita mentitur, sic veris falsa remiscet. 10 Vgl. Benedikt Konrad Vollmann: Philosophie und Poesie – zwei zankende Geschwister, in: John Marenbon (Hg.): Poetry & Philosophy in the Middle Ages (Festschrift Peter Dronke), Leiden/Boston/Köln 2001, S. 251 – 261. 11 Laktanz: ,Divinae institutiones‘ I 11,24: cum officium poetae in eo sit, ut ea quae uere gesta sunt in alias species obliquis figurationibus cum decore aliquo conuersa traducat; Isidor: ,Etymologiae‘ VIII 7,10; Hraban: ,De universo‘ XV,2 (Migne, Patrologia Latina 111, 419 C). 12 Laktanz: ,Divinae institutiones‘ I 11,31: ueritatem mendacio uelare. 13 ,Epitome divinarum institutionum‘ 11,2 – 4.
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eingesperrten Danae.14 Der Mythos regt die Phantasie der Dichter und der Maler in einer Weise an – man denke an das entzückende Bild Jan Gossaerts in der Alten Pinakothek –, wie es die historica veritas niemals vermocht hätte. Die von Laktanz gefundene Lösung – harter Wahrheitskern in schöner Schale – galt zwar speziell dem Ziel, der paganen Bildungsschicht die Bekehrung zum Christentum zu erleichtern und für die bereits Bekehrten den Zugang zur heidnischen Dichtung offen zu halten, sie wies aber darüber hinaus den Weg zu einer generellen Dichtungstheorie, indem sie der dichterischen „Lüge“ in der sich entwickelnden christlichen Kultur Raum gewährte. Dichter müssen „lügen“, weil die plane, rationale Wahrheit nicht dieselbe Lust erzeugt wie das Erfundene: „Dichtung bedeutet Täuschung; ihr einziges Ziel ist die Lust, und diese erstrebt sie, indem sie Falsches, ja sogar Unglaubliches erfindet“.15 In dem, was die Dichtung der „wahren“ Rede an Überschießendem zubringt, liegt ihr Reiz, ihr delectabile, und das bedeutet auch das dichterisch Schöne, weil „schön ist, was gefällt“.16 Nun gibt es aber verschiedene Möglichkeiten, das delectabile/pulchrum zu erzielen. I. Eine Möglichkeit besteht darin, „wahren“ Stoff durch den Einsatz poetischer Mittel zu verändern und „lustvoller“ zu gestalten. Je nach der Intensität der eingesetzten Mittel geben sich zwei Untergruppen zu erkennen. I a: Gedichte mit Verwendung des Verses und mit Anwendung rhetorischen Schmucks (Figuren und Tropen). Hierher gehört die Mehrzahl der mittellateinischen Großformen: Bibelepik, hagiographische, paränetische und lehrhafte Dichtung, Satire und historische Dichtung. (Für letztere diente Lucan als Vorbild, weil er die Wahrheit der res gestae mit dem Schmuck des Ausdrucks verband und so als historicus und poeta gelten konnte.17) I b: Gedichte, die sich nur durch die Versform von Prosastücken unterscheiden. Diese Gruppe umfaßt 14 Op. cit. 11,2: in imbrem se aureum uertisse dixerunt, ut Danaen falleret. quis est imber aureus? utique aurei nummi, quorum magnam copiam offerens et in sinum infundens fragilitatem uirginalis animi hac mercede corrupit. 15 Quintilian: ,Institutiones oratoriae‘ X 1,28: [poesis] solam petit voluptatem eamque fingendo non falsa modo, sed etiam quaedam incredibilia sectatur. 16 Thomas von Aquin: ,Summa theologiae‘ I q. 5 a. 4: pulchra enim dicuntur quae visa placent. Extrapoliert: quae audita placent. 17 Vgl. Peter von Moos: Poeta und historicus im Mittelalter. Zum Mimesis-Problem am Beispiel einiger Urteile über Lucan, in: Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur (Tübingen) 98 (1976), S. 93 – 130, bes. S. 109 – 125.
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die vor allem im 13. Jahrhundert zahlreichen Versifizierungen von Wissensgegenständen von der Bibel über artes-Disziplinen bis hin zu Medizin und Rechtswissenschaft. II. Die zweite Möglichkeit beinhaltet die Steigerung des delectabile durch den Einsatz von Fiktion. In der den Wahrheitskern einhüllenden Erfindung besteht – neben der Gestaltung von Vers und rhetorischem Dekor – das eigentliche Geschäft des Dichters. Boccaccio präzisiert in völliger Übereinstimmung mit der Tradition: „Wollte man den Dichtern die Erlaubnis verweigern, Streifzüge durch alle Arten von Fiktion zu unternehmen, wird sich ihr gesamtes Geschäft in Nichts auflösen.“18 Freilich ist nach Laktanz wie nach Boccaccio der Wahrheitskern unter der „schönen Lüge“ unverzichtbar. Bei Laktanz ist es die historische Wahrheit, bei Boccaccio eine Lebenswahrheit. Je nachdem nun, ob letztere direkt auf ein geistliches Leben oder schlicht auf ein gutes weltliches Leben zielt, lassen sich wiederum zwei Untergruppen ansetzen. II a: Gedichte, in denen der Begriff „Wahrheit“ im neutestamentlichen Sinne verstanden wird, als von Gott herkommende Wahrheit und auf Gott hin ausgerichtete Existenz.19 In diesem Sinne sind etwa fiktionale Legenden „wahr“, weil sie geistliche „Erbauung“ (aedificatio) bezwecken.20 II b: Wenn ein fiktionaler Stoff auf ein gutes (und damit in der Transzendenz verankertes) Leben hinweist – was natürlich auch durch das abschreckende Beispiel eines verfehlten Lebens geschehen kann –, dann enthält eine solche „weltliche“ Fiktion ebenfalls den geforderten Wahrheitskern. Beispiele dieser Art sind der antike Mythos, im lateinischen Mittelalter etwa der ,Waltharius‘ und der ,Ruodlieb‘ (Ritterspiegel), die ,Ecbasis captivi‘ (Gesellschaftskritik), Tierfabeln und Tiersagen (Gesellschaftskritik, Lebensklugheit), Schwänke wie ,Carmina Cantabrigiensia‘ XIVf., ,De nuncio sagaci‘, ,Unibos‘ und die ,Comoediae elegiacae‘ (Lebensklugheit). Freilich könnte einem Kritiker hier der Wahrheitskern zu sehr von der Fiktion (und vom iocus) überwuchert scheinen. Petrus von Blois etwa, der seinem Bruder Wilhelm zuerst zu seiner Elegienkomödie ,Alda‘ gra18 ,Genealogiae deorum gentilium‘ XIV,13: si auferatur eis uagandi per omne fictionis genus licencia, eorum officium omnino resoluetur in nichilum. 19 Vgl. etwa Jo 3,21; 8,44; 17,17; Röm 1,18; Eph 4,15. 20 Vgl. Benedikt Konrad Vollman: Erlaubte Fiktionalität: die Heiligenlegende, in: Fritz Peter Knapp/Manuela Niesner (Hg.): Historisches und fiktionales Erzählen im Mittelalter (Schriften zur Literaturwissenschaft 19), Berlin 2002, S. 63 – 72.
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tuliert hatte,21 drängte diesen später, von solcher „entehrenden knechtlichen Arbeit“ abzulassen.22 Der Autor der ,Ecbasis captivi‘ entschuldigt sich für seine „falsche Urkunde“ (mendosa carta, v. 40): „Es kann in der Tat nicht schaden, die ganzen Narreteien beiseite zu lassen und vernünftig zu sein. Auch ist es an der Zeit, daß Unterhaltung und Spiel dem Psalmengesang weiche.“23 Und der Dichter des ,Waltharius‘Prologs rechtfertigt das Gedicht mit der auch einem Bischof zustehenden Entspannung (ludendum, v. 19). III. Nach der Poesie der reinen Wahrheit und der Poesie der verhüllten Wahrheit bleibt als dritte Möglichkeit die Poesie ohne Wahrheit. Es ist die Poesie der nur unterhaltenden Fiktion, des anspruchslosen delectabile, vor dem Laktanz gewarnt hatte: „alles, was du vorträgst, zu erfinden, bedeutet eher, ein Schwachkopf und ein Lügner als ein Dichter zu sein.“24 Ziel solcher Fiktionen ist der willkommene Nervenreiz, der mit dem Ende des Vortrags/der Lektüre aufhört und keine tieferen Spuren hinterläßt: Spannung, Schauder, Gefühlserregung, Spaß u. ä. Die hierher gehörenden Formtypen sind Gespenster- und Teufelserzählungen, Sagen, Märchen, Schwänke, Superman-Heldengeschichten, rührselige Liebesgeschichten u. ä. Es sind die Ammenmärchen und Kunkelstubengeschichten, die Boccaccios Gegner ihm vorwerfen.25 In der lateinischen Dichtung des Mittelalters finden sich Erzählformen dieser Art nur selten. Man könnte etwa auf die Märchen ,Asinarius‘ und ,Rapularius‘ verweisen sowie auf einige Stücke der ,Carmina Cantabrigiensia‘ (XX, XXXV). Wie verhält es sich nun mit der Akzeptanz von Schönheit, Wahrheit und Lüge? Typ I ist unproblematisch; wir können ihn hier außer Acht lassen. Die Typen II b und III scheinen auf den ersten Blick verdächtig: Es gibt von ihnen nur wenige Vertreter, sie sind spärlich überliefert und viele von ihnen weisen Nähe zu volkssprachlichem Erzählen auf: Heldensage (,Waltharius‘), Tierfabel (,Ecbasis captivi‘, ,Ysengrimus‘ 21 ,Epistulae‘ 93 (Migne, Patrologia Latina 207, 292 D). 22 ,Epistulae‘ 76 (Migne, Patrologia Latina 207, 235 A): occupatione servili degenerans. – Es ist interessant zu sehen, wie Petrus ebd. 234 C–235 A die Typen II a und II b unterscheidet: ea, quae sunt rationem quidem habentia sapientiae secundum doctrinas hominum, sed non aedificant ad salutem. 23 Nimirum sapere est abiectis utile nugis / Et tempestivum psalmis concedere ludum (V. 1226 f.). 24 ,Divinae institutiones‘ I 11,25: totum autem quod referas fingere, id est ineptum esse et mendacem potius quam poetam. 25 ,Genealogiae deorum gentilium‘ XIV,10.
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u. a.), Märchen (,Ruodlieb‘, ,Asinarius‘, ,Rapularius‘), Schwank (,Carmina Cantabrigiensia‘ XIV f., XXIV, XXXV; ,Alda‘; ,De clericis et rustico‘; ,Unibos‘ u. a.). Ernsthafte Kleriker wie der alternde Vitalis von Blois mögen über diese Art von Dichtung die Nase gerümpft haben (s. o.), doch ist von einer strikten Ablehnung fiktionaler Dichtung26 oder gar einem Verbot nirgendwo die Rede. Auch die erwähnten entschuldigenden bzw. rechtfertigenden Verse in der ,Ecbasis‘ und im ,Waltharius‘-Prolog erwecken nicht den Eindruck, als stünde den Dichtern die Exkommunikation unmittelbar bevor; dafür sind sie zu heiter und zu verschmitzt. Natürlich gab es unter den Philosophen eine weit verbreitete Aversion gegen die Poesie,27 aber diese richtete sich nicht speziell gegen die fiktionale Dichtung, sondern generell gegen die bildhafte und deswegen argumentativ nicht verwendbare Ausdrucksweise der Dichter. Kennzeichnend hierfür ist das negative Urteil des Thomas von Aquin über die Poesie, die er für die „niedrigste Form der Wissensvermittlung“28 hält: „dichterische Aussagen werden von der menschlichen Vernunft nicht erfaßt wegen des ihnen innewohnenden Wahrheitsdefizits“.29 Selbstverständlich trifft dieser Vorwurf des Wahrheitsdefizits in höchstem Grad auf fiktionale Dichtung zu, aber auch für sie gilt nur, daß sie für eine philosophisch-rationale Analyse untauglich ist, nicht daß sie verboten werden muß. Vorrangiges Ziel von Dichtung ist eben ein anderes: die Gewinnung von Lust (delectatio): „Der Dichter bedient sich der Metaphern zum Zweck der bildhaften Vorstellung, denn die bildhafte Vorstellung ist von Natur aus für den Menschen lustvoll.“30 Eine solche Definition des Dichters kommt schon sehr nahe an das Selbstverständnis der Schöpfer von fiktionaler Poesie, die ihre „Lügen“ (,Ecbasis captivi‘ v. 40; ,Carmina Cantabrigiensia‘ XV,1,1 – 3) mit dem Hinweis auf den Spaß (,Carmina Cantabrigiensia‘ XIV,1a,3; XV,1,3 f.) und die Entspannung (,Waltharius‘-Prolog v.19) rechtfertigen, die ihre Hervorbringungen vermitteln. Man hat den Eindruck, daß sich die Wahrheitsforderung an den Dichter mit der Zeit 26 Die Zurechtweisung, die Petrus seinem Bruder erteilte, erklärt sich aus dessen Stand: Wilhelm war Mönch und Abt. 27 Vgl. Eduard Norden: Die antike Kunstprosa vom VI. Jahrhundert v. Chr. bis in die Zeit der Renaissance, Darmstadt 51958, S. 711 – 731. 28 ,Summa theologiae‘ I q. 1 a. 9: [poetica], quae est infima inter omnes doctrinas. 29 ,Summa theologiae‘ Ia IIae q. 101 a. 2: poetica non capiuntur a ratione propter defectum veritatis qui est in eis. 30 ,Summa theologiae‘ I q. 1 a. 9: Poeta utitur metaphoris propter repraesentationem: repraesentatio enim naturaliter homini delectabilis est.
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überlebt hatte – in der ,Poetria Parisina‘ des Johannes de Garlandia tauchen verum, veritas als poetologische Termini überhaupt nicht mehr auf –, und man hat das Gefühl, daß diese Forderung nur noch eine Zeitlang als Traditionsstück mitgeschleppt wurde, wie zuvor der Topos vom sermo rusticus in der hochkultivierten Literatur der karolingischen und ottonischen Zeit. Am häufigsten findet man im 12. und 13. Jahrhundert die Behauptung vera scribo noch bei den Autoren historischer Dichtung ( Josephus Iscanus, Walter von Châtillon, Odo von Magdeburg), aber auch hier nicht eigentlich, um den Vorwurf poetae mentiuntur zu entkräften, sondern weil die Wahrheitsbeteuerung festes Element der historiographischen Topik ist, gleichgültig ob die berichtete historia in Vers oder in Prosa abgefaßt wird. Es sei gestattet, aus dem Gesagten eine Folgerung für die volkssprachliche Dichtung zu ziehen, die überwiegend dem oben genannten Typus II b zuzuordnen ist und bisweilen noch die Verbindung zu den im lateinischen Bereich mit diesem Typ verbundenen poetologischen Fragestellungen zu erkennen gibt. So spielt etwa Thomasin von Zerklaere ,Der welsche gast‘ V. 1118 – 1120, deutlich auf die Laktanz/ Isidor-Definition an: die ventiure sint gekleit / dicke mit l ge harte sch ne: / diu l ge ist ir gezierde kr ne. Dies zu sehen ist nicht ganz unwichtig, weil es Laktanz ja gerade darauf ankam, den Zugang zum Mythos zu e r ö f f n e n . Zwar empfiehlt Thomasin V. 1139 – 1159 die Dichtung von Typ I a, aber er weiß, daß diesem Typ die Schönheit der „Lüge“ fehlt, ihre gezierde kr ne. Vor dem Hintergrund der lateinischen Dichtungstheorie und -praxis erscheint es ganz unwahrscheinlich, daß klerikale Wahrheitswächter mit erhobenem Flammenschwert versucht hätten, der Fiktionalität den Zutritt zur volkssprachlichen Literatur zu versperren, so daß die volkssprachlichen Dichter sich den Weg zu ihren Werken – speziell zum Artusroman – hätten mühsam erkämpfen müssen.31 Salopp ausgedrückt: Der Geistlichkeit war es vollkommen egal, was ein Chrétien, ein Hartmann oder Wolfram dichtete. Nach meinem Dafürhalten wurde die bereits topisch gewordene Wahrheitsforderung von den Dichtern in der Volkssprache aufgegriffen, um daran 31 Vgl. Walter Haug: Historische Semantik im Widerspruch mit sich selbst. Die verhinderte Begriffsgeschichte der poetischen Erfindung in der Literaturtheorie des 12./13. Jahrhunderts, in: Gerd Dicke/Manfred Eikelmann/Burkhard Hasebrink (Hg.): Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, Berlin/New York 2006, S. 49 – 64.
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ihre eigene Dichtungstheorie zu entwickeln und ihr dichterisches Selbstverständnis zu erläutern, nicht, um sich vor der zeitgenössischen lateinischen Literaturtheorie zu rechtfertigen, in der fiktionale Dichtung – zumindest die vom Typus II b – spätestens seit der Mitte des 12. Jahrhunderts fraglos akzeptiert war.32 Der Vormarsch der Fiktionalität – einschließlich der von Typus III – war unaufhaltsam. Die Diskussion um den Mythos und seine Wahrheit/ Teilwahrheit wird in Euticus‘ Satire zum Jux. Euticus verspottet den Zeugenbeweis für die erlogene Geschichte des Schmarotzers ebenso wie dessen Annahme, man müsse für eine Geschichte den Wahrheitsbeweis erbringen. Für Euticus muß eine Geschichte, die die Gäste beim Mahl ergötzen soll, gut erzählt sein – nichts weiter. Vielleicht sollten wir Literarhistoriker auch unseren mittelalterlichen Texten keine allzu schweren Lasten aufbürden und ihnen nichts abverlangen, was sie zu geben nicht imstande sind.
32 Die noch hie und da anzutreffenden „dichterfeindlichen“ Äußerungen sind aus dem jeweiligen Kontext zu deuten. Herrad von Hohenburg, selbst eine Dichterin, verurteilt zwar im berühmten Artes-Bild ihres ,Hortus deliciarum‘ die poetae et magi als Teufelsbündner, aber sie meint damit ganz sicher die heidnischen Dichter des Altertums, während es den spätmittelalterlichen Dichtungsgegnern (vgl. Vollmann [Anm. 10], S. 261) darum geht, das Eindringen der oratoria et poetica in den Universitätsbetrieb zu verhindern.
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Fiktionales Erzählen im Transferprozeß Zu Hartmanns ,Erec‘ und zum ,Parzival‘
Ren P rennec Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, ob und wie die Diskussion über Entstehung, Bedeutung, Ausmaß und Grenzen des fiktionalen Erzählens im hochmittelalterlichen deutschen Roman, die Fritz Peter Knapp mit verschiedenen Beiträgen1, darunter dem rezenten Aufsatz „Gescheiterte Fiktionalität. Der ,Conte du Graal‘ von Chrétien de Troyes“ [SV 139], kräftig mitgestaltet hat2, und die analytische Untersuchung des literarischen Transfers von der Romania zur Germania im selben Zeitraum einander bereichern können. Ich versuche, eigene, zum Teil verstreute Beobachtungen und Interpretationsvorschläge zu Texten, die durch diesen Transfer entstanden sind, im Hinblick auf die ,Fiktion-Historie-Debatte‘ zu reformulieren und zu präzisieren. Die gewählte Perpektive möchte ich ,kontaktphilologisch‘ nennen: Unter diesem Zeichen geht der Umgang mit romanisch-germanischen Textpaaren nicht die Wege der kontrastiven Analyse (gelegentlich auch ,Differentialanalyse‘ genannt), zu der die Nationalphilologien spontan neig(t)en, der Fokus wird nicht auf Unterschiede gelegt. Gegenstand der Untersuchung ist nicht mehr, was die Texte eigentlich trennt, sondern vielmehr das, was der Kontakt bewirkt. Analysiert werden also Formen eines literarischen ,Metabolismus‘. Bei narrativen Produktionen, die in einem Zeitalter und in einem Kulturraum entstanden sind, wo der translinguale Transfer einer zu den narrativen Großformen gehörenden Erzählung ,Wiedererzählen‘ bedeutete,3 kann man erwarten, daß die Reaktionen auf innovatorische 1
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Die einschlägige Literatur ist größtenteils zusammengestellt in: Manuela Niesner: Das Wunderbare in der conjointure. Zur poetologischen Aussage des Feimurgan-Exkurses in Hartmanns ,Erec‘, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 137 (2008), Heft 2, S. 137 – 157, Anm. 3 und 5. Germanisch-Romanische Monatsschrift NF 57 (2007/4), S. 393 – 408. Vgl. dazu den grundlegenden Aufsatz von Franz Josef Worstbrock: Wiedererzählen und Übersetzen, in: Walter Haug (Hg.): Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, Tübingen 1999, S. 128 – 142; die
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Impulse der Quelle – und die „Entdeckung der Fiktionalität“ durch Chrétien de Troyes ist eine Innovation ersten Ranges4 – sichtbar werden. Man wird a priori, grob gesagt, mit vier Reaktionsmöglichkeiten rechnen: 1) der Impuls wird ignoriert/abgewehrt; 2) er wird beschleunigt, die Innovation wird radikalisiert; 3) die Innovation wird übernommen und um im Metabolismus-Bild zu bleiben ,verdaut‘; 4) der Impuls wird in eine neue Form poetischer Energie umgewandelt.
Die Ent-deckung der Fiktionalität in Hartmanns ,Erec‘ Narrative Konsequenzen der Reaktionen vom Typ 1, 2 und 3 (bei Typ 3 muß allerdings der erste Befund in einem zweiten Schritt erneut evaluiert werden, s.u.) lassen sich in der deutschen Fassung des Romans (,Erec et Enide‘) festmachen, in dem Chrétien de Troyes die Fiktionalität in praxi erfindet und ansatzweise ,theoretisiert‘.5 Aber ihre Distribution überrascht. Bis zum letzten Drittel von Hartmanns Nachdichtung sieht es so aus, als könnte der für eine großepische Erzählung seltsam hintergrundslose conte (,Erec et Enide‘, V. 19) bzw. die bemerkenswert ahistorische estoire (V. 23) in poetologischer Hinsicht problemlos wiedererzählt werden. Das Freischwebende an Chrétiens Konstruktion scheint dem Nachdichter prinzipiell keine Schwierigkei-
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wie mir scheint, neuen Komposita „Wiedererzählung“, „Wiedererzähler“ haben sich rasch eingebürgert. Worstbrocks kulturhistorische These könnte durch eine stärkere Einbeziehung kulturgeographischer Parameter ergänzt und nuanciert werden. Dies gilt auch für Albrecht Hausmanns Einführung zum Sammelband Übertragungen. Formen und Konzepte von Reproduktion im Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von B. Bussmann/A. Hausmann u. a., Berlin/New York 2005: A. H.: Übertragungen: Vorüberlegungen zu einer Kulturgeschichte des Reproduzierens, S. XI-XX. Einiges hängt nämlich vom Grad der kulturellen Durchlässigkeit der Kontakträume ab. Nach der Einschätzung von Soetje I. Oppenhuis de Jong, die die Fragmente des mittelniederländischen ,Perceval‘ (Mitte des 13. Jahrhunderts) neu herausgegeben hat, ist diese ,transferierte‘ Fassung des ,Conte du Graal‘ grundsätzlich als Übersetzung (vertaling) einzustufen, selbst wenn sie stellenweise zur Bearbeitung (bewerking) tendiert: S. Oppenhuis de Jong: De Middelnederlandse Perceval-traditie. Inleiding en editie van de bewaarde fragmenten van een Middelnederlandse vertaling van de Perceval of Conte du Graal van Chrétien de Troyes, en de Perchevael in de Lancelotcompilatie, Hilversum 2003, u. a. S. 100. Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Eine Einführung, Darmstadt 1985, S. 105. Ebd., S. 102 – 105.
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ten zu bereiten. Es sieht so aus, als würde sich die Wiedererzählung in verständnisvoller Nachfolge zuversichtlich im Neuland der reinen Fiktionalität ansiedeln. Das oft gefällte Gesamturteil „kongeniale Nachdichtung“ scheint sich damit auch in bezug auf die poetische Grundkonzeption zu bewahrheiten. Allerdings können einige Eingriffe durch ihre ausgleichende Tendenz den Eindruck entstehen lassen, daß der Wiedererzähler (noch) nicht alle Implikationen dieses Konzepts gesehen hat. Ein Zusatz wie der stolze Hinweis von Enites Vater: ich h n gesehen den tac, / daz iuwer vater der k nec Lac/mich gesellen nande (V. 552 – 554),6 will einen internen zeitlichen Hintergrund zumindest andeuten, während es in der Vorlage nur heißt, daß Enites Vater sehr wohl von Erec gehört hat woraus sich kein Verankerungspunkt in der Vergangenheit ergibt.7 Zugleich wird damit für eine größere Realitätsnähe gesorgt, insofern das soziale Gefälle zwischen Held und Heldin reduziert wird.8 Die insistierende Wiederkehr der Bezeichnung Erec fil de roi Lac kann ähnlich beurteilt werden: Sie bringt in punktueller Wiederholung eine genealogisch-dynastische, also zeitliche Dimension ein, aber sie bildet auch das erste Segment in einer Reihe von drei Bezeichnungen (Erec fil de roi Lac, der ritter Erec, der k nec Erec), mit der eine Linie gezogen wird, die durchaus als Diskussionslinie betrachtet werden darf weshalb ja auch diese eingefügten Bezeichnungen/Attribute sich auf einem ähnlichen Reflexionsniveau befinden wie moderne Kommentare zum ,Erec et Enide‘-Roman: Wie verhalten sich Ritterbild und Königtumsidee, Automatismus der Erbfolge und Wagnis des Abenteuers zueinander? 9 Es werden im epischen Prisma, das sich beim Transfer 6 7
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Zitate nach folgender Ausgabe: Hartmann von Aue: Erec, hg. von Manfred Günter Scholz. Übersetzt von Susanne Held, Frankfurt/M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 5). V. 670: Bien avomes o / De vos parler an cest pa s. Chrétiens Roman wird nach der Ausgabe der Klassischen Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben (Bd. 17) zitiert: Chrétien de Troyes: Erec und Enide, übersetzt und eingeleitet von Ingrid Kasten, München 1979 (afrz. Text nach der Ausgabe von W. Foerster, Halle 31934). Vgl. auch V. 402: er was ein gr ve r che. Umgekehrt wird das ökonomische Gefälle gesteigert (s. insbesondere die Beschreibung von Enites Kleid). Mit diesem Eingriff in scheinbar konträrer Richtung verfolgt die Nachdichtung, die auf die erhöhende Kraft der ,edlen Armut‘ setzt, denselben Zweck. Vg. Donald Maddox: Structure and Sacring. The Systematic Kingdom in Chrétien’s Erec et Enide, Lexington/KY, 1978; Barbara N. Sergent-Baur: Erec, ,novel seignor‘ à nouveau, in: Romania 105 (1984), S. 552 – 558; dazu Verf.: Les romans de Chrétien de Troyes vues à travers leurs adaptations alle-
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bildet, Fragen soziokultureller Art sichtbar: Wie weit können die Grenzen einer imaginierten Homogenität der Aristokratie nach vorne geschoben werden, inwiefern kann das Rittertum ein gesamtaristokratisches Modell liefern? Dagegen ist ein Reflektieren der poetologischen Besonderheit der französischen Vorlage in den zwei ersten Dritteln der Nachdichtung nicht greifbar. Heißt das, daß die Reflexion stattgefunden hat und soweit internalisiert wurde, daß sie nicht an die Oberfläche dringt? Wohl kaum, denn die Eingriffe des Wiedererzählers, die eben kurz besprochen wurden, tendieren dazu, die Konturenschärfe des Entwurfs zu vermindern zugunsten einer größeren Glaubwürdigkeit, so, als wäre erst das Zwischenstadium der „geglaubten Fiktion“10 erreicht, d. h., um auf die griffige Opposition Fiktion vs. Historie zu rekurrieren,11 als wäre die Fiktion noch keine klare Alternative zur (Pseudo-) Geschichte. Zu erwägen wäre, daß das Bild deshalb unscharf ist, weil die Akkomodation nicht sofort erfolgt, will sagen: Es findet im Kontakt mit der rein fiktionalen Erzählung Chrétiens durchaus eine poetologische Reflexion statt, diese soll man sich aber als Prozeß vorstellen. Dieser Prozeß verläuft zuerst unterschwellig, macht sich erst nach dem Ende des ersten Teils des ,doppelten Kursus‘ (an diesem Terminus ist festzuhalten, solange er nicht als ,Mantra‘ benutzt wird) und ein gutes Stück noch darüber hinaus in der Form eines Abblockens von antizipierten fingierten Fragen bemerkbar,12 bis er dann plötzlich externalisiert wird, mandes, in: Willy Van Hoecke/Gilbert Tournoy u. a. (Hg.): Arturus rex. Volumen II. Acta Conventu Lovaniensis 1987, Leuven 1991. 10 So die Überschrift des Abschnitts, in dem Karl Bertau: Deutsche Literatur im europäïschen Mittelalter, 2. Bde, München 1972/1973, Bd. 1, S. 547 – 568, Hartmanns ,Erec‘ behandelt. 11 Fritz Peter Knapp: Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik, Bd. II. Zehn neue Studien und ein Vorwort, Heidelberg 2005 (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 35) [SV 10]. 12 V. 4150 – 4154: n endarf niemen sprechen daz / von wanne kæme, daz diu vrouwe baz / beide geh rte und gesach. / ich sage iu, von wiu daz geschach; V. 5153 – 5158: wundert n deheinen man, / derz gerne vernaeme, / von wannen diz phlaster kæme, / daz h te F murg n, / des k neges swester, d verl n / lange vor, d si erstarp. Das zweite von wannen? (= woher?) ist für das Prozeßhafte im ,Andocken‘ der Wiedererzählung an den Primärtext bezeichnend: Das potentielle Manko wäre im raumzeitlichen Gerüst zu suchen. Formal werden die möglichen Defizite an Maßstäben gemessen, welche zu einer an der Historie orientierten Erzählkonzeption gehören. Formal, denn der Famurgan-Exkurs, der wohlgemerkt in eine Ruhephase im Handlungsverlauf fällt, ist als ironischer Erzählerkommentar zu verstehen (Niesner [Anm. 1]); dennoch muß angemerkt werden: Mit
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demonstrativ, unter Einbeziehung einer Instanz, die in der Vorlage im Schatten blieb: des impliziten Publikums (Reaktion Typ 2).13 Der Moment, wo das geschieht, läßt sich genau bestimmen: nach dem zweiten Kampf gegen Guivreiz, d. h. nach dem Abschluß des ,doppelten Kursus‘, nachdem Erec an der gen den sant (V. 7070) angelangt ist. got helfe im n v rbaz, heißt es weiter. Ihm steht in der Tat noch einiges bevor, aber die Geschichte als Roman von Erec und Enite und nicht nur der unbescheidene haz (V. 7099) sind jetzt zu Ende. Die Bettgemeinschaft wird wiederhergestellt. Gerade in diesem Moment wird das Publikum zum ersten Mal explizit: n sage, waz wære ir bettew t? (V. 7106). Der Stellenwert des Passus ist recht hoch. Er ergibt sich aus der Gegenüberstellung der Dialogizitätskurve und des Handlungsverlaufs. Hier wird der Anfang dessen markiert, was das Ende des ,Frontal-Erzählens‘ bedeuten könnte: Fragen aus dem Hörerkreis können spontan kommen. Dieser Autonomiezuwachs bekundet sich noch an weiteren Stellen und kulminiert bekanntlich in der Beschreibung von Enites Wunder-Pferd im Auftreten eines Möchte-gern-Assistenzerzählers14 : n sw c, lieber Hartman: / ob ich ez err te? (V. 7493). Dieser Anhänger des interaktiven Erzählens wird als ,Wettermoderator‘ von zweifelhafter Kompetenz abgefertigt (V. 7511), aber er hat natürlich das Prinzip der reinen Fiktionalität zu Ende gedacht: Wenn die Erzählung nicht durch die faktische Macht des Gewesenen, also durch die Autorität der Historie gedeckt ist, kann das Publikum Mitautorschaft beanspruchen. Selbstverwaltung setzt das Engagement der Beteiligten voraus, wobei das Mitwirken sich wirklich lohnen kann. In Penefrecs Jagdrevier öffnet sich der Raum der Fiktion buchstäblich dem Publikum: n jage selbe, waz d wilt (V. 7182). ,Aktualisiert‘, dynamisch aktualisiert, wird damit eine gemeinsame Interessenbildung von Publikum und epischem PerChrétiens ,planimetrischer‘ Konstruktion konfrontiert, kann sich der WiederErzähler die Frage nach dem Woher noch nicht verkneifen. Sogar in der Beschreibung von Enites fabulösem Pferd wird er ,rückfällig‘: ez [daz pherit] enwas d heime niht erzogen. / ich sage iu, wie ez dar was komen (V. 7393 f.). 13 Verwiesen sei hier speziell auf Günter Meckes Arbeit: Zwischenrede, Erzählerfigur und Erzählhaltung in Hartmanns von Aue ,Erec‘. Studien über die Dichter-Publikum-Beziehung in der Epik (Diss.), München 1964, die in der Diskussion heute kaum noch herangezogen wird; sie enthält durchaus anregende Bemerkungen. 14 Dazu Verf.: d heime niht erzogen Translation und Erzählstil. ,Rezeptive Produktion‘ in Hartmanns ,Erec‘, in: Hartmut Kugler (Hg.): Interregionalität der deutschen Literatur im europaïschen Mittelalter, Berlin/New York 1995, S. 107 – 126, bes. 108 – 113, 124 – 126.
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sonal was im Fâmurgân-Exkurs noch bloß als erwägenswerte Option hingestellt war („ein weiser Mensch sollte Fâmurgâns Künste nicht verschmähen, bekäme er eine Salbe aus ihrer – gewiß anrüchigen – Küche angeboten“, V. 5232 – 5236). „Die Entdeckung der Fiktionalität, die mit der Wende zur ,Matière de Bretagne‘ erfolgte, bedeutet literarhistorisch gesehen einen epochalen innovativen Schritt“, schrieb Walter Haug 1985 in seiner ,Literaturtheorie im deutschen Mittelalter‘ (S. 105). Wie epochal für die deutsche Literatur dieser Schritt wirklich gewesen ist, mag hier dahingestellt bleiben. Mir scheint, daß über die Nachdichtungen von Chrétiens Romanen hinaus die Innovation nicht in die Tiefe wirkte; sicher scheint mir dagegen, daß der Schritt derart innovativ war, daß die Rezeption beim ersten ,direkt exponierten‘ Autor, Hartmann, sich in die Dauer einschreiben mußte. Davon zeugen die Prozeßhaftigkeit dessen, was man als Nachvollzug der „Entdeckung der Fiktionalität“ betrachten kann, die Theatralisierung der Implikationen dieser Erzählweise dies im ,Erec‘ sowie der Umstand, daß der Akkommodisierungsprozeß erst im ,Iwein‘ zum Abschluß kam. Die Offenlegung, die Ent-deckung des Fiktionalen im Gestus eine Dramatisierung der Erzählung beschränkt sich dort auf zwei Passagen: die Kontroverse zwischen Vrou Minne und Hartman zur Herztausch-Problematik (V. 2971 – 3028) und die Antwort desselben Hartman auf eine Frage, die von den Publikumsbänken zu kommen scheint und die die Aporie einer Koexistenz von minne unde haz in einem vazze betrifft (V. 7027 – 7074).15 Das heißt: Ganz ,verdaut‘ wurde Chrétiens Konzeption erst in Hartmanns zweitem Artusroman. Besonders deutlich ist das an den Romanschlüssen.16
Fiktionalität und Romanschlüsse: ,Charrette‘, ,Erec et Enide‘, ,Erec‘, ,Iwein‘ Mit Chrétiens Romanschlüssen hat es eine besondere Bewandtnis. Der unvollendete ,Conte du Graal‘ darf außer Betracht bleiben. Bei den anderen Romanen lassen sich folgende Feststellungen treffen: (a) Die 15 Zitiert nach der Ausgabe Benecke/Lachmann u. a. Berlin 1968. 16 S. Verf.: Zu den romanisch-deutschen Literaturbeziehungen um 1200, in: Deutsch-französisches Germanistentreffen Berlin, 30.9. bis 4.10.1987. Dokumentation der Tagungsbeiträge, Bonn 1988, S. 18 – 35.
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,Charrette‘ endet ziemlich abrupt, ist aber mit einem zunftmäßigen, phraseo- und terminologisch normgerechten Epilog versehen. Der Dichter denkt nicht daran, oltre la matire (V. 7109) zu gehen; es darf kein Zweifel entstehen: ci faut li romanz an travers (V. 7111), wörtlich: „jetzt ist die Erzählung durcherzählt“.17 Dieser Dichter ist aber nicht Chrétien, sondern Godefroiz de Leigni, li clers, der im Einvernehmen mit Chrétien den conte zu Ende erzählt. Ein Grund für den fliegenden Wechsel wird nicht genannt. Könnte es sein, daß ein solches Zu-Ende-Dichten Chrétien prinzipiell nicht lag? Auf jeden Fall läßt sich feststellen, daß er in den zwei anderen ,reinen‘ Artusromanen seinen Epilogen lange nicht dieselbe Sorgfalt angedeihen läßt wie den Prologen.18 (b) Der ,Yvain‘ bietet bloß einen kurzen Ausblick, der Happy-End-Stimmung verbreiten soll, und dann ein Explicit mit Nennung des Autornamens.19 (c) Im ,Erec et Enide‘-Roman werden die Hörer auf noch nonchalantere Weise entlassen. „Une fin de conte“, meinte einmal Pierre Gallais in der Diskussion zu einem im Rahmen der Sommerkurse des Centre de Civilisation Médiévale, Poitiers, gehaltenen Vortrag über Chrétien und Hartmann. Pierre Gallais besaß eine intime Kenntnis von Chrétiens Werk; man hatte manchmal das Gefühl, daß er ein unmittelbares Gespräch mit Chrétien führte. Wollte man versuchen, dem zu früh gestorbenen Romanisten aus Poitiers zum Gedenken diesen Kommentar auf dieser ,kolloquialen‘ Ebene zu würdigen, so könnte man sagen, daß Chrétien ihm in dieser Angelegenheit freudig zugestimmt hätte. In der Tat dispensiert Märchenhaftigkeit davon, in den Bahnen des geschichtlichen Erzählens zu verbleiben, wie F. P. Knapp mehrfach ausgeführt hat. Märchenhaftigkeit hat buchstäblich eine Alibi-Funktion. Eine Lieblingsformulierung von Pierre Gallais war: „Chrétien macht‘s 17 Chrétien de Troyes: Le Chevalier de la Charrette. Édition bilingue. Publication, traduction, présentation et notes par Catherine Croizy-Naquet, Paris 2006 (Zitate nach dieser Ausgabe), Übers. S. 441: „ici s’achève de part en part le roman“; Chrétien de Troyes: Œuvres complètes, hg. von Daniel Poirion, Paris 1994, darin: ,Lancelot ou Le chevalier de la charrette‘, hg. u. übersetzt von D. Poirion; Übers. S. 682: „ici s’arrête tout à fait le roman“. 18 Vgl. Croizy-Naquet [Anm. 17], S. 16: „ …le continuateur qui, par fidélité, veut parfiner, ,achever‘, le texte […] dans le style et l’esprit de Chrétien“, dazu weiter dort Anm. 24: „Comme le montre la reprise, dans l’épilogue, du même plan rhétorique et poétique que dans le prologue“ (mit weiterführender Literatur). Treue zum ,Geist‘ des von Chrétien verfaßten Torsos, oder Professionalität? 19 Chrétien: Œuvres complètes [Anm. 17], Textausgabe: Karl D. Uitti, V. 6816 f.: Del Chevalier au Lyeon fine / Crest ens son romans ensi.
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wie Perceval, tot el, ganz anders, er ist anderswo“. Gleichzeitig ist zu bedenken, daß der Anfang von ,Erec et Enide‘ alles andere ist als ein début de conte und (d) daß ein regelrechter Epilog nur im ,Cligés‘ zu finden ist, also in d e m Roman, der mit seiner Vorgeschichte, mit seiner Einbettung in die große Geschichte, ja die Universalgeschichte (vgl. den Prolog) eben nicht ,planimetrisch‘ angelegt ist. Man wird sich folglich fragen dürfen, ob die Unbekümmertheit der Romanschlüsse im ,Erec et Enide‘-Roman und im ,Yvain‘ nicht in einer logischen Relation zu der Grundkonzeption dieser beiden Romane steht. Wenn die Erzählung sich im Akt des Erzählens und dessen Nachvollzug konstituiert, gehört ein Abschluß nicht zum Horizont der Dichtung. Von „Romanschlüssen“ zu sprechen, wie eben getan, ist eigentlich illegitim. Man sollte eher sagen: Die Geschichte hört auf; die Stille, die einsetzt, hat die Qualität des „Friedens“ (la pes), die nach dem Ende von Yvains Abenteuern (die haben tatsächlich ein Ende) zwischen dem Helden und Laudine herrscht, sie ist ohne Ende (sanz fin) (V. 6813). Man hat in den letzten Versen des ,Yvain‘ Ironiesignale entdecken wollen. Wenn Ironie vorliegt, dann hat man es wohl mit einer poetologischen Ironie zu tun: Es besteht kein Bedarf, die Geschichte normgerecht zu einem Abschluß zu bringen, etwa mit dem Hinweis, daß bis zum Tode des Protagonisten nichts die neugewonnene Harmonie stören konnte. Und hier stellt sich wohlgemerkt das gleiche sprachliche Problem wie bei der Vokabel ,Romanschluß‘. In dem Falle bietet sich aber dem germanistischen Philologen hinsichtlich der Formulierung eine Ausweichmöglichkeit an: Der ,Yvain‘ darf als ,Geschichte‘ bezeichnet werden, wenn man den perfektivierenden Wert des ge- mental neutralisiert. Dies gilt auch für den ,Erec et Enide‘Roman, nicht aber für die Ganzheit der Hartmannschen Wiedererzählung. Hier ist der Modus der kontrastiven Analyse angebracht. Es kann kein Zweifel bestehen: Nach der Phase der theatralisierenden Radikalisierung des fiktionalen Erzählens im letzten Drittel des Romans verweigert Hartmann Chrétien glatt die Nachfolge (Reaktion Typ 1), jetzt wo es darum geht, die Erzählung ausklingen zu lassen. Hartmann erzählt sie aus und macht sie insofern zur Ge-schichte. Und er rahmt sie ein – übrigens technisch eher geschickt: Das ellende (V. 10107) des Abenteuers wird in das ellende (V. 10134) der conditio humana eingefügt. Es wird über den Weg der Analogie eine Kontinuität hergestellt. Offenbar hat die Schulpoetik hier Pate gestanden. In dem Teil des ,Erec‘, den man also mit vollem Recht als ,Romanschluß‘ bezeichnen kann, verwehrt Handwerkerstolz dem Wiedererzähler die Preisgabe zünftigen
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Erzählens, des parfiner (,Charrette‘, V. 7113). Die Erzählung soll in jeder Hinsicht perfekt gemacht werden. Erst die Lakonie der letzten Verse des ,Iwein‘ wird den Erweis dafür bringen, daß Hartmann diesen Perfektionismus definitiv überwinden konnte wenn die moderne Textedition den genuinen Hartmannschen Text von späteren Zusätzen richtig getrennt hat.20
Verdecken und entdecken helfen: die Verhandlung zwischen Fiktion und Historie im ,Parzival‘ Von Reaktionen vom Typ 4: Umwandlung der Innovation in einen poetischen Impuls ist bisher hier nur indirekt und ansatzweise die Rede gewesen. Eine solche Umwandlung hätte man sich a priori wohl als Transformation durch eine dauerhaft tragfähige Kombination der Innovationskraft mit dem Widerstandsfaktor zu denken, also mit der Tradition des (pseudo-)geschichtlichen Erzählens. Anzeichen einer derartigen Kombination waren in den zwei ersten Dritteln des ,Erec‘ wahrnehmbar, aber nur in der Form punktueller, quasi defensiver Eingriffe des Wieder-Erzählers. Versucht man, induktiv zu verfahren und sich vorzustellen, wie diese Kombination als Erzähl s t r a t e g i e aussehen könnte, so entsteht das Profil eines Textes, der sich im Prozeß des Erzählens formt (wie in Chrétiens innovatorischer Konzeption), aber eigentlich das offenlegt, was schon da war, also sich auf der Seite der Historie befindet. Ein solcher Text ist im Prinzip einem Kreuzworträtsel vergleichbar, in dem einige als Eselsbrücken intendierte Buchstaben eingezeichnet sind: Der ,Autor‘ hat innerhalb eines Koordinatensystems einen Text zusammengestellt, außer den schon er20 Abdruck dieser Zusätze nach Henrici, Zeitschrift für deutsche Literatur und deutsches Altertum 88 (1884) in: Hartmann von Aue, ,Iwein‘. Text der siebenten Ausgabe Benecke/Lachmann/Wolff. Übersetzung und Anmerkungen von Thomas Cramer, Berlin 1968, S. 225 – 228. Hs. f, Papier, 1415 abgeschlossen, spinnt den Faden der Erzählung wortreich weiter und meint wohl, alle möglichen Aspekte einer idealen Landesherr-Biographie (her ybein als König und Vater, als Stütze der Armen, als Stifter von Spitälern und Klöstern, als Straßen- und Brückenbauer) zu decken; der gerechte Landesherr belohnt alle nach ihrem Verdienst, was insbesondere der treuen Lunete zugute kommt. Auch auch die frühe Gießener Handschrift (B) läßt es sich nicht nehmen, über Lunetes Fortüne zu berichten. Der Abschied von den Hauptprotagonisten wurde anscheinend vom Schreiber als zu abrupt empfunden.
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wähnten Buchstaben diesen Text weggewischt und einige indirekte Hinweise geliefert, welche helfen sollen, das Gelöschte zu rekonstruieren; die Lösung wird zeitversetzt nachgereicht. Nun hat Wolframs Erzählweise in mehreren Segmenten des ,Parzival‘ eben ein solches Profil. Da, wo Wolfram sich eigenen Raum verschafft, neigt er ganz stark dazu, in pseudo-geschichtlichem Stil zu dichten. Dies ist an beiden Enden seines mæres besonders deutlich (ein markantes Kapitel aus einer ,Chronik‘ des Hauses Anjou als Auftakt, ein noch bemerkenswerterer Abschnitt einer ,Chronik‘ des Hauses Brabant als Ausklang). Im Werkinneren aber weist sein Erzählstil mehrfach eine Tendenz auf, die wie die Resultante der ,narrativen Vektoren‘ Fiktion und Historie anmutet. Die entsprechende Erzähltechnik, eine Technik des partiellen Verhüllens und des mehr oder weniger zeitverschobenen Enthüllens, wurde zuerst, wie ich glaube, von Dennis H. Green, der dafür die schöne, sparsame Formel „revealing while concealing“ prägte,21 identifiziert. Ulrich Ernst hat sie dann der in Analogie zum „analytischen Drama“ (zugleich Ahnherr und Paradebeispiel: König Ödipus) definierten Kategorie des „analytischen Erzählens“ zugeordnet.22 Auch er greift zu Formulierungen, die ein Nacheinander von konträr-komplementären erzählerischen Schritten suggerieren: „Verschweigen und Enthüllen“ (S. 187), „Änigmatisierung“ und „Entänigmatisierung“ (S. 167), „Widerspiel von Tabuisierung und Enttabuisierung“ (S. 177), „Wechsel von Arkanisierung und Analytik“ (S. 179). U. Ernsts Beitrag imponiert durch die Einbeziehung anthropologischer Fragestellungen (Analytik als Mittel der Auseinandersetzung mit dem Tabu), durch die Luzidität der literaturtheoretischen Reflexion und durch literarhistorische Perspektivierung, wobei der Bogen von ,König Oedipus‘ zum modernen Entwicklungsroman und zum „autoreflexiv-metafiktionale[n]“ Erzählstil „in der Art von Laurence Sterne und Jean Paul“ (S. 185) gespannt ist. Man wird sich hier auf den dritten Aspekt beschränken, der Befund ist eindrucksvoll genug; wir zitieren den Passus, der in unserem Zusammenhang am meisten interessiert:
21 Dennis H. Green: The Art of Recognition in Wolfram’s Parzival, Cambridge 1982, S. 11 – 14. 22 Ulrich Ernst: Formen analytischen Erzählens im ,Parzival‘ Wolframs von Eschenbach. Marginalien zu einem narrativen System des Hohen Mittelalters, in: Friedrich Wolfzettel (Hg.): Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze, Tübingen 1999, S. 165 – 198.
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Insofern der fiktive Narrator im ,Parzival‘ zur Spannungssteigerung bewußt Informationen zurückhält, die er gezielt erst an späterer Stelle nachliefert, und diese seine mit der Dialektik von Verschweigen und Enthüllen arbeitende Erzählstrategie auch dem Publikum expliziert, manifestiert sich eine wechselseitige Disposition von auktorialer Erzählsituation und analytischer Erzählform. Vor Wolframs ,Parzival‘ ist wohl kein Werk bekannt, bei dem die auktoriale Erzählform in Kombination mit autoreflexiver metaanalytische Narrativik vergleichbar prägnant und facettenreich ausgebildet ist. (S. 187)
Dem mag man insgesamt zustimmen. Man wird allerdings Wolframs Statur nicht unbedingt mindern, wenn man anmerkt, daß metafiktionales Spiel auch schon im ,Erec‘ begegnete. U. Ernst verbindet (wohl zu Recht) das Metafiktionale „mit dem starken Ausbau der Erzählerrolle, der eine Emanzipierung des discours gegenüber der histoire impliziert“ (S. 187). Man könnte auf der Basis des oben Dargestellten sagen, daß im letzten Drittel des ,Erec‘ der discours sich von der histoire emanzipiert, weil die erzählte histoire sich markant von der Historie absetzt. Es wäre parallel dazu jetzt zu überlegen, ob nicht einiges gewonnen wäre, wenn man im Fall des ,Parzival‘ nicht nur literarturgeschichtlich, sondern auch literaturgeographisch vorgehen und versuchen würde, den Anteil der Kontakt-Reaktivität an Wolframs Innovationen zu messen. Geht es um den thematischen Komplex „Änigmatisierung/Entänigmatisierung“, kann ein vergleichendes Hin und Her zwischen dem ,Parzival‘ und dem ,Conte du Graal‘ sogar nicht ausbleiben dies, weil die erste Tendenz sich in der letztgenannten Erzählung überdeutlich manifestiert, ja provokativ auf die Spitze getrieben wird, während ein Interesse am Gegensteuern eigentlich fehlt oder nur vorgetäuscht wird. In den Worten Karl Bertaus: Wohl mehr als andere fragmentarische Romane gibt Chrestiens PercevalFragment Rätsel auf, und es tut dies, weil es von vornherein das Rätselhafte als Thema auch stilistisch totalisiert hat. Die Technik des beschränkten Horizonts, die den Leser selbst nur Schritt für Schritt weiter sehen und ihn jetzt, am Ende, nicht weiter wissen läßt, findet sich bereits gleich zu Beginn des Romans.23
Wenn man wieder induktiv verfährt und diesmal das Blickfeld auf das Textpaar ,Conte du Graal‘/,Parzival‘ einengt, läßt sich folgende Genese der Verhüllungs- und Enthüllungstechnik Wolframs umreißen: Wolfram nimmt Chrétiens Verrätselungstechnik durchaus wahr, aber er 23 Bertau [Anm. 10], Bd. I, S. 608.
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empfindet diese Erzählweise, die in ihrer Radikalität eine Wand zwischen Erzählung und Publikum stellt, als zu schroff; er gestaltet sie rezipientenfreundlicher nach.24 Sein Erzähler sät gleichsam kleine Steine hinter sich, damit die Rezipienten einen Pfad durch das Erzählte finden können. Diese induktiv gewonnene Hypothese kann in einem Fall verifiziert werden, der (innerhalb des irdischen Koordinatensystems) wohl das verholn-ste mære um den Gral herum darstellt und bei dem man relativ gut beobachten kann, wie die Wiedererzählung im Kontakt mit der Quelle entsteht.25 Es geht um die Identität des Menschen, den man, so wird im ,Conte du Graal‘ höchst lakonisch berichtet, in einem „Zimmer“, das die Gralsprozession betritt, „mit dem Gral bedient“.26 Viel später werden Perceval und zugleich der Leser aus dem Mund des Einsiedlers erfahren, daß derjenige, der mit dem Gral bedient wird, 1) der Bruder des Einsiedlers und wie dieser Percevals Onkel mütterlicherseits ist und 2) so esperitax ist (= „in seiner reinen Geisthaftigkeit“27), daß er zur physischen Selbsterhaltung nichts anderes braucht als eine Hostie, die aus dem Gral kommt (V. 6415 – 6431). Wolfram hat in seiner ersten Gralsburgszene die zweite ,Information‘ benutzt, um ein diaphanes Bild des in seiner kemen te aufgesuchten Menschen (den aller schœnsten man / des er [Parzival] k nde ie gewan, noch gr wer dan der tuft,28 24 Wie bei Hartmanns Artusromanen wird man kaum unterscheiden können, was diese Sensibilität für die Rezeptionsbedingungen Reaktionen von außen in realen Vortragssituationen eventuell verdankt und was sich von vorneherein aus der Grundsituation des Wiedererzählers als ersten Rezipienten der fremden, ,alten‘ Erzählung und als Produzenten des erniuweten mæres ergibt. 25 Zum Folgenden s. Verf.: Zu einem europäisierten Umgang mit hochmittelalterlichen deutschen Adaptationen französischer Erzählungen, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbands 52 (2005), Heft 1: Germanistische Mediävistik und ,Bologna-Prozeß‘, hg. von Peter Strohschneider, S. 80 – 91. 26 Chrétien de Troyes: Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal. Edition critique d’après tous les manuscrits par Keith Busby, Tübingen 1993, V. 3242 – 45: Et d’une cambre en autre entrerent / Et li vall s les vit passer, / Et n’osa mie demander / del graal cui l’en en servoit […]. 27 So die Übersetzung von Felicitas Olef-Krafft: Chrétien de Troyes, Le Roman de Perceval ou le Conte du Graal. Altfranzösisch/Deutsch. Hg. (nach der Ausgabe von W. Roach, 21959) und übersetzt von F. O.-K., Stuttgart 1981, S. 183. 28 Also wohl: „noch silbriger als Rauhreif“. Ist nur das Haar gemeint? „Grauer als der Nebel“ (Übers. Peter Knecht) ist lexikalisch nicht auszuschließen, suggeriert mehr „Geister-“ als „Geist-haftigkeit“ was zum ganzen Spuk an sich nicht schlecht passen würde , läßt sich aber nicht gut mit der behaupteten Schönheit der Erscheinung verbinden. Zitiert wird der ,Parzival‘ nach der
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240, 27; 240, 30) flüchtig einzublenden; die erste Information, die Identität und die verwandtschaftliche Beziehung zum Helden betreffend, hat er aber aufgespart,29 was in einer Erzählerbemerkung, die das Publikum auf später vertröstet, unterstrichen (241, 1 – 5): Wer der selbe wære, / des freischet her n ch mære. / dar zuo der wirt, s n burc, s n lant ,/ diu werdent iu von mir genant, / her n ch s des wirdet z t (…), und dann im Bogengleichnis, dem eloquentesten Beispiel für metafiktionale Diskursivität im ,Parzival‘, begründet wird: Dem Ausbreiten auktorialen Vorwissens, des wizzens umbe die geschiht (vgl. ,Erec‘, V. 218 f.),30 soll ein Riegel vorgeschoben werden, bis die Zeit reif ist. Es ist allerdings festzustellen, daß diese geschiht sich nach vorne drängt. Kurz danach zehn Dreißiger weiter darf der Held bei der Begegnung mit seiner Kusine Sigune erfahren, daß die burc Munsalvæsche, das lant Terre de Salvæsche und der wirt Anfortas heißt (251, 2; 251, 4; 251; 16 – 19). Wer der wunderschöne alte Mann ist, wird nicht v e r raten; aber zu e r raten ist es schon; die von Sigune gelieferten Hintergrund-Informationen (251, 2 – 20) reichen dazu aus: der alte Tyturel übertrug dieses Land, ein roy m, seinem Sohn Frimutel, der tot ist; Frimutel hatte vier Kinder; zwei von ihnen sind als männliche Nachkommen erkennbar: Der vierte heißt Trevrizent und hat einen Bruder, Anfortas. Warum werden die zwei anderen Kinder nicht genannt? Da die umrissene Perspektive nicht nur eine genealogische, sondern auch eine dynastische ist, wird man vermuten dürfen: weil sie Frauen sind. Sie gehören zu den Kindern, die in j mer sint. Den j mer können sie teilen, die Herrschaft weniger. Trevrizent kann als Bewohner der geheimnisvollen kemen te nicht in Frage kommen, denn er h t armuot, was wohl impliziert, daß er sich außerhalb der überaus prächtigen Gralsburg aufhält. Wenn der schöne alte Mann der Gralsburgfamilie angehört, dann bleibt per AusschlußStudienausgabe Berlin/New York 1998: Mhd. Text nach der 6. Ausgabe von K. Lachmann. Übers. von Peter Knecht. Einführung zum Text von Bernd Schirok. 29 Diese Information wird wie bei Chrétien deutlich später vom Einsiedleroheim nachgereicht, und zwar in präzisierter (Namensnennung) und modifizierter Form (der alte Mann ist der Großvater von Parzivals Mutter: daz was Titurel. / derselbe ist d ner muoter an (501, 22 f.). 30 n enweste rec niht / umbe dise geschiht. Übers. von Susanne Held: „Erec nun kannte diese Hintergründe nicht.“ Besagte geschiht ist im ,Erec‘ das Sperberabenteuer. Bei Chrétien berichtet Énides Vater darüber (personales Erzählen); in der Wiedererzählung wird der Bericht vorgezogen (Logik der historischen Erzählung: was davor war, gehört zuerst erzählt) und vom Erzähler mit auktorialer Autorität übernommen.
