Musik im Zusammenhang: Festschrift Peter Revers zum 65. Geburtstag 9783990125540, 3990125540

Die Festschrift zum 65. Geburtstag von Peter Revers ehrt eine der wichtigsten Persönlichkeiten der österreichischen Musi

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German Pages 889 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Geleitwort
Einleitung
Peter Revers Schriftenverzeichnis
In vollen Zügen
Zur Dramaturgie der Musik im Musiktheater von Gluck bis Cage
Digitale Musikanalyse auf Grundlage von MEI-codierten Daten
Herausforderungen musikpädagogischen Handelns in einer diversifizierten Gesellschaft
Auf der Suche nach dem richtigen Ton
„… mit eben so leichtem Odem“
Der Salzburger Liber Ordinarius (1198) als musikhistorische Quelle
Die Handschrift Michaelbeuern A-MB Man. cart. 1 und die mensurierten Hymnen der monastischen Liturgie in Salzburg im 15. Jahrhun
Musik in emblematischer Denkform
Mozarts Lieder – stilbildende Gelegenheitswerke?
„Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen“
„Nun wohlan! Es bleibt dabei …“
„Es ist nichts geringes, durch eine sehr einfache und kurze Melodie, den geradesten Weg nach dem Herzen zu finden“
Schubert und Heine im großen preußischen Waffenlager
Irene Kiesewetter verh. Prokesch-Osten (1811–1872) – „eine der ersten Klavierspielerinnen Wiens“
Carl Dahlhaus und das „Symphonische Loch“ im 19. Jahrhundert im Spiegel der Romantheorien von Bruno Hillebrand
Die Orchester Richard Wagners
Erlösung dem Erlöser!
Not oder Tugend?
Two Early ‘Programmatic’ Interpretations of Mahler’s First Symphony That Were Approved by the Composer
The Breakthrough Once Again
Humor in Beethovens
aus der Sicht von Gustav Mahler
vertonen: eine Herausforderung
Fremdheit im
„Sieh’ die Mondscheibe, wie sie seltsam aussieht“
„große Erfahrung in Allem, was das Orchester betrifft“
Die Idee der Transkription in Ferruccio Busonis ästhetischem Denken
„Es ist daher Unsinn zu glauben, daß ich für alle die Werke, die ich mache, mich einsetze“
Musik der Sphären
Hanns Eisler –
„… eine neue Art von opera buffa“
„… furchtbar viel zu tun …“
Egon Wellesz:
auf „wienerisch“ und „cockney“*
Music in the Nazi Concentration Camps
von Friedrich Goldmann
Klanggestalten und Klanggesten bei Luigi Nono
Gedächtnis und Erinnerung im OEuvre Gösta Neuwirths
Transformation und Polyphonie in Klaus Hubers
Mit den Ohren sehen, mit den Augen hören
Arthur Friedheims Einspielung von Ludwig van Beethovens
für das Philipps-Klavierrollensystem Duca
The Music in the Body – the Body in Music
Form und Sinn in Gustav Mahlers
Karl Kraus’ Weltkriegstragödie
auf der Bühne im Spiegel der Tagespresse bis zum Weltkriegsgedenkjahr 2014
Ballett in Serie
Heimkehrer
„’T Ain’t What You Do, It’s The Way That You Do It“
Jazz ‚meets‘ India
The IRON MAIDEN Gallop
In und auf dem Strom von Empfindungen
Dichter als Musikästhetiker?
Horizonte des Hörens
Starke Einbildungskraft
Autorinnen und Autoren
Personenund Werkregister
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Musik im Zusammenhang: Festschrift Peter Revers zum 65. Geburtstag
 9783990125540, 3990125540

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Festschrift Peter Revers zum 65. Geburtstag

Musik im Zusammenhang

Musik im Zusammenhang Festschrift Peter Revers zum 65. Geburtstag

herausgegeben von Klaus Aringer, Christian Utz und Thomas Wozonig

ISBN 978-3-99012-553-3

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Musik im Zusammenhang Festschrift Peter Revers zum 65. Geburtstag

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Peter Revers (© Alexander Wenzel, Kunstuniversität Graz)

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Musik im Zusammenhang

Festschrift Peter Revers zum 65. Geburtstag

herausgegeben von Klaus Aringer, Christian Utz und Thomas Wozonig

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz

und des Land Steiermark, Referat Wissenschaft und Forschung

Klaus Aringer, Christian Utz und Thomas Wozonig (Hg.): Musik im Zusammenhang – Festschrift Peter Revers zum 65. Geburtstag Wien, HOLLITZER Verlag, 2019

Layout, Satz und Umschlag: Nikola Stevanović Graphikbearbeitung/Register: Dieter Kleinrath Englisches Lektorat: Laurence Willis, Jennifer Ronyak Hergestellt in der EU

Alle Rechte vorbehalten © Hollitzer Verlag, Wien 2019 www.hollitzer.at

ISBN 978-3-99012-554-0

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Wolfgang Gratzer

Inhalt

Barbara Boisits, Geleitwort

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Klaus Aringer / Christian Utz / Thomas Wozonig, Einleitung

13

Schriftenverzeichnis Peter Revers

23

Querschnitte Wolfgang Gratzer In vollen Zügen Über einige Weichenstellungen zwischen Bahn- und Musikgeschichte

37

Jörg Rothkamm Zur Dramaturgie der Musik im Musiktheater von Gluck bis Cage Mit einem Gattungsvergleich zur Theatertanz-Musik dieser Zeit

51

Robert Klugseder / Agnes Seipelt Digitale Musikanalyse auf Grundlage von MEI-codierten Daten

69

Silke Kruse-Weber / Maximilian Gorzela Herausforderungen musikpädagogischen Handelns in einer diversifizierten Gesellschaft. Zur theoretischen Fundierung eines Begriffs künstlerischer Praxis am Beispiel des offenen Ensembles Meet4Music an der Kunstuniversität Graz

89

Ernest Hoetzl Auf der Suche nach dem richtigen Ton Gedankensplitter zum Musizieren im 21. Jahrhundert

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Klaus Hubmann „… mit eben so leichtem Odem“ Bemerkungen zur Frühgeschichte des klassischen Wiener Kontrafagotts

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In vollen Zügen

Musik vor 1700 Franz Karl Praßl Der Salzburger Liber Ordinarius (1198) als musikhistorische Quelle

133

Stefan Engels Die Handschrift Michaelbeuern A-MB Man. cart. 1 und die mensurierten Hymnen der monastischen Liturgie in Salzburg im 15. Jahrhundert

157

Laurenz Lütteken Musik in emblematischer Denkform. Bibers „Rosenkranzsonaten“

177

Wolfgang Amadeus Mozart Rainer J. Schwob Mozarts Lieder – stilbildende Gelegenheitswerke?

189

Elisabeth Kappel „Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen“ Körperliche Elemente in Zornarien, betrachtet mit Friedrich von Hausegger

205

Harald Haslmayr „Nun wohlan! Es bleibt dabei …“ Zur Rekontextualisierung einiger Walzertakte in der Zauberf löte 215

Musikalische Lyrik Ulf Bästlein „Es ist nichts geringes, durch eine sehr einfache und kurze Melodie, den geradesten Weg nach dem Herzen zu finden“ Musikalische Lyrik als Auf klärung

225

Marie-Agnes Dittrich Schubert und Heine im großen preußischen Waffenlager Zum „verdächtigen Untertitel“ des Gemäldes Im Etappenquartier vor Paris (1894) von Anton von Werner

237

6

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Wolfgang Gratzer

Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts Ingeborg Harer Irene Kiesewetter verh. Prokesch-Osten (1811–1872) – „eine der ersten Klavierspielerinnen Wiens“

257

Joachim Brügge Carl Dahlhaus und das „Symphonische Loch“ im 19. Jahrhundert im Spiegel der Romantheorien von Bruno Hillebrand

279

Dieter Gutknecht Die Orchester Richard Wagners Von der Schauspielergesellschaft zur „polyphonische(n) Symphonie“ („Gemeinschaft“) und ihrem „Sprachvermögen“

293

Eckhard Roch Erlösung dem Erlöser! Zur Dialektik des Symphonischen in Richard Wagners Spätwerk

307

Gustav Mahler und Richard Strauss Christoph Flamm Not oder Tugend? Mahlers Klavierquartettsatz 329 Stephen E. Hef ling Two Early ‘Programmatic’ Interpretations of Mahler’s First Symphony That Were Approved by the Composer 355 Karol Berger The Breakthrough Once Again. On Mahler’s First Symphony

369

Elisabeth Schmierer Humor in Beethovens Pastorale aus der Sicht von Gustav Mahler

379

Eveline Nikkels Faust vertonen: eine Herausforderung Die Schlussszene aus Faust II bei Robert Schumann, Franz Liszt und Gustav Mahler

389

7

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In vollen Zügen

Federico Celestini Fremdheit im Lied von der Erde 403 Michael Walter „Sieh’ die Mondscheibe, wie sie seltsam aussieht“ Zum Mond in Strauss’ Salome 413 Klaus Aringer „große Erfahrung in Allem, was das Orchester betrifft“ Richard Strauss über Instrumentation

423

Stationen der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts Alberto Fassone Die Idee der Transkription in Ferruccio Busonis ästhetischem Denken

439

Thomas Wozonig „Es ist daher Unsinn zu glauben, daß ich für alle die Werke, die ich mache, mich einsetze“. Wilhelm Furtwängler als Sibelius-Dirigent

453

Tomi Mäkelä Musik der Sphären. Der dänische Sinfoniker Rued Langgaard zwischen regionalen Bindungen, „Sendungsbewusstsein“ und der Weltgeschichte der Kunstmusik

473

Christian Glanz Hanns Eisler – Spartakus 1919. Zeitgeschichtliche und andere Kontexte

487

Carmen Ottner „…eine neue Art von opera buffa“. Wilhelm Grosz: Achtung Aufnahme! 503 Claudia Maurer Zenck „… furchtbar viel zu tun …“. Ernst Kreneks Kasseler Episode

517

Hartmut Krones Egon Wellesz: Lieder aus Wien auf „wienerisch“ und „cockney“

545

Jean-Jacques Van Vlasselaer Music in the Nazi Concentration Camps 569 8

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Wolfgang Gratzer

Mathias Hansen Sinfonie 1 von Friedrich Goldmann

581

Oliver Korte Klanggestalten und Klanggesten bei Luigi Nono

593

Susanne Kogler Gedächtnis und Erinnerung im Œuvre Gösta Neuwirths Anmerkungen zu Literatur und Musik nach 1945 613 Petra Zidarić Györek Transformation und Polyphonie in Klaus Hubers Die Seele muss vom Reittier steigen 629 Margarethe Maierhofer-Lischka Mit den Ohren sehen, mit den Augen hören Annäherung an Klaus Langs Musiktheater

641

Interpretationsforschung Lars E. Laubhold Arthur Friedheims Einspielung von Ludwig van Beethovens Diabelli-Variationen für das Philipps-Klavierrollensystem Duca Eine interpretationsanalytische Studie anhand der Variation III

651

Wolfgang Hattinger The Music in the Body – the Body in Music Vom Körperausdruck des Dirigenten

671

Christian Utz Form und Sinn in Gustav Mahlers Abschied Konkurrierende Deutungen in der Geschichte der Mahler-Interpretation

685

Sprechtheater, Ballett, Medien Dietmar Goltschnigg Karl Kraus’ Weltkriegstragödie Die letzten Tage der Menschheit auf der Bühne im Spiegel der Tagespresse bis zum Weltkriegsgedenkjahr 2014

723 9

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In vollen Zügen

Oliver Peter Graber Ballett in Serie TV-Produktionen als Indikatoren des Stellenwerts einer Kunstform

739

Cornelia Szabó-Knotik Heimkehrer. Ein zeit- und mediengeschichtlicher Blick

751

Jazz und Popularmusik André Doehring „’T Ain’t What You Do, It’s The Way That You Do It“ Zur Geschichtsschreibung in der Jazz- und Popularmusikforschung

763

Gerd Grupe Jazz ‚meets‘ India. Über die Schwierigkeiten musikalischer Begegnungen

777

Charris Efthimiou The IRON MAIDEN Gallop

791

Musikhören und Musikästhetik Janina Klassen In und auf dem Strom von Empfindungen. Wilhelm Heinrich Wackenroders immersive Hörerfahrung und der Hörwandel um 1800 805 Rudolf Flotzinger Dichter als Musikästhetiker? Die österreichischen Beispiele Franz Grillparzer und Adalbert Stifter

813

Robert Höldrich Horizonte des Hörens Betrachtungen zur Akustischen Ökologie und zum Sounddesign

829

Andreas Dorschel Starke Einbildungskraft. Gespräch über Chatwin

845

Autorinnen und Autoren 857 Personen- und Werkregister 875 10

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Geleitwort Barbara Boisits Seit 1996 prägt Peter Revers als ordentlicher Universitätsprofessor ganz wesent­ lich den Fachbereich Historische Musikwissenschaft und Musiktheorie an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz (Kunstuniversität Graz). An dieser Institution ist die Wissenschaft und Erforschung von Musik bereits seit den 1960er Jahren stark ausdifferenziert: Sie reicht von Jazzforschung über historisch informierte Aufführungspraxis und Ethnomusikologie bis zur Musikästhetik und umfasst derzeit neun wissenschaftliche Fachbereiche. In diesem Umfeld mag auf den ersten Blick die Historische Musikwissenschaft keine besonders privilegierte Position einnehmen. Gleichwohl ist der Bedarf an Lehre und Betreuung (für künftige Musiker*innen, Musikpädagog*innen und Musikolog*innen) in diesem Bereich außerordentlich hoch, es müssen also die eigenen Ressourcen bei der Einteilung der Arbeit (Lehrbetrieb, Forschung, Publikationstätigkeit, Drittmittel­ einwerbung, akademische Selbstverwaltung) besonders sorgfältig erwogen und eingesetzt werden. Es zeichnet Peter Revers sicher im besonderen Maße aus, dass er in Zeiten eminenter Mehrfachbelastungen (u.  a. als Senatsvorsitzender und Vorstand des Instituts für Komposition, Musiktheorie, Musikgeschichte und Dirigieren) ein Drittmittel-Projekt beim österreichischen Wissenschaftsfonds FWF zu Herbert von Karajan als Interpreten erfolgreich eingeworben hat. Der Zuschlag zu diesem Projekt im Jahr 2016 fiel in meine Zeit als Vizerektorin für Forschung. In mehreren Gesprächen zeigte sich mir nicht nur Peter Revers’ Offenheit gegenüber neuen Entwicklungen in der Musikwissenschaft, der „perfor­ mativen Wende“ und dem Einsatz computergestützter Analysemethoden, sondern auch seine hohe Verantwortung für den wissenschaftlichen Nachwuchs, gepaart mit einem feinen Gespür für das Wünschbare, aber auch das Machbare. Diese Eigenschaften prägten auch seinen Senatsvorsitz: Stets das Augenmaß wahrend, ausgestattet mit einer beneidenswerten Stress-Resistenz, fand er deutliche (selten heftige) Worte dann, wenn die Sache dafürstand. Aufregungen um ihrer selbst willen zu produzieren oder mit ihnen versteckte Motivationen zu verschleiern, lag und liegt ihm ferne. Eine sachlich ruhige Amtsführung kennzeichnete auch seine Präsidentschaft in der Österreichischen Gesellschaft für Musikwissenschaft. In seine Zeit fielen unter anderem die großen internationalen Symposien zu Hugo Wolf (2003) und Wolfgang Amadeus Mozart (2006). Als neue Mitherausgeberin der Jahresschrift (Musicologica Austriaca) lernte ich ihn in diesen Jahren erstmals näher kennen und 11

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Geleitwort

war ihm dankbar für das mir entgegengebrachte Vertrauen sowie seine Offenheit, Eigenschaften, die ich dann auch als Vizerektorin der Kunstuniversität Graz überaus zu schätzen wusste. Diese Festschrift, die Peter Revers aus Anlass seines 65. Geburtstages erhält, zeigt in der Vielfalt ihrer Beiträge und Beiträger*innen den weiten Horizont wissenschaftlicher und persönlicher Begegnungen, die den Geehrten geprägt haben, die aber umgekehrt auch von ihm geprägt wurden. „Musik im Zusammenhang“ mag so nicht nur als Titel eines würdigen akademischen Brauchs, sondern darüber hinaus als Motto seines Lebens verstanden werden.

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Klaus Aringer, Christian Utz, Thomas Wozonig

Einleitung Klaus Aringer, Christian Utz, Thomas Wozonig Die Festschrift zum 65. Geburtstag von Peter Revers ehrt eine der gewichtigsten Persönlichkeiten der österreichischen Musikwissenschaft der Gegenwart. Seit fast vier Jahrzehnten prägt er weit über Österreich und den deutschsprachigen Raum hinaus das Fach Musikwissenschaft in Vorträgen und Publikationen, durch internationale Symposien und Forschungsprojekte, als Editor und Fachbeirat sowie als akademischer Lehrer und Gutachter. Peter Revers’ breit angelegtes Interesse am Phänomen Musik und die akademische Karriere wurden ihm in gewisser Weise in die Wiege gelegt: Seine Mutter war die Opernsängerin Erna Revers (1919–2004), sein Vater Wilhelm Josef Revers (1918–1987) war seit 1965 erster Lehrstuhlinhaber des Faches Psychologie an der 1962 wieder gegründeten ParisLodron-Universität Salzburg und zwischen 1977 und 1979 auch deren Rektor. Peter Revers wählte in Salzburg und Wien dieselben Studienfächer (Musikwissenschaft, Psychologie und Philosophie) wie sein Vater, wenn auch mit veränderter Schwerpunktsetzung. Zugleich absolvierte er am Salzburger Mozarteum ein Studium der Komposition, das er 1981, also ein Jahr nach seiner Promotion, mit dem Diplom abschloss. Die professionelle Einsicht in die musikalische Materie aus produzierend zeitgenössischer wie historisch analysierender Warte ist für seinen Zugang zur Musik zweifellos von zentraler Bedeutung. Mehrgleisig verlief zunächst auch seine akademische Karriere. Er lehrte sowohl an den damaligen Musikhochschulen Wien und Salzburg wie auch an der Universität Salzburg. Nach einem Forschungsstipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung 1988/89 habilitierte er sich 1993 an der Universität Hamburg, wo er bis 1996 auch als Privatdozent lehrte. Bereits 1985 und 1990 waren über zwei Gastprofessuren Kontakte zur Hochschule für Musik und darstellende Kunst Graz zustande gekommen, wo er 1996 dann zum ordentlichen Professor für Musikgeschichte berufen wurde. In seine Grazer Anfangszeit fällt die Universitätswerdung der Ausbildungsstätte, die Peter Revers in vielfacher Weise fachlich wie administrativ mit- und ausgestaltet hat, nicht zuletzt auch durch die Umgestaltung in Lehre und Forschung des ehemaligen Faches „Musikgeschichte“ zur „Historischen Musikwissenschaft“ von heute, aber auch im engen Austausch mit inneruniversitär ‚benachbarten‘ Fächern. Peter Revers’ uneingeschränktes hohes Ansehen innerhalb der fachlichen Gemeinschaft dokumentiert sich in vielen Ämtern, von denen das des Senatsvorsitzenden der Grazer Kunstuniversität (2013–16) und das des Präsidenten der Österreichischen Gesellschaft für Musikwissenschaft 13

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Einleitung

(2001–09) herausragen. Beide Ämter erfüllte er mit jener menschlichen Kollegialität und Solidarität, aber auch fachlichen Bestimmtheit (Autorität wäre in diesem Kontext ein verfehltes Wort), die alle zu schätzen wissen, die sie einmal kennenlernen durften. Mit dem Thema „Musik im Zusammenhang“ haben wir versucht, ein wesentliches Charakteristikum von Peter Revers’ Schriften und seiner Auffassung von Musik und Musikgeschichte zu fassen, eine Auffassung, die sich im Verlauf seiner Tätigkeit freilich ausdifferenziert und gewandelt hat. Peter Revers gehört zur immer seltener werdenden Spezies des musikologischen Universalisten. „Musik im Zusammenhang“ bedeutet in seinen Schriften dabei nicht lediglich – wie seit dem „cultural turn“ weithin üblich – Musik als einen Mosaikstein breiterer kulturgeschichtlicher Prozesse und Erzählungen oder gar als determiniert durch solche Meta-Kontexte zu begreifen. Ebenso wenig huldigen Peter Revers’ Texte freilich einem naiven Autonomieideal. Gerade der plurale methodische Ansatz der in seinen Schriften entwickelten wissenschaftlichen Perspektiven vermag „Zusammenhänge“ – zwischen Musikformen, -gattungen und -aufführungen, zwischen Musik und anderen Kunstformen, zwischen Musik und gesellschaftlichen Entwicklungen – in differenzierter Weise aufzuzeigen. Als ethnomusikologisch substanziell gebildeter und musikanalytisch versierter Historiker versteht er es, soziokulturelle, strukturelle und rezeptionsästhetische Schichten von Musikwerken, ihre (inter-)kulturellen und geopolitischen Subtexte und die musikalischen Situationen ihrer Rezeption verständlich und einsichtig zu machen und damit ihre impliziten Voraussetzungen sowie ihre unausgesprochenen Bedeutungen hervortreten zu lassen. Dass etwa Gustav Mahlers Lied von der Erde Teil einer europaweiten Asienmode der Jahrzehnte um 1900 war und so mit einer Reihe anderer Hans-Bethge-Vertonungen in eine sinnfällige Beziehung gesetzt werden kann1 – also in einen Zusammenhang gestellt werden kann –, bedeutet nicht, dass Mahlers komplexe Formen der Heterophonie, die vermutlich auch durch die Begegnung mit chinesischer Musik motiviert waren, nicht zugleich auch eine inkommensurable Schicht in Mahlers Werk darstellen können, die auf zeittypische Faktoren allein nicht zu reduzieren ist. Mit den Themen Gustav Mahler einerseits und der Ostasienrezeption um 1900 andererseits sind die beiden wesentlichen Themengebiete von Peter Revers’ Qualifikationsschriften genannt, jenes der 1980 an der Universität Salzburg abgeschlossenen Dissertation (veröffentlicht 1985 als Gustav Mahler. Untersuchungen zu den späten Sinfonien 2) und jenes der 1993 an der Universität Hamburg 1 2

Vgl. Peter Revers, „Aspekte der Ostasienrezeption in Gustav Mahlers ‚Das Lied von der Erde‘“, in: Musik als Text. Bericht über den Internationalen Kongreß der Gesellschaft für Musikforschung, Freiburg im Breisgau 1993, hg. von Hermann Danuser und Tobias Plebuch, Kassel 1998, 376–383. Peter Revers, Gustav Mahler. Untersuchungen zu den späten Sinfonien, Hamburg 1985.

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Klaus Aringer, Christian Utz, Thomas Wozonig

angenommenen Habilitationsschrift (veröffentlicht 1997 als Das Fremde und das Vertraute. Studien zur musiktheoretischen und musikdramatischen Ostasienrezeption in den Beiheften zum Archiv für Musikwissenschaft3). Beide Themengebiete verschränken sich nicht nur wiederholt direkt in den Veröffentlichungen des Jubilars wie im oben zitierten Aufsatz aus dem Jahr 1998, sondern sie bieten auch die Kraftzentren einer weit ausgreifenden Publikationstätigkeit, die von der Musik des Mittelalters bis zur unmittelbaren Gegenwart, von ostasiatischer oder indischer Musik über den Jazz bis zur musikalischen Avantgarde nicht nur ein enormes Spektrum an Stilen, Kontexten und Traditionen umfasst, sondern auch ein besonders sensibles Gespür erkennen lässt für Komponisten und Themenbereiche, die in Hauptströmungen der Musikforschung zum Teil bis heute marginalisiert werden. Im Jahr 1980 durfte Gustav Mahler durchaus noch hierzu zählen, bis zur Gegenwart betrifft dies etwa Komponisten wie Frederick Delius, Egon Wellesz, Benjamin Britten, Carl Orff, Jean Sibelius, Einojuhani Rautavaara oder Allan Pettersson – Komponisten, denen Peter Revers eingehende Darstellungen widmete, was zu ihrer verstärkten Sichtbarkeit in der Forschung beitrug. Dies schließt freilich Arbeiten nicht aus, die – wie etwa die diversen Beiträge zum Mozart-Handbuch – als Standardtexte etablierter Forschungsgebiete gelten dürfen. Dabei ist die Originalität der Perspektive gerade in Revers’ Beiträgen zur Mozart-Forschung bemerkenswert: Sie umfasst Aspekte der Mozart-Rezeption im Jazz ebenso wie interpretationsgeschichtliche Aspekte, die französische Mozart-Rezeption im frühen 19. Jahrhundert oder einen Beitrag zum in China wirkenden MozartZeitgenossen Jean Joseph Amiot im Band Mozart and Asia.4 Ganz besonders aber muss hier die innovative Forschungsleistung in Peter Revers’ Habilitationsschrift und den mit ihr zusammenhängenden Einzelpublikationen gewürdigt werden. Ausgehend von Hans-Georg Gadamers Modell der „Horizontverschmelzung“, das Revers auf interkulturelle Rezeptions- und Verstehensvorgänge überträgt, gelingt hier eine neuartige Ausdifferenzierung von durch spät- und postkoloniale Wertungsdiskurse oft genug pauschal auf den Begriff „Exotismus“ eingeengten musikalischen Werken und theoretischen Schriften der Jahrzehnte um 1900 mit Bezug auf ostasiatische Kultur- und Musikformen. Dass hierbei die aus heutiger Sicht oft genug naive, problematische, bisweilen äußerst selektive Sicht auf die von der damaligen Forschung zumeist als defizitär eingestuften Musikkulturen Ostasiens bei vielen Komponisten und Autoren von Revers weder verharmlost noch kategorisch verworfen wird, korrespondiert mit 3 4

Peter Revers, Das Fremde und das Vertraute. Studien zur musiktheoretischen und musikdramatischen Ostasienrezeption, Stuttgart 1997 (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 41). Peter Revers, „Jean Joseph Amiot and the Research on Chinese Music“, in: Mozart and Asia – A Global View to Mozart, hg. von Jürg Stenzl, Uta Starka und Karin Schamberger, Salzburg 2001, 26–29, 52–53, 85–86.

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Einleitung

der aus Gadamers Modell abgeleiteten Erkenntnis, auch aus heutiger Sicht unzureichend erscheinende Formen interkultureller Rezeption könnten „geschichtliche Wirklichkeit“ entfalten.5 Und dass hierbei heute kaum mehr rezipierte Autoren wie Rudolf Dittrich, Georg Capellen, Abraham J. Polak oder Ludwig Riemann sowie wenig bekannte Werke der Operngeschichte wie Eugen d’Alberts Mister Wu, Pietro Mascagnis Iris, Carl Orffs Gisei – Das Opfer oder Alexander Zemlinskys Der Kreidekreis ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden, entspricht jenem oben genannten Impuls Revers’ zur Korrektur unzulänglicher Fokussierungen und Begrenzungen in der Fachgeschichte, die auf dem Feld der interkulturellen musikhistorischen Forschung bis in die Gegenwart als besonders schwerwiegend empfunden werden mögen. Die Mahler-Forschung hat Peter Revers seit der Veröffentlichung seiner Dissertation – bzw. bereits zuvor, etwa mit dem bis heute ausgesprochen lesenswerten Aufsatz zur Rhythmik im vierten Satz von Mahlers Neunter Symphonie aus dem Jahr 1978 (der frühesten der im folgenden Publikationsverzeichnis erfassten Veröffentlichungen des damals 24-Jährigen) – viele grundlegende Studien zu danken, unter denen besonders das zweibändige, gemeinsam mit Oliver Korte herausgegebene Werk der Mahler-Interpretationen aus dem Jahr 2011 zu nennen ist,6 dem es zu einem Zeitpunkt, als die Mahler-Forschung bereits ins Unübersehbare gewachsen war, gelang, einen neuen Forschungsstand zu definieren. Peter Revers trug hier nicht nur als unermüdlicher Herausgeber, sondern auch als Übersetzer von drei äußerst umfangreichen Beiträgen aus dem Englischen wesentlich zum Gelingen des mehrjährigen Projekts bei. Auch die auf Revers’ Initiative hin entstandenen Bücher zur Achten Symphonie7 oder zum Klagenden Lied 8 dürfen als besonders bedeutsame Beiträge gelten, wenden sie sich doch Werken zu, denen innerhalb der Mahler-Forschung bis dahin nur eine relativ geringe Aufmerksamkeit zuteil geworden war. Mit seinem breit rezipierten Buch zu Mahlers Liedern (in der Reihe Wissen des C. H. Beck Verlags im Jahr 2000 erschienen) und zahllosen Aufsätzen (zuletzt 2017 zum Band Rethinking Mahler, herausgegeben von Jeremy Barham über Mahlers Achte und Max Reinhardts Konzept der „Massenregie“) prägt Peter Revers dieses Forschungsfeld bis in die Gegenwart hinein (ein weite5 Revers, Das Fremde und das Vertraute, 16 und 235. 6 Peter Revers / Oliver Korte (Hg), Gustav Mahler. Interpretationen seiner Werke, 2 Bde., Laaber 2011. 7 Elisabeth Kappel (Hg.), The Total Work of Art. Mahler’s Eighth Symphony in Context, Wien 2011 (= Studien zur Wertungsforschung 52). Das Buch ist Resultat des von Peter Revers mitinitiierten und -organisierten Symposiums „A Work of Art of the Higher Artistic Order“: Text and Context of Gustav Mahler‘s Eighth Symphony an der Carleton University Ottawa im Jahr 2010. 8 Elisabeth Kappel (Hg.), Das klagende Lied: Mahlers „Opus 1“. Synthese, Innovation, kompositorische Rezeption, Wien 2013 (= Studien zur Wertungsforschung 54). Das Buch ist Resultat des von Peter Revers initiierten und organisierten Symposiums Synthese und Innovation im Schaffen Gustav Mahlers an der Kunstuniversität Graz im Jahr 2010, anlässlich dessen auch Das klagende Lied mit rund 245 Musiker*innen im Grazer Stefaniensaal zur Aufführung gelangte.

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Klaus Aringer, Christian Utz, Thomas Wozonig

res Buch in der genannten Beck-Reihe zu Mahlers Sinfonien ist derzeit in Arbeit). Aber bereits die Dissertation setzte bei ihrer Veröffentlichung 1985 durchaus einen besonderen Akzent, stellte sie doch einen wesentlichen Schritt zu einer analytischen Durchdringung von Mahlers Spätwerk dar, hier unter dem Ratz’schen Leitbegriff der „Liquidation“ – zu einem Zeitpunkt, als die Mahler-Forschung stark durch biographische Deutungen, insbesondere in Form der dreibändigen Monographie von Constantin Floros, geprägt war. Die Rezeptionsforschung ist ausgehend von der Habilitationsschrift ein wichtiges Anliegen von Peter Revers’ musikalischem Denken geblieben. Dass interkulturelle Kontexte die Sensibilität für derartige Fragen schärfen – und zwar über jenes seit den 1990er Jahren in der Musikwissenschaft insgesamt wachsende Interesse an rezeptionsästhetischen und -historischen Fragestellungen hinaus – ist naheliegend. Zwei der Herausgeber dieser Festschrift (Klaus Aringer und Christian Utz) hatten das Vergnügen, bei der Durchführung des in diesem Zusammenhang von Peter Revers’ initiierten großen Symposiums zur Geschichte und Gegenwart des musikalischen Hörens Anfang 2013 an der Kunstuniversität Graz mitwirken zu dürfen und gemeinsam die Herausgabe der 2017 in der Reihe klang-reden erschienenen zugehörigen Publikation9 mitzuverantworten. Das Thema jenes Bandes kann mit der breiten Ausweitung der Frage nach dem musikalischen Hören, seinen Konventionen, Vor-Urteilen, Ref lexen und Offenheiten als paradigmatisch auch für Fragestellungen in Revers’ eigenen Texten gelten. In der Einleitung zum Tagungsband schrieb er in Bezug auf Bazon Brock, dass „unserem Hören – neben aktiver Wahrnehmung der und Teilhabe an der Welt – stets auch eine der Realität enthobene, die Kategorien von Raum und Zeit sprengende […] Dimension eigen“ sei. Besonders wies er dabei auch auf den grundlegenden Wandel in der Auffassung von Musik seit 1800 hin, „als deren Konsequenz eine Musikwahrnehmung anvisiert wird, die einen ‚Beobachter zweiter Ordnung‘ als gleichsam einen ‚zweiten Hörer‘ vorsieht und damit musikalische Selbstref lexion als eine zentrale Komponente der musikalischen Moderne einführt.“10 Solche Form der Selbstref lexion in und durch Musik führt nahezu zwangsläufig auch zu Fragen der Interpretationsforschung – denn wenn Musik in ihrem klanglich-sensitiven Vollzug, der akustisch-haptischen Gegenwart ihres Erklingens thematisiert wird, kann dies kaum ohne Rekurs auf jene Protagonist*innen 9

Klaus Aringer / Franz Karl Praßl / Peter Revers / Christian Utz (Hg.), Geschichte und Gegenwart des musikalischen Hörens. Diskurse – Geschichte(n) – Poetiken, Freiburg i. Br. 2017 (= klang-reden 17). 10 Klaus Aringer / Franz Karl Praßl / Peter Revers / Christian Utz, „Vorwort“, in: Geschichte und Gegenwart des musikalischen Hörens, 9–17, hier 11. Zitate aus Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995, 92–164; Federico Celestini, „Zeit und Bewusstsein in der Musik zwischen dem Ende des 18. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts“, in: Phänomen Zeit. Dimensionen und Strukturen in Kultur und Wissenschaft, hg. von Dietmar Goltschnigg und Charlotte GrolleggEdler, Tübingen 2011, 339–342, hier 340.

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Einleitung

geschehen, die in der Musikwissenschaft lange genug kaum beachtet worden sind: die Interpret*innen. Mit seinem seit 2017 an der Kunstuniversität Graz, der Universität Mozarteum Salzburg, der Anton Bruckner Privatuniversität Linz, der Johannes Kepler Universität Linz sowie dem Karajan Institut Salzburg angesiedelten Forschungsprojekt Towards Interdisciplinary, Computer-assisted Analysis of Musical Interpretation: Herbert von Karajan setzt Peter Revers einmal mehr ein Zeichen methodologisch innovativer interdisziplinärer Forschung, werden doch in diesem Projekt die oftmals als konträr empfundenen und eingestuften Tendenzen einer empirisch-quantitativen Performance-Forschung und einer historisch-kritischen Annäherung an die Interpretationsgeschichte musikalischer Werke in einen engen Dialog gebracht. Die Methoden der britischen musical performance studies um Nicholas Cook, Daniel Leech-Wilkinson, John Rink und Mine Doğantan Dack dienen hierfür ebenso als Ausgangspunkt wie die stärker quantitativ ausgerichteten Forschungsmethoden des beteiligten Institute of Computational Perception der Johannes Kepler Universität Linz unter der Leitung von Gerhard Widmer. Es ist angesichts dieser Breite von Forschungsinteressen und -schwerpunkten nicht überraschend, dass jeder der 52 Beiträge dieser Festschrift in unterschiedlicher Weise auf das Wirken von Peter Revers zu beziehen ist. Wiederholt tritt der Jubilar als Impulsgeber explizit in Biographischem, zum Teil Anekdotischem in Erscheinung. An den Beginn seines Aufsatzes In vollen Zügen. Über einige Weichenstellungen zwischen Bahn- und Musikgeschichte, der den Reigen an Beiträgen eröffnet, stellt Wolfgang Gratzer eine Ref lexion über die wöchentlichen Zugfahrten zwischen den Arbeitsund Aufenthaltsorten Salzburg, Graz und Wien und greift damit ebenso ein Detail aus dem Alltag des Jubilars auf wie das Gerd Grupe in seinem Beitrag Jazz ‚meets‘ India. Über die Schwierigkeiten musikalischer Begegnungen durch seinen Verweis auf die gemeinsame Lehre an der Kunstuniversität Graz tut. Cornelia SzabóKnotik wiederum führt in der Einleitung ihres Beitrags Heimkehrer. Ein zeit- und mediengeschichtlicher Blick an den Beginn der Karriere von Peter Revers zurück – konkret in die 1980er Jahre und das noch junge Institut für Musikgeschichte der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien. Sie bildet hierdurch einen biographischen Gegenpol zu einer Reihe von Beiträgen, die Peter Revers’ neuere und neueste Forschungen ins Bewusstsein rufen, so etwa Christoph Flamm (Not oder Tugend? Mahlers Klavierquartettsatz) mit seiner Würdigung eines „analytisch wie kontextuell überaus hellsichtigen“, 2016 publizierten Aufsatzes des Geehrten oder Federico Celestini in seinen Betrachtungen zur Fremdheit im Lied von der Erde durch den Verweis auf mehrere einschlägige Publikationen von Peter Revers der letzten Jahre. Überhaupt war es vielen Autor*innen ein Anliegen, gerade in jenen Bereichen Akzentuierungen zu setzen, die in einen Dialog mit Peter Revers’ eigenen maßgeblichen Veröffentlichungen eintreten und so, Ideen des Kollegen mit- und 18

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weiterdenkend, dessen Impulse aufgreifen. Dass hierdurch eine ganze Reihe von Beiträgen zu Gustav Mahler angeregt werden würde – neben den beiden zuvor genannten Autoren widmen sich ihm auch die Aufsätze von Stephen E. Hefling (Two Early ‚Programmatic‘ Interpretations of Mahler’s First Symphony) und Karol Berger (ebenfalls On Mahler’s First Symphony), Elisabeth Schmierer (Humor in Beethovens Pastorale aus der Sicht von Gustav Mahler) und Eveline Nikkels (Die Schlussszene aus Faust II bei Robert Schumann, Franz Liszt und Gustav Mahler) –, ist angesichts des wissenschaftlichen Profils des Geehrten ebenso sinnfällig wie die Beiträge zu Richard Strauss von Michael Walter (Zum Mond in Strauss’ Salome) und Klaus Aringer (Richard Strauss über Instrumentation) sowie zu Wolfgang Amadeus Mozart von Rainer J. Schwob über Mozarts Lieder, Elisabeth Kappel über Körperliche Elemente in Zornarien und Harald Haslmayr über die Rekontextualisierung einiger Walzertakte in der Zauberf löte. Dem mit Mahler und Strauss geöffneten großen Raum der Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts fügen die Beiträge von Ingeborg Harer zu Irene Kiesewetter, Joachim Brügge zu Carl Dahlhaus und das „Symphonische Loch“ im 19. Jahrhundert sowie die Betrachtungen von Dieter Gutknecht und Eckhard Roch zum Orchester Richard Wagners bzw. Zur Dialektik des Symphonischen in Richard Wagners Spätwerk wertvolle Facetten hinzu. Noch weiter zurück in die Musik vor 1700, zum Teil bis in die „Musik in der Lebenswelt des Mittelalters“,11 führen die Beiträge von Franz Karl Praßl zum Salzburger Liber Ordinarius (1198), von Stefan Engels zur Handschrift Michaelbeuern A-MB Man. Cart. 1 sowie Laurenz Lüttekens Aufsatz zu Heinrich Ignaz Franz Bibers „Rosenkranzsonaten“. Die Beiträge von Claudia Maurer Zenck (Ernst Kreneks Kasseler Episode), Hartmut Krones (Egon Wellesz: Lieder aus Wien) oder Susanne Kogler (Gedächtnis und Erinnerung im Œuvre Gösta Neuwirths) lenken den Fokus nicht nur auf Peter Revers’ Heimat und wichtigste Wirkungsstätte Österreich, dessen musikalische Vergangenheit und Gegenwart ihm von jeher ein großes Anliegen war (was seinen Niederschlag nicht zuletzt in der Co-Autorschaft des entsprechenden MGG OnlineEintrags gefunden hat12), sondern auch auf Stationen der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts: Hier spannt sich die Chronologie von ‚Vermittlern‘ zwischen den Jahrhunderten wie Ferruccio Busoni (Alberto Fassone), Wilhelm Furtwängler und Jean Sibelius (Thomas Wozonig) und Rued Langgaard (Tomi Mäkelä) bis zur neuen Musik Klaus Hubers (Petra Zidarić Györek) und Klaus Langs (Margarethe Maierhofer-Lischka). Die Parallelität von Musikkontexten, die sich um Hanns Eisler (Christian Glanz), Wilhelm Grosz (Carmen Ottner), Friedrich Goldmann 11 Peter Revers, „Musik in der Lebenswelt des Mittelalters“, in: Musicologica Austriaca 22 (2003), 9–11. 12 Peter Revers / Rudolf Flotzinger / Walter Deutsch / Margarethe Maierhofer-Lischka, „Österreich“, in: MGG-Online 2016 (Major Update), https://www.mgg-online.com/mgg/stable/11677 (1.2.2019).