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René Pérennec
verfahren nur eine Möglichkeit: Er ist kein anderer als der alte, nur eben noch älter gewordene Titurel. Fazit: Die Art, wie im ,Conte du Graal‘ über den sich jedem Blick von außen entziehenden Vorgang im geheimnisvollen Zimmer auf der geheimnisreichen Gralsburg ,berichtet‘ wird, löst eine Solidaritätserklärung des Wiedererzählers aus, der ein narratologisches Prinzip formuliert, das kurz darauf unterlaufen wird. Der Erzähler bekennt sich demonstrativ zum personalen Erzählstil, wartet aber so bald wie möglich danach mit Angaben auf, die einzeln genommen die Autorität der Chronik beanspruchen können, aber als Summe partiell bleiben und insofern einen Memorierprozeß auslösen wie alt war der Mann an dem spannbette (250, 24), war er bettlägerig? und zu mentalen Kombinationen einladen können. Der metafiktionale Einschub und das Umbiegen von Chrétiens Verrätselungstaktik in eine Verhüllungs- und Enthüllungstechnik hängen genetisch zusammen.31 Wie im ,Erec‘ die kleinen zusätzlichen Pinselstriche oder die Umstellungen (wie bei der Sperberabenteuer-geschiht), die einen Hintergrund andeuten sollen, sowie dann das Spiel mit dem Publikum entspringen sie einer Reaktion auf die historiophoben Prämissen der der Quelle inhärenten Erzählkonzeption. Daß dies im ,Parzival‘ in einem anderen Maßstab geschieht, erklärt sich zuallererst durch die andere dichterische Persönlicheit des Wiedererzählers, zugleich wohl aber durch die (verglichen mit den früheren ,reinen‘ Artusromanen) im ,Conte du Graal‘ völlig konzessionslos, ja obsessiv praktizierte „Technik des beschränkten Horizonts“. Es wäre wohl eine lohnende Aufgabe, da wo Textpaare oder Textgruppen bi- oder trilaterale Vergleiche möglich machen (man denkt dabei in erster Linie an die Konstellation französisch/niederländisch/ deutsch), literarische Phänomene, die für die Fiktion-Historie-Debatte relevant sind, durch das Prisma des translingualen Transfers auf breiterer Basis zu beobachten.
31 Vg. Ernst [Anm. 22], S. 185, Anm. 58: „Die hier vorgetragene These von der Metafiktionalität des ,Parzival‘ markiert eine Gegenposition zu der Auffassung von Fritz Peter Knapp, der die Dichtung der historia im Sinne der mittelalterlichen Gattungspoetik zuordnen möchte“. ,Kontaktpoetisch‘ gesehen sind beide Positionen nicht antagonistisch.
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Kunst vom Stahlroß bis zum Metallkügelchen Gibt es ein poetologisches Konzept in Ulrichs von Zatzikhoven ,Lanzelet‘?
Cora Dietl Für einen „unerhört schlechten Roman“1 hat man ihn gehalten, für eine reine Unterhaltungsliteratur,2 für ein didaktisches Werk3 – oder ein dynastisch-genealogisches,4 für einen archaisch strukturierten Roman, der versuche und dem es aber nicht bruchlos gelinge, „ältere Erzählmuster in eine linear motivierende Erzählweise zu integrieren“.5 Eine dezidierte Poetologie aber hat man bisher kaum in Ulrichs von Zatzikhoven ,Lanzelet‘ entdeckt. Dominique Corazolla hat in Ulrichs Roman zweierlei poetische Techniken aufgedeckt: das Prinzip der Steigerung und eine „Verschachtelungstechnik“, die mit Motivparallelen und -verschränkungen arbeite;6 Kragl beobachtet eine außerordentliche Unzuverlässigkeit des Erzählers im ,Lanzelet‘,7 beide aber zögern, deswegen bereits von einer ,Erzähltheorie‘ zu sprechen, und weisen immer wieder auf Inkonsequenzen in Ulrichs Erzählen hin. Daß Ulrich mit Motiven und Erzählmustern verschiedener Romane spielt, 1 2 3 4 5 6 7
Florian Kragl (Hg.): Ulrich von Zatzikhoven, ,Lanzelet‘, Bd. 1: Text und Übersetzung. Bd. 2: Forschungsbericht und Kommentar, Berlin/New York 2006, S. 908. Peter Wapnewski: Deutsche Literatur des Mittelalters. Ein Abriß, Göttingen 1960, S. 68; Nicola McLelland: Ulrich von Zatzikhoven’s ,Lanzelet‘. Narrative Style and Entertainment, Cambridge 2000, S. 43 u. ö. Ulrike Zellmann: ,Lanzelet‘. Der biographische Artusroman als Auslegungsschema dynastischer Wissensbildung, Düsseldorf 1996, v. a. S. 76 f. Matthias Meyer: Das defizitäre Wunder – Die Feenjugend des Helden, in: Friedrich Wolfzettel (Hg.): Das Wunderbare in der arthurischen Literatur. Probleme und Perspektiven, Tübingen 2003, S. 95 – 112, hier S. 99. Isolde Neugart: ,Ulrich von Zatzikhoven‘, in: Verfasserlexikon 10 (21999), Sp. 61 – 68, hier Sp. 66. Dominique Corazolla: Überlegungen zur Struktur und Konzeption des ,Lanzelet‘ Ulrichs von Zatzikhoven, Freiburg i.Br., Mag. (masch.) 1988, S. 49 – 54, zit. nach: Kragl [Anm. 1], S. 959. Kragl [Anm. 1], S. 962.
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die genau zu solchen Brüchen in der Konzeption führen können,8 ist offensichtlich; steht aber ein theoretisches Erzählkonzept hinter dem großzügigen Umgang mit seinen Vorlagen? Ulrike Zellmann hat in ihrer Düsseldorfer Dissertation versucht, dem Erzählkonzept des ,Lanzelet‘ im Prolog auf den Grund zu gehen.9 Sehr weit allerdings kommt sie dabei nicht; sie kann an dem eher topisch und in „Schwarz-Weiß-Manier“10 formulierten Prolog nur zeigen, daß es dem Erzähler um das prodesse der Erzählung gehe, daß er versuche, ein erlesenes Publikum an sich und an die zu kommunizierende Lebenslehre zu binden und den Eindruck zu vermitteln, daß er zwar einer Vorlage folge, dies aber keineswegs sklavisch tue. Bereits Nicola McLelland hat einer didaktischen, auf das prodesse zielenden Interpretation des ,Lanzelet‘-Prologs widersprochen: Zwar werde im Prolog der vrume dem zagen/bœsen gegenübergestellt, aber dies sei allein als eine Vorausdeutung auf die Handlung zu verstehen. „Ulrich does not intend us to learn from the work, his hero need therefore fulfil no exemplary function. The only lesson is – that there is no lesson.“11 Die Schlußfolgerung freilich, die McLelland aus ihrer Beobachtung eines mangelnden Verweises auf klare Lehrsätze zieht, nämlich daß der ,Lanzelet‘ ein reiner Unterhaltungsroman sei, ist vorschnell (sonst müßte man auch Wolframs ,Parzival‘ als reine Unterhaltungslektüre bezeichnen) und wird von Kragl zu Recht kritisiert.12 Es lohnt sich, noch einmal einen Blick auf den Prolog des ,Lanzelet‘ zu werfen. Swer rehtiu wort gemerken kan, der gedenke, wi ein w se man hi vor b alten z ten sprach, dem s t diu welt der volge jach. In d hte der niht wol gemuot, der aller der liut willen tuot. den frumen hazzent ie die zagen – das sol er mæzecl chen klagen –, s t ez in an ir herze g t, s s n dinc wol ze sælden st t. (1 – 10) 13
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Kragl [Anm. 1], S. 902 – 907. Zellmann [Anm. 3], S. 70 – 74. Ebd., S. 71. McLelland [Anm. 2], S. 46. Kragl [Anm. 1], S. 1015. Zitiert wird nach der Ausgabe von Kragl [Anm. 1].
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„Wer rechte Worte verstehen kann, der bedenke die Aussage eines weisen Mannes aus früheren Zeiten, dem seitdem die Welt die Nachfolge versichert hat. Ihm erschien der nicht wohlgesinnt, der jedermanns Willen tut. Den Rechtschaffenen hassen schon immer die Zagen. Das soll er nur in geringem Maß beklagen, da es ihnen im Herzen schmerzt, wenn er auf die sælde zustrebt.“
Hinter dem w sen man, dem – und nicht dessen Aussage – seitdem die Welt die volge zugesichert hat, eine verrätselte Autorität aus „mythisch ferne[r] Vorzeit“14 zu sehen, ist kaum nötig; liegt hier doch recht offensichtlich eine Anspielung auf Christi Ankündigung der Leiden vor, die seine Apostel ertragen müssen, wenn sie sich als seine Zeugen gegen die Welt stellen – verbunden mit einer Zusage himmlischen Lohns für den, der standhaft bleibt (Mt 10,22; Mk 13,13; Lk 21,17; Jo 15,18 f.). Daß dieses Wort Christi sich allerdings verselbständigte und auch in anderem als religiösem Kontext verwendbar war, etwa als ein Aufruf zum Widerstand gegen jede Form von Untugend und zum selbstbewußten Einsatz für die gerechte Sache gegen die feindliche Welt,15 liegt offen zutage. So greift auch Thomasin von Zerklære im Prolog des ,Welschen Gasts‘ das Bild der Verfolgung der vrumen durch die bœsen auf: Swer wol gevellt der vrumen schar, der missevellt den bœsen gar… wan swaz der vrume guots tuon mac, daz muoz s n der bœsen slac. (79 f., 85 f.) 16 „Wer immer das Wohlgefallen der Rechtschaffenen findet, der mißfällt den Bösen ganz besonders … denn was immer der Rechtschaffene an Gutem tut, das schmerzt die Bösen.“
Die Illustrationen zu dieser Stelle weisen durchweg das ikonographische Muster des Michael-Kampfes auf, während sich das Zitat im Kontext des Prologs auf die mögliche abwehrende Rezeption des vorliegenden (vrumen) Werks bei bœsen Rezipienten bezieht.17 Auch Ulrichs Erzähler stellt in den folgenden Versen klar, was er mit dem Wort Christi meine 14 Zellmann [Anm. 3], S. 70. 15 Vgl. Kragl [Anm. 1], Bd. 2, S. 1073: „Die Wendung ist sprichwörtlich“. 16 Thomasin von Zerklære: ,Der Welsche Gast‘, hg. von Heinrich Rückert, Quedlinburg/Leipzig 1852. 17 Ich danke hier Christoph Schanze, der in einem noch nicht veröffentlichten Vortrag zur Intermedialität im ,Welschen Gast‘ in Gießen (7.11.08) auf diese Prologillustration in verschiedenen illustrierten Thomasin-Handschriften hingewiesen hat.
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(V. 11), daß er sich nämlich nicht um die bœsen n dære (V. 19) scheren und sich an ein auserwähltes, höfisches Publikum richten wolle, um dessen Huld er werbe. Eine topische captatio benevolentiae liegt hier vor, verbunden aber mit einer ausdrücklichen Rückbindung des sprichwörtlich gewordenen Satzes von der Anfeindung der Rechtschaffenen durch die Tugendlosen an seine biblische Quelle. – Hat Ulrike Zellmann mit ihrer streng didaktischen Auslegung des Prologs also recht? Geht es hier darum, ein Exempel der Rechtschaffenheit zu präsentieren? Es wird allerdings nicht ausdrücklich darauf referiert, daß der Ritter, der ie n ch stæten tugenden ranc (V. 26), dem Publikum als Exempel dienen solle. Der vrume könnte auch der Dichter oder das Werk sein, wobei vrum nicht unbedingt als ein ethisch-religiöser Begriff zu verstehen ist. Es wäre durchaus möglich, zunächst nur das Werk als solches und nicht die didaktische Nachricht, die es trägt, als von den üblen Neidern kritisiert zu betrachten. Es wäre denkbar, daß Ulrichs Erzähler nicht etwa wegen des dargestellten lehrhaften Inhalts, sondern wegen der Form des Romans, wegen seines Werks als solchen, Kritik fürchtete. Der Verweis auf die Leiden der Blutzeugen Christi würde dann in ironischem18 Ton Ulrich zu einem ,Märtyrer‘ seines Erzählstils stilisieren. Ironie gegenüber Tadlern des eigenen Erzählstils wäre, blickt man auf Wolframs ,Parzival‘-Prolog (1,26 – 30; 2,17 – 22),19 keine Einmaligkeit in der Artusliteratur der Zeit um 1200. Immer wieder ist in der Forschung diskutiert worden, ob Ulrich von Zatzikhoven Wolframs ,Parzival‘ kannte.20 Auffällig ist das Ende des ,Lanzelet‘-Prologs: Kurz wird hier auf das Motiv der Namenssuche hingewiesen (V. 31 – 37), das bekanntlich der ,Lanzelet‘/,Lancelot‘ u. a. mit dem ,Parzival‘ gemein hat: noch denn was im unbekant, wie er selbe was genant und welhes adels er wære, unz daz der helt mære geschuof mit s ner manheit, daz im s n name wart geseit und darzuo gar s n k nneschaft. (31 – 37) 18 Zur Ironie im ,Lanzelet‘ vgl. Kragl [Anm. 1], S. 1043 f. 19 Wolfram von Eschenbach: ,Parzival‘, hg. von Karl Lachmann. Einl. von Bernd Schirok. Übers. von Peter Knecht, Berlin/New York 22003. 20 Vgl. Kragl [Anm. 1], S. 1058 – 60, 1096 f. u. ö.
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„Damals war ihm noch nicht bekannt, wie er hieße und welcher adeligen Abstammung er sei, bis der berühmte Held es durch seine eigene Tapferkeit erreichte, daß ihm sein Name und dazu sein Geschlecht genau genannt wurden.“
Noch kennt der Leser oder Hörer den Namen des Helden nicht. Einer Nachfrage gibt nun der Erzähler (der übrigens seinen eigenen Namen erst im Epilog preisgibt) vor zuvorzukommen: Nuo l nt es iuch niht betr gen, ich sage iu ne vr gen, wi s n gelæze wart bekant. (41 – 43) „Nun laßt es euch nicht verdrießen: Ich erzähle euch, ohne daß ihr fragen müßtet, wie er von seinen Dingen erfuhr.“
Die Frage, wie denn der Held heiße, wird nicht beantwortet. Hier beginnt der Erzähler vielmehr mit der Elterngeschichte des Helden; damit ist aber nur ein Teil der zuvor aufgeworfenen Frage beantwortet. Die Antwort freilich, die der Erzähler zu geben verspricht, nämlich wie Lanzelets Dinge ihm – oder der Literatur – bekannt wurden, erzählt erst in langsamem Gang die Geschichte selbst. Dieses Spiel mit dem Hörer oder Leser, ob er denn Fragen stellen dürfe/müsse und ob es nütze zu fragen, um das erklärt zu bekommen, was der Erzähler angedeutet hat, ist, wenn man eine Vertrautheit mit Wolframs verrätselndem Erzählstil annimmt, sehr viel leichter zu verstehen. Offenbar wird hier auf das Fragemotiv angespielt, das im Prolog und im Bogengleichnis des ,Parzival‘ immer wieder von der Handlungsebene auf den Dialog zwischen Erzähler und Rezipient herübergezogen ist. Ulrichs Erzähler gibt hier vor, sich nicht des Vorwurfs der Verdunkelung schuldig zu machen – und erzählt doch nur die Hälfte. Er stellt sich damit nicht in eine Wolfram-Nachfolge, sondern will anders erzählen als Wolfram und zugleich anders als diu welt. Er weiß, daß man ihn dafür kritisieren wird, ist aber überzeugt, daß er auf dem rechten Weg wandle, wenn das auch ein Sonderweg ist. Wenn man tatsächlich eine Wolframrezeption im ,Lanzelet‘ annehmen darf, was freilich eine relativ späte Datierung des ,Lanzelet‘ implizierte, dann dürfen wir ggf. auch im Text und nicht nur in Prolog und Epilog nach poetologischen Aussagen suchen. Florian Kragl hat, weitgehend übernommen von Brinckmann,21 eine Übersicht über die 21 Ute Brinkmann: Beobachtungen zum Erzähler im ,Lanzelet‘ Ulrichs von Zatzikhoven im Vergleich zu seinen Dichterkollegen, Diss. (masch) Wien 2004.
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Stellen zur Verfügung gestellt, in denen sich der Erzähler des ,Lanzelet‘ greifen läßt.22 Allerdings werden hier längere Exkurse nicht als solche aufgeführt, sondern nur die Verse in ihnen aufgezählt, in denen der Erzähler direkt das Publikum anspricht, was das Bild verfälscht: Nicht beachtet ist, daß sich der Erzähler gerade auch in längeren Exkursen, die Sachverhalte erklären oder Gegenstände beschreiben und deuten, zeigen und sich selbst in seiner Erzählerrolle reflektieren kann. Zwei solche Exkurse seien hier exemplarisch herausgegriffen. Nach der Drachenkußepisode, in der Lanzelet bewiesen hat, daß er so sicher zur vollkommenen Liebe gefunden hat, daß er eine Minnesünderin erlösen kann, ohne seine Bindung an Iblis zu gefährden, erinnert sich Lanzelet endlich seiner Pflichten als Landesherr und beschließt, sein Erbe in Genewîs zurückzuerobern (V. 8050 – 55). Lanzelet beruft eine Versammlung seiner Fürstreiter ein, die auf einem Hügel ze dem Wilden Ballen bei Kardigan stattfinden soll (V. 8105). Hier schaltet sich der Erzähler ein: wil ez iu wol gevallen, s sage ich iu einen schœnen list: Swer dannen ein m le ist, den dunket des n ch s ner spehe, wie er ein michel ros sehe, gegozzen zer Þre. Þ er danne imer bekÞre n hen ein halbe m le, s dunket in an der w le, wi ez ein kleiner m l s . als er aber kumet n her b , s sch net ez als ein hunt. dar n ch in kurzer stunt, s man beginnet n her g n, s ist ez als ein fuhs get n. vil schiere kumet ez dar zuo, Þ man diu ougen zuo getuo, daz man d niht gesehen mac wan ein g z, daz ie d lac, als ein kugel gedr n. ez en mçchte nieman f geh n noch von der stat bringen mit keiner slaht dingen durch s ne wunderliche kraft. (8106 – 29)
22 Kragl [Anm. 1], S. 1046 – 48.
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„Wenn es euch recht ist, dann erzähle ich euch von einer schönen Kunst: Wer eine Meile davon entfernt ist, dem erscheint es nach seiner Wahrnehmung, als sehe er ein großes Roß, gegossen aus Erz. Noch bevor er eine halbe Meile näher gekommen ist, erscheint es ihm sogleich, als sei es ein kleines Maultier. Wenn er nochmals näher hinzu kommt, dann erscheint es wie ein Hund. Schon bald danach, wenn man näher kommt, ist es wie ein Fuchs gestaltet. Sehr bald, bevor man mit den Augen zwinkert, kommt es dazu, daß man dort nichts sehen kann als einen Metallklumpen, der schon immer dort lag, in die Form einer Kugel gedrechselt. Wegen seiner wunderlichen Kraft könnte ihn niemand hochheben oder wegbringen, egal mit welchen Hilfsmitteln.“
In der Forschung ist über den Wilden Ballen verschiedentlich spekuliert worden.23 Märchenhafte und mythische Hintergründe sind für dieses Motiv geltend gemacht worden;24 nach ähnlichen mysteriösen Bergen in den Artuschroniken wurde gesucht – allerdings mit wenig überzeugenden Ergebnissen; in neueren Darstellungen wird der Wilde Bal in der Regel übersehen oder allenfalls unter die verschiedenen magischen und wundersamen Dinge im Roman subsumiert. Kragls Überlegung, daß es bedeutsam sein könnte, daß nur beim Roß und bei der Kugel von Erz die Rede sei, während zwischendurch Lebewesen genannt seien,25 ist m. E. unnötig; Maultier, Hund und Fuchs dürften, auch ohne daß der Erzähler dies einzeln erwähnt, ebenfalls aus Metall geformt sein. Eine Material- und Wesensveränderung liegt m. E. nicht vor. Die ganze Zeit geht es um künstliche, von Menschenhand gedrechselte Gegenstände. Zu beobachten ist nur eine veränderte Wahrnehmung, die als eine Perspektivumkehrung gegenüber dem natürlichen Sehen zu begreifen ist: Je näher man kommt, desto kleiner wird das Wahrgenommene. Der bal aber löst sich nicht auf, vielmehr verdichtet er sich und ist schließlich unverrückbar. Auffallend ist, daß der Erzähler hier von einem list, einer Kunst, spricht. Nicht das Herstellen der wundersamen, „gedrechselten“ Kugel aber wird beschrieben, sondern die Tatsache, daß sich die unverrückbare Kugel dem Betrachter in einer anderen als der üblichen Perspektive darstellt, gilt als list. Diese Kunst scheint gerade in dem Moment erwähnenswert zu sein, als der Held eine entscheidende Wende vom Aventiureritter zum Herrscher vollzieht und der Roman seinem Ende 23 Vgl. Kragl [Anm. 1], S. 1260 f. 24 Werner Richter: Der ,Lanzelet‘ des Ulrich von Zatzikhoven, Frankfurt/M. 1934, S. 77 f. 25 Kragl [Anm. 1], S. 1260.
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zustrebt. Dies wäre ein angebrachter Moment, um über die Perspektivierungskunst im Roman zu reflektieren. Bevor ich eine Deutung der Kugel wage, möchte ich auf eine ähnlich gebaute Passage im ,Lanzelet‘ hinweisen. Vor dem Gerichtskampf Lanzelets gegen Valerin, bei dem Lanzelet erstmals für den Hof (für die Ehe von Artus und Ginover) kämpft, kommt Lanzelet durch Zufall zur Wahsenden Warte (V. 5124). Auch hier schaltet sich der Erzähler ein, um diesen Ort zu erklären: nuo l t mich iuch berihten, wiez um die wart was gewant. man sach ber allez Engellant und noch verrer dannen. zwein vehtenden mannen was der b hel k m w t. er wuochs ouch zetelicher z t; d turnierten hundert r ter an. Swaz vorderungen ieman kan gedenken ze manheit, des wirt der d wol bereit b einer riviere, diu d vl z. kom ouch dar ein kreftic her gr z, gegen dem reit ein anderz dar. Einic man wart niht gewar wan eines andern, ob er wolte. Lanzelet sprach: „ich solte wol versuochen disiu mære, ob ez w r oder gelogen wære, wan daz wir sÞr h n getrabet.“ (5126 – 45) „Nun laßt mich euch erzählen, wie es um die Warte bestellt war. Man überblickte von dort ganz England und sah noch weiter. Für zwei miteinander kämpfende Männer war der Hügel kaum groß genug. Er wuchs auch öfter; dann turnieren 100 Ritter auf ihm. Was immer jemand sich als Probe der Tapferkeit ausdenken kann, das wurde ihm dort sofort bei einem Fluß, der dort floß, bereitgestellt. Auch wenn ein mächtiges Heer dorthin kam, dann ritt ihm dort ein anderes entgegen. Ein einzelner Mann sah dort nie etwas anderes als genau einen anderen, sofern er es wollte. Lanzelet sprach: „Ich sollte eigentlich ausprobieren, ob diese Geschichte wahr oder gelogen ist, aber wir haben es sehr eilig“.
Auch bei dieser Episode hat die ältere Forschung nach Vorlagen eines seine Größe verändernden Bergs in der keltischen Dichtung und in den Artuschroniken gesucht;26 allein Nicola McLelland hat darauf verwie26 Vgl. Kragl [Anm. 1], S. 1208.
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sen, daß nicht die wechselnde Größe des Bergs, sondern die der Zahl der kampfbereiten Ritter entsprechende plötzlich auftretende Gegnerzahl das Besondere in dieser Episode ausmache, wie ja auch in den folgenden Versen Lanzelet einen einzelnen Ritter sieht, der ihm an besagtem Fluß entgegentritt (V. 5146 – 48).27 Allein mit dieser Handlungsfunktion der Motivierung des folgenden Einzelkampfes am Fluß kann aber der Sinn dieser Episode – an einer inhaltlichen Schaltstelle des Romans – nicht erschöpft sein. Bemerkenswert ist, daß der Erzähler es ist, der die Geschichte des Berges erzählt, und daß die handelnde Figur (obgleich nicht unmittelbar angesprochen) mit Zweifel auf die Worte des Erzählers reagiert: Lanzelet selbst geht von einem unzuverlässigen Erzähler aus. Dieser aber beweist die textinterne Wahrheit seiner Rede, indem er seiner an ihm zweifelnden Figur sofort den entsprechenden Gegner schickt. Thema des Einschubs ist damit, wie es scheint, die Erzählerrolle und die Wirkung der Erzählerrede. Ähnlich wie im zuvor zitierten Exkurs über den Wilden Ballen geht es in dem Exkurs zur Wahsenden Warte primär um Fragen der Wahrnehmung: Vom Berg aus überblickt man ganz England und noch mehr. Auf den Erzähler bezogen aber bedeutet dies, daß dieser für sich in Anspruch nimmt, den ganzen Raum der mati re de Bretagne im Auge zu haben – und das genau in dem Moment, als durch die sich ankündigende Ginover-Entführung Lanzelet an den Chrétienschen Lancelot angenähert zu werden scheint. Noch mehr aber ist zu bemerken: Man sieht den Handlungsraum jeweils in der Größe, die für eine Kampfhandlung nötig ist – was der üblichen Raumregie der frühen Artusromane entspricht. Wer auf der Warte ist, sieht dort auch die ihm selbst entsprechende Zahl von Gegnern. Ob das Ganze nur eine Sinnestäuschung oder auf der Handlungsebene tatsächlich existent ist, wird nicht thematisiert: Hier, unter der Regie des Erzählers, scheint das Sehen mit dem Sein übereinzustimmen: Was der Erzähler seinen Hörer/Leser oder seinen Helden sehen läßt, das existiert so – zumindest im fiktiven Raum des Romans. Die Wahsende Warte erscheint damit als ein Ausdruck der Freiheit des Erzählers, vor dem inneren Auge des Rezipienten Räume, Personen und Handlungen entstehen zu lassen, mit Blick auf die ganze mati re de Bretagne. Wenn aber bei der Wahsenden Warte die fingierende Hand des Erzählers sichtbar wird, so könnte man sie auch beim Wilden Ballen sehen: Die Kunst, von der im Zusammenhang mit der wundersamen Kugel 27 McLelland [Anm. 2], S. 143.
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gesprochen wird, dürfte für die Dichtkunst stehen, die auch eine umgekehrte als die natürliche Perspektive beschreiben kann. Der Erzähler, der bereits im Prolog seine Freiheit gegenüber dem, was die Welt meint und für ,normal‘ hält, proklamiert und der seine Standfestigkeit gegenüber den Neidern und Tadlern behauptet, ist zusammen mit seinem Werk ebenso unverrückbar wie die Kugel. Seine Position steht fest: Er erzählt anders als ,die Welt‘, er erzählt gegen den Strich. Während Wolframs Erzähler im ,Parzival‘ seinem Rezipienten Nachfragen nicht erlaubt und seine Erzählrichtung vorgibt, ich sage die senewen ne bogen (241,8), gibt Ulrichs Erzähler vor, den Fragen des Hörers oder Lesers zuvorzukommen, um dann doch zwar ,geradlinig‘, aber nach seiner Regie, die nicht der ,natürlichen‘ Perspektive entsprechen muß, zu erzählen: gegen die Erwartungen an einen Artusroman mit einem sich über einen ersten Erfolg und eine Krise entwickelnden Helden, gegen die Erwartungen an einen ,Lancelot‘-Roman mit der Ehebruchsliebe Lancelots und Ginovers, aber auch gegen die Erwartungen an eine Exempelgeschichte mit einem eindeutig vorbildlichen Helden. Ulrichs poetologisches Konzept ist zunächst die Freiheit des Dichters, dem Handlungsräume, Figuren und Perspektiven zur eigenen Gestaltung freistehen, ja, dessen Ausführungen nicht einmal gegenüber den handelnden Figuren unbedingt glaubwürdig sein müssen. Die hier postulierte Freiheit der Fiktion und Freiheit von vorgeformten Konzepten28 freilich setzt ein Bewußtsein dieser Konzepte voraus. Sinnvoll ist das hier rekonstruierte Bekenntnis Ulrichs von Zatzikhoven zur dichterischen Freiheit und Fiktionalität nur, wenn wir Ulrichs Erzählstil nicht als ,archaisch‘, sondern als ,nachklassisch‘ (mit aller Vorsicht, die gegenüber diesem rein stilistisch zu verstehenden Begriff gebührt) begreifen. Ulrichs Montagetechnik und eine Brechung vielfältiger aus zeitgenössischen Romanen29 bekannter Motive und Muster könnte als eine spielerische oder ironisch-kritische Auseinandersetzung mit dem Artusroman verstanden werden: als eine Kritik an dem Funktionieren von Strukturmustern, ein (mit dem Adlerwappen des Reichs ausgestatteter) Gegenentwurf zu Ginovers Liebhaber Lancelot, eine Absage an die unbedingte Artuskonzentriertheit, eine Hinterfragung höfischer Normen, ein Experiment mit verschiedenen Liebes28 Zu diesen könnte auch, sofern sie denn tatsächlich existierte, Ulrichs unmittelbare Quelle, das ,welsche Buch‘ (V. 9324), zählen. 29 Vgl. Kragl [Anm. 1], S. 1050 – 62.
Kunst vom Stahlroß bis zum Metallkügelchen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40
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und Herrschaftskonzepten. – All dies setzt reiche Literaturkenntnisse bei Autor und Rezipienten voraus. Ausgehend von den bereits vorhandenen Formmustern könnte man bei Ulrich eher von einem verneinenden als von einem konstruktiven poetologischen Konzept sprechen. In jedem Fall aber scheint ein Konzept vorhanden zu sein, da Ulrichs Erzähler Exkurse über die Wahrnehmung und Kunst sicherlich nicht zufällig gerade an inhaltlichen Umbruchstellen, an denen der Held seine Rolle verändert, einschiebt.
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Erzählung und ,senefiance‘ Über das Herstellen von Komplexität in Vers und Prosa am Beispiel des ,Prosalancelot‘
Elisabeth Schmid Einleitung La grant partison de tous parliers est en .II. manieres, une ki est en prose et .I. autre ki est en risme. Mais li ensegnement de rectorique sont commun d’ambes .II. […], „die große Einteilung allen Redens besteht in zwei Arten, das eine ist in Prosa, das andere in Reimen. Jedoch ist die Lehre der Rhetorik beiden gemeinsam […]“,
heißt es in dem im zweiten Drittel des 13. Jahrhunderts entstandenen ,Trésor‘ des Brunetto Latini.1 Geht man von der vernünftigen Annahme aus, daß Geschichten in Prosa, in der commune perleure des gens (ebd.), schon immer erzählt wurden, und bedenkt man, daß die Überlieferung der Prosa notwendig an die Schriftlichkeit gebunden ist, darf man sich mit Daniel Poirion wundern, daß Entstehung wie Aufzeichnung der Prosaerzählungen gegenüber dem Versroman zeitlich später zu datieren sind.2 Aus der weiten zeitlichen Ferne und unter systematischem Gesichtspunkt betrachtet fällt hingegen auf, daß die volkssprachliche Prosa in den romanischen Literatursprachen nahezu zeitgleich in Erscheinung tritt.3 Die Koexistenz von zwei Systemen der Schriftlichkeit, die Brunetto Latini feststellt, ist jedoch in der französischen Schriftkultur seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts zu verzeichnen. Das Verhältnis von Vers und Prosa ist auch eines der Konkurrenz, die allerdings gewisser1
2 3
Brunetto Latini: Li Tresors III,10, zit. nach Daniel Poirion: Romans en vers et romans en prose, in: Hans-Robert Jauss (Hg.): Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters. Le roman jusqu’à la fin du XIIIe siècle; partie historique, Bd. IV,1, Heidelberg 1978, S. 74 – 81, hier S. 74. Vgl. Poirion [Anm. 1], S. 75. Wolfdieter Stempel: Die Anfänge der romanischen Prosa im XIII. Jahrhundert, in: Jauss [Anm. 1], S. 584 – 601, hier S. 583.
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maßen auf einem Nebenschauplatz ausgetragen wird. Die Hauptsache bildet der Prozeß, in dem die volkssprachliche Prosa beginnt, sich gegen die Vorherrschaft des Lateinischen als Bildungssprache durchzusetzen. Die Entwicklung im Frankreich des 13. Jahrhunderts, die dazu führt, „daß die dem Lateinischen eigene funktionelle Opposition zwischen Prosa und Vers auf die Volkssprache übertragen wird“,4 hat grundlegende Auswirkungen auf die Aussage in Versform, die jetzt eo ipso als Organ wahrheitsfähiger Äußerungen in Zweifel gezogen wird. Lateinische Chroniken und Predigten werden immer seltener in volkssprachliche Reimpaarverse, dafür zunehmend in Prosa übertragen. Das wachsende Ansehen der Prosaübersetzung und des weiteren der volkssprachlichen Prosa überhaupt zehrt von der Autorität der lateinischen Prosa, des Mediums, in dem schließlich die wichtigsten wahrheitbeanspruchenden Diskurse aufgezeichnet sind. Allen voran ist die Bibel zu nennen, aber auch die Chronik als Modell des Tatsachenberichts und die Predigt als Beispiel der moralischen Dignität. Eben dieser Beglaubigungsstrategien bedient sich auch der sogenannte ,Prosalancelot‘-Zyklus, der unter den im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts entstehenden Prosaromanen wohl als die bedeutendste literarische Neuerscheinung gelten darf; zumindest ist sie die am besten erforschte.5 Unter den hier angegebenen Bedingungen verwundert es nicht, daß die einzelnen Partien dieses fiktionalen Großunternehmens sich immer wieder als Übersetzung aus dem Lateinischen ausgeben, um damit ihren Fiktionen den Anschein des Authentischen, des moralisch Bedeutenden, das Ansehen der Wahrheit zu verleihen.6 Als wichtiger 4 5
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Stempel [Anm. 3], S. 586. Zwei Fragmente bezeugen, daß eine Übersetzung in deutsche Prosa noch im 13. Jahrhundert begonnen wurde, eine Arbeit, über der bis zu ihrer Fertigstellung jedoch über zwei Jahrhunderte dahingingen. Vgl. Hans-Hugo Steinhoff: Der deutsche Lancelot, in: Prosalancelot, hg. von Hans-Hugo Steinhoff, Bd. II: Lancelot und Ginover, Frankfurt a. M. 1995 (Bibliothek des Mittelalters 15), S. 764 – 766. Seit der Neuausgabe des afrz. Textes von Alexandre Micha (9 Bde., 1968 – 1983) und der zweisprachigen Ausgabe des mhd. ,Prosalancelot‘ von Hans-Hugo Steinhoff (5 Bde., 1995 – 2004) erfreut sich der ,Prosalancelot‘-Zyklus in der romanistischen wie der germanistischen Mediävistik eines regeren Forschungsinteresses. Das bezeugt in jüngster Zeit der Sammelband von Klaus Ridder und Christoph Huber (Hgg.): ,Lancelot‘. Der mittelhochdeutsche Roman im europäischen Kontext, Tübingen 2007. Vgl. dazu Fritz Peter Knapp: Erzählen, als ob es Geschichte sei. Antifiktionalität und Geschichtstheologie im ,Prosalancelot‘, in: Ridder/Huber [Anm. 5], S. 235 – 248, bes. 236 – 239; auch in: Fritz Peter Knapp: Historie und Fiktion in
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Agent in diesem Ensemble von Strategien sei die Anonymisierung des Erzählers hervorgehoben: der Kunstgriff ci dist li contes, der, indem er die Erzählung selber sprechen läßt, die Illusion der objektiven Mitteilung, des Tatsachenberichts zu erwecken sucht. In der Verteilung, in der die volkssprachliche Prosa die Position des Wahrheitsdiskurses zu besetzen beansprucht, wird der Reim als die Wahrheit verfälschender poetischer Schmuck verunglimpft und der Versdichtung als eitler Unterhaltung die Seriosität abgesprochen. Dementsprechend verwundert es auch nicht, daß die prosaische Form mit den ästhetischen Prinzipien des Versromans bricht und statt dessen eine Rhetorik der Entsagung und eine Ästhetik der Kargheit praktiziert. Dennoch beerbt der ,Prosalancelot‘ den höfischen Versroman des 12. Jahrhunderts in beinahe jeder Hinsicht, namentlich den von Chrétien de Troyes erschaffenen fiktionalen Kosmos, den die Prosa gründlich ausbeutet, nicht nur stofflich und thematisch, sondern auch was Erzähltechnik und Erzählmotive und das Profil der erzählten Figuren betrifft.7 Vor allen Dingen verdankt sich die Hauptfigur der Prosa, Lancelot, seinem Vorbild in Chrétiens Karrenritterroman. In Chrétiens Konzeption ist Lancelot, der beste Ritter der Welt, zugleich der Inbegriff der fin amor, indem er seiner Dame, der Ehefrau des Königs, mit einer Hingebung ohnegleichen dient. ,Chevalier de la Charrette‘ (,Karrenritter‘) heißt der Versroman, weil dieser Held um der Liebe willen keinen Augenblick zögert, den Schandkarren, der in der hier geltenden Ordnung der Dinge den Tod der sozialen Ehre symbolisiert, zu besteigen.
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der mittelalterlichen Gattungspoetik (II). Zehn neue Studien und ein Vorwort, Heidelberg 2005 (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften), S. 169 – 189 [SV 10]. Knapp hebt in diesem Zusammenhang die starke Präsenz von Deutungsmustern hervor, durch welche der ,Prosalancelot‘ sich an die dynastische Geschichtsepik, insbesondere die ,Historia regum Britanniae‘ des Geoffroy von Monmouth, anbindet. In Knapps Deutung setzt der ,Prosalancelot‘ allerdings nicht literarische Prinzipien der Geschichtsdarstellung ein, um an deren Ansehen zu partizipieren, sondern gibt sich dadurch als historia zu verstehen, wobei das Erfundene den historischen Rahmen ausfüllt (vgl. S. 240). Die Differenz unserer Standpunkte diesbezüglich ist aber für die Fragestellung des vorliegenden Beitrags nicht relevant. Vgl. im einzelnen Ferdinant Lot: Étude sur le Lancelot en prose. Augmenté d’un septième appendice dû à Myrrha Lot-Borodine, Paris 1984 (ND der Ausgabe Paris 1918, Bibliothèque de l’École des Hautes Études 226), S. 166 – 187.
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Die Prosa bedient sich der im Medium des Versromans entfalteten Konzepte, stellt sie indessen in ein anderes Licht und schreibt die überlieferten Geschichten um. Allerdings verwirft die Prosa das poetische Potential des Reimes. Sie schafft den anspielungsreichen Diskurs des Versromans ab, indem sie Erscheinungen von zweifelhafter Bedeutung mit regelmäßiger Wiederkehr in einer wohl an der Predigt geschulten Rhetorik mittels explikativer Rede ausdeutet.8 Aller programmatischen Eluzidation zum Trotz entstehen jedoch im weitläufigen Laboratorium des Prosaromans undurchsichtige Stellen und Dunkelzonen eigener Art, und es bildet sich in der die Prosa kennzeichnenden Ästhetik der Schlichtheit eine Komplexität neuer Ordnung heraus. Der vorliegende Beitrag geht von einer vergleichenden Lektüre des Chrétien’schen Karrenritterromans und der entsprechenden Erzählsequenz im ,Prosalancelot‘-Zyklus aus. Dabei sollen aus dem Kontrast paralleler Szenen die unterschiedlichen literarischen Strategien, die in Vers und Prosa an der Produktion von Bedeutsamkeit beteiligt sind, einander wechselseitig erhellen. In einem weiteren Schritt sollen zwei produktive Bedeutungsträger des Prosaromans hervorgehoben werden, die im Chrétien’schen Versroman keine Entsprechung zu haben scheinen: zum einen die Dualität von Vorausdeutung und Erfüllung und zum andern die Polarität von Verheimlichung und Enthüllung.
Chrétiens Errungenschaften und ihre Auswirkungen auf den ,Prosalancelot‘ Wie immer man das Aufkommen der literarischen Prosa im Frankreich des beginnenden 13. Jahrhunderts erklären mag, der Prosaroman, wie er in Gestalt des ,Prosalancelot‘ in Erscheinung tritt, ist ohne den Chrétien’schen Versroman nicht zu denken. Nicht nur stammt sein zentrales Thema, die ehebrecherische Liebe des Helden zur Königin, aus ihm, es kehren auch zahlreiche Motive namentlich aus dem Karrenritterroman, wie zum Beispiel das Land ohne Wiederkehr oder der chevaliers pensis oder auch etwa Bett und Grab als Bewährungsprobe des Helden, im Prosaroman wieder und gliedern die Handlung als rekurrente Bedeutungsträger. 8
Vgl. Poirion [Anm. 1], S. 76 f.
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Nicht zu denken ohne das Werk Chrétiens sind auch die den ,Prosalancelot‘ kennzeichnenden Erzählstrategien: Zum Beispiel das sog. entrelacement : Die Parallelführung und Verflechtung von Handlungssträngen gerät zwar im Prosaroman dank der beträchtlichen Vermehrung der als simultan zu denkenden Abenteuer zu einer neuen Qualität. D dale inextricable, ein undurchdringliches Labyrinth, hat einst Gaston Paris nicht von ungefähr die dem arthurischen Prosaroman eigene Erzählprozedur genannt. Doch das Prinzip dieses Verfahrens hat Chrétien de Troyes bekanntlich bereits in seinem ersten Versroman realisiert, indem er in ,Erec et Enide‘ die Handlung des Haupthelden mit den Ereignissen am Artushof verschränkt. Und erst recht führt der ,Conte del Graal‘ zwei gleichermaßen ausgestaltete Handlungsstränge parallel, so daß das Prinzip des entrelacement in diesem letzten Roman Chrétiens die Makrostruktur überhaupt verantwortet.9 Ebenfalls von Chrétien angeregt ist der – insbesondere aus Gründen der Erzählstrategie folgenschwere – Eid, den der König Artus am Ende des sog. ,Agravain‘ seinen Rittern abverlangt: nichts zu erzählen, was nicht der Wahrheit entspricht, aber auch kein Abenteuer zu verschweigen, und sei die Geschichte mit Schande verbunden.10 Die Formulierung ist kurios, sie ist jedoch genau kalkuliert, wie wir später sehen werden. Unschwer ist in der Anordnung des Königs Artus die zur Regel verfestigte Praxis des Calogrenant zu erkennen, der den Auftakt zu Chrétiens Yvainroman gibt, indem er sich dazu anschickt, den Rittern der Artusrunde eine Geschichte „nicht von seiner Ehre, sondern von seiner Schande“ zu erzählen: […] un conte, / non de s’enor, mes de sa honte (V. 59 f.) 11. Nicht zu denken ohne den Chrétien’schen Versroman ist die literarische Gestalt des ,Prosalancelot‘ schließlich noch in einem anderen Sinn: Da er an zentraler Stelle der Gesamtanlage Chrétiens Karrenritterroman als Episode seinem eigenen Erzählgefüge inkorporiert, lassen sich hier die Erzählmanier von Vers und Prosafassung vergleichen. Beim 9 Dorothea Kullmannn: Frühe Formen der Parallelhandlung in Epos und Roman. Zu den Voraussetzungen in Chrétiens ,Conte du Graal‘, in: Friedrich Wolfzettel (Hg.): Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze, Tübingen 1999, S. 23 – 45, hier S. 35. 10 ,Lancelot‘. Roman en prose du XIIIe siècle, hg. von Alexandre Micha, 9 Bde., Genève 1978 – 1983 (Textes littéraires français), Bd. IV, LXXXIV, 68, S. 393. 11 Chrestien de Troyes: ,Yvain‘, übers. und eingel. von Ilse Nolting-Hauff, München 1983 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 2), V. 59 f.
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vergleichenden Lesen springen kapitale Verwerfungen ins Auge, zunächst die massiven Streichungen, namentlich die Elimination der ovidianisch inspirierten Rhetorik und der höfischen Liebespsychologie. Mag zum Beispiel Lancelot bei Chrétien auch äußerst wortkarg sein und sind auch die Verlautbarungen der Königin von lapidarer Kürze, so ist doch etwa das Streitgespräch, das Lancelots Herz mit seinem Verstand führt, oder die Beichte, welche die Königin bei sich selbst ablegt, von lebhaftester Eloquenz. Solche Selbstgespräche und Reflexionen, welche uns den inneren Zwiespalt der Figuren erklären, fallen in der Prosa weg. Sie tilgt auch ungerührt die religiöse Semantik aus der Liebespassion und filtert aus den Ekstasen des Helden die Dramatik heraus. Die Szene zum Beispiel, in der Lancelot angesichts eines Haarbüschels aus dem Kamm seiner Dame in Trance verfällt, wird, wie seinerzeit bereits Ferdinand Lot bemerkte, in der Prosa regelrecht abgewürgt.12
Wortwitz versus dramatische Ironie Mit dem Vers legt die Prosa-Erzählung nicht zuletzt die formale Schönheit ab, sie verzichtet auch auf ironischen Doppelsinn, auf Wortspiele und witzige Pointen, auf komische Effekte, welche der Reim, namentlich der homonyme Reim, jedenfalls in der Chrétien eigenen Meisterschaft, erzeugt. Man erinnere sich etwa an den etymologisierenden Wortwitz im Prolog zum ,Yvain‘ über die immensen Kosten, die ein arthurisches Pfingstfest verursacht: A cele feste, qui tant coste, / Qu’an doit clamer la pantecoste 13, oder an den Prolog zu ,Erec et Enide‘, wo sich der Dichter – es ist das einzige Mal in seinem Œuvre – mit seinem Herkunftsnamen als Chrétien de Troyes, als Christ von Troja, vorstellt. Dabei spart er nicht mit Selbstruhm: Seine Erzählung von Erec und Enide werde so lange im Gedächtnis bleiben, wie die Christenheit Bestand habe, Tant con durra crestiantezs; / De ce s’est Crestiiens vantez,14 so brüstet sich der Dichter und bringt es damit fertig, Chrétien de Troyes zu rühmen und es auch noch selbst zu sagen. Oder denken wir an den jungen Perceval, der in seiner ersten Konfrontation 12 Vgl. Lot [Anm. 7], S. 391. 13 Chrestien de Troyes: ,Yvain‘ [Anm. 11], V. 5 f. 14 Chrétien de Troyes: ,Erec und Enide‘. Übers. und eingel. von Ingrid Kasten, München 1979 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 17), vgl. V. 13 – 26.
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mit den Rittern und den Utensilien der Ritterschaft seinen völligen Mangel an Weltwissen und Sachverstand an den Tag legt, dafür aber ungebremsten Wissensdurst. Auf seine Frage nach dem Gegenstand, den der Ritter in der Hand hält, bekommt er zur Antwort: „Ich werde es dir sagen: dies ist meine Lanze“: Jel te dirai: ce est ma lance.‘ / ,Dites vos‘, fet il, ,qu’an la lance / Si con je faz mes javeloz? 15 „Wollt Ihr damit sagen, daß man sie schleudert, wie ich es mit meinen Wurfspießen mache?“ Wie einfältig er doch sei, bekommt Perceval von seinem Gegenüber zur Antwort, einem Jüngling, dessen eigene Ritterwürde, wie wir erfahren, allerneuesten Datums, nämlich noch nicht fünf Tage alt ist. Selbstverständlich sei die Lanze zum Zustoßen. Dennoch gibt die Erzählung dem ritterlichen Fachmann nur zur Hälfte recht. Spricht sie dem ungebildeten Kind vom Lande auch den Sachverstand ab, so begabt sie ihn dafür mit einem scharfsinnigen Sprachverstand. Ebenso entschieden wie dem graziösen Spiel mit den Signifikanten scheint die Ästhetik der Prosa dem Entfalten von komischen Effekten zu entsagen. Einen wohl singulären Fall, der in der Karrenritterepisode einen Anflug von Komik verrät, hat bereits Ferdinand Lot erwähnt.16 Dabei geht es um Folgendes: Obwohl die Königin in der Gefangenschaft streng bewacht wird, dringt Lancelot in ihr Schlafgemach ein, wobei er sich Verletzungen zuzieht. Nach der Liebesnacht weist die Bettdecke der Königin Blutspuren auf, die Meleagant, Lancelots Rivale um die Gunst der Königin, bei seiner morgendlichen Kontrollvisite sogleich entdeckt. Sein Verdacht fällt jedoch nicht auf den erfolgreichen Gegenspieler, sondern auf den seinerseits schwer verwundeten Keie, dessen Krankenlager im Schlafgemach der Königin aufgeschlagen ist. Nun tadelt zwar der verschmähte Liebhaber die Königin wegen ihres Treuebruchs an ihrem Gemahl, dem edelsten Herrn der Welt. Doch richtig empört zeigt er sich darüber, daß die Königin ihm einen derart niedrigen Kerl wie Keu vorgezogen habe. Und sogar Lancelot, meint Meleagant, wäre ein minder schlimmer Mißgriff gewesen: Dame, bien vos a mes peres gardee de moi, mais de Keu le seneschal vos a il mal gardee: si est grant desloialt de tel dame com l’en vos tesmoigne, qui honissies le plus preudome del mont por le plus malves: si me torne a grant despit, kar vos me refusastes por lui; al mains vail je miels de lui, kar je vos conquis vers lui par force 15 Chrétien de Troyes: ,Der Percevalroman‘, übers. und eingel. von Monica Schöler-Beinhauer, München 1991 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 23), vgl. V. 197 – 99. 16 Vgl. Lot [Anm. 7], S. 399.
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d’armes. E certes miels valt encore Lancelos qui por vos a tans mals eus, si les a mal enploi s, kar honteusement sont gueredon servise de feme et de diable. 17 „Madame, mein Vater hat Euch gut vor mir bewahrt, aber vor Keu, dem Seneschall, hat er Euch schlecht bewahrt; und das ist ein großer Treuebruch von einer Dame, der man solche Ehre erweist wie Euch, daß Ihr den edelsten Mann der Welt schändet und den niedrigsten Kerl nehmt: Und für mich ist es der reine Hohn, denn Ihr habt mich seinetwegen verschmäht; wenigstens bin ich mehr wert als er, denn ihm habe ich Euch im Kampf abgejagt. Und gewiß ist sogar Lancelot noch mehr wert, der für Euch so viele Mühen erlitten und sich umsonst geplagt hat, denn übel wird belohnt, wer den Frauen dient – und dem Teufel!“ ,Nun ist es noch erger, frauwe‘, sprach er und wiset sie das blut bi ir. ,Min vatter hat uch wol behut vor mir; het er uch vor mym herren Key als wol behut, der den besten man uneret der nu lebet, ein unwert bçse wicht als er ist! Darzu uneret ir Lancelot, den besten ritter den man leben weiß, der manige starcke arbeit durch uwern willen erlitten hat. Das mag im lang rfflwen, wann er gefreischet das ir uch geunert hantt mit dem bçsten wicht den man nu lebende weiß.‘ 18
Ob Komik oder Humor: Der Effekt wird an dieser Stelle nicht durch irgendeine Mehrdeutigkeit des Wortmaterials erzeugt, sondern die Erzählung setzt ein völlig anderes Verfahren ein: Die Wirkung beruht darauf, daß der Leser über den wahren Sachverhalt in Kenntnis gesetzt ist, während die Figur der Handlung, Meleagant, die Lage völlig verkennt, und zwar in mehrfacher Hinsicht: Nicht nur täuscht er sich über die Identität des glücklichen Liebhabers, sondern seine misogyne Bemerkung zum Frauendienst (die in der deutschen Fassung nicht vorkommt) straft zudem die behauptete Erhabenheit seiner eigenen Person über diesen groben Klotz von Keie Lügen. Und obendrein erkennt Meleagant nicht, daß ihm selbst als dem wahrhaft unfeinen Kerl in diesem Spiel eo ipso das Reich der fin amors verschlossen bleibt; angesichts all dessen dürfte wohl in diesem Fall von dramatischer Ironie zu sprechen sein, einem Darstellungsmittel, das man jedoch, wenn ich recht sehe, in Chrétiens Werk, wenigstens in dieser Form, vergeblich suchen wird.
17 ,Lancelot‘ [Anm. 10], Bd. II, XXXIX, 39, S. 76 f. 18 ,Prosalancelot‘ [Anm. 5], Bd. 2, S. 420,16 – 22.
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Die Produktion von Bedeutsamkeit in Vers und Prosa Auffällig ist durchwegs, daß die Prosaerzählung nach Kräften die Neutralisierung der in der Versfassung angelegten metaphorischen Dimension betreibt. Damit meine ich nicht nur die flagrante Zurücknahme bildlicher Ausdrucksweise, sondern im weiteren Sinn die Prozedur, die darin besteht, das reflexive Potential eines Abenteuers zu kappen oder die in der Versfassung angelegte, nicht zu kontrollierende Bedeutungsfülle zu kanalisieren. Als Beispiel sei das Abenteuer auf dem gefährlichen Bett erwähnt, auf dem der Karrenritter seine erste Herausforderung bestehen soll. Das Bett, so wird Lancelot in Chrétiens Version bedeutet, sei nicht für in Schande gefallene Ritter gedacht, wie er einer sei; vielmehr sei es ein Bett, das eines Königs würdig wäre: Bien fust a o s un roi metables. 19 Das will Lancelot erproben. Um Mitternacht fährt wie ein Blitz eine Lanze herunter „und wollte den Ritter durch die Flanken ans Bett heften, auf dem er lag“: […] et cuida coudre / Le chevalier parmi les flans (ebd. V. 520 f.). Das Eisen streift den Ritter an der Seite, schürft ihm etwas Haut ab, verletzt ihn indessen nicht. Diese Szene erinnert natürlich an eine vergleichbare Konstellation im ,Conte del Graal‘. Dort wird die Lähmung des Fischerkönigs einem Wurfspeer zugeschrieben, der ihn verstümmelte, indem er ihn zwischen beiden Hüften verletzte: Parmi les hanches ambedeus. 20 Die Prosa hingegen tilgt die Anspielung auf das Königsprivileg, das Lancelot sich hier anmaßt, und spricht lediglich von einem kostbaren Bett. Weggefallen sind auch die Zielrichtung der Lanze sowie die mysteriöse Andeutung einer absichtsvollen Aktion. Dafür versieht die Prosa die Szene mit einer Fülle von Zeitadverbien und räumlichen Details. Auf diese Weise markiert sie die zeitliche Progression der Handlung ebenso wie einen kontinuierlichen Raum.21 Was Chrétiens Fassung betrifft, so lassen die intertextuelle Parallelstelle zum einen und der Erzählkontext zum andern es nicht verfehlt erscheinen, die gezielte Aggression aus der oberen Region in dieser Szene als Kastrationsdrohung zu lesen. Eine solche Lesart erklärt nicht die Funktion der Episode in der Handlung, und es ist damit auch nicht der Stellenwert dieses Abenteuers, auf welcher Metaebene auch 19 Chrestien de Troyes: ,Lancelot‘, übers. und eingeleitet von Helga Jauss-Meyer, München 1974 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben13), V. 514. 20 Chrétien de Troyes: ,Der Percevalroman‘ [Anm. 15], V. 3513. 21 Vgl. Poirion [Anm. 1], S. 78 f.