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(Mathias Hansen) und Luigi Nono (Oliver Korte), aber auch die Music in the Nazi Concentration Camps ( Jean-Jacques Van Vlasselaer) auftun, verweist auf den Anspruch zur beständigen Kritik traditioneller und einseitiger musikhistorischer Narration, den Peter Revers seit jeher auch an seine eigene Arbeit stellt. Dementsprechend steht bereits das eröffnende Kapitel Querschnitte durch die Betonung von Ref lexion und Innovation geradezu programmatisch für wesentliche Charakteristika der Forschungen von Peter Revers. Mit Beiträgen wie beispielsweise Zur Dramaturgie im Musiktheater von Gluck bis Cage von Jörg Rothkamm, der Diskussion von Herausforderungen musikpädagogischen Handelns in einer diversifizierten Gesellschaft von Silke Kruse-Weber und Maximilian Gorzela, der Demonstration der Digitalen Musikanalyse auf Grundlage von MEI-codierten Daten durch Robert Klugseder und Agnes Seipelt, den Gedankensplittern zum Musizieren im 21. Jahrhundert von Ernest Hoetzl und den Bemerkungen zur Frühgeschichte des klassischen Wiener Kontrafagotts von Klaus Hubmann entfaltet sich ein Raum höchst diverser historischer, methodischer, ästhetischer und diskursiver Bezüge. Dieser Raum dehnt sich dank der Impulse von Dietmar Goltschnigg (Karl Kraus’ Weltkriegstragödie Die letzten Tage der Menschheit) und Oliver Peter Graber (Ballett in Serie) auch in den Bereich Sprechtheater, Ballett, Medien sowie durch André Doehring (Zur Geschichtsschreibung in der Jazz- und Popularmusikforschung) und Charris Efthimiou (The IRON MAIDEN Gallop) in die Sphäre von Jazz und Popularmusik aus. Auch Ulf Bästlein in seinem Aufsatz zur Musikalischen Lyrik als Aufklärung sowie Marie-Agnes Dittrichs kunst- und kulturpolitische Aufarbeitung der Kontexte des Gemäldes Im Etappenquartier vor Paris von Anton von Werner eröffnen unter dem Schlagwort Musikalische Lyrik individuelle Blickwinkel auf musik­h istorische Schlüsselmomente. Der musikalischen Interpretationsforschung, die zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Bandes das vielleicht intensivste Betätigungsfeld des Jubilars darstellt, ist ein eigener Abschnitt gewidmet: Während sich Christian Utz (Form und Sinn in Gustav Mahlers Abschied) und Lars E. Laubhold (Arthur Friedheims Einspielung von Beethovens Diabelli-Variationen) der detaillierten Analyse von auf Tonträgern fixierten Interpretationen widmen, durchleuchtet Wolfgang Hattinger (Vom Körperausdruck des Dirigenten) die physischen, kommunikativen und ästhetischen Aspekte des Orchesterdirigierens. Einige der hierbei thematisierten Fragen weisen bereits auf das abschließende Kapitel Musikhören und Musikästhetik voraus, das pointierte Essays von Janina Klassen (Wilhelm Heinrich Wackenroders immersive Hörerfahrung und der Hörwandel um 1800), Rudolf Flotzinger (über Franz Grillparzer und Adalbert Stifter als Musikästhetiker), Andreas Dorschel (Gespräch über Chatwin) sowie Robert Höldrich (Horizonte des Hörens) versammelt und rezeptionsästhetische Perspektiven in zum Teil sehr ungewöhnlichen Formaten ausleuchtet. 20

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Vor diesem Hintergrund wird in besonderer Deutlichkeit die Unabschließbarkeit der durch Peter Revers mitgestalteten und vorangetriebenen Gebiete sicht­bar: Anders als manch anderes Exemplar der Gattung Festschrift genügt sich das vorliegende Buch nicht im Zelebrieren des Vergangenen. Peter Revers’ Wirken gibt uns mehr als genügend Motivation dafür, von ihm eröffnete Perspektiven weiter- und durchzudenken und zu neuen Horizonten des Hörens, Verstehens und Interpretierens zu führen. Die Herausgeber schätzen sich glücklich, mit dieser Festschrift ein Vorhaben einlösen zu können, das anlässlich des Symposiums zum 60. Geburtstag von Peter Revers 2014 in Graz angekündigt worden war. In diesem Sinn gratulieren wir Peter Revers sehr herzlich und bedanken uns bei allen Autor*innen für ihre wunderbaren Beiträge und die geduldige Mitarbeit, bei Dieter Kleinrath für seine Hilfe bei der Betreuung und Erstellungen der Abbildungen und Notenbeispiele, bei Laurence Willis und Jennifer Ronyak für ihre Hilfe bei der Redaktion der Beiträge, bei den Mitarbeiter*innen des Hollitzer Verlags für die reibungslose Zusammenarbeit sowie beim Vizerektorat für Forschung der Kunstuniversität Graz und dem Referat Wissenschaft und Forschung des Landes Steiermark für die finanzielle Unterstützung. Eine gendersensible Schreibweise wurde von den Herausgebern empfohlen, von den Autor*innen aber individuell umgesetzt.

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Peter Revers Schriftenverzeichnis I. Monographien 1. 2. 3. 4.

Friedrich C. Heller / Peter Revers, Das Wiener Konzerthaus. Geschichte und Bedeutung, Wien 1983. Gustav Mahler. Untersuchungen zu den späten Sinfonien, Hamburg 1985. Das Fremde und das Vertraute. Studien zur musiktheoretischen und musikdramatischen Ostasienrezeption, Stuttgart 1997 (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 41). Mahlers Lieder. Ein musikalischer Werkführer, München 2000.

II. Herausgegebene Schriften 1. 2. 3. 4.

Josef Ehmer / Dietmar Goltschnigg / Peter Revers / Justin Stagl (Hg.), Gegenwart und Zukunft der wissenschaftlichen Nachwuchsförderung, Wien 2003. Dietmar Goltschnigg / Charlotte Grollegg-Edler / Peter Revers (Hg.), Harry… Heinrich… Henri… Heine: Deutscher – Jude – Europäer, Berlin 2008. Peter Revers / Oliver Korte (Hg), Gustav Mahler. Interpretationen seiner Werke, 2 Bde., Laaber 2011. Klaus Aringer / Franz Karl Praßl / Peter Revers / Christian Utz (Hg.), Geschichte und Gegenwart des musikalischen Hörens. Diskurse – Geschichte(n) – Poetiken, Freiburg i. Br. 2017 (= klang-reden 17).

III. Aufsätze 1.

2. 3. 4.

5. 6.

„Liquidation als Formprinzip. Die formprägende Bedeutung des Rhythmus für das Adagio der 9. Symphonie von Gustav Mahler“, in: Österreichische Musikzeitschrift 33/10 (1978), 527–533. „Analytische Betrachtungen zu Puccinis Turandot“, in: Österreichische Musikzeitschrift 34/7–8 (1979), 340–351. „Zum Stand der Mahlerforschung“, in: Österreichische Musikzeitschrift 34/6 (1979), 289–293. „Gustav Mahler und die Formanalyse. Ref lexionen über ein gestörtes Verhältnis“, in: Beiträge ’79–81 der Österreichischen Gesellschaft für Musik, Gustav Mahler Kolloquium 1979, Kassel 1981, 96–101. „Bibliographie zur Musik nach 1945“, in: Musikerziehung 35 (1981/82), 32–35. „Außereuropäische Musik im Unterricht“, in: Musikerziehung 35 (1981/82), 203–208.

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„Die Gestaltung von Ton und Klang als dramatischer Prozess. Bemerkungen zum Schaffen Isang Yuns und Kazuo Fukushimas“, in: Österreichische Musikzeitschrift 37/2 (1982), 79–89. „Klanggestaltung und Expression im Orchesterschaffen Harald Genzmers“, in: Komponisten in Bayern, Bd. 1: Harald Genzmer, Tutzing 1983, 51–70. „Allan Pettersson: 7. Sinfonie“, in: Melos 46/3 (1984), 103–125. „Gustav Mahlers Kopisten: F. Weidig“, in: Nachrichten zur Mahler-Forschung 14 (1984), 3–6 und 15 (1985), 14–16. „Toru Takemitsu. Über die kulturelle Identität des zeitgenössischen japanischen Musikschaffens“, in: Noema 5 (1986), 64–68. „‚Return to the Idyll‘: The Night Pieces in Gustav Mahler’s Seventh Symphony“, in: Colloque International „Gustav Mahler“, hg. von Henry-Louis de La Grange, Paris 1986, 40–51. „Paul Engel: Widerhall - Tanzszenen für großes Orchester“, in: Melos 4 (1986), 2–19. „Historische Aspekte interkultureller Wahrnehmung als Modelle polyästhetischer Erziehung“, in: Polyaisthesis: Festschrift Wolfgang Roscher zum 60. Geburtstag, hg. von Peter Maria Krakauer und Christian G. Allesch, Wien 1987, 49–54. „Hauptton – Holon. Zu einer Basiskatagorie der Kompositionen Isang Yuns“, in: Der Komponist Isang Yun, hg. von Hanns-Werner Heister und Walter-Wolfgang Sparrer, München 1987/21997 (= Musik-Konzepte Sonderband), 81–94. „Exotismus und Weltmusik. Weltmusikkonzepte des 20. Jahrhunderts“, in: Poly­aisthesis 2/1 (1987), 68–78, englische Fassung: „Multiperceptual Consciousness and the Idea of Integrating Arts and Sciences in Education“, in: Polyaisthesis 6 (1991), 112–121. „Kontrapunkt vom 14. Jahrhundert bis zum Schaffen des Josquin des Pres“; „Serielle Musik“, in: Der musikalische Satz. Ein Handbuch zum Lernen und Lehren, hg. von Walter Salmen und Norbert J. Schneider, Innsbruck 1987, 41–46; 231–236. „Zerfall der Idylle. Idylle und Bedrohung als Kategorien musikalischer Wirklichkeit“, in: Polyaisthesis 3/1 (1988), 25–33. „‚Es war nicht leicht, sich in die völlig veränderten Verhältnisse einzugewöhnen‘. Egon Wellesz’ Emigrationsjahre in Oxford“, in: Vertriebene Vernunft, II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930–1940, hg. von Friedrich Stadler, Münster 2004 (= Emigration – Exil – Kontinuität. Schriften zur zeitgeschichtlichen Kultur- und Wissenschaftsforschung 2), 616–620. „Egon Wellesz“, in: Österreichische Musikzeitschrift 43 (1988), 197–200. „Dodekaphonik als System kontrapunktischer Tradition. Zu Johann Nepomuk Davids 8. Symphonie“, in: Dodekaphonisten in Österreich nach 1945, hg. von Gottfried Scholz, Wien 1989, 149–166.

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22. „Kosmosz – Mertek – Holon. A tenei analisis rendszerelmeleti aspektusai“ [‚Kosmos – Maß – Holon. Systemtheoretische Aspekte musikalischer Analyse‘], in: Leptek es Mertek, hg. von Erzsebet Tusa, Budapest 1989, 36–41. 23. „Carl Orff und der Exotismus. Zur Ostasienrezeption in seiner frühen Oper Gisei – Das Opfer“, in: Musikkulturgeschichte. Festschrift Constantin Floros zum 60. Geburtstag, hg. von Peter Petersen, Wiesbaden 1990, 233–259. 24. „Ex oriente lux. Die Hoffnung auf geistige Erneuerung durch eine Synthese okzidentaler und orientaler Spiritualität und ihr kulturgeschichtlicher Niederschlag im 19. und 20. Jahrhundert“, in: Polyaisthesis 5/1 (1990), 50–57. 25. „Zur Kirchenmusik W. A. Mozarts“, in: Wolfgang Amadeus Mozart – summa summarum, hg. von Peter Csobádi und Rudolph Angermüller, Wien 1990, 159–164. 26. „Geträumte Landschaften im Zeichen der Natur-Akustik. Zum Schaffen Theodor Bergers“, in: morgen 71 (1990), 160–163. 27. „Mozart und China: Henri-Montan Bertons Pasticcio Le laboureur chinois. Ein Beitrag zur französischen Mozart-Rezeption des frühen 19. Jahrhunderts“, in: Bericht über den Internationalen Mozart-Kongreß Salzburg 1991, hg. von Rudolph Angermüller, Ulrike Hofmann, Wolfgang Rehm und Dietrich Berke, Salzburg 1991, 777–786. 28. „‚Erlösung dem Erlöser‘ – ‚Wer erlöst uns von dieser Erlösung?‘ Zur Rezeption des Erlösungsgedankens bei Wagner und Nietzsche“, in: Der Fall Wagner, hg. vom Institut für Musiktheater Thurnau, Laaber 1991, 137–146. 29. „Gustav Mahler und Allan Pettersson“, in: Allan Pettersson Jahrbuch, hg. von Michael Kube, Saarbrücken 1990, 54–65; auch in: Gustav Mahler – Kongreßbericht Hamburg 1989, hg. von Matthias Theodor Vogt, Kassel 1991, 363–373. 30. „Latente Orchestrierung in den Klavierliedern Gustav Mahlers“, in: De Editione Musices. Festschrift für Gerhard Croll zum 65. Geburtstag, hg. von Wolfgang Gratzer und Andrea Lindmayr, Laaber 1992, 65–77. 31. „Musiktheoretische und ästhetische Aspekte der Harmonisierung exotischer Melodien“, in: Musiktheorie 47/1 (1992), 3–24. 32. „Bruno Maderna – Friedrich Hölderlin. Aspekte des Wort-Ton-Verhältnisses in Madernas Aria da Hyperion“, in: Österreichische Musikzeitschrift 47/5 (1992), 271–279. 33. „Henri-Montan Berton und die französische Mozartrezeption im frühen 19. Jahrhundert“, in: Bericht über den Internationalen Mozartkongress, Salzburg 1991, hg. von Rudolph Angermüller, Dietrich Berke, Ulrike Hoffmann und Wolfgang Rehm, Kassel 1992 (= Mozart-Jahrbuch 1991), 777–786. 34. „Mozart und der italienische Verismus“, in: W. A. Mozart und die Musik des 20. Jahrhunderts, hg. von Siegfried Mauser, Laaber 1993, 61–70. 25

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35. „Aspekte einer Kinderoper. Zu Lotte Ingrischs / Gottfried von Einems Tulifant“, in: Musica 2 (1993), 86–90. 36. „Stationen des Scheiterns von Liebe und Hoffnung. Stilistische Aspekte der Donna-Elvira-Arien in Mozarts Don Giovanni“, in: Bericht über den Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongreß zum Mozartjahr Baden – Wien 1991, hg. von Ingrid Fuchs, Tutzing 1993, 847–857. 37. „Aspekte der Klanggestaltung im Schaffen Isang Yuns und Toru Takemitsus“, in: Harmonik im 20. Jahrhundert, hg. von Claus Ganter, Wien 1993, 116–137. 38. „Innovationsschübe: 1750 – 1910 – 1994“, in: Österreichische Musikzeitschrift 49/10 (1994), 601–606. 39. „Zur Ostasienrezeption in Alexander Zemlinskys Kreidekreis“, in: Alexander Zemlinsky. Ästhetik, Stil und Umfeld, hg. von Hartmut Krones, Wien 1995, 79–115. 40. „Jean Sibelius and Viennese Musical Tradition in the Late Nineteenth Century“, in: Proceedings from the First International Jean Sibelius Conference, hg. von Eero Tarasti, Helsinki 1995, 169–177, erweitert als „Jean Sibelius and Vienna“, in: The Sibelius-Companion, hg. von Glenda Dawn Goss, Westport und London 1996, 13–34. 41. „Zur Rezeption japanischer Musik und Musiktheorie“, in: Lux Oriente. Begegnungen der Kulturen in der Musikforschung. Festschrift Robert Günther zum 65. Geburtstag, hg. von Uwe U. Pätzold, Kyo-chul Chung, Klaus Wolfgang Niemöller und Oliver Seibt, Kassel 1995 (= Kölner Beiträge zur Musikforschung 188), 221–239. 42. „Zum Streichquartettschaffen von Egon Wellesz“, in: Kammermusik zwischen den Weltkriegen (Symposium 1994), hg. von Carmen Ottner, Wien 1995, 183–195. 43. „Der metallene Klang. Zum Mythos des Metalls in der Musik des 19. und 20. Jahrhunderts“, in: Helmuth Gsöllpointner: Objekte und Plastiken 1955–1995 [Ausstellungskatalog], Linz 1995, 227–234. 44. „Charles Ives: ‚Three Improvisations for Piano‘“, in: Pluralismus analytischer Methoden, hg. von Gottfried Scholz, Frankfurt a. M. 1996 (= Publikationen des Instituts für Musikanalytik Wien 3), 179–186. 45. „Sprachcharakter und Zeitgestalt – Aspekte der Gattung Streichquartett“, in: Österreichische Musikzeitschrift 51/4 (1996), 231–242. 46. „Hans Zender: ‚Furin No Kyo‘“, in: Nähe und Distanz. Nachgedachte Musik der Gegenwart, Bd. 1, hg. von Wolfgang Gratzer, Hof heim 1996, 213–222. 47. „Gustav Mahler und Anton Bruckner“, in: Neue Mahleriana – Essays in Honour of Henry Louis de La Grange, hg. von Günther Weiß, Bern 1997, 265–296. 48. „‚Europäische Treibhausblüten‘ (Hugo Riemann) versus ‚Exotische Zukunftsmusik‘ (Georg Capellen). Zur enttäuschten Perspektive einer Welt26

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musik“, in: Das Gebrochene Glücksverständnis – Zur Dialektik des Harmonischen in der Musik, hg. von Otto Kolleritsch, Wien 1998 (= Studien zur Wertungsforschung 33), 189–198. „‚Nos sumus ioculatores Domini‘. Zu Minnesang und Spielmannskunst im späten Mittelalter“, in: Carinthia 188 (1998), 267–272. „‚… Schnee, du weißt von meinem Sehnen‘. Aspekte der Schubert-Rezeption in Hans Zenders Winterreise (1993)“, in: „Dialekt ohne Erde“. Franz Schubert und das 20. Jahrhundert, hg. von Otto Kolleritsch, Wien 1998 (= Studien zur Wertungsforschung 34), 98–120. „Aspekte der Ostasienrezeption in Gustav Mahlers ‚Das Lied von der Erde‘“, in: Musik als Text. Bericht über den Internationalen Kongreß der Gesellschaft für Musikforschung, Freiburg im Breisgau 1993, Bd. 2: Freie Referate, hg. von Hermann Danuser und Tobias Plebuch, Kassel 1998, 376–383. „Gustav Mahler: The Seventh Symphony“, in: The Mahler-Companion, hg. von Donald Mitchell und Andrew Nicholson, Oxford 1999/22002, 376–399. „Zur Brahms-Rezeption in Richard Strauss Klavierquartett op. 13“, in: Johannes Brahms: Quellen – Text – Rezeption – Interpretation. Internationaler Brahms-Kongreß Hamburg 1997, hg. von Friedhelm Krummacher und Michael Struck, München 1999, 525–551. „Zur Ästhetik und Klanggestaltung im Schaffen Toru Takemitsus“, in: Der Diskurs des Möglichen: Musik zwischen Kunst, Wissenschaft und Pädagogik. Festschrift für Wolfgang Roscher zum 70. Geburtstag, hg. von Peter Maria Krakauer, Christoph Kittl und Monika Mittendorfer, Anif 1999, 99–113; japanisch [übersetzt von Nobuhiro Ito] in: Nobuhiro Ito (Hg.), Toru Takemitsu, Tokyo 2000, 264–273. „Das Klavierquartett von Jean Sibelius im Kontext der Gattungsgeschichte“, in: 50 Jahre Musikwissenschaft in Hamburg. Bestandsaufnahme – aktuelle Forschung – Ausblick, hg. von Peter Petersen und Helmut Rösing, Frankfurt a. M. 1999 (= Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 16), 337–353. „Die Schönberg-Rezeption in den frühen Symphonien von Egon Wellesz“, in: Miscellanea Musicae. Rudolf Flotzinger zum 60. Geburtstag, hg. von Werner Jauk, Josef-Horst Lederer und Ingrid Schubert, Wien 1999 (= Musicologica Austriaca 18), 257–267. „‚Klavierradikalismus‘. Thomas Bernhard, Glenn Gould, und das Problem des Virtuosentums“, in: Die Musik, das Leben und der Irrtum – Thomas Bernhard und die Musik, hg. von Otto Kolleritsch, Wien 2000 (= Studien zur Wertungsforschung 37), 140–152. „‚Blühende Weizenwelten‘, erwachsen ‚am Baum des Martyriums‘: Zur Neruda-Rezeption in Allan Petterssons 12. Symphonie (‚Die Toten auf dem Marktplatz‘) und der Kantate ‚Vox humana‘“, in: Komposition als Kommu27

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nikation – Zur Musik des 20. Jahrhunderts. Festschrift für Peter Petersen zum 60. Geburtstag, hg. von Constantin Floros, Friedrich Geiger und Thomas Schäfer, Hamburg 2000, 239–255, Nachdruck in: Allan Pettersson Jahrbuch 2001, hg. von Michael Kube, Saarbrücken 2002, 65–82. „‚…durchweht von den erhebenden Hochgefühlen der Sängerfeste‘: Mahlers Achte im Spannungsfeld von Oratorien- und Symphonietradition“, in: Gustav Mahler und die Symphonik des 19. Jahrhunderts, hg. von Bernd Sponheuer und Wolfram Steinbeck, Frankfurt a. M. 2001 (= Bonner Schriften zur Musikwissenschaft 5), 101–112. „Jean Joseph Amiot and the Research on Chinese Music“, in: Mozart and Asia – A Global View to Mozart, hg. von Jürg Stenzl, Uta Starka und Karin Schamberger, Salzburg 2001, 26–29, 52–53, 85–86. „Venit dies magnus irae ipsorum: Zur Vision der Apokalypse in Krzystof Pendereckis ‚Dies irae‘ und ‚Polnisches Requiem‘“, in: Apokalypse, hg. von Carmen Ottner, Wien 2001 (= Studien zu Franz Schmidt 13), 281–290. „Venid a ver la sangre por las calles – kommt und seht das Blut auf den Straßen. Zur Neruda-Rezeption in Luciano Berios ‚Coro‘ und Allan Petterssons 12. Symphonie“, in: Stimme und Wort in der Musik des 20. Jahrhunderts, hg. von Hartmut Krones, Wien 2001 (= Wiener Schriften zur Stilkunde und Aufführungspraxis 1), 307–320. „Tradition und Innovation im Trio für Violine, Horn und Klavier in Es-Dur op. 40 von Johannes Brahms“, in: Johannes Brahms – Die Kammermusik. Studien zur musikalischen Hermeneutik, hg. von Gernot Gruber, Laaber 2001, 195–212. „‚Im Schatten von Sibelius‘? Traditionsbewusstsein und Innovation in der Musik von Sibelius’ Nachfolgegeneration“, in: Österreichische Musikzeitschrift 57/3–4 (2002), 20–28. „Exotismus – Verismus – Realismus“, in: Musiktheater im 20. Jahrhundert, hg. von Siegried Mauser, Laaber 2002 (= Handbuch der musikalischen Gattungen 14), Laaber 2002, 89–103. „Arnold Schönberg: ‚Von heute auf morgen‘“, in: Arnold Schönberg – Interpretationen seiner Werke, Bd. 1, hg. von Gerold Gruber, Laaber 2002, 482–503. „‚…the heart-wrenching sound of farewell‘. Mahler, Rückert, and the Kindertotenlieder“ [übersetzt von Irene Zedlacher], in: Mahler and his World, hg. von Karen Painter, Princeton 2002, 173–183. „Sprache als Signum kompositorischer Freiheit. Zu den Streichquartetten Elliott Carters“, in: Struktur und Freiheit in der Musik des 20. Jahrhunderts, hg. von Harmut Krones, Wien 2002 (= Wiener Schriften zur Stilkunde und Aufführungspraxis 2), 153–160. „‚Die blutumspülte Wurzel der dunklen Triebe […], auf die sich Liebe reimt‘ (Alfred Polgar). Zu Hugo Wolfs Symphonischer Dichtung ‚Penthesilea‘“, in: Österreichische Musikzeitschrift 58/1 (2003), 25–33.

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70. „‚…zum Denken und Empfinden in Klängen anregen‘. Die Klangsprache in den Orchesterwerken Gottfried von Einems“, in: Bericht über den Internationalen Gottfried von Einem-Kongreß Wien 1998, hg. von Ingrid Fuchs, Tutzing 2003, 377–394. 71. „Wien 1890: Jean Sibelius, Anton Bruckner, Carl Goldmark, Robert Fuchs“, in: Jean Sibelius und Wien, hg. von Hartmut Krones, Wien 2003 (= Wiener Schriften zur Stilkunde und Aufführungspraxis Sonderband 4), 15–21. 72. „‚Musik wie klares kaltes Wasser‘. Zu den Symphonien 5–7 von Jean Sibelius“, in: Jean Sibelius und Wien, 135–142. 73. „Die Gelbe Gefahr. Zum Mythos einer Gefährdung der westlichen Zivilisation durch den Fernen Osten und dessen Niederschlag im Musikschaffen des frühen 20. Jahrhunderts“, in: Ostasien zwischen den Weltkriegen, hg. von Walther Gebhard, München 2003, 289–310. 74. „‚…eine von Bildern ganz erfüllte Kunst der Worte‘. Mahlers ‚Lied von der Erde‘ und die Rezeption chinesischer Lyrik im frühen 20. Jahrhundert“, in: Gustav Mahler und das Lied, hg. von Bernd Sponheuer und Wolfram Steinbeck, Frankfurt a. M. 2003 (= Bonner Schriften zur Musikwissenschaft 6), 103– 119. 75. „Karl Goldmark’s Operas during the Directorship of Gustav Mahler“, in: The Great Tradition and its Legacy – The Evolution of Dramatic and Musical Theater in Austria and Central Europe, hg. von Michael Cherlin, Halina Filipowicz und Richard L. Rudolph, New York und Oxford 2003, 227–236. 76. „Musik in der Lebenswelt des Mittelalters“, in: Musicologica Austriaca 22 (2003), 9–11. 77. „Nachwuchsförderung an den Kunstuniversitäten“, in: Gegenwart und Zukunft der wissenschaftlichen Nachwuchsförderung, hg. von Josef Ehmer, Dietmar Goltschnigg, Peter Revers und Justin Stagl, Wien 2003, 177–192. 78. „‚…seine Kühnheit gedeiht in einer Sekurität‘ (Adorno). Zum sinfonischen und kammermusikalischen Frühwerk von Richard Strauss“, in: Gemurmel unterhalb des Rauschens. Theodor W. Adorno und Richard Strauss, hg. von Andreas Dorschel, Wien 2004 (= Studien zur Wertungsforschung 45), 108–130. 79. „‚Nachtmusik‘ als kompositorische Herausforderung. Aspekte des zeitgenössischen Salzburger Musikschaffens in Bezug auf Gustav Mahler“, in: Auf eigenem Terrain – Beiträge zur Salzburger Musikgeschichte. Festschrift Gerhard Walterskirchen, hg. von Andrea Lindmayr-Brandl und Thomas Hochradner, Salzburg 2004, 463–480. 80. „Bethge-Vertonungen im Liedschaffen des frühen 20. Jahrhunderts“, in: Die liebe Erde allüberall – Proceedings of Das Lied von der Erde – Symposium Den Haag 2002, hg. von Robert Becqué und Eveline Nikkels, Den Haag 2005, 128–146, Nachdruck in: Nachrichten zur Mahler-Forschung 51 (2004), 51–67. 29

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Peter Revers: Schriftenverzeichnis

81. „De loin: Zur Mittelalterrezeption im zeitgenössischen österreichischen Musikschaffen“, in: Kontinuiteta in avangarda med tradicijo in novimi izzivi / Continuity and the Avant-garde Between the Tradition and New Challenges, hg. von Primož Kuret, Ljubljana 2005, 101–113. 82. „‚Mir ist Musik wie Essen und Trinken‘. Hugo Wolfs Jugendlieder“, in: Stoletja glasben na Slovenskem / Centuries of Music in Slovenia, hg. von Primož Kuret, Ljubljana 2006, 248–257. 83. „W. A. Mozart: Lieder mit Klavier- und Mandolinenbegleitung“, in: Mozarts Kirchenmusik, Lieder und Chormusik, hg. von Thomas Hochradner und Günther Massenkeil, Laaber 2006 (= Mozart-Handbuch 4), 501–516. 84. „‚…very much reminiscent of improvisations in jazz‘. Zur kompositorischen Jazzrezeption in Werken Ernst Kreneks, Boris Blachers und Gottfried von Einems“, in: Jazzforschung / Jazz Research 38 (2006), 129–136. 85. „‚Ohne Anfang, ohne Ende, ohne Mitte‘ – Gedanken zum Verhältnis von Sprache und Musik in Hans Zenders Shir hashirim“, in: Muzikološki Zbornik / Musicological Annual 42/1 (2006), 35–48. 86. „‚And Pay in Currencies However Weird / to Hear ‚Sarastro‘ Booming Through his Beard‘. Changing Mozart-Images from the Late 18th to the 21st Centuries“, in: Franz Kerschbaumer: Festschrift zum 60. Geburtstag, hg. von Franz Krieger und Bernd Hoffmann, Graz 2007 (= Jazzforschung / Jazz Research 39), 293–305. 87. „‚Die Musik stirbt nicht an Blutarmut, sondern an Blutüberf luß‘ – Aspekte des Musikdenkens und Musikschaffens Arthur Honeggers“, in: Arthur Honegger, hg. von Ulrich Tadday, München 2007 (= Musik-Konzepte 135), 5–24. 88. „Jean-Joseph Marie Amiot in Beijing. Entdeckung und Erforschung chinesischer Musik im 18. Jahrhundert“, in: Musik und Globalisierung. Zwischen kultureller Homogenisierung und kultureller Differenz, hg. von Christian Utz, Saarbrücken 2007 (= musik.theorien der gegenwart 1), 50–58. 89. „W. A. Mozart: Die sinfonische Trias KV 543, KV 550 und KV 551 (‚Jupiter‘)“, in: Mozarts Orchesterwerke und Konzerte, hg. von Joachim Brügge und Claudia Knispel, Laaber 2007 (= Mozart-Handbuch 1), 98–148. 90. „W. A. Mozart: Die großen Klavierkonzerte II. KV 466, KV 467, KV 482, KV 488, KV 491, KV 503, KV 537 und KV 595“, in: Mozarts Orchesterwerke und Konzerte, 279–320. 91. „‚Duft lyrischer Versgebilde‘. Musik und Lyrik in Gustav Mahlers Das Lied von der Erde“, in: Gustav Mahler: Lieder, hg. von Ulrich Tadday, München 2007 (Musik-Konzepte 136), 95–112. 92. „Song and song-symphony (I). ‚Des Knaben Wunderhorn‘ and the Second, Third and Fourth Symphonies. Music of Heaven and Earth“ [übersetzt von Jeremy Barham], in: The Cambridge Companion to Mahler, hg. von Jeremy Barham, Cambridge 2007, 89–107. 30

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93. „Aspekte der Brahms-, Wolf- und Schubert-Rezeption im Liedschaffen Othmar Schoecks“, in: Das österreichische Lied und seine Ausstrahlung in Europa, hg. von Pierre Béhar und Herbert Schneider, Hildesheim, Zürich und New York 2007, 253–273. 94. „‚Tu parles à Dieu en musique: Il va répondre en musique‘. Die Musik als göttliche Gnade in Olivier Messiaens Saint Francois d’Assise“, in: Musiktheater der Gegenwart. Text und Komposition, Rezeption und Klangbildung. Mit einem Schwerpunkt: Die Salzburger Ur- und Erstaufführungen in Theater und Musiktheater, hg. von Jürgen Kühnel, Ulrich Müller und Oswald Panagl, Salzburg 2008 (= Wort und Musik 67), 170–179. 95. „Begründete die Camerata (Academica) eine ‚Salzburger Tradition‘ der Mozart-Interpretation?“, in: Mozarts letzte drei Sinfonien – Stationen einer Interpretationsgeschichte, hg. von Joachim Brügge, Wolfgang Gratzer und Thomas Hochradner, Freiburg i. Br. 2008 (= klang-reden 1), 241–257. 96. „‚Mysterious City / City of Pleasures‘ – Frederick Delius: Paris. The Song of a Great City“, in: Frederick Delius, hg. von Ulrich Tadday, München 2008 (= Musik-Konzepte 141/142), 117–138. 97. „‚no one can bear to lose the perfect archetype‘. Anmerkungen zur Symphonik Einojuhani Rautavaaras und Kalevi Ahos“, in: Multikulturelle und internationale Konzepte in der Neuen Musik, hg. von Hartmut Krones, Wien 2008 (= Wiener Schriften zur Stilkunde und Aufführungspraxis 4), 401–414. 98. „Wechselwirkungen zwischen europäischer und japanischer Musik im Schaffen Benjamin Brittens und Olivier Messiaens“, in: Multikulturelle und internationale Konzepte in der Neuen Musik, 501–513. 99. „‚… swim in the ocean that has no West and no East‘. Ästhetik und musikalisches Denken im Werk Toshiro Mayuzumis und Toru Takemitsus“, in: Multikulturelle und internationale Konzepte in der Neuen Musik, 543–556. 100. „‚Dieses Bild bezeigt, das in allem, was ist, ein Gott lebt‘. Gottesgedanke und Gottesbild in Arnold Schönbergs Oper ‚Moses und Aron‘“, in: Evidenz und Täuschung – Stellenwert, Wirkung und Kritik von Bildern, hg. von Michael Hofer und Monika Leisch-Kiesl, Bielefeld 2008, 95–107. 101. „‚… dieser Meteor Bruckner‘. Nikolaus Harnoncourt und die Wiener Philharmoniker am Beispiel der Sinfonien Anton Bruckners“, in: Ereignis Klangrede, hg. von Wolfgang Gratzer, Freiburg i. Br. 2009 (= klang-reden 3), 197–211. 102. „Jean Sibelius’ frühe Werke für Männerchor im Kontext der Kalevala-Rezeption und des Karelianismus“, in: Querstand – Beiträge zu Kunst und Kultur, Bd. 4, hg. von Marianne Betz, Linz 2009, 61–71. 103. „‚Vincent‘. Eine Apotheose – für die Kunst. Anmerkungen zu Einojuhani Rautavaaras gleichnamiger Oper“, in: Wiener Musikgeschichte. Annäherungen – Analysen – Ausblicke. Festschrift für Hartmut Krones, hg. von Julia Bungardt, Maria Helfgott, Eike Rathgeber und Nikolaus Urbanek, Wien 2009, 693–700. 31

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104. „‚Paris! Paris m’appelle!‘: Gustave Charpentiers Louise und Frederick Delius’ Paris. Komponierte Großstadtbilder in der Zeit um 1900“, in: Querstand – Beiträge zu Kunst und Kultur, Bd. 5, hg. von Marianne Betz, 2010, 59–68. 105. „‚Durch Größe und Reichtum der Erfindung hingerissen‘. Anton Bruckner und Gustav Mahler, in: „leider bleibe ich ein eingef leischter Wiener“ – Gustav Mahler und Wien [Katalog zur Ausstellung im Österreichischen Theatermuseum], hg. von Reinhold Kubik und Thomas Trabitsch, Wien 2010, 102–107. 106. „Achte Symphonie“, in: Mahler-Handbuch, hg. von Bernd Sponheuer und Wolfram Steinbeck, Kassel und Stuttgart 2010, 329–342. 107. „Das Lied von der Erde“, in: Mahler-Handbuch, 343–361. 108. „‚[…] Das eigentliche Kunstwerk besteht doch in der Vereinigung der Künste‘. Aspekte musikalischer Dramaturgie im Werk Mahlers“, in: Österreichische Musikzeitschrift 65/3–4 (2010), 23–34. 109. „Angst im Musiktheater des frühen 20. Jahrhunderts“, in: Angst: Lähmender Stillstand und Motor des Fortschritts, hg. von Dietmar Goltschnigg, Tübingen 2012, 347–352. 110. „Die Hommage-Kompositionen der Societé Internationale de Musique (S.I.M.) zur Haydn-Zentenarfeier 1909 (Hahn, Widor, d’Indy, Dukas, Ravel, Debussy)“, in: Aspekte der Haydn-Rezeption, hg. von Joachim Brügge und Ulrich Leisinger, Freiburg i. Br. 2011, 157–174. 111. „Frühe Lieder für Singstimme und Klavier“, in: Gustav Mahler. Interpretationen seiner Werke, Bd. 1, hg. von Peter Revers und Oliver Korte, Laaber 2011, 57–67. 112. „Die Suggestion von Ewigkeit im Musikschaffen des 19. und 20. Jahrhunderts“, in: Phänomen Zeit – Dimensionen und Strukturen in Kultur und Wissenschaft, hg. von Dietmar Goltschnigg, Tübingen 2011, 339–342. 113. „‚Mahler reproduzierte nicht, er organisierte das Kunstwerk‘. Die Achte Symphonie als Mahlers ‚Gesamtkunstwerk‘“, in: „Was mir die Engel erzählen…“ – Mahlers traumhafte Gegenwelten, hg. von Ute Jung-Kaiser und Matthias Kruse, Hildesheim 2011 (= Wegzeichen Musik 6), 115–134. 114. „‚Lyrik zum Die-Pulsader-Aufschneiden‘ – Aspekte der Lorca-Rezeption in Isabel Mundrys Panorama ciego und Nocturno“, in: Isabel Mundry, München 2011 (= Musik-Konzepte Sonderband), 103–126. 115. „‚A Work of Art of Higher Artistic Order‘. The Eighth as Mahler’s ‚Gesamtkunstwerk‘: A Symphony for the Masses?“, in: The Total Work of Art. Mahler’s Eighth Symphony in Context, hg. von Elisabeth Kappel, Wien 2011 (= Studien zur Wertungsforschung 52), 214–224. 116. „‚Zur Einsamkeit! – Da schaffe deine Welt‘. Aspekte der Einsamkeitserfahrung im Lied von der Erde“, in: Weltenspiele – Musik um 1912, hg. von Ute Jung-Kaiser und Matthias Kruse, Hildesheim 2012, 113–132. 32

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117. „‚... bizarr, wie chinesisch‘. Falsche Töne? Falsches Hören? Falsche Ausgaben?“, in: Exzellenz durch differenzierten Umgang mit Fehlern. Kreative Potenziale beim Musizieren und Unterrichten, hg. von Silke Kruse-Weber, Mainz 2012, 189–200. 118. „‚... das eigentliche Kunstwerk besteht doch in der Vereinigung der Künste‘. Aspekte musikalischer Dramaturgie in Mahlers ‚Das klagende Lied‘“, in: Das klagende Lied: Mahlers „Opus 1“. Synthese, Innovation, kompositorische Rezeption, hg. von Elisabeth Kappel, Wien 2013 (= Studien zur Wertungsforschung 54), 9–23. 119. „Plagiate in der Musik. Urheberrechtsverstöße und/oder Grenzfälle“, in: Plagiat, Fälschung, Urheberrecht im interdisziplinären Blickfeld, hg. von Dietmar Goltschnigg, Charlotte Grollegg-Edler und Patrizia Gruber, Berlin 2013, 147–152. 120. „Johannes Brahms: Fünf Gedichte für eine Singstimme mit Klavier, op. 19“, in: Johannes Brahms. Interpretationen seiner Werke, Bd. 1, hg. von Claus Bockmaier und Siegfried Mauser, Laaber 2013, 129–134 121. „Fünf Lieder für eine Singstimme mit Klavier, op. 49“, in: Johannes Brahms. Interpretationen seiner Werke, Bd. 1, 333–339. 122. „Sechs Lieder für eine tiefere Stimme mit Klavier, op. 86“, in: Johannes Brahms. Interpretationen seiner Werke, Bd. 2, hg. von Claus Bockmaier und Siegfried Mauser, Laaber 2013, 617–625. 123. „Die Streichquartette von Jean Sibelius – eine Gattung?“, in: Facetten I: Symposium zur Kammermusik von Jean Sibelius, zum Liederkomponisten Max Kowalski und zur Liszt-Rezeption, hg. von Joachim Brügge und Josef Berghold, Tutzing 2014 (= Musikwissenschaftliche Schriften der Hochschule für Musik und Theater München 6), 89–105. 124. „‚Te lucis ante terminum‘ und ‚Custodes hominum‘. Zur Relation von mittelalterlichem Hymnus und japanischem Nō-Theater in Benjamin Britten’s ‚Curlew River‘“, in: Cantare amantis est. Festschrift zum 60. Geburtstag von Franz Karl Praßl, hg. von Robert Klugseder und Elise Madl, Purkersdorf 2014, 311–323. 125. „Einsamkeit – Abschied – Globalisierung. Gustav Mahlers ‚Das Lied von der Erde‘ als Signum kultureller Empathie in der Vorkriegszeit“, in: 1914 – Ein Jahrhundert entgleist, hg. von Liu Wei und Andreas Kurz, Wien 2015 (= Österreichische Literatur in China 3), 37–53. 126. „‚Warm leuchtet das Leben, kalt starrt der Tod‘. Symbolistische und exotistische Tendenzen in Carl Orffs Jugendwerk“, in: Text, Musik, Szene – Das Musiktheater von Carl Orff, hg. von Thomas Rösch, Mainz 2015, 11–24. 127. „Ausgewählte Aspekte einer Interpretationsgeschichte der Streichquartette W. A. Mozarts“, in: Zur Interpretation von W. A. Mozarts Kammermusik, hg. von Joachim Brügge, Freiburg i. Br. 2015 (= klang-reden 14), 155–196. 33

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128. „‚[…] he would never complete a composition‘. Gustav Mahler’s Piano Quartet – An Unfinished Project“, in: Naturlauf. Scholarly Journeys Toward Gustav Mahler. Essays in Honour of Henry-Louis de La Grange for his 90th Birthday, hg. von Paul-André Bempéchat, New York 2016, 471–501. 129. „Im ‚Othello‘ trägt er [Dvořák] eine Maske, die bald an Liszt, bald an Wagner erinnert!“, in: „If music be the food of love“. Shakespeare in der Instrumentalmusik des 19. Jahrhunderts, hg. von Laurenz Lütteken, Kassel 2016, 177–194. 130. „‚Die Wirkung hervorbringen, die der Komponist gewollt hat.‘ Über Gustav Mahler, Richard Strauss und Max Reger als Komponisten-Dirigenten“, in: Komponieren & Dirigieren. Doppelbegabungen als Thema der Interpretationsgeschichte, hg. von Alexander Drčar und Wolfgang Gratzer, Freiburg i. Br. 2017 (= klang-reden 16), 133–158. 131. „Liszt – Mozart – Thalberg. Aspekte der Mozartrezeption in den Klaviertranskriptionen von Franz Liszt“, in: Franz Liszt – Paraphrasen, Transkriptionen und Bearbeitungen, hg. von Klaus Aringer, Sinzig 2017, 135–151. 132. „Gustav Mahler’s Eight Symphony and Max Reinhardt’s Concept of ‚Massenregie‘“, in: Rethinking Mahler, hg. von Jeremy Barham, Oxford 2017, 203– 216. 133. „‚Wenn meine bescheidenen Compositionen dazu beitragen könnten, den Namen der vertonten Poeten zur gerechten Würdigung von Seite des für gewöhnlich nicht lyrische Gedichte lesenden Publikums zu verhelfen, so wäre niemand glücklicher als ich.‘ Zum Verhältnis von Gedicht und Vertonung im Liedschaffen von Richard Strauss“, in: Richard-Strauss-Jahrbuch, hg. von Oswald Panagl und Matthew Werley, Wien 2017, 101–113. 134. „‚…man hörte die Klänge des Walzers ‚An der schönen blauen Donau‘‘. Johann Strauss’ Donauwalzer im Lichte der Literatur des 20. Jahrhunderts“, in: „Kosmisches Arkadien“ und „Wienerische Schlampigkeit“. Johann Strauss (Sohn). An der schönen blauen Donau, op. 314 – Studien zur Rezeptions- und Interpretationsgeschichte, hg. von Joachim Brügge, Freiburg i. Br. 2018 (= klang-reden 21), 125–135. 135. „‚I think there is a great tragedy in Mahler, and a great tragic sense!‘. Herbert von Karajan direttore mahleriano“, in: L’arte di Karajan. Un percorso nella storia dell’interpretazione, hg. von Alberto Fassone, Lucca 2018, 349–364.