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immer (etwa als Bedeutungsträger in einer aufsteigenden Linie), festgeklopft. Sondern, wie mir scheint, ist Chrétiens Erzählweise darauf angelegt, durch die spezielle Inszenierung dieser Bewährungsprobe zusätzlich auf eine heikle Dimension der Gefahr anzuspielen, welche mit dem verbotenen Begehren verbunden ist. Was die Produktion von Bedeutsamkeit betrifft, so verschieben sich die Gewichte noch deutlicher in einer anderen Bewährungsprobe, dem Abenteuer auf dem Friedhof. Im Versroman führt ein alter Mönch Lancelot zuerst durch eine Reihe von Gräbern, sie tragen die Namen derer, für die sie bestimmt sind: Z. B. steht da Gauvain oder Yvain oder noch anderes. Dennoch fragt Lancelot, wozu die Gräber da seien (de quoi servent?, V. 1888). Er habe ja die Inschriften gelesen, und wenn er sie gelesen und verstanden habe, dann wisse er auch, was sie besagen und was die Gräber bedeuten: Et que les tonbes senefient (V. 1892). Ein Sarkophag jedoch ist besonders prächtig, und so fragt Lancelot auch nach dessen Bestimmung. Hier besagt die Schrift jedoch etwas anderes: Derjenige, heißt es, der die Grabplatte aus eigener Kraft hochheben könne, werde alle (Männer und Frauen) befreien, die in diesem Land gefangen seien, aus dem noch nie jemand (weder Knecht noch Edelmann) zurückgekehrt sei: Getera ceus et celes fors, Qui sont an la terre an prison, Don n’ist ne sers ne jantis hon Qui ne soit de la antor nez. (1914 – 17)
Indem Lancelot diese Probe besteht, offenbart er sich nicht nur als der zu erwartende Befreier der Königin, sondern als der künftige Retter aller. Doch der Erlöser in spe stellt noch eine Frage. Wissen will er, wer einmal in diesem Grabe liegen werde: „,Das ist der‘, bekommt er zur Antwort, ,der diejenigen befreien wird, die in der Falle gefangen sind in dem Reich, aus dem niemand entkommt‘“: Tous ces qui sont pris a la trape / El reaume don nus n’eschape (V. 1947 f.). Die Eröffnung des Grabs verweist natürlich zum einen metonymisch auf die Auferstehung Christi und lädt insofern den ritterlichen Helden als Erlöserfigur mit höchster Bedeutung auf. Zum andern ist die Öffnung des Grabs im Kontext der Handlung ein Gleichnis der Befreiung überhaupt. Zugleich ist das Grab, der Ort, der den Toten bestimmt ist, ins Bild der unentrinnbaren Falle gesetzt (la trape don nus n’eschape): Die metaphorische Dimension aktiviert die gegenteilige Bedeutung, das Grab als Gefangenschaft ohne Ende, und induziert damit den Gedanken an den Tod als Ende
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schlechthin. Dieses bedeutungsschwere Spiel mit der Semantik des Grabes bekommt sein Korrelat auf der Seite des Helden, wird der doch gerade in dem Augenblick, der ihm seinen exzeptionellen Rang bescheinigt, an seine Endlichkeit erinnert, erfährt er doch zugleich mit der Auskunft, die ihn als Erlöser auszeichnet, daß er in sein eigenes Grab geschaut hat. Als Lancelot in der Prosafassung zum Friedhof gelangt, wird er dort bereits erwartet als derjenige, der gekommen ist, die Gefangenen zu befreien, und er wird auch gleich an eine im Friedhof eingerichtete Bewährungsprobe verwiesen (essai 22), an der es sich erweisen soll, ob er der erwartete Erlöser ist. Hier wird Lancelot nun mit zwei Gräbern konfrontiert, und beide bergen einen Leichnam, und in beiden Fällen ist es ein Vorfahr väterlicherseits aus dem Zeitalter der Geschichte des Heiligen Grals. Im ersten Grab ruht König Galahad, Sohn des Joseph von Arimathia und erster christlicher König von Gales.23 Lancelot ist nicht nur direkter Abkömmling des Königs Galahad, sondern auch dessen Namensvetter, hatte er doch, wie er jetzt erfährt, in der Taufe den Namen Galahad empfangen.24 Mit der Befreiung dieses Ahnen aus seinem Grab hat Lancelot das ihm bestimmte Abenteuer vollendet, und der Leichnam des Königs Galahad kann zur Ruhe gesetzt werden. Im zweiten Grab liegt Symeu, ein Neffe des Joseph von Arimathia.25 Wer die zweite Grabplatte zu heben vermag, so heißt es, wird das Abenteuer von Britannien zu Ende bringen.26 Angesichts des zweiten Sarkophags jedoch, der in hellen Flammen steht, muß Lancelot zu seiner äußersten Beschämung kapitulieren. Das Ergebnis des Friedhofsabenteuers ist, daß Lancelot es nur zur Hälfte bestanden hat. Er hat sich zwar als Bezwinger dieses aktuellen Erlösungsabenteuers qualifiziert, aber das höchste Abenteuer, die Suche nach dem heiligen Gral, wird ein anderer vollbringen. Lancelot ist zwar der beste Ritter, der zur Zeit lebt, aber nicht der beste Ritter der Welt überhaupt. In der Friedhofsszene der Prosa kann keine Rede sein von einer Verschränkung metaphorischer und metonymischer Beziehungen. Wir würden hier die poetische Dichte und die abgründige Dialektik, die sich in Chrétiens Versen artikulieren, vergeblich suchen. Anders stellen sich jedoch die Verhältnisse dar, wenn 22 23 24 25 26
,Lancelot‘ [Anm. 10], Bd. II, XXXVII, 31, S. 33. Ebd. ,Lancelot‘ [Anm. 10], Bd. II, XXXVII, 39, S. 36. Ebd. Ebd.
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wir dieses Szenario des Prosaromans innerhalb der Gesamtanlage des Vulgata-Gralzyklus betrachten. Dann stellt dieses Abenteuer sich als zentraler Knotenpunkt und als bedeutende Schaltstelle in diesem Schienensystem heraus. Als Knotenpunkt: insofern die beiden Vorfahren aus der Tiefe der Zeiten auf die ,Estoire del Saint Graal‘ zurück- und auf die ,Gralsqueste‘ vorausweisen. Lancelot erfährt nicht nur, daß er aus dem Geschlecht des erwählten Gralhüters stammt, er erfährt auch, daß sein Taufname Galahad ihm abhanden gekommen ist. Daß eben dieser Name dem ultimativen Vollender aller Abenteuer vorbehalten ist, wird allerdings noch nicht enthüllt. Dennoch markiert diese Szene bereits eine Schaltstelle: Daß ein jungfräulicher Ritter kommen wird, der seinen Vater überflügeln soll, daß der Löwe den Leoparden übertreffen wird, das kann der Leser wissen aus einer Vorhersage aus der Ära Galehauts.27 Aber der Freund Galehaut verschont Lancelot mit dem fatalen Wissen, das ihm durch die Traumdeutung des Meisters Helie zuteil wurde, auch wird in jener Zeit noch kein Name bekanntgegeben. Hier, in der Friedhofszene nun, ist der Augenblick, da Lancelot zum ersten Mal seine Liebe zur Königin als Sünde verdammt28 und sich selbst ins Glied zurückgesetzt sieht, als einer in der Linie, welcher der jungfräuliche Sproß entspringen wird, in dem diese ritterliche Heilsgeschichte kulminieren soll: Galahad. – Der ,Prosalancelot‘ sei „d’un bout à l’autre une œuvre symbolique dans le sens le plus élevé du mot“.29 Ob im höchsten Sinn, falls damit der ästhetische Rang gemeint sein sollte, wüßte ich nicht zu sagen; gewiß jedoch in dem Sinn, daß hier, und zwar in der Form der Prosa, von den bedeutendsten, den höchsten Dingen die Rede ist. Vor allem trifft die mit dem Terminus „œuvre symbolique“ getroffene Diagnose in dem genauen Sinn zu, daß dieses monumentale Werk von einem Ende zum andern mit Merkmalen und Wahrzeichen durchsetzt ist, mit Anzeichen, Voraussagen, Träumen, deren Wahrheit sich in der Zukunft offenbaren soll: Offenbarungen, die sich dann ihrerseits nur als unvollständige Enthüllungen herausstellen, so daß die Zeit der letzten Erfüllung, die Stunde der Wahrheit, sich immer wieder hinausschiebt. Das Verschweigen oder nur teilweise Preisgeben von 27 Vgl. ,Lancelot‘ [Anm. 10], Bd. I, IV,35 – 41, S. 52 – 56. 28 Die Formulierung ist diskret in der langen Fassung der Episode (Bd. II, XXXVII, 40. S. 36 f.) und schonungslos deutlich in der kurzen (Bd. III, XXXVII,40, S. 293). 29 Lot [Anm. 7], S. 406.
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Informationen kann drohendes Unheil hinauszögern oder aber im Gegenteil zu interpersonellen Komplikationen führen. Die partielle Offenbarung als Kunstgriff der Erzähldiegese sowie auf der Ebene der handelnden Personen das Reden in Andeutungen oder aber das beredte Schweigen: Beide Faktoren sind geeignet, Fehldeutungen und Mißverständnisse zu produzieren, und beide sind potente Motoren in der Herstellung von narrativer Komplexität. Doch insofern die Bewährungsproben vergangene Andeutung und künftige Bedeutung eng führen, insofern sie die senefiance direkt zum Thema machen, betreiben diese Partien systematisch die Reduktion von Komplexität: Die beiden Gräber, die Bewährung zur einen Hälfte, das Scheitern zur andern, lassen nichts in bedeutungsvollem Dunkel, sondern sind ein exakter Gradmesser von Lancelots Konjunktur.
Vorausdeutung und teilweise Enthüllung In der eben besprochenen Szene wurde das Thema des Grals nicht eben laut, doch unmißverständlich angeschlagen. Dann tritt es zunächst zurück zugunsten von Liebe und Ritterschaft. Aber später, in der sog. Karrenritter-Suite und im sog. ,Agravain‘, setzt es sich zunehmend durch: Drei Helden wird ein Gralabenteuer zuteil, Gauvain, Lancelot und Bohort; in allen drei Fällen funktioniert das Erscheinen des Grals als Bewährungsprobe, und in allen drei Fällen ist neben dem Gral das Bett von Bedeutung. Gauvain wird sein Scheitern unmittelbar vor dem Eintritt in die Sphäre des Grals wiederholt angekündigt, und es kennzeichnet diesen Ritter, daß er das Abenteuer dennoch unverdrossen in Angriff nimmt. Gauvain beobachtet auf Corbenic die Liturgie des Grals mit interessiertem Unverstand wie etwa der protestantische Besucher eine katholische Messe. Er sieht die Taube, die ein Weihrauchfaß im Schnabel hält, sieht, wie die Anwesenden bei ihrem Anblick niederknien und aufstehen und an Tischen Platz nehmen, ohne ein einziges Wort zu sprechen, sondern einzig in ihr Gebet vertieft sind. Gauvain setzt sich mit den andern hin, verwundert30, jedoch ihre Andacht belächelnd31. Während die anderen Anwesenden sich beim Erscheinen des Grals verneigen, also die Augen senken, nimmt Gauvain das kostbare 30 ,Lancelot‘ [Anm. 10], Bd. II, LXVI,11, S. 376. 31 et s’en rit de chou qu’il voit, den Hss. M (B.N. 110) und S (Br. Mus. Additional 10293, Hs. von Sommer) zufolge. Vgl. ebd. Fußnote d.
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Gefäß ohne Scheu in Augenschein; dabei irritiert es ihn sehr, daß er nicht herausfinden kann, aus was für einem Material es gemacht ist. Sowie jedoch sein Blick auf die Trägerin des Gefäßes fällt – es ist die Tochter des Gralkönigs –, versinkt er ähnlich wie in Wolframs Gralszene der heidnische Feirefiz angesichts von Repanse de Schoye in die Betrachtung ihrer Schönheit und hat nichts anderes mehr im Sinn. Als die Jungfrau mit dem Gral an den Rittern vorüberschreitet, kniet ein jeder vor dem Gral nieder, und zugleich füllen sich die Tische, indem der Gral an ihnen vorübergetragen wird, mit den erlesensten Speisen. Nur vor seinem eigenen Platz sieht Gauvain nichts. Wiederum wie dem ähnlich weltlich gesinnten Feirefiz wird ihm die Speisung durch den Gral versagt,32 nur daß die Erzählung in dieser Partie des Prosaromans die Beweise weltlicher Gesinnung exakt verzeichnet, um des Helden zweifelhaften Status auf der Erfolgsskala des Grals abzubilden. – Gauvains zweite Probe auf dem Gralsschloss Corbenic besteht darin, daß er auf dem Lit aventurous einen übermächtigen Angriff überstehen muß. Gauvain weiß sich chancenlos, stellt sich jedoch ungeachtet seiner Erschöpfung jeder Herausforderung. Das Ergebnis ist ein Fehlschlag, der allerdings durch eine Sukzession zwiespältiger Zeichen kommentiert wird: Einerseits folgt auf ein kosmisches Ungewitter eine sanfte Brise, und es ereignet sich auch eine zweite Erscheinung des Grals, begleitet von Wohlgesang. Doch nach dessen Verschwinden wird es stockfinstere Nacht vor Gauvains Augen. Zwar ist ihm das Augenlicht geschwunden, zugleich aber fühlt er sich auf wunderbare Weise erquickt und wiederhergestellt. Unverzüglich aber wird er von unsichtbaren Händen gepackt, und als er am nächsten Morgen aus seiner Ohnmacht aufwacht, findet er sich gefesselt auf einem Schandkarren wieder.33 Abgesehen von der Schande wird Gauvain auf dem Lit aventurous eine Vision zuteil: Er sieht einen Drachen, der vergeblich versucht, einen Leoparden zu besiegen. Und er sieht, wie der Drache, der eine Menge kleiner Drachen hervorgebracht hat, von diesen attackiert wird und wie sie einander am Ende gegenseitig umbringen. Die Deutung dieser Vision erfährt Gauvain wie üblich von einem Eremiten, der damit dem ob seiner jüngsten Mißerfolge erschütterten Gauvain einen doppelten Schlag versetzt. Der große Drache und seine Jungen bedeuten 32 Vgl. ,Lancelot‘ [Anm. 10], Bd. II, LXVI,11 – 14, S. 376 – 378 und Wolfram von Eschenbach: ,Parzival‘, hg. von Karl Lachmann, ND der 6. Aufl. von Eduard Hartl (1926), Berlin 1965, 810,3 – 13 und 813,32 – 13. 33 ,Lancelot‘ [Anm. 10], Bd. II, LXVI,16 – 31, S. 378 – 385.
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den König Artus und seine Ritter, die sich einst gegenseitig ausrotten werden. Die Dunkelheit, die Gauvains Augen im Pales Aventurous umfing, bedeutet, daß das Licht seines Ruhms erlöschen wird.34 Auf diese Weise teilt die Erzählung dem weltlichsten aller Artusritter im Medium seines gescheiterten Gralabenteuers sowohl den Tod des Königs Artus mit als auch den Niedergang seines eigenen Ruhms und zieht damit einen für die Konstruktion des Gesamtwerks wichtigen Trägerbalken ein. Dabei sind zwei Faktoren unter dem Gesichtspunkt der Erzählstrategie relevant, die dem auf das Ende hindrängenden Schub entgegenwirken. Der Eremit sagt zum einen nicht, wer mit dem Leoparden gemeint ist, und er nimmt zum andern Gauvain einen heiligen Schwur ab, keiner Menschenseele etwas von diesem gefährlichen Wissen mitzuteilen. Später, am Artushof, wird die königliche Anordnung zum Tragen kommen, von der eingangs die Rede war: Mais ainÅois vos jurerez sor sainz que vos chose ne direz ou il n’ait verit et que por honte qui soit ne celeroiz aventure qui vos avenist. 35 „Doch zuvor müßt Ihr schwören, nichts zu sagen, was nicht der Wahrheit entspricht, und wegen keiner Schande, welche es auch wäre, ein Abenteuer zu verschweigen, das Euch zugestoßen ist.“
Indem die deutsche Fassung die Schande als Movens des Verschweigens unerwähnt läßt, vereinfacht sie an dieser Stelle die Problematik: Aber ir mußent zuvor schweren, das ir keyn sachen sagent, sie sint dann war, und keyn abentur die uch zukomen ist verhalten sollent. 36 Aber das ändert nichts daran, daß die Erzählung Gauvain in zwei einander widersprechende Verpflichtungen verstrickt. Dem Eremiten zufolge muß er sein den Untergang des Königs Artus betreffendes Wissen verschweigen. Der arthurischen Verordnung zufolge muß er alles, was ihm widerfahren ist, wahrheitsgemäß erzählen, wobei die französische Fassung ausdrücklich zur Schande gereichendes Wissen einschließt. Wie sich zeigt, kann sich Gauvain unter diesen Umständen halbwegs aus der Klemme ziehen, indem er das Schweigegebot des Eremiten bricht, jedoch nicht imstande ist, alles aufzuklären. Gauvain berichtet, so wird uns mitgeteilt,
34 Ebd. Bd. II, LXVI,36 – 39, S. 388 f. 35 ,Lancelot‘ [Anm. 10], Bd. IV, LXXXIV,68, S. 393. 36 ,Prosalancelot‘ [Anm. 5], S. 810,5 – 7.
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de l’ermite qui li devisa la senefiance del serpent et del liepart et li atermina sa mort 37 en tel point, et ce fu la chose que li rois Artus ne pot puis oublier, ainz fu em paor et en doutance toz les jorz de sa vie; et se il seust la senefiance del liepart, il s’an gardast se il poxst;38 „von dem Eremiten, der ihm die Bedeutung des Drachen und des Leoparden erklärt und ihm den Zeitpunkt seines Todes vorhergesagt hatte, und das war die Sache, die der König Artus danach nicht vergessen konnte, vielmehr war er in Furcht und Ängsten alle Tage seines Lebens, und hätte er gewußt, wer mit dem Leoparden gemeint war, hätte er sich nach Möglichkeit vor ihm in Acht genommen.“
Hier tritt einmal mehr das im ,Prosalancelot‘ waltende erzählerische Kalkül zutage. Es zeigt sich, daß die Erzählung den Eremiten seinerzeit die Identität des Leoparden mit Bedacht im Dunkeln halten ließ, um Gauvain jetzt wenigstens eine Lüge zu ersparen, womit er wenigstens der arthurischen Satzung genügt. Bei derselben Gelegenheit sieht sich übrigens Lancelot veranlaßt, dem Artushof sein Beilager mit der Tochter des Fischerkönigs zu verschweigen, nicht deswegen, heißt es, weil er dachte, daß er sich dieses Abenteuers zu schämen hätte, sondern weil er fürchtet, die Liebe der Königin zu verlieren.39 Ersichtlich muß am Ende dieses Erzählabschnitts die Erzählung einigen Aufwand treiben, um den von ihr erlassenen Regeln punkto Reden und Schweigen Genüge zu leisten. Um Lancelots Verheimlichung zu rechtfertigen, bemüht sie ein spitzfindiges Argument, und Gawans dilemmatische Gebundenheit an Verschweigen und Bekennen zugleich löst sie durch ein halbes Genügen auf beiden Seiten ein. Jetzt, da es ums Aufschreiben geht, da die Taten der Ritter im Buch registriert werden sollen, jetzt, da die Stunde der Wahrheit gekommen ist, wird zweifach auf ein Wissen hingewiesen, das nicht ins Protokoll kommt. Und in beiden Fällen wird eben dadurch das vorenthaltene bzw. das unterschlagene Wissen als gefährliches Wissen markiert und taucht die ausgestreute Ungewißheit die beteiligten Personen in eine Dunkelzone.
37 Vgl. unten, Anm. 50. 38 ,Lancelot‘ [Anm. 10], Bd. IV, LXXXIV, 72, S. 397 f. 39 Ebd. Bd. IV, LXXXIV, 70, S. 395.
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Bedeutung als Resultat der Evaluation Auf diesen Punkt werden wir am Ende des Beitrags kurz zurückkommen. Doch zunächst sei die Geschichte der beiden anderen Gralhelden, Lancelot und Bohort, nachgetragen. Beider Begegnungen mit dem Gral sind entsprechend dem Ablauf von Gauvains Gralabenteuer modelliert, jedoch beträchtlich kürzer. Was Lancelot zu vollbringen bestimmt ist, vollzieht sich, wie wir wissen, im Bett der Tochter des Gralkönigs. Während des Gralrituals wundert sich Lancelot wie Gauvain über das Schweigen der Anwesenden, doch anders als Gauvain schließt Lancelot sich deren Andachtsübungen an. Wie Gauvain sieht er den Gral und weiß nicht, was er sieht, aber anders als Gauvain glaubt er, daß es sich bei diesem Gefäß um ein würdiges, gar heiliges Ding handelt. Auch bemerkt er die außerordentliche Schönheit von des Gralkönigs Tochter, der sich allein seine Dame, die Königin, vergleichen kann. Und als der Fischerkönig ihn fragt, was ihn von diesem kostbaren Gefäß dünke, das die Jungfrau gebracht hat, bezieht er sich kurioser Weise in seiner Antwort nicht auf das Gefäß, sondern auf dessen Trägerin und sagt, er habe noch nie eine so schöne Jungfrau gesehen. Damit habe er allerdings keine Aussage zur Schönheit der Damen getroffen. Da weiß der König, daß Lancelot nur durch Täuschung dazu zu bewegen sein wird, sich zu seiner Tochter zu legen.40 – Bohort schließlich erkennt sofort, daß er einer Erscheinung des Grals beiwohnt, und verneigt sich vor ihm unter heißen Tränen der Andacht.41 Von einer erotischen Gefährdung kann hier keine Rede sein, aber schließlich hat die schöne Tochter des Königs das Amt der Gralträgerin inzwischen abgeben müssen. Auf spezielle Anordnung des Königs wird dem frommen Bohort sein Bett in einem entfernten Raum bereitet, um ihn vor den gewalttätigen Abenteuern, die sich im Palast ereignen, zu bewahren. Und als einziger wird er zum Abschied vom König und seinem Gefolge eine Strecke Wegs begleitet. Jede der drei Gralszenen ist daraufhin angelegt, den entsprechenden Ritter zu charakterisieren, das Potential eines jeden unter den sich allmählich verändernden – und verdüsternden – Vorzeichen zu evaluieren; insofern sind die drei Gralbesuche bedeutungsvolle Ereignisse, als sie die Helden bereits auf ihr zukünftiges Schicksal hin modellieren. Wir ahnen, daß der unerschütterlich der chevalerie terriennne verpflichtete 40 Ebd. Bd. IV, LXXVIII, 50 – 53, S. 205 f. 41 ,Lancelot‘ [Anm. 10], Bd. IV, LXXXI, 12, S. 271.
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Gauvain es später in der ,Queste‘ zu nichts bringen wird, und es wundert uns wenig, daß der keusche Bohort dagegen einer Gralvision teilhaftig werden soll. Einzig bei Lancelot zeigt sich die Erzählung noch unentschieden, sondern scheint in seinem Fall eine Verbindung von erotischer Anfälligkeit und geistlicher Andacht noch in der Schwebe halten zu wollen.
Komik und Wortwitz im ,Prosalancelot‘ Allerdings setzt die an Lancelots Gralabenteuer anschließende Demontage des Helden die Episode im Rückblick in ein höchst zwiespältiges Licht: Bekanntlich wurde Lancelot durch Zauberei dazu gebracht, auf Schloß Corbenic, der Gralburg, mit der Tochter des Fischerkönigs die Nacht zu verbringen, damit er dort entsprechend den Erfordernissen der Heilsgeschichte denjenigen zeuge, der die Abenteuer des Grals zu Ende bringen soll: Galahad.42 Hoch erzürnt über die Täuschung reitet Lancelot am andern Morgen fort und gelangt gegen Abend vor eine Burg, wo er um Unterkunft bitten will; er ist so in Gedanken versunken, daß er unversehens aus dem Sattel gehoben und in den mit Wasser gefüllten Burggraben geworfen wird, wo er aufwacht, ohne zu verstehen, wie ihm geschehen ist. Lancelot ist baden gegangen! So sehen das zumindest die Ritter, die ihm von der Zinne herunter zurufen: Ha, sire chevaliers, or vos poez bien baingnier! 43 Und als sich Lancelot schließlich ans trockene Land gehievt hat und, den Schild am Hals, die Lanze in der Faust, vor ihnen steht, höhnen sie weiter: Heute müsse er anderswo nach Unterkunft suchen, aber wenn er morgen wiederkommen wolle und sie in der Lage seien, Fischerritter, chevalier pescheor 44, zu empfangen, werden sie ihn gern aufnehmen. Außerdem haben ihm die Leute von der Burg sein Pferd weggenommen, und als er, der nicht weiß, wie ihm geschehen ist, sich nach dessen Verbleib erkundigt, bekommt er zur Antwort: „Wahrhaftig, von Eurem Pferd wissen wir nichts, aber von dem Pferd, das Ihr verloren habt, wissen wir sehr wohl, daß es hier drinnen ist, und verwünscht sei der, der Euch je ein Pferd gab, denn er hätte es nicht schlechter ver42 Ebd., Bd. IV, LXXVIII, 57 f., S. 209 – 211. 43 Ebd., Bd. IV, LXXIX, 5, S. 214. 44 Ebd.
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wenden können.“45 – Diese Stelle ist übrigens einschlägig für die Art von Humor, den der Prosaroman an den Tag zu legen pflegt, er ist bissig und vielleicht in die Nähe des heldenepischen Sarkasmus zu rücken. Und noch in anderer Hinsicht verdient das Stichwort pescheor unser Interesse: rois pescheor, Fischerkönig, ist der andere Name des Königs Pelles, der Lancelot in der vorausgehenden Nacht, d. h. in der unmittelbar vorausgehenden Szene, eingefangen hat, damit er seine Tochter schwängere. Hat man dem Ritter jetzt ein Bad bereitet, um ihn daran zu erinnern, daß er hereingelegt wurde, und nennt man ihn etwa Fischerritter, weil er einem Fischer an den Haken gegangen ist? – Eine neue Dimension des Problems tut sich auf, wenn wir die deutsche Übersetzung heranziehen, in der die Stelle folgendermaßen lautet: Herre ritter, ir mfflßent hinweg gan ander herberg suchen, wann ir nit herinne mogent, und morn herwiedder komen, als dann enpfahen wir uch gern als ein sundigen ritter. 46 Was ist hier passiert? Hat der deutsche Übersetzer den Namen pescheor (lat. piscator, Fischer) als pecheor (lat. peccator, Sünder) verlesen, oder hat er vielleicht in seiner Vorlage die altfranzösische Form von pecheor (Sünder) vorgefunden? Das ist gar nicht unwahrscheinlich: Denn die Stelle, in der die hochbedeutende und hochproblematische Zeugung Galahads kommentiert wurde, liegt nur gut drei Seiten im Oktavformat der Ausgabe von Alexandre Micha entfernt. Und dort hat die Erzählung die Konzeption Galahads mit folgendem doppelten Boden versehen: et cil connut ceste em pechi et en avoutire et contre Deu et encontre Sainte Eglyse , et neporquant li Sires en qui tote piti abite et qui ne juge selon les faiz as pecheors resgarda ceste assamblee selonc le preu a ceus del paxs. 47 „Und jener erkannte diese in der Sünde und im Ehebruch und gegen Gott und gegen die Heilige Kirche, und dennoch betrachtete Gott, in dem alles Erbarmen wohnt, dieses Beilager nicht im Hinblick auf die Taten der Sünder, sondern im Hinblick auf den Nutzen für die Bewohner des Landes.“
Die deutsche Übersetzung folgt hier dem Wortlaut recht genau: Aber er bekant sie wiedder gott und die heiligen kirchen in sunden und nit darumb das der herre, da all barmherczikeyt inn ist, urteilt nach den geschichten des sunders, sah an die samenung nach den geschichten den vom land. 48 45 46 47 48
,Lancelot‘ [Anm. 10], Bd. IV, LXXIX, 6, S. 215. ,Prosalancelot‘ [Anm. 5], Bd. 3, S. 556,17 – 20. ,Lancelot‘ [Anm. 10], Bd. IV, LXXVIII, 57, S. 210. ,Prosalancelot, [Anm. 5], Bd. 3, S. 550,4 – 8.
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Daß die Bewohner der Burg Lancelot als einen sundigen Ritter in den Graben werfen, ist nicht ganz so subtil wie die Wendung chevalier pescheor. Aber die auf sundigen ritter lautende Lesart der Übersetzung erlaubt uns zu fragen, ob die Anlage des französischen Texts dieses Verständnis nicht gezielt befördert hat. Die Sprachgeschichte legt nämlich nahe, daß im 13. Jahrhundert pecheor („Sünder“) und pescheor („Fischer“) Homonyme geworden sind. Wenn wir das annehmen wollen, dann hätte die Erzählung des französischen Prosaromans durch das Eintunken des Fischerritters nicht nur dessen Gralabenteuer einer doppelten Sinngebung unterworfen, sondern hier einmal, was sonst Chrétiens Privileg zu sein schien, ein echtes Wortspiel gelandet.
Die Bedeutung der Andeutung in der narrativen Konstruktion des ,Prosalancelot‘ Zum Schluß komme ich auf die Rolle von Reden und Schweigen im ,Prosalancelot‘ zurück, deren Wortsinn sich ja erkennbar auf die Bedeutung ,Offenbaren‘ einerseits und ,Verheimlichen‘ anderseits zuspitzt. Daß in der Erzählung des ,Prosalancelot‘ das Reden in Andeutungen, die partielle Aufklärung, oder gar die äußerste Verschwiegenheit die Kommunikationsform zwischen den Figuren der Handlung kennzeichnet, wurde bereits erwähnt. Meist geschieht es, um eine geliebte Person zu schonen: So belügt Galehaut Lancelot zu dessen Beruhigung über die ihm noch verbleibende Lebensfrist.49 Ebenso wissen in der Karrenritterepisode die Frau vom See, Gauvain und die Königin, daß Galehaut aus Kummer über Lancelots vermeintlichen Tod gestorben ist, und alle halten dieses Wissen mit Bedacht vor ihm geheim.50 Bisweilen wird ein Wissen auch nicht weitergegeben, weil man sich die Freiheit herausnimmt, daran zu zweifeln, ob die Zukunft sich tatsächlich vorhersehen läßt. So wird später Lancelot, der in die Bedeutung des Drachen eingeweiht wurde,51 der Königin zwar anvertrauen, daß es sich um Mordred handelt, und ferner, daß durch ihn sein ganzes Geschlecht und 49 Vgl. ,Lancelot‘ [Anm. 10], Bd. I, V, 2, S. 72, und ,Prosalancelot‘ [Anm. 5], Bd. 2, S. 78,5 – 10. 50 Vgl. ,Lancelot‘ [Anm. 10], Bd. II, XXXVI,1 und XXXVI, 4, S. 1 und S. 3, fehlt im ,Prosalancelot‘. 51 Vgl. ,Lancelot‘ [Anm. 10], Bd. V, 24 – 29, S. 219 – 224 und ,Prosalancelot IV‘, S. 272 – 278.
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der König selbst zugrunde gehen werden: Jedoch verschweigt er seiner Dame aus Feingefühl dem König Artus gegenüber, daß Mordred dessen inzestuös gezeugter Sohn ist.52 Die Königin aber, mag sie auch aufs äußerste beunruhigt sein, hat ohnehin nicht vor, den König mit diesem Wissen zu behelligen; sie behält selbst dieses partielle Wissen bei sich, weil sie, so heißt es, nicht glaubte, daß jener (i. e. der Eremit oder aber Lancelot) die Wahrheit wissen kann, bevor sie eingetreten ist: Mais por ce qu’ele nel crut pas que cil seust la verit de la chose devant qu’ele fust avenue, s’an cele; si fist domage a maintes genz, que se ele eust dit au roi ce que Lanceloz li dist, il qui se sentoit soupeÅonneus de ceste chose l’eust chaci fors de sa cort et ainsi remainsist la guerre et la bataille qui fu puis es plains de Salibieres, dont li rois et maint prodome moururent a grant pechi . 53 „Aber weil sie nicht glaubte, daß jener (i. e. der Eremit) die Wahrheit wissen könne, bevor sie eingetreten wäre, schweigt sie davon. So fügte sie vielen Leuten Schaden zu, so daß – wenn sie dem König gesagt hätte, was Lancelot ihr gesagt hatte – er, der in dieser Sache etwas vermutete, ihn (i. e. Mordred) von seinem Hof gejagt hätte. Und so wäre der Krieg und die Schlacht, die später auf der Ebene von Salibiere stattfinden sollte und weswegen der König und mancher Edelmann in schwerer Sünde sterben sollten, unterblieben.“ Und darumb das sie nit glaubt das er die warheit davon wißen mocht, da schweig sie still, das manchem menschen zu großem schaden kam. Dann hett sie es dem konig gesagt, das ir Lancelot zu versteen geben hett, der konig hett Mordreth uß sym hoff vertriben, wann im der sachen wol gedacht des er manche zeychen gesehen hett. Und so wer der groß mortlich stryt underwegen bliben, der syt was in dem schlechten zu Salebiere. Deshalben konig Artus und die byderben lut sturben sunder ursach. 54
Genau den gleichen weltlichen Zweifel hatte sich Gauvain erlaubt, als ihm der Eremit die Bedeutung des Drachen und des Leoparden ausgelegt und somit den Tod des Königs Artus bzw. sein eigenes Ende vorausgesagt hatte: si fu moult a malaise de sa mort 55 qu’il ot ainsi aterminee, Et por que il ne voit mie que il poxst certainnement savoir les choses qui sont a venir, ne l’an croist mie trop bien: si en est moult plus a aise; 56 52 Vgl. ,Lancelot‘ [Anm. 10], Bd. VI, CI,14, S. 60 und ,Prosalancelot‘ [Anm. 5], Bd. 4, S. 472,21 – 33. 53 ,Lancelot‘ [Anm. 10], Bd. VI, CI,15., S. 60 f. 54 ,Prosalancelot‘ [Anm. 5], Bd. 4, S. 474,2 – 14. 55 Weder an dieser Stelle noch in ,Lancelot‘ [Anm. 10], Bd. IV, LXXXIV,72, S. 397 f. ist es m. E. eindeutig auszumachen, ob das Ende des Königs Artus oder das von Gauvain gemeint ist. 56 ,Lancelot‘ [Anm. 10], Bd. IV, LXXXII.1, S. 284.
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„so ist er sehr unglücklich darüber, daß der Eremit ihm seinen Tod dergestalt festgesetzt hat. Und weil er nicht einsieht, daß dieser mit Gewißheit die zukünftigen Dinge wissen kann, glaubt er ihm nicht so recht und deswegen ist ihm sehr viel leichter ums Herz.“
Manchmal wird ein drohendes Verhängnis aus Zartgefühl verschwiegen, und manchmal machen die handelnden Figuren einfach ihren Anspruch auf eine offene Zukunft geltend, in dem sie ein bedrohliches Wissen halb verschweigen, halb vergessen oder auch ganz vergessen. Die extreme Diskretion, welche die Figuren untereinander üben, mag von der Schonung diktiert sein; sie ist indessen hochgradig manipulativ, und so werden gerade diejenigen Figuren, die einander besonders gewogen sind, einander in hohem Maße undurchsichtig. Was den Leser betrifft, so weiß er nicht nur mehr als die in beschränkter Perspektive oder gar in Verblendung gehaltenen Helden des Romans: Er kann die angekündigten Katastrophen auch nicht so leicht vergessen wie die Figuren der Handlung, denn allzu oft ist eine Erzählerstimme zur Hand, die ihm versichert, daß die Verhüllungsstrategien am Ende nichts nützen oder daß sie sogar das Verderben, das sie aufzuhalten gedenken, geradezu befördern. Andererseits nähren die verschlungenen Wege der Erzählung im Leser die begründete Erwartung, daß scheinbar abgebrochene Fäden wieder aufgenommen werden können, so daß auch ihm, indem er sich den Mäandern der Erzählung anvertraut, bisweilen die Gnade des Vergessens zuteil wird: Ein solches Vergessen überkommt jedenfalls Lancelot in paradigmatischer Weise in der Episode der sogenannten carole magique („verzauberter Reigen“): An einem verwunschenen Ort, im verlorenen Wald, gerät er in den Bann eines magischen Reigens, so daß ihm seine ritterlichen Aspirationen, alles, wonach er bisher gestrebt hat, gänzlich aus dem Sinn kommen. „Und so vergißt er“, sagt die Erzählung, „seine Dame und seine Gefährten und sich selbst“57 (S. 235) und gibt sich zeit- und weltvergessen, besinnungslos dem Tanz hin. Aufs Ganze gesehen kennzeichnet es jedoch das Erzählverfahren des ,Prosalancelot‘, daß es den Wissensvorsprung des Lesers gezielt als Deutungsebene einsetzt. Die Erzählung legt es darauf an, die in der Vergangenheit des Romans angelegten Geschichten und Personenkonstellationen im Kopf des Lesers zu befestigen. Es handelt sich um eine Erzählstrategie, die gezielt den überlegenen Wissensstand des Lesers gegen den befangenen Zustand der Romanfiguren ausspielt. Insofern 57 Vgl. ,Lancelot‘ [Anm. 10], Bd. IV, LXXIX,34 – 37, S. 234 – 236, hier S. 235.
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sind in der Makrostruktur Wirkungsbedingungen zu beobachten, die der dramatischen Ironie, die wir für den dem ,Prosalancelot‘ eigenen Humor geltend gemacht haben, nicht wesensfremd sind. Passender wäre es allerdings, nicht nur wegen des schlechten Ausgangs, von tragischer Ironie zu sprechen.
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Poetologische Reflexion in deutscher Literatur
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Bemerkungen zum Prolog der ,Krone‘ Heinrichs von dem Türlin Peter Kern Der Prolog zur ,Krone‘ Heinrichs von dem Türlin ist an vielen Stellen schwer verständlich, war es wohl schon für die Schreiber, die ihn uns überliefert haben, so daß der Text der älteren Handschrift V (des Cod. Vind. 2776 aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts) wohl nicht immer unser Vertrauen verdient, derjenige der jüngeren Handschrift P (des Cod. Pal. Germ. 374 vom Jahr 1479) den Verständnisschwierigkeiten nicht selten durch weitergehende Änderungen am Text ausgewichen ist. Werner Schröder hat daraus die Konsequenz gezogen, für ausgewählte Passagen der ,Krone‘, u. a. für den Prolog, einen aus V und P kontaminierten und sporadisch konjizierten Text herzustellen, der so im Mittelalter nie existiert haben wird, und über gleichwohl noch bestehende problematische Stellen mit einer allzu freien Übersetzung hinwegzutäuschen, ohne zureichende Begründung im angehängten Kommentar.1 Andere Interpreten haben zwar hier und da Licht ins Dunkel gebracht, im übrigen aber weitgehend ihrer Phantasie freien Lauf gelassen und sich dabei oft sehr weit vom vorgegebenen Text entfernt.2
1
2
Werner Schröder: Herstellungsversuche an dem Text der ,Crône‘ Heinrichs von dem Türlin mit neuhochdeutscher Übersetzung und Kommentar, Stuttgart 1996 (Abh. d. geistes- und sozialwiss. Kl. der Akad. d. Wiss. und Literatur Mainz, Jg. 1996, Nr. 2), S. 32 f. (zum Verfahren der Textherstellung), S. 34 – 59 (Herstellungsversuch und Übersetzung des Prologs, der Verse 1 – 313), S. 70 – 79 (Kommentar). – Rezensionen: Knapp [SV 219]; Bernd Bastert, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 121 (1999), S. 504 – 508. Das gilt auch ( ja, sogar besonders nachdrücklich) für recht umfangreiche Untersuchungen zum ,Krone‘-Prolog: Arno Mentzel-Reuters: Vrçude. Artusbild, Fortuna- und Gralkonzeption in der ,Crône‘ des Heinrich von dem Türlin als Verteidigung des höfischen Lebensideals, Frankfurt a. M. u .a. 1989, S. 80 – 112; Marianne Gouel: Heinrich von dem Türlin. ,Diu Crône‘. Untersuchungen zu Prolog, Epilog und Edelsteinsymbolik, Frankfurt a. M. u. a. 1993, S. 47 – 83.
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Peter Kern
Anders Fritz Peter Knapp! Er hat schon 1980 wichtige Vorbilder und Anstöße für Prolog-Passagen der ,Krone‘ benannt,3 hat dann (2000) im Rahmen einer Neuedition von Heinrichs Roman einen soweit wie möglich an der Leithandschrift V ausgerichteten Text vorgelegt4 und unlängst (2007) sein Verständnis des Prologs durch eine Übersetzung und einen Kommentar verdeutlicht, in nachkontrollierbarer Weise und ohne die Probleme und Schwierigkeiten, die der Text nach wie vor bietet, zu verschweigen.5 Das „rein philologische Anliegen“ seines Bemühens betonend, hat er sich gewünscht: Es wäre schön, wenn sich mehr Leute diesem mühseligen, entbehrungsund auch nicht immer erfolgreichen, aber notwendigen Geschäft widmen wollten, statt sich an der steigenden Flut spekulativer ,Krone‘-Deutungen zu beteiligen.6
Ich möchte seinem Wunsch entsprechen, indem ich mich wenigstens mit den ersten 39 Versen des Prologus praeter rem (in der von Knapp vorgelegten Fassung) beschäftigen und einige Stellen diskutieren will, die ich etwas anders verstehe oder bei denen ich mich genötigt sehe, hinter sie ein Fragezeichen zu setzen (ein Unterfangen, das für eine Festschrift nicht gerade angemessen zu sein scheint, in einer Festschrift für Fritz Peter Knapp, der ja einer der Sache dienenden philologischen Streitkultur nicht abgeneigt ist, aber vielleicht gewagt werden darf). Darin dürften die meisten Interpreten des ,Krone‘-Prologs übereinstimmen, daß die ersten 160 Verse als wortreiche captatio benevolentiae gedacht sind, als Werben um das Wohlwollen des Publikums, daß sie also die Aufgabe erfüllen sollen, die nach der Lehre mittelalterlicher Rhetoriken/Poetiken dem Prooemium oder Prologus praeter rem primär zukommt.7 Es ist allerdings nicht leicht, den Gedankengang zu erfassen, den Heinrich von dem Türlin entwickelt, um sein Ziel, die captatio benevolentiae, zu erreichen. 3
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Knapp [SV 40], hier S. 152 – 155, 176 – 178. – Knapp mußte sich in diesem Aufsatz noch auf die alte ,Krone‘-Ausgabe von Scholl beziehen: Gottlob Heinrich Friedrich Scholl (Hg.): ,Diu Crône‘ von Heinrîch von dem Türlîn, Stuttgart 1852 (ND Amsterdam 1966). Knapp [SV 12]. Für die Textherstellung der Verse 1 – 4000 und 8001 – 10000 (also auch für die des Prologs) zeichnet Knapp verantwortlich. Knapp [SV 136]. Ebd., S. 306. Grundlegend: Hennig Brinkmann: Der Prolog im Mittelalter als literarische Erscheinung. Bau und Aussage, in: Wirkendes Wort 14 (1964), S. 1 – 21, hier S. 8.
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Ein weis man gesprochen hat Daz den red missestat, Diu an witz geschiht (1 – 3):
So beginnt der Prolog in der Handschrift V, die Knapp als Leithandschrift gewählt hat und von der er – nach den Richtlinien seiner Edition – nur dann abweichen wollte, „wenn V entweder in sich sinnlos und/ oder die Verschreibung einigermaßen leicht verständlich ist oder wenn V dem sonstigen Sprachgebrauch der Hs. bzw. des Autors (Reimgrammatik) widerspricht.“8 Offenbar hat Knapp gemeint, ein solcher Fall liege in den Eingangsversen vor; denn er hat den in Vers 2 zu deu geändert und für die Verse 1 – 3 folgende Übersetzung vorgeschlagen: „Ein weiser Mann hat gesagt, daß die Rede fehlschlägt, die ohne Verstand erfolgt.“9 War der Eingriff in die Handschrift aber wirklich nötig? missest n kann doch mit dem Dativ stehen, also mit den (aufgefaßt als Dativ Plural); und als mögliche Bedeutungen für missest n geben die Wörterbücher an: „übel anstehn“, „nicht gut stehn“, „nicht ziemen“, keineswegs aber „fehlschlagen“. Ich würde also – obwohl die Änderung von den zu deu sicherlich einen leichter lesbaren Text ergibt – überlegen, ob der Text von V nicht doch beibehalten werden könnte, und übersetzen: „Ein weiser Mann hat gesagt, daß denen Rede nicht geziemt, die ohne Verstand/Weisheit erfolgt.“ Nach dem Diktum des weisen Mannes sollten also die nicht reden, deren Rede ohne witze ist (im weiteren Verlauf des Prologs wird witze u. a. durch die Begriffe sin und weistuom variiert). Wer ist dieser weise Mann, dessen Diktum zitiert wird? Man hat an Cicero gedacht, der in ,De inventione‘ I,1 äußert, langes Überlegen habe ihn zu der Überzeugung geführt, sapientiam sine eloquentia parum prodesse civitatibus, eloquentiam vero sine sapientia nimium obesse plerumque, prodesse nunquam. 10 Aber hier ist nicht über die Rede ohne Weisheit geurteilt, sondern über die Redekunst (eloquentia) ohne Weisheit; und es geht um den Nutzen oder Schaden für die Staaten. Sollte Heinrich von dem Türlin also auf Ciceros Diktum angespielt haben, dann doch 8 Knapp [SV 12], S. XII. 9 Knapp [SV 136], S. 286. – den ist zwar als Verschreibung aus deu erklärbar; aber es fällt mir nicht leicht, deu in unmittelbarer Nachbarschaft mit gleichbedeutendem Diu (Vers 3) vorauszusetzen. 10 Vgl. Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Darmstadt 21992, S. 278; MentzelReuters [Anm. 2], S. 83; Schröder [Anm. 1], S. 71.
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so, daß er es aus seinem ursprünglichen staatspolitischen Kontext gelöst hätte. Vielleicht hat er sich aber auch auf eine allgemein akzeptierbare Meinung bezogen, die deshalb nicht unbedingt einer bestimmten Lehrautorität zugeschrieben werden müßte; oder er hat an den weisen Salomon gedacht, der ja als Verfasser alttestamentlicher Weisheitslehren galt, in denen (etwa in Eccl 10, 12 f.) törichtes Reden ohne Weisheit kritisiert wird. Wie dem auch sei, wichtig ist auf jeden Fall, daß mit der von Heinrich von dem Türlin gewählten Eingangssentenz ein Diktum aufgestellt ist, an dem sich der Autor im Folgenden abarbeitet, um trotz seiner dabei immer wieder betonten Insuffizienz bezüglich witze/weistuom/sin seine rede (seine Dichtung) zu rechtfertigen und dafür das Wohlwollen des Publikums zu erbitten. Zu diesem Zweck stellt er zunächst der Eingangssentenz andere Sentenzen an die Seite (4 ff.), die den Nutzen thematisieren, der nur dann erwartbar ist, wenn Weisheit in der Rede geäußert wird, wobei (hier eindeutig identifizierbar) eine Salomonische Rede des Alten Testaments in Erinnerung gerufen wird: Verborgen schatz vnd wistuom / Die sint ze nutz selten frum (11 f.); vgl. Eccli 20, 32: Sapientia absconsa, et thesaurus invisus, / Quae utilitas in utrisque? (vgl. auch Eccli 41, 17).11 Daraus wird gefolgert: Red mit weistuom frumet (13). So sollte es idealiter sein. Aber in der Wirklichkeit ist es leider oft anders: Vil ofte daz chvmet, Daz an der red vaelt der sin Vnd stet gar an gewin. (14 – 16)
In Knapps Übersetzung: „Sehr oft kommt es vor, daß in einer Rede der Verstand Fehler macht und ganz ohne Erfolg bleibt.“ Da hier aber die negative Erfahrung der zuvor genannten positiven Norm entgegengesetzt ist, würde ich diesen Bezug auch in der Übersetzung deutlicher machen: „Sehr oft kommt es vor, daß in der Rede de r Sinn fe hlt und sie [scil. die Rede] ohne Nutzen ist.“ Das erinnert an die Eingangssentenz über die red ohne witz; aber jetzt ist die Äußerung so gewendet, 11 Vgl. Knapp [SV 40], S. 152. – Zum „Topos von der Pflicht zur Vermittlung des Wissens des Dichters an sein Publikum“: Knapp (ebd.) mit Verweis auf Erich Köhler: Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik, Tübingen 21970, S. 49 und Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/München 71969, S. 97. – Der ,Liber Ecclesiasticus‘ wurde in den frühen Kanonlisten, von vielen Kirchenvätern und Theologen des Mittelalters zu den Salomonischen Werken gezählt: Johannes Marböck, in: Lexikon für Theologie und Kirche 9 (32000), Sp. 628 f.
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daß die red ohne sin nicht als unziemlich, sondern als nutzlos (an gewin) hingestellt wird. Denn inzwischen ist etwas Entscheidendes passiert: Das Stichwort gunst ist gefallen (Vers 10), und damit ist das wichtigste Thema des Prologus praeter rem intoniert worden. Von dem, dessen Verhalten genauso schadebaere (so ohne Nutzen) sei wie das eines Toren (gemeint ist: das eines Mannes, dessen Rede ohne Verstand ist), weil er zwar gedenchet, aber nicht reit (6 – 8), der also Weisheit besitzt, sie aber nicht äußert, von dem ist gesagt worden (9 f.): Waz mag gefrumen sein chvnst / An red vnd ane gunst? („Was kann sein Kunstverstand nützen ohne Rede und ohne Gunst / ohne Wohlwollen?“). Bemerkenswert ist, daß hier, wo das zentrale Anliegen des Prooemiums, die gunst des Publikums, eingeführt wird, die Begriffsvarianten witze/wistuom/sin durch den Begriff chvnst (Kunstverstand) ersetzt, die allgemeinen Überlegungen über Rede und Weisheit auf die Praxis der Kunst, der Dichtung, hin konkretisiert sind. Man fühlt sich dabei an den strophischen ,Tristan‘-Prolog Gottfrieds von Straßburg erinnert, in dem in insinuatorischer Strategie12 für den Erfolg der Dichtung nicht nur der Dichter, sondern ebenso das Publikum verantwortlich gemacht worden ist,13 in Anlehnung an Ciceros Diktum honos alit artes (,Tusculanae Disputationes‘ I, 4).14 Ich möchte deshalb dafür plädieren, gunst in Vers 10 des ,Krone‘-Prologs nicht als „Mitteilungsbereitschaft“ (so Knapp) zu übersetzen, sondern unbedingt als „Gunst“. Der Nutzen der Dichtung ist hier ja nicht aus dem Zusammenwirken von zwei Voraussetzungen (von Rede und Weisheit) erklärt, sondern aus dem Zusammenwirken von drei Voraussetzungen (von red, chvnst und gunst): Der Kunstverstand des Dichters kann nur nützen, wenn er sich in der Rede (in der Dichtung) äußert 12 Vgl. Günter Eifler: Publikumsbeeinflussung im strophischen Prolog zum ,Tristan‘ Gottfrieds von Strassburg, in: Günter Bellmann (Hg.): Fs. Karl Bischoff, Wien/Köln 1975, S. 356 – 389. 13 Besonders in den Versen 21 – 28 des ,Tristan‘ (Gottfried von Straßburg: ,Tristan‘, hg. von Karl Marold. Dritter Abdruck besorgt von Werner Schröder, Berlin 1969): re unde lop diu schephent list, / d list ze lobe geschaffen ist: / sw er mit lobe gebl emet ist, / d bl et aller slahte list. // Rehte als daz dinc zunruoche g t, / daz lobes noch Þre niht enh t, / als liebet daz, daz Þre h t / und s nes lobes niht irre g t. 14 Vgl. Albrecht Schöne: Zu Gottfrieds ,Tristan‘-Prolog, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 29 (1955), S. 447 – 474, hier S. 455 mit Anm. 19; Lambertus Okken: Kommentar zum TristanRoman Gottfrieds von Strassburg, 1. Bd., Amsterdam 1984, S. 12; Haug [Anm. 10], S. 206.
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und wenn diese Dichtung vom Publikum bereitwillig (wohlwollend, mit Gunst) aufgenommen wird. Im Folgenden gesteht Heinrich von dem Türlin dann ein, daß sein sin (sein Kunstverstand) und seine rede (sein Dichten) unzureichend sind; aber das Eingeständnis dichterischer Insuffizienz wird von ihm immer wieder so gewendet, daß gleichwohl sein Anspruch auf die Gunst des Publikums eingefordert oder erbeten und potentielle Mißgunst kritisiert wird. An seinen Ausführungen ist im einzelnen manches unklar und erklärungsbedürftig. Für die wohl problematischste Passage (für die Verse 17 – 39) will ich mich um Deutungsmöglichkeiten bemühen. Ich gebe zunächst den Text und die Übersetzung von Knapp15 wieder: Doch, waen ich, er selten gesigt, Der des alle weg phligt, Daz er sein swert erziehe 20 Vnd da mit wider fliehe, E er deheinen slak gesleht. Swer den rauhen ziegel tweht, Der sihet ie lenger diker hor. So er ie lenger fleuhet vor, 25 So im der sichk ie verrer ist. Da wirt deu gymme in den mist Getretten an gewizzen. Er schol vil wol wizzen, Swer vehten vnd vliehen sol, 30 Der bedarf guoter witz wol, Wan im ze fliehen oft geschiht, Dem zagen, so er swert pleken sicht. Wan chan ein vogel gevliegen, Ob in die vedern leiht triegen 35 Einr vil geheizzen maht? Jch f er auch wol, ob ich maht, Von den toren ein teil Vnd spraech gern ane mail, Liez mich mein vnheil
Doch nach meiner Ansicht siegt derjenige kaum, welcher allezeit sein Schwert zu ziehen und damit wieder zu fliehen pflegt, ehe er noch einen Schlag ausführt. Wer auch immer einen rauhen Ziegel wäscht, der sieht je länger desto mehr Schmutz. Je länger er davor flieht, desto ferner ist ihm der Sieg. Da wird der Edelstein achtlos in den Mist getreten. Er soll gutes Wissen besitzen, wer immer fechten und fliehen muß. Dieser braucht wachen Verstand, denn der Feige ist oft gezwungen zu fliehen, wenn er ein blankes Schwert sieht. Denn kann ein Vogel fliegen, wenn ihm die Federn leicht eine wohlverheißene Kraft vorgaukeln? Ich würde mich auch gerne, wenn ich könnte, weit von den Dummköpfen wegbewegen und makellos reden, wenn mein Unheil mich nur ließe.
15 Knapp [SV 136], S. 286 f. – Gegenüber der Textausgabe ist hier nur m ht in den Versen 35 und 36 zu maht verändert.
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Für den Interpreten enthält diese Textpartie nicht wenige Stolpersteine. Gut erkennbar und klar verständlich ist das Bild vom Kampf für das Dichten. Wenn es heißt, derjenige könne nicht siegen, der zwar sein Schwert zieht, aber sogleich die Flucht ergreift, noch bevor er mit dem Schwert einen Schlag schlägt (17 – 21), dann wird das als Selbstermunterung des Dichters gemeint sein, nicht schon vor dem Kampf zu verzagen, d. h., nicht vor den Schwierigkeiten und Gefahren des Dichtens vorzeitig zu kapitulieren, sondern es mutig zu versuchen (auch wenn er um seine geringen Fähigkeiten und drohende Kritik weiß). Und dazu paßt auch die Äußerung (29 f.): Swer vehten vnd vliehen sol, / Der bedarf guoter witz wol („Jeder, der kämpfen und fliehen soll, der hat einen guten Verstand sehr nötig“);16 gemeint ist doch wohl, daß er wissen muß, wann es für ihn angemessen ist zu kämpfen und wann es für ihn richtiger ist zu fliehen. Dabei soll er sich auf jeden Fall nicht wie ein Feigling verhalten (31 f.): Wan im ze fliehen oft geschiht, / Dem zagen, so er swert pleken sicht („denn dem Feigling widerfährt es oft, daß er [schon dann] flieht, wenn er [wörtlich] Schwerter sich entblößen sieht = wenn er sieht, wie Schwerter [aus der Scheide] gezogen werden“).17 Wer wie ein zage (wie ein Feigling) handelt, der verhält sich offenbar anders, als man es von Leuten mit witze (mit Verstand) erwartet, er gehört zu den Unverständigen, den Toren.18 Die mit abschließendem Dreireim als Einheit markierte Verspassage 1 – 39 könnte dann sinnvoll enden mit dem Gedanken: „Ich würde mich gern anders als die Toren verhalten (ich würde also nicht vor Angreifern, d. h. vor Kritikern, sofort die Flucht ergreifen, sondern den Kampf, d. h. das Dichten, wagen) und dabei heil (unverletzt, unbeschadet durch die Kritik) blei16 Nach Knapps Übersetzung der Verse 31 f. („denn der Feige ist oft gezwungen zu fliehen, wenn er ein blankes Schwert sieht“) erscheint die Flucht des Feigen als Notwendigkeit, nicht als Verhalten, das oft beobachtbar ist, aber als kritisierbare Panikreaktion dem geforderten vernunftgeleiteten Verhalten eines Kämpfers (29 f.) widerspricht. 17 Knapps Übersetzung von swert pleken als „ein blankes Schwert“ trifft im Satzzusammenhang zwar den Sinn, läßt aber nicht deutlich genug erkennen, daß pleken natürlich ein Verb ist (es müßte wohl zu plecken, der oberdeutschen Variante von blecken, geändert werden) und daß swert (artikellos) sicher als Plural aufzufassen ist. 18 Wenn es in den Versen 4 – 8 von dem, der sin besitzt und gedenchet, aber nicht redet, heißt, er sei genauso nutzlos wie ein tor, dann ist im Zusammenhang mit den Versen 1 – 3 der Tor als derjenige verstanden, der ohne witze (ohne Verstand) redet. Auch dort ist also schon der Tor als Gegenfigur zu dem mit Verstand Begabten eingeführt.
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ben, und ich spräche gerne ohne Fehler, wenn mich mein Unheil (das mir beschiedene, nur mäßige Talent) das tun ließe.“ Für einen solchen Gedanken wäre als mittelhochdeutscher Text etwa denkbar: Ich f er, von den toren ein, 19 heil Vnd spraech gern ane mail, Liez mich mein unheil.
Das ist freilich ein starker Eingriff in den Text, wie ihn Knapp bietet (dort die Verse 36 – 39). Allerdings wäre bei meinem Text die Lesart heil der Leithandschrift gerettet (Knapp hat sie – nach P – durch teil ersetzt); und es wäre auch vermieden, daß neben der Bedingung Liez mich mein unheil eine zweite (redundant erscheinende) Bedingung ob ich maht (in der Ausgabe: ob ich m ht) formuliert ist, wobei zudem ein identischer Reim mit dem vorhergehenden Vers (Einr vil geheizzen maht/m ht) in Kauf genommen werden müßte, den man nur dann als „einen rührenden, aber grammatischen Reim“ auffassen und so für Heinrichs dichterische Praxis akzeptieren könnte,20 wenn man – wie Knapp es tut – maht bzw. m ht hier als Genitiv eines Substantivs maht und geheizzen als „adjektivisches Partizip“ deutet und zudem eine vil geheizzen maht als „eine vielverheißene Macht, Kraft“ versteht,21 was höchst problematisch ist22 (auch normalem Sprachgebrauch widerspricht). Ohnehin ist ja das Bild vom Vogel, den seine Federn leicht trügen, nicht so recht verständlich und stört nur das Bild vom vehten und vliehen. Eliminiert man die störenden Verse 33 – 35, dann ist auch der von Zeile 35 (Einr vil geheizzen maht / m ht) geforderte Reim und damit der (redundante) Zusatz ob ich maht / m ht in Vers 36 entbehrlich. Den recht gut durchgeführten Vergleich des Dichtens mit dem vehten und vliehen stören auch noch zwei weitere den Gedankengang unmotiviert unterbrechende Äußerungen aus völlig disparaten Bildbereichen: die Rede vom vergeblichen Versuch, einen rauhen (d. h. wohl ungebrannten) Ziegelstein durch Waschen vom hor (von der schmutzigen Erde, vom Lehm) ,säubern‘ zu wollen (22 f.), und die Anspielung auf die bekannte Fabel vom Hahn, der den Wert einer von ihm ge19 von den toren ein ( = eine): „abgesondert von den Toren (anders als die Toren)“. 20 Knapp [SV 136], S. 291. 21 Knapp (ebd.). – In Knapps Übersetzungsvorschlag neben dem mhd. Text heißt es (S. 287): „eine wohlverheißene Kraft“. 22 Vgl. Eberhard Nellmanns Kritik in seiner Rezension von Knapps ,Krone‘Ausgabe, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 132 (2003), S. 511 – 517, hier S. 515.