4. Lexikonartikel 1.

„Komische Oper“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, zweite Auf lage, hg. von Ludwig Finscher (im Folgenden: MGG2), Sachteil, Bd. 5, Kassel und Stuttgart 1996 Sp. 486–505 [Kapitel 20. Jahrhundert, Sp. 500–505, zusammen mit Wolfgang Ruf ] [MGG-Online 2016, https://www.mgg-online. com/mgg/stable/15522 (1.2.2019)].

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2.

„Berger, Theodor“, in: MGG2, Personenteil, Bd. 2, 1999, Sp. 1263–1264 [MGGOnline 2016, https://www.mgg-online.com/mgg/stable/19350 (1.2.2019)]. 3. „Dessauer, Joseph“, in: MGG2, Personenteil, Bd. 5, 2001, Sp. 907–908 [MGGOnline 2016, https://www.mgg-online.com/mgg/stable/22046 (1.2.2019)]. 4. „Ekmelik“, in: Österreichisches Musiklexikon, Bd. 1, hg. von Rudolf Flotzinger, Wien 2002, 375–376, http://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_E/Ekmelik. xml (1.2.2019). 5. „Exotismus“, in: Österreichisches Musiklexikon, Bd. 1, 408–409, http://www. musiklexikon.ac.at/ml/musik_E/Exotismus.xml (1.2.2019). 6. „Hummel, Ferdinand“, in: MGG2, Personenteil, Bd. 9, 2003, Sp. 502–503. [MGGOnline 2016, https://www.mgg-online.com/mgg/stable/27061 (1.2.2019)] 7. „Lieder mit Klavier- und Mandolinenbegleitung“, in: Mozart-Lexikon, hg. von Gernot Gruber und Joachim Brügge, Laaber 2005, 386–390. 8. „Wimberger, Gerhard“, in: MGG2, Personenteil, Bd. 17, 2007, Sp. 1005–1006 [minor revision MGG-Online 2017, https://www.mgg-online.com/mgg/ stable/47936 (1.2.2019)] 9. „Kornauth, Egon“, in: MGG2, Supplement, 2008, Sp. 434–435 [MGG-Online 2016, https://www.mgg-online.com/mgg/stable/18532 (1.2.2019)]. 10. „Revers, Peter“, in: MGG2, hg. von Ludwig Finscher, Supplement, 2008, Sp. 745–746 [MGG-Online 2016, https://www.mgg-online.com/mgg/stable/ 15117 (1.2.2019)]. 11. „Österreich“ [zusammen mit Rudolf Flotzinger, Walter Deutsch und Margarethe Maierhofer-Lischka], in: MGG-Online 2016 (Major Update), https:// www.mgg-online.com/mgg/stable/11677 (1.2.2019).

5. Edition 1.

Gustav Mahler. Lieder und Gesänge aus Des Knaben Wunderhorn, Kritische Gesamtausgabe Bd. XIII/2a, Mainz 1992.

6. Übersetzungen (aus dem Englischen) 1.

2. 3.

Stephen Hef ling, „Zweite Symphonie“, in: Gustav Mahler. Interpretationen seiner Werke, Bd. 1, hg. von Peter Revers und Oliver Korte, Laaber 2011, 210–288 (zusammen mit Daniel Revers). Stephen Hefling, „Das Lied von der Erde“, in: Gustav Mahler. Interpretationen seiner Werke, Bd. 2, hg. von Peter Revers und Oliver Korte, Laaber 2011, 205–293. David Pickett, „‚Ich muß aus dem Gefühl der Selbsterhaltung heraus und der Achtung vor mir selbst Konzerte dirigieren‘ – Über Mahlers schöpferische Aktivitäten im Konzertsaal: Repertoire und Quellen“, in: Gustav Mahler. Interpretationen seiner Werke, Bd. 2, 428–484. 35

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Wolfgang Gratzer

In vollen Zügen Über einige Weichenstellungen zwischen Bahn- und Musikgeschichte Wolfgang Gratzer Die Österreichischen Bundesbahnen hätten allen Grund, anlässlich des 65. Geburtstages von Peter Revers einen Sonderzug einzuplanen, gehört doch der allseits geschätzte Kollege und Freund zur seltenen Spezies lebenslang treuer Bahnkunden. Mit dem Wahlsalzburger seit nunmehr rund 35 Jahren bekannt und verbunden durch Tagungs- bzw. Buchprojekte, das gemeinsame Interesse an transkulturellen Formen neuerer Musik sowie gelegentliche Konzertbegegnungen in der Proszeniumsloge im Großen Saal der Stiftung Mozarteum, teile ich Lust und Laster dieser Bahnleidenschaft. Dass die Gleise der von ihm über Jahrzehnte regelmäßig frequentierten Strecken Salzburg–Graz und Salzburg–Wien jeweils genau 317 Kilometer lang sind, dürfte ihm bewusster sein als anderen Reisenden in Sachen Musikwissenschaft. Ob er die Summe seiner bisher zurückgelegten Bahnkilometer kennt? Jedenfalls ist der stets ernsthafte und bei passender Gelegenheit humorvolle Jubilar nahezu Woche für Woche mit der Bahn unterwegs. Folgende Varia zum Thema mögen auf kurzweilige Weise künftige Bahnfahrten begleiten und zur Freude an diesen beitragen.

Unterwegssein als Chance Die Art der Fortbewegung blieb in frühen musikgeschichtlichen Reisezeugnissen oftmals gar nicht oder nur kursorisch erwähnt. Reisen als solche wurden hingegen oftmals der Rede wert befunden. Mühseligen Begleiterscheinungen und Konf likten mit Sesshaften, die auf die Mobilität anderer unverständig reagierten, zum Trotz: Dass dem Unterwegssein überwiegend positive Eigenschaften nützlicher Lernerfahrungen zugeschrieben wurden, zeigen Belege vieler Epochen. Zu diesen gehören die spätmittelalterliche Bemerkung des Oswald von Wolkenstein (1377– 1445), er habe ab dem zehnten Lebensjahr erfahren wollen, „wie die werlt wer gestalt“,1 oder etliche einschlägige Bemerkungen in Briefen der Familie Mozart: Zwar erwähnte Wolfgang Amadeus Mozart nirgendwo, dass seine (Kutschen-) 1

Zit. nach Max Siller, „Die Ausbildung eines jungen Ritters: Kindheit und Jugend Oswald von Wolkensteins“, in: Oswald von Wolkenstein. Leben, Werk, Rezeption, hg. von Ulrich Müller und Margarethe Springeth, New York 2011, 64–76, hier 69; vgl. hierzu Oswald von Wolkensteins von verschiedenen (teils fiktiven) Reisen kündendes Klagelied „Durch Barbarei, Arabia“, in: Lieder. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Auswahl, hg., übersetzt und erläutert von Burghart Wachinger, Stuttgart 1980, 68–73.

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In vollen Zügen

Reisen durch Europa in Summe beachtliche zehn Jahre, zwei Monate und acht Tage dauerten;2 wohl aber hielt er am 11. September 1778 in einer in Paris abgefassten Nachricht an den Vater fest, wie engstirnig ihm der Unmut des Salzburger Erzbischofs über regelmäßige beruf liche Reiseaktivitäten erschien: Denn ich versichere Sie, ohne Reisen (wenigstens Leute von Künsten und Wissenschaften) ist man wohl ein armseliges Geschöpf, und versichere Sie, daß, wenn der Erzbischof mir nicht erlaubt, alle zwei Jahr eine Reise zu machen, ich das Engagement ohnmöglich annehmen kann. Ein Mensch von mittelmäßigem Talent bleibt immer mittelmäßig, er mag reisen oder nicht, aber ein Mensch von superieurem Talent (welches ich mir selbst, ohne gottlos zu sein, nicht absprechen kann) wird schlecht, wenn er immer in dem nämlichen Ort bleibt. 3

Wer nicht die Chance hatte, ähnlich Mozart die Lernvorteile und Karrierechancen des Reisens zu nützen, konnte sich immerhin indirekt über Reiseberichte ein Bild machen. Die im Cambridge Companion to Travel Writing vermittelte, auf imposante Weise interkulturell gestaltete Geschichte sogenannter „Reiseliteratur“4 und deren theoretische Grundierung ist unter anderem als Zeichen jener Faszination zu verstehen, die von Reisen – und auch von Reiseerzählungen anderer – ausgehen kann. Entstehen, Inhalt und Rezeptionsgeschichten von Meshullam da Volterras Bericht über seine sogenannte Orientreise von 14815 oder Charles Burneys zur Zeit Mozarts verfasste Kultur- bzw. Musikreise-Tagebücher 6 sind zwei Beispiele hierfür. 2

3 4 5 6

Vgl. Rudolph Angermüller, „Die 17 Reisen des Wolfgang Amadeus“, in: Wolfgang Amadeus: Summa summarum. Das Phänomen Mozart. Leben, Werk, Wirkung, hg. von Peter Csobádi, Wien 1990, 20–26, hier 20; Daniel Brandenburg, „Reisen“, in: Das Mozart-Lexikon, hg. von Gernot Gruber und Joachim Brügge, Laaber 2005 (= Das Mozart-Handbuch 6), 607–613. Zit. nach der von der Internationalen Stiftung Mozarteum erarbeiteten Edition Mozart Briefe und Dokumente, http://dme.mozarteum.at/DME/briefe/letter.php?mid=1051&cat=2 (3.2.2019). Vgl. Peter Hulme / Tim Youngs (Hg.), The Cambridge Companion to Travel Writing, Cambridge 2002, 1: „Travel has recently emerged as a key theme for the humanities and social sciences, and the amount of scholarly work on travel writing has reached unprecedented levels.“ Meshullam da Volterra, Von der Toscana in den Orient. Ein Renaissance-Kaufmann auf Reisen, aus dem Hebräischen übersetzt, kommentiert und eingeleitet von Daniel Jütte, Göttingen 2012. Charles Burney, The Present State of Music in France and Italy, London 1771, dt. Carl Burney’s der Musik Doctors Tagebuch einer musikalischen Reise durch Frankreich und Italien welche er unternommen hat um zu einer allgemeinen Geschichte der Musik Materialien zu sammeln. Aus dem Englischen übersetzt von C. D. Ebeling, Hamburg 1772, sowie ders., The Present State of Music in Germany, the Netherlands, and United Provinces, 2 Bde., London 1773, dt. Carl Burney’s der Musik Doctors Tagebuch seiner musikalischen Reisen. Zweyter Band. Durch Flandern, die Niederlande und am Rhein bis Wien. Aus dem Englischen übersetzt [von Johann Joachim Christoph Bode], Hamburg 1773; Carl Burney’s der Musik Doctors Tagebuch seiner musikalischen Reisen. Dritter Band. Durch Böhmen, Sachsen, Brandenburg, Hamburg und Holland. / Aus dem Englischen übersetzt [von Johann Joachim Christoph Bode]. Mit einigen Zusätzen und Anmerkungen zum zweyten und dritten Bande, Hamburg 1773.

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Zusätzliche Impulse erhielt solche Reiseliteratur durch die Entwicklung der Verkehrsmöglichkeiten seit dem 19. Jahrhundert: Fahrrad, Eisenbahn, Flugzeug, Auto usw. regen bis heute zu Reiseschilderungen diverser Text- und Bildsorten an, hinzu kommen akustische Hörbilder verschiedener Art. Individualreisen und Massentourismus sind nur zwei Facetten eines überaus breit und alltäglich gewordenen Spektrums sogenannter Mobilität in Beruf und Freizeit. Oswald von Wolkensteins Klage über den als mühsam und ernüchternd einschränkend dargestellten Verbleib an einem Ort hätte im Wissen um diese Möglichkeiten wohl noch deutlich an Schärfe gewonnen …

Eisenbahn- und Musikgeschichte Für Mozart und seine Zeitgenossen wohl schwerlich wahrnehmbar, fanden ab 1769 Experimente statt, die wichtige Voraussetzungen boten, um das Verkehrswesen zu revolutionieren.7 Als Erfinder der ersten, zunächst auf Straßen bewegten Dampfmaschinen betätigte sich vor allem der französische Offizier NicolasJoseph Cugnot (1725–1804); dem britischen Maschinenbauer Richard Trevithick (1771–1833) gelang es ab 1804, die mittlerweile modifizierten Fahrzeuge ‚auf Schiene‘ zu bringen, und zwar mit zunächst 25 km/h Höchstgeschwindigkeit. Manche Streckenabschnitte zwischen Salzburg und Graz erlauben noch heute dieses Reisegefühl. Das Tempo der weiteren Entwicklung zeigt sich in der Chronologie sukzessive eröffneter, öffentlicher Bahnlinien: in England ab 1825, in Österreich und Frankreich ab 1828, in den USA ab 1829, in Deutschland ab 1835. Privat betriebene Bahnen kamen bereits früher zum Einsatz, in Österreich etwa ab 1824; teilweise wurden hierfür Pferdebahnen umgebaut. Wie sehr die Eisenbahn das Leben zu verändern begann, zeigt sich auch in verstreuten musikgeschichtlichen Dokumenten. So entwickelte beispielsweise Antonín Dvořák (1841–1904) – als Zehnjähriger Zeuge der Einweihungszeremonie der Bahn im seinem Geburtsort Nelahozeves, zudem angeregt von Bahnfahrten in England – eine merkliche Leidenschaft und Expertise in Fragen des Lokomotivbaus. 8 Andere, durchwegs weniger bekannte Komponisten sicherten sich bei den Eisenbahngesellschaften vorübergehend ihren Broterwerb. Ein Beispiel aus Österreich: Der aus Linz gebürtige, eine Zeit lang in den USA lebende Musiker, Maler und Dichter Franz Hölzlhuber (1826–1898) bezog sein Einkommen ab 7

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Vgl. zu den folgenden Angaben die Übersichtsdarstellungen: Hans-Henning Gerlach, Atlas zur Eisenbahn-Geschichte, Deutschland, Österreich, Schweiz, Zürich 1986; Ralf Roman Rossberg, Geschichte der Eisenbahn, Künzelsau 1999; Ralf Roth, Das Jahrhundert der Eisenbahn. Die Herrschaft über Raum und Zeit 1800–1914, Ostfildern 2005; Patrick O’Brien, The New Economic History of the Railways, Abingdon 2014; Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert [1977], Frankfurt a. M. 62015. Vgl. Klaus Döge, Dvořák. Leben – Werk – Dokumente, Zürich 21997, 12.

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1867 als Eisenbahnbeamter und später als Bibliothekar des Eisenbahn-Museums in Wien.9 Der Wiener Neustädter Gesangskomiker Richard Waldemar (1869–1946) wiederum fand neben seiner hauptberuf lichen Tätigkeit bei der Eisenbahn Zeit, um Schauspielunterricht zu nehmen, und konnte sich ab 1890 ganz auf die Bühnenkarriere konzentrieren.10 Erst in Ansätzen bekannt ist die Liste jener musikalisch aktiven Eisenbahner-Vereine, wie diese in Österreich gegründet wurden, etwa 1914 in Graz („Eisenbahner-Musikverein Graz“) und 1921 in Hallein/Salzburg („EisenbahnMusikkapelle“).11 Derartige Gruppierungen suchten in der Regel auch die Öffentlichkeit; so veranstaltete der „Gesangsverein der österreichischen Eisenbahnbeamten“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Wiener Sophiensälen Faschingsfeste.12 Doch berühren sich Bahngeschichte und musikalische Aufführungspraxis nicht alleine hier: Die Entwicklung karriereträchtigen Virtuosentums in den Konzertsälen verdankt sich neben verschiedenen anderen Umständen auch der sukzessiven technischen Optimierung der Bahn. Zu denken wäre etwa an die – grob skizziert – immer dichteren Tourneekalender, welche beispielsweise das Leben des Komponisten und Musikers Paul Hindemith mitbestimmten. Als Dirigent der Berliner Philharmoniker besuchte der Vielreisende den Konzertsaal an der Hardenbergstraße so oft, dass dieser im Volksmund den Namen „Bahnhof Hindemith“ erhielt.13 Dieses sprachliche Denkmal war aber nicht nur aufgrund der intensiven Bahnreisetätigkeit des Musikers gut gewählt. Die Schweizer Cembalistin Silva Kind lernte Hindemith noch vor dessen Emigration kennen und beschrieb seine auch für Gäste unverkennbare Leidenschaft für Modellbahnen so: Er besaß damals 300 Meter Schienen, die raffiniertesten elektrischen Bahnen mit Fernweichen und Signalen. Sonntags konnte er sich hinsetzen und einen minutiösen Fahrplan ausarbeiten, der jedem Stationsvorstand Ehre gemacht hätte. Die Stunden im Normalbetrieb galten Minuten, die Minuten Sekunden. Wenn die Mitwirkenden bei einander waren, wurde einen halben Tag durch drei Zimmer hindurch aufgebaut. Nachmittags ging es los; jeder bekam einen Fahrplan und eine Stoppuhr und mußte einen Zug bedienen, der genau die angegebenen Halte- und Ausweichstellen einhalten und zur richtigen Sekunde ankommen mußte. Frau Hindemith erzählte, daß oft morgens um 2 oder 3 Uhr die Männer (beson9

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Barbara Boisits, „Old Austria meets the New World: The Painter, Writer and Musician Franz Hölzlhuber (1826–1898)“, in: Ports of Call. Central European and North American Culture/s in Motion, hg. von Susan Ingram, Markus Reisenleitner und Cornelia Szabó-Knotik, Frankfurt a. M. 2003, 3–32. Vgl. Uwe Harten, „Richard Waldemar“, in: Österreichisches Musiklexikon, hg. von Rudolf Flotzinger (im Folgenden oeml), Bd. 5, Wien 2006, 2578. Thomas Hochradner, „Hallein“, in: oeml, Bd. 2, Wien 2003, 667–670, hier 670. Stefan Schmidl, „Sophiensäle“, in: oeml, Bd. 5, Wien 2006, 2553–2554, hier 2553. Vgl. http://www.hindemithberlin.de/hindemith.htm (3.2.2019).

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Wolfgang Gratzer ders wenn Artur Schnabel – auch ein großer Eisenbahnverrückter – dabei war) erschöpft und bleich bei ihr um einen Schnaps baten.14

Die erhaltenen Schaltpläne lassen die gestalterische Freude am Modelleisenbahnbau zumindest erahnen, ebenso Hindemiths Wehmut, als dieser aus Deutschland emigrierte und seine Anlage notgedrungen verkaufen musste.15 Hindemith machte sich die Bahnfahrten auch als Komponist zunutze: seine Sonate für Bratsche allein o. op. entstand 1937 nachweislich im Einzelabteil eines Zuges nach Chicago.16 Diese Situation war für Hindemith nicht wirklich neu, war er doch bereits 15 Jahre davor in der Situation gestanden, eine Zugfahrt für die Fertigstellung eines Werkes in letzter Minute zu nützen. Am 17. März 1922 erfuhr sein Verleger: „Morgen spiele ich eine neue Solobratschensonate von mir, die heute allerdings noch nicht ganz fertig ist; ich muss in der Bahn noch zwei Sätze komponieren.“17 In sein Werkverzeichnis trug Hindemith diese erstaunliche Begebenheit mit lapidarer Wortwahl ein: „Die Sätze I und V habe ich im Speisewagen zwischen Frankfurt und Köln komponiert und bin dann gleich aufs Podium und habe die Sonate gespielt.“18 Herbert von Karajan wiederum lebte diese Technikbegeisterung nach 1945 auf etwas andere Weise aus: Er gab schnellen Autos und Flugzeugen zunehmend den Vorzug und posierte vor und in diesen; die Rede vom sogenannten Jetset-Musiker wurde von entsprechenden Fotos wohl maßgeblich bef lügelt.19

Titel-Bezüge Parallel zum rasanten Aufschwung des Personen- und Güterverkehrs auf Schiene im 19. Jahrhundert mehren sich einschlägige literarische und bildnerische Arbeiten. In der Musik reicht die Werkliste mindestens in das Jahr 1829 zurück, als der Wiener Komponist und Geiger Joseph Lanner (1801–1849) beim Verlag Pietro Mechetti seinen Ankunfts-Walzer op. 34 herausbrachte. 20 Der Erfolg dieses Stücks dürfte gegeben gewesen sein, jedenfalls erschien 1835 beim selben Verlag Lanners 14 Zit. nach [Anonymus], „Unbekannter Hindemith“, in: Homepage des Hindemith-Instituts Frankfurt a. M., archiviert unter http://archive.li/jRHi7 (3.2.2019). 15 Vgl. Heinz-Jürgen Winkler, „Hindemith und die Eisenbahn“, in: Hindemith-FORUM 4 (2001), 3–5, samt weiteren Abbildungen zu Hindemiths Eisenbahn-Leidenschaft im selben Heft, https:// www.hindemith.info/fileadmin/hindemith-forum/hf_4_2001.pdf (3.2.2019). 16 Vgl. Hermann Danuser, „Einführung“, in: Paul Hindemith, Streicherkammermusik, Bd. 2 (= Paul Hindemith. Sämtliche Werke 5), hg. von Hermann Danuser, Mainz 1993, IX–XXIII, hier XX–XXI. 17 Zit. nach Über Hindemith: Aufsätze zu Werk, Ästhetik und Interpretation, hg. von Susanne Schaal und Luitgard Schader, Mainz 1996, 114. 18 Zit. nach ebd. 19 Vgl. die Bilddokumente in Helmut-Maria Glogger, „Ein Leben auf der Überholspur“, in: Du: Die Zeitschrift der Kultur 845 (2014), 88–97. 20 Vgl. Wolfgang Dörner, Joseph Lanner. Werkverzeichnis, http://www.josephlanner.org/upload/ werkverzeichnis (3.2.2019).