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fundenen Perle bzw. eines Edelsteins nicht einzuschätzen weiß und das Gefundene deshalb in den Mist tritt (26 f.).23 Verdächtig als späterer Zusatz sind gleichfalls die Verse 24 und 25 (So er ie lenger fleuhet vor, / So im der sichk ie verrer ist). Vers 24 könnte erst durch die eingesprengten Verse 22 f. veranlaßt sein, weil sie einen Reim auf hor verlangen (vor); Vers 25 liefert den notwendigen Reim ist auf mist (Vers 26) in der Fabelanspielung, einem vermutlich erst sekundär eingearbeiteten Zusatz,24 dessen Reimwort gewizzen (27) dann auch noch die völlig entbehrliche Zeile Er schol vil wol wizzen (28) veranlaßt haben könnte, die ja (auf etwas unklare Weise25) vorwegnimmt, was Vers 30 im nachfolgenden Verspaar ohnehin (und wesentlich klarer) aussagt: Swer vehten vnd vliehen sol, / Der bedarf guoter witz wol (29 f.). Falls meine Hypothese stimmt, daß die benannten Verse erst spätere Einschübe gegenüber einem früheren, wesentlich klarer strukturierten Text sein könnten, dann müssen gewisse Zusätze allerdings schon vor den uns erhaltenen Handschriften erfolgt sein, weil sowohl V als auch P Plus-Stücke gegenüber der bildhaften Rede vom vehten und vliehen kennen, die freilich in P z. T. anders dem von mir als ursprünglich gemutmaßten Versbestand eingepaßt worden sind als in V.26 Was sind nun die Konsequenzen, die man aus meinen Überlegungen (wenn man sie überhaupt als berechtigt anerkennen mag) ziehen sollte? Nun, keineswegs will ich mit ihnen Knapps verdienstvollen Versuch, angesichts der Überlieferungslage einen konsequent und soweit wie möglich an der älteren (und insgesamt größeres Vertrauen verdienenden) Leithandschrift V auszurichten, diskreditieren. Es zeigt sich aber, daß dieser Text Verspassagen enthält, die den Verdacht auf23 Zur Tradition dieser Fabel: Knapp [SV 40], S. 155 f. (mit Verweis auf ältere Untersuchungen). 24 Im Epilog der ,Krone‘ ist die Fabel vom Hahn, der einen Edelstein findet und ihn, weil er für ihn nicht als Futter nützlich ist, in den Mist tritt, genauer ausgeführt (29 946 – 965), vgl. Knapp [SV 40], S. 155 f. Möglicherweise ist die Fabelanspielung im Prolog von der im Epilog veranlaßt. Es gibt ja noch weitere Parallelen zwischen diesen beiden programmatischen Passagen, z. B. die Rede von der Krone und den Edelsteinen (49 ff. und 29 966 ff.). 25 Knapp hat die vage Formulierung (wörtlich: „er soll sehr gut wissen“) in seiner freieren Übersetzung etwas ,verbessert‘ („Er soll gutes Wissen besitzen“) und sich veranlaßt gesehen, in der Übersetzung die Verse 28 – 30 durch Interpunktion anders (mit Punkt nach Vers 29) einzuteilen als im vorgeschlagenen mhd. Text (dort steht ein Komma nach Vers 29). 26 Das geht aus den Lesarten von P hervor, die in Knapps ,Krone‘-Edition neben dem nach V ausgerichteten Text notiert sind.
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kommen lassen, daß er im Verlauf der Überlieferung (oder auch im Gefolge unterschiedlicher Autor-Fassungen) Veränderungen erfahren hat, die eine schlüssige Deutung behindern. Der Interpret muß deshalb, wenn er die Möglichkeit eines kohärenten Textsinns nicht grundsätzlich in Abrede stellen will, den vorliegenden Text hinterfragen und dabei letztlich nicht beweisbare Hypothesen wagen – eine zugegebenermaßen wenig behagliche und doch, wie ich meine, notwendige Konsequenz aus der gleichermaßen notwendigen, aber eben auch nicht in jeder Hinsicht zufriedenstellenden Editionspraxis nach dem Leithandschriftenprinzip.
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Gedaehte man ir ze guote niht Der memoria-Topos im Tristanprolog
Eberhard Nellmann Et sunt, quorum non est Memoria: perierunt quasi Qui non fuerint. (Eccli 44,9)
I. Immer wieder hat man sich bemüht, der sehr allgemeinen Maxime, mit der Gottfrieds Tristan beginnt, einen Sinn abzugewinnen, der sich auch konkret auf den Tristanroman beziehen läßt. Eine Einigung ist bisher nicht gelungen. Hartnäckig scheinen sich Gottfrieds Verse einer Festlegung zu verweigern. Ich zitiere die umstrittene Eingangssentenz nach Friedrich Rankes erster Ausgabe des Textes (1930), die der Überlieferung wohl am ehesten gerecht wird:1 Gedaehte man ir ze guote niht, von den der werlde guot geschiht, so waerez allez alse niht, swaz guotes in der werlde geschiht. 1
Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold, hg. von Friedrich Ranke, Berlin 1930. Im Anhang des Nachdrucks dieser Ausgabe (Berlin 1949, S. 247) ändert Ranke den Text von V. 1 f., indem er die Lesarten zweier verschiedener Handschriften kombiniert. Ranke liest jetzt: Gedaehte mans ze guote niht, von dem […]. Die Ausgabe von Studer (Berlin 1958) übernimmt Rankes neue Version in den Text. – Zur handschriftlichen Überlieferung der Verse zuletzt: Werner Schröder: Zur Kunstanschauung Gottfrieds von Straßburg und Konrads von Würzburg nach dem Zeugnis ihrer Prologe, Stuttgart 1990 (SB Frankfurt 26,5), S. 134 – 137.
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Bewahrte man denjenigen kein gutes Gedächtnis, / von denen der Welt Gutes widerfährt, / so wäre es alles soviel wie nichts, / was an Gutem in der Welt geschieht.
Es geht in den Versen um das Weiterwirken des Guten, das bestimmten Menschen zu verdanken ist. Dieser Menschen soll man gedenken, wenn das Gute nicht zugrunde gehen soll. Ohne dankbare Erinnerung an die „Wohltäter“2 kann das Gute nicht gedeihen. Wer mit diesen Wohltätern gemeint ist, scheint Gottfried der Phantasie des Lesers bzw. Zuhörers zu überlassen. Die Forschung hat zwei divergierende Erklärungen vorgeschlagen: Eine Reihe von Experten glaubt, a l l e Personen – reale ebenso wie fiktive – seien gemeint, sofern sie Gutes tun oder getan haben. Die Aufgabe des gedenkens komme in besonderem Maße den Schriftstellern/ Poeten zu (so zuerst Maria Bindschedler3) oder deren Lesern/Hörern (so zuerst Albrecht Schöne4). Fast ebenso viele Anhänger hat der Vorschlag Werner Schröders gefunden, es seien die Dichter – oder spezieller: d e r Dichter –, derer man gedenken müsse. Sie seien die „Wohltäter“; mit 2 3
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So Tomas Tomasek: Gottfried von Straßburg, Stuttgart 2006 (Reclams UB 17665), S. 128. Maria Bindschedler: Gottfried von Straßburg und die höfische Ethik, Halle 1955, S. 40. – Ohne Kenntnis Bindschedlers: Samuel Jaffe: Gottfried von Straßburg and the Rhetoric of History, in: Medieval Eloquence, hg. von James J. Murphy, Berkeley 1978, S. 288 – 318, hier S. 307 f. Jaffe stützt sich auf ein Sallustzitat (Catilina 8,4). Wie Jaffe argumentieren Lambertus Okken: Kommentar zum Tristan-Roman Gottfrieds von Straßburg, Bd. 1, Amsterdam 1984, S. 2 f.; Friedrich Ohly: Bemerkungen eines Philologen zur Memoria, in: Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter, hg. von Karl Schmid, München 1984 (Münstersche MittelalterSchriften 48), S. 9 – 68, hier S. 49 f.; Christoph Huber: Gottfried von Straßburg: ,Tristan und Isolde‘. Eine Einführung, München/Zürich 1986 (ArtemisEinführungen 24), S. 31; Adrian Stevens: Memory, Reading and the Renewal of Love. On the Poetics of Invention in Gottfried’s ,Tristan‘, in: Volker Honemann u. a. (Hg.): German narrative literature of the twelfth and thirteenth centuries. Studies presented to Roy Wisbey on his sixty-fifth birthday, Tübingen 1994, S. 319 – 335, hier S. 323; Anna Keck: Die Liebeskonzeption der mittelalterlichen Tristanromane, München 1998, S. 175; Waltraud FritschRößler: Finis Amoris. Ende, Gefährdung und Wandel von Liebe im hochmittelalterlichen deutschen Roman, Tübingen 1999 (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft 42), S. 348, 364 f. Albrecht Schöne: Zu Gottfrieds ,Tristan‘-Prolog, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 29 (1955), S. 447 – 474; siehe auch Alexander Kolerus: Aula memoriae, Frankfurt a. M. 2006 (Mikrokosmos 74), S. 60.
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ihrem Werk, ihrer Kunst vollbrächten sie Gutes für die Menschheit.5 Problematisch an diesem Vorschlag ist, daß die Fortexistenz a l l e s Guten (allez […], swaz guotes in der werlde geschiht, V. 3 f.) an die Anerkennung und den Nachruhm des Poeten gebunden wird. Der betreffende Passus, der ausgesprochen unbequem ist, wird denn auch in der Übersetzung gelegentlich uminterpretiert.6 Beide Deutungen können sich auf antike Formulierungen im Bereich der Exordialtopik berufen, die Gottfried angeregt haben sollen. Es geht dabei um den sog. memoria-Topos, auf den Hennig Brinkmann die Gottfriedforschung nachdrücklich hingewiesen hat.7 Dieser Hinweis hat sich allerdings nicht als sehr hilfreich erwiesen und die Aufmerksamkeit in eine falsche Richtung gelenkt. Brinkmann argumentiert nämlich mit einer speziellen Variante des Topos, die den Nachruhm und das Weiterleben der A u t o r e n betrifft. Die ebenso verbreitete Variante, ohne die Tätigkeit der Dichter und Historiker gebe es keine Erinnerung an die Taten und Helden der Vergangenheit, kommt bei Brinkmann nicht vor.8 5
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Schröder [Anm. 1], S. 139: Mit der gepriesenen Leistung sei „ein Werk der Dichtung und mit dem Vollbringer des Guten ein Dichter gemeint.“ Schröders Auffassung findet sich – mehr oder weniger deutlich – u. a. bei Hennig Brinkmann: Der Prolog im Mittelalter als literarische Erscheinung, in: Wirkendes Wort 14 (1964), S. 1 – 21 (zitiert nach dem Wiederabdruck in Hennig Brinkmann: Studien zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, Bd. 2, Düsseldorf 1966, S. 79 – 105, hier S. 95, 97 f.); C. Stephen Jaeger: The Strophic Prologue to Gottfried’s ,Tristan‘, in: Germanic Review 47 (1972), S. 5 – 14, hier S. 12; Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Darmstadt 1985, S. 196 f.; Alois Wolf: Gottfried von Straßburg und die Mythe von Tristan und Isolde, Darmstadt 1989, S. 94 f.; Gertrud Grünkorn: Die Fiktionalität des höfischen Romans um 1200, Berlin 1994, S. 138 f.; Patrizia Mazzadi: Autorreflexionen zur Rezeption: Prolog und Exkurse in Gottfrieds ,Tristan‘, Triest 2000, S. 40 f.; Beate Kellner: Eigengeschichte und literarischer Kanon, in: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur, hg. von Beate Kellner, Frankfurt a. M. u. a. 2001 (Mikrokosmos 64), S. 153 – 182, hier S. 166. Jeweils wird unter dem guot (V. 2) die „Dichtung“ bzw. das „Kunstwerk“ verstanden. Schröder [Anm. 1] übersetzt V. 3 f.: „dann verlohnte es sich nicht, etwas Gutes für sie zu vollbringen“ (S. 138). Brinkmann [Anm. 5], S. 88 f., 95, 98. Der Versuch von Jaffe [Anm. 3], antike Belege für diesen Gedanken nachzuweisen, ist nur partiell geglückt. Jaffe beruft sich auf eine Äußerung Sallusts im 8. Kapitel seines ,Catilina‘. Sallust sagt dort (Catilina 8,4), die Taten der Athener seien zwar eindrucksvoll, aber noch eindrucksvoller gemacht worden
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Beide Varianten haben eine Tradition, die bisher fast gänzlich unbekannt ist.9 Ich führe im folgenden Beispiele für beide Typen des Topos vor. Sie sollen klären helfen, welche der vorgeschlagenen Deutungen von Gottfrieds Sentenz die größere Plausibilität besitzt.10
II. Ich beginne mit dem Nachruhm der Autoren. Das Motiv, daß der Dichter sich selbst mit seinem Werk literarischen Nachruhm zu verschaffen hofft, ja daß er selbst dieses Weiterleben energisch proklamiert, findet sich gehäuft bei einer Reihe von klassischen römischen Autoren. Ein Beispiel aus dem Schluß von Ovids ,Metamorphosen‘ mag genügen (Metam. XV,875 f.):11 Parte tamen meliore mei super alta perennis Astra ferar, nomenque erit indelebile nostrum. Unsterblich schwingt der edlere Teil meines Wesens sich über die hohen / Sterne empor und unzerstörbar dauert mein Name.
Vergleichbare Äußerungen finden sich bei Ennius, Vergil, Horaz, Properz und Lucan.12 Mit Gottfrieds Versen haben sie alle keinerlei Ähnlichkeit. Wesentlich bescheidener wird die Hoffnung auf ein langes Nachleben von dem Historiker Sallust formuliert. Sallust will – so heißt es im
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durch vorzügliche Schriftsteller. Die Leistung der Akteure gelte darum genau so viel, wie glänzende Geister sie in Worten zu erheben vermöchten: ita eorum qui fecere virtus tanta habetur, quantum eam verbis potuere extollere praeclara ingenia. Gottfrieds radikale Eingangssentenz ist in diesen Worten nur zum Teil wiederzuerkennen. Um einen Prologtopos handelt es sich nicht. Die bisher umfangreichste Belegsammlung zum Thema von Ohly [Anm. 3] ist in diesem Punkt unergiebig. Mark Chinca (Gottfried von Straßburg: Tristan, Cambridge 1997, S. 50) hält beide Deutungen für gleichberechtigt. Ebenso vor ihm schon Gerd-Dietmar Peschel-Rentsch: Prolog-Programm und Fragment-Schluß in Gotfrits Tristanroman, Erlangen 1976, S. 26. P. Ovidii Nasonis Metamorphoses, hg. von William S. Anderson, Leipzig 1977 (Bibliotheca Scriptorum et Romanorum Teubneriana). Ennius: Varia (Epigrammata), V. 17 f.; Vergil: Georg. III 8 f.; Horaz: Carm. III 30,6 – 8; Properz: Eleg. III 1,21 ff.; Lucan: Pharsal. IX 983 – 986.
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Prolog zum ,Catilina‘ (1,3) 13 – „mit geistigen Mitteln nach Ruhm streben“ und so, da das Leben kurz ist, dem Andenken an seine Person „eine möglichst lange Dauer verschaffen“: Mihi rectius videtur ingenii quam virium opibus gloriam quaerere et, quoniam vita […] brevis est, memoriam nostri quam maxime longam efficere. 14
Auch diese Formulierung hat nur geringe Ähnlichkeit mit Gottfrieds Eingangssentenz. Bei Sallust – auf den sich Brinkmann bei seiner Darstellung des memoria-Topos mehrfach beruft15 – strebt der Autor mit seinen eigenen Kräften nach memoria; Gottfried dagegen betont (nach Meinung der Forschung), daß a n d e r e des Autors gedenken, und spricht über die mißlichen Folgen einer Unterlassung dieses Gedenkens. Ich wende mich nun der mittelalterlichen Tradition des Topos zu. Sie ist keineswegs, wie Brinkmann anzunehmen scheint, ungebrochen überall wirksam. Zwar gibt es Zeugnisse für ein Fortleben des Topos. Wichtiger aber ist, daß er in wesentlichen Bereichen der literarischen Produktion fehlt – oder abgelehnt wird. Soweit ich die Zeugnisse überblicke, läßt sich Folgendes sagen: Der Topos fehlt in der mittelalterlichen Historiographie völlig, obwohl doch gerade dort die Prologe Sallusts eine starke Nachwirkung haben.16 Streben nach Ruhm wird – nach der umfassenden Sammlung Gertrud Simons17 – bis zum Ende des 12. Jahrhunderts nie als Motiv der Abfassung eines historischen Werkes genannt. In der Heiligenvita wird das Ruhmbedürfnis der antiken Autoren sogar expressis verbis abgelehnt. Ich zitiere aus dem Prolog der ,Vita Sancti Martini‘ des Sulpicius Severus (um 400): Plerique mortales, studio et gloriae saeculari inaniter dediti, exinde perennem (ut putabant) memoriam nominis sui quaesierunt, si vitas clarorum virorum stilo in13 C. Sallustius Crispus: Catilina, Iugurtha, Fragmenta ampliora, hg. von Alfons Kurfeß, Leipzig 1954 (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana). 14 Ähnliche Gedanken äußert auch Plinius der Jüngere: Epistulae, hg. von Helmut Kasten, München 1968 (Tusculum-Bücherei), V 8,2 f. 15 Brinkmann [Anm. 5], S. 88, 95, 97. Bei Brinkmann fehlt eine genaue Angabe der Salluststelle; jedoch ergibt sich aus dem Prolog zum altfranzösischen Thebenroman (zitiert bei Brinkmann, S. 88) klar, daß Catil. 1,3 gemeint ist. Zu Sallust vgl. auch Jaffe [Anm. 3], S. 304 – 308. 16 Vgl. Brinkmann [Anm. 5], S. 87 mit Anm. 6. 17 Gertrud Simon: Untersuchungen zur Topik der Widmungsbriefe mittelalterlicher Geschichtsschreiber bis zum Ende des 12. Jahrhunderts, 2 Tle., in: Archiv für Diplomatik 4 (1958), S. 52 – 119; 5/6 (1959/60), S. 73 – 153.
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lustrassent. 18 […] Non inanem ab hominibus memoriam, sed aeternum a Deo praemium exspectemus. 19 Zahlreiche Sterbliche, dem Studium und dem weltlichen Ruhm in nichtiger Weise ergeben, glaubten dadurch ewigen Nachruhm zu erlangen, daß sie Lebensbeschreibungen berühmter Männer verfassten. […] Wir [aber] sollen nicht nutzloses Andenken bei den Menschen, sondern ewiges Leben bei Gott erhoffen.
Helmut Beumann hat gezeigt, wie stark der Prolog der Martinsvita auf das lateinische Mittelalter eingewirkt hat.20 Auch in der deutschen Heiligenvita wirkte er nach. Der Prolog des ,Oberdeutschen Servatius‘ (um 1190) kritisiert die Haltung der heidnischen Poeten, deren Dichtung ausschließlich dem Zweck diene, daz man ir gedaehte / mit dem zergaenclichen lobe (V. 32 f.).21 Der Wunsch, das ewige Leben zu erlangen, läßt das Streben nach irdischem Ruhm nebensächlich, ja sogar unchristlich erscheinen. An die Stelle des memoria-Topos ovidischer bzw. sallustischer Prägung tritt im christlichen Mittelalter der Bescheidenheitstopos, die Demutsformel.22 Allerdings nicht durchweg. Es gibt einige Gegenbeispiele, und zwar in mittellateinischen und altfranzösischen Dichtungen. Seit dem 11. Jahrhundert findet man vor allem in Frankreich Zeugnisse eines neuen literarischen Selbstbewußtseins, das an die Formulierungen der Antike anknüpft. Hier ist zunächst der sogenannte Loirekreis zu nennen, also Männer wie Balderich von Bourgueil, Marbod von Rennes und Hildebert von Tours.23 Balderich von Bourgueil zum Beispiel 18 Sulpicius Severus: Libri qui supersunt, hg. von Karl Felix von Halm, Wien 1866 (Corpus scriptorum ecclesiasticorum Latinorum 1), S. 110. 19 Ebd., S. 111. 20 Helmut Beumann: Die Historiographie des Mittelalters als Quelle für die Ideengeschichte des Königtums (1955), zitiert nach dem Wiederabdruck in Helmut Beumann: Ideengeschichtliche Studien zu Einhart und anderen Geschichtsschreibern des frühen Mittelalters, Darmstadt 1962, S. 40 – 79, hier S. 47 ff. Vgl. auch Julius Schwietering: Die Demutsformel mittelhochdeutscher Dichter (1921), zitiert nach dem Wiederabdruck in Julius Schwietering: Philologische Schriften, hg. von Friedrich Ohly und Max Wehrli, München 1969, S. 140 – 215, hier S. 162; Simon [Anm. 17], Tl. 2, S. 95 f. 21 Friedrich Wilhelm: Sanct Servatius oder Wie das erste Reis in deutscher Zunge geimpft wurde, München 1910, S. 152. 22 Vgl. Simon [Anm. 17], Tl. 1, S. 108 – 119; siehe auch Schwietering [Anm. 20], passim. 23 Vgl. Paul Klopsch: Einführung in die Dichtungslehren des lateinischen Mittelalters, Darmstadt 1980, S. 83 f. und 89 f.
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rühmt an seinem Dichterkollegen Gottfried von Reims († 1095), daß dieser durch seine Gedichte „sich selber und den Seinen ein ewiges Andenken verschaffen“ könne (Carm. 161,114): te quoque […] potes aeternare tuosque. 24 Noch freilich wagt Balderich es nicht, nach dem Vorbild von Horaz und Ovid den Anspruch auf literarische Unsterblichkeit aus seinem eigenen Werk abzuleiten. Dies geschieht erst ein Jahrhundert später wieder, bei Walther von Châtillon. Die Schlußworte seiner ,Alexandreis‘ (1178/82), an den bischöflichen Gönner Wilhelm von Reims gerichtet, lauten (X 468 f.):25 Vivemus pariter: vivet cum vate superstes Gloria Guillermi nullum moritura per aevum. Wir werden in gleicher Weise weiterleben: Zusammen mit dem Ruhm des Dichters wird fortleben / der Ruhm Wilhelms und wird niemals untergehen.
Einige Jahrzehnte später wiederholt Odo von Magdeburg Walthers Formulierung in seinem ,Ernestus‘ (1212/18).26 Ich übergehe die übrigen mittellateinischen Zeugnisse. Nirgends ist eine Ähnlichkeit mit den Tristanversen festzustellen. Nun zu den Französisch schreibenden Autoren.27 Sie verwenden den Topos seit 1160 in der bescheideneren Prägung Sallusts (s. o.). Ein Beispiel aus dem Roman ,Athis et Prophilias‘ des Dichters Alexandre aus dem letzten Viertel des 12. Jahrhunderts:28 Alexandre ließ, so sagt er im Prolog (V. 5 – 7), seine Verse deshalb verbreiten, „damit er, wenn er diese Welt verlassen hat, von den andern im Gedächtnis behalten wird“ 24 Baudri de Bourgueil: Oeuvres poétiques, hg. von Phyllis Abrahams, Paris 1926, S. 154. Vgl. dazu Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 21954, S. 470; Klopsch [Anm. 23], S. 89 f. – Zum Verbum aeternare („verewigen“) vgl. Horaz, Carm. IV 14,5. 25 Zitiert bei Curtius [Anm. 24], S. 470; Klopsch [Anm. 23], S. 90 f. 26 Odo von Magdeburg: Ernestus, hg. von Thomas A.-P. Klein, Hildesheim 2000 (Spolia Berolinensia 18), VIII 427. 27 Zum Folgenden vgl. Rubin Halpersohn: Über die Einleitung im altfranzösischen Kunstepos, Berlin 1911; Barbara Haupt: Literarische Memoria im Hochmittelalter. Chrestien de Troyes und der ,Discours de la Méthode‘, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 27 (1997), S. 39 – 61. Die altfranzösischen Texte zitiere ich nach der Anthologie: Französische Literarästhetik des 12. und 13. Jahrhunderts. Prologe – Exkurse – Epiloge, ausgew. von Ulrich Mölk, Tübingen 1969. 28 Mölk [Anm. 27], S. 47.
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(por ce fist ses vers espandre, / quant il sera del siegle issuz, / qu’as autres soit amante z). Das ist eine ziemlich genaue Wiederholung des Sallustzitats. Ähnlich heißt es im ,Roman de Thèbes‘ (um 1160), der Weise solle nichts verheimlichen, „damit er, wenn er von der Welt geschieden ist, / immerfort in Erinnerung behalten wird“: que, quant [il] serra del siecle alez, en seit pues toz jorz remembrez. (3 f.) 29
Der Verfasser des ,Roman de Troie‘ (um 1170), Benoît de SainteMaure, schließt sich an: Für alle Zeiten würden Wissenschaftler und Philosophen im Gedächtnis behalten und gekannt werden wegen ihrer großen Weisheit (V. 17 f.): Remembr seront a toz tens et cone par lor granz sens. 30
Wer dagegen etwas wisse und es nicht lehre, gerate unweigerlich in Vergessenheit (V. 21 f.). Marie de France nennt im Epilog ihrer Fabelsammlung ,Äsop‘ (um 1170/80) ihren Namen, „damit man sich an mich erinnert“ (pur remembrance): me numerai pur remembrance: Marie ai num, si suis de France. (Epil., 3 f.) 31
Als letzter französischer Autor sei Chrétien de Troyes genannt, der von seinem literarischen Weiterleben ebenso überzeugt ist wie Ovid. Für immer werde, so rühmt er sich, sein Roman ,Erec et Enide‘ (um 1170) im Gedächtnis bleiben, solange die Christenheit bestehe (V. 24 f.): toz jors mes iert an memoire, tant con durra crestiantez. 32
Unser bisheriger Überblick zeigt: Der Anspruch des Autors auf Nachruhm, normalerweise im christlichen Mittelalter nicht geäußert, erlebt seit dem 11. Jahrhundert vor allem in Frankreich eine Renaissance. Mit Gottfried scheint das aber – entgegen Brinkmann – wenig zu tun zu haben. Nirgends finden wir die Aufforderung, der Autoren 29 30 31 32
Ebd., S. 23. Ebd., S. 24. Ebd., S. 71; das Zitat nach Haupt [Anm. 27], S. 46. Ebd., S. 30. Vgl. auch Raoul de Houdenc: Meraugis de Portlesguez, V. 21 – 23 (Mölk [Anm. 27], S. 38).
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wohlwollend zu gedenken, nirgends ein Warnung vor den schlimmen Folgen, wenn solch ein Gedenken unterbleibt.
III. Wenden wir uns nun der zweiten möglichen Auffassung der Tristanverse zu: dem Autor (oder nach Schöne: dem Publikum) komme die Pflicht des Gedenkens zu, wenn das Gute weiterexistieren solle. Es gibt eine Reihe von antiken und mittellateinischen Texten, die dieser Deutung nahestehen, bisher aber nicht mit Gottfrieds Versen in Verbindung gebracht wurden. Ich beginne mit Versen aus einer Ode des Horaz (IV 9,25 – 30):33 Vixere fortes ante Agamemnona multi: sed omnes inlacrimabiles urgentur ignotique longa nocte, carent quia vate sacro. Paulum sepultae distat inertiae celata virtus. Vor Agamemnon lebten schon viele Helden, / doch alle sind sie unbeweint / und ungekannt von langer Nacht umfangen, / da sie des heiligen Sängers entbehren. / Wenig unterscheidet sich virtus, die geheim bleibt, von verborgener Untüchtigkeit.
Hier haben wir den Gedanken, daß virtus bekannt werden muß – sonst ist sie nicht viel wert. Ferner haben wir den Sänger, der die Taten der Helden der Nachwelt überliefern soll. Horaz hat das nicht als erster gesagt. Schon Homer und dann wieder Pindar und Bakchylides sehen es als die Aufgabe des Poeten an, das Andenken der großen Helden lebendig zu erhalten. Römische Autoren übernehmen das,34 und Horaz formuliert es besonders prägnant. Bei ihm ist auch ein weiteres Moment zu belegen, das Gottfrieds Sentenz ihr Gepräge gibt, nämlich die konditionale Konstruktion. Ich zitiere aus der berühmten Ode ,Donarem pateras‘ (IV 8,21 – 24):
33 Quintus Horatius Flaccus: Opera, hg. von Friedrich Klingner, Leipzig 31959 (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana). 34 Vgl. Werner Suerbaum: Untersuchungen zur Selbstdarstellung älterer römischer Dichter, Hildesheim 1968, v. a. S. 219 ff.; Ulrich Knoche: Der römische Ruhmesgedanke, in: Philologus 89 (1934), S. 102 – 124.
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si chartae sileant quod bene feceris, [non] mercedem tuleris. Quid foret Illiae Mavortisque puer, si taciturnitas obstaret meritis invida Romuli? Wenn kein geschriebenes Blatt Deine Verdienste verzeichnete, / würdest Du keinen Lohn davontragen. Was wäre Romulus, / der Sohn der Ilia und des Mars, wenn neidisches / Schweigen seinen Verdiensten entgegenstünde?
Bei Horaz ist also der Gedanke von der Funktion des Dichters als rühmendem Organ verdienter Menschen in einer Weise entfaltet, die Gottfrieds Formulierungen in wichtigen Einzelheiten entspricht. Ich sehe von weiteren antiken Zeugnissen, die weniger prägnant sind,35 ab und wende mich den mittellateinischen Belegen zu. Das meiste bieten die Prologe und Widmungsbriefe historischer und hagiographischer Werke.36 In der Praefatio seines historischen Epos ,Johannis‘ (um 550) führt der Dichter Corippus den horazischen Gedanken ,Was wäre Romulus ohne das Werk des Schriftstellers‘ weiter aus: Quis magnum Aeneam, saevum quis nosset Achillem, Hectora quis fortem, quis Diomedis equos, […] littera [Geschriebenes] ni priscum commemoraret opus? (7 – 10) 37
Ähnlich äußert sich Jahrhunderte später Benzo von Alba, ein Parteigänger Kaiser Heinrichs IV. (1086/90):38 Fortium quidem virorum nulla foret notio, si periti literarum torpuissent otio; defuisset exemplorum aurea memoria, nisi eos propalaret aliqua hystoria. Es gäbe keine Kenntnis von tapferen Männern, / wenn die Schriftsteller müßig gewesen wären. / Die goldene Erinnerung an die Vorbilder fehlte, / wenn nicht ein Geschichtswerk sie offenbar machte. 35 Erwähnung verdient auf jeden Fall die Praefatio zur Evangeliendichtung des Juvencus (um 325). Dort heißt es (Evangeliorum libri IV, Praef. V. 6 – 10), daß die Taten und Tugenden vieler Menschen durch das Dichterlob (genannt werden die Epen Homers und Vergils) weiterleben; vgl. Curtius [Anm. 24], S. 454. 36 Vgl. Simon [Anm. 17], Tl. 2, S. 98 – 100. 37 Flavius Cresconius Corippus, Johannis (MGH Auct. antiq. 3,2). Das Zitat nach Curtius [Anm. 24], S. 469. 38 Benzo von Alba, Ad Heinricum I,2 (MGH SS 11,597); zitiert bei Curtius [Anm. 24], S. 470.
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Eine wichtige Nuance des Gedankens findet sich in Wipos ,Gesta Chuonradi imperatoris‘ (1045/46).39 Die Alten seien der Meinung gewesen, die Handlungen des Staates würden zugleich mit seinen Lenkern zugrunde gehen, wenn die Geschehnisse nicht aufgezeichnet würden: Acta vero rei publicae mori simul cum eius rectoribus arbitrati sunt, nisi quod accidit notaretur. Mit dem Verbum mori klingt etwas an, das Gottfrieds allez alse niht verwandt ist. Ähnlich äußern sich die ,Gesta Sancti Servatii‘ (um 1100):40 Die Verdienste der Könige und der Heiligen würden vergessen und verschüttet, „als wären sie nie da gewesen“ – ausgenommen die, deren Taten durch das Verdienst der Schriftsteller dem Untergang durch das Vergessen entrissen würden: mortalium mutabilitas […] regum nobilium insuperque sanctorum […] lucidissima merita tollit ex ore ac mentibus hominum et obruit, quasi numquam fuerint, preterquam quorum gesta scriptorum beneficiis eripiuntur ab interitu obliuionis.
Quasi numquam fuerint – das ist vermutlich eine bewußte Anleihe aus der Bibel (Eccli 44,9): Et sunt, quorum non est memoria: perierunt quasi qui non fuerint. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß auch Gottfried die Bibelstelle gekannt hat. Auch Einhart hat sich – in der Praefatio seiner ,Vita Karoli Magni‘41 – wohl durch die Stelle anregen lassen. Er will, so sagt er, nicht zulassen, daß das Leben Karls, „als hätte dieser nie gelebt“, ohne schriftliche Würdigung und gebührendes Lob bleibe: vitam eius, quasi qui numquam vixerit, sine litteris ac debita laude manere. Alle zitierten Stellen (die sich leicht vermehren lassen) 42 belegen die Fortdauer des antiken Topos, daß ohne das Wirken der Schriftsteller die Taten verdienter Männer vergessen wären. In der volkssprachigen Literatur begegnet der Gedanke allerdings nur gelegentlich. Ein einziges Mal kann ich ihn im Französischen nachweisen: im ,Roman de Rou‘, einer Reimchronik des Anglonormannen Wace (1174):43 39 Wiponis Opera (MGH SS rer. Germ., hg. von Heinrich Bresslau), Prologus 6,24 ff. 40 Gesta Sancti Servatii, hg. von Friedrich Wilhelm [Anm. 21], S. 3. Vgl. dazu den ,Oberdeutschen Servatius‘ (ebd., S. 151), V. 10 – 18. 41 Einhart, Vita Karoli Magni (MG SS rer. Germ., hg. von Oswald HolderEgger). 42 Vgl. z. B. die Praefatio in Norberts ,Vita Bennonis‘ (zitiert bei Ohly [Anm. 3], S. 45); ferner Richard von London: Itinerarium Peregrinorum (MGH SS 27,195); siehe Simon [Anm. 17], Tl. 1, S. 82. 43 Mölk [Anm. 27], S. 98 f.
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Si escripture ne fust feite e puis par clers litte e retraite, mult fussent choses ubliees […]. (7 – 9) Gäbe es keine schriftlichen Aufzeichnungen / und würden diese dann nicht von gelehrten Männern (?) gelesen und vorgetragen, / dann wären viele Dinge vergessen.
Gut einhundert Jahre später finden wir den Topos leicht verändert auch in deutscher Sprache, in Konrads von Würzburg Prolog zu ,Partonopier und Meliur‘ (um 1280):44 Man berh ebe tugende vil, die niht ze liehte w rden br ht, ob sanges unde rede ged ht nie waere in tiutscher zungen. (34 – 37)
Wohl möglich, daß Konrad, ein guter Kenner des ,Tristan‘, sich hier von Gottfried hat anregen lassen.
IV. Wir können uns mit diesen Beispielen begnügen. Sie zeigen, daß Gottfried mit seiner Sentenz in einer Tradition steht, deren Vorgaben er überraschend getreu folgt. Er übernimmt nicht nur die Einkleidung des Gedankens in einen negierten Bedingungssatz („wenn man nicht gedächte“); er schließt sich auch in wesentlichen Formulierungen und im Wortschatz – gedenken, guot, alse niht 45 – an die Vorgänger an. Andererseits gibt es Abweichungen von der Tradition, die beachtet sein wollen: Gottfried spricht nicht vom Autor, der memoria bewirkt, auch nicht vom Schriftwerk, das die Erinnerung für künftige Zeiten aufbewahrt. Er formuliert vielmehr unpersönlich und allgemein (gedaehte man) und schafft so die Möglichkeit, die Rezipienten – Leser oder Hörer – miteinzubeziehen. Diese Abweichungen ändern aber nichts an der Zugehörigkeit der Exordialsentenz zu einer wohletablierten Tradition: der Tradition des Prologs von historischen Werken. Alle zitierten Belege, soweit sie dem 44 Konrad von Würzburg: Partonopier und Meliur, hg. von Karl Bartsch, mit einem Nachwort von Rainer Gruenter, Berlin 1970 (Deutsche Neudrucke: Texte des Mittelalters). 45 Zum Terminus guot vgl. in den lateinischen Textbeispielen die Ausdrücke virtus, merita, exempla, quod bene feceris; zu alse niht vgl. quid foret?, quis nosset?, nulla notio, mori, quasi numquam fuerint, quasi qui numquam vixerit.
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Mittelalter angehören, stammen von Historikern (oder Autoren, die als solche gelten wollen). Gottfried, dessen umfassende Bildung mehrfach betont wurde,46 muß sich auch in der Geschichtsschreibung des Mittelalters ausgekannt haben. Indem er sein Werk mit einem historiographischen Topos eröffnet, gibt er sich den Anschein, selbst in die Reihe der historiographi zu gehören.47 Die neuere Forschung hat – vor allem in Auseinandersetzung mit Walter Haug – wiederholt auf die von Gottfried intendierte Nähe seines Romans zur Geschichtsdarstellung hingewiesen.48 Beleg dafür waren in erster Linie die quellenkritischen Bemerkungen im sog. stichischen Prolog (V. 131 ff.). Tristan und Isolde (so formulierte Christoph Huber provokativ, aber doch wohl im Sinne Gottfrieds) seien „Helden, die gelebt haben“, und ihre Autoren seien Geschichtsschreiber.49 Der strophische Prolog wurde bisher nicht für diesen Gedanken herangezogen. Es ist zu prüfen, ob auch die Eingangssentenz in ihrer generalisierenden, „kontextneutralen“50 Formulierung direkt auf den Autor Gottfried und die Protagonisten seines Romans bezogen werden darf. Helmut de Boor hat sich entschieden gegen einen solchen Zweitsinn ausgesprochen,51 ist aber mit seiner Meinung nicht allgemein durchgedrungen. Man wird bei der Klärung der Frage auch an die unterschiedlichen Möglichkeiten der damaligen Rezeption denken müssen: die mündliche Vermittlung und die Lektüre.52 Wer die Verse beim öffentlichen Vortrag ein erstes Mal zu hören bekam, der wird nicht immer in der Lage gewesen sein, ihre potentielle Mehrdeutigkeit nachzuvollziehen. Freilich wissen wir nicht, ob der mit Theorie schwer befrachtete strophische Prolog normalerweise überhaupt zum Vortrag 46 Zuletzt dazu Huber [Anm. 3], S. 23; Tomasek [Anm. 2], S. 26 – 28. 47 Vgl. Jaffe [Anm. 3], S. 302 f. Siehe auch Fritz Peter Knapp [SV 38], hier S. 600. 48 Z. B. Mark Chinca: History, Fiction, Verisimilitude. Studies in the Poetics of Gottfried’s ,Tristan‘, London 1993, S. 46 – 60; Keck [Anm. 3], S. 174 – 176; Sonja Glauch: die fabelen sol ich werfen an den wint. Der Status der arthurischen Fiktion im Reflex: Thomas, Gotfrid und Wolfram, in: Poetica 37 (2005), S. 29 – 64, hier S. 54 – 58; Tomasek [Anm. 2], S. 137 f. 49 Huber [Anm. 3], S. 36. Vgl. ähnlich Eberhard Nellmann: Zu Wolframs Bildung und zum Literaturkonzept des ,Parzival‘, in: Poetica 28 (1996), S. 327 – 344, hier S. 340: „Parzival hat gelebt“. 50 So Tomasek [Anm. 2], S. 129. 51 De Boor, Helmut: Der strophische Prolog zum ,Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 81 (1959), S. 47 – 60. Vgl. Tomasek [Anm. 2], S. 129 f. 52 Vgl. dazu Tomasek [Anm. 2], S. 94 f.
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kam oder ob man es nicht vorzog, die Vorlesung mit dem publikumsfreundlicheren stichischen Prolog (ab V. 41 ff.) zu beginnen. Denken wir uns aber einen Leser als Rezipienten, erweitert sich das Bedeutungsspektrum der Verse. Der Leser hatte die Möglichkeit, die herausfordernden Formulierungen und ihren auffallenden Akrostichonschmuck sorgfältig zu studieren, so wie es auch moderne Rezipienten tun. Die heute allgemein akzeptierte Deutung der G-Initiale der Eingangsstrophe auf den Namen des Autors53 dürfte auch für die damaligen Leser nahegelegen haben. Dann aber lag es auch nahe, die Person dessen, der „gedenkt“, nicht nur generalisierend aufzufassen, sondern zugleich speziell auf Gottfried zu beziehen. Gottfried – so konnten die Verse gelesen werden – widmet sich, als Autor einer wahren Geschichte, einer verdienstvollen Aufgabe: Er hält die Erinnerung wach an Menschen, denen die Welt Gutes verdankt, und er sichert mit seinem Werk die Fortexistenz dieses Guten. In dieser Formulierung steckt eine Provokation – sicher einer der Hauptgründe dafür, daß so viele hartnäckig an der These festhalten, die Schöpfer des „Guten“ seien nicht die Protagonisten, sondern die Autoren (oder der Autor), und Pflicht sei es, ihrer zu gedenken. Denn worin könnte, so fragt man sich, das Gute bestehen, das Tristan und Isolde in die Welt gebracht haben? Sollte Gottfried hier den Versuch machen, einer „moralisch fragwürdigen Geschichte einen moralischen Kredit zu verschaffen, für den seine Erzählung selbst nicht aufkommen kann“? 54 Anna Keck, die diese kritische Frage stellte, hat sie mit Recht verneint. Eine Reihe von Interpreten bemüht sich in neuerer Zeit, das „Gute“, das Gottfried im Prolog im Sinn hat, zu verifizieren.55 Interessante Vorschläge sind gemacht worden, doch wird die Diskussion fortgesetzt werden müssen. Mit den vorstehenden Beobachtungen hoffe ich ein solides Fundament gelegt zu haben, auf dem sich aufbauen läßt.
53 Grundlegend zum Akrostichonschmuck: Bernd Schirok: Zu den Akrosticha in Gottfrieds ,Tristan‘, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 113 (1984), S. 188 – 213. Vgl. ferner Huber [Anm. 3], S. 29 f.; Tomasek [Anm. 2], S. 92 f. 54 Keck [Anm. 3], S. 186 f. 55 Vgl. Chinca [Anm. 48], S. 53 f.; Keck [Anm. 3], S. 188 – 195; Huber [Anm. 3], S. 32 f., 37; Tomasek [Anm. 2], S. 138 – 140.
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Epilog Die Frage, wie den Handlungen eines Menschen über den Tod hinaus Dauer verliehen werden kann, hat nicht nur die mittelalterlichen Historiker – und in ihrem Gefolge Gottfried von Straßburg – bewegt. Kein geringerer als Goethe (der Gottfrieds Dictum sicher nicht gekannt hat) hat sich zum Thema des Nachlebens und Nachwirkens geäußert und einen – wie es zunächst scheint – absolut gegenteiligen Standpunkt vertreten. In seinen Vorstudien zur zweiten Reise nach Italien (1790) finden sich einige Bemerkungen über die Frage, wie bedeutende Menschen im Gedächtnis ihres Volkes weiterleben. Goethe nennt zwei prominente Beispiele: zum einen Palladio, den großen Renaissance-Architekten, der sich durch seine Bauwerke ein Andenken gesichert habe; zum anderen den seinerzeit führenden Rechtsgelehrten Andrea Alciati (1492 – 1550), dessen juristische Schriften weiterwirkten. Goethe schließt mit der knappen Formel: „Durch Wirkung – Andenken und Verehrung“.56 Goethe scheint hier die Gottfriedsche Maxime geradezu auf den Kopf zu stellen: Nicht das tätige Erinnern bewirkt das Weiterleben; vielmehr ist die Wirkung der Menschen das Primäre, Erinnerung an sie eine Folge davon. Goethe hat freilich eine ganz andere Art von Nachwirkung im Auge als Gottfried. Ihm geht es um Menschen, die – als Künstler oder Gelehrte – sichtbare Spuren hinterlassen haben. Entscheidend ist hier die Faktizität und die Qualität des Geschaffenen. Wer Großes, Dauerhaftes vollbracht hat, der überlebt auch als Person. Gottfrieds Protagonisten sind von anderer Art. Was sie der Nachwelt hinterlassen, ist ihr (fiktives) Leben. Eine Wirkung kann dies Leben nur entfalten, wenn man davon erzählt; wer ihm Dauer verleihen will, muß die Erinnerung an die Protagonisten weitertragen. Solches Tradieren der Erinnerung bezeichnet Gottfried als seine vordringliche Aufgabe.
56 Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Weimarer Ausgabe, Bd. 34,2, S. 238.
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Perspicuitas – Gottfrieds Stilideal? Manfred G nter Scholz Seine Worte sind klar und vieldeutig, seine Bilder durchsichtig wie Vexierbilder, die aus unterschiedlichen Perspektiven ganz unterschiedliche Ansichten vorspiegeln.1
Die Fronten scheinen klar: auf der einen Seite die vindære wilder mære, der mære wildenære (v. 4665 f.), die, wollen sie verstanden werden, der tiutære bedürfen (v. 4684 f.); auf der anderen Seite die, deren mære sich durch cristalline[] wortelin auszeichnen, die als luter und reine gepriesen werden (v. 4628 f.) und deren sin von Feen geliutert unde gereinet scheint (v. 4699 ff.).2 Dort Dichter vom Schlage Wolframs von Eschenbach, Betrüger und Scharlatane, deren Werke man mit Hilfe von swarzen buochen zu deuten hat (v. 4690 f.), Propagandisten der obscuritas also; hier der poeta laureatus Hartmann von Aue und der gleichfalls hochgelobte verwære Bligger von Steinach, denen nach Ausweis der für sie verwendeten schmückenden Beiwörter das Stilideal der perspicuitas zugeordnet werden kann.3 Das Ganze findet sich im Literaturexkurs des ,Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg (v. 4621 – 4820), der eingeschaltet wird, nachdem der Erzähler seine Unfähigkeit beteuert hat, Tristans Schwertleite so zu schildern, daß sein Publikum vrçude daran empfinde. Schuld daran tragen die zahlreichen Vorgänger, von denen ritterlichiu zierheit so mannigfaltig beschrieben worden ist (v. 4616 ff.) und aus denen im Exkurs als offenbar prominenteste Vertreter Heinrich von Veldeke, Hartmann und Bligger herausgegriffen werden. In ihre Fuß1
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Ursula Liebertz-Grün: Klassisches im Mittelalter. Pluralität in der volkssprachigen höfischen Literatur, in: Wilhelm Voßkamp (Hg.): Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken. DFG-Symposion 1990, Stuttgart/Weimar 1993, S. 101 – 120, hier S. 111. Zitiert wird nach: Gottfried von Straßburg: ,Tristan und Isold‘, hg. von Friedrich Ranke, Zürich/Berlin 91965. Zu v. 4628 f. und zur Bligger-Stelle vgl. Sigrid Müller-Kleimann: Gottfrieds Urteil über den zeitgenössischen deutschen Roman. Ein Kommentar zu den Tristanversen 4619 – 4748, Stuttgart 1990, S. 52 – 57 und 60 – 64 bzw. S. 226 – 282.
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stapfen kann und will Gottfrieds Erzähler also nicht treten, er wird, wie sich später zeigt, von einer Schilderung der Schwertleite absehen und ein anderes Verfahren wählen – und dennoch hat die Forschung deren angebliches Stilideal der perspicuitas auch für dasjenige Gottfrieds erklärt. Perspicuitas ist für die antike Rhetorik „das prominenteste Stilprinzip“.4 Sie wird als gedankliche Klarheit, als narrationis perspicuitas (auch narratio aperta oder dilucida) der inventio zugeordnet, als sprachliche Klarheit, auch explanatio genannt, der elocutio. 5 Für Cicero wie für die ,Rhetorica ad Herennium‘ ist perspicuitas (in letzterer als Teil der elegantia) als Eindeutigkeit bzw. Unmißverständlichkeit der Aussage dem Ideal des Latine-Sprechens nebengeordnet: Latine sprechen heißt für Cicero korrekt sprechen sine ambiguo verbo aut sermone, eine Absage also an Amphibolie;6 anderwärts äußert er sich über den ,attischen‘ Redner: sermo purus erit et Latinus; dilucide planeque dicetur,7 oder er fordert von der narratio: ut brevis, ut aperta, ut probabilis sit (wobei unter aperta die Einhaltung der Reihenfolge der Geschehnisse und der Zeiten verstanden wird).8 Auch Isidor verbindet die beiden Prinzipien der Korrektheit und der Klarheit: Latine autem et perspicue loquendum, und wenig später erwähnt er das Ideal des purum et honestum oratoris eloquium.9 Quintilian bespricht sowohl die bei der narratio anzuwendende perspicuitas als auch die der elocutio zugeordnete; bei dieser legt er u. a. Wert auf propria verba, bei jener schließt er u. a. den Gebrauch gesuchten und ungebräuchlichen Vokabulars (verbis […] exquisitis et ab usu remotis) aus.10 Allerdings 4 Bernhard Asmuth: Perspicuitas, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 6 (2003), Sp. 814 – 874, hier Sp. 814. 5 Vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart 42008, § 315 und §§ 528 – 537. 6 Marcus Tullius Cicero: ,De oratore‘ – ,Über den Redner‘. Lateinisch-deutsch, hg. und übersetzt von Theodor Nüßlein, Düsseldorf 2007, III 37.49.52; ,Rhetorica ad Herennium‘. Lateinisch-deutsch, hg. und übersetzt von Theodor Nüßlein, Düsseldorf/Zürich 21998, IV 17. Vgl. Asmuth [Anm. 4], Sp. 814 f. und 825 f.; Lausberg [Anm. 5], § 463 und 528. 7 Rolf Westman (Hg.): M. Tvlli Ciceronis Scripta qvae manservnt omnia, Fasc. 5: ,Orator‘, Leipzig 1980, 23,79. 8 E. Stroebel (Hg.): M. Tvlli Ciceronis Scripta qvae manservnt omnia, Fasc. 2: Rhetorici libri dvo qvi vocantvr ,De inventione‘, Stuttgart 1965 (ND d. Ausg. 1915), I 20,28 f. 9 W. M. Lindsay (Hg.): Isidori Hispalensis Episcopi ,Etymologiarvm sive Originvm Libri XX‘, 2 Bde., Oxford 1911, II 16 und II 19. 10 Marcus Fabius Quintilianus: ,Institutionis Oratoriae Libri XII‘ – ,Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher‘, hg. und übersetzt von Helmut Rahn, 2 Teile,
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hat Quintilian ein weites Verständnis von proprietas: Sie sei nicht nur elementar zu verstehen; auch die Metapher mache Worte für Dinge passend, die eigentlich nicht zu ihnen gehören; etiam quae bene translata sunt, propria dici solent. 11 Die Vollkommenheit der elocutio ist bei Quintilian in mehrere virtutes aufgeteilt: in die grammatische Tugend der Latinitas und in die rhetorischen Tugenden perspicuitas, ornatus und aptum. 12 An einer frühen Stelle seiner Schrift nennt er perspicuitas die summa virtus der oratio. 13 Der Tugend der perspicuitas steht das vitium der obscuritas gegenüber, die, wenn sie durch semantisch unklare Syntax hervorgerufen wird, als ambiguitas oder amphibolia firmiert.14 Quintilian, der sie so kennzeichnet, führt als weitere Merkmale der obscuritas zu lange Sätze, Parenthesen und unverständliche Kürze an.15 Das übertragene Sprechen, die translatio, die Allegorie ist für Cicero ein Schmuck der Rede, bei dem obscuritas zu meiden sei, denn dadurch entstünden aenigmata. 16 Ähnlich urteilt Quintilian: Häufiger Gebrauch der Metapher mache die Rede dunkel, ihr dauernder Gebrauch bringe Allegorie und Rätsel hervor (in allegoriam et aenigmata exit).17 Exzessives allegorisches Sprechen wird bei Quintilian am Ideal des dilucide dicere gemessen, wenn es heißt: sed allegoria, quae est obscurior, ,aenigma‘ dicitur, vitium meo quidem iudicio, si quidem dicere dilucide virtus, quo tamen et poetae utuntur. 18 Und bei Cicero findet sich ein im Wortsinn erhellender, im vorliegenden Kontext möglicherweise aufschlußreicher Satz über die translatio: Modus autem nullus est florentior in singulis verbis neque qui plus luminis adferat orationi. 19 Zur obscuritas ist noch anzumerken, daß sie in der Spätantike geradezu zum christlichen Stilprinzip wird, so bei Augustinus, wenn er darauf hinweist, daß die Bibel viele dunkle Stellen enthalte, wenn er von der nützlichen und heilsamen Unklarheit spricht und 11 12 13 14 15 16 17 18 19
Darmstadt 31995, IV 2,36 und VIII 2,22. Zu Quintilian vgl. Asmuth [Anm. 4], Sp. 827 – 830. ,Inst. Or.‘ VIII 2,1; VIII 2,6; VIII 2,10. Schon in der ,Rhet. ad Her.‘ heißt es: propria, quae eius rei verba sunt aut esse possunt, qua de loquemur (IV 17). Vgl. Lausberg [Anm. 5], § 463. ,Inst. Or.‘ I 6,41. Vgl. Lausberg [Anm. 5], § 1067 und 1069. Vgl. ,Inst. Or.‘ VIII 2,14 – 16; VIII 2,19. ,De or.‘ III 167. ,Inst. Or.‘ VIII 6,14. Ebd., VIII 6,52. ,De or.‘ III 166. Zur Allegorie bei Cicero und Quintilian vgl. Wiebke Freytag: Allegorie, Allegorese, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1 (1992), Sp. 330 – 392, hier Sp. 333 f. und 335 f.
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von der den Exegeten gestellten Aufgabe, nach dem verborgenen Sinn zu suchen.20 Ist perspicuitas spätantiken Autoren wie Sulpicius Victor,21 Augustinus und Martianus Capella22 noch geläufig, so entschwindet sie dem rhetorischen Bewußtsein im Mittelalter.23 Nur ganz gelegentlich wird sie noch erwähnt, aber nicht mehr umschrieben; so bei Marbod von Rennes (Nam lex scribendi recte tria postulat: ut sit / Perspicuum vitioque carens ac schemate vernans) 24 oder bei Johannes von Salisbury in einem Satz, der Quintilian nachgebildet scheint (Virtus enim sermonis optima est perspicuitas et facilitas intelligendi).25 Das Zurücktreten der perspicuitas hat vielleicht nur zum geringeren Teil überlieferungsgeschichtliche Gründe: Ciceros ,De oratore‘ war im 11. Jahrhundert nur in einer, im 12. in drei europäischen Bibliotheken vorhanden, und der einschlägige Abschnitt über die der elocutio angehörende perspicuitas bei Quintilian fehlte in der den Lesern des Mittelalters zugänglichen verstümmelten Ausgabe der ,Institutio oratoria‘.26 „Eine gewichtigere Ursache“ für den Relevanzverlust der perspicuitas ist für Bernhard Asmuth „das die Epoche
20 Vgl. Asmuth [Anm. 4], Sp. 839. 21 Nach Eberhard Nellmann: Wolfram und Kyot als vindære wilder mære. Überlegungen zu ,Tristan‘ 4619 – 88 und ,Parzival‘ 453,1 – 17, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 117 (1988), S. 31 – 67, hier S. 43, Anm. 62, ist Sulpicius Victor überhaupt nur durch eine (heute verlorene) Handschrift bekannt und war auch im Mittelalter wohl kaum verbreitet. 22 Vgl. Martianus Capella: ,Liber de arte rhetorica‘, in: Carolus Halm (Hg.): Rhetores latini minores. Ex codicibus maximam partem primum adhibitis, Leipzig 1863, S. 449 – 492, hier S. 486: Narrationis autem laudes tres sunt, ut lucida sit, ut verisimilis, ut brevis; et his contraria vitia vocantur. Lucida est narratio, si non confusa, si vera, si usitatis significationibus, si non longo circuitu rem monstremus (46,551). Den Beleg verdanke ich wie die unten genannten Stellen aus Marbod von Rennes und Johannes von Salisbury der Liste bei Müller-Kleimann [Anm. 3], S. 54. 23 Vgl. Stanisław Sawicki: Gottfried von Straßburg und die Poetik des Mittelalters, Berlin 1932, S. 58; Asmuth [Anm. 4], Sp. 835 f. 24 ,De ornamentis verborum‘ I 37 f., in: Rosario Leotta (Hg.): Marbodo di Rennes, ,De ornamentis verborum‘ – ,Liber decem capitulorum‘. Retorica, mitologia e moralità di un vescovo poeta (secc. XI–XII), Firenze 1998. 25 ,Metalogicus‘ 19, in: Joannis Saresberiensis ,Metalogicus‘, PL 199 (1855), Sp. 823 – 946, hier Sp. 849. 26 Vgl. James J. Murphy: Rhetoric in the Middle Ages. A History of Rhetorical Theory from St. Augustine to the Renaissance, Berkeley/Los Angeles/London 1974, S. 109 und 125.
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beherrschende allegorische Denken, das hinter der vordergründigen Erscheinung der Dinge einem verborgenen Sinn nachspürt.“27 Zur semantischen Ambiguität und der Verwendung gesuchten Vokabulars als Feinden der perspicuitas wäre damit als drittes die Allegorie getreten – insgesamt eine tragfähige Basis für eine Analyse von Gottfrieds Sicht der perspicuitas. Daß er dieses Stilprinzip überhaupt aufgreift, wird angesichts des Schweigens der mittelalterlichen Quellen als „eine bemerkenswerte Ausnahme“ verzeichnet.28 Woher er Sache und Begrifflichkeit kannte, ob von der ,Rhetorica ad Herennium‘, von Martianus Capella, Isidor oder Johannes von Salisbury, bleibt offen. Seine Wortwahl – luter, reine, cristallin – scheint jedenfalls keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, daß er dasselbe meint wie die Theoretiker der puritas und perspicuitas mit purus oder dilucidus. Stellt Gottfried seine beiden Zeitgenossen Hartmann und Bligger damit als vorbildliche Vertreter eines Stilideals hin? Die betreffenden rühmenden Passagen werden von einigen Forschern mit mehr oder weniger leichtem Vorbehalt gelesen: Auf J. A. Asher wirkt der Preis Hartmanns im Vergleich mit dem Bligger-Lob „lukewarm“,29 die Verse 4628 – 4630 seien „possibly with some sarcasm“ formuliert, denn sie spielten auf die Hartmann von Asher unterstellte Einfachheit des Stils, die Konventionalität der Bilder und die Wahl unkomplizierter Wörter an,30 Qualitäten, mit denen – träfen sie zu – Hartmann ein klassischer Adept der perspicuitas wäre. Auch nach Dieter Goebel stellt der Preis Hartmanns nur „ein relatives Lob“ dar.31 Im überschwenglichen Lob Bliggers erkennt er ebenfalls, wie schon Ute Schwab, ironische Züge.32 Ursula Liebertz-Grün urteilt radikal: „Im Scheinlob Bliggers von Steinach parodiert der Erzähler mit burlesker Komik den Schwulst preziöser 27 Asmuth [Anm. 4], Sp. 838. Der von Asmuth als Beleg genannte Aufsatz widmet sich breit der Allegorie, ohne aber das Verschwinden der perspicuitas zu berühren: Friedrich Ohly: Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 89 (1958/59), S. 1 – 23. 28 Asmuth [Anm. 4], Sp. 838. 29 J. A. Asher: Hartmann and Gottfried: master and pupil?, in: Journal of the Australasian Universities Language and Literature Association 16 (1961), S. 134 – 144, hier S. 142. 30 Ebd., S. 136. 31 Dieter Goebel: Tristans Einkleidung (Gottfried v. 4555 – 5011), in: Zeitschrift für deutsche Philologie 96 (1977), S. 61 – 72, hier S. 66. 32 Vgl. ebd., S. 67; Ute Schwab: Lex et gratia. Der literarische Exkurs Gottfrieds von Strassburg und Hartmanns ,Gregorius‘, Messina 1967, S. 8.
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Stilblüten ideologischen Sprechens“.33 Wenn Gottfrieds Erzähler nach dem Literaturexkurs in einer von rhetorischer Ironie dominierten Passage (v. 4828 – 4858) 34 konstatieren muß, daß ihm angesichts der Übermacht der schone redenden sein sin und seine zunge ihren Dienst versagen, bedeutet dies, daß, was immer an den einzelnen Autoren gerühmt wurde, nicht dazu taugt, die Schilderung von Tristans Schwertleite zu befördern. So kann damit gerechnet werden, daß – wie in der Minnesänger-Partie, für die dies häufig unterstellt wird – auch in den Abschnitten zu Veldeke, Hartmann und Bligger Ironie im Spiel gewesen sein mag. Immerhin ist eine Funktion von Gottfrieds Literaturexkurs darin zu sehen, eine Distanz zur literarischen Tradition zu etablieren. Hartmanns Nähe zum klassischen Ideal der perspicuitas ist, da er weder mit Metaphern geizt noch die Ambiguität des Wortes und der Rede im Sinne Ciceros scheut, fraglich. Mit Bligger verhält es sich, folgt man der exotischen Beschreibung bei Gottfried, kaum anders: Bei einem Zungenharfner, Messerwerfer und Buchstabenvogel wird man die keuschen und ehrenhaften Ideale der Reinheit und Durchsichtigkeit zu allerletzt suchen (auffallend sind auch die auf Unvertrautes und Überraschendes abzielenden Vokabeln vremede und spæhe v. 4709 und 4713). Es klingt zunächst unverfänglich, wie Walter Johannes Schröder die Mehrdimensionalität von Hartmanns Sprache umschreibt: „War beim Anhören der Geschichte Hartmanns ein allgemeines Vorverständnis für die Beziehungsfülle des sprachlichen Ausdrucks nötig“ – die Fortsetzung des Satzes freilich stellt alles auf den Kopf, was man über Gottfrieds Sprache und Stil zu wissen meint: „so muß man bei Gottfried von einem solchen Verstehen gerade absehen, wenn man ihn richtig lesen will.“35 Denn Gottfried, so Schröder, „streift den allegorischen Gehalt, den die Wörter der höfischen Sprache haben, ab; er verzichtet
33 Ursula Liebertz-Grün: Selbstreflexivität und Mythologie. Gottfrieds ,Tristan‘ als Metaroman, in: Germanisch-romanische Monatsschrift NF 51 (2001), S. 1 – 20, hier S. 9. 34 Vgl. Peter K. Stein: Tristans Schwertleite. Zur Einschätzung ritterlich-höfischer Dichtung durch Gottfried von Straßburg, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 51 (1977), S. 300 – 350, hier S. 323. 35 Walter Johannes Schröder: Bemerkungen zur Sprache Gottfrieds von Straßburg, in: Karl Bischoff/Lutz Röhrich (Hg.): Volk, Sprache, Dichtung. Fs. Kurt Wagner, Gießen 1960, S. 49 – 60, hier S. 53.
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auf die dort überall mitschwingenden und anspielenden Bedeutungskomplexe und reduziert den Wortinhalt auf den reinen Begriff.“36 Der reine Begriff, die Abkehr vom Beziehungsreichtum der sprachlichen Äußerung, der Verzicht auf Ambiguität und auf Allegorie – Gottfried, nicht Hartmann, wie man immer meint, wäre nach Schröder der klassische Vertreter der Ideale der puritas und perspicuitas. Daß es beide sind, Hartmann und Gottfried, ist seit langem ein Stereotyp der Forschung. Im wesentlichen allein vom Literaturexkurs ausgehend, benennt ein Teil der Forscher das Hartmann, Bligger und Gottfried Gemeinsame: Julius Schwietering erkennt die an jenen beiden gerühmte „Klarheit des Stils“ auch bei Gottfried wieder,37 Peter Ganz konstatiert, im Exkurs beschreibe Gottfried „sein eigenes Stilideal“,38 und Rüdiger Schnell sieht „die eindeutige Durchsichtigkeit eines Wortes (perspicuitas) auf den intendierten Sinn hin“ als Gottfrieds „Sprachideal“.39Andere ziehen verwandte Belege aus dem ,Tristan‘ heran. Schon Friedrich Heinrich von der Hagen spricht mit Hinweis auf das Hartmann-Lob von der „krystallhellen Darstellung“ der Liebesgrotte,40 und Hans-Günther Nauen zieht im Zusammenhang mit dem Kristallbett der Grotte den kühnen Schluß auf Gottfrieds Darstellungsweise: „Die kristallene Klarheit, die Gottfried vom Stil Hartmanns rühmt (4629), ist als höchste Eigenschaft bezeichnend für ihn selbst.“41 Es ist methodisch riskant, die Beschreibung des Grottenbettes uz cristallinem steine (v. 16718), des Bettes der cristallinen minne (v. 16978) und die Forderung an die minne, die ouch cristallin, durchsihtic und durchluter sin 36 Ebd., S. 52. 37 Julius Schwietering: Die deutsche Dichtung des Mittelalters, Potsdam o. J. [1932], S. 194. 38 Gottfried von Straßburg: ,Tristan‘. Nach der Ausgabe von Reinhold Bechstein hg. von Peter Ganz, 1. Teil, Wiesbaden 1978, S. XXIV. 39 Rüdiger Schnell: Suche nach Wahrheit. Gottfrieds ,Tristan und Isold‘ als erkenntniskritischer Roman, Tübingen 1992, S. 257, ebenso S. 249. Vgl. auch Nellmann [Anm. 21], S. 44, der „gleichgerichtete Ideale“ in bezug auf den sprachlichen Ausdruck bei Quintilian und Gottfried erkennt. 40 Friedrich Heinrich von der Hagen: Minnesinger. Deutsche Liederdichter des zwölften, dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts, Bd. 4, Leipzig 1838, S. 610. 41 Hans-Günther Nauen: Die Bedeutung von Religion und Theologie im Tristan Gottfrieds von Straßburg, Diss. Marburg 1947, S. 100. Vgl. auch Gareth S. Penn: Gottfried von Straßburg and the Invisible Art, in: Colloquia germanica 1972, S. 113 – 125, hier S. 118: Gottfrieds Kristallbett „seems to be the physical manifestation of his desideratum of lucid composition“.
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solle (v. 16983 f.), nur wegen des Gebrauchs derselben oder ähnlicher Epitheta mit dem Lob Hartmanns und Bliggers zu verknüpfen.42 Näher liegt es, aus der Bitte um Inspiration durch Apoll und die Musen die wort vom Helikon heranzuziehen, von denen die rede durchliuhtec wird (v. 4896 ff.). Doch auch die semantische Ausweitung des Adjektivs durch Manfred Kern (außer ,klar‘, ,verständlich‘, ,präzise‘ bedeute es auch ,alles durchdringend‘ bzw. ,gänzlich durchdrungen, durchsetzt, durchfärbt‘, was sicher zu weit geht), wodurch es sich „als poetologisches Kennwort“ für den ganzen ,Tristan‘ erweise,43 ändert nichts daran, daß der Sprecher des Literaturexkurses auf die Gaben Apolls und der Musen, die sie schon manegem man (v. 4877) haben zuteil werden lassen und die in nichts anderem bestehen als in den an den Kollegen gerühmten künstlerischen Errungenschaften,44 dankend verzichtet (vgl. v. 4923 ff.);45 desgleichen lehnt er es ab, Tristans Schwertleite à la Vergil oder Veldeke zu gestalten, z. B. mit Hilfe prominenter Ausstatter wie Vulkan oder Kassandra.46 Diese ist eine „Zunftgenossin Bliggers“,47 42 Schnell [Anm. 39], S. 231, scheut dieses Risiko nicht, sondern spricht von der „Parallelisierung von Liebes- und Sprachideal in Gottfrieds ,Tristan‘“. 43 Manfred Kern: Edle Tropfen vom Helikon. Zur Anspielungsrezeption der antiken Mythologie in der deutschen höfischen Lyrik und Epik von 1180 – 1300, Amsterdam/Atlanta 1998, S. 176. Alois Wolf: diu w re wirtinne – der w re Elic n. Zur Frage des typologischen Denkens in volkssprachlicher Dichtung des Hochmittelalters, in: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 6 (1974), S. 93 – 131, hier S. 124, hält durchliuhtec wie eine gimme für eine Überbietung des für Hartmann gebrauchten cristallin, stellt dabei die folgende Ablehnung der Gaben aber ebensowenig in Rechnung wie Kern. 44 Vgl. Goebel [Anm. 31], S. 71; Sonja Glauch: Inszenierungen der Unsagbarkeit. Rhetorik und Reflexion im höfischen Roman, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 132 (2003), S. 148 – 176, hier S. 161 mit Anm. 25. 45 Anders Christoph Huber: Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen, Zürich/München 1988, S. 84, der darauf besteht, daß Gottfried die „Sinndurchsichtigkeit“ als Gabe des oberesten trones für seine Dichtung beanspruche. 46 Zur Ablehnung der Gaben vom Helikon und der antikisierenden Beschreibung vgl. z. B.: Eckhard L. Wilke: Zur Literaturschau in Gottfrieds von Straßburg ,Tristan und Isolde‘, in: Acta Germanica 3 (1968), S. 37 – 46, hier S. 40 f.; W. T. H. Jackson: The Literary Views of Gottfried von Strassburg, in: Publications of the Modern Language Association of America 85 (1970), S. 992 – 1001, hier S. 998 f.; Christian Thelen: Das Dichtergebet in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin/New York 1989, S. 667 – 670 mit Anm. 2566; Alois Wolf: Gottfried von Straßburg und die Mythe von Tristan und Isolde, Darmstadt 1989, S. 110.
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denn ihr geist ist ebenso gefeinet wie der sin Bliggers (v. 4959 f.). Diese Gemeinsamkeit vorausgesetzt, wäre eine Ablehnung der klassischen Beschreibungsart dann aber schwer in Einklang zu bringen mit der angeblichen Übernahme von Bliggers Stilideal der perspicuitas (sofern es überhaupt dieser entspricht, s. o.) durch Gottfried, zumal der Verzicht auf die Gaben auch den Verzicht auf die Umschmelzung seiner worte zu vremedem wunder (v. 4889 ff.; dadurch würde er ein zweiter Bligger) einschlösse. Wenn der Erzähler die Gaben vom Helikon zurückweist, weil er keine Beschreibung liefern will wie so viele vor ihm, wie Hartmann, Bligger oder Veldeke, bedeutet das eine Absage an „Konventionalität“,48 und umgekehrt ist „dasjenige, was er an ihnen lobt, in seiner Gesamtheit das […], was er für sich selbst ablehnt“.49 Man darf nicht vergessen, daß ritterlichiu zierheit das Stichwort für den Literaturexkurs gewesen ist. So gesehen ist das Lob Hartmanns mit Dieter Goebel „ein Lob der geschmückten und dabei verständlichen Rede, die aber gerade auch bei der Beschreibung eines Prunkgegenstandes vonnöten ist“.50 Perspicuitas im gestalterisch limitierten Kontext einer Beschreibung wäre es dann in erster Linie, was an Gottfrieds Zeitgenossen gerühmt wird; gleichwohl wird man davon ausgehen dürfen, daß im Dichterkatalog der kritische Blick auch auf das für die Werke der Kollegen grundsätzlich Charakteristische gerichtet ist. Entspricht unter der eben formulierten Einschränkung Hartmanns Stil dem perspicuitas-Ideal (da wir vom Epiker Bligger nichts wissen, muß er außerhalb der Betrachtung bleiben)? Zwei Beispiele aus dem ,Erec‘ mögen genügen, um an Hartmanns mitunter komplexe Beschreibungstechnik zu erinnern: Die Beschreibung der Burg Penefrec und ihrer Umgebung (v. 7115 – 7194) wirkt dadurch besonders kunstvoll und kompliziert, daß sie polyperspektivisch und mehrsträngig angelegt ist und Personen einbezieht, sogar das Publikum als potentielle Jäger.51 Die lange Pferd- und Sattelbeschreibung (v. 7264 – 7766) steht 47 Andreas Kraß: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel, Tübingen/Basel 2006, S. 371. 48 Glauch [Anm. 44], S. 161. 49 Wilke [Anm. 46], S. 41. 50 Goebel [Anm. 31], S. 66. 51 Vgl. Peter Wiesinger: Die Funktion der Burg und der Stadt in der mittelhochdeutschen Epik um 1200. Eine sprachliche und literarische Studie zu Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Straßburg, in: Hans Patze (Hg.), Die Burgen im deutschen Sprachraum. Ihre rechts- und verfassungsgeschichtliche Bedeutung, Bd. 1, Sigmaringen 1976, S. 211 – 264,
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im Verdacht, selbst schon Parodie einer traditionellen Beschreibung zu sein, sie lädt ständig zu symbolischen und allegorischen Deutungen ein, und auch hier wird das Publikum, ein fiktiver Beschreibungskonkurrent gar, einbezogen.52 Die knappen Hinweise zeigen, daß für Hartmann selbst in dem beschränkten Bereich der Beschreibung von einer Durchsichtigkeit des Wortes auf den Sinn hin nur mit Vorsicht gesprochen werden kann und daß für ihn nicht gilt, was Wolfgang Monecke von ihm und Bligger sagt: „auf tiutære ist keiner von ihnen angewiesen“.53 Als Fazit ist vorläufig festzuhalten: Das Stilprinzip der perspicuitas hatte im Mittelalter keine Konjunktur. Was aus Antike und Spätantike darüber bekannt war, beschränkt sich im wesentlichen auf die in der ,Rhetorica ad Herennium‘ hervorgehobenen Qualitäten des pure, aperte und dilucide dicere, wobei unter den propria verba auch die Metapher zulässig ist, sowie auf die noch knappere Empfehlung bei Isidor, der es bei einer bloßen Nennung des perspicue-Redens beläßt. Wenn bei Gottfried die Adjektive luter, reine, cristallin ebenfalls ohne weitere Erklärung stehen, könnte dies besagen, daß er sich auf eine dieser Autoritäten stützt. Ob er mehr darunter fassen wollte als ,den klaren Ausdruck‘ oder ,das treffende Wort‘, bleibt unsicher; die drei Metaphern stehen aber zu nahe am lateinischen Modell, als daß die Koinzidenz bloßer Zufall sein dürfte. Daß die elaborierteren Überlegungen Ciceros und Quintilians zur perspicuitas und ihrem Verhältnis zur translatio und allegoria den Autoren des Mittelalters nicht zugänglich waren – ob sie dennoch auf Umwegen in den Schulunterricht gelangt sein konnten, entzieht sich unserer Kenntnis –, wird von den Germanisten, die vom „Stilideal“ Hartmanns, Bliggers und Gottfrieds reden, kaum je in Rechnung gestellt. Es wird vielmehr der Eindruck erweckt, als sei perspicuitas ein dem Mittelalter ganz geläufiges Stilprinzip. Differenzen bestehen in der Forschung hinsichtlich des Verhältnisses zwischen dem Ideal der Durchsichtigkeit einerseits, der sprachlichen Ambiguität, der Widersprüchlichkeit und der Allegorie andererseits. Während für Christoph Huber die Belege sprachlicher Vieldeutigkeit „als mögliche Abweichungen von einem eindeutigen Entsprechungshier S. 226 – 228. Zusammenfassend vgl.: Hartmann von Aue: ,Erec‘, hg. von Manfred Günter Scholz. Übersetzt von Susanne Held, Frankfurt a. M. 2004, S. 892 – 896. 52 Vgl. ebd., S. 898 – 929. 53 Wolfgang Monecke: Studien zur epischen Technik Konrads von Würzburg. Das Erzählprinzip der wildekeit, Stuttgart 1968, S. 15.
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verhältnis von Wort und Sinn einkalkuliert“ sind, Ambiguität „als einberechnete Abweichung von der Norm“ erscheint54 und Durchsichtigkeit „die allegorische Methode“ meint,55 für Gertrud Grünkorn die Kongruenz von wort und sin allegorisches Sprechen einschließen kann, Klarheit des Wortes in bezug auf den Sinn nicht Eindeutigkeit heißt56 und für Rüdiger Schnell die Vorstellung von der Durchsichtigkeit auch der Allegorie zugrunde liegt,57 behauptet Walter Haug, die Identität von wort und sin – das „Ideal der perspicuitas“ – stelle ein „dezidiert antiallegorisches Prinzip“ dar.58 Diese Folgerung hält Grünkorn für nicht nachvollziehbar, und in der Tat steht man damit vor der Entscheidung, in Gottfrieds Verwendung der Allegorie entweder den Bruch eines Stilideals erkennen oder sich von diesem Stilideal überhaupt verabschieden zu müssen. Die Verbindung zur rhetorischen Theorie wird übrigens in all diesen Stellungnahmen nicht hergestellt; Huber erwähnt zwar im Zusammenhang mit dem claritas/perspicuitas-Prinzip Gottfrieds „Quellen, die Poetiken“, gibt aber keine Belege an, was nach Sawickis Nullbefund auch kaum möglich wäre.59 Wenn Gottfrieds Erzähler die Gabe der worte vom Helikon, welche die rede durchliuhtec machent, zurückweist und statt dessen Tristans Kleider wie zuvor die seiner Gefährten mit Hilfe der Allegorie beschreibt, mit dem Unterschied, daß für den Protagonisten die Allegorie sich auch auf das Innere erstreckt (vgl. v. 4961 – 4974 und 4991 – 5006), scheint er das Prinzip der perspicuitas für sich selbst abzulehnen. Denkbar ist dann, daß die lange Digressio des Literaturexkurses, der Scheinbitte an den Helikon und der Scheinausstattung Tristans durch Vulkan und Kassandra
54 Christoph Huber: Wort-Ding-Entsprechungen. Zur Sprach- und Stiltheorie Gottfrieds von Straßburg, in: Klaus Grubmüller u. a. (Hg.): Befund und Deutung. Zum Verhältnis von Empirie und Interpretation in Sprach- und Literaturwissenschaft, Fs. Hans Fromm, Tübingen 1979, S. 268 – 302, hier S. 299 f. 55 Christoph Huber: Gottfried von Straßburg, ,Tristan und Isolde‘. Eine Einführung, München/Zürich 1986, S. 57. 56 Vgl. Gertrud Grünkorn: Die Fiktionalität des höfischen Romans um 1200, Berlin 1994, S. 147 und 149. 57 Vgl. Schnell [Anm. 39], S. 251. 58 Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Darmstadt 21992, S. 220 f. 59 Huber [Anm. 54], S. 296. Daß die Poetiken in diesem Zusammenhang schweigen, merkt auch Müller-Kleimann [Anm. 3], S. 62, zu Huber an.
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Manfred Günter Scholz
dazu dient, die allegorische Kleiderbeschreibung zu rechtfertigen.60 Zwar scheinen, wenn man Quintilians Äußerungen und den Satz Ciceros zur translatio mit der den üblichen Bildbereich variierenden Formulierung plus luminis heranzieht, Allegorie und perspicuitas zusammengedacht werden zu können, doch ist zu beachten, daß Cicero eine Einschränkung macht, indem er nur von singulis verbis spricht, so daß Gottfrieds komplexere Allegorien wie v. a. die der Minnegrotte dafür kaum Beispiele sein können. Den Verzicht auf die Gaben vom Helikon scheint der Erzähler auch formal unterstreichen zu wollen, indem er ausgerechnet in diesen Abschnitt gleich zweimal überlange Satzperioden einschaltet (v. 4908 – 4922 und 4929 – 4964) und damit die Warnung Quintilians vor zu langen Sätzen als Merkmal der obscuritas in ein Bekenntnis zur obscuritas ummünzt. Und überhaupt wäre der lange Umweg, den der Erzähler mit seiner Digressio gleichsam hakenschlagend unternimmt, nur um am Ende wieder an dem Punkt anzulangen, von dem er ausgegangen war (Tristan wartet noch immer auf seine Schwertleite), geradezu als Musterbeispiel obskuren Darstellens zu bezeichnen. Mit der Verständlichkeit mögen moderne Interpreten andere Probleme haben als das mittelalterliche Publikum, so daß nicht leicht zu entscheiden ist, an welchen Stellen im ,Tristan‘ unverständliche Kürze, für Quintilian ein Merkmal der obscuritas, anzutreffen ist. Auch die Grenze zwischen einem noch tolerablen Gebrauch der Metapher und einem exzessiven, der die Rede dunkel macht, ist von heute aus schwer zu ziehen. Gottfrieds zahlreiche Neologismen jedenfalls widersprechen der an die narratio gerichteten Forderung Quintilians, aperta ac dilucida zu sein. Der von Cicero formulierten Bedingung einer narratio aperta (die Geschehnisse sollen in ihrer natürlichen Reihenfolge geboten werden) wird im ,Tristan‘ zumindest an einer wichtigen Stelle nicht Genüge getan: Als Rückblende eingeschaltet wird der Moment, da Isold dem mit Tristan entschwindenden Schiff nachblickt (v. 18467 – 18600). Man hat längst beobachtet, daß uneigentliches Sprechen und Ironie, Polysemie und Widersprüchlichkeit zu Gottfrieds poetischer Sprache gehören. „Das significans“, bemerkt Hans Fromm, „zielt auf mehrere significata, die antinomischen Charakter tragen“, wobei die Mehrdeu60 Karl Bertau hebt hervor, daß im Literaturexkurs die Vorläufer und Zeitgenossen Gottfrieds selbst schon zu allegorischen Wesen werden: verwære, nahtegalen, des hasen geselle, die harfetragende zunge usw. Vgl. Karl Bertau: Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter, Bd. 2, München 1973, S. 919.
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tigkeit durch kein sprachliches Signal angezeigt wird.61 Und für Samuel Jaffe sind „Reinheit und Deutlichkeit“ von Gottfrieds Sprache, ihre ausgewogene Fügung und Schönheit „täuschend undurchsichtig auf sein dichterisches Wollen hin und locken deshalb immer weiter zu einer Ausdeutung“.62 Aufgrund derartiger Befunde kann Gertrud Grünkorn zu der „Behauptung“ gelangen, „daß Gottfried wie Wolfram die mehrdeutige Rede rechtfertigt“. „Der Umstand, daß Gottfried von der Wortebene bis zur Diskursebene grundsätzlich aporetisch deutet und kommentiert, macht auch bei ihm tiutære nötig.“63 Die Fronten, die so klar schienen, sind es nicht mehr. Gottfried hat das Ideal der perspicuitas hinter sich gelassen und sich dem Programm der obscuritas angenähert. Von einem radikalen Standpunkt aus konnte man sagen, in der scheinbaren Polemik gegen die vindære wilder mære formuliere er „die Poetik einer originären Dichtkunst, der er auch sein eigenes Werk zuordnet“.64 Aber Urteile, die sich verfestigt haben, so ungeprüft sie auch tradiert wurden, haben eine lange Haltbarkeit. Die Gefahr, daß obscuritas zu Gottfrieds Stilideal erklärt wird, besteht also vorerst nicht.
61 Hans Fromm: Gottfried von Straßburg und Abaelard, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (Tübingen) 95 (1973), Sonderheft, Fs. Ingeborg Schröbler, hg. von Dietrich Schmidtke und Helga Schüppert, S. 196 – 216, hier S. 204. 62 Samuel Jaffe: Da wil man, des man niene wil. Sallustische Prologtopik und Bernhardische Seelenanalyse in der dritten Strophe des ,Tristan‘-Prologs Gottfrieds von Straßburg, in: Wolfgang Harms u. a. (Hg.): Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit, Tübingen 1992, S. 173 – 194, hier S. 173. 63 Grünkorn [Anm. 56], S. 149 und 150. 64 Liebertz-Grün [Anm. 33], S. 5.
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Die Internationalisierung des Minnesangs Übernahme und Weiterentwicklung am Beispiel des Vasallitätsmotivs und der Kanzonenform
Anton Touber Die deutschen Minnesänger gehören mit den Lyrikern aus Katalonien, Norditalien und Sizilien, Nordfrankreich, Galizien und Portugal zu den Schülern der okzitanischen Troubadours. Dieser Einfluß hat in diesen Ländern zu einer teils gleichen, teils unterschiedlichen Rezeption geführt, von der wir zwei Aspekte näher betrachten.
1. Die ,Scuola Siciliana‘ In Palermo steht im Zentrum der Stadt die Kathedrale. Sie wurde im 12. Jahrhundert an einer alten, anfangs christlichen, danach islamischen und schließlich wieder christlichen Kultstätte im Normannenstil errichtet und im Lauf der Zeit viele Male erweitert. So stammt der heutige Haupteingang auf der Südflanke mit dem schönen gotischen Portal aus dem 15. Jahrhundert. Wir betreten hier die Kirche und finden unmittelbar links die Gräber der beiden deutschen Kaiser Heinrich VI. (1165 – 1197) und Friedrich II. (1194 – 1250), Vater und Sohn. Von Heinrich VI. sind uns vier deutsche Minnelieder überliefert. Gefühlvoll spricht er zu der Dame, MF 5,16: Ich gr eze mit gesange die s ezen, die ich verm den niht wil noch enmac; und MF 5,11: du zierest m ne sinne und bist mir dar zuo holt. nu merkent, wie ich daz meine: als edele gesteine, sw man daz leit in daz golt. Der Charme und die Zärtlichkeit des Kaisers Heinrich VI. stehen in schroffem Gegensatz zu der grausamen Realität seines Lebens. Denn ein wenig später ließ unser feinfühliger Dichter einem sizilianischen Edelmann eine Krone mit eisernen Nägeln in den Kopf schlagen, andere Gegner ließ er lebendig verbrennen, wieder andere heftete er, von Balken durchbohrt, an den Boden. Von seinem Sohn, Friedrich II., kennen wir, in sizilianischer Sprache, auch vier Gedichte. Zwei Zitate daraus: Die Dame spricht: Dolze meo drudo, e vat ne! Meo sire, a Dio t’acomanno, ch ti diparti da mene, ed io tapina
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rimanno („Mein süßer Geliebter, Ihr geht weg! Mein Herr, ich befehle Euch Gott, weil Ihr mich verlaßt und ich bleibe unglücklich zurück“). Der Kaiser antwortet: Dolce mia donna, lo gire non per mia volontate, ch mi convene ubidire quelli che m’ha ’n potestate. Or ti conforta s’io vaio e gi non ti dismagare, ca per null’altra d ’amare, amor, te non falseraio („Meine liebe Dame, die Abreise ist nicht mein Wille, denn ich muß Demjenigen gehorchen, der mich in seiner Gewalt hat. Beruhigt Euch, wenn ich jetzt weggehe, und verliert den Mut nicht, denn ich werde nie, aus Liebe zu einer anderen Dame, Euch betrügen, meine Geliebte“).1 Trotz der Treueversicherung an seine Dame beim Abschied war er viermal verheiratet, hatte noch viele andere Frauen und setzte viele Bastarde in die Welt. Sogar sein Grab in Palermo enthält den Körper einer mysteriösen Dame.2 Pikantes Detail: Papst Innozenz IV. hat in seiner Bulle vom 17. Juli 1245 Friedrich II. exkommuniziert und ihm vorgeworfen, daß er seine Gattinnen von Eunuchen überwachen ließ. Bei Kaiser Friedrich II. stellt man denselben Gegensatz zwischen seiner liebenswürdigen Lyrik und seinem bestialischen Auftreten fest wie bei seinem Vater. Seine Grausamkeit war sprichwörtlich. Den Verschwörern von Capaccio (im Cilento östlich von Paestum) ließ er 1246 die Nase abschneiden, die Hände und Füße abhacken und die Augen ausstechen. Auch ließ er sie von Pferden auseinanderzerren, lebendig verbrennen und ertränken. Diese bittere Diskrepanz zwischen Dichtung und Wahrheit bei Heinrich VI. und Friedrich II. – die wir übrigens auch in der lieblichen Poesie der bestialischen altnordischen Berserker der brandschatzenden, kulturbringenden Wikinger finden – mahnt zur Vorsicht bei der mentalitätsgeschichtlichen Erforschung mittelalterlicher Literatur. Um Friedrich II. ist die ,Scuola Siciliana‘ entstanden. Die Gedichte dieser Gruppe gehen oft, wie die der Minnesänger, auf die Poesie der Troubadours zurück. Man nimmt an, daß die Sizilianer handschriftliche okzitanische Vorlagen zur Verfügung hatten. Viele Gattungen, Motive, Themen und Strophenformen der Minnesänger und der Sizilianer sind bei den Troubadours vorgegeben. Aber beide Gruppen kennen die 1 2
The Poetry of the Sicilian School, hg. und übers. von Frede Jensen, New York/London 1986 (Garland Library of Medieval Literature A/22); das Zitat hier, S. 104. Wer sie ist, weiß man nicht. Im selben Grab liegt auch noch der Körper von Pietro II. von Aragon. Die erste Gattin von Friedrich II., Konstanze II. von Aragon (gestorben 1222), liegt rechts in einem eigenen Sarkophag aus weißem Marmor.
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coblas unisonans, die tornada und den senhal der Troubadours nicht.3 Und in vielen Handschriften der Troubadours und der Trouvères sind die Melodien überliefert, aber die Poesie der Sizilianer ist melodielos auf uns gekommen, und auch von den Minnesängern kennen wir kaum Musik. Ein weiteres gemeinsames Merkmal der Sizilianer und der Minnesänger ist, daß sie viel weniger Gattungen, Themen, Motive und Strophenformen kennen als die Troubadours und Trouvères. Als Beispiel dieser reduzierenden Übernahme im motivischen Bereich betrachten wir das Vasallitätsmotiv bei den Minnesängern und den Sizilianern. Im hominium kniet der Vasall vor seinem Herrn, legt die zusammengelegten Hände in die Hände des Herrn (die immixtio manuum) und verspricht ihm seinen Dienst (das volo). Der Vasall schwört Treue und legt die Hand auf eine res sacra, eine Reliquie, danach küssen der Herr und der Vasall sich auf den Mund. In okzitanischer Sprache existierten die Riten und die Sprache der Vasallität schon im 10. und 11. Jahrhundert, also lange vor dem Auftreten der Troubadours. Aber schon bei dem ersten Troubadour, Guillaume IX. (1071 – 1127), treffen wir Anspielungen auf die Vasallität an. In seinem Lied IX Mout jauzens me prenc en amar sagt er: Si7m vol mi dons s’amor donar, Pres suy del penr’e del grazir E del celar e del blandir (Z. 37 – 39) 4 („Wenn meine Dame bereit ist, mir ihre Liebe zu schenken, bin ich bereit, sie zu akzeptieren und ihr dankbar zu sein, und ich werde es verbergen und ihr dienen“). Die Termini celar und blandir spiegeln die Moralvorstellungen der Vasallität wider. In den Zeilen 7 – 8 sagt Guillaume: Qu’ans mi rent a lieys e7m liure, Qu’en sa carta7m pot escriure („Ich übergebe mich ihr und liefere mich an sie aus, so daß sie mich in ihre Urkunde aufnehmen kann“) – so wie es uns die Vasallitätsurkunden bezeugen.5 Nach Guillaume IX. verwenden die Troubadours die Vasallitätsterminologie oft. Vor allem Bernart de Ventadour (1147 – 1170) hat sie sehr bereichert.6
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Siehe Luciano Formisano: Troubadours, Trouvères, Siciliens, in: Anton Touber (Hg.): Le Rayonnement des Troubadours, Amsterdam/Atlanta 1998, S. 109 – 124, hier S.112 ff. Les chansons de Guillaume IX, Duc d’Aquitaine, hg. von Alfred Jeanroy, Paris 1916, S. 972. Man vergleiche weiter: Rita Lejeune: Formules féodales et style amoureux chez Guillaume IX d’Aquitaine, in: Littérature et société occitane au Moyen Age, Liège 1979 (Cahiers de l’A.R.U.Lg.), S. 104 – 120. Eduard Wechssler: Frauendienst und Vasallität, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 24 (1902), S. 159 – 190.
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Auch der deutsche Minnesang wendet die Vasallitätsterminologie an. Die Subordination des Vasallen finden wir zum Beispiel bei Heinrich von Morungen (1150 – 1222) MF 135,35 unde valle v r s unde n ge f ir vuoz, Reinmar von Hagenau (1160/1170 – vor 1210) MF 157,10 unde n ge dar. Burkhard von Hohenvels (1212 – 1242) nennt andere Vasallitätshandlungen KLD 6,XVII,1 Ich wil die vil guoten flÞhen umbe ein ding […] daz s l he mir ze lÞhen. Und in Strophe 3, Zeile 6 desselben Liedes sagt er: wils, ich tuon ir mannes reht: m ne hende valde ich ir; ruochet s s, s sol ich g hen und sol ez mit kusse enpf hen mit ir gÞren sol siz selbe l hen mir, womit fast das ganze hominium aufgerufen wird: das Lehen, der Lehnsmann, das Knien, die zusammengelegten Hände, der Kuß.7 Über das Vorhandensein der Vasallitätsterminologie im Minnesang gehen die Meinungen auseinander. Kluckhohn war der Meinung, daß die Minnesänger sie nicht kannten, Burdach, Kuhn und Neumann meinten hingegen, daß sie im Minnesang wohl anwesend ist; Bumke verneinte das wieder.8 Wie wir oben gesehen haben, gehörte die Vasallität sicher zum lyrischen Repertoire der Minnesänger, aber sie machten weniger von ihr Gebrauch als die Troubadours. Wie bei den Troubadours und Minnesängern trifft man auch in der ,Scuola Siciliana‘ die Vasallitätsterminologie an. Die Dame tritt als Lehnsherr auf, der Liebhaber ist ihr Vasall. Der Mann dient der Dame mit leanza („Treue“), und er stellt sich unter ihre baila („Autorität“) und signoraggi („Gewalt“). Auch hier gilt, daß die Termini alle schon bei den 7
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Für weitere Belege siehe Anton Touber: L’influence des troubadours dans la poésie de langue allemande chez les Minnesänger: les chansons de change, in: Actes du Quatrième Congrès International de l’Association Internationale d’Etudes Occitanes, Vitoria 1993, S. 349 – 358, und ders.: Die Vasallität in der deutschen und französischen Lyrik des Mittelalters, in: Recherches Germaniques 25 (1995), S. 3 – 13. Paul Kluckhohn: Der Minnesang als Standesdichtung, in: Archiv für Kulturgeschichte 11 (1914), wieder in: Hans Fromm (Hg.): Der deutsche Minnesang. Aufsätze zu seiner Erforschung, Bad Homburg 1961, S. 58 – 84; Konrad Burdach: Reinmar der Alte und Walther von der Vogelweide. Ein Beitrag zur Geschichte des Minnesangs, Halle (Saale) 1928, S. 45 ff., 142; Hugo Kuhn: Soziale Realität und dichterische Fiktion am Beispiel der höfischen Ritterdichtung Deutschlands, in: ders.: Dichtung und Welt im Mittelalter, Stuttgart 1959, S. 22 – 40, hier S. 30; Friedrich Neumann: Der deutsche Minnesang. Das Bild des Jahres 1960 (1960 – 1965), in: 2Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 2 (1965), S. 303 – 314; siehe darüber hinaus Hans Fromm (Hg.): Der deutsche Minnesang, Darmstadt 21985, S. 11 – 34; Joachim Bumke: Ministerialität und Ritterdichtung. Umrisse der Forschung, München 1976 (Edition Beck).
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Troubadours vorgegeben sind. Auffallend ist, daß sizilianische Wörter für die Vasallität wie ritenere, signoraggio, leanza, omaggio usw. direkte Lehnwörter aus der Troubadoursprache sind. Giacomo da Lentini sagt: quella a cui consenta core e corpo in baglia („Ich stelle mein Herz und meinen Körper unter die Gewalt meiner Dame“),9 und auch Rinaldo d’Aquino bedient sich in seinem Lied Per fin’amore vao s allegramente („Durch die hohe Minne fühle ich mich so glücklich“) einer reichen Vasallitätsterminologie.10 Er nennt sich omo seines signore (d. h. der Dame) und stellt fest: la donna ha ritenuto un servidore („Die Dame hat einen Diener akzeptiert“). Sogar Kaiser Friedrich II. ist durch die Liebesvasallität begeistert. In seinem Lied O lasso! Non pensai formuliert er: Di’ a la pi amorosa ca per sua cortesia si rimembri de lo servidore quello che per suo amore va penando („Sage meiner höfischen Dame, sie möge an ihren Diener denken, der sehr leidet durch die Liebe“). Man stellt weiter eine eigene Entwicklung in der ,Scuola Siciliana‘ fest. Einige Dichter drehen die Richtung der Vasallität um: Nicht der Mann ist der Liebesvasall der Frau; es ist die Frau, die als Vasall des Mannes auftritt. Man findet diese Umkehrung zum Beispiel bei Giacomino Pugliese in seinem Gedicht Isplendiente stella d’albore, wo es heißt: Alor t’ei, bella, in mia ball a („Nun, meine Schöne, ich hatte Euch in meiner Gewalt“); und: Or vi sia a mente Madonna mia, ch’ntra la gente v’ei in ball a („Wißt, meine Dame, daß ich Euch in meiner Gewalt habe“).11 In dem berühmten Contrasto von Cielo d’Alcamo sagt die widerspenstige Dame schließlich: (te’ la mia fede) che m’ai in tu baglia – „Weil Ihr mich in Eurer Macht habt“ – a lo letto ne gimo a la bon’ura – „Gehen wir jetzt ins Bett!“12 Auch zwei frühe Minnesänger, der Burggraf von Regensburg (Ich bin mit rehter staete einem guoten ritter undert n, MF 16,1) und Heinrich von Rugge (nu l ne, als ich gedienet habe! Ich bin, diu s n noch nie vergaz, MF 106,22), lassen, ausnahmsweise, die Dame sich als Vasall des Mannes zu erkennen geben. Die sizilianische Kultur hat offenbar den Typ der dem dominio amoroso untergebenen Dame längere Zeit gekannt: A che fare, allora, si era incarnato il Redentore? La prepotenza ansiosa della Principessa fece cadere seccamente il rosario nella 9 I poeti della Scuola siciliana, Bd. 1: Giacomo da Lentini, hg. von Roberto Antonelli, Mailand 2008 (Meridiani). 10 Jensen [Anm. 1], S. 50. 11 Giuseppina Brunetti: Il frammento inedito ,Resplendiente stella de albur‘ di Giacomino Pugliese e la poesia italiana delle origini, Tübingen 2000 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 304). 12 Jensen [Anm. 1], S. 146.
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borsa trapunta di jais mentre gli occgi belli e maniaci sogguardavano i figli servi e il marito tiranno verso il quale il corpo minuscolo si protendeva inuna vana ansia di dominio amoroso 13 („Warum war eigentlich der Erlöser Mensch geworden? Ungeduldig und verärgert ließ die Prinzessin ihren Rosenkranz in die mit schwarzem Bernstein bestickte Börse fallen, während ihre schönen, manischen Augen sich auf ihre servilen Kinder und auf ihren tyrannischen Gatten richteten, auf dessen amouröse Dominanz das vergebliche sehnsüchtige Verlangen ihres unscheinbaren Körpers ausging“). Anders als die meisten Troubadours gehörten die Minnesänger zum größten Teil dem hohen Adel an, und auch die wichtigsten sizilianischen Dichter waren hohe Beamte. Die Vasallitätsterminologie macht bei ihnen als Angehörigen einer gesellschaftlichen Elite das Lob der Dame noch intensiver.
2. Die Kanzone Die dreiteilige Kanzonenform (AAB) ist eine Erfindung der Troubadours. Der Kürenberger, Meinloh von Sevelingen, der Burggraf von Regensburg kennen die Kanzonenform noch nicht. Der Burggraf von Rietenburg ist der erste Minnesänger, der die Kanzonenform anwendet. Alle seine Kanzonenformen (MF 18,1, 18,17, 18,25 und 19,27) haben metrische Vorgänger in Frankreich. Sein Lied MF 19,7 ist ein Unikum, ohne formale Entsprechungen im deutschen, okzitanischen und französischen Sprachraum. In der frühhöfischen deutschen Lyrik verwenden Dietmar von Eist und Kaiser Heinrich Kanzonenformen. Die Kanzonenformen von Dietmar von Eist (MF 33,15 und MF 35,16) waren vor Dietmar metrisch schon in der Romania bekannt. Die drei Kanzonenformen von Kaiser Heinrich MF 4,17 Wol h her danne r che, MF 4,35 R test d nu hinnen und MF 5,16 Ich gr eze mit gesange die s ezen kommen in der Romania vor ihm nicht vor. Auf der alten Kürenberger-/Nibelungenzeile hat er seine neuen Formen aufgebaut. Eine ähnliche Methode treffen wir bei Heinrich von Veldeke an. Auch er gebraucht Kanzonenformen, die früher schon in der Romania bekannt waren, aber daneben bietet uns Veldekes Lyrik interessante Einblicke in die Art und Weise, wie neue Formen gestaltet werden konnten. Be-
13 Giuseppe Tomasi di Lampedusa: Il Gattopardo, Mailand 31983, S. 5.
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sondere Aufmerksamkeit verdient Veldekes Lied MF 56,1, dessen erste Strophe lautet: Ez sint guotiu niuwe maere daz die vogel offenbaere singent, d man bluomen siht. zen z ten in dem j re st ende wol, daz man vr waere, leider des enbin ich niht: M n tumbez herze mich verriet, daz muoz unsanfte unde swaere tragen daz leit, daz mir beschiht.
Ein Vergleich der Strophenform dieses Gedichtes (Z4A– Z4A– Z4B+; Z4A– Z4A– Z4B+; Z4B+ Z4A– Z4B+) mit den lateinischen Strophenformen ergibt interessante Zusammenhänge.14 Den beiden Stollen des Aufgesangs bei Heinrich entspricht genau eine schon im 12. Jahrhundert beliebte lateinische Form. Um 1150 wurde gedichtet: Laudes crucis attollamus nos, qui crucis exsultamus speciali gloria.
Durch die Sequenzen des Augustiner-Chorherrn Adam de St. Viktor, der um 1130 in das Kloster St. Victor, in der Nähe von Paris, eintrat (er starb vor 1200), wurde die Form allgemein bekannt. Adams 3. Sequenz beginnt so: In natale salvatoris angelorum nostra choris succinat condicio; harmonia diversorum, sed in unum redactorum, dulcis est connectio.
Bei Veldeke findet man diese Form als Aufgesang in seinem Lied MF 56,1 Ez sint guotiu niuwe maere. Die poetische Abhandlung ,Laborintus‘ des Magisters Everardus Alemannus (nach 1208, vor 1280), der wohl aus Bremen oder Köln stammte und in Paris und Orléans studiert hatte, behandelt im letzten Abschnitt (fol. 20v der Handschrift LAT 18570 der Bibliothèque Na14 Für die Strukturformel siehe Anton Touber: Romanische Strophenformen, Motive und Lehnbedeutungen im Minnesang, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 134 (2005), S. 273 – 293.
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tionale in Paris) eine ganze Reihe von Strophenformen, darunter auch die Stabatmater-Form.15 Diese Handschrift wurde im Mittelalter mit sehr ausführlichen Marginalien kommentiert, was auf einen intensiven Gebrauch hinweisen dürfte. Auffallend ist, daß der donauländische Minnesang (1160 – 1170), der rheinische Minnesang (1170 – 1190) und die Minnesänger der Blütezeit (1190 – 1230) die alte Sequenzform nicht kennen. Vom gaskognischen Troubadour, Satiriker und Marcabru-Nachahmer Marcoat sind nur zwei Lieder, geschrieben zwischen 1160 und 1170, überliefert: Sie haben eine perfekte Stabatmater-Form, zum Beispiel in dem Gedicht FRM 91:16 7a– 7a– 7b 7a– 7a– 7b: Una re’us dirai, En S rra, Pois m’escometetz de gu rra, De Sanht Segur, que l’ajatz („Ich werde Euch etwas sagen, Herr Serra, da Ihr mich zum Kampf fordert, beim Heiligen ,Segur‘, Ihr werdet ihn haben“).16 Marcoat steht der Hohen Minne grob abweisend gegenüber. Auch Heinrich von Veldeke relativiert die fin’amor manchmal, auch in der StabatmaterForm – etwa in MF 56,1 Ez sint guotiu niuwe maere –, macht das aber mit seiner leichten Ironie viel feinsinniger als Marcoat. Gab die anerkannt religiöse Form zu diesem schalkhaften Ton Anlaß? Ungeklärt ist, warum die Troubadour- und Trouvèrelyrik im 12. und 13. Jahrhundert fast völlig auf die Form verzichtet. Zwar tritt die Zeilenkombination von zwei weiblichen Siebensilblern (Vierhebern) mit einem männlichen Siebensilbler (Vierheber) wiederholt im Stropheninnern der romanischen Lyrik auf, aber niemals so evident am Anfang der Lieder wie in der Sequenzform, bei Heinrich von Veldeke und in der späten deutschen Lyrik. Die Sequenzform war bei den franziskanischen Dichtern im 13. Jahrhundert beliebt; etwa bei Bonaventura (1221 – 1274), der in Paris tätig war und dichtete: Recordare sanctae crucis, qui perfectam vitam ducis, delectare iugiter.
Im 13. Jahrhundert findet sie sich auch in den Carmina Burana. Am bekanntesten wurde sie durch das ,Stabatmater‘, das auch aus dem 13. Jahrhundert stammt, dessen Verfasser aber unbekannt ist: 15 Edmond Faral: Les arts poétiques du XIIe et du XIIIe siècle. Recherches et documents sur la technique littéraire du moyen âge, Paris 1958, S. 370 – 377. 16 Pierre Bec: Florilège en mineur. Jongleur et troubadours mal connus, Orléans 2004 (Medievalia), S. 304 – 305.
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Stabat mater dolorosa iuxta crucem lacrimosa dum pendebat filius cuius animam gementem contristatem et dolentem pertransivit gladius.
Im späten deutschen Minnesang finden wir sie im Überfluß bei Gottfried von Neifen und seiner Schule (um 1250). Hier kann die franziskanische Bewegung Pate gestanden haben; Heinrichs von Veldeke Lyrik kann dabei als Katalysator gedient haben. Am intensivsten hat die Form Gottfried von Neifen angewendet (KLD 15). Er urkundet zwischen 1234 und 1255 und lebte am Hofe Heinrichs (VII.), des Sohnes Friedrichs II. Er hatte großen Einfluß auf die deutschen Lyriker des 13. Jahrhunderts.17 Als einfache Aufgesangsstollen verwendet er die Form in: KLD 15 6 Z4A– Z4A– Z4B+; Z4A– Z4A– Z4B+; Z4C– Z4D+ Z4C– Z4D+ Z4P+; 5; KLD 15 22 Z4A– Z4A– Z4B+; Z4C– Z4C– Z4B+; Z4D+ Z4E+ Z4D+ A4X+ A4E+; 5; KLD 15 26 Z4A– Z4B– Z4C+; Z4A– Z4B– Z4C+; Z4D– Z4E+ Z4D– Z5E+; 3. Mit einer oder mehreren Ergänzungszeilen im Aufgesang und/oder Abgesang kommt bei Neifen die Form vor in: KLD 15 3 Z4A– Z4B– Z4C– Z4D+; Z4A– Z4B– Z4C– Z4D+; Z4E– Z4F+ Z4E– Z4E– Z4F+; 5; KLD 15 9 Z4A– Z4B– Z4C+; Z4A– Z4B– Z4C+; Z4D– Z4D– Z4D– Z6C+; 5; KLD 15 18 Z4A– Z4B– Z4C+; Z4A– Z4B– Z4C+; Z4D+ Z4E– Z4E– Z4D+; 5; KLD 15 35 Z4A– Z4A– Z4B+; Z4C– Z4C– Z4B+; Z4D– Z4D– Z4D– Z4P+; 2; KLD 15 45A Z4A– Z4B– Z4C+ Z4D– Z4E– Z4P+;Z4A– Z4B– Z4C+ Z4D– Z4E– Z4P+; 3.
17 Carl von Kraus (Hg.): Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts, Bd. 2: Kommentar, bes. von Hugo Kuhn, Tübingen 1978 (KLD II), S. 85 – 87; Hugo Kuhn: Minnesangs Wende, Tübingen 21967, S. 50 – 54.
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Neifens Zeitgenossen sowie spätere Minnesänger bedienen sich der Form immer wieder. Wir nennen als Beispiele: Burkhard von Hohenvels (KLD 6), bezeugt in Urkunden zwischen 1212 und 1242, gebraucht in dem Lied Nr. VI über seine unglückliche Liebe die Stabatmater-Form zweimal im Aufgesang und einmal im Abgesang. Darüber hinaus nutzen die Form Hug von Werbenwag (1258 – 1292) KLD 27,III, der Kanzler (nach 1300) KLD 28,V und IX, der Dichter mit Namen ,von Obernburg‘ (Mitte 13. Jahrhundert) KLD 40,II, Der Tugendhafte Schreiber (Thüringen 1208 – 1228?) KLD 53,IV, Der von Sachsendorf (um 1250) KLD 51,V, Der Wilde Alexander (Ende 13. Jahrhundert) KLD 1,I und V, Albrecht Marschall von Raprechtswile (Anfang 14. Jahrhundert) SM Bartsch XXX,3 und SM Schiendorfer 14,3.18 Die Neifensche Ergänzung der Sequenzform mit einer oder mehreren Zeilen im Aufgesang und/oder Abgesang findet sich auch bei Der Püller (Konrad von Hohenburg) (1276 – 1301) KLD 43,V Frçit iuch, Þre gernden leien. Das Lied hat die bekannten Neifenschen Attribute; es baut die Sequenzform in den vierzeiligen Stollen ein. Ulrich von Lichtenstein (KLD 58) gebraucht die Form in seinem Lied XXXVII Wol mich immer! m n gem ete als Aufgesang und in Lied LIX W nu frçide, w nu Þre auch mit einer Zusatzzeile im Aufgesang und im Abgesang. Der Schenke von Landegge (1271 – 1306), SM Bartsch XXI,5 und SM Schiendorfer 16,5 N h t sich diu z t verkÞret, verwendet die Form im Aufgesang wie im Abgesang mit einer Zusatzzeile. So auch Her Jacob von Warte (1272 – 1331?), SM Bartsch XXII,3 und SM Schiendorfer 3,3 Meie kumt mit maniger schoene. Die Strophen von Bruoder Eberhart von Sachs (kurz nach 1300), SM Bartsch XXVIII,1 und SM Schiendorfer 4,1 K nde ich wol mit worten sch ne, zeigen die Form mit je einer Extrazeile. Seit dem Standardwerk von Friedrich Gennrich über die Formenlehre des mittelalterlichen Liedes gilt die Additions- und Subtraktionsmethode in der Erklärung des Ursprungs der Strophenformen als verpönt. Sie habe „nur unter Außerachtlassen der musikalischen Verhält-
18 Karl Bartsch (Hg.): Die Schweizer Minnesänger, Frauenfeld 1886 (Bibliothek älterer Schriftwerke der deutschen Schweiz 6); Die Schweizer Minnesänger, nach der Ausgabe von Karl Bartsch neu bearb. und hg. von Max Schiendorfer, Bd. 1: Texte, Tübingen 1990.
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nisse“ entstehen können.19 Die metrische Additionsmethode kann aber auch in der Musik ihre Entsprechung haben. In dem Spruch Ivnger man von tzwenzich iaren des Dichters Der Unverzagte aus der Jenaer Liederhandschrift sieht die erste Strophe, mit metrischem und musikalischem Aufbau, folgendermaßen aus: Ivnger man von tzwenzich iaren Lerne tugentliche baren. Tzu allen tziten mynne got daz ist myn rat. So mac dir niht misselingen. Dyne iugent soltu twingen. Daz sie vlie tzv aller stvnt missetat. Truwe. schame. soltu tragen dynen leben. So mac sich dyn selde meren. Du solt alle vrouwen eren. So wirt dir der engel wat dort gegeben.
Z4a– Z4a– Z6b+ Z4c– Z4c– Z6b+ Z6d+ Z4e– Z4e– Z6d+
a b c a b c d a b c
Die Form ist klar. Sowohl metrisch wie musikalisch liegt die Da CapoForm, die Rundkanzone, vor: Der ganze Aufgesangsstollen wiederholt sich am Schluß des Abgesangs. In allen sieben Strophen des Liedes kennen die Sechsheber der 3., 6., 7. und 10. Zeile in den letzten zwei Hebungen sprachlich eine syntaktische Sonderstellung. In der ersten Strophe sind das: 3. daz ist myn rat, 6. missetat, 7. dynen leben, 10. dort gegeben. Diese inhaltlichen Zusätze werden in der Melodie durch ein musikalisches Motiv agaba der c- und d-Melodie, im Anschluß an das abschließende a des vorangehenden Grundtons a, gekennzeichnet. Ohne diese in allen Strophen vorherrschende syntaktische und musikalische Eigenständigkeit dieser Sondergruppe tritt die ursprüngliche Stabatmater-Form deutlich hervor.20 Die neue Form von Ivnger man von tzwenzich iaren ist also nachweisbar durch Addition entstanden.
19 Friedrich Gennrich: Grundriß einer Formenlehre des mittelalterlichen Liedes als Grundlage einer musikalischen Formenlehre des Liedes, Halle (Saale) 1932, S. 15 – 18. 20 Anton Touber: Textik. Zur Struktur der mittelhochdeutschen Lyrik, in: Neophilologus 49 (1965), S.231 – 241.