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fast zehnminütiger Dampf-Walzer op. 94. Lanners Werke fanden rasch Nachfolger; etliche Walzer-, Galopp- und Polka-Kompositionen förderten alleine durch ihre Titel Assoziationen zur Eisenbahn, wobei viele dieser Beiträge zu diesen populären Tanzgattungen in raschem Tempo auf plakative lautmalerische oder rhythmische Anknüpfungspunkte an die Klangwelt der Bahn verzichten konnten. Dieser Tradition ist übrigens auch der dänische Militärkapellmeister Christian Hans Lumbye (1810–1874) zuzurechnen: Er präsentierte seine Werke gerne in „Concerts à la Strauss“ und zeigte sich tatsächlich deutlich von der Wiener Tradition beeinf lusst;21 1847 setzte er anlässlich der Eröffnung der ersten dänischen Bahnlinie seinen Kjøbenhavns Jernbane-Damp-Galop (Kopenhagen EisenbahnDampf-Galopp) in Bewegung. Ähnliche Anlässe motivierten zahlreiche Musiken. Johann Strauss Vaters festlicher Eisenbahn-Lust-Walzer op. 89 (1836; Bsp. 1), kurze Zeit später von Carl Czerny variiert (Bsp. 2); Eduard Strauss’ (1835–1916) Polka schnell Bahn frei op. 45 (1869); oder Carl-Michael Zierers (1843–1922) ursprünglich Rückwärts fertig! betitelte Polka française Nachtschwalbe op. 417 (1890): Dies sind einige ältere Beispiele für diese langlebige Tradition der Unterhaltungsmusik. Das Lied vom Schlafcoupé (Bsp. 3), Teil von Leo Falls 1908 überaus erfolgreich uraufgeführter Operette Die geschiedene Frau und in mehreren populären Bearbeitungen verselbstständigt, wird dank des Textes von Victor Léon zu einer schwärmerisch-ironischen Hymne auf das Schlafabteil, ohne musikalisch signifikante Anleihen an Zuggeräuschen zu nehmen. (Die englische Uraufführung derselben Operette fand übrigens 1910 unter dem Titel The Girl in the Train statt. 22) In vergleichbarer Weise kam das erstmals 1853 in Württemberg publizierte, später in zahlreichen Textvarianten neu aufgelegten Volkslied Auf der Schwäb’schen Eisenbahne ohne musikalische Imitation von Bahngeräuschen aus;23 die Melodie dieses mehrfach beforschten Volksliedes geht vielmehr auf ein 1850 in Basel veröffentlichtes Soldatenlied zurück. 24 In der Pop- und Folkwelt der letzten Jahrzehnte überwiegt eine ähnlich lose Verbindung, etwa bei Hedy Wests Folksong 500 Miles Away from Home (LP The Journeyman, veröffentlicht 1961), in der deutschen Cover-Version von Peter Beil Und dein Zug fährt durch die Nacht betitelt (1963). Auch in Cat Stevens Peace Train (LP Teaser and the Firecat, 1971), Christian Anders’ Es fährt ein Zug nach nirgendwo 21 Vgl. Sigurd Berg, „Hans Christian Lumbye“ [2001], in: Grove Music Online, https://doi.org/10.1093/ gmo/9781561592630.article.17163 (3.2.2019). 22 Vgl. Andrew Lamb, „Leo(pold) Fall“ [2001], in: Grove Music Online, https://doi.org/10.1093/gmo/ 9781561592630.article.09265 (19.1.2019). 23 Vgl. u. a. Katja Moser-Zours / Andrea Liebers, Auf der Schwäb’schen Eisenbahn, Leinfelden-Echterdingen 2002; Thomas Brune / Heike Gall, „Auf Schienen durch bürgerliche Seelenlandschaften. Karikaturen in den Fliegenden Blättern“, in: Zug der Zeit – Zeit der Züge. Deutsche Eisenbahnen 1835–1985 [Ausstellungskatalog], hg. von Harm-Hinrich Brandt, Berlin 1985, 461. 24 Vgl. Moser-Zours / Liebers, Auf der Schwäb’schen Eisenbahn, 29.

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Beispiel 1: Johann Strauss (Vater), Eisenbahn-Lust-Walzer op. 89 [bearbeitet] für Piano-Forte, Wien 1836, Introduction [S. 3].

Beispiel 2: Carl Czerny, Eisenbahn-Variationen über Johann Strauss’ beliebten Eisenbahn-Lust-Walzer für das Piano-Forte, Wien 1850, Beginn.

Beispiel 3: Leo Fall, Die geschiedene Frau, „Das Lied vom Schlafcoupé“ [Klavierauszug], Wien 1908, Beginn.

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(1972) oder Albert Hammonds I’am a train (LP Albert Hammond, 1974), ja selbst in Tom Waits’ Train Song (CD Franks Wild Years, 1987) lebt diese Tradition fort: Ein direkter Zusammenhang zwischen Titel bzw. Text und Musik ist bei bestem Willen nicht zu erkennen, die Kombination wirkt so gesehen austauschbar.

Bahnklänge Bahn-Assoziationen wurden und werden in etlichen Fällen nicht alleine über Werktitel befördert, so im Vergnügungszug op. 281 (1864) von Johann Strauss Sohn: In dieser Polka schnell wird immerhin an fünf Stellen das Pfeifen der Lokomotiven durch ein „Conducteur Horn“ nachgeahmt. Unverändert erscheint Bahnfahren als Teil eines unbeschwert-beschwingten Lebensvollzugs, was insofern Beachtung verdient, als doch auch und gerade aus dem 19. Jahrhundert zahlreiche Anekdoten überliefert sind, wonach die dampfend-dröhnenden Lokomotiven durchaus zu erschrecken vermochten. 25 Solcherart idyllisierende ‚BahnMusik‘ findet sich längst nicht nur im deutschsprachigen Raum. Der französische Konzertpianist und Komponist Charles Valentin Alkan (1813–1888) schrieb als sein Opus 27 die stark von Motorik geprägte und im herausfordernden Tempo „vivacissimamente (Halbe = 112)“ zu spielende Etüde Le chemin de fer (Bsp. 4). 26 Von akustischen Eigenschaften der Bahn kompositionstechnisch inspiriert zeigte sich im späteren 19. Jahrhundert Eduard Strauss in seinem Walzer Glockensignale op. 198. Die 1881 entstandene Musik enthält im ersten Teil eine kurze Bläser-Sequenz, die nach einer Generalpause Zug-Signale imitiert und unüberhörbar dissonant zu den anderen Stimmen gesetzt ist. Zuvor schon, 1868, kam bei der Eröffnungszeremonie der Bahnlinie Stockholm–Göteborg der Jernvägs-Galopp des aus Hamburg gebürtigen, in Stockholm lebenden Jean Meyer (1822–1893) zur Aufführung;27 dabei sind klangmalerisch die mit Schlagzeug-Besen hergestellten Rhythmen einer anfahrenden Lokomotive zu erkennen. Ob dafür der Walzer Accelerationen op. 234 (1860) von Johann Strauss Sohn das Vorbild war, bleibt zu klären. Wie auch immer: Für die in Summe zahlreichen ‚Zug-Partituren‘ nach 1900 stellte das Jahrhundert davor etliche Anknüpfungspunkte bereit. Dass es nicht bei der Imitation früherer Kompositionen blieb, sondern etliche Innovationen folgten, gehört mit zur Signatur einer Epoche, in der Konventionen sukzessive gesprengt wurden. Arthur Honeggers in der Tradition der Tondichtungen 25 Vgl. Dominik Menzel, Die Eisenbahn als Träger gesellschaftlicher Veränderungen. Die Eisenbahn im 19. und 20. Jahrhundert, München 2011, 3. 26 Britta Schilling, Virtuose Klaviermusik des 19. Jahrhunderts am Beispiel von Charles Valentin Alkan (1813–1888), Regensburg 1986, 252–253. 27 Vgl. Rainer Schmitz / Benno Ure, Tasten, Töne und Tumulte. Alles, was Sie über Musik nicht wissen, München 2016, o. S.

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Beispiel 4 : Charles Valentin Alkan, Le chemin de fer op. 27, Paris 1844, Beginn.

verortbares Orchesterstück Pacific 231 (1923) ist ein Beispiel hierfür; dort werden An- und Abfahrten durch zunehmend verkürzte bzw. verlängerte Notenwerte auskomponiert (statt auf die eingeführten Vortragsanweisungen „Accelerando“ bzw. „Ritardando“ zurückzugreifen). Ein weiteres Beispiel, mit welchem zudem kompositionsgeschichtliches Neuland betreten wurde, stellt die 24 Jahre später entstandene, auf verfremdeten Aufnahmen am Pariser Gare de Battignolles basierende Geräuschcollage Pierre Schaeffers Étude aux chemins de fer (1948) dar. Inwiefern Andrew Lloyd Webbers Musical Starlight Express (UA 1984), in welchem zwei personifizierte Lokomotiven unterschiedlicher Bauart gegeneinander antreten, fernab solcher kompositionsgeschichtlichen Innovationen anzusiedeln ist, bleibt an anderer Stelle zu diskutieren. Hier nicht weiter verfolgt werden können zudem diverse Titel aus der Blues- und Jazzgeschichte, darunter Billy Strayhorns Standard Take the A-Train (1939), der angeblich auf einer Bahnfahrt komponierte Jazz-Song Chattanooga Choo Choo (vor 1941) von Harry Warren (Musik) und Mack Gordon (Text), der zunächst vom Glenn Miller Orchestra eingespielte, später unter anderem von Udo Lindenberg (Sonderzug nach Pankow, 1983) bearbeitet wurde. Darüber hinaus wäre etwa an Colin Walcotts Travel by Night (LP/ CD Codona 3, 1983) oder Last Train Home (CD Still Live [Talking], 1987) von Pat Metheny zu denken. 28

28 Die für den Perkussionisten Martin Grubinger und die Salzburger Camerata geschriebene und am 20. Mai 2012 im Großen Saal der Stiftung Mozarteum uraufgeführte Jazz-Suite des Big-BandArrangeurs Wolf Kerschek bietet sich zum Vergleich an.

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Neuere Weichenstellungen Abseits unterhaltsamer Musikgenres kam es seit den 1970er Jahren mehrfach zu konzeptuell innovativen Ansätzen. Zu denken ist etwa an Gerhard Rühms Klavierstück köln-hamburg retour. ein fahrplan (1988), in welchem Bahnkilometer in Akkordwiederholungen übersetzt werden, oder Steve Reichs Streichquartett Different Trains (1988) 29, in dem auf tiefgründige Weise Autobiographie, Faschismus- und Bahngeschichte zueinander in Beziehung gesetzt werden. Zehn Jahre davor, 1978, kam es in Italien zu einer in verschiedener Hinsicht einmaligen Veranstaltung der Feste Musicali a Bologna. Auf dem Plakat (s. u.) wurde angekündigt: Il treno di John Cage. Alla ricerca del silenzio perduto: tre escusioni per treno preparato, variazioni su un tema di Tito Gotti, di John Cage Con assistenza di Juan Hidalgo e Walter Marchetti.

In diesen Plakattitel fand sich eines der von Cage (in dessen zweiter Lebenshälfte) so gerne gestalteten Akrostichen eingefügt, in diesem Fall über das englische „train“. Worum handelte es sich bei Il treno? Um den realen Zugklängen Aufmerksamkeit zu sichern, nahm sich Cage die Freiheit, auf konventionelles Instrumentarium zu verzichten und zudem den Konzertsaal zu verlassen. An drei Abenden (26.–28. Juni 1978) war auf drei verschiedenen Linien der Strecken zwischen Bologna, Poretta, Ravenna und Rimini ein Zug unterwegs, dessen Waggons im Vorfeld mit Mikrophonen, Lautsprechern und Kassettenrekordern ausgestattet wurden. 30 Die Mikrophone waren nach Cages genauen Anweisungen teils an der Außenseite des Zuges, teils in den Waggons angebracht worden, um Bahn- und Passagiergeräusche während der Fahrt ins Waggoninnere zu übertragen. Die Kassettenrekorder schließlich waren in Güterwaggons in der Mitte des Zuges installiert: Sie enthielten Kassetten, die von Juan Hidalgo und Walter Marchetti zuvor mit Geräuschen der Lebenswelt der jeweiligen Orte bespielt worden waren und nur wiedergegeben wurden, solange der Zug hielt. Die Ausformulierung seiner Idee begann Cage mit den Worten:

29 Vgl. Wolfgang Gratzer / Steve Reich, „Concerning Different Trains“, in: Nähe und Distanz: Nachgedachte Musik der Gegenwart, Bd. 1, hg. von Wolfgang Gratzer, Hofheim 1996, 223–232; HansChristian von Dadelsen, „Diesseits und jenseits von Raum und Zeit: Steve Reichs Different Trains“, in: ebd., 235–246. 30 Vgl. Daniel Charles, „‚ALLA RICERCA DEL SILENZIO PERDUTO‘. Bemerkungen zum ‚Zug von John Cage‘, 26.–28. Juni 1978“, in: John Cage oder Die Musik ist los, Berlin 1979, [8]–38.

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[Plakat] Il treno di John Cage (Daniel Charles [Hg.], John Cage oder Die Musik ist los, Berlin 1979, 8).

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In vollen Zügen Bei N Waggons schlage ich vor, ein Tonsystem von N mal 2 Kanälen zu installieren, und zwar so, daß an der Decke jedes Waggons zwei Lautsprecher (A und B) angebracht werden. Über die Lautsprecher NA werden die Geräusche, die von N Mikrophonen an den Außenseiten der Waggons angebracht werden, übertragen. Die Lautsprecher NB übertragen die Geräusche – Schreie, Lärm, aber keine Unterhaltungen –, die N Mikrophone im Innern der N Waggons aufnehmen. An den Lautsprechern A und B angebrachte Schalter (mit denen man aber weder Lautstärke ändern noch die Übertragung der Geräusche beeinf lussen kann) ermöglichen jedem Passagier, von jedem Kanal auf jeden anderen umzuschalten. Dieses Tonsystem funktioniert vom Moment des Anfahrens bis zu erneuten Anhalten des Zuges im nächsten Bahnhof. 31

Die im Zug oder in der Bahnstation Anwesenden hörten also das, was weitgehend auch ohne Cages Zutun existierte: Fahrzeuggeräusche der Bahn, Geräusche in der Bahn und Geräusche jener Orte, an welchen sich die Bahnhöfe befinden. Cage bliebt damit seinem Verständnis von „Silence“ treu: Nicht das Erleben von Stille als Zustand fehlender akustischer Ereignisse ist das Ziel, sondern das wertschätzende Hören ansonsten oftmals unbemerkter Vorkommnisse – das aktive Wahrnehmen einer Umwelt, die ohne beabsichtigte akustische Gestaltung durch diverse Handlungen und Gegebenheiten hörbare Präsenz entwickelt. Als überzeugter Anarchist propagierte Cage nicht die Ablöse eines Herrschaftskonzepts durch ein anderes; stattdessen trat er für die Integration alltäglicher Handlungen und Gegenstände in Wahrnehmungsvorgänge ein, um das künstlerische Potential von ‚Gewöhnlichem‘ als beachtenswert zu emanzipieren – und unweigerlich mit zu gestalten. Letzteres ist bei Il treno insofern der Fall, als alle Mitreisenden mehr oder weniger aktiv das, was aufgenommen werden konnte, durch ihr Tun prägten. In eben diesem Sinn übernahm jeder Teilhabende Mitverantwortung dafür, was über Lautsprecher ausgestrahlt wurde, da bei der Kanalwahl während der Fahrt und bei der Kassettenwahl während der Halte Wahlfreiheit bestand. Cage lenkte also die Aufmerksamkeit auf das in verschiedener Hinsicht klingende Zuggeschehen als solches zurück. Dadurch, dass er den Mitreisenden die Möglichkeit eröffnete, gestalterische Verantwortung zu teilen, nahm sein Konzept von 1978 die Grundidee anderer Installationen vorweg, die in vergleichbarer Weise den Zug als Instrument begreifen, ohne zur vertrauten Trennung zwischen Künstler und Publikum zurückzukehren. Zu denken wäre beispielsweise an die Installation When John Henry Was a Little Baby (1993/1996) des New Yorkers Nicolas Collins, bei der über den Gleisen einer Modelleisenbahn ein Stahldraht verlief; dieser wurde durch Stangen in Schwingung versetzt, die an den Lokomotiven angebracht waren. Anwesende waren eingeladen, auf die über Kontaktmikropho31 Zit. nach ebd., 13–14.

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ne aufgenommene und über acht Lautsprecher zu hörende Geräusch-Polyphonie Einf luss zu nehmen, indem sie die Geschwindigkeit der Züge steuern konnten. 32 Oswald von Wolkensteins Überzeugung, wonach Reisen Einsichten befördere, „wie die werlt wer gestalt“, fand hier wie bei Cage, Reich und Rühm eine inspirierende Aktualisierung.

32 Vgl. Akademie der Künste Berlin (Hg.), klangkunst, München 1996, 44–45. Ohne diese Einflussnahme funktionierte Parabolica (1996) des Finnen Ed Osborne, vgl. ebd., 110–111.

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Zur Dramaturgie der Musik im Musiktheater von Gluck bis Cage Mit einem Gattungsvergleich zur Theatertanz-Musik dieser Zeit Jörg Rothkamm Dass Musik wesentlich zum Musiktheater gehört, lässt sich am Begriff ablesen, der aus den Bestandteilen „Musik“ und „Theater“ zusammengesetzt ist. Tatsächlich können darunter all jene „plurimedialen“1 Kunstformen gefasst werden, in denen Musik und Theater zusammenkommen. In den westlichen Kulturen und in der komponierten Musik trifft dies nicht nur auf das ausdrücklich experimentelle Musiktheater des 20. und 21. Jahrhunderts zu, sondern auf die gesamte Operngeschichte seit dem „Beginn des Barockzeitalters“.2 Carl Dahlhaus und Sieghart Döhring gehen gar so weit, „den Begriff des Musiktheaters“ als „Sammelnamen für Oper, Operette, […] Musical“ und sogar „Ballett“ zu gebrauchen.3 Im Ballett – bzw. weiter gefasst – im Theatertanz treffen ja in der Regel ebenfalls Musik und Theater zusammen. Christopher Balme hat darauf hingewiesen, dass sich „der Theatertanz bzw. die Tanzwissenschaft als eigenständige Teildisziplin“ der Theaterwissenschaft herausgebildet hat.4 Wolfgang Ruf verzichtete in seinem Artikel „Musiktheater“ in der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart nicht nur auf den Theatertanz, sondern auch auf Operette, Musical etc. und konzentrierte sich auf die „artifiziellen Spielarten von musikgebundenem Theater des 20. Jahrhunderts.“5 Auch in diesem Aufsatz sollen zunächst diese Gattungen des Musiktheaters im Mittelpunkt stehen, wenn auch mit größerem historischen Fokus, bevor ein kurzer Vergleich mit der Musik für Theatertanz folgt.6 1 2 3 4 5 6

Peter Petersen, Alban Berg, Wozzeck. Eine semantische Analyse unter Einbeziehung der Skizzen und Dokumente aus dem Nachlaß Bergs, hg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1985 (= Musik-Konzepte Sonderband), 283. Siegfried Mauser, „Vorwort“, in: Musiktheater im 20. Jahrhundert, hg. von dems., Laaber 2002 (= Handbuch der musikalischen Gattungen 14), VII–VIII, hier VII. Carl Dahlhaus / Sieghart Döhring, „Vorwort“, in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Bd. 1, hg. von dens., München 1986, XV–XVI, hier XV. Lediglich die Schauspielmusik wurde hier ausgeklammert. Christopher Balme, Einführung in die Theaterwissenschaft, Berlin 32003, 19. Wolfgang Ruf, „Musiktheater. II. Kompositionen“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, zweite Auflage, hg. von Ludwig Finscher, Sachteil, Bd. 6, Kassel und Stuttgart 1997, Sp. 1689– 1710, zur Terminologie 1690–1691. Vgl. Erika Fischer-Lichte, „Nonverbale akustische Zeichen“, in: Semiotik des Theaters. Eine Einführung, Bd. 1, 1983, 41998, 161–179, wonach die Tatsache, dass gesungen wird, nicht als bedeutungstragendes Element gilt, wohl aber Musik im Musiktheater wie im Theatertanz.