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Höfische couverture, Subjektivität und die Sprache des Körpers Zu den ,Cent ballades d’amant et de dame‘ von Christine de Pisan
Friedrich Wolfzettel Je chante par couverture, lautet der Refrain eines der bekanntesten Gedichte von Christine de Pisan,1 mit dem die Reihe der Virelays eröffnet wird. Das topische Motiv des Weinens hinter dem Lachen wird bei Christine de Pisan mehrfach angedeutet und variiert; so heißt es z. B. im Rondeau V, Mais pas n’appert a ma face / La douleur qui me tarie, 2 und in Rondeau VII wiederholt die Dichterin die Formel: Et me fault par couverture / chanter quant mon cuer souspire. 3 Schon von daher verdient die Formel verstärkte Aufmerksamkeit,4 die offensichtlich über das höfische Motiv des sublimierten Schmerzes hinausgeht und die damit dem Problem der Spaltung zwischen den topischen Erfordernissen der höfischen Tradition und der gewünschten Selbstaussprache Ausdruck verleiht. Das für die Forschung über Christine grundsätzliche Stichwort sinc rit ist damit angesprochen.5 Die Formel verweist aber auch auf einen anderen 1 2 3 4
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Alle Zitate nach der kritischen Ausgabe von Maurice Roy (Hg.): Œuvres poétiques de Christine de Pisan. 2 Bde., Paris 1886, Bd. I, S. 101 – 102. Ebd., S. 150, V. 8 – 9. Ebd., S. 151, V. 8 – 9. Vgl. hierzu F.W.: Zur Poetik der Subjektivität bei Christine de Pisan, in: Chloe. Beihefte zum Daphnis 1 (1984), S. 379 – 397, sowie Patrizia Romagnoli: Les formes de la voix: Masques et dédoublements du moi dans l’œuvre de Christine de Pizan, in: Au champ des escriptures. IIIe Colloque international sur Christine de Pizan, hg. von Eric Hicks (mit Diego Gonzalez und Philippe Simon), Paris 2000 (Etudes christiniennes 6), S. 73 – 90. So bezeichnet schon Philipp August Becker: Christine de Pisan, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 54 (1931), S. 129 – 164, die Autorin als „eine feinfühlige Deuterin menschlichen Empfindens“ (S. 162). Pierre Le Gentil: Christine de Pisan, poète méconnu, in: Mélanges d’histoire littéraire offert à Daniel Mornet, Paris 1951, betont die „accents de chaleur et de détresse, dont la sincérité et partant l’originalité […] ne sauraient être mises en doute“ (S. 1). Robert Sines: la sincérité chez Christine de Pisan et Alain Chartier, in: Chimères, automne 1976-printemps 1977, S. 39 – 48, verbindet
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grundsätzlichen, ja konstruktiven Aspekt, der spätmittelalterliches Dichten in Frankreich so offensichtlich von der gleichzeitigen Entwicklung lyrischen Sprechens in Italien unterscheidet: die fortbestehende Bindung an den Hof und an höfische Konvention.6 Mit dem Titel ,Le Poète et le Prince‘ hat Daniel Poirion7 diese fundamental rückwärtsgewandte „fidélité aux valeurs courtoises“ zusammengefaßt, die für ihn auch „la signification éminemment poétique d’un refus, d’une protestation, d’une révolte devant la réalité banale“, eben den Aufstand des Höfischen gegen das Leben und die Geschichte8 impliziert. Ungeachtet des „moment d’une crise de conscience réellement vécue“9 schon bei dem Wegbereiter der Rhétorique Seconde, Guillaume de Machaut und seinen Schülern, bleibt höfische Formalisierung10 ein Mittel der Überbrückung der Spannung zwischen Realität und Anspruch. Der um 1400 zunehmende Motivbereich der Melancholie und Traurigkeit indiziert freilich nach Poirion die wachsende Krisenerfahrung des – wie etwa Charles d’Orléans oder François Villon – auf das eigene Ich, „la citadelle du moi“11, zurückgeworfenen posthöfischen Dichters. Die Subjektivität Christines entspricht zwar der z. B. von Albrecht Classen12 beschriebenen, europaweiten Tendenz zur Autobiographisierung des lyrischen Sprechens, bleibt aber dennoch an die Grenze höfischer couverture gebunden und bezieht wohl gerade aus dieser vermittelnden Stellung im Übergang vom 14. zum 15. Jahrhundert ihre historische Bedeutung. Co(u)verture heißt „Schutz“, „Tarnung“, aber auch „Verstellung“. Die zweifellos vorhandene subjektiv psychologische Bedeutung verdeckt nicht ganz die poetologische Dimension hö-
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mit dem Begriff die Krise der höfischen Ideologie. Suzanne Solente: Christine de Pisan, in: Histoire littéraire de la France XL, Paris 1969, S. 335 – 422, sieht in Christine die Dichterin, die „a su exprimer de façon appropriée les sentiments qui l’animaient“ (S. 416), usw. Hierzu auch Douglas Kelly: Medieval Imagination. Rhetoric and the Poetry of Courtly Love, Madison 1978. Daniel Poirion: Le Poète et le Prince. L’évolution du lyrisme courtois de Guillaume de Machaut à Charles d’Orléans, Paris 1965. Ebd., S. 23. Ebd., S. 36. Vgl. hierzu ebd., S. 59 ff. „la poésie et l’existence“. Ebd., S. 569 ff. Albrecht Classen: Die autobiographische Lyrik des europäischen Spätmittelalters, Amsterdam/Atlanta 1991.
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fischen Sprechens, welches die Funktion der integumentum-Lehre13 beerbt und so zur Bedingung der Möglichkeit subjektiven Sprechens im Schutz der höfischen Konvention wird. Die Konnotationen des Begriffs changieren so zwischen notwendiger Lüge und verdecktem Sprechen. Mit Bezug auf die Grands Rhétoriqueurs hat Paul Zumthor von einer Dialektik von „masque“ und „lumière“ gesprochen.14 Diese Dialektik gilt umso mehr, als die gelehrte höfische Dichterin die unmittelbare Selbstaussprache ohnehin gern zugunsten der distanzierten Rollenpoesie aufgibt, in deren Medium die Vermittlung des Höfisch-Allgemeinen mit dem je Individuellen gleichsam objektiv durchgespielt werden kann. Unter poetologischen Vorzeichen wollen wir einigen Aspekten dieses Verfahrens am Beispiel der ,Cent ballades d’amant et de dame‘ nachgehen. Begreift man den Realitätsdruck als Form von erlebter Geschichtlichkeit und ererbte höfische Rhetorik in der Tradition der ,poésie formelle‘ als Äquivalent von Fiktionalität oder ,Kleid‘ der Fiktion, so nähern wir uns damit auch den zentralen theoretischen Kategorien im Lebenswerk des hier zu ehrenden Freundes. Der genannte lyrisch-dramatische Zyklus der 1365 in Venedig geborenen Dichterin ist wohl um 1409/10 entstanden und nimmt das erfolgreiche Schema der ,Cent ballades‘ und z. T. auch des ,Livre du Duc des vrais amans‘ mit verstärkter psychologischer Konsequenz wieder auf. Die Form des Balladenkranzes, die der Tendenz des Spätmittelalters zur Zyklenbildung entspricht, ist von Christine de Pisan nicht erfunden worden; aber erst Christine de Pisan hat den Schritt von der thematischen zur dramatischen Gliederung vollzogen. Vorformen sind ,La Louange des Dames‘ von Guillaume de Machaut und besonders ,Le Livre des cent ballades‘ von Jehan le Sénéschal (1390); auch hatte bereits Machaut mit rollenspezifischen Balladen fiktiver Selbstaussprache experimentiert. Freilich sind die dramatischen Möglichkeiten des Verfahrens erst in den ,Cent ballades d’amant et de dame‘ voll entwickelt. Die frühen ,Cent ballades‘15 (entstanden zwischen 1395 und 1400), die nicht zufällig bekannte Anthologie-Beispiele enthalten, schließen sich noch nicht konsequent zu einem dramatisch dialogischen 13 Hierzu vor allem Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Darmstadt 1985, S. 222 – 234. 14 Paul Zumthor: Le Masque et la Lumière. La poétique des Grands Rhétoriqueurs, Paris 1978. 15 Der Recueil befindet sich in Bd. I der Œuvres complètes [Anm. 1], S. 1 – 100.
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Ganzen zusammen; man hat den Eindruck, daß die Autorin erst allmählich von der lyrischen Selbstaussage der Frau über die Anrede an das Du des Geliebten zu einer befristeten Dialogizität gelangt und daß eher von einem Auf und Ab der Gefühle und auch der Themen als von einer einheitlichen psychologischen Entwicklung die Rede sein kann; es fehlt der dramatische Schluß, an dessen Stelle vielmehr allgemeine, mythologische, politische und gnomische Themen treten. Das ändert sich erst in den ,Cent ballades d’amant et de dame‘16, in denen die Autorin das lyrische Gedicht zu einem kohärenten Mittel dramatisch-dialogischer Dynamisierung höfischen Sprechens macht und zugleich das persönliche Sprechen als Instrument der Selbstentlarvung des höfischen Diskurses benützt.17 Die hofnahe Dichterin hält der höfischen Tradition den Spiegel der Realität vor, insofern sie die höfische Topik im Lichte psychologisch lebensweltlicher Zwänge selbst als couverture zugleich benützt und entlarvt. Der Grundgedanke einer etappenweisen Dramatisierung des Liebesverhältnisses ist Ausdruck eines zunehmend psychologischen Verständnisses der höfischen Liebe, deren wesentliche Elemente, Topoi und Motive gleichwohl erhalten bleiben. An der höfischen Prägung des Ganzen läßt die Autorin dabei keinen Zweifel. So wenden sich zahlreiche Envois (Geleitstrophen) der scheinbar persönlichen Balladen ohne Rücksicht auf die dialogische Fiktion an den Fürsten oder an ein allgemein höfisches Publikum, und auch der einleitend betonte Auftragscharakter soll offensichtlich jedes autobiographische Mißverständnis ausräumen. Obwohl ihr der Sinn nicht danach gestanden habe, de dits amoureus faire (V. 2), und sie sich gerne mit anderen Dingen beschäftigt hätte – Car mieulx me pleust entendre a autre afaire / De trop greigneur estude (V. 18 – 19), beginnt die längst durch gelehrte Werke hervorgetretene Dichterin in dem – nicht mitgezählten – Einleitungsgedicht, habe sie sich der Bitte, le command de personne qui plaire / Doit bien a tous (V. 4 – 5), nicht verschließen können: Pour obe r a autrui et complaire (V. 7), habe sie mithin die cent balades d’amoureux sentement (V. 8) verfaßt. Unmißverständlich geht es um höfische Auftragsarbeit und programmatische Rollenpoesie. 16 Alle weiteren Zitate folgen der kritischen Ausgabe von Jacqueline Cerquiglini (Hg.): ,Cent ballades d’amant et de dame‘ par Christine de Pizan, Paris 1982. 17 Vgl. Kevin Brownlee: A Personal Revision: From the ,Cent Balades‘ to the ,Cent Ballades d’amant et de dame‘, in: Romance Languages Annual 9 (1998), S. XXV-XXIX, und Françoise Paradis: Une polyphonie narrative: pour une description de la structure des ,Cent Ballades d’amant et de dame‘ de Christine de Pizan, in: Bien dire et bien aprandre 8 (1990), S. 127 – 140.
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Freilich impliziert die lebensweltliche Dramatisierung der autonomen höfischen Liebeslyrik einschließlich der Tradition des Frauenliedes von vornherein einen kritischen Zugang zu eben dieser höfischen Tradition, deren Tauglichkeit als Lebensentwurf jetzt zur Debatte steht. Man könnte von experimenteller Subjektivität sprechen. Die Autorin erzählt so indirekt, wie die beiden nicht näher bezeichneten Protagonisten ont leur vie passee / On fait d’amours (V. 9 – 10), wie sie mainte joye, aber auch pointure, ennuy und contraire (V. 11 – 12) erfahren haben, und sie besteht auf dem Wahrheitscharakter und der Vollständigkeit des Gesagten: Tout me convient conter, sans m’en retraire (V. 13). Dieses tout ist wichtig, impliziert es doch vielleicht auch, daß bisherige Thematisierungen höfischen Liebens unvollständig oder einseitig waren. „Alles“ erzählen wollen, ohne Abstriche zu machen (retraire), heißt von vornherein, die Grenzen des höfischen Codes zu überschreiten und jene Folgerungen einzubeziehen, die gewöhnlich ausgespart blieben. Die vorgestellte tragische Liebesgeschichte, die immer wieder mit der altfranzösischen ,Novelle‘ ,La Chastelaine de Vergi‘ verglichen worden ist, benützt so die höfische Konstellation, um deren lebensweltliche Problematik herauszustellen, und gerade die naive, weil unkommentiert autonome Selbstaussprache der lyrischen Protagonisten, denen kein Erzähler zur Seite steht, dekuvriert die Fragwürdigkeit höfischer Annahmen. Als „criticism of courtly love“ hat denn auch Charity Cannon Willard18 diese Methode bezeichnet. Der intakte höfische Rahmen von der Werbung des Liebenden bis zu der durch männliche Indiskretion ausgelösten Katastrophe und dem Tod der Dame dient so dazu, eben die Einseitigkeit oder Fragwürdigkeit der höfischen Grundannahmen deutlich werden zu lassen. Insbesondere wird die ,gleichberechtigte‘ Verteilung der lyrischen Aussprache auf Mann und Frau die der höfischen Werbungssituation inhärente Protagonisten- und Opferrolle des Mannes, wie sie noch in dem spätmittelalterlichen ,Lyrikdrama‘ der ,Belle Dame sans Merci‘ (1424) von Alain Chartier gepflegt wird, problematisieren. Höfischer Dekor fungiert als couverture der lebens-
18 Charity and Canon Willard: Christine de Pizan’s ,Cent Ballades d’Amant et de Dame‘: Criticism of Courtly Love, in: Court and the Poet. Selected Proceedings of the Third Congress of the International Courtly Literature Society, hg. von Glyn S. Burgess, Liverpool 1981, S. 357 – 364.
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weltlichen Wahrheit des Höfischen und wird zugleich als solche problematisiert.19 Letzteres auch im formalen Sinn, denn indem das höfische Lied zum Instrument eines situativen Dialogs wird, verliert es die schwebende Unbestimmtheit, die Paul Zumthor mit der berühmten Formel der „circularité du chant“ umschrieben hat.20 Die hundert Balladen schließen sich, wie die Autorin eingangs betont, en ce livret (V. 14) zusammen und partizipieren an der lebensweltlichen Totalität der evozierten Geschichte. Die von der Kritik vermerkte Tendenz spätmittelalterlicher Lyrik zum Buch21 ist so gesehen bereits Ausdruck der Infragestellung des höfischen Liedes selbst. Das ,Buch‘ systematisiert die Spannung der Register, die das Einzelgedicht andeuten, aber nicht entwickeln kann. Erst durch das Buch gelingt die intensive Verzeitlichung22 der Einzelstimme; die Modulierung des Tempos ist die Voraussetzung für die Engführung der Katastrophe und den Zusammenbruch der „communication amoureuse“23, die zugleich den Zusammenbruch der höfischen Kommunikation und die definitive Entlarvung des höfischen Ausgangspunkts bezeichnet. Erst durch die dramatische Textur des Buches gelingt jene mikro- und makrotemporale Vergegenwärtigung der lyrischen Sprache, die im Dialogcharakter des Ganzen begründet ist. Zeitangaben skandieren daher den Zyklus im wachsenden Maße: Dienstag, um 10 Uhr, jetzt, nachher, heute nacht, gestern, morgen, in zwei Wochen – von einer romanhaften Lyrik24 und der „fascination par le 19 Hierzu auch Geri L. Smith: De Marotele au Lai mortel: La subversion discursive du code courtois dans deux ouvrages de Christine de Pizan, in: Au champ des escriptures [Anm. 4], S. 651 – 661. 20 Paul Zumthor: Essai de poétique médiévale, Paris 1972, S. 205 – 210, und ders.: De la circularité du chant (à propos des trouvères des XIIe et XIIIe siècles), in: Poétique 2 (1970), S. 129 – 140. 21 Vgl. Sylvia Huot: From Song to Book. The Poetics of Writing in Old French Lyric and Lyrical Narrative Poetry, Ithaca/London 1987. Leider schließt der behandelte Zeitraum das Werk Christines nicht mehr ein. 22 Hierzu bes. Jacqueline Cerquiglini: Ecrire le temps. Le lyrisme de la durée aux XIVe et XVe siècles, in: Le Temps et la durée dans la littérature au Moyen Age et à la Renaissance, hg. von Yvonne Bellenger, Paris 1986, S. 103 – 114. 23 Liliane Dulac: Dissymétrie et échec de la communication dans le ,Cent Balades d’Amant et de Dame‘ de Christine de Pizan, in: Lengas 22 (1987), S. 133 – 146, hier S. 141. 24 Jacqueline Cerquiglini: Introduction zu den ,Cent ballades d’amant et de dame‘ [Anm. 16], S. 19.
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temps“25 hat Jacqueline Cerquiglini in diesem Zusammenhang gesprochen. Feste und Jahreszeiten wie Neujahr, der Valentinstag, der Maienanfang, Tage oder Wochen der Abwesenheit oder der erzwungenen Trennung relativieren die scheinbare Zeitlosigkeit des lyrischen Augenblicks. Der enge Rhythmus der verliebten Begegnung am Anfang und auf dem Höhepunkt der Beziehung steht so z. B. den Klagen der Frau über die seltenen Besuche des Mannes gegen Ende entgegen. Betont die Dame im Maienlied LXXIX noch, daß ein Liebender die Geliebte weder jour ne demy (V. 20) allein lassen soll, und erbittet sich der Liebende kurz darauf Urlaub für vier Tage (LXXXI), so heißt es bereits in Ballade CX: Ja ne croiray qu’amant parfettement / Amast sa dame et se tenist un mois / D’elle veoir (V. 1 – 3), um das gestörte Vertrauensverhältnis zu beleuchten und die vorgebliche Liebe als Strohfeuer (amour de feu de paille, V. 26) zu entlarven. Die zeitliche Dimension des konsekutiven lyrischen Dialogs begründet ein letztlich narrativ umsetzbares Geschehen, das wiederum exemplarische Züge annimmt. Der Spannungsbogen von wachsender Intimität und wachsender Entfremdung hält offensichtlich ein verallgemeinerbares, lehrstückhaftes Element bereit, und so ergibt sich der paradoxe Sachverhalt, daß ausgerechnet da, wo der topische, konventionalisierte Ausdruck überschritten wird, um dem je Besonderen Platz zu machen, dieses Besondere als allgemeines Exempel begriffen werden kann. An die Stelle der Dialektik, die auf das Vorbild von höfischer Werbungssituation und die Tradition des Frauenliedes hinweist, tritt gegen Ende das Sprechen ohne Du in der Selbstrechtfertigung und Selbsterforschung der beiden Protagonisten: einmal des Mannes, der betont: Par faulx raport je suis ou maltalent / De celle qui tant amer me souloit (XCIX, V. 1 – 2), und sich aus- und weggestoßen fühlt: Mais ce me doubt que c’est pour m’estrangier (V. 7 o.R.), dann der Dame, die, krank im Fieber darniederliegend, ihren Zustand beklagt und sich als getäuscht und verführt bezeichnet: cil qui aluchi e [verführt] / M’a, puis faulsement me tue (C, V. 9 – 10). Solches Sprechen kann sich nur, wie das Beispiel der Dame zeigt, an die Geschlechtsgenossinnen, d. h. an ein allgemeines, natürlich höfisches Publikum richten und reiht sich somit wieder in jenes höfische Umfeld ein, dessen Problematik es zugleich beleuchtet: De toutes dames soit sce e / Ceste exemple, a fin que leurs / Cuers, si faicte 25 Jacqueline Cerquiglini: Le nouveau lyrisme (XIVe-XVe siècles, in: Précis de littérature française du Moyen Age, hg. von Daniel Poirion, Paris 1982, Kap. IX, S. 275 – 292, hier S. 276.
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amour, ne mue (C, V. 13 – 15). In Wut und Enttäuschung über den scheinbar treulosen Geliebten hatte die Dame sich schon zuvor an die ,Damen‘ gewandt, um sie vor ähnlichen Abenteuern zu warnen: Ha! Mirez vous, dames en mon dommage, / Pur Dieu mercy, ne vous laissiez attraire / Par homme nul (XCIV, V. 17 – 19). Aber auch der Liebende spricht dann nicht mehr m i t der Geliebten, sondern ü b e r sie und nimmt nicht nur alle amans jolis (XCV, V. 1) zu Zeugen seines Falles, sondern erbittet sich in einem Für und Wider abwägenden, dramatischen Monolog sogar deren Rat und Urteil: Amans, jugiez se m’en doy abstenir, / Ou y aller a chiere hardie (V. 25 – 26). An die Stelle der höfischen Sprechsituation tritt die Selbsterforschung, deren exemplarischer Anspruch – im Gewand der höfischen Sprache – zugleich das Versagen der höfischen Sprache dokumentiert. Denn die Liebe ist Vergangenheit – Cil qui m’amoit, ce disoit il, jadis (XCVI, V. 2), und höfisches Sprechen kann nur mehr in monologischer Vergangenheitsbewältigung bestehen. Es ist das genaue Gegenteil des gemeinsamen, fast jubelnden Sprechens, in dem die höfische Anredesituation ebenfalls überwunden und die aus dem höfischen Roman geläufige rasche Rede und Gegenrede zur Grundlage eines neuartigen lyrischen Diskurses gemacht wird. Das gemeinsame Sprechen in einer Strophe (XXXII, XXXIX, XLVII, LXII, LXXX), der Form der sog. balade a responses, bezeichnet hier umgekehrt die Höhepunkte einer der Außenwelt entzogenen Gemeinsamkeit. Solche gleichberechtigte Intimität und Selbstaussprache war im höfischen Diskurs nicht vorgesehen, verweist aber doch auf ein höfisches Ideal.26 Daß dieses Ideal nur in seltenen Augenblicken des Glücks erreicht wird, zeigt indessen die Problematik der höfischen Konstellation, die fundamentale Dissymmetrie der Partnerrollen, die noch weiter zu gehen scheint, als es die genaue Studie von Liliane Dulac nahelegt.27 Die traditionelle Topik mit den Stufen Werbung, Erlösung, Diskretion, Indiskretion und öffentliches Gerede der Neider verdeckt daher einerseits in gewisser Weise die grundlegenden Unterschiede der Geschlechter, andererseits beruht sie auf eben diesem Ungleichgewicht. 26 Hierzu auch allgemein F. Douglas Kelly: Reflection on the Role of Christine de Pisan as a Feminist Writer, in: Sub-stance 2 (1972), S. 63 – 71, und Helen Ruth Finkel: The Portrait of the Woman in the Work of Christine de Pisan, in: Les Bonnes Feuilles 3 (1974), S. 138 – 151. 27 Liliane Dulac: À propos des représentations du corps souffrant chez Christine de Pizan, in: Mélanges de langue et de littérature françaises des Moyen Age offerts à Pierre Demarolle, Paris 1998, S. 313 – 324.
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Das heißt, die ,Cent ballades d’amant et de dame‘ ,erzählen‘ – mit Dulac – die Geschichte einer „mißlungenen Kommunikation“, da erst in der Narrativierung die höfischen Topoi realistisch überholt werden, ja die Sprechenden sich selbst entlarven. Und gleichzeitig ist diese Narrativierung das Mittel, durch welches die unausgesprochenen Voraussetzungen der höfischen Werbungslyrik überhaupt erst bewußt werden. So ist die Liebe für den Mann eine glückhafte Erfahrung und selbst am Ende noch eine schöne Erinnerung; in seiner Werbung macht er die üblichen topischen Argumente Tod, Martyrium, Angst, Trauer geltend. Für ihn steht der Tod als höfischer Topos am Anfang und ist Ausdruck konventioneller Erpressungsstrategie; für die Dame wird der Tod als Realität am Ende stehen, weil sie die höfische Konvention offensichtlich zu ernst genommen und mit der Wahrheit des Herzens verwechselt hat. In ebenfalls traditioneller Bildersprache rühmt er bei der Dame son doulz parler et sa maniere coye, / Son tres biau corps, son vis, son tres doulz rire / Son gentil port, son maintien (XXXVII; V. 14 – 16) und vergleicht sich mit Paris, der Helena für sich gewonnen hat: S’en sius plus liez que Paaris n’iert d’Helaine (V. 29). Das heißt, er ist der glückliche Sieger, der äußerlich liebt und nach wie vor in der Konvention lebt. Er kommt von außen – der Zyklus beginnt mit seiner Werbung – und ist durch Kommen und Gehen und Außenverpflichtungen gekennzeichnet. So sorgt z. B. ein Kriegszug für längere Abwesenheit: vostre longue demeure / Me fait mourir (LV, V. 1 – 2), klagt die Dame. Der Briefkontakt ersetzt das unmittelbare Sprechen: Or suis venus en contr e longtaine (L, V. 1), und in einem Klagemonolog gesteht die Dame: Il me va un petit mieulx / Puis qu’il m’est venu message / Du bon, bel et grac eux, / Qui ala par mer a nage / Loings en contr e sauvage (LIV, V. 1 – 5). Aber auch danach wird von un ennuyeux affaire (LXXXI; V. 6) und der notwendigen Abwesenheit für mehrere Tage die Rede sein. Als derjenige, der stets von außen kommt, kann er einmal sagen: Je suis comme homme sauvage; / Baisiez moy, cuer desir (LXIV, V. 14 – 15). Im besten Fall bleibt also das Herz zurück, um die Dame über die Abwesenheit ihres Geliebten zu trösten: Aller m’en fault un tour, ma doulce dame, / Je revendray assez prouchainement (LXXVI, V. 1 – 2). Allein solche Hinweise auf lebensweltliche Gegebenheiten und Verpflichtungen relativieren den Absolutheitsanspruch des höfischen Liedes, indem sie die Rolle des zerstreuten, vielfach in Anspruch genommenen Liebhabers an die Stelle des ganz von seiner Liebe erfüllten Ich setzen. Im Blick der Dame wird der Mann daher auch von außen wahrgenommen. Nur beim Mann spricht die Autorin von Äußerlichkeiten wie dem Anzug, sei es, daß die Dame
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ihm aus Gründen der Diskretion un abit brun et robe desguis e (XXXVIII, V. 17) empfiehlt oder daß sie im Gegenteil verbittert bemerkt: Au bleu vestir ne tient mie le fait, / N’a devises porter, d’amer sa dame (XCII, V. 1 – 2). Ganz anders die Dame, mit deren unmittelbar bevorstehendem Tod der Gedichtzyklus schließt, als ob das Krankenbett für sie – Au lit malade couchi e, / Tremblant dure fievre ag e (C, V. 1 – 2) in ironischer Symbolik die letzte Zuflucht einer auf Innenräume beschränkten Existenz wäre. Das Schicksal der Frau ist geprägt von einer Semantik der Innerlichkeit und Selbsthingabe. Ob sie weint oder lacht, ihrer Freude oder ihrer Trauer und Melancholie Ausdruck gibt, stets reagiert sie auf das Kommen und Gehen und das Verhalten des Mannes. Sie liebt die Geborgenheit in seinen Armen – mon cuer se pasme / En tes bras (XXXIX, V. 28 – 29) – sie bezeichnet den Geliebten als mon doulz mire [Arzt] (LXI; V. 15) und betont, daß er ihre ganze Freude sei: Amis tu es toute ma joye (LXII; V. 7); und als die Krise kommt, beklagt sie, die ihm cuer, corps, par grant revel (LXIX, V. 8) zu schenken bereit war, sein cuer endormis (LXXXIV, V. 19) und sein verändertes Wesen. Die scheinbar topische Wendung cuer et corps, die für toute m’amour steht (XXVI, V. 21 und 24), faßt hier eine ganzheitliche, ja existentielle Liebesempfindung zusammen, die dem veräußerlichten Empfinden des Mannes entgegengesetzt ist. Höfische Terminologie fungiert hier im positiven Sinn als diskrete couverture psychischer Authentizität. Unmißverständlich zeigt der Zyklus so aber auch die notwendig passive Opferrolle der Frau, die in dem anschließenden Lay mythologisch durchgespielt wird. Christine de Pisan macht deutlich, was die Fiktion der höfischen Liebe für die Frau bedeuten könnte, deren Schicksal die ausgesparte Hauptsache einer langen literarischen Tradition darstellt. Anders als in der schon erwähnten Versnovelle ,Chastelaine de Vergi‘, deren Heldin an der öffentlichen Schande zerbricht, geht es bei Christine de Pisan ja nicht primär um böse, ehrschädigende Gerüchte, grant murmure / En mainte plan eslev e (XCVIII; V. 8 – 9), das heißt, die höfische Dialektik von celer und Indiskretion wird zwar angedeutet, doch der damit verbundene Vorwurf der Falschheit an die Adresse des desloyal parjure (V. 15), ein Vorwurf, der im übrigen vom amant zurückgewiesen wird (Par faulx raport je suis ou maltalent [erzürnt], XCIX, V. 1), hat hier nur die Funktion eines Begleitmotivs für die über viele Balladen sich hinziehende Tragödie einer erschöpften Liebesbeziehung: Biau doulz ami, je ne m’en puis plus taire, / Mais je vous truis tout chang , ce me semble (LXXXVI, V. 1 – 2), klagt die Dame, denn: Pechi seroit a toy, ja ce
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n’aviegne, / De moy ainsi delaissier sans raison (LXXXII; V. 7 – 8). Und sie fügt auch gleich noch ein realistisches Detail hinzu, das den Vorgang der Entfremdung endgültig dem psychologisch-lebensweltlichen Register zuweist: Et on m’a dit qu’en un certain repaire / Alez souvent, c’est qui nous dessemble (LXXXVI; V. 17 – 18). Die mißlaunige Antwort des treulosen Geliebten spricht Bände; er müsse sich wegen der verleumderischen Gerüchte ein wenig von der Geliebten entfernt halten: un pet ot retraire / D’environ vous, LXXV, V. 8 – 9) und weniger häufig kommen (Se si souvent ne vois comme je sueil / Par devers vous, V. 2 – 3), ja er zeigt sich um die Ehre der Geliebten besorgt, und als er endlich doch einmal kommt, fragt er patzig: Or suis je vers vous venu, / Belle dame, aray je paix? (LXXXVII, V. 1 – 2). So wie das förmliche vous wieder an die Stelle des vertraulichen Du tritt, dient das höfische Motiv als bloßer Vorwand, das heißt jetzt als couverture für die rasch nachlassende Intensität der Beziehung. Die Liebende selbst äußert ja offen Zweifel daran, daß es dem Geliebten um ihre Ehre gehe: Je suis entr e en grant merencolie, / Mon bel ami, qu’il vous tiengne autre part / Qu’a mon honneur (LXXXVIII, V. 1 – 3). Sollte die Empfänglichkeit für die Reize einer anderen, blus belle et plus jolie (V. 19), seine fragwürdige Strategie sein, pour estraindre le parler mesdisant (V. 18)? Die letzten Balladen des Zyklus handeln von dem Mißbrauch höfischer Denkmuster, die zur Rechtfertigung banaler Untreue vorgeschoben werden. Höfische Klischees werden zum eitlen Trommeln, um über die eigentliche Banalität einer Beziehungsgeschichte hinwegzutäuschen: Par biau tabour me veult mener aux veilles / Cil qui m’amoit (XCVI, V. 1 – 2). Daß der Liebende diese Deutung seines Verhaltens zurückweist (Mais elle a tort, ne suis remis en lent / De sene [= sienne] amour, XCIX, V. 10 – 11), unterstreicht im übrigen das wechselseitige Mißverständnis im Zeichen der Abwesenheit, die zugleich eine Entfremdung (estrangier) ist. Die pseudo-rationale Argumentation des Mannes steht im Gegensatz zu dem angsterfüllten Werben der Frau, durch das das ursprüngliche höfische Werbungsverhältnis geradewegs umgekehrt wird. Im Gegensatz zu der hochdramatischen Schlußszene der ,Chastelaine de Vergi‘28, in der es um die Verletzung des höfischen Codes in der leichtfertigen Gutgläubigkeit des Herzogs gegangen war, 28 Vgl. hierzu Vf. (Hg.): Französische ,Schicksalsnovellen‘ des 13. Jahrhunderts. ,La chastelaine de Vergi‘, ,La fille du comte de Pontieu‘, ,Le roi Floire et la belle Jehanne‘, München 1986 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 26), Einleitung.
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bezeichnen Fieber und Krankheit die extremen Symptome der Melancholie, die die Dame als banales Opfer einer Verführung und Täuschung (A Dieu cil qui aluchi e / M’a, puis faulsement me tue, C, V. 9 – 10) ausweist und den dramatischen Gestus der öffentlich entehrten Chastelaine durch das private, vom Opfer selbst beschriebene Siechtum ersetzt, in dem höfisches Selbstverständnis der desillusionierten Selbstund Fremderkenntnis Platz macht. Exemplarisch (ceste exemple, C. V. 14) führt der Balladenzyklus die Wirklichkeit der höfischen Grundannahmen vor. Eben dieser Absicht dürfte auch das Verhältnis von konventionalisierter Sprache und bildhafter Authentizität geschuldet sein. Der ganze Zyklus zeigt demnach die Folgen höfisch verbrämter Verführung, die die Dame nach anfänglicher Skepsis und Sprödigkeit zu einem jubelnden, glückhaften Einverständnis gelangen läßt, an dessen Ende die tödliche Enttäuschung steht. Eine genaue Textanalyse29 zeigt zunächst die auffallend große Rolle der amourösen Topik besonders am Anfang und im ersten Teil. Der Liebende geriert sich als Leibeigener und Märtyrer seiner Leidenschaft. Er kennt nur obe r, souffrir et bien servir (V, V. 7); als povre martir (XIX, V. 9) und vo serf (V. 11) – belle, a qui serf suis (XXVII, V. 3) – hat er sich in die Knechtschaft der Liebe begeben: Amours n’a mis en vostre servage (LXXII, V. 36), wie er auch später betonen wird. Er beschreibt die Symptome seines Leidens, zittert, weint und meint schon dem Tod nahe zu sein, ist voller Angst, Schmerz, Kummer, geplagt d’ennuyeux maulx et merencolie (XIX, V. 4). Die Zeichen der Schwäche des Liebenden ziehen sich von der ersten Ballade (sanc, vie et humour / Me defaillent, V. 10 – 11) bis in die Mitte des Zyklus, wo es noch heißt: je muir de dueil, toute joye m’eslongne (XLIII, V. 1). Er fleht um ihre Blicke, in denen Heilung liege: Mais en voz yeulx, pour qui souvent souspire, / Gist le secours qui peut garir mon dueil (XI, V. 21 – 23). Der süße Blick der Dame sei schließlich sein ganzer Trost. In dem topischen Spiel der Leidenschaft wird die Dame so zur Heilerin, zur princesse haultaine und deesse mondaine (XXXVII, V. 31 und 9) aufgewertet und verfällt dadurch nur umso hoffnungsloser dem finalen ,bashing‘. Die Kunst der Autorin besteht aber zugleich in der Art, wie sie diese topische Sprache der Liebesleidenschaft, l’ardure / que j’ay en cuer endurer sans murmure (V, V. 18 – 19), allmählich in die Sprache körperlicher 29 Das Material ist von meiner Studentin, Frau Christine Hoffmann-Istel, in einer Seminararbeit z. T. aufgearbeitet worden.
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Leidenschaft überführt und die Konvention so zugleich sprengt und authentifiziert. Das Bild des homme sauvage scheint das Heraustreten aus der Topik zu unterstreichen. Geradezu revolutionär ist die Ballade L des Amant, die einer modernen Feldpostkarte gleich die körperlichen Strapazen des Kriegslebens beschreibt30 : pou mengier, dur giste et longue peine (V. 3) – Gesir atout le vent et a la pluye (V. 7) – Estre navr sans conte et sans rebras [unweigerlich]), / Dessus l’estrain [Stroh] couchi a courte alaine (V. 11 – 12). Der lyrische Briefschreiber zögert nicht, eben diese sehr konkrete Erfahrung ironisch mit höfischem Zeitvertreib zu vergleichen: Ceste feste souffrir mainte sepmaine / Aucunes gens la m’appellent fatras [Schwätzer] / Qui pr s du feu devisent, mais pas saine / n’est pour ceulx qui le corps taint soubz leurs draps / En ont de coups. (19 – 23)
Der von Schlägen und Wunden geschundene Körper ist nämlich auch ein Körper unter der couverture, der Decke, die die Wahrheit vor dem höfischen Schwätzer am behaglichen Kaminfeuer verdeckt. Der von ,draußen‘ kommende homme sauvage steht daher auch für den außerhöfischen Bereich und die Wahrheit des Körpers. Je suis comme homme sauvage; / Baisiez moy, cuer desir , / Or vous tiens je, belle et sage. (LXIV, V. 14 – 16). Die belle, qui ange ressemble (LVI, V. 22), verweist hier gerade nicht, wie etwa bei der donna angelicata des Dolce Stil Novo, auf die Idealisierung der Liebe, sondern auf die von der Dame erwiderte ganzheitliche Liebe: N’en piez mon corps ne se soustient / Qui desireux et affam / Estoit de toy; ores te tient / A joye (LXIII, V. 9 – 12). Höfische Sprache erweist sich hier im doppelten Sinn als couverture: Sie bereitet den Durchbruch der Wahrheit der Körpersprache vor, und sie entschärft diese Transgression zugleich und verweist als Sprache der Täuschung auf das banale, aber pathetische Ende der Beziehung. Auffällig ist dennoch, wie hier die Sehnsucht des Mannes nach dem tres biau corps (XXXVII, V. 15) der Geliebten, die körperliche Liebessprache, in der Sprache der Frau eine vollkommene, vielleicht sogar noch gesteigerte Entsprechung findet. Diese zögert nicht – in einer der in Reim- und Verstechnik anspruchsvollsten Balladen – von mon corps (XXXIV, V. 22) zu sprechen und ihre Selbsthingabe zu beschreiben: Or suis vostre, par droit m’avez acquise (XXVIII; V. 17). Während er sie als ma blonde tresse 30 Zu dem Thema des Voiage d’oultremer vgl. auch Barbara K. Altmann: Through the Byways of Lyric and Narrative. The Voiage d’oultremer in the Ballade Cycles of Christine de Pizan, in: Christine de Pizan 2000. Studies on Christine de Pizan in Honour of Angus J. Kennedy, hg. von John Campbell/ Nadia Margolis, Amsterdam/Atlanta 2000, S. 49 – 64.
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(XXXIX, V. 4) apostrophiert, bei deren Anblick sein Herz hüpfe (De joye mon cuer sautelle, LVI, V. 4), geht sie so weit, in seinen Armen liegend seinen süßen Atem zu preisen: Doulz ami, mon cuer se pasme / En tes bras; t’alaine entiere / Me flaire plus doulz que basme, / Baisiez moy, doulce amour chiere (XXXIX, V. 28 – 31). Das sind bereits lyrische Töne, die an Louise Labbé erinnern. In der Mitte des Zyklus und auf dem Höhepunkt der Liebe setzt sich die Sprache des Körpers als Sprache der Wahrheit vorübergehend gegen die höfischen Konventionen durch, da die wechselseitige Selbstaussprache offensichtlich der Tarnung nicht mehr bedarf. Was mit konventioneller Strategie begonnen hatte, findet hier gleichsam zu seiner eigenen Wahrheit einer wiedergefundenen Ganzheit: Mon doulz ami, cuer, corps, regart, / sauf mon honneur, tout te redonne. (LXII, V. 19 – 20). In dem Maße, da diese ganzheitliche Wahrheit zu zerbrechen droht, wird daher das topische Register wieder die Oberhand gewinnen, während die Körpersprache jetzt im negativen Bereich von Leid und Krankheit den Pol der Wahrheit bildet. Die Treulosigkeit des Geliebten, klagt die Dame, seroit un mal qui dommagiant / Yroit mon corps, mon honneur et my oueil (LXXXII, V. 19 – 20). Ehre und Leib sind betroffen. Christine de Pisan führt vor, was höfische Sprache ist, was sie sein könnte, wo sie couverture ist und wo sie aufhört, als couverture zu fungieren. Ihre Personen bewegen sich in dieser Sprache, sie denken in ihr, und ihr Lebensprojekt folgt dem Muster höfischer Vorbilder und Diskurse, deren Problematik gerade durch diese Form der diskursiven Aneignung deutlich gemacht wird. Schützend und verfälschend zugleich legt sich die couverture dieser Sprache über alle Lebensvorgänge und bleibt noch da präsent, wo die Lebenswirklichkeit die Durchbrechung der Konvention nahelegt. Das heißt, noch der Widerstand gegen den Zwang affirmiert diesen Zwang. Man hat immer wieder – oder zu selten – über die mangelnde Durchlässigkeit der Kultur des französischen Spätmittelalters für die – uns heute offensichtlich überlegen erscheinende – italienische Kultur der Vor- und Frührenaissance, vom Dolce Stil Novo bis zu Petrarca, nachgedacht. Christine de Pisan, die Tochter eines italienischen Vaters, Charles d’Orléans, der Sohn einer italienischen Mutter – beider Dichter lyrisches Werk läßt kaum einen nennenswerten Einfluß Italiens erkennen. Das petrarkische Modell und die Rhétorique Seconde scheinen in die entgegengesetzte Richtung zu tendieren. Das hier behandelte Werk der ,Cent ballades d’amant et de
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dame‘ und die dialogisierte, romanesk aufbereitete Lyrik31 insgesamt scheinen e i n wichtiges Beispiel für den anhaltenden Einfluß höfischer Denkmuster darzustellen. Gegen frühneuzeitliche Formen der individualisierten Sprache erzwingen diese die Persistenz der Konvention, aber zugleich auch die Dialektik der couverture, welche der zeitgeschichtlichen italienischen Lyrik ebenso fremd ist wie die betont weibliche, ja feministische Subjektivität, die sich dieser couverture bedient.32
31 Das dialogische Dichten trifft sich ansatzweise mit der von mir entwickelten kulturvergleichenden Theorie der „poésie comme don“: La poésie comme cadeau ou le goût de la lectrice vers la fin du Moyen Age, suivi de Quelques réflexions sur la lyrique française du Moyen Age tardif: une poésie en contexte, in: Le Goût du lecteur à la fin du Moyen Age, hg. von Danielle Bohler, Paris 2006 (Cahiers du Léopard d’Or 11), S. 135 – 156. 32 So Christine McWebb: Lyrical Conventions and the Creation of Female Subjectivity in Christine de Pizan’s ,Cent ballades d’Amant et de Dame‘, in: Earl Jeffrey Richards (Hg.): Christine de Pizan and Medieval French Lyric, Gainesville 1998, S. 168 – 183.
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König und Sänger Zur Interaktion zwischen Sangspruchdichter und Herrscher
Theodor Nolte Könige und ranghohe Adelige waren für die Sangspruchdichter wichtige Anziehungspunkte, konnten sie sich doch von ihnen materielle Unterstützung einerseits, einen repräsentativen Rahmen für ihre Gesangsvorträge andererseits erhoffen. Bei den Strophen, die sich unmittelbar auf die Herrscher beziehen, ist es nun interessant zu beobachten, in welcher Weise diese von den Dichtern angesprochen werden. Allgemein lassen sich drei Modi der Bezugnahme auf den Herrscher unterscheiden. Erscheint der Adressat in der dritten Person, in der ErForm, so liegt statt einer direkten Apostrophierung eine unpersönliche Umschreibung vor. Dies ist die häufigste Form, die in den betreffenden Sangspruchstrophen begegnet. Bei der direkten Anrede gibt es wiederum zwei Möglichkeiten, das Ihrzen und das Duzen. Die Art und Weise der Bezugnahmen dürfte mit den konkreten Faktoren der Vortragssituation einer Sangspruchstrophe zusammenhängen: mit dem Verhältnis zwischen Sänger und Herrscher, mit einer spielmännischen Zielsetzung des Sängers (wie dem Prinzip guot umb Þre nemen), dem Publikum der Strophe etc. Vor allem dürfte die Frage, ob die Strophe vor dem Herrscher selbst oder an einem anderen Hof oder vor einem anderen Publikum vorgetragen wurde, mit entscheidend sein für die Form der Anrede. Die am häufigsten begegnende Art der Bezugnahme ist die unpersönliche Umschreibung des Herrschers. Als Ausgangsbeispiel diene eine berühmte Strophe Reinmars von Zweter auf Kaiser Friedrich II.:
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Der triuwen triskamerhort, ein ankerhaft der staete, ein v rgedanc f ieglich wort, ein wahter Cristentuomes, Roemischer Þren gruntveste unde grunt, Ein bilder houbethafter zuht, ein volliu gruft der sinne, ein s me saeldebernder vruht, ein zunge rehter urteil, vrides hant, gewisser worte ein munt, Ein houbet, dem nie smit deheine cr ne vol machen kunde s ner tugent ze l ne,
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Theodor Nolte
dem houbet suln wir al gel che 10 w nschen lange wernder tage: wes l p, wes herze daz lop trage? des suln wir jehen dem keiser Vrider che.1
Es handelt sich um eine Preisstrophe, einen panegyrischen Text, der rhetorisch zum Genus demonstrativum (der Lob- und Festrede) gehört. Das läßt vermuten, daß der Sangspruchdichter sie vor dem Kaiser vorgetragen hat, wie Volker Schupp es für die gesamte an Friedrich II. gerichtete Strophengruppe aufgezeigt hat.2 Preisstrophen konnten für die materiell abhängigen Sänger am ehesten den Mechanismus der milte, die herrscherliche Freigebigkeit, anstoßen, das guot umb Þre geben („ein Geschenk im Tausch gegen Ansehen zu machen“). Schließlich ist der feierliche Herrscherpreis, wie ihn diese Strophe formuliert, eine bei den Sangspruchdichtern beliebte Form, dem Adressaten Þre zukommen zu lassen. Ein Vortrag vor dem Kaiser wird aber durch eine weitere stilistisch-rhetorische Besonderheit der Strophe nahegelegt. Das SängerIch spricht als Teil einer Gruppe, indem es die Wir-Form gebraucht. Es ordnet sich in das anwesende Publikum (wir al gel che, V. 9, „wir alle gemeinsam“) ein und fordert – selbst ein Teil der Gruppe – diese auf, den Preis, den es mit großem rhetorischen Prunk formuliert hat, der aber noch keinem Adressaten zugeordnet war, jetzt einstimmig dem Kaiser Friedrich II. zuzusprechen. Diese Sprachform hat einen doppelten Effekt: Der Sänger widmet dem Herrscher ein Panegyrikon und zieht das Publikum in eine allgemeine Akklamation der Idealität und Idoneität des Kaisers mit hinein. Reinmar von Zweter dürfte diese sowie die anderen prostaufischen Strophen über Friedrich II. während des Aufenthalts des Kaisers 1235/36 in Deutschland vor dem Herrscher und einem entsprechend zahlreichen und hochrangigen Publikum vorgetragen haben. Das bedeutet aber, daß durch die Aufforderung an das Publikum gleichzeitig ein weittragender politischer Sprechakt geleistet ist. Die Zuhörer sollen die Legitimität und Dignität des Kaisers durch die Zueignung des geblümten Lobpreises an Friedrich II. stützen und öffentlich bekräftigen. Die Koppelung von panegyrischer und (implizit) politischer Tendenz ist mithin über die Sprachform der dritten 1 2
Die Gedichte Reinmars von Zweter, hg. von Gustav Roethe, Leipzig 1887 (ND Amsterdam 1967), Nr. 136. Vgl. Volker Schupp: Reinmar von Zweter, Dichter Kaiser Friedrichs II., in: Rüdiger Schnell (Hg.): Die Reichsidee in der deutschen Dichtung des Mittelalters, Darmstadt 1983, S. 247-267.
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Person bzw. die damit zusammenhängende erste Person Plural in der Schlußakklamation ermöglicht. Ein im Prinzip ähnliches Verfahren hat Walther von der Vogelweide bei seinen frühen Strophen an König Philipp von Schwaben gewählt. In der ,Kronenstrophe‘ (C. 9, I/L. 18,29) (an die Reinmar von Zweter sich ja anlehnt3) und der sog. ,Magdeburger Weihnacht‘ (C. 9, II/L. 19,5) wird der Herrscher ebenfalls in der 3. Person benannt. Auch hier nimmt der Sänger das Publikum in seine panegyrische Perspektive mit hinein und zeigt ihm den inthronisierten Herrscher in der Aura der Reichsinsignien und des sagenumwobenen weisen. Diese Sprachform mündet hier ebenfalls in eine politische Konsequenz, adressiert an diejenigen, die noch umherirren auf der Suche nach einem geeigneten König. Sie brauchen gemäß dem vor Augen gestellten Bild nur auf den jungen s ezen man (C. 9, I,8) zu schauen und auf den weisen, den er trägt und der ihnen als Leitstern dienen kann. Rhetorisch ganz ähnlich aufgebaut ist die ,Magedeburger Weihnacht‘, wo auf das panegyrische Bild vom unter der Krone gehenden Herrscher mit seinem Hofstaat eine politische Wertung folgt: Den w sen (C. 9, II,12), den Erfahrenen und Kennern der Reichspolitik, mußte (V. 12, muoste Hs. B; m este Hs. C) es gefallen. Auch in dieser Strophe erlaubt die Perspektivierung des Herrschers in der dritten Person den Duktus einer Preisstrophe – bei gleichzeitiger impliziter Hineinnahme des Publikums – mit einer letztlich politischen Devise. In dieser Sprachform sind die allermeisten Preisstrophen bzw. politischen Strophen auf Herrscher und Gönner verfaßt. Das gilt zumindest für die Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts.4 Wird das Pu3
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Er überbietet Walthers Formulierung, wie doch der Schmied der Reichskrone diese s ebne habe gemachet (V. 3), daß sie dem Philipp ausgezeichnet paßt bzw. zu ihm paßt. Die Texte Walthers von der Vogelweide werden nach folgender Ausgabe zitiert: Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neubearbeitete Auflage der Ausgabe von Karl Lachmann, hg. von Christoph Cormeau, Berlin/New York 1996 (zit.: C./L.). Z. B. Bruder Wernher, Nr. 31, vgl. Anton Ernst Schönbach: Beiträge zur Erklärung altdeutscher Dichtwerke. Drittes und viertes Stück. Die Sprüche des Bruder Wernher, I. II, Wien 1904 (Sitzungsber. d. Kaiserl. Akad. d. Wiss. Wien, Phil.-hist. Kl. 148,VII. 150,I); Friedrich von Sonnenburg Nr. IV, 26 (über die Krönung König Rudolfs von Habsburg in Aachen 1273), vgl. Achim Masser (Hg.): Die Sprüche Friedrichs von Sonnenburg, Tübingen 1979 (Altdeutsche Textbibliothek 86); Rumelant von Sachsen Nr. V,7, vgl. Friedrich Heinrich von der Hagen (Hg.): Minnesinger. Deutsche Liederdichter des 12., 13. und 14. Jahrhunderts, Bd. 1 – 4. 5, Leipzig 1838. Berlin 1856 (ND Aalen
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blikum nicht explizit oder implizit mit einbezogen, so handelt es sich um reine Preisstrophen, wobei die unpersönliche Redeweise über den Gönner eine Spannung ermöglicht, bis dessen Name erst ganz am Schluß genannt wird (wie dies bei der obigen Reinmar-Strophe der Fall ist).5 Bei einer direkten Anrede an den Herrscher finden wir sowohl die Form des Ihrzens als auch die des Duzens. Das Ihrzen ist ursprünglich als Anrede an die römischen Kaiser entstanden (vositare), als Pluralis reverentiae bzw. appellationis, und hat sich in der deutschen Literatur bei der Anrede von Adelspersonen (durch Subalterne oder auch untereinander) in öffentlichen Situationen verfestigt. Aber schon Gustav Ehrismann hat eine tendenzielle komplementäre Verteilung beider Anredeformen bei Walther erkannt, die dann auch für die spätere Sangspruchdichtung gilt: Bei Strophen „allgemeinpolitischen“6 Inhalts, z. B. bei panegyrischen Strophen, ist das feierliche Ihrzen am Platz. Bei spielmännischen Strophen, in denen es um das Verhältnis zwischen Sänger und Gönner, um dessen milte bzw. Geiz geht, greift Walther „als Fahrender“ auf „das althergebrachte Recht“ zurück, „selbst Könige zu duzen“.7 So duzt der Archipoeta sogar in seinem panegyrischen ,Kaiserhymnus‘ den Kaiser Friedrich I. (Salve mundi domine 8). Bei Walther muß man allerdings von einer tendenziellen Verteilungsregel sprechen, denn keiner versteht es so raffiniert wie dieser Autor, das Politische auf das Persönliche, Spielmännische transparent zu machen und vice versa. Der Versuch, einerseits eine Verteilungsregel bei Walther aufzufinden und die konkrete Funktion des Anredemodus in den einzelnen Strophen andererseits zu eruieren, führt natürlich in einen hermeneutischen Zirkel, der aber – in Ermangelung weiterer Quellen zur Vortragssituation – unvermeidbar ist.
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1962. 1963), Bd. 2, S. 367 – 371. Bd. 3, S. 52 – 68; Boppe II,1, Preisstrophe auf König Rudolf von Habsburg, vgl. Heidrun Alex: Der Spruchdichter Boppe. Edition – Übersetzung – Kommentar, Tübingen 1998 (Hermaea 82). Vgl. Meißner XVII,8/9, Georg Objartel: Der Meißner der Jenaer Liederhandschrift. Untersuchungen, Ausgabe, Kommentar, Berlin 1977 (Philologische Studien und Quellen 85). Gustav Ehrismann: Duzen und Ihrzen im Mittelalter (Schluß), in: Zeitschrift für Deutsche Wortforschung 5 (1903/04), S. 127 – 220, hier: S. 193. Ehrismann [Anm. 6], S. 193. Die Lieder des Archipoeta. Lateinisch und Deutsch, hg. von Karl Langosch, Stuttgart 1972, V 1,1. In seiner Ablehnung des Barbarossa-Epos duzt er auch den Kanzler Rainald von Dassel (V).
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Die panegyrischen, am Frankfurter Hoftag 1212 vorgetragenen Strophen, in denen der aus Italien zurückgekehrte Kaiser Otto angeredet wird, weisen das feierliche Ihrzen auf (alle drei Strophen beginnen mit hÞr keiser (C. 4, III–V/L. 11,30; 12,6.18; Str. III,1: Herre keiser, s t ir willekomen...). Die erste Strophe etwa spiegelt die solenne Stimmung in Frankfurt, da die anwesenden Reichsfürsten und Großen, vor allem die vormals abtrünnigen, voller Demut dem Kaiser huldigten und ihn ihrer uneingeschränkten Treue versicherten. Mit dem Pluralis reverentiae und der feierlichen und unterwürfigen Anrede an den Kaiser bringt Walther diese Stimmung sinnfällig zum Ausdruck. Neben dem Charakter des Herrscherpreises erhält die Strophe am Schluß auch einen speziell politischen Aspekt, indem für den ehemals abtrünnigen Markgrafen Dietrich von Meißen Fürsprache geleistet wird. Auch König/ Kaiser Friedrich II. wird bei direkter Anrede geihrzt, und zwar in Gönnerstrophen.9 Bitte und Dank verbinden sich hier mit dem Herrscherpreis und ziehen somit die feierliche Anredeweise nach sich. In Anlehnung an die fünfte Ottentonstrophe, wo es heißt: Got g t ze k nige, swen er wil („Gott macht zum König, wen immer er will“), richtet später der Marner (Mitte des 13. Jahrhunderts) eine panegyrische Adresse an König Konradin: Got git sin gabe swem er wil: / er hat iu lip gegeben / und in der kintheit saelden vil. 10 Der König möge das Beispiel seiner Vorfahren fortführen gegenüber ritter[n], frouwen und dem Berufsdichter selbst, auf daß er Sizilien, das Hl. Land und mit Gottes Hilfe auch die Kaiserkrone verdienen möge.11 In solchen politisch-spielmännischen bzw. politisch-mahnenden Strophen, wie Walther sie mit der Kreuzzugsmahnung des Ottentons (Strophen C. 4 IV u. V/ L. 12,6.18) an den Kaiser Otto richtet, wählen die Sangspruchdichter also die förmlich-unterwürfige Form des Ihrzens.12 9 Vgl. die Bittstrophe C. 11,VII/L. 28,1, die Dankstrophe C. 3,VIII/L. 84,30 sowie C. 11,III/L. 26,33 (V. 10). Auch C. 12,II/L. 31,23 ist eine Bittstrophe, die sich offensichtlich an Kaiser Otto richtet, wobei der Gönner geihrzt wird. 10 Philipp Strauch (Hg.): Der Marner, Straßburg 1876 (ND Berlin 1965), XV 5. 11 Vgl. Walthers Bittstrophen an Kaiser Otto IV. und an König Friedrich II., wo die Herrscher ebenfalls geihrzt werden und der Wunsch für dessen Wohlergehen mit der Bitte um Unterstützung des Sängers verknüpft wird, C. 12,II/L. 31,23; C. 11,VII/L. 28,1. 12 Z. B. Sigeher Nr. 7, vgl. Heinrich Peter Brodt (Hg.): Meister Sigeher, Breslau 1913 (Germ. Abh. 42) (ND Hildesheim 1980), an einen deutschen König (Heinrich [VII.] oder Konrad); Schulmeister von Esslingen an König Rudolf von Habsburg: her k nig, nemt iuwer selbes war (V. 15), vgl. Carl von Kraus (Hg.):
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Anders ist dies bei der Gönnerkritik bzw. bei regelrechten Scheltstrophen. Besonders Herzog Leopold VI. von Österreich, in panegyrischen Strophen jeweils in der dritten Person apostrophiert13, wird von Walther von der Vogelweide wie kein anderer Gönner mit kritischen Strophen voll bissiger Ironie überzogen und in der direkten Anrede dabei geduzt.14 Ob der Sänger diese Strophen allerdings jemals vor dem Herzog selbst gesungen hat, läßt sich nicht ausmachen. Man muß also auch an die Möglichkeit einer fiktiven Anrede denken. Neidhart duzt den Herzog Friedrich den Streitbaren von Österreich ganz unbefangen in einer Heischestrophe, in der er um ein kleinez hiusel n bittet15 ; dafür wolle er Fürbitte für den Herrscher leisten. In einer Dankstrophe, in der er den Herzog überschwenglich dafür preist, daß er ihn, den Sänger, beh set habe, duzt er den Herrscher ebenfalls und stellt ihm seinen Preis von der Elbe unz an den R n 16 in Aussicht.17 Bei Preisstrophen ist das Duzen dagegen die absolute Ausnahme, etwa wenn der Meißner (2. Hälfte des 13. Jahrhunderts) den von ihm umworbenen Gönner Herdegen von Grindelach/Gründlach duzt18 oder wenn der Marner in einem lateinischen Preislied auf den Prälaten Heinrich von Zwettl diesen seinen Gönner ebenfalls duzt.19 Solches ist natürlich nicht vergleichbar mit einer Adresse an den König oder Kaiser, bei einem Festakt oder Hoftag. Allerdings rät der Meißner dem König Rudolf von Habsburg, mit dem König Ottokar von Böhmen Freundschaft zu halten, und duzt ihn dabei.20 Offenbar ist die Strophe aber weder vor dem Habsburger noch vor dem böhmischen König (Ottokar II.) vorgetragen worden, sondern am Hof eines dritten Gönners. Wie Hans-Joachim Behr vermutet, ist die Strophe bei den Askaniern in Brandenburg anzusiedeln, die mit dem
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Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts, Bd. 1: Text, Tübingen 21978, 10, II,2, S. 62 f. Vgl. C. 10,XIV/L. 25,26; C. 10,II/20,31; C. 12,XIV/L. 34,34. C. 12,X/L. 35,17; C. 12,III/L. 31,33. Aber auch Herzog Bernhard von Kärnten, der dem Sänger Kleider versprochen hatte, die aber offenbar nie bei diesem angekommen sind, wird (dafür?) geduzt (C. 12,VI/L. 32,27). Die Lieder Neidharts, hg. von Edmund Wießner,Tübingen 41984 (Altdeutsche Textbibliothek 44), Winterlied 35,VII. In Anlehnung an Walthers ,Preislied‘, C. 32,IV 1/L. 56, 38. Wießner [Anm. 15], Winterlied 23,XII, Zitat: V. 13. Objartel [Anm. 5], Nr. I,8. Strauch [Anm. 10], XX, M. 64. Objartel [Anm. 5], Nr. I,13.