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Die von Komponist oder Komponistin erstellten Partituren enthalten in der Regel ein Libretto, oft szenische Anweisungen sowie natürlich eine Notation der Musik. Die Musik gliedert den Librettotext, bestimmt weitgehend seine Aufführungsdauer, das Gewicht einzelner Abschnitte, die Höhe- und Wendepunkte. In der Regel stellt sie eine erste Interpretation des Librettotextes dar, und zwar sowohl auf der Ebene des Gesangs wie in den Instrumentalparts. Die Partitur der Musik bildet mit dem Libretto laut Balme den „Theatertext“, der den „Inszenierungstext“ stärker bestimmt als dies üblicherweise im Sprechtheater der Fall ist.7 Dabei können alle „nonverbalen akustischen Zeichen […] als ein bedeutungserzeugendes System funktionieren“, 8 wie Erika Fischer-Lichte es formuliert hat. Letztlich deckt sich damit die Rolle der Musik im Musiktheater mit der ursprünglichen Bedeutung des Wortes „Dramaturgie“, das von dem griechischen dramaturgia abgeleitet ist. Es meint(e) unter anderem die „Verfertigung […] eines Dramas“. Nach Andreas Kotte spricht man heute aber – neben dieser „Dramaturgie des Schreibens“ – auch von der „Dramaturgie des Textes“ selbst.9 Da auch fast jedes Musiktheater ein Drama ist und die Musik (neben dem gesungenem und dem szenischem Nebentext) ebenfalls einen Text darstellt, kann man den Begriff der Dramaturgie sinnvoll auch auf die Musik im Musiktheater anwenden. Dies ist in der Musiktheaterwissenschaft bislang kaum geschehen.10 Das mag zusammenhängen mit der einschränkenden Sichtweise, bei Dramaturgie handle es sich mehr um einen praktischen Vorgang, den ein Dramaturg vor und während des Probenprozesses einer (Musik-)Theateraufführung im Hinblick auf die konkrete Aufführungsserie ausübt.11 Im Metzler Lexikon Theatertheorie wurde der Begriff „Dramaturgie“ jedoch bereits 2005 von Christel Weiler in einem theoretischen Sinn definiert als Verweis auf die Beziehung zwischen den beiden Bereichen Text (im weitesten Sinne) und Aufführung. Er zielt auf das Wissen um und die Kenntnis der semantischen Dimension wie auch der strukturellen Gesetzmäßigkeit und Regelhaftigkeit von Texten […]. Er verweist gleichermaßen auf formale und inhaltliche Erfordernisse 7 Balme, Einführung in die Theaterwissenschaft, 104. 8 Fischer-Lichte, „Nonverbale akustische Zeichen“, 162–163. 9 Andreas Kotte, „Dramaturgie“, in: Theaterwissenschaft. Eine Einführung, Köln 2005, 202–222, hier 206. Kotte unterscheidet für die heutige Zeit zwischen einer „Dramaturgie des Schreibens“, einer „Dramaturgie des Textes“ und einer „Dramaturgie des Produzierens“: „Dramaturgie beschäftigt sich mit den Kompositionsprinzipien, Strukturen und Funktionen von Texten für und in Aufführungen […].“ (Ebd.) 10 Es findet sich kein Eintrag in den gängigen musikwissenschaftlichen Lexika und Handbüchern. In Einzelstudien ist zwar mehrfach von „musikalischer Dramaturgie“ die Rede, jedoch ohne dass Christel Weilers Definition (vgl. Anm. 12) oder eine ähnliche verwendet worden wäre. 11 Vgl. die „Dramaturgie des Produzierens“ bei Kotte („Dramaturgie“, 206) sowie Arnold Jacobs­ hagen („Dramaturg“, in: Praxis Musiktheater. Ein Handbuch, hg. von dems., Laaber 2002, 142–145).

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Jörg Rothkamm und Gegebenheiten, deren Transformation sowie deren mögliche Funktion und Wirksamkeit in einem Aufführungsgeschehen. […] Auch wenn das Theater der Ort ist, an den der Begriff der D[ramaturgie] genealogisch gebunden ist, hat er sich längst für andere Darstellungskünste als brauchbar erwiesen. So gibt es eine D[ramaturgie] des Films, des Tanzes, der Musik […].12

Ich habe diese Definition bereits auf die Gattung der originären Musik für Ballett anzuwenden versucht.13 Hier soll dieser Ansatz nun auf das Musiktheater im engeren Sinn übertragen werden. Bezogen auf Musik für Musiktheater würde dies also bedeuten, dass Dramaturgie „die strukturelle Gesetzmäßigkeit und Regelhaftigkeit“ der Musik meint, die „formale und inhaltliche Erfordernisse und Gegebenheiten“ transformiert hat. Letztere sind durch das Libretto bzw. die Handlung des Musiktheaters bestimmt. Konkret stellt sich daneben jeweils die Leitfrage nach den „strukturellen Gesetzmäßigkeiten“, der „semantischen Dimension der Musik“ sowie ihrer „Funktion und Wirksamkeit in einem Aufführungsgeschehen“,14 wobei von konkreten Inszenierungen und der Frage der Inszenierung als zusätzlicher Interpretationsebene hier abgesehen wird. Vielmehr sei hier primär danach gefragt, welche Struktur, Funktion und Wirkung der Musik vom Komponisten intendiert ist. Denn der Komponist bestimmt letztlich die Dramaturgie der Musik in seiner musiktheatralen Komposition, auch wenn er ein gegebenes Libretto unverändert übernimmt oder gar übernehmen musste.15 Aber nicht nur die Partituren und Libretti selbst sollen hier Gegenstand der Betrachtung sein, sondern – soweit vorhanden – auch theoretische oder gar programmatische Texte der Komponisten und ihrer Mitarbeiter, in denen sie selbst Auskunft über ihre Vorstellungen von einer Dramaturgie der Musik im Musiktheater geben. Dafür eigenen sich hier besonders sechs Stationen von der Klassik bis in die jüngere Gegenwart: Christoph Willibald Gluck, Richard Wagner, Sergej Prokof ’ev, Bernd Alois Zimmermann, Mauricio Kagel und John Cage. Fast sämtlich waren sie auch als wegweisende Komponisten im Bereich des „Theatertanzes“ im weitesten Sinn aktiv.

12 Christel Weiler, „Dramaturgie“, in: Metzler Lexikon Theatertheorie, hg. von Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch und Matthias Warstat, Stuttgart 2005, 80–83, hier 80. 13 Jörg Rothkamm, Ballettmusik im 19. und 20. Jahrhundert. Dramaturgie einer Gattung, Mainz 2011. 14 Vgl. auch Guido Hiß, Korrespondenzen. Zeichenzusammenhänge im Sprech- und Musiktheater. Mit einer Analyse des „Wozzeck“ von Alban Berg, Tübingen 1988, 110: „Die musikdramaturgische Analyse […] überträgt dabei eine zentrale Vorgehensweise der Aufführungsanalyse, die Untersuchung von (intersystematischen) Tiefenäquivalenzen und -segmentierungen, auf die Partituranalyse.“ 15 Wie es vielfach im 18. Jahrhundert der Fall war; vgl. Albert Gier, „Handwerk, Machwerk – oder doch Kunst? Kleine Apologie des Librettos“, in: „Gehorsame Tochter der Musik“. Das Libretto: Dichter und Dichtung der Oper, hg. von Cécile Prinzbach, München 2003, 19–25, hier 20–21.

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Nummerndramaturgie ohne feste Formschemata: Christoph Willibald Glucks A lceste (1766–67/1775–76, UA 1767/76) Zur Dramaturgie des Musiktheaters, zu seiner strukturellen Gesetzmäßigkeit und Regelhaftigkeit gehörte seit seiner Entstehung Anfang des 17. Jahrhunderts die Nummernstruktur sowie die Unterscheidung von Rezitativ und Arie. Allerdings galt es seinerzeit Mittel zu finden, die Hauptmelodie so hervorzuheben, dass die Dichtung klar vernehmbar war, wie Monteverdis Zeitgenosse Giovanni Battista Doni in den 1630er Jahren forderte.16 Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts wurden die Libretti dann zunehmend schematischer angefertigt, sodass weniger der Dramentext als die Musik im Vordergrund stand und deren Dramaturgie wiederum die Dramaturgie des Librettos vorzugeben schien.17 Vom Hochbarock bis zur Frühklassik war es in der Opera seria beispielsweise üblich, dass auf eine eröffnende Sinfonia Rezitative und Arien folgten, die in der Regel musikalisch nicht verbunden waren. Christoph Willibald Gluck gilt nun als einer der ersten, der diesen Schematismus nachhaltig auf brach: so besonders in der „Tragedia in musica“ Alceste (1766–67, UA Wien 1767), deren neue Dramaturgie der Musik er in einer wahrscheinlich vom Librettisten Raniero di Calzabigi verfassten Vorrede untermauern ließ. Darin heißt es: Ich beabsichtige, die Musik auf ihre wahre Aufgabe zu beschränken: der Dichtung für den Ausdruck und die Gegebenheiten des Stoffes zu dienen, ohne die Handlung zu unterbrechen oder sie durch nutzlose, überf lüssige Verzierungen erstarren zu lassen […]. Ich wollte nicht den [vielleicht] leidenschaftlichsten und wichtigsten zweiten Teil einer Arie hastig ablaufen lassen, um Raum zu haben, die Worte des ersten Teils regelgerecht viermal zu wiederholen und die Arie dort zu beenden, wo es ihrem Sinn [vielleicht] nicht entspricht, [nur] um dem Sänger Gelegenheit zu geben vorzuführen, dass er eine Passage in vielerlei Weise nach Belieben variieren könne […].18

Tatsächlich ist dieser reformatorische Ansatz in Alceste weitgehend umgesetzt worden, wenn auch teilweise erst in der zweiten französischen Fassung als „Musikdrama“19 von 1775–76 (UA Paris 1776). In Alcestes Arien des ersten Aktes 16 Vgl. Giovanni Battista Doni, „Trattato della musica scenica“ [ca. 1635], zit. nach Silke Leopold, Die Oper im 17. Jahrhundert, Laaber 2004 (= Handbuch der musikalischen Gattungen 11), 57–58. 17 Gier, „Kleine Apologie des Librettos“, 20–21. 18 Christoph W. Gluck, „[Vorrede (‚Manifest‘) zu Alceste 1769]“, deutsch in: „Vorwort“ zu Alceste, hg. von Gerhard Croll, Kassel 2005 (= Sämtliche Werke 3b), X. (übersetzt von Renate Croll, ergänzt vom Autor auf Basis des italienischen Faksimiles ebd., LVII). Vgl. auch Raniero di Calzabigi, Brief an Fürst Kaunitz, 6. März 1767, deutsch in: ebd., XI–XII. 19 Vgl. den Untertitel der Wiener Fassung: „Tragedia per musica“.

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gibt es bereits in der Wiener Fassung 1767 kein wörtliches Da capo. 20 Alcestes zweite Arie „Ombre, larve“ enthält zwar einen zweimal wiederholten A-Teil (T. 72–90), dieser wird jedoch in der italienischen Fassung bereits im weiteren Verlauf in fast allen musikalischen Parametern variiert (T. 101–117 und 145–162) 21 und in der Pariser Fassung 1776 („Divinité du Styx“) weiterhin noch im Tempo modifiziert (dort T. 44–62: „Animé. Lent“). 22 In der ersten Arie „Io non chiedo“ der Protagonistin ist sogar überhaupt kein dreiteiliger Formauf bau A-B-A mehr zu erkennen. In der sechsteiligen Arie basiert einzig der Schlussteil (ab T. 174) noch anfangs transponiert teilweise auf dem dritten Teil (T. 113–129), ansonsten gibt es keine Wiederholungen. 23 Das Duett mit den Kindern, in Wien der vierte Teil (T. 130–145), fällt in der Pariser Fassung („Grands Dieux!“) weg und wird durch ein Solo Alcestes ersetzt (dort T. 148–165). 24 Zu den weiteren Reformideen Glucks zählte auch die Etablierung des Accompa­ gnato-Rezitativs, bei dem der Sänger oder die Sängerin durch das Orchester begleitet wird. Somit erscheint die übliche klare Trennung zwischen dem bloß vom Continuo begleiteten Secco-Rezitativ und der vom Orchester begleiteten Arie verringert.25 Anders als geschlossene Formen bieten die accompagnati und ariosi auch mehr Möglichkeiten, Motivik, Tonart und Tempo zu wechseln.26 Die zahlreichen integrierten Chöre des Volkes dienen der Funktion des Kommentars rund um das eigentliche Geschehen der Protagonisten, das Orchester wird bereits „motivisch und klanglich“ verstärkt und „in den Dienst des dramatischen Ausdrucks gestellt“.27 Obwohl strukturell noch der Nummerndramaturgie verhaftet, zielt die Dramaturgie dieser Musik ohne feste Formschemata bereits auf eine höhere Einheit des Stils und der Form.

Durchkomponierter Diskurscharakter: Richard Wagners R ing des Nibelungen (1848–74, UA 1869/76) Im historischen Rückblick lesen sich diese Ideen einer verstärkten Annäherung von Rezitativ und Arie sowie einer größeren Rolle eines kommentierenden Kol20 Vgl. hingegen Herbert Schneider, „Glucks Pariser Opern“, in: Die Oper im 18. Jahrhundert, hg. von dems. und Reinhard Wiesend, Laaber 2001 (= Handbuch der musikalischen Gattungen 12), 182– 200, hier 191–192. 21 Christoph W. Gluck, Alceste (Wiener Fassung von 1767). Tragedia per Musica in drei Akten […]. [Partitur], hg. von Gerhard Croll, Kassel 1988 (= Sämtliche Werke 3a), 158–160. 22 Christoph W. Gluck, Alceste. Alkestis (Pariser Fassung von 1776). Klavierauszug von Hans Vogt, Kassel 1957 (= ergänzende Ausgabe zu Sämtliche Werke 7), 82–83. 23 Gluck, Alceste (Wiener Fassung von 1767), 61–62, 55–56. 24 Vgl. ebd., 56–57, mit Gluck, Alceste. Alkestis (Pariser Fassung von 1776), 26–27. 25 Sodass sich keine allzu „krasse Diskrepanz im Dialog zwischen Arie und Rezitativ“ mehr ergab (Gluck, „[Vorrede (‚Manifest‘) zu Alceste 1769]“, X). 26 Schneider, „Glucks Pariser Opern“, 189. 27 Ebd.

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lektivs wie ein Nährboden für die Reformen Richard Wagners. Diese formulierte Wagner 1851 im Rahmen seiner theoretischen Programmschrift Oper und Drama ausführlich. Dort forderte er eine Melodik, die durch die Wortphrase bedingt ist, 28 und eine f lexible „dichterisch-musikalische Periode“ 29 als „eine der fundamentalen formalen Kategorien“ abseits „schematischer Vier- oder Achttaktigkeit“. 30 Letztere war freilich schon bei Gluck und Wagners Zeitgenossen nicht mehr unumstößliches Gesetz. Mit der Verabschiedung der geschlossenen Nummerndramaturgie der früheren Oper ging in Wagners Konzeption eines Musikdramas aber die aktweise durchkomponierte Form einher, die von der Idee des Symphonischen 31 inspiriert ist. Das Orchester möge, dem Chor in der antiken Tragödie vergleichbar, „für die Kundgebung des Unaussprechlichen“, des „Gefühls“ 32 dienen. Mit der Auf hebung des Unterschieds zwischen Rezitativ und Arie und dem Ziel einer „Einheit des Ausdruckes“ 33 strebte Wagner auch eine einheitlichere, von der Symphonik inspirierte Form an. Die Dramaturgie dieser Musik ist ganz wesentlich geprägt von dem, was später „Leitmotiv“ genannt wurde – ein von Wagner letztlich sanktionierter Begriff. 34 In Oper und Drama schreibt er noch vom „vergegenwärtigte[n] Gefühlsinhalt des Gedankens“, „wenn die in dem Motive ausgesprochene Empfindung vor unseren Augen von einem bestimmten Individuum an einem bestimmten Gegenstande […] kundgegeben ward.“ 35 28 29 30 31

Richard Wagner, Oper und Drama [1851], hg. von Klaus Kropfinger, Stuttgart 2000, 303. Ebd., 307. Klaus Kropfinger, „Nachwort“, in: ebd., 430–533, hier 490. Vgl. Sieghart Döhring / Sabine Henze-Döhring, „Musikdrama: Entstehung und Konzeption von Wagners Ring des Nibelungen“, in: Oper und Musikdrama im 19. Jahrhundert, Laaber 1997 (= Handbuch der musikalischen Gattungen 13), 257–281, hier 273, die mit Carl Dahlhaus und Carolyn Abbate aufmerksam machen auf die „ideologische Besetztheit des Terminus […], mit dem sich der ästhetische Vorrang des Musikdramas gegenüber der Oper und dessen Ableitung aus der ‚absoluten Musik‘, d. h. aus der Beethovenschen Symphonik auf griffige Weise untermauern ließ.“ 32 Wagner, Oper und Drama, 329–330. 33 Ebd., 360. 34 Der von August Wilhelm Ambros geprägte Begriff „Leitmotiv“ wurde von Hans von Wolzogen anlässlich der vollständigen Premiere vom Ring des Nibelungen 1876 in die Wagner-Diskussion eingebracht; vgl. Arnold Whittall, „Leitmotif “, in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, second edition, hg. von Stanley Sadie und John Tyrrell, Bd. 14, London 2001, 527–530, hier 527; Joachim Veit, „Leitmotiv“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, zweite Auflage, hg. von Ludwig Finscher, Sachteil, Bd. 5, Kassel und Stuttgart 1996, Sp. 1075–1095, hier bes. 1079. Auch wenn Wagner ihn erst nachträglich sanktionierte, kann man damit deutliche Unterschiede gegenüber dem Erinnerungsmotiv bei Carl Maria von Weber, Adolphe Adam oder Léo Delibes und in Wagners eigenem Frühwerk markieren. Beiden Motivtypen gemeinsam ist, dass es sich um musikalische Wiederholungen handelt, „die nicht musikimmanent begründbar“ sind und „somit über den musikalischen Zusammenhang“ hinausweisen (Veit, „Leitmotiv“, 1079). 1879 spricht Wagner von „Grundthemen“ und zitiert den Begriff „Leitmotiv“ („Über die Anwendung der Musik auf das Drama [1879]“, in: Späte Schriften zu Dramaturgie der Oper, hg. von Egon Voss, Stuttgart 1996, 191–214, hier 202). 35 Wagner, Oper und Drama, 342.

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Das Leitmotiv wird also konnotiert durch seine Beziehung zum gesungenen Libretto-Text bzw. zur dramatischen Situation der Handlung. Über das bereits eta­blierte Erinnerungsmotiv36 geht die Konzeption des Wagner’schen Leitmotivs aber in dreierlei Hinsicht hinaus: Erstens dient das Leitmotiv neben der Funktion der „Erinnerung“37 auch der „Vergegenwärtigung“38 und der „Ahnung“ einer „unaussprechliche[n] Empfindung“39, fungiert also im Orchester als oft gleichzeitiger nonverbaler Kommentar zur im Libretto dargestellten Handlung. Zweitens beruht – vor allem in den späteren Werken – fast der gesamte musikalische Satz des Wagner’schen Musikdramas auf Leitmotiven;40 sie sind also keine Akzidenz, sondern hauptsächliches musikalisches Material, vergleichbar den Hauptmotiven einer spätromantischen Symphonie. Und drittens unterliegen die Leitmotive – zumindest im Ring des Nibelungen (1848–74, UA 1869/76), aber auch in Tristan und Isolde (1857–59, UA 1865) und Parsifal (1877–82, UA 1882) – je nach Situation der Handlung fortwährender Variation und motivischer Verarbeitung. Die Metamorphose kann alle Parameter der Musik umfassen, ohne dass ihr Motivkern unkenntlich würde. Wagner beschrieb dies kurz nach der Uraufführung des Nibelungen-Rings so: Diese Einheit gibt sich dann in einem das ganze [sic] Kunstwerk durchziehenden Gewebe von Grundthemen, welche sich, ähnlich wie im Symphoniesatze, gegenüberstehen, ergänzen, neu gestalten, trennen und verbinden; nur dass hier die ausgeführte und aufgeführte dramatische Handlung die Gesetze der Scheidungen und Verbindungen gibt […].41

Als Beispiel sei Das Rheingold (1852–56, UA 1869) gewählt, wo Wagner diese Idee bereits deutlich, wenn auch nicht immer konsequent, realisierte:42 Es lassen sich 36 Als Zeichen für Personen, Sachen, Situationen und Gefühle; vgl. Döhring / Henze-Döhring, Oper und Musikdrama im 19. Jahrhundert, 105; Carl Dahlhaus / Sieghart Döhring, „Carl Maria von Weber: Der Freischütz“, in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, hg. von dens., Bd. 6, München 1997, 660–667, hier 662–663. 37 Wagner, Oper und Drama, 349. 38 Kropfinger, „Nachwort“, 492. 39 Wagner, Oper und Drama, 344. 40 „Dennoch muß die neue Form der dramatischen Musik, um wiederum als Musik ein Kunstwerk zu bilden, die Einheit des Symphoniesatzes aufweisen, und dies erreicht sie, wenn sie, im innigsten Zusammenhange mit demselben, über das ganze Drama sich erstreckt […].“ (Wagner, „Über die Anwendung der Musik auf das Drama“, 202). Vgl. dazu Carl Dahlhaus, „Zur Geschichte der Leitmotivtechnik bei Wagner“, in: Das Drama Richard Wagners als musikalisches Kunstwerk, Regensburg 1970, 17–36, hier 31: „[D]as musikalisch Neue im Ring, die gleichmäßige Ausbreitung des Motivgewebes über das ganze Drama […].“ 41 Wagner, „Über die Anwendung der Musik auf das Drama“, 202; vgl. Veit, „Leitmotiv“, 1085– 1086, 1091. 42 Döhring / Henze-Döhring, „Wagners Ring des Nibelungen“, 273. Siehe auch die Beispiele bei Constantin Floros, „Der ‚Beziehungszauber‘ der Musik im ‚Ring des Nibelungen‘ von Richard Wagner“, in: Neue Zeitschrift für Musik 144/7–8 (1983), 8–14, hier 10–14. Vgl. dagegen Veit, „Leitmotiv“, 1090, wonach die Funktion der „Ahnung“ bereits bei Weber zu finden sei.