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Böhmenkönig assoziiert waren.21 Die Anrede an Rudolf von Habsburg ist also in jedem Fall fiktiv. Wenn die reale Vortragssituation nicht der literarischen Anredeform (d. h. der vermeintlich direkten Anrede) entsprach, war das Duzen offenbar unproblematisch, und so duzt denn auch Bruder Wernher den Papst Gregor IX. in einer kirchenkritischen Strophe.22 Die Fiktivität der Anrede und die kritische Tendenz ziehen hier offenbar das Duzen nach sich. Auch hierin hatte Walther von der Vogelweide seinen späteren Kollegen Beispiele gegeben, etwa wenn er in der sog. ,Philippsschelte‘ dem König Philipp als leuchtendes Beispiel der milte den schärfsten außenpolitischen Widersacher der Staufer, König Richard Löwenherz von England, vor Augen stellt (C. 9,III/L. 19,17). Diese „freche und taktlose Kränkung Philipps“23 hat er wohl in Thüringen vorgetragen, wo sie für Erheiterung gesorgt haben dürfte.24 In fiktiver Weise wird der König Philipp dabei direkt angeredet und geduzt. Zeitlich und wohl auch im Hinblick auf den ,Sitz im Leben‘ in die Nähe dieser Strophe zu stellen ist die sog. ,Alexandermahnung‘ aus dem 1. Philippston (C. 8,I/L. 16,36). Sie ist wohl im Umfeld des Fürstenprotests von Bamberg (8. September 1201) oder desjenigen von Halle ( Januar 1202) zu sehen, als der Landgraf Hermann von Thüringen, der vermutlich zu diesem Zeitpunkt Walthers Gönner (in spe?) war, sich von Philipp bereits zu lösen anschickte.25 Auch in dieser Strophe wird der König geduzt. Man könnte diesen Umstand mit der spielmännischen Thematik der Strophe begründen, der Kritik an mangelnder milte. Aber der Sänger spricht ja nicht seine eigenen Belange an, sondern die allgemeine Bedeutung der milte. Wenn die Strophe um die Jahreswende 1201/02 verfaßt wurde, kann man den Anspruch der Fürsten heraushören, für ihren prostaufischen Einsatz auch eine Gegenleistung zu bekommen. Besonders dürfte dies für den Landgrafen Hermann gelten, der damals in Geheimverhandlungen mit dem ab21 Hans-Joachim Behr: Literatur als Machtlegitimation. Studien zur Funktion der deutschsprachigen Dichtung am böhmischen Königshof im 13. Jahrhundert, München 1989, S. 111 – 115. Vgl. Objartel [Anm. 5], S. 32 – 36. 22 Schönbach [Anm. 4], Nr. 2. 23 Günther Jungbluth: Neue Forschungen zur mittelhochdeutschen Lyrik, in: Euphorion 51 (1957), S. 192 – 221, hier: S. 217. 24 Vgl. Matthias Nix: Untersuchungen zur Funktion der politischen Spruchdichtung Walthers von der Vogelweide, Göppingen 1993 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 592), S. 103 – 106. 25 Vgl. Nix [Anm. 24], S. 79 – 83.
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trünnigen Kanzler Philipps, Bischof Konrad von Würzburg, stand.26 Das quasi respektlose Duzen könnte Ausdruck der kritisch-mahnenden Tendenz der Strophe sein. Denkbar wäre natürlich auch, daß die direkte Anrede Philipps eine Fiktion ist. Dann hätte Walther die Strophe vor dem Landgrafen Hermann und seinem Anhang vorgetragen.27 Aufgrund dieser Erkenntnisse über die komplementäre Verteilung von Ihrzen und Duzen bei der Anrede des Herrschers kann auch der Streit um das Verständnis der zweiten Reichstonstrophe (C. 2,II/L. 8,28) ad acta gelegt werden. Ganz gleich, was man unter den cirkel[n] und armen k nige[n] verstehen will und ob man die Strophe auf das Vorfeld der Wahl Philipps im März 1198 oder – was wahrscheinlicher ist – auf das Vorfeld seiner Krönung im September 1198 bezieht: Die Lesart, die Peter Kern hier vorgeschlagen hat28 und der alle neueren Walther-Herausgeber gefolgt sind,29 ist so nicht haltbar. Philippe soll demnach ein Vokativ sein, was ein Komma dahinter erfordert: Philippe, setze den weisen f (V. 24). Somit ergibt sich die Aussage, daß Philipp sich selbst die Waisen-Krone aufsetzen soll. Einen solchen Akt konnte er auch bei einer Festkrönung begehen; eine Datierung wäre somit wieder offen, was zur Folge hätte, daß man sich alle drei Reichstonstrophen um oder nach 1201, also in 26 Vgl. Ernst Kirmse: Die Reichspolitik Hermanns I., Landgrafen von Thüringen und Pfalzgrafen von Sachsen (1190 – 1217), in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde 20 (1911), S. 1 – 42, hier: S. 12. 27 Ähnlich argumentierte schon Kondrad Burdach: Walther von der Vogelweide. Philologische und historische Forschungen, Leipzig 1900, S. 62 f., der sich die Strophe 1204 am Hof des Landgrafen vorgetragen denkt. 28 Peter Kern: Der Reichston – das erste politische Lied Walthers von der Vogelweide? in: Zeitschrift für deutsche Philologie 111 (1992), S. 343 – 362 29 Cormeau [Anm. 3]; Günther Schweikle (Hg.): Walther von der Vogelweide. Werke, Band 1: Spruchlyrik. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, Stuttgart 1994 (Universal-Bibliothek 819), I 2; Silvia Ranawake (Hg.): Walther von der Vogelweide. Gedichte, Teil 1: Der Spruchdichter, Tübingen 111997 (Altdeutsche Textbibliothek 1), S. 4 f. Die früheren Ausgaben haben jeweils Lachmanns Wortlaut beibehalten: Philippe setze en weisen f, vgl. Karl Lachmann (Hg.): Die Gedichte Walthers von der Vogelweide, Berlin 61891, S. 9; Wilhelm Wilmanns/Victor Michels (Hg.): Walther von der Vogelweide, Halle/ Saale 41924, S. 74 – 76; Friedrich Maurer (Hg.): Die Lieder Walthers von der Vogelweide, 1. Bd.: Die religiösen und die politischen Lieder, Tübingen 31967 (11955), S. 20 f.; Peter Wapnewski (Hg.): Walther von der Vogelweide. Gedichte. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung, Hamburg 1962, S. 122; Helmut Protze (Hg.): Walther von der Vogelweide. Sprüche und Lieder, Leipzig 1983, S. 42 f.
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einem Zuge und als liedhafte Einheit, entstanden denken könnte. Im Folgenden soll nachgewiesen werden, daß diese Interpretation nicht haltbar ist. Dabei gilt es zunächst zwei Argumente von Joachim Heinzle zu beachten,30 die m. E. für sich schon zwingend sind: 1) Die armen k nige wären, so das Argument, das er von Jürgen Petersohn31 übernimmt, „durch eine bloße Festkrönung /…/ sicher nicht zu beeindrucken gewesen“. Derartige Festkrönungen hätten „zum Alltag des Thronstreits“32 gehört. 2) Der argumentationslogische Zusammenhang, in dem es darum geht, daß die Tiere k nige unde reht setzen und daß selbst die mugge ihren König hat, verweist darauf, daß die Deutschen eben zu dieser Zeit keinen König haben bzw. zwei gewählte, und daß sie jetzt den richtigen, eben Philipp, krönen sollen. Außerdem: Warum sollte der mit V. 17 begonnene Appell an die tiutschiu zunge, der bis V. 23 reicht, plötzlich abbrechen und ein anderer Adressat, Philipp, genannt werden? Ich halte dies mit Heinzle für „ausgeschlossen“.33
Ich möchte diesen zwei Argumenten zwei weitere anfügen. Peter Kern hat gegen die Dativ-Lösung eingewandt, die Krönung des Königs werde „doch nicht durch das Volk“34 vollzogen. Der Kollektivbegriff tiutschiu zunge ergibt sich aber, darin folge ich Heinzle, aus dem Ausgangsbeispiel, „der kollektiven Rede von den Tieren“35. Diese Auffassung läßt sich untermauern durch ein Rezeptionszeugnis für diese Waltherstrophe, eine Sangspruchstrophe des Meißners.36 Das SängerIch beklagt hier den Zustand des Interregnums (1245/50 – 1273) und 30 Joachim Heinzle: Philippe – des r ches kr ne – der weise. Krönung und Krone in Walthers Sprüchen für Philipp von Schwaben, in: Thomas Bein (Hg.): Walther von der Vogelweide. Textkritik und Edition, Berlin/New York 1999, S. 225 – 237. 31 Jürgen Petersohn: ,Echte‘ und ,falsche‘ Insignien im Krönungsbrauch des Mittelalters? Kritik eines Forschungstopos, Stuttgart 1993 (Sitzungsberichte der wiss. Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main XXX,3), S. 16, Anm. 34. 32 Heinzle [Anm. 30], S. 225 – 228. 33 Heinzle [Anm. 30], S. 227. 34 Kern [Anm. 28], S. 354. 35 Heinzle [Anm. 30], S. 227. 36 Objartel [Anm. 5], XIV,2. Die Strophe bildet mit der in der Handschrift vorausgehenden Str. XIV,1 eine zweistrophige Einheit. Vgl. Eberhard Nellmann: Zur Rezeption von Walthers Sangsprüchen in der deutschen Literatur bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts, in: Helmut Birkhan (Hg.): Der achthundertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla – Zeiselmauer, Wien 2005, S. 363 – 381, hier: S. 367.
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macht dafür die Habgier der diutsche[n] zunge (V. 2) verantwortlich, wobei er deutlich auf Walthers zweite Reichstonstrophe anspielt. Er warnt davor, daß die diutschiu zunge ihr Erbe, das Romes Riche (V. 1), an vremde hant vergeben könnte.37 Es ist klar, daß der Meißner mit seiner Kritik die deutschen Fürsten meint38, denen Bestechlichkeit vorgeworfen wird und die daran gemahnt werden, das universale Kaisertum wiederherzustellen. Offenbar um sich nicht allzu sehr zu exponieren, wählt der Sänger unter Anlehnung an die berühmte Walther-Strophe die Umschreibung diutschiu zunge. Auf welche politische Situation die Strophe auch reagieren mag – klar ist, daß die diutsche zunge hier zu einem politischen Handeln aufgefordert wird. Das heißt aber: Der Meißner hat anscheinend die Walther-Strophe so verstanden, daß die tiutschiu zunge politisch tätig werden soll, d. h. daß sie Philipp zum König krönen soll. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, daß er den Waltherschen Begriff auf die deutschen Fürsten bezieht, die beim Meißner am Schluß der Strophe sowie in der vorausgehenden Strophe genannt werden.39 In genau diesem Sinne dürfte bereits Walther den Begriff gemeint haben: Die Fürsten sollen als Repräsentanten des deutschen Königreichs, der tiutschen zunge, handeln und Philipp zum König krönen lassen.40 Daß die Umschreibung des Handlungsträgers als tiutschiu zunge letztlich auf die Fürsten gemünzt ist, kann untermauert werden durch eine Parallele in der Chronik des stauferfreundlichen Burkhard von Ursberg. Hier werden die Fürsten, die sich im März 1198 anschicken, in
37 Bei den Königswahlen 1256/57 und 1272/73 waren jeweils ,ausländische‘ Thronkandidaten im Gespräch. Vgl. zum historischen Hintergrund der Strophe: Ulrich Müller: Untersuchungen zur politischen Lyrik des deutschen Mittelalters, Göppingen 1974 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 55/56), S. 121 f. 38 Diese werden in der vorausgehenden, ebenfalls auf das Interregnum bezogenen Strophe (XIV,1) klar benannt: Die diutschen v rsten sollen dafür sorgen, daß ein neuer Kaiser geweiht werde (V. 8 f.). 39 XIV,1, V. 8: ir diutschen vursten, sit gemant,/ schaffet, daz man den keiser wie; XIV,2, V. 9: da von [sc. vor dem Tod Konradins] noch allen diutschen vursten eiset. 40 Die Belegstelle beim Meißner dürfte somit auch die Argumentation von Kern widerlegen, der schreibt: „Ist es eigentlich denkbar, daß Walther das deutsche Volk aufgerufen haben könnte, Philipp die Krone aufzusetzen?“, vgl. Kern [Anm. 28], S. 354.
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Köln den Herzog Berthold V. von Zähringen zum König zu wählen, zweimal mit dem Begriff Alamanni umschrieben.41 Das letzte Gegenargument führt zur Ausgangsfrage zurück, der Frage nach den Anredekonventionen in der Sangspruchdichtung. Bei den Interpreten und Herausgebern, die die Vokativ-Lösung befürworten, ist offenbar überhaupt nicht bedacht worden, was das Duzen des Herrschers, das sich durch diese Lesart ergibt, impliziert. Vielmehr hat man die Konsequenz des Duzens anscheinend für völlig belanglos gehalten. Das ist sie jedoch keineswegs. Vielleicht haben die Interpreten auch an die ,Philippsschelte‘ im 1. Philippston und an die sog. ,Alexandermahnung‘ im 2. Philippston gedacht, wo der Sänger den König jeweils duzt (s. o.). Daß das Duzen hier jedoch in einem völlig anderen Kontext steht, wurde oben gezeigt. Bei der 2. Reichstonstrophe geht es um eine hochpolitische Situation einerseits und um das Faktum, daß Walther sich damals um ein Engagement als Dichter an Philipps Hof bemühte, andererseits. Mich h t daz r che und ouch diu kr ne an sich genomen, jubelt er in der sog. ,Hofwechselstrophe‘ des 1. Philippstons (C. 9,IV/L. 19,29). Alle Interpreten gehen davon aus, daß die 2. Reichstonstrophe in einem hochoffiziellen Zusammenhang, vor einer Wahl, einer Krönung bzw. Festkrönung (sei es auch die vom 6. Januar 1205 in Aachen, obwohl diese Datierung gänzlich unwahrscheinlich ist42) und d. h. in Anwesenheit des Königs und eines hochrangigen Publikums vorgetragen wurde. Und dabei soll der Sänger den Herrscher in der Face-toFace-Situation geduzt haben – „Philipp, setz’ den Waisen auf!“ Dann hätte er doch später auch den Kaiser Otto bei der Begrüßung auf dem Frankfurter Hoftag ebenso duzen können, also statt: Herre keiser, s t ir willekomen! (C. 4,III 1/L. 11,30) etwa: Otte, bis willekomen! – „Otto, sei (uns) willkommen!“ Das wäre dem fahrenden Sangspruchdichter, so viel Hochachtung er als Minnesänger auch genossen haben mochte, sicher schlecht bekommen. Aber in einer politisch und repräsentativ ebenso exzeptionellen Situation wie vor einer Krönung oder Festkrönung Philipps soll Walther, der zumindest noch am Anfang seiner 41 Matthias Becher (Hg.): Fontes ad historiam Welforum illustrandam et Burchardi praepositi Urspergensis chronicon / Quellen zur Geschichte der Welfen und die Chronik Burchards von Ursberg, Darmstadt 2007, S. 236 f. Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Dr. Andreas Bihrer/Universität Freiburg i. Br. 42 Vgl. Günther Serfas: Die Entstehungszeit der „Sprüche im Reichston“ Walthers von der Vogelweide, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 102 (1983), S. 65 – 84, Kern [Anm. 28], S. 356; Serfas plädiert auf 1201.
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Theodor Nolte
Laufbahn als ,politischer‘ Sangspruchdichter stand, solches gewagt haben? Nimmt man dieses Argument zu den oben aufgeführten dazu, so wird letztlich klar, daß man, wie schon Joachim Heinzle es deklariert hatte43, die Vokativ-Lesart ad acta legen kann. Ich hoffe, mit diesen Ausführungen gezeigt zu haben, daß die Sangspruchdichter die Art und Weise der Anrede des Herrschers bzw. des Sprechens über den Herrscher sehr gezielt und jedenfalls nicht nach einem Zufallsprinzip in ihren politischen und panegyrischen Strophen gestaltet haben. Die Art der Anrede hängt mit zentralen Merkmalen der Vortragssituation und natürlich auch mit dem konkreten Verhältnis zwischen Sänger und Herrscher (bzw. zwischen Sänger und Gönner) zusammen. Daher sollte dieses Stilmerkmal bei der Interpretation solcher Strophen immer ins Kalkül gezogen und bei der Frage nach ihrem ,Sitz im Leben‘ ganz zentral berücksichtigt werden.
43 Heinzle [Anm. 30], S. 228: „Die alte Auffassung des Verses 9,15 hat nicht ohne Grund mehr als anderthalb Jahrhunderte gegolten. Man muß zu ihr zurückkehren: Philippe ist Dativ; der Spruch ist vor der Krönung Philipps entstanden; die drei Strophen im Reichston bilden keine genetische Einheit.“
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Epigramm
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Epigramm und Rätsel Zum Verhältnis zweier Sprachspiele
Tomas Tomasek Daß etablierte literarische Kleinformen wie die Fabel oder das Sprichwort letztlich undefinierbar seien, ist ein literaturwissenschaftlicher Topos,1 der derzeit besonders für das Epigramm Konjunktur hat.2 Doch fragt es sich, wie diese Kleingattungen Jahrtausende hindurch ohne distinkte Gattungsbilder verwendet worden sein sollen oder wie es unter solchen Umständen möglich sein kann, daß sich antike Rätsel, Sprichwörter oder Epigramme, deren Sinn teilweise stark erklärungsbedürftig geworden ist, immer noch ihren Gattungen zuordnen lassen. Es scheint sich deshalb eher so zu verhalten, daß die wichtigsten Kleinformen sich durch distinktive Merkmale voneinander unterscheiden und an charakteristischen Signalelementen zu erkennen sind. So bringen z. B. Sprichwörter in kurzen, geprägten Formulierungen mit Satzstatus Erfahrungswissen zum Ausdruck und rufen dabei einen allgemeinen Konsens auf. Der Rezipient erkennt an Fällen wie ,Lügen haben kurze Beine‘ eine für Sprichwörter charakteristische Vertextungsweise und weiß, daß seine Zustimmung zu dem ausgedrückten Erfahrungswissen unterstellt wird. Es sind nur wenige Elemente der Textstruktur (hier vor allem die kurze, apodiktische, idiomatische Erfahrungsaussage) in Verbindung mit einer bestimmten Textfunktion 1
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Vgl. z. B. Reinhard Dithmar: Die Fabel. Geschichte, Struktur, Didaktik, Paderborn 71988 (UTB 73), S. 165; Thesaurus Proverbiorum Medii Aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters, begründet von Samuel Singer, hg. vom Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, Bd. 1, Berlin/New York 1995, S. IXff. Vgl. z. B. Peter Hess: Epigramm, Stuttgart 1989 (Sammlung Metzler 248), S. VII, 1 f.; Deutsche Epigramme, Auswahl und Nachwort von Gerhard Neumann, Stuttgart 1969 (Reclams UB 8340 – 8343), S. 287; Theodor Verweyen/ Gunther Witting: Das Epigramm. Beschreibungsprobleme einer Gattung und ihrer Geschichte, in: Simpliciana 11 (1989), S. 166; Jan-Steffen Mohr: Epigramm und Aphorismus im Verbund. Kompositionen aus kleinen Textformen (Daniel Szepko, Angelus Silesius, Friedrich Schlegel, Novalis), Frankfurt a. M. 2007 (Mikrokosmos 78), S. 32 – 36.
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Tomas Tomasek
(hier das Abrufen von Konsens), die eine Textsorte3 wie das Sprichwort erkenn- und von anderen Kleinformen unterscheidbar machen. Sprichwort Textstruktur: —————– Textfunktion:
allg. Erfahrungswissen als apodiktischer Kurzsatz ——————————————————— Konsens abrufen
Auch wenn an dieser Stelle nicht auf Einzelheiten der Sprichwortgattung eingegangen werden soll,4 ist zu erwähnen, daß sich die für die Textsorte charakteristische Illokution des Abrufens von Konsens in konkreten Sprechsituationen jeweils mit einem weiteren Sprechakt (z. B. Warnen, Erläutern, Trösten usf.) amalgamiert. Die situativen Verwendungsmöglichkeiten von Sprichwörtern sind derart vielfältig,5 daß aus ihnen kein textfunktionales Gattungskriterium gewonnen werden kann, dieses besteht deshalb in dem jeder Sprichwortverwendung zugrunde liegenden Konsensabruf. Da es bei der Betrachtung distinktiver Merkmalsstrukturen unerläßlich ist, mehrere Kleinformen im Zusammenhang zu behandeln, und für eine solche vergleichende Gattungsanalyse das Epigramm und das Rätsel mit ihrer uralten Wechselbeziehung6 besonders aufschlußreiche Untersuchungsobjekte darstellen, sollen im folgenden Epigramm- und Rätselbeispiele aus verschiedenen Jahrhunderten und Kulturkreisen auf ihre distinktiven Textstrukturen und -funktionen untersucht werden.
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Daß Textsorten durch spezifische Konstellationen ihrer Textstruktur und Textfunktion definiert werden, zeigt Klaus Brinker: Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden, Berlin 62005 (Grundlagen der Germanistik 29). Vgl. dazu: Handbuch der Sentenzen und Sprichwörter im höfischen Roman des 12. und 13. Jahrhunderts, hg. von Manfred Eikelmann und Tomas Tomasek, Bd. 2: Artusromane nach 1230, Gralromane, Tristanromane, bearb. von Tomas Tomasek in Zusammenarbeit mit Hanno Rüther und Heike Bismark unter Mitwirkung von Jan Hallmann, Daniela Riegermann, Kerstin Rüther und Manuela Schotte, Berlin 2009, S. VIIff. Vgl. ebd., S. 664 ff. Vgl. hierzu bereits Johannes B. Friedreich: Geschichte des Räthsels, Dresden 1860, S. 45 f.
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1. Beispiele aus der ,Griechischen Anthologie‘ Unter den bis weit in die vorchristliche Zeit zurückreichenden Epigrammen der ,Anthologia Graeca‘ finden sich zahllose Liebesepigramme wie z. B. das folgende des Rufinos (2. Jh. n. Chr.): Zwei Hetären – sie heißen Frachtkahn und Ruderboot – liegen in der samischen Bucht lange vor Anker bereits. Rettet euch alle, ihr Jungen, vor diesen Piraten der Kypris: Wer sich zu ihnen an Bord sorglos begibt, der ersäuft! (V,44) 7
Der wie fast alle Belege der griechischen Sammlung ohne Überschrift gebotene Text hat die Warnung vor zwei Hafenprostituierten zum Thema, die auf originelle Weise durch seemännisches Vokabular charakterisiert werden. Mit seiner Versgliederung (hier: Distichen) entspricht der Text einem wichtigen Strukturmerkmal der Epigrammgattung. Metrisch identisch, sonst aber – zumindest auf den ersten Blick – völlig andersartig erscheint das folgende Grabepigramm des Iulianos von Ägypten (6. Jh. n. Chr.): „Hoher Johannes.“ – „,Sterblicher‘, meinst du.“ – „Der Kaiserin Schwager.“ „,Sterblicher‘ dennoch.“ „Entsproßt dem Anastasiosstamm.“ „,Sterblich‘ auch dieser.“ – „Er lebte gerecht – jetzt schweigst du von ,sterblich‘: Leistung und wirkende Tat, sie überdauern den Tod!“ (VII,590)
Auch hier ist das Epigrammthema (Sterblichkeit, Dauer des Nachruhms) gut erkennbar, doch wird es – wie in Epigrammen nicht selten – dialogisch abgehandelt. Epigramme haben nämlich, anders als die satzwertigen Sprichwörter, den Status von Kurztexten, die unterschiedlichste illokutive Profile aufweisen können – hier das eines panegyricus in Form eines Streitdialogs, im vorigen Beispiel das einer Warnung aus dem Munde eines Liebeserfahrenen. Ein Epigramm kann, wie der folgende Beleg des Meleagros (ca. 140 – 60 v. Chr.) zeigt, z. B. auch als Ratschlag getextet sein: Dorkas, sag der Lykainis: „Du liebst mich in Wirklichkeit gar nicht. Auch in der Liebe enthüllt sicher die Zeit den Betrug!“ (V,187)
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Die ,Griechische Anthologie‘ wird im folgenden zitiert nach: Die Griechische Anthologie in drei Bänden, aus dem Griechischen übertragen von Dietrich Ebener, Berlin/Weimar 1981 (Bibliothek der Antike).
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Tomas Tomasek
Wieder anders ist der Sprechakt des folgenden Epigramms, das vordergründig einen Sachverhalt im Imperfekt neutral erzählt, dabei aber in bissig-kritischer Weise ein ethnisches Stereotyp bedient (Demodekos, 1. Hälfte 5. Jh. n. Chr.): Einen Kappadoker biß die giftige Schlange, die freilich selber auch starb; denn sie sog beißend sein giftiges Blut. (XI,237)
In vielen erzählenden Epigrammen, wie z. B. bei Philippos von Thessalonike (1. Hälfte 1. Jh. n. Chr.), erfolgt die Narration in der ersten Person: Wogen zerschlugen mein Schiff. Doch als ich dahintrieb, verschaffte mir ein Daimon erneut eins, ein geliebteres noch, Werk der Natur: Auf mich prallte, sehr günstig, der Leichnam des Vaters, den ich zum Rudern bestieg, eine gebührende Fracht. Bis in den Hafen trug mich der Alte und zeugte mich derart zweimal: als Kindlein an Land, wiederum heute auf See! (IX,85)
Diese sehr konstruiert anmutende Ich-Erzählung läuft auf die Pointe hinaus, daß ein Vater seinen Sohn zweimal zeugen könne – eine absonderliche These, der man im Vorhinein sicherlich widersprochen hätte, die man aber nach der Rezeption des Epigramms hinzunehmen bereit ist, weil sie treffend vertextet dargeboten wird. Letzteres gilt für alle vorangegangenen Beispiele, woraus folgt, daß Epigramme ihrer Textstruktur nach in Versform gehaltene, freie Themen behandelnde Kurztexte sind, die über eine Vielzahl von Illokutionen (Warnung, Streitgespräch, Lobpreis, Ratschlag, Kritik, Erzählung usw.) verfügen können; die Erwartung des Rezipienten aber richtet sich primär darauf, ein Epigrammthema mit treffenden Bemerkungen vertextet vorzufinden – hierin liegt die gattungstypische Textfunktion : Epigramm Textstruktur: Kurztext mit freier Illokution in Versform über ein Thema —————– ——————–————————————————— Textfunktion: zum Thema treffende Bemerkungen abgeben
Epigramme können in ihrer Textstruktur anderen Gattungen nahekommen. So enthält die ,Griechische Anthologie‘ auch kurze, fast
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sprichwörtlich klingende Epigramme, die sich als Sentenzen8 auffassen lassen, wie das folgende Beispiel des Philon: Silberne Haare, gepaart mit Verstand, sind würdig der Ehren. Alter ohne Verstand erntet nur größere Schmach. (XI,419)
Wer diesen Text als Epigramm wahrnimmt, goutiert ihn im Rahmen der Epigrammsammlung als eine treffende Bemerkung, wer ihn aber als Sentenz lesen möchte, rezipiert ihn unter der für Sentenzen und Sprichwörter charakteristischen textfunktionalen Maßgabe des Konsensabrufs. In ihrem XIV. Buch enthält die ,Anthologia Graeca‘ auch eine Reihe von Versrätseln, wie z. B. das folgende: Hoch in den Bergen ward ich von einem Baume geboren und von dem Feuer gezeugt, bin jetzt ein Klumpen, ganz schwarz. Hat mich mein Vater im Innern des irdenen Topfes geschmolzen, schütze ich Planken auf See sorglich vor Narbe und Riß. (XIV,61)
Für denjenigen, der weiß, daß es sich um das aus Baumharz gewonnene Pech handelt, das hier in der ersten Person des Singulars über sich erzählt, ist dieser Text nach der oben genannten Formel als Epigramm lesbar: Es werden in Distichen treffende Bemerkungen über Entstehung, Aussehen und Verwendung des Pechs gemacht, von denen einige („geboren“, „gezeugt“, „Vater“) metaphorisch zu verstehen sind. In seiner Diktion ähnelt dieser Text dem vorherigen Epigramm vom Schiffbruch. Es ist also kein Zufall, daß die hinsichtlich ihrer Textstruktur verwandten Epigramm- und Rätselgattungen in der ,Griechischen Anthologie‘ eine Symbiose eingegangen sind. Wahrscheinlich ist die – bis in die europäischen Volksrätsel der Neuzeit anzutreffende – typische ,Ich‘-Vertextung von Rätseln auf die entsprechende Textstruktur antiker Epigramme, wie sie z. B. in Grabepigrammen (vgl. z. B. VII,215 ff., 236 ff., 264 ff. usw.) zu Hause ist, zurückzuführen. Andererseits zeugt die Tatsache, daß sich die Rätselbelege gehäuft im XIV. Buch der Sammlung finden, vom Bewußtsein eines Gattungsunterschiedes zwischen Epigramm und Rätsel. Im Unterschied zu den zuvor behandelten Fällen stellt der Text über das Pech nämlich die Evidenz seines Themas nicht sicher, so daß die darin enthaltenen metaphorischen Elemente einem nicht an die 8
Zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Sprichwörtern und Sentenzen vgl. Eikelmann / Tomasek [Anm. 4].
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Pech-Herstellung denkenden Rezipienten den Lösungsbegriff zusätzlich verschlüsseln und der Text sich geradezu anbietet, um als Rätsel mit der Illokution einer Prüfungsfrage9 aufgegeben zu werden: R tsel Textstruktur: Kurtztext über ein verschlüsseltes Thema mit freier Illokution —————– ——————–—————————————————— Textfunktion: Prüfungsfrage stellen
In der ,Griechischen Anthologie‘ finden sich weitere, mit anderen Illokutionen vertextete Rätsel, die z. B. imperativisch (vgl. XIV,27) oder in neutral beschreibender Perspektive gehalten sind: Ein Wind. Zwei Schiffe. Und zehn Matrosen, die angespannt rudern, während die Schiffe nur ein Steuermann gleichzeitig lenkt. (XIV,14; Lösung: Doppelflöte)
Wie vielfältig die einzelnen Rätselbelege aber auch ausfallen,10 stets genügen einige wenige Informationen hinsichtlich der Textstruktur (hier: das Thema ist nicht evident, sondern verschlüsselt) und der Textfunktion (hier: Prüfungsfrage), um ein Rätsel als Rätsel zu erkennen. Demjenigen aber, der eines der Versrätsel gelöst hat und die thematische Leerstelle füllen kann, wird es fortan durch Wechsel der Textfunktion zum Epigramm.11 Anders als die gebotene Rätseldefinition kann und soll die oben präsentierte Epigrammformel hier zunächst als eine vorläufige vorgestellt werden, die sich an Tausenden von Epigrammen zu bewähren hat. Es sei aber darauf hingewiesen, daß sie nach meiner Auffassung durchaus geeignet ist, alle jene Epigrammbeispiele zu erfassen, mit denen Gerhard Neumann die vermeintliche Undefinierbarkeit der Gattung zu belegen versucht hat.12 9 Rätsel sind verschlüsselte Texte, die als Prüfungsfrage aufgegeben werden. Vgl. dazu ausführlich Tomas Tomasek: Das deutsche Rätsel im Mittelalter, Tübingen 1994 (Hermaea, N.F. 69), S. 49 ff. 10 Zur Textstrukturfreiheit des Rätsels, das z. B. nicht, wie das Epigramm, an die Versform gebunden ist, vgl. ebd., S. 54 ff. 11 Neben Rätseln enthält das XIV. Buch der ,Griechischen Anthologie‘ Orakelsprüche und Text-Rechenaufgaben in Distichen, auf die diese Aussage ebenfalls zutrifft. 12 Vgl. Neumann [Anm. 2], S. 285 ff.
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2. Lateinische Beispiele: Martial und Symphosius Entscheidende Bedeutung für die Weiterentwicklung der europäischen Epigrammkunst hatte bekanntlich der römische Dichter Martial (ca. 40 – 104 n. Chr.), der als „Altmeister des satirischen Epigramms“13 gilt. Folgenreich ist auch Lessings an Martial orientierte zweiteilige Epigrammdefinition mit den Leitbegriffen „Erwartung“ und „Aufschluß“, welche die Kritik Herders hervorrief.14 Auf diese Debatte kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden, doch zeigt sie, daß offenbar mit verschiedenen Typen des Epigramms gerechnet werden muß. Von Interesse ist unter diesem Gesichtspunkt die mit Martial aufkommende und besonders für die deutsche Epigrammkunst der Neuzeit relevant werdende Tendenz, Epigramme mit Überschriften zu versehen, wie im folgenden Beispiel: Cocus Non satis est ars sola coco: servire palatum nolo: cocus domini debet habere gulam. (XIV,220) 15
Ein derartiges Epigramm ist, wie die Wiederholung des Titelwortes im Text zeigt, auch ohne Überschrift verständlich. Anders verhält es sich jedoch mit den 100 Versrätseln des bedeutenden lateinischen Rätseldichters Symphosius (5. Jh. n. Chr.?), die im Codex Salmasianus – einer Epigrammhandschrift (!) des 8. Jahrhunderts – und in zahlreichen weiteren mittelalterlichen Handschriften als Epigramme mit einer inscriptio dargeboten werden, wie z. B.: Harundo Dulcis amica ripae, semper uicina profundis Suaue cano Musis; nigro perfusa colore, Nuntia sum linguae, digitis signata magistris. (II) 16 13 Hess [Anm. 2], S. 74. 14 Vgl. die Hinweise ebd., S. 51 ff., 120 ff. 15 „Art alone is not enough for a cook. I would not have his palate in slavery. A cook should have the taste of his master.“ Die Epigramme Martials werden zitiert nach der Ausgabe: Martial. Epigramms, hg. von D. R. Shackleton Bailey, Cambridge (Mass.)/London 1993. 16 „Reed. Sweet darling of the banks, always close to the depths, sweetly I sing for the Muses; when drenched with black, I am the tongue’s messenger by guiding fingers pressed.“ Die Rätsel des Symphosius werden zitiert nach der Ausgabe:
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In diesem Beispiel füllt die Überschrift ,Schilfrohr‘ die freigehaltene thematische Leerstelle eines seinen Gegenstand in der ersten Person des Singulars beschreibenden Epigramms, das dem Kundigen durch genügend treffende Bemerkungen die Chance gibt, das Thema auch ohne die Überschrift zu identifizieren. Martials Epigrammtyp dagegen ist kein im eigentlichen Sinne beschreibender Text, da er nicht darauf abzielt zu schildern, was ein Koch ist, sondern – die Überschrift als Ausgangspunkt nutzend – ein Thema (die Problematik der Koch-Existenz) in satirischem Sprachspiel vorantreibt. Die Präsentation von Rätseln als beschreibende Epigramme mit einer thematischen inscriptio macht vor allem im Frühmittelalter Schule.17 Aber auch noch der Humanist Nicolaus Reusner wählt für seine in der Frühen Neuzeit äußerst einflußreiche, kompendiumartige ,Aenigmatographia‘18 bewußt diese Form und betont damit den engen Zusammenhang zwischen (Vers-)Rätsel und Epigramm.19 Vor diesem Hintergrund fällt auf, daß die deutschen Versrätseldichter des Barock, jener Epoche, in der das mit Überschriften versehene Epigramm höchste Konjunktur hat,20 bereits dazu übergehen, die Lösungsangaben unter dem Text (teilweise auf den Kopf gestellt) zu plazieren. Obwohl den Autoren dieser Zeit, die den Begriff ,Rätsel‘ sogar synonym mit ,Epigramm‘ verwenden,21 der Zusammenhang von Versrätsel und Epigramm weiter bewußt ist, beginnen sie die Gattungsbilder der Textsorten durch Entfernung der Rätselüberschriften und Nachstellung von Lösungsangaben voneinander zu distanzieren und am Versrätsel den Prüfungsfragencharakter herauszustellen. Im weiteren Verlauf der Rätselgeschichte verschwinden thematische inscriptiones fast völlig, so daß es Rätseldichtern des 20. Jahrhun17 18 19
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Variae collectiones aenigmatum Merovingicae aetatis, Tl. 2, hg. von F. Glorie, Turnholt 1968 (CCSL 13 A). Vgl. Günter Bernt: Das lateinische Epigramm im Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter, München 1968 (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 2), S. 149 ff. Nicolaus Reusner: Aenigmatographia sive Sylloge aenigmatum et griphorum convivalium, Frankfurt 1599 (2. Aufl. 1602). Vgl. den Nachweis bei Heike Bismark: Rätselbücher. Entstehung und Entwicklung eines frühneuzeitlichen Buchtyps im deutschsprachigen Raum. Mit einer Bibliographie der Rätselbücher bis 1800, Tübingen 2007 (Frühe Neuzeit 122), S. 250; vgl. auch S. 251 ff. Vgl. Thomas Althaus: Epigrammatisches Barock, Berlin/New York 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 9). Vgl. die Nachweise bei Hess [Anm. 2], S. 22 f.
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derts, wie Ernst Buschor oder Gerhard Herrmann Mostar, vorbehalten blieb, das Überschriftenepigramm für das Rätsel wiederzuentdecken. Bei ihnen handelt es sich jedoch weder um beschreibende Epigramme noch geben ihre Überschriften Lösungen an. Vielmehr treten die inscriptiones nun in ein dynamisches Verhältnis zum Rätselthema, so daß sich, im Geiste Martials, das Rätsel auch satirischen Tendenzen öffnen kann. Als abschließendes Beispiel hierfür mag ein Rätselgedicht des Wiener Autors Karl Kraus mit der Lösung ,Heimweh – Heimwehr‘22 dienen: Der Konsonant Wenn sie hier mit Waffen wütet, zieh ich gerne aus dem Land. Was zurück zieht, wird verhütet, tritt dazu ein Konsonant. Jene will nicht, daß dies bange Fühlen fortan mich verzehrt. Weh dem Heim, das solchem Drange lange noch mit Waffen wehrt!
22 „Antimarxistische Organisation in Österreich, 1919 – 36“. Deutsches Rätselbuch, hg. von Volker Schupp, Stuttgart 1972 (Reclams UB 9405 – 9409), S. 351; der Text des Rätsels ebd., S. 262.
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Fritz Peter Knapp: Schriftenverzeichnis1 I. Selbständige Veröffentlichungen 1. Rennewart. Studien zu Gehalt und Gestalt des ,Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach, Wien 1970 (Dissertationen der Universität Wien 45). 2. Similitudo. Stil- und Erzählfunktion von Vergleich und Exempel in der lateinischen, französischen und deutschen Großepik des Hochmittelalters, Band I: Einleitung. Vorstudien. 1. Hauptteil: Lateinische Epik, Wien 1975 (Philologica Germanica 2). 3. Ruodlieb mittellateinisch und deutsch. Übertragung, Kommentar und Nachwort, Stuttgart 1977 (Universal-Bibliothek 9846). 4. Das lateinische Tierepos, Darmstadt 1979 (Erträge der Forschung 121). 5. Der Selbstmord in der abendländischen Epik des Hochmittelalters, Heidelberg 1979 (Germanische Bibliothek. 3. Reihe). 6. Der ,Ligurinus‘ des Gunther von Pairis. In Abbildung des Erstdrucks von 1507 hg. von F. P. K., Göppingen 1982 (Litterae 76). 7. Chevalier errant und fin’amor. Das Ritterideal des 13. Jahrhunderts in Nordfrankreich und im deutschsprachigen Südosten. Studien zum ,Lancelot en prose‘, zum ,Moriz von Craûn‘, zur ,Krone‘ Heinrichs von dem Türlin, zu Werken des Strickers und zum ,Frauendienst‘ Ulrichs von Lichtenstein, Passau 1986 (Schriften der Universität Passau. Reihe Geisteswissenschaften 8). 8. Die Niederaltaicher Vita der heiligen Inklusen Judith und Salome – ,Vita sanctarum Iudith et Salome inclusarum‘, hg., übersetzt und eingeleitet von F. P. K., Deggendorf 1992 (Deggendorfer Geschichtsblätter 13,2). 9. Die Literatur des Früh- und Hochmittelalters in den Bistümern Passau, Salzburg, Brixen und Trient von den Anfängen bis zum Jahre 1273, Graz 1994 (Geschichte der Literatur in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. von Herbert Zeman, Bd. I). 10. Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik. Sieben Studien und ein Nachwort, Heidelberg 1997 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte).
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Von F. P. K. herausgegebene Aufsatzsammlungen sind mit Ausnahme von SV 13 nicht als eigene Einträge aufgenommen.
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11. Die Literatur des Spätmittelalters in den Ländern Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol von 1273 bis 1439, I. Halbband: Die Literatur in der Zeit der frühen Habsburger bis zum Tod Albrechts II. 1358, Graz 1999 (Geschichte der Literatur in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. von Herbert Zeman, Bd. II,1). 12. Heinrich von dem Türlin: ,Die Krone‘ (Verse 1 – 12281). Nach der Handschrift 2779 der Österreichischen Nationalbibliothek, nach Vorarbeiten von Klaus Zatloukal u. a. hg. von F. P. K./Manuela Niesner, Tübingen 2000 (Altdeutsche Textbibliothek 112). 13. Historisches und fiktionales Erzählen im Mittelalter, hg. von F. P. K./ Manuela Niesner, Berlin 2002 (Schriften zur Literaturwissenschaft 19). 14. Das jüdische Leben Jesu ,Toldot Jeschu‘. Die älteste lateinische Übersetzung in den ,Falsitates Judeorum‘ von Thomas Ebendorfer, kritisch hg., eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Brigitta Callsen/F. P. K./Manuela Niesner/Martin Przybilski, Wien/München 2003 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 39). 15. Die Literatur des Spätmittelalters in den Ländern Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol von 1273 bis 1439, II. Halbband: Die Literatur in der Zeit der habsburgischen Herzöge von Rudolf IV. bis Albrecht V. (1358 – 1439), Graz 2004 (Geschichte der Literatur in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. von Herbert Zeman, Bd. II,2). 16. Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik (II). Zehn neue Studien und ein Vorwort, Heidelberg 2005 (Schriften der Philosophischhistorischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 35). 17. Andreas aulae regiae capellanus / königlicher Hofkapellan: ,De amore. Libri tres‘ / ,Von der Liebe. Drei Bücher‘. Text nach der Ausgabe von Emil Trojel, übersetzt und mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von F. P. K., Berlin/New York 2006; dasselbe ohne lateinischen Text separat am selben Ort zur selben Zeit im selben Verlag erschienen.
II. Literaturwissenschaftliche Aufsätze 18. Drei Bruchstücke einer Handschrift des ,Märterbuches‘ aus dem 13. Jahrhundert, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 100 (1971), S. 432 – 444. 19. Ein Mirakelmotiv bei Johannes Moschos und Caesarius von Heisterbach, in: Fabula 12 (1971), S. 86 – 89. 20. Bemerkungen zu Herzog Ernsts Schild bei Odo von Magdeburg, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 94 (Tübingen 1972), S. 335 – 347.
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21. Die häßliche Gralsbotin und die victorinische Ästhetik, in: Sprachkunst 3 (1972), S. 1 – 10. 22. Hartmann von Aue und die Tradition der platonischen Anthropologie im Mittelalter, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 46 (1972), S. 213 – 247. 23. Milesische Geschichten im Hochmittelalter?, in: Zeitschrift für romanische Philologie 88 (1972), S. 111 – 118. 24. Vergleich und Exempel in der lateinischen Rhetorik und Poetik von der Mitte des 12. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, in: Studi Medievali 3/14 (1973), S. 443 – 511; wieder in: SV 2, S. 41 – 107. 25. Die große Schlacht zwischen Orient und Okzident in der abendländischen Epik: Ein antikes Thema in mittelalterlichem Gewand, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift NF 24 (1974), S. 129 – 152. 26. Erhabenheit und Humor im epischen Vergleich der Antike und des Hochmittelalters, in: Struktur und Interpretationen. Festschrift für Blanka Horacek zum 60. Geburtstag, hg. von Alfred Ebenbauer/F.P. K./Peter Krämer, Wien 1974 (Philologica Germanica 1), S. 162 – 188. 27. Literatur vor dem Tribunal der Sozialethik. Zu Karl Bertaus neuer Literaturgeschichte, in: Sprachkunst 5 (1974), S. 327 – 342. 28. Materialistischer Utilitarismus in der Maske der Satire: Magister Nivards ,Ysengrimus‘, in: Mittellateinisches Jahrbuch 10 (1974/75), S. 80 – 99. 29. Bemerkungen zum ,Ruodlieb‘, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 104 (1975), S. 189 – 204. 30. Das Bild Griechenlands in der Verserzählung ,Mai und Beaflor‘, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 98 (Tübingen 1976), S. 83 – 92. – Französische Fassung unter dem Titel: La principauté française d’Achaie dans le conte moyen-haut-allemand ,Mai und Beaflor‘, in: Histoire et littérature au Moyen Age. Actes du Colloque du Centre d’Etudes Médiévales de l’Université de Picardie (Amiens 20 – 24 mars 1985), hg. von Danielle Buschinger, Göppingen 1991 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 546), S. 215 – 224. 31. Enites Totenklage und Selbstmordversuch in Hartmanns ,Erec‘. Eine quellenkritische Analyse, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift NF 26 (1976), S. 83 – 90. 32. Literatur und Publikum im österreichischen Hochmittelalter, in: Babenberger-Forschungen, hg. von Maximilian Weltin, Wien 1976 ( Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich NF 42), S. 160 – 192. 33. Virtus und Fortuna in der ,Krone‘. Zur Herkunft der ethischen Grundthese Heinrichs von dem Türlin, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 106 (1977), S. 253 – 265.
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34. Bemerkungen zur ,Ecbasis captivi‘, in: Mittellateinisches Jahrbuch 14 (1979), S. 89 – 92. 35. Das mittelalterliche Tierepos. Zur Genese und Definition einer großepischen Literaturgattung, in: Sprachkunst 10 (1979), S. 53 – 68. 36. Die altdeutsche Dichtung als Gegenstand literarhistorischer Forschung in Österreich von den Brüdern Pez bis zu Friedrich Schlegels Wiener Vorlesungen im Jahre 1812, in: Die österreichische Literatur. Ihr Profil an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert (1750 – 1830), hg. von Herbert Zeman, Graz 1979, S. 697 – 734. 37. ,Helmbrecht‘ in gegenwärtiger Sicht, in: Adalbert-Stifter-Institut. Vierteljahresschrift 28 (1979), S. 103 – 121. 38. Historische Wahrheit und poetische Lüge. Die Gattungen weltlicher Epik und ihre theoretische Rechtfertigung im Hochmittelalter, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 54 (1980) S. 581 – 635; wieder in: SV 10, S. 9 – 64; gekürzte italienische Fassung (übersetzt von L. Somogyi) unter dem Titel: Calliope in Poetriae vinculis tenta, in: Retorica e poetica tra i secoli XII e XIV. Atti del secondo Convegno internazionale di studi dell’AMUL, Trento 1985, hg. von Claudio Leonardi/Enrico Menestò, Florenz/Perugia 1988, S. 139 – 150. 39. Gunther von Pairis, in: 2Verfasserlexikon 3 (1981), Sp. 316 – 325. 40. Heinrich von dem Türlin. Literarische Beziehungen und mögliche Auftraggeber, dichterische Selbsteinschätzung und Zielsetzung, in: Die mittelalterliche Literatur in Kärnten. Vorträge des Symposions in St. Georgen/Längsee vom 8.–13. 9. 1980, hg. von Peter Krämer, Wien 1981 (Wiener Arbeiten zur germanischen Philologie und Altertumskunde 16), S. 145 – 187. 41. Die altdeutsche Dichtung als Gegenstand literarhistorischer Forschung in Österreich von Jacob Grimms Wiener Aufenthalt (1814/15) bis zum Tode Franz Pfeiffers (1868), in: Die Österreichische Literatur. Ihr Profil im 19. Jahrhundert, hg. von Herbert Zeman, Graz 1982, S. 141 – 171. 42. Eléments antiques et pseudo-antiques dans la ,Krone’ de Heinrich von dem Türlin, in: La représentation de l’antiquité au moyen âge. Actes du Colloque du Centre d’Etudes Médiévales de l’Université de Picardie (Amiens 20 – 28 mars 1981), hg. von Danielle Buschinger, Wien 1982 (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 20), S. 39 – 48. 43. Herzog Heinrich in einem Gedicht des Strickers, in: Unsere Heimat. Zeitschrift des Vereins für Landeskunde von Niederösterreich 53 (1982), S. 265 – 266. 44. Komparatistik ohne Komparatisten? Bemerkungen zu einem Sammelband über die abendländische Epik des Mittelalters, in: Mittellateinisches Jahrbuch 17 (1982), S. 4 – 17.
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45. Lebens- und Ausdrucksformen des germanischen und romanischen Heldenepos des Mittelalters, in: La représentation de l’antiquité au moyen âge [SV 42], S. 375 – 398. 46. Über einige Formen der Komik im hochmittelalterlichen Tierepos, in: Wolfram-Studien 7 (1982), S. 32 – 54. Französische (gekürzte) Fassung in: Comique, satire et parodie dans la tradition renardienne et les fabliaux. Actes du Colloque du Centre d’Etudes Médiévales de l’Université de Picardie (Amiens 15 – 16 Janvier 1983), hg. von Danielle Buschinger/André Crépin, Göppingen 1983 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 391), S. 93 – 101. 47. Heilsgewißheit oder Resignation? Rennewarts Schicksal und der Schluß des ,Willehalm‘, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 57 (1983), S. 593 – 612. 48. L’idéal du chevalier-errant dans le ,Lancelot en prose’ et dans la ,Krone’ de Heinrich von dem Türlin, in: Actes du 14e Congrès International Arthurien Rennes, 16 – 21 août 1984, Rennes 1984 (Presses universitaires de Rennes 2), S. 371 – 378. 49. Tierepik, in: Epische Stoffe des Mittelalters, hg. von Volker Mertens/ Ulrich Müller, Stuttgart 1984 (Kröners Taschenausgabe 483), S. 229 – 246. 50. Von der antiken Fabel zum lateinischen Tierepos des Mittelalters, in: La Fable. 8 exposés suivis de discussions, Vandœuvres-Genève, 22 – 27 août 1983, hg. von Francisco Rodríguez Adrados/Robert S. Falkowitz, Genf 1984 (Entretiens sur l’antiquité classique 30), S. 253 – 300. 51. Leipziger Apollonius; Leipziger Griseldis, in: 2Verfasserlexikon 5 (1985), Sp. 684 – 686; 691 – 694. 52. Nibelungentreue wider Babenberg? Das Heldenepos und die verfassungsgeschichtliche Entwicklung Österreichs im Lichte der neuesten Forschung, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 107 (1985), S. 174 – 189. 53. Gibt es eine österreichische Literatur des Mittelalters? In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil von den Anfängen im Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert (1050 – 1750), hg. von Herbert Zeman/F. P. K., Graz 1986, S. 49 – 85. 54. Integumentum und Aventiure. Nochmals zur Literaturtheorie bei Bernardus (Silvestris?) und Thomasin von Zerklaere, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N.F. 28 (1987), S. 299 – 307; wieder in: SV 10, S. 65 – 74. 55. Literatur vom frühen zum späten Mittelalter (750 – 1350), in: Handbuch der Literatur in Bayern vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart. Geschichte und Interpretationen, hg. von Albrecht Weber, Regensburg 1987, S. 27 – 45. 56. Tragoedia und Planctus. Der Eintritt des Nibelungenliedes in die Welt der litterati, in: Nibelungenlied und Klage. Sage und Geschichte, Struktur und Gattung. Passauer Nibelungengespräche 1985, hg. von F. P. K., Heidelberg 1987, S. 152 – 170; wieder in: Nibelungenlied und Nibelungenklage. Neue
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Wege der Forschung, hg. von Christoph Fasbender, Darmstadt 2005, S. 30 – 47. 57. Baiern und die Steiermark in Wolframs ,Parzival‘, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 110 (Tübingen 1988), S. 6 – 28. 58. Noms professionels d’écrivains au Moyen Age, in: Etudes Germaniques 43 (1988), S. 427 – 432. 59. Süddeutsche Literaturlandschaften in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Ein Versuch ihrer Abgrenzung, in: Festschrift für Ingo Reiffenstein zu seinem 60. Geburtstag, hg. von Peter K. Stein u. a., Göppingen 1988 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 478), S. 425 – 442. 60. Waltherus de Vogelweide vagus. Der zwischenständische Sänger und die lateinische Literatur in ,Österreich‘, in: Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk, hg. von Hans-Dieter Mück, Stuttgart 1989 (Kulturwissenschaftliche Bibliothek 1), S. 45 – 60. 61. Wernher der Gartenaere, in: Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren, hg. von Gunter E. Grimm/Frank Rainer Max, Bd. 1: Mittelalter, Stuttgart 1989 (Universal-Bibliothek 8611), S. 321 – 328. 62. Neue Spekulationen über alte Rüdiger-Lieder, in: Das Nibelungenlied und der mittlere Donauraum. [Erstes] Pöchlarner Heldenliedgespräch, hg. von Klaus Zatloukal, Wien 1990 (Philologica Germanica 12), S. 47 – 58. 63. „Antworte dem Narren nach seiner Narrheit!“ Das ,Speculum stultorum‘ des Nigellus von Canterbury, in: Reinardus. Yearbook of the International Reynard Society 3 (1991), S. 45 – 68. 64. Deutschsprachiges Schrifttum, in: Österreich im Hochmittelalter (907 bis 1246), hg. von der Kommission für die Geschichte Österreichs der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Redaktion Anna M. Drabek, Wien 1991, S. 505 – 526. 65. Herrschaftsideale beim Stricker, bei Bruder Wernher und im ,Buch von Bern‘, in: f der m ze pfat. Festschrift für Werner Hoffmann zum 60. Geburtstag, hg. von Waltraud Fritsch-Rößler, Göppingen 1991 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 555), S. 277 – 289. 66. Mittelalterliche Erzählgattungen im Lichte scholastischer Poetik, in: Exempel und Exempel-Sammlung, hg. von Walter Haug/Burghart Wachinger, Tübingen 1991 (Fortuna vitrea 2), S. 1 – 22; wieder in: SV 10, S. 75 – 99. 67. Mittelalterliche Herrschaftsideale und Stifters ,Witiko‘, in: Adalbert-StifterInstitut. Vierteljahresschrift 40 (1991), S. 63 – 74. 68. Historie und Fiktion in der spätscholastischen und frühhumanistischen Poetik, in: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger, hg. von Johannes Janota, Tübingen 1992, S. 47 – 61; wieder in: SV 10, S. 104 – 120.