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alle drei funktionalen Kategorien – Erinnerung, Vergegenwärtigung und Ahnung – anhand des sogenannten „Ringmotivs“ erläutern, das den titelgebenden Ring symbolisiert.43 Der/die Hörer*in kennt das „Ringmotiv“ bereits aus der ersten Szene, als Alberich den Rheintöchtern das Gold rauben will, um daraus den Ring zu schmieden, der die Alleinherrschaft zu versprechen scheint. Das auch optisch halbringförmige Motiv erklingt zu Alberichs Worten „Der Welt Erbe gewänn’ ich zu eigen durch dich?“44 Wagner ermöglicht es also den voraushörenden Zuschauer*innen zu erahnen, dass hier der Ring gemeint ist, ohne dass dieser zu sehen wäre oder konkret angesprochen würde.45 Nur wenig später in der Szene erfüllt das Motiv die Funktion der „Vergegenwärtigung“: Unmittelbar nachdem Alberich von seinem Plan gesprochen hat, er „schmiede den rächenden Ring“, erklingt eine Variante des Ringmotivs erneut und in großer Deutlichkeit.46 In der zweiten Szene schließlich begegnet uns das Ringmotiv in der Funktion der „Erinnerung“: Kurz bevor auch Göttervater Wotan hier von „ewige[r] Macht“ und „endlosem Ruhm“ träumt, ertönt wieder das Ringmotiv.47 Wenig später wird Wotan sich des Ringes bemächtigen. Die Leitmotivik in Wagners reifen Musikdramen hat demnach „Diskurs­ charakter“48 und fungiert als Subtext „durch das Mittel der Motivverk­nüpfung“49 in aktweise durchkomponierter, tendenziell symphonischer Form. Bereits Wagners Musik ist leitmotivisch fast durchweg semantisch konnotiert und weist dort, wo durch die Wirksamkeit der Kategorien „Ahnung“ und „Erinnerung“ Verweise auf Zurückliegendes und Zukünftiges erklingen, einen in beide Zeitrichtungen wirkenden, von den handelnden Figuren nicht wahrgenommenen Subtext auf, der gleichsam organisch in seiner Gesamtwirkung mit dem teils gleichzeitigen Gesang sowie dem szenischen Nebentext verknüpft ist.

Lineare Montage: Sergej Prokof’evs L’amour des trois oranges (1919, ua 1921) Als geradezu antiwagnerianisch in Bezug auf die Dramaturgie der Musik (aber auch des Librettos) kann man Sergej Prokof ’evs Oper L’amour des trois oranges 43 Motivbezeichnungen anlässlich der Ring-Uraufführung erstmals bei Hans von Wolzogen, dann u. a. bei Richard Wagner, Der Ring des Nibelungen. Vollständiger Text mit Notentafeln der Leitmotive, hg. von Julius Burghold [1913], Reprint Mainz 1981, 1997. 44 Richard Wagner, Der Ring des Nibelungen. Vorabend: Das Rheingold. Erste und zweite Szene, hg. von Egon Voss, Mainz 1988 (= Sämtliche Werke 10/1), 82, T. 667–670 in Bläsern und Bratschen – und bereits zuvor zu den entsprechenden Worten Wellgundes (71–72, T. 600–603). 45 Vgl. Dahlhaus, „Zur Geschichte der Leitmotivtechnik bei Wagner“, 38. 46 Wagner, Das Rheingold. Erste und zweite Szene, 87–88, T. 699–700 in tiefen Bläsern und Violoncelli. 47 Ebd., 102, T. 791–794, Violoncelli. 48 Döhring / Henze-Döhring, „Wagners Ring des Nibelungen“, 277. 49 Ebd.

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bezeichnen (1919, UA 1921). Zwar ist die Oper auf den ersten Blick aktweise durchkomponiert, jedoch in einer additiven Aneinanderreihung von musikalisch Heterogenem, was der Idee der Einheitlichkeit gerade entgegenwirkt. Außerdem verzichtete Prokof ’ev weitgehend auf die Entwicklung von Leitmotiven und auf psychologisierende Kommentare. Stattdessen gelang ihm eine typenhafte Zeichnung der Charaktere und Situationen mithilfe von weitgehend unveränderlichen Motiven. Mittels mehr oder weniger versteckter Anspielungen auf zahlreiche Werke der Musiktheatergeschichte erlaubte er sich jedoch zusätzlich eine ironische, mitunter parodistische Kommentarebene. 50 Darunter kann man – neben Allusionen an Werke von u. a. Mozart, Weber, Nikolaj Rimskij-Korsakov und Igor Stravinskij – sogar eine Anspielung auf Wagners Ring ausmachen. 51 Zu Beginn hatten Anhänger verschiedener Opernrichtungen in einer Rahmenhandlung aus ihren Proszeniumslogen heraus das eigentliche Geschehen auf der Bühne initiiert. Sie kommentieren und beeinf lussen es auch fortan. Diese Idee war bereits in der Prosavorlage des Theaterreformers Vsevolod Mejerchol’d (1874–1940) angelegt, das dem Libretto zugrunde liegt. Sie wurde von Prokof ’ev jedoch im Sinne einer Zuspitzung noch ergänzt. Tatsächlich war es der Komponist selbst, der aus Mejerchol’ds kurzer Prosavorlage, die bereits in Akte und Szenen eingeteilt war, unter zahlreichen Umstellungen und Einfügungen die wesentlich längere Dialogfassung erstellte. 52 Trotz der auch hier also gegebenen Personalunion von Librettist und Komponist ist Wagners psychologisierendes Musiktheaterkonzept gänzlich aufgegeben zugunsten einer auch musikalisch typisierenden, auf feinste Übergänge bewusst verzichtenden Groteske in der Tradition der Commedia dell’arte, des Masken- und Puppenspiels. Mejerchol’d hatte gefordert: „Die Hauptsache […] ist das ständige Streben des Künstlers, das Publikum aus einer gerade von ihm begriffenen Sphäre in eine andere zu führen, die es absolut nicht erwartet hat.“53 Die Dramaturgie von Prokof ’evs Musik in der Orangen-Oper bezieht sich nicht nur auf die verschiedenen Darstellungsebenen, die durch den Chor und die Solist*innen verkörpert werden, sondern auch auf die Funktion einzelner Abschnitte der Partitur. Diese verzichtet wie in einem einzigen Ensemble-Rezitativ 50 Jörg Rothkamm, „Parodistisches Spiel mit der Operntradition in Sergej Prokofjevs L’amour des trois oranges“, in: Musik als Lebensprogramm, hg. von Gottfried Krieger und Matthias Spindler, Frankfurt a. M. 2000, 227–238. 51 Und zwar auf die Stierhörner in der Götterdämmerung, die in der dritten Szene des zweiten Aktes von Hagen geblasen werden, bevor dieser mit mächtigen „Hoiho“-Rufen seine Mannen anfeuert. Dieses kriegstreibende musikalische Symbol scheint Prokof ’ev zu parodieren, wenn er einen sogenannten „Trompeter“ mit der Bassposaune ebenso eintönig und repetitiv, nur weit lächerlicher den Beginn der eigentlichen Handlung der Oper ankündigen lässt (ebd., 230). 52 Jürg Stenzl, „Montierte Commedia dell’arte. Zu Prokofjews ‚Die Liebe zu den drei Orangen‘“, in: Sergej Prokofjew. Liebe zu den drei Orangen, Programmheft Staatsoper Stuttgart 24 (1995), 9–23, hier 17–18. 53 Wsewolod E. Meyerhold, „Balagan. 1912“, in: Aufsätze, Briefe, Reden, Gespräche, Bd. 1, hg. von A. W. Fewralski, Berlin 1979, 196–220, hier 217.

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– noch weit mehr als Wagner – auf Arioses fast völlig und wirkt entsprechend konzentriert. 54 Prokof ’ev karikierte diese Dramaturgie in seiner Librettofassung selbst, indem er da, wo eine Nummer zu lyrisch und lang zu geraten droht, nämlich in der einzigen Liebesszene kurz vor Schluss des dritten Aktes, als die letzte Orange gerettet ist, eingreift. Einerseits hatte Prokof ’ev diese Szene gegenüber Mejerchol’ds Vorlage zu einem Duett im Hinblick auf die Gattungstradition erweitert. 55 Andererseits ließ Prokof ’ev die beiden Chöre mit Vertretern des Lyrischen und des Lächerlichen durch ihren Kommentar letztlich ein längeres Duett bzw. eine Arie der Protagonistin verhindern:56 Les Lyriques: „Donnez de vrais drames lyriques, romantiques, émotionants ! Des f leurs, la lune !“ / Les Ridicules: „Silence… en silence… Si vous aimez l’amour… Ne troublez pas les amoureux.“ Das mehr oder weniger übergangslose Abbrechen und Neubeginnen von motorisch und stilistisch Heterogenem, das nie verarbeitet oder durchgeführt wird, kann man als Montagetechnik beschreiben. Diese Dramaturgie der linearen Montage erinnert an die Schnitttechnik des jungen Mediums Film, die der Regisseur Sergej Eisenstein zu Beginn der 1920er Jahre perfektionierte. Später arbeitete Prokof’ev auch eng mit Eisenstein zusammen (Alexander Nevskij, 1938; Ivan der Schreckliche, 1942–45).

Simultancollage: Bernd Alois Zimmermanns Die Soldaten (1957–65, UA 1965) Statt eines kreativen Rückbezugs auf die Oper der Vergangenheit, die verdächtigt wurde, eine „undemokratische, geschichtlich überholte“ bürgerliche Kunst zu sein, 57 ging es den Avantgardisten in Europa ab etwa 1960 bei ihren Musiktheater-Konzepten zumeist um etwas radikal Neues, auch wenn sie den Terminus „Oper“ noch verwendeten. Bernd Alois Zimmermann etwa schrieb 1965, im Uraufführungsjahr seiner Oper Die Soldaten, einen Text mit dem Titel „Zukunft der Oper“. 58 Darin skizzierte er seine Idee eines „totalen“ Theaters, das als „pluralistische Oper“59 alle Theaterkünste und Medien umfassen müsse: 54 Vgl. dagegen Ruf, „Musiktheater“, 1700: „vornehmlich rezitativisch-arios“. 55 Vgl. Béatrice Picon-Vallin, „Meyerhold, Prokofiev et L’amour des trois oranges“, in: Sergej Prokofjew in der Sowjetunion. Verstrickungen – Mißverständnisse – Katastrophen, hg. von Ernst Kuhn, Berlin 2004, 157–175, hier 167: „il rend d’abord la forme plus traditionellement conforme aux normes de l’opéra, et restructure scènes et intermèdes en actes et tableaux.“ 56 Serge Prokofieff, L’amour des trois oranges. Klavierauszug vom Komponisten, London 1922, 202–203; ders., L’amour des trois oranges [Partitur], London 1979, Zi. 432–433. Vgl. auch Rothkamm, „Parodistisches Spiel mit der Operntradition in Sergej Prokofjevs L’amour des trois oranges“, 236. 57 Ruf, „Musiktheater“, 1704. 58 Bernd Alois Zimmermann, „Zukunft der Oper. Einige Gedanken über die Notwendigkeit der Bildung eines neuen Begriffes von Oper als Theater der Zukunft“, in: Intervall und Zeit. Aufsätze und Schriften zum Werk, hg. von Christof Bitter, Mainz 1974, 38–46. 59 Ebd., 41.

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Jörg Rothkamm Bei den „Soldaten“ […] sind in einigen Szenen dieser Oper Sprechen, Singen, Schreien, Flüstern, Jazz, Gregorianik, Tanz, Film und das gesamte moderne „technische Theater“ […] in den Dienst des Gedankens der pluralistischen Form des Musiktheaters gestellt worden.60

„Pluralistisch“ heißt hier nicht nur stilistisch vielgestaltig, sondern Zimmermanns Idee war darüber hinaus, dass simultan zu agieren wäre, was vor allem in der Schlussszene des Werks exakt in der Partitur vorgeschrieben ist.61 Das Prinzip der linearen Montage, das wir noch bei Prokof ’ev / Mejerchol’d beobachteten, wird angesichts der von Zimmermann propagierten „Integration aller, scheinbar auch noch so verschiedenen Mittel […] in der Kategorie der Zeit“62 erweitert zugunsten einer Simultancollage. Auch das Zitieren älterer Musik, wie etwa der Gregorianik,63 dient in den Soldaten nicht – wie in den Orangen – einem Heraufbeschwören stereotyper musikalischer Situationen, die gleichsam nur angedeutet werden, um kundigen Hörer*innen einen Assoziationsraum zu ermöglichen. Sondern Zimmermann zitiert, um die Gleichzeitigkeit von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem zu verdeutlichen. Seine Collage von musikalisch absolut Heterogenem erstreckt sich nicht nur auf verschiedene Personal- und Epochenstile wie Bach,64 Jazz,65 Serielles und Militärmusik, sondern auch auf verschiedene Orchester, die gleichzeitig und an unterschiedlichen Positionen im Theaterraum spielen (z. B. das Opernorchester im Graben und die Jazzcombo auf der Bühne) sowie auf zahlreiche Lautsprecher- und Filmtoneinspielungen. Die beiden letzteren integrieren musique concrète,66 menschliche Stimmen in Grenz- und Extremlagen67 und elektronisch verfremdete Geräusche.68 Die Dramaturgie dieser Partitur folgt der Idee der gleichzeitigen Überlagerung von Disparatem, ohne dass Aleatorik intendiert wäre. Die Einteilung der lose zusammenhängenden Szenen der Text60 61 62 63

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Ebd., 42. Vgl. Bernd Alois Zimmermann, Die Soldaten. Klavierauszug, Mainz 1966, 520–541. Zimmermann, „Zukunft der Oper“, 42. Hier „Eisenhardts Stimme“: „Pater noster […]“ auf dem Reperkussionston d (Lautsprechgruppe 8), rhythmisch genau notiert (Zimmermann, Die Soldaten. Klavierauszug, 524–540). Vgl. Claudia Maurer Zenck, „Vergewaltigung als Gleichnis. Zu Bernd Alois Zimmermanns Deutung von Lenz’ Drama in seiner Oper Die Soldaten“, in: Fokus Deutsches Miserere von Paul Dessau und Bertolt Brecht. Festschrift Peter Petersen zum 65. Geburtstag, hg. von Nina Ermlich Lehmann et al., Hamburg 2005, 375–407, hier 398–399. Es finden sich instrumentale Choralsätze, u. a. „Ich bin’s, ich sollte büßen“ (Zweiter Akt, zweite Szene) und „Wenn ich einmal soll scheiden“ (Zweiter Akt, zwischen erster und zweiter Szene) aus der Matthäuspassion (vgl. Maurer Zenck, „Vergewaltigung als Gleichnis“, 397–398). Eine Jazz-Combo betritt beim „Tanz der Andalusierin“ (Zweiter Akt, erste Szene) die Bühne (Besetzung: B-Klar., B-Trp., Git., Kb.) (Zimmermann, Die Soldaten. Klavierauszug, 223). Z. B. „Angreifende Tiefflieger“ (ebd., 534). Z. B. „Geburt“s„wehen“ (ebd., 524). Z. B. „Hallraum“ für „Militär. Kommandos“ (ebd., 532). Vgl. auch die „Disposition der Lautsprechgruppen“ (ebd., 520).

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vorlage des gleichnamigen Dramas von Jakob Michael Reinhold Lenz (1774) ermöglicht eine akt- und szenenweise Gliederung und einen Zusammenhalt durch die innere Handlung der Tragikomödie. Trotz der fehlenden Linearität und Kausalität wird das Geschehen um das gewaltsam zur Soldatenhure herabgewürdigte Bürgermädchen Marie zum Fanal für eine finale apokalyptische Vision: eine Atombombenexplosion, die von einem „über alle Lautsprecher-Gruppen umlaufenden ‚Schrei-Klang‘ von der größten Lautstärke bis zum völligen Erlöschen“69 begleitet wird. In ihrer Collage-Struktur wird die semantische Dimension der Musik also auf ihre Zeichenhaftigkeit konzentriert, die im pluralistischen Theater als weitere Textebene fungiert neben den verschiedenen Theaterkünsten wie Licht, Ausstattung, Tanz, Film und Librettotext.

Instrumentales Theater: Mauricio Kagels Staatstheater (1967–70, UA 1971) Eine noch weitergehende „Entsemantisierung und Dekomposition“ 70 strebte Mauricio Kagel in seinem Musiktheater-Hauptwerk Staatstheater (UA 1971) an, das den Untertitel „Szenische Komposition“ trägt. Hier schaffte er „Sprache ebenso wie die Handlung“ fast gänzlich ab.71 Die Funktion der Musik geht nun so weit, dass alles Theatralische aus der Musik erwächst, wobei das gängige Repertoire und der Musiktheaterbetrieb ebenso Gegenstand der Deformation sind wie davon unabhängige zeitgenössische Tendenzen der Neuen Musik. Die Dramaturgie der rhythmisch genau notierten Musikmaterialien, die meist frei kombiniert und besetzt werden können,72 ist hier also nicht nur eine zeitlich strukturierende. Sondern das Typische des Musiktheaters wird in der Potenzierung von Einzelmerkmalen bewusst gemacht, wobei diese Merkmale keine kausale Beziehung zueinander haben. Bereits 1961 hatte Kagel seine Idee eines solchen „Instrumentalen Theaters“ theoretisch formuliert. Die Theorie nennt vor allem drei Kriterien: 1. […] Die Aufführungspraxis beabsichtigt, das Spiel von Instrumenten mit einer schauspielerischen Darstellung auf der Bühne eins werden zu lassen. […] 2. Kinesis ist das grundlegende Element des instrumentalen Theaters und wird entspre69 Ebd., 541. 70 Christa Brüstle, „Musik schlechthin als Theater. Mauricio Kagel erscheint auf der Bildfläche“, in: Experimentelles Musik- und Tanztheater, hg. von Frieder Reininghaus und Katja Schneider, Laaber 2004, 148–151, hier 150. 71 Vgl. Mauricio Kagel, „Zu Staatstheater. Ein Gespräch mit ‚Opernwelt‘“ [1971], in: Tamtam. Dialoge und Monologe zur Musik, hg. von Felix Schmidt, München 1975, 89–103, hier 92. 72 Vgl. Mauricio Kagel, staatstheater. szenische komposition. 1967–70, Wien o. J. [ca. 1972], u. a. 7–120, 237–314, 369–408.

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Jörg Rothkamm chend in der musikalischen Komposition berücksichtigt […]. 3. Die Bewegungen werden hauptsächlich vom Musiker ausgeführt […].73

In späteren Texten gipfelte dies in der Forderung nach einer grundsätzlichen „Anwendung musikalischen Denkens auf das Theatralische“ und in dem Wunsch danach, dass „Musik und Drama – im umfassenden Sinn – […] adäquat miteinander verzahnt sein“ müssen.74 Staatstheater beginnt tatsächlich im Abschnitt „repertoire“ mit der sichtbaren Klangerzeugung auf verfremdeten oder üblicherweise nicht als Instrumente genutzten Gegenständen wie hohlen Styroporkugeln. Sie prallen auf und werden aufgefangen, an Bändern gezogen und zwischen den Händen quietschend hervorgedrückt.75 Die Musiker sind hierbei zugleich die einzigen Darsteller. Dieses rhythmisch genau notierte Spiel, das nicht etwa durch das Orchester im Graben, sondern durch einzelne Musikerdarsteller auf der Bühne ausgeführt wird, verdeutlicht – ähnlich wie in Kagels Match für zwei Cellisten und einen Schlagzeuger (1964, UA 1965) – den Übergang von Geste in Klang. Der Akt des Musikmachens ist hier soweit wirksam, dass er das Szenische bestimmt. So werden „Geburt“ und „Kaiserschnitt“ als instrumentales Theater dargestellt, nicht – wie noch in Zimmermanns Soldaten – durch menschliche Stimmen in Grenz- und Extremlagen, darunter „Geburtswehen“.76 Im Abschnitt „ensemble“ für die typischen Stimmfächer der Oper wiederum sollen bei Kagel Laute oder Silben ohne Kontext gesungen werden, was der Parodie von Einsingübungen gleichkommt.77 Und im Abschnitt „saison“, als „sing-spiel“ bezeichnet, stehen 60 szenische Einzelaktionen in Verbindung mit Versatzstücken der Inszenierungen des Opernhauses der laufenden Saison.78 Dazu erklingen „einspielungen“ von zwölf Tonbandabschnitten, die jeweils einem Intervall gewidmet sind79 und als Parodie auf serielle Musik verstanden werden können. 80 Anders als bei Prokof ’ev oder Zimmermann, bei denen das musikali