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69. Sagengeographie und europäischer Krieg in ,Biterolf und Dietleib‘, in: Die historische Dietrichepik. Zweites Pöchlarner Heldenliedgespräch, hg. von Klaus Zatloukal, Wien 1992 (Philologica Germanica 13), S. 69 – 77. 70. Sprache und Publikum der geistlichen Literatur in den Diözesen Passau und Salzburg vom Ausgange des 11. bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts, in: Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter 1100 – 1500, hg. von Nikolaus Henkel/Nigel F. Palmer, Tübingen 1992, S. 32 – 41. 71. Die Heiden und ihr Vater in den Versen 307,27 f. des ,Willehalm‘, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 122 (1993), S. 202 – 207. 72. Ein schoenez bilde. Ethik und Ästhetik in Walthers „Alterston“, in: Poetica 25 (1993), S. 70 – 80. 73. Literarische Interessenbildung im Kreise österreichischer und steirischer Landherrn zur Zeit des Interregnums, in: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991, hg. von Joachim Heinzle, Stuttgart/Weimar 1993 (Germanistische Symposien-Berichtsbände 14), S. 106 – 119. 74. Theorie und Praxis der Fiktionalität im nachklassischen deutschen Artusroman, in: Fiktionalität im Artusroman. Dritte Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Artusgesellschaft Berlin vom 13.–15. Februar 1992, hg. von Volker Mertens/Friedrich Wolfzettel, Tübingen 1993, S. 160 – 170; wieder in: SV 10, S. 121 – 132. 75. Böhmisch-österreichische Literaturbeziehungen zur Zeit Kaiser Karls IV., in: Wolfram-Studien 13 (1994), S. 28 – 41. 76. Der Hof des Kirchenfürsten Wolfger von Erla und die Literatur um 1200, in: Wolfger von Erla. Bischof von Passau (1191 – 1204) und Patriarch von Aquileja (1204 – 1218) als Kirchenfürst und Literaturmäzen, hg. von Egon Boshof/F. P. K., Heidelberg 1994 (Germanische Bibliothek NF. Reihe 3. Untersuchungen 20), S. 345 – 364. 77. A Preliminary Typology of Medieval Epic Cycles, in: Cyclification. The Development of Narrative Cycles in the Chanson de Geste and the Arthurian Romances. Proceedings of the colloquium Amsterdam 17 – 18 December 1992, hg. von Bart Besamusca, Amsterdam 1995 (Verhandelingen der Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen. Afdeling Letterkunde. Nieuwe reeks 159), S. 99 – 101. 78. Eine unsanfte Brautnacht oder Wie lustig waren die Nibelungen in alter und neuer Zeit? In: Die Rezeption des Nibelungenliedes. Drittes Pöchlarner Heldenliedgespräch, hg. von Klaus Zatloukal, Wien 1995 (Philologica Germanica 16), S. 109 – 126; wieder in: Osloer und Kieler Studien zur germanistischen Literatur- und Sprachwissenschaft, hg. von John O. Askedal, Oslo 1999 (Arbeitsberichte des Germanistischen Instituts der Universität Oslo 13), S. 9 – 28. 79. Herodes als Antichrist im Lambacher Freskenzyklus, bei Gerhoch von Reichersberg und im ,Benediktbeurer Weihnachtsspiel‘, in: Deutsche Literatur
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und Sprache von 1050 – 1200. Festschrift für Ursula Hennig zum 65. Geburtstag, hg. von Annegret Fiebig/Hans-Jochen Schiewer, Berlin 1995, S. 137 – 162. 80. Nobilitas Fortunae filia alienata. Der Geblütsadel im Gelehrtenstreit vom 12. bis zum 15. Jahrhundert, in: Fortuna, hg. von Walter Haug/Burghart Wachinger, Tübingen 1995 (Fortuna vitrea 15), S. 88 – 109. 81. Was heißt und zu welchem Ende schreibt man regionale Literaturgeschichte? Das Beispiel der mittelalterlichen österreichischen Länder, in: Interregionalität der deutschen Literatur im europäischen Mittelalter, hg. von Hartmut Kugler, Berlin/New York 1995, S. 11 – 21. 82. Carmina Burana. Europäische Lyrik in Südtirol, in: Literatur und Sprache in Tirol. Von den Anfängen bis zum 16. Jahrhundert. Akten des 3. Symposiums der Sterzinger Osterspiele (10.–12. April 1995), hg. von Michael Gebhardt/ Max Siller, Innsbruck 1996 (Schlern-Schriften 301), S. 129 – 140. 83. Der Gral zwischen Märchen und Legende, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 118 (1996), S. 49 – 68; wieder in: SV 10, S. 133 – 151. 84. Von Gottes und der Menschen Wirklichkeit. Wolframs fromme Welterzählung ,Parzival‘, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 70 (1996), S. 351 – 368. 85. Wirklichkeit und Fiktion in der lateinischen Version des arabischen ,Poetik’-Kommentars, in: Mittellateinisches Jahrbuch 31 (1996), S. 97 – 103; wieder in: SV 10, S. 153 – 160. 86. Das ,Kindheitslied‘ des Wilden Alexander und die Alterslyrik Walthers von der Vogelweide, in: Methodisch reflektiertes Interpretieren. Festschrift für Hartmut Laufhütte, hg. von Hans-Peter Ecker, Passau 1997, S. 61 – 74. 87. Die Nibelungen in Kakanien. Vom Umgang mit dem „deutschen Nationalepos“ in der Donaumonarchie, in: Heldendichtung in Österreich – Österreich in der Heldendichtung. Viertes Pöchlarner Heldenliedgespräch, hg. von Klaus Zatloukal, Wien 1997 (Philologica Germanica 20), S. 9 – 28. 88. Epilog, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 1 (1997), S. 463 – 465. 89. Mediävistische Komparatistik. Ein Plädoyer, in: Jahrbuch für internationale Germanistik 29 (1997), S. 31 – 37. 90. Mutmaßungen über die deutschen dramatischen Texte des Vorauer Codex 90, in: Der Milde Knabe oder Die Natur eines Berufenen. Ein wissenschaftlicher Ausblick, Oskar Pausch zum Eintritt in den Ruhestand gewidmet, hg. von Georg Geldner, Wien 1997 (Mimundus 9), S. 245 – 253. 91. Vischel, Nikolaus (Nikolaus von Heiligenkreuz), in: 2Verfasserlexikon 10 (1997), S. 394 – 398.
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92. Die „Carmina Burana“ als Ergebnis europäischen Kulturtransfers, in: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter, hg. von Ingrid Kasten/Werner Paravicini/René Pérennec, Sigmaringen 1998 (Beihefte zur Francia 543), S. 283 – 301. 93. Leben und Werk des Magisters Ulrich von Wien. Eine vorläufige Skizze, in: Ir sult sprechen willekomen. Grenzenlose Mediävistik. Festschrift für Helmut Birkhan zum 60. Geburtstag, hg. von Christa Tuczay u. a., Frankfurt a. M. 1998, S. 788 – 797. 94. Wintnauer, Rudolf, in: 2Verfasserlexikon 10 (1998), Sp. 1238 – 1239. 95. Der österreichische Zisterzienserprediger Leo von Heiligenkreuz. Eine vorläufige Skizze, in: Cistercienser Chronik 106 (1999), S. 231 – 239. 96. ,Der Wiener Meerfahrt‘ von dem Freudenleeren: Eine böhmische Satire auf das Wiener Ritterbürgertum? In: Ze hove und an der str zen. Die deutsche Literatur des Mittelalters und ihr „Sitz im Leben“. Festschrift für Volker Schupp zum 65. Geburtstag, hg. von Anna Keck/Theodor Nolte, Stuttgart/ Leipzig 1999, S. 61 – 70. 97. „Diesen Trinker gnade Gott!“ Säuferpoesie im deutschen Mittelalter, in: Heidelberger Jahrbücher 43 (1999), S. 255 – 271. 98. Historiographisches und fiktionales Erzählen in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, in: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze, hg. von Friedrich Wolfzettel, Tübingen 1999, S. 3 – 22; wieder in: SV 16, S. 15 – 37. 99. Nikolaus von Heiligenkreuz und die Judenpolemik in Österreich zu Anfang des 14. Jahrhunderts, in: Österreich im Mittelalter. Bausteine zu einer revidierten Gesamtdarstellung, hg. von Willibald Rosner, St. Pölten 1999 (Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Archiv für Landeskunde 26), S. 293 – 308. 100. Wernher der Gärtner, in: 2Verfasserlexikon 10 (1999), Sp. 927 – 936. 101. Ein treuer Diener seines Herrn. Anmerkung eines Mediävisten, in: Prima le parole e poi la musica. Festschrift für Herbert Zeman zum 60. Geburtstag, hg. von Elisabeth Buxbaum/Wynfrid Kriegleder, Wien 2000, S. 38 – 43. 102. Ein vergessener Tiroler Autor des Spätmittelalters: Rudolf von Stams († 1294), in: Sprache und Dichtung in Vorderösterreich, hg. von Guntram A. Plangg/Eugen Thurnher, Innsbruck 2000 (Schlern-Schriften 310), S. 99 – 110. 103. Gattungstheoretische Überlegungen zur sogenannten märchenhaften Dietrichepik, in: Aventiure – Märchenhafte Dietrichepik. Fünftes Pöchlarner Heldenliedgespräch, hg. von Klaus Zatloukal, Wien 2000 (Philologica Germanica 22), S. 115 – 130; wieder in: SV 16, S. 39 – 59. 104. Ordo artificialis/Ordo naturalis, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 2 (2000), S. 766 – 768.
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105. Ornatus, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 2 (2000), S. 771 – 773. 106. Und noch einmal: Die Heiden als Kinder Gottes, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 129 (2000), S. 296 – 302. 107. Heinrich von Langenstein, Sermones Wiennenses ad Iudaeos convertendos. Die ältesten aus dem deutschen Sprachraum erhaltenen Judenbekehrungspredigten: Präsentation und Interpretation eines Neufunds, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 109 (2001), S. 105 – 117. 108. Römischer Götterkult in vor- und frühhumanistischer Sicht, in: Deutsche Literatur des Mittelalters in Böhmen und über Böhmen. Vorträge der internationalen Tagung, Ceské Budejovice, 8. bis 11. September 1999, hg. von Dominique Fliegler/Václav Bok, Wien 2001, S. 205 – 224. 109. Standesverräter und Heimatverächter in der bayerisch-österreichischen Literatur des Spätmittelalters, in: Wernher der Gärtner: ,Helmbrecht‘. Die Beiträge des Helmbrecht-Symposions in Burghausen 2001, hg. von Theodor Nolte/Tobias Schneider, Stuttgart 2001, S. 9 – 24. 110. Das weibliche Schönheitsideal in den Liedern Oswalds von Wolkenstein, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 131 (2002), S. 181 – 194. 111. Der „Marienthronhymnus“ Konrads von Hainburg, in: Ars et scientia. Studien zur Literatur des Mittelalters und der Neuzeit. Festschrift für Hans Szklenar zum 70. Geburtstag, hg. von Carola L. Gottzmann/Roswitha Wisniewski, Berlin 2002, S. 181 – 198. 112. „Pfaffen und Laien“: Literarisches Leben im spätmittelalterlichen Wien zur Zeit Albrechts III. (1365 – 1395), in: Courtly literature and clerical culture/ Höfische Literatur und Klerikerkultur. Xth Triennial Conference der Internationalen Gesellschaft für höfische Literatur vom 28. Juli bis 3. August 2001 in Tübingen, hg. von Christoph Huber, Tübingen 2002 (Encomia-Deutsch. Sonderheft der deutschen Sektion der International Courtly Literature Society), S. 11 – 24. 113. Subjektivität des Erzählers und Fiktionalität der Erzählung bei Wolfram von Eschenbach und anderen Autoren des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Wolfram-Studien 17 (2002), S. 10 – 29; wieder in: SV 16, S. 61 – 84. 114. Vom höfischen Roman zur historischen Biographie: Jung-Gaweins Abkunft und Aufstieg, in: Scripturus vitam. Lateinische Biographie von der Antike bis in die Gegenwart. Festgabe für Walter Berschin zum 65. Geburtstag, hg. von Dorothea Walz, Heidelberg 2002, S. 989 – 999; wieder in: SV 16, S. 85 – 100. 115. Herr Gawein lacht. Märchenkomik in den Verserzählungen ,Das Maultier ohne Zaum‘ von Paien de Maisières und ,Das Sommermärchen‘ von Christoph Martin Wieland, in: Das Wunderbare in der arthurischen Literatur. Probleme und Perspektiven, hg. von Friedrich Wolfzettel, Tübingen 2003, S. 193 – 208; wieder in: SV 16, S. 130 – 149.
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116. legenda aut non legenda. Erzählstrukturen und Legitimationsstrategien in ,falschen‘ Legenden des Mittelalters: Judas – Gregorius – Albanus, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift NF 53 (2003), S. 133 – 154; wieder in: SV 16, S. 101 – 129. 117. Paradigmenwechsel oder Provinzposse? Der praktische Versuch einer regionalen Literaturgeschichte im Spiegel der Kritik, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 122 (2003) Sonderheft Regionale Literaturgeschichtsschreibung, S. 294 – 307. 118. Universität. I. Mittelalter, in: Der Neue Pauly 15,3 (2003), S. 882 – 890. 119. Vergleich, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 3 (2003), S. 755 – 757. 120. Das Weltbild des Mittelalters, in: Weltbilder, hg. von Hans Gebhardt/ Helmuth Kiesel, Berlin/Heidelberg 2004 (Heidelberger Jahrbücher 47 [2003]), S. 127 – 153. 121. ,Dukus Horant’ und die deutsche subliterarische Epik des 13. und 14. Jahrhunderts, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 14 (2004), S. 101 – 123. 122. Weltbild als Bildwelt. Die Lancelot-Fresken von Frugarolo bei Alessandria, in: Weltbilder [SV 120], S. 459 – 481. 123. Die Bauform von Walthers Leich im Lichte von Carmen Buranum 60/60a, in: Der achthundertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla – Zeiselmauer. Vorträge gehalten am Walther-Symposion der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vom 24. bis 27. September 2003 in Zeiselmauer (Niederösterreich), hg. von Helmut Birkhan, Wien 2005 (Sitzungsberichte der Philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 721), S. 231 – 250. 124. Die sieben Todsünden der Altgermanistik im Umgang mit mittelalterlichen Texten, in: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 15 (2005), S. 23 – 32. 125. Gawein in Jerusalem. Pseudohistoriographische Itinerare mittelalterlicher Romanhelden, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg. von Laetitia Rimpau/Peter Ihring, Berlin 2005, S. 109 – 117. 126. Minnelied und Sexualmoral in laikaler und klerikaler Sicht des 13. Jahrhunderts. Ein Fallbeispiel, in: Vom vielfachen Schriftsinn im Mittelalter. Festschrift für Dietrich Schmidtke, hg. von Freimut Löser/Ralf G. Päsler, Hamburg 2005 (Schriften zur Mediävistik 4), S. 237 – 245. 127. Votum zum Round Table, in: Vom Nutzen des Edierens. Akten des internationalen Kongresses zum 150-jährigen Bestehen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, hg. von Axel Bolwig/Brigitte Merta, Wien/München 2005 (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsband 47), S. 73 – 76.
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128. Zisterziensisches Schrifttum in den österreichischen Ländern des Mittelalters, in: Zisterziensisches Schreiben im Mittelalter – Das Skriptorium der Reiner Mönche. Beiträge der internationalen Tagung im Zisterzienserstift Rein, Mai 2003, hg. von Anton Schwob, Bern u. a. 2005 ( Jahrbuch für internationale Germanistik. Reihe A. Kongressberichte 71), S. 207 – 218. 129. Das Wunderbare im deutschen und französischen Heldenepos um 1200, in: Das Nibelungenlied und die europäische Heldendichtung. Achtes Pöchlarner Heldenliedgespräch, hg. von Alfred Ebenbauer/Johannes Keller, Wien 2006 (Philologica Germanica 26), S. 197 – 210; wieder in: SV 16, S. 151 – 168. 130. Der Dichter – ein „Affe der Natur“ oder ein „zweiter Gott“? Historie und Fiktion in der Poetik am Übergang zur Neuzeit, in: Anzeiger der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 141 (2006), 2. Halbband, S. 17 – 42. 131. Die älteste deutsche Übersetzung von Petrarcas ,De remediis utriusque fortunae‘ im Kontext der Tiroler Literatur zu Anfang des 15. Jahrhunderts, in: Francesco Petrarca in Deutschland. Seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik, hg. von Achim Aurnhammer, Tübingen 2006 (Frühe Neuzeit 118), S. 25 – 37. 132. Gestörte oder verhinderte Religionsgespräche. Das Judentum der mittelalterlichen Diaspora aus der Sicht Peter Abaelards und Heinrichs von Langenstein, in: Norm und Krise von Kommunikation. Inszenierungen literarischer und sozialer Interaktion im Mittelalter. Für Peter von Moos, hg. von Alois Hahn/Gert Melville/Werner Röcke, Berlin u. a. 2006, S. 55 – 71. 133. Amor perfectus et libratus utrinque. Walthers Ideal der gegenseitigen Liebe im internationalen literarhistorischen Kontext, in: mit clebeworten underweben. Festschrift für Peter Kern zum 65. Geburtstag, hg. von Thomas Bein u. a., Bern u. a. 2007 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 16), S. 87 – 96. 134. Christlich-theologische Auseinandersetzungen mit dem Judentum im spätmittelalterlichen Österreich, in: Ein Thema – zwei Perspektiven. Juden und Christen in Mittelalter und Frühneuzeit, hg. von Eveline Brugger/Birgit Wiedl, Innsbruck u. a. 2007, S. 269 – 286. 135. Der Beitrag von Joseph Görres zum Mittelalterbild der Heidelberger Romantik, in: 200 Jahre Heidelberger Romantik, hg. von Friedrich Strack/ Barbara Becker-Cantarino, Berlin/Heidelberg 2007 (Heidelberger Jahrbücher 51), S. 265 – 280. 136. Der Prolog zur ,Krone’ Heinrichs von dem Türlin. Anmerkungen zur Textkritik und zum Textverständnis, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 136 (2007), S. 279 – 306. 137. Die „Troubadours, die nichts mehr fürchteten als erhört zu sein“: Mediävistische Randbemerkungen zu Rilkes Liebesphilosophie, in: Figurationen der literarischen Moderne. Helmuth Kiesel zum 60. Geburtstag, hg. von Carsten Dutt/Roman Luckscheiter, Heidelberg 2007 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 245), S. 165 – 173.
Schriftenverzeichnis 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40
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138. Erzählen, als ob es Geschichte sei. Antifiktionalität und Geschichtstheologie im ,Prosalancelot‘, in: Lancelot. Der mittelhochdeutsche Roman im europäischen Kontext, hg. von Klaus Ridder/Christoph Huber, Tübingen 2007, S. 235 – 248; auch in: SV 16, S. 169 – 189. 139. Gescheiterte Fiktionalität. Der ,Conte du Graal‘ von Chrétien de Troyes, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift NF 57 (2007), S. 393 – 408. 140. Amor – Weg zur Tugend oder zur Hölle? Das ,Secretum’ von Francesco Petrarca und ,De amore’ vom Hofkapellan Andreas, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 39 (2008), H. 2: Rahmenthema XXXII: Literaturgeschichte, interkulturelle Literaturwissenschaft und lateinische Tradition, S. 119 – 141. 141. Das Dogma von der fingierten Mündlichkeit und die Unfestigkeit heldenepischer Texte, in: Chanson de geste im europäischen Kontext. Ergebnisse der Tagung der Deutschen Sektion der ICLS 2004 in Köln, hg. von HansJoachim Ziegeler, Göttingen 2008 (Encomia deutsch 1), S. 73 – 88.
III. Sprachwissenschaftliche Aufsätze 142. Althochdeutsch teta – tatum, in: Festschrift für Otto Höfler zum 65. Geburtstag, hg. von Helmut Birkhan/Otto Gschwantler, Wien 1968, S. 301 – 314. 143. Gotisch mizdo – althochdeutsch miata, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 92 (Tübingen 1970), S. 17 – 25. 144. Althochdeutsch biskof – altfranzösisch (e)vesque – altgalloitalienisch *veskof, in: Die Sprache 19 (1973), S. 180 – 197. 145. Der Lautstand der Eigennamen des ,Willehalm‘ und das Problem von Wolframs Schriftlosigkeit, in: Wolfram-Studien 2 (1974), S. 193 – 218. 146. Wiederum germanisches e2, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 96 (Tübingen 1974), S. 207 – 240. 147. Die literarische Übersetzung aus dem Mittelhochdeutschen als sprachphilosophisches und hermeneutisches Problem, in: Festgabe für Otto Höfler zum 75. Geburtstag, hg. von Helmut Birkhan, Wien 1976 (Philologica Germanica 3), S. 386 – 408. 148. Zur logischen und grammatischen Struktur des bildhaften Vergleichs in der Sprache der mittelhochdeutschen und neuhochdeutschen Klassik, in: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 14 (1979), S. 59 – 86. 149. Bemerkungen zum Lautstand einiger lateinischer Lehnwörter im Althochdeutschen, in: Sprache – Text – Geschichte. Beiträge zur Mediävistik und germanistischen Sprachwissenschaft aus dem Kreis der Mitarbeiter 1964 – 1979 des Instituts für Germanistik an der Universität Salzburg, hg. von Peter K. Stein u. a., Göppingen 1980 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 304), S. 19 – 46.
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150. Antike und moderne Beispielfiguren in Wolframs ,Parzival‘ als Stilphänomene und Intertextualitätssignale, in: Exemplum et Similitudo. Alexander the Great and other heroes as points of reference in medieval literature, ed. by Willem J. Aerts/Martin Gosman, Groningen 1988 (Mediaevalia Groningana 8), S. 99 – 121. 151. Anforderungen eines Philologen an die neue Mittelhochdeutsche Grammatik, in: Neue historische Grammatiken. Zum Stand der Grammatikschreibung historischer Sprachstufen des Deutschen und anderer Sprachen, hg. von Anja Lobenstein-Reichmann/Oskar Reichmann, Tübingen 2003 (Reihe Germanistische Linguistik 243), S. 217 – 230. 152. Die sogenannte mittelhochdeutsche Ironie: ein Stilphänomen?, in: Literaturstil – sprachwissenschaftlich. Festschrift für Werner Eroms zum 70. Geburtstag, hg. von Thomas A. Fritz u. a., Heidelberg 2008 (Germanistische Bibliothek 32), S. 87 – 102.
IV. Rezensionen 153. Marie-Luise Dittrich: Die ,Eneide‘ Heinrichs von Veldeke, 1. Teil, Wiesbaden 1966, in: Deutsche Literaturzeitung 90 (1969), Sp. 509 – 511. 154. Hansjürgen Linke: Epische Strukturen in der Dichtung Hartmanns von Aue. Untersuchungen zur Formkritik, Werkstruktur und Vortragsgliederung, München 1968, in: Deutsche Literaturzeitung 91 (1970), Sp. 409 – 412. 155. Wolfram von Eschenbach: ,Willehalm‘. Text der 6. Ausg. von Karl Lachmann. Übersetzung und Anmerkungen von Dieter Kartschoke, Berlin 1968, in: Deutsche Literaturzeitung 92 (1971), Sp. 427 – 429. 156. Hrotsvithae Opera mit Einleitung und Kommentar, hg. von Helene Homeyer, München/Paderborn/Wien 1970, in: Deutsche Literaturzeitung 92 (1971), Sp. 763 – 765. 157. Joachim Bumke: Die Wolfram von Eschenbach-Forschung seit 1945. Bericht und Bibliographie, München 1970, in: Deutsche Literaturzeitung 93 (1972), Sp. 581 – 585. 158. Uwe Pörksen: Der Erzähler im mittelhochdeutschen Epos. Formen seines Hervortretens bei Lamprecht, Konrad, Hartmann, in Wolframs ,Willehalm‘ und in den ,Spielmannsepen‘, Berlin 1971 (Philologische Studien und Quellen 58), in: Deutsche Literaturzeitung 93 (1972) Sp. 324 – 327. 159. Wolfram von Eschenbach: ,Willehalm‘/,Titurel‘. Text, Nacherzählung, Anmerkungen von Walther Johannes Schröder/Gisela Hollandt, Darmstadt 1971, in: Deutsche Literaturzeitung 94 (1973), Sp. 44 – 47. 160. Marianne Schütze-Pflugk: Herrscher- und Märtyrerauffassung bei Hrotsvit von Gandersheim, Wiesbaden 1972 (Frankfurter Historische Abhandlungen 1), in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 81 (1973), S. 449 – 450.
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161. Carl Lofmark: Rennewart in Wolfram’s ,Willehalm‘. A study of Wolfram von Eschenbach and his sources, Cambridge 1972 (Anglica Germanica Series 2), in: Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur 85 (1974), S. 179 – 192. 162. Ruodlieb. Faksimile-Ausgabe mit Einleitung von Walter Haug, Wiesbaden 1974, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 97 (Tübingen 1975), S. 119 – 122. 163. Reinhold Hammerstein: Diabolus in musica. Studien zur Ikonographie der Musik im Mittelalter, Bern 1974 (Neue Heidelberger Studien zur Musikwissenschaft 6), in: Mittellateinisches Jahrbuch 12 (1977), S. 253 – 255. 164. Joachim Suchomski: Delectatio und utilitas. Ein Beitrag zum Verständnis mittelalterlicher komischer Literatur, Bern/München 1975 (Bibliotheca Germanica 58), in: Mittellateinisches Jahrbuch 14 (1979), S. 295 – 298. 165. Christoph Cormeau: ,Wigalois‘ und ,Diu Crône‘. Zwei Kapitel zur Gattungsgeschichte des nachklassischen Artusromans, München 1977 (Münchener Texte und Untersuchungen 57), in: Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur 108 (1979) S. 75 – 82. 166. Winfried Schouwink: Fortuna im Alexanderroman Rudolfs von Ems. Studien zum Verhältnis von Fortuna und Virtus bei einem Autor der späten Stauferzeit, Göppingen 1977 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 212), in: Colloquia Germanica 13 (1980), S. 86 – 88. 167. Klaus Grubmüller: Meister Esopus. Untersuchungen zur Geschichte und Funktion der Fabel im Mittelalter, München 1977 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 56), in: Mittellateinisches Jahrbuch 17 (1982), S. 280 – 284. 168. Hohenemser Studien zum Nibelungenlied. Gespräche über das Nibelungenlied, Hohenems, 26. bis 29. September 1979, unter Mitarbeit von Irmtraud Albrecht hg. von Achim Masser, Dornbirn 1980 (Montfort 32,3/4), in: Montfort. Vierteljahresschrift für Geschichte und Gegenwart Vorarlberg 34 (1982) Heft 1, S. 84 – 88. 169. Dieter Harmening: Superstitio. Überlieferungs- und theoriegeschichtliche Untersuchungen zur kirchlich-theologischen Aberglaubensliteratur des Mittelalters, Berlin 1979, in: Deutsche Bücher 13 (1983), S. 129. 170. Literarisches Mäzenatentum, hg. von Joachim Bumke, Darmstadt 1982 (Wege der Forschung 598), in: Deutsche Bücher 13 (1983), S. 209 – 210. 171. Europäisches Hochmittelalter, hg. von Henning Krauß, Wiesbaden 1981 (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft 7), in: Archiv für Kulturgeschichte 66 (1984), S. 235 – 239. 172. In Diutscher Diute. Festschrift für Anthony van der Lee zum 60. Geburtstag, hg. von M.A. van der Broek und G.J. Jaspers, Amsterdam 1983 (Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 20), in: Deutsche Bücher 14 (1984), S. 125.
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173. Wolfram von Eschenbach, Salzburg 1983 (Die großen Klassiker. Literatur der Zeit in Bildern, Texten, Daten 19), in: Deutsche Bücher 14 (1984) S. 129. 174. Exempla Historica. Epochen der Weltgeschichte in Biographien, Bd. 13 – 19 (Mittelalter), Frankfurt a. M. 1984, in: Deutsche Bücher 15 (1985), S. 126 und 18 (1988), S. 120 f. 175. Joachim Heinzle: Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert (1220/30 – 1280/90), Königstein/Ts. 1984 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, hg. von Joachim Heinzle, Bd. II: Vom hohen zum späten Mittelalter, Teil 2), in: Deutsche Bücher 15 (1985), S. 120 – 121. 176. Marquard von Lindau: Buch der zehn Gebote (Venedig 1483), hg. von Jacobus W. van Maren, Amsterdam 1984 (Quellen und Forschungen zur Erbauungsliteratur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 7), in: Deutsche Bücher 15 (1985), S. 124. 177. Hermann Reichert: Nibelungenlied und Nibelungensage, Wien/Köln 1985 (Böhlau-Studien-Bücher), in: Deutsche Bücher 15 (1985), S. 287 – 288. 178. Ursula Liebertz-Grün: Das andere Mittelalter. Erzählte Geschichte und Geschichtserkenntnis um 1300. Studien zu Ottokar von Steiermark, Jans Enikel, Seifried Helbling, München 1984 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 5), in: Deutsche Bücher 16 (1986), S. 30 – 31. 179. Propyläen Geschichte der Literatur, Bd. 2: Die mittelalterliche Welt 600 – 1400, Berlin 1982, in: Archiv für Kulturgeschichte 69 (1987), S. 480 – 482. 180. The Fables of Odo of Cheriton, hg. u. übers. von John C. Jacobs, Syracuse 1985, in: Cahiers de Civilisation Médiévale 30 (1987), S. 379 – 380. 181. Karin Trimborn: Syntaktisch-stilistische Untersuchungen zu Chrétiens ,Yvain‘ und Hartmanns ,Iwein‘. Ein textlinguistischer Vergleich, Berlin 1985 (Philologische Studien und Quellen 103), in: Arbitrium 1987, S. 247 – 250. 182. Wolfgang Lottes: Wie ein goldener Traum. Die Rezeption des Mittelalters in der Kunst der Präraffaeliten, München 1984, in: Deutsche Bücher 18 (1988), S. 77. 183. Europäisches Frühmittelalter, hg. von Klaus von See, Wiesbaden 1985 (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft 6), in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N.F. 29 (1988), S. 339 – 341. 184. Ulrich Müller: Kreuzzugsdichtung, Tübingen 31985 (Deutsche Texte 9), in: Deutsche Bücher 18 (1988), S. 76. 185. Werner Schröder: Der Wolfram-Epigone Ulrich von dem Türlin und seine ,Arabel‘, Stuttgart 1985 (Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main 22,1), in: Deutsche Bücher 18 (1988), S. 76 – 77. 186. Peter Dronke: Poetic Individuality in the Middle Ages. New departures in poetry 1000 – 1150, London 21986 (Westfield publications in medieval studies
Schriftenverzeichnis 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40
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1), in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 225 (1988), S. 152 – 153. 187. Gisela Vollmann-Profe: Wiederbeginn volkssprachlicher Schriftlichkeit im Hohen Mittelalter (1050/60 – 1160/70), Königstein/Ts. 1986 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, hg. von Joachim Heinzle, Bd. I: Von den Anfängen zum hohen Mittelalter, Teil 2), in: Deutsche Bücher 18 (1988), S. 119 – 120. 188. Carmina Burana, zweisprachige Ausgabe von Benedikt Konrad Vollmann, Frankfurt a. M. 1987 (Bibliothek des Mittelalters 13), in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N.F. 30 (1989), S. 328 – 331. 189. Otfried Ehrismann: Nibelungenlied. Epoche – Werk – Wirkung, München 1987 (Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte), in: Deutsche Bücher 19 (1989), S. 42 – 43. 190. Lambertus Okken: Das Goldene Haus und die Goldene Laube. Wie die Poesie ihren Herren das Paradies einrichtete, Amsterdam 1987 (Amsterdamer Publikationen zu Sprache und Literatur 72), in: Deutsche Bücher 19 (1989), S. 40 – 41. 191. Gerd Dicke/Klaus Grubmüller: Die Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Ein Katalog der deutschen Versionen und ihrer lateinischen Entsprechungen, München 1987 (Münstersche Mittelalter-Schriften 60), in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 112 (Tübingen 1990), S. 339 – 342. 192. Otto Zwierlein: Der prägende Einfluß des antiken Epos auf die ,Alexandreis‘ des Walter von Châtillon, Stuttgart 1987 (Abhandlungen der Geistesund Sozialwissenschaftlichen Klasse / Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz 1987,2), in: Mittellateinisches Jahrbuch 26 (1991), S. 332 – 333. 193. Arno Mentzel-Reuters: Vrçude. Artusbild, Fortuna- und Gralkonzeption in der ,Crone‘ des Heinrich von dem Türlin als Verteidigung des höfischen Lebensideals, Frankfurt a. M. u. a. 1989 (Europäische Hochschulschriften I,1134), in: Deutsche Bücher 21 (1991), S. 28 – 29. 194. Beate Ackermann-Arlt: Das Pferd und seine epische Funktion im mittelhochdeutschen ,Prosa-Lancelot‘, Berlin 1990 (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 19), in: Germanistik 32 (1991), S. 113 – 114. 195. Marie-Luce Chênerie: Le chevalier errant dans les romans en vers des XIIe et XIIIe siècles, Genf 1986 (Publications romanes et françaises 172), in: Archiv für Kulturgeschichte 74 (1992), S. 233 – 234. 196. Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im Mittelalter. Perspektiven ihrer Erforschung. Kolloquium 5.–7. Dezember 1985, hg. von Norbert Richard Wolf, Wiesbaden 1987 (Wissensliteratur im Mittelalter 1), in: ebd., S. 230.
342 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40
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197. Die Geschichte der deutschen Literatur. Mitte des 12. bis Mitte des 13. Jahrhunderts. Von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Rolf Bräuer, Berlin 1990, in: Poetica 24 (1992), S. 456 – 460. 198. Silvia Brugger-Hackett: Merlin in der europäischen Literatur des Mittelalters, Stuttgart 1991 (Helfant-Studien 8), in: Germanistik 33 (1992), S. 789 – 790. 199. Dichtung des europäischen Mittelalters. Ein Führer durch die erzählende Literatur, hg. von Rolf Bräuer, Berlin 1991, in: Deutsche Bücher 22 (1992), S.190 – 191. 200. La vie du pape Grégoire ou La légende du bon pêcheur. Das Leben des heiligen Papstes Gregorius oder die Legende vom guten Sünder. Text nach der Ausg. von Hendrik Bastiaan Sol, mit Übersetzung und Vorwort von Ingrid Kasten, München 1991 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters 29), in: Deutsche Bücher 22 (1992), S. 193 – 194. 201. Brigitte Schöning: ,Friedrich von Schwaben‘. Aspekte des Erzählens im spätmittelalterlichen Versroman, Erlangen 1991 (Erlanger Studien 90), in: Deutsche Bücher 22 (1992), S. 192 – 193. 202. Bildwörterbuch der Kleidung und Rüstung vom Alten Orient bis zum ausgehenden Mittelalter, hg. von Harry Kühnel, Stuttgart 1992 (Kröners Taschenausgabe 453), in: Germanistik 33 (1992), S. 731. 203. Olive Sayce: Plurilingualism in the Carmina Burana. A study of the linguistic and literary influences on the codex, Göppingen 1992 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 556), in: Germanistik 33 (1992), S. 450. 204. Walter Haug: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1990, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 122 (1993), S. 82 – 87. 205. Moriz von Craûn, hg. und übersetzt von Stephanie Cain van d’Elden, New York/London 1990 (Garland library of medieval literature. Series A 69), in: Cahiers de civilisation médiévale 36 (1993), S. 330 – 331. 206. Monika Unzeitig-Herzog: Jungfrauen und Einsiedler. Studien zur Organisation der Aventiurewelt im ,Prosalancelot‘, Heidelberg 1990 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), in: Germanistik 34 (1993), S. 177. 207. Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland 800 – 1150, hg. und übersetzt von Walter Haug/Benedikt Konrad Vollmann, Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters 1), in: Deutsche Bücher 23 (1993), S. 269 – 271. 208. Wolfram von Eschenbach: ,Willehalm‘. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung, Kommentar, hg. von Joachim Heinzle, Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters 9; Bibliothek Deutscher Klassiker 69), in: Deutsche Bücher 34 (1993), S. 128 – 129.
Schriftenverzeichnis 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40
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209. Benedikt Konrad Vollmann: ,Ruodlieb‘, Darmstadt 1993 (Erträge der Forschung 283), in: Mittellateinisches Jahrbuch 29 (1994), S. 120 – 124. 210. Günther Schweikle: Minnesang in neuer Sicht, Stuttgart/Weimar 1994, in: Deutsche Bücher 24 (1994), S. 37 – 38. 211. Wolfram von Eschenbach: ,Parzival‘, übers. von Dieter Kühn, kommentiert von Eberhard Nellmann, Frankfurt a. M. 1994 (Bibliothek des Mittelalters 8,1 – 2), in: Deutsche Bücher 24 (1994), S. 276 – 278. 212. Irene Stahl: Handschriften in Nordwestdeutschland, Aurich u. a. 1993, in: Germanistik 36 (1995), S. 684 f. 213. Nigel Harris: The Latin and German ,Etymachia’. Textual History, Edition, Commentary, Tübingen 1994 (Münchener Texte und Untersuchungen 102), in: Deutsche Bücher 26 (1996), S. 274 – 276. 214. Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, hg. von Joachim Heinzle, Frankfurt a. M./Leipzig 1994, in: Deutsche Bücher 26 (1996), S. 35 – 37. 215. Gunther: Ligurinus. Ein Lied auf den Kaiser Friedrich Barbarossa, aus dem Lateinischen übersetzt und erläutert von Gerhard Streckenbach, mit einer Einführung von Walter Berschin, Sigmaringendorf 1995, in: Germanistik 37 (1996), S. 510. 216. Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters. Edition und Kommentar von Ingrid Kasten. Übersetzung von Margherita Kuhn, Frankfurt a. M. 1995 (Bibliothek des Mittelalter 3), in: Deutsche Bücher 27 (1997), S. 279 – 281. 217. Christian Naser: ,Der geistliche Streit‘. Synoptischer Abdruck der Fassungen A, C, B und D. Kommentar und Motivgeschichte, Würzburg 1995, in: Germanistik 38 (1997), S. 150. 218. ,Prosalancelot‘, nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147 hg. von Reinhold Kluge, ergänzt durch die Handschrift Ms. allem. 8017 – 8020 der Bibliothèque de l’Arsenal Paris, übersetzt, kommentiert und hg. von HansHugo Steinhoff, Bd. I/II: Lancelot und Ginover 1/2, Frankfurt a. M. 1995 (Bibliothek des Mittelalters 14/15), in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 38 (1997), S. 331 – 336. 219. Werner Schröder: Herstellungsversuche an dem Text der ,Crône‘ Heinrichs von dem Türlin. Mit neuhochdeutscher Übersetzung u. Kommentar, Stuttgart 1996 (Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Abhandlungen der Geistes- u. Sozialwissenschaftlichen Klasse 1996,2), in: Germanistik 38 (1997), S. 143. 220. Brigitte Burrichter: Wahrheit und Fiktion. Der Status der Fiktionalität in der Artusliteratur des 12. Jahrhunderts, München 1996 (Beihefte zu Poetica 21), in: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.F. Bd. 48 Heft 2 (1998), S. 241 – 244.
344 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40
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221. Monika Deck: Die Nibelungenklage in der Forschung. Bericht und Kritik, Frankfurt a. M. 1996 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur 1564), in: Deutsche Bücher 28 (1998), S. 37 – 40. 222. David Duckworth: The leper and the maiden in Hartmann’s ,Der arme Heinrich‘, Göppingen 1996 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 627), in: Germanistik 40 (1999), S. 830 f. 223. Cornelia Reil: Liebe und Herrschaft. Studien zum altfranzösischen und mittelhochdeutschen Prosa-Lancelot, Tübingen 1996 (Hermaea N.F. 78), in: Deutsche Bücher 29 (1999), S. 259 – 262. 224. Hartmut Bleumer: Die ,Crône‘ Heinrichs von dem Türlin. Form-Erfahrung und Konzeption eines späten Artusromans, Tübingen 1997 (Münchener Texte und Untersuchungen 112) , in: Germanistik 40 (1999), S. 831. 225. Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag, hg. von Wolfgang Harms/Jan-Dirk Müller in Verbindung mit Susanne Köbele/Bruno Quast, Stuttgart/Leipzig 1997, in: Beiträge zu Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Bd. 121, Heft 3 (1999), S. 492 – 500. 226. Bernhard von Clairvaux: Sämtliche Werke lateinisch/deutsch, hg. von Gerhard B. Winkler, Bd. I–IX, Innsbruck 1990 – 1998, in: Cistercienser Chronik 107, Heft 1 (2000), S. 133 – 137. 227. Gisela Garnerus: Parzivals zweite Begegnung mit dem Artushof. Kommentar zu Buch VI/1 von Wolframs ,Parzival‘ (280,1 – 312,1), Herne 1999, in: Germanistik 41 (2000), S. 125. 228. Franz Lackner (Hg.): Katalog der Streubestände in Wien und Niederösterreich, Bd. 1: Nichtarchivalische mittelalterliche Handschriften und Fragmente in Korneuburg, Mistelbach, Retz, St. Pölten, Tulln, Waidhofen an der Thaya, Weitra, Wien, Wiener Neustadt und aus Privatbesitz, unter Mitarb. von A. Haidinger bearbeitet von F. L., Wien 2000 (Österreichische Akademie der Wissenschaften Wien. Veröffentlichungen der Kommission für Schrift- und Buchwesen des Mittelalters 2), in: Germanistik 41 (2000), S. 668. 229. Schloß Runkelstein. Die Bilderburg, hg. von der Stadt Bozen unter Mitwirkung des Südtiroler Kulturinstituts. Projektleitung André Bechtold, Bozen 2000, in: Germanistik 41 (2000), S. 126 f. 230. Udo Kindermann: Einführung in die lateinische Literatur des mittelalterlichen Europa, Turnhout 1998, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 130 (2001), S. 323 – 326. 231. Deutschsprachige Literatur des Mittelalters. Studienauswahl aus dem ,Verfassserlexikon‘ (Bd. 1 – 10), besorgt von Burghart Wachinger, Berlin/New York 2001, in: Cistercienser Chronik 108 (2001), S. 403 – 405. 232. Iacopo da Varazze: ,Legenda Aurea‘. Edizione critica a cura di Giovanni Paolo Maggioni. Seconda edizione rivista dall’autore, Società internazionale per
Schriftenverzeichnis 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40
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lo studio del medio evo (SISMEL). Edizioni del Galluzzo, 2 Bde., Tavarnuzze/ Firenze 1999, in: Cistercienser Chronik 109 (2002), S. 106 – 109. 233. Dennis H. Green: The Beginnings of Medieval Romance. Fact and Fiction, 1150 – 1220, Cambridge/New York 2002 (Cambridge studies in medieval literature 47) in: Arbitrium 1/2003, S. 21 – 26. 234. Klaus Wolf: Kommentar zur ,Frankfurter Dirigierrolle‘ und zum ,Frankfurter Passionsspiel‘, Tübingen 2002 (Die hessische Passionsspielgruppe Erg.-Bd. 1), in: Germanistik 44 (2003), S. 252 f. 235. Das ,Solsequium’ des Hugo von Trimberg. Eine kritische Edition, hg. von Angelika Strauss, Wiesbaden 2002, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 133 (2004), S. 519 – 524. 236. Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters, hg. von Manfred Kern/Alfred Ebenbauer unter Mitwirkung von Silvia Krämer-Seifert, Berlin/New York 2003, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 123 (2004), S. 424 – 428. 237. ,Prosalancelot‘ [SV 218], Bd. III/IV: Lancelot und der Gral 1/2, Frankfurt a. M. 2003 (Bibliothek des Mittelalters 16/17; Bibliothek Deutscher Klassiker 183), in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 133 (2004), S. 268 – 273. 238. Hartmann von Aue: ,Erec‘, hg. von Manfred Günter Scholz, übersetzt von Susanne Held, Frankfurt a. M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 5; Bibliothek deutscher Klassiker 188), in: Germanistik 45 (2004), S. 756. 239. Hartmann von Aue: ,Gregorius‘, ,Der arme Heinrich‘, ,Iwein‘, hg. und übersetzt von Volker Mertens, Frankfurt a. M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 6; Bibliothek deutscher Klassiker 189), in: Germanistik 45 (2004), S. 756 f. 240. Johannes Janota: Orientierung durch volkssprachige Schriftlichkeit (1280/ 90 – 1380/90), Tübingen 2004 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit III, hg. von Joachim Heinzle, Teil 1: Vom späten Mittelalter zum Beginn der Neuzeit), in: Arbitrium 23 (2005), S. 161 – 168. 241. Andreas Capellanus: ,De Amore’ / ,Über die Liebe’. Lateinisch – Deutsch (Auswahl), hg. und mit einem Nachwort versehen von Florian Neumann, Mainz 2003 (Excerpta classica 22), in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 135 (2006), S. 112 – 115. 242. ,Prosalancelot‘ [SV 218], Bd. V: Die Suche nach dem Gral. Der Tod des Königs Artus, Frankfurt a. M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 18; Bibliothek Deutscher Klassiker 190), in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 136 (2007), S. 94 – 98. 243. Thomas Haye: Lateinische Oralität. Gelehrte Sprache in der mündlichen Kommunikation des hohen und späten Mittelalters, Berlin/New York 2005, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 136 (2007), S. 231 – 235.
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244. Irene Ranzmaier: Germanistik an der Universität Wien zur Zeit des Nationalsozialismus. Karrieren, Konflikte und die Wissenschaft, Wien 2005 (Literaturgeschichte in Studien und Quellen 10), in: Germanistik 48 (2007), S. 261 f.
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48
Autoren- und Werkregister (Christoph Roth) Abaelard – ,Theologia scholarium‘ 57 Adam de St. Viktor 279 ,Agravain‘ 209, 217 Alain Chartier – ,Belle Dame sans Merci‘ 289 Alanus von Lille – ,Anticlaudianus‘ 47 – ,De planctu naturae‘ 47 Albrecht – ,Jüngerer Titurel‘ 102, 147, 158 Albrecht Marschall von Raprechtswil 282 Alexander, Der wilde 282 Alexandre – ,Athis et Prophilias‘ 247f. ,Alphart‘ 84 ,Alsfelder Passionsspiel‘ 111 ,Anthologia Graeca‘ 317-320 ,Apollonius von Tyrus‘ 150 Apuleius – ,Florida‘ 50 Archipoeta 304 Arnulf von Löwen – ,Ave mundi salutare‘ 130f. ,Arturs doet‘ 125, 137 ,Asinarius‘ 175f. Augustinus 260 Bakchylides 249 Balderich von Bourgueil 246f. Bebel, Heinrich 100 Beheim, Michel 103 – ,Buch von den Wienern‘ 110 ,Belthandros und Chrysantza‘ 151, 157 Benoît de Sainte-Maure – ,Roman de Troie‘ 248 Benzo von Alba 250
,Roman de Berinus‘ 125 Bernard von Gordon – ,Practica dicta Lilium medicinae‘ 157 Bernart de Ventadour 275 Bernhard von Clairvaux – ,De laude novae militiae‘ 126 – ,De gratia et libero arbitrio‘ 126 Bernhardus Silvestris – ,Cosmographia‘ 47 Bethmann, Ludwig Conrad 84 ,Biterolf‘ 84 Bligger von Steinach 257, 261-266 Boccaccio – ,Genealogiae deorum gentilium‘ 174 Bonaventura 280 Boppe 304 Brant, Sebastian – ,Narrenschiff‘ 110 ,Das buoch von dem übeln wîbe‘ s. ,Die böse Frau‘ Burggraf von Regensburg 277f. Burggraf von Rietenburg 278 Burkhard von Hohenvels 276, 282 Buschor, Ernst 323 ,Carmina Burana‘ 280 ,Carmina Cantabrigiensia‘ 174-176 ,Chanson de Roland‘ 60 Charles d’Orléans 286, 298 ,La Chastelaine de Vergi‘ 289, 294f. Chrétien de Troyes 143, 177, 214, 224 – ,Cligés‘ 186 – ,Le Conte du Graal‘ 155, 162, 179f., 184, 189, 192, 209, 211, 213, 216
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Autoren- und Werkregister (Christoph Roth)
– ,Erec et Enide‘ 180, 184-186, 209f., 248 – ,Lancelot‘ 158, 184, 186, 201, 207-209, 212f., 215-226 – ,Yvain‘ 155f., 162, 185f., 209f. Christine de Pisan – ,Cent ballades d’amant et de dame‘ 285-299 passim – ,Livre du Duc des vrais amans‘ 287 Cicero 258f., 262, 266, 268 – ,De inventione‘ 233 – ,De oratore‘ 260 – ,Tusculanae Disputationes‘ 235 Cielo d’Alcamo 277 Claudian 52, 54 ,De clericis et rustico‘ 176 ,Comoediae elegiacae‘ 174 Corippus, Flavius Cresconius – ,Johannis‘ 250 Curtius Rufus – ,Historia Alexandri Magni‘ 53 ,Dalimilova kronika‘ 107 Demodekos 318 ,Ðeor‘ 101 Dietmar von Eist 278 ,Dietrich von Bern‘ 97-113 passim ,Dietrichs Flucht‘ 84 ,Digenìs Akritas‘ 161 Dionysius Areopagita 163 Eberhard der Deutsche – ,Laborintus‘ 40, 279 Eberhard von Sachs, Bruder 282 ,Ecbasis captivi‘ 174-176 ,Eckenlied‘ 103 ,Edda‘ 65, 68, 85 Eilhart von Oberg – ,Tristrant‘ 103 Einhart – ,Vita Karoli Magni‘ 251 ,Elie de St. Gilles‘ 125 Engelbert von Admont – ,Speculum virtutum‘ 97f., 113 ,Erikskrönikan‘ 107 Eugenianos Niketas – ,Drosilla und Charikles‘ 150
Eustathios Makrembolites – ,Hysmine und Hysminias‘ 150 Euticus, Heinrich – ,Libellus facetus gestas res viginti quattuor Parasitum iocundissime pertractans‘ 169f., 178 ,Faits des Romains‘ 45 Ferdousi, Abo’l-Qâsem – ,Sˇa¯h-na¯me‘ (,Königsbuch‘) 147 ,Fierabras‘ 125 Flodoard von Reims – ,Historia Remensis ecclesiae‘ 101 ,Florence de Rome‘ 125, 137 Frankfurter, Philipp – ,Die Geschichte des Pfarrers vom Kalenberg‘ 112 ,Frau, Die böse‘ 110 Frauenlob s. Pseudo-Frauenlob Friedrich II. 273f., 277 Friedrich von Sonnenburg 303 Frutolf von Michelsberg 98 Fulkert von Chartres – ,Historia Hierosolymitana‘ 126 ,Genesis, Wiener‘ 21-37 passim Geoffroy von Monmouth – ,Historia regum Britanniae‘ 207 ,Gesta Sancti Servatii‘ 251 Giacomino Pugliese 277 Giacomo da Lentini 277 Goethe, Johann Wolfgang von 255 Gottfried von Neifen 281f. Gottfried von Straßburg – ,Tristan‘ 143, 156, 235, 241-255 passim, 257-269 passim Gregor der Große – ,Dialogi‘ 101f. Grimm, Jacob 79, 81, 83, 90-95 Grimm, Wilhelm 79-96 passim Guillaume de Machaut 286 – ,La Louange des Dames‘ 287 Hagen, Friedrich Heinrich von der 86 Hagen, Gottfried – ,Reimchronik der Stadt Köln‘ 105f.
Autoren- und Werkregister (Christoph Roth) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48
Harder s. Pseudo-Harder Hartmann von Aue 177, 257, 261266 – ,Erec‘ 179-192 passim, 265 – ,Iwein‘ 155f., 162, 184, 187 – ,Die Klage‘ 157 ,Heidin, Die‘ 107f. Heinrich VI. 273, 278 Heinrich von Gent – ,De scriptoribus ecclesiasticis‘ 43f. Heinrich von Morungen 156, 276 Heinrich von Rugge 277 Heinrich von dem Türlin – ,Krone‘ 231-240 passim Heinrich von Veldeke 257, 262, 264f., 278-281 – ,Eneit‘ 103, 155f., Heliodor – ,Aithiopica‘ 149 Hemmerlin, Felix – ,Dyalogus de consolatione inique suppressorum‘ 101 Hermann von Sachsenheim – ,Die Mörin‘ 108f. – ,Des Spiegels Abenteuer‘ 104 Herrad von Hohenburg – ,Hortus deliciarum‘ 178 Heusler, Andreas 59 Hildebert von Tours 246 ,Hildebrandslied‘ 84 ,Historia monasterii Manse metrica‘ 101 Homer 41 – ,Ilias‘ 48f., 59f., 249 – ,Odyssee‘ 59f. Horaz – ,Carmina‘ 249f. – ,Ars poetica‘ 172 Hrabanus Maurus – ,De universo‘ 172 Hug von Werbenwag 282 Hugo von Montfort 109 Hugo von St. Viktor – ,Expositio in hierarchiam coelestem S. Dionysii‘ 170 ,Inventio crucis‘ 125 ,Ysengrimus‘ 175
349
Isidor von Sevilla 258, 261, 266 – ,Etymologiae‘ 55, 172, 177 Iulianos von Ägypten 317 Jacob von Warte 282 Jans von Wien – ,Fürstenbuch‘ 104–106 – ,Weltchronik‘ 105f. Jehan le Sénéschal – ,Le Livre des cent ballades‘ 287 Johann von Würzburg – ,Wilhelm von Österreich‘ 106 Johannes Agricola 100 Johannes de Garlandia – ,Poetria Parisiana‘ 177 Johannes von Salisbury – ,Metalogicus‘ 260f. – ,Policraticus‘ 39, 55 Johannes Scotus Eriugena – ,Expositiones super ierarchiam Dionysii‘ 170 Johannes von Tepl – ,Der Ackermann aus Böhmen‘ 102 Josephus Iscanus 177 Kanzler, Der 282 ,Klage‘ 65, 70f. ,König Rother‘ 84f., 148 Konrad von Würzburg – ,Engelhard‘ 144 – ,Partonopier und Meliur‘ 155, 252 Kraus, Karl 323 ,Kudrun‘ 85 Kürenberger, Der 278 Lachmann, Karl 60, 87f. Laktanz – ,Divinae institutiones‘ 172-175, 177 Latini, Brunetto – ,Li Trésors‘ 205 ,Laurin‘ 84, 104 Leo Marsicanus – ,Chronica monasterii Casinensis‘ 101 Lessing, Gotthold Ephraim – ,Laokoon‘ 144 ,Livländische Reimchronik‘ 104
350 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48
Autoren- und Werkregister (Christoph Roth)
,Lohengrin‘ 107 Longos – ,Daphnis und Chloë‘ 149 Loy Latewaert s. ,Seghelijn van Jherusalem‘ Lucan – ,Pharsalia‘ 39-41, 44, 46, 48-56, 173 ,Lybistos und Rhodamne‘ 146, 150f. Manasse, Konstantinos – ,Aristandros und Kallithea‘ 150 Manegold von Lautenbach – ,Liber ad Gebehardum‘ 101 Marbod von Rennes 246, 260 Marcoat 280 Marie de France – ,Aesop‘ 248 Marner 305f. Martial 321 Martianus Capella 260f. Meißner 306f., 309f. Meleagros 317 Mone, Franz Joseph 90 Mostar, Gerhard Herrmann 323 Neidhart 306 ,Nibelungenlied‘ 59-76 passim, 7996 passim, 142, 145f. ,De nuncio sagaci‘ 174 Obernburg, Der von 282 Odo von Magdeburg 177, 247 ,Orlando furioso‘ 155 ,Ortnit‘ 85 Otto von Freising 58 Otto von St. Blasien – ,Chronica‘ 101 Ottokar von Steiermark – ,Österreichische Reimchronik‘ 103 Ovid – ,Metamorphoseon Libri‘ 244, 247f. Pantaleon, Heinrich 100 Petrarca 298 Petrus von Blois
– ,Epistolae‘ 174f. Philippos von Thessalonike 318 Philon 319 Pindar 249 Platon 163 Popon (Bopo), Petrus 169 ,Perceval‘ (mndl.) 180 ,Prosalancelot‘ 205-227 passim Pseudo-Frauenlob 102 Pseudo-Harder 102 Püller, Der 282 Quintilian – ,Institutiones oratoriae‘ 173, 258260, 266, 268 ,Rabenschlacht‘ 84 ,Rapularius‘ 175f. ,Reiher, Der‘ 104, 111 Reinfried von Braunschweig 106 Reinmar der Alte 157, 276 Reinmar von Zweter 109, 301-303 Reusner, Nicolaus – ,Aenigmatographia‘ 322 ,Rhetorica ad Herennium‘ 258, 261, 266 Richard von St. Viktor – ,Benjamin Minor‘ 171 Rinaldo d’Aquino 277 Roethe, Gustav 80 Rollenhagen, Georg – ,Froschmeuseler‘ 110 ,Roman de Thèbes‘ 248 ,Rosengarten‘ 84, 104 Rudolf von Ems – ,Der gute Gerhard‘ 144 Rufinos 317 Rumelant von Sachsen 303 ,Ruodlieb‘ 174, 176 Rust’aveli, Sˇot’a – ,Vep’hist qaosani‘ (,Held im Pantherfell‘) 141-166 passim Sachs, Hans – ,Boecii, des christlichen philosophi und poeten, history‘ 101 – ,Eulenspiegel mit dem Wirt‘ 112 Sachsendorf, Der von 282
Autoren- und Werkregister (Christoph Roth) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48
Sallust – ,Catilina‘ 244f., 247f. Salomon 234 Sánchez de Vercial, Clemente – ,Libro de los exemplos‘ 100 Schenke von Landegge, Der 282 Schiller, Friedrich 143 Schlegel, August Wilhelm 79 Schulmeister von Eßlingen 305 ,Seghelijn van Jherusalem‘ 117-139 passim Servius 50 Sigeher, Meister 305 ,Sigenot‘ 84 Spangenberg, Cyriacus 98, 100 ,Stabatmater‘ 280f. Suger von St. Denis – ,De rebus in administratione sua gestis‘ 171 Sulpicius Severus – ,Vita Sancti Martini‘ 245f. Sulpicius Victor 260 Symphosius 321f. Tannhäuser 158 ,Tausendundeine Nacht‘ 146, 153 Theodoros Prodromos – ,Rhodante und Dosikles‘ 150 ,Thidrekssaga‘ 66, 68, 72, 85, 111 Thomas von Aquin – ,Summa theologiae‘ 173, 176 Thomas von Britannien 143 Thomasin von Zerklaere – ,Der Welsche Gast‘ 177, 195 T’mogveli, Sargis – ,Visramiani‘ (,Vı¯s und Ra¯mı¯n‘) 149, 155f., 160, 162 ,Tochmarc Emire‘ 149 Tugendhafte Schreiber, Der 282 Ulrich von Liechtenstein 282 Ulrich von Zatzikhoven – ,Lanzelet‘ 193-203 passim
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Umperlin, Hans 105 ,Unibos‘ 174, 176 Unverzagte, Der 283 Vergil 41, 54, 264 – ,Aeneis‘ 40, 44, 49, 69, 157 Villon, Fançois 286 ,Visio Constantini‘ 125 Vitalis von Blois 176 ,Völsungasaga‘ 65, 85, 89 Wace – ,Roman de Rou‘ 251f. ,Walewein, Roman van‘ 119, 139 Walter von Châtillon 177 – ,Alexandreis‘ 39-58 passim, 247 ,Waltharius‘ 84, 174-176 Walther von der Vogelweide 109, 303-312 Wernher, Bruder 303, 307 Wernher der Gartenaere – ,Helmbrecht‘ 113 ,Widerspenstige, Die gezähmte‘ 108 Wilhelm IX. von Aquitanien 275 Wilhelm von Blois – ,Alda‘ 174-176 Wilhelm der Bretone (Brito) – ,Philippis‘ 44 Wipo – ,Gesta Chuonradi imperatoris‘ 251 Wolf, Friedrich August 59-61 ,Wolf und Geiß‘ 109 ,Wolfdietrich‘ 85 Wolfram von Eschenbach 143, 177, 257, 269 – ,Parzival‘ 104, 108f., 109, 154, 162, 188f., 191, 194, 196f., 202, 218 – ,Titurel‘ 147, 158 – ,Willehalm‘ 102, 106, 144 ,Zug nach Feldkirch‘ 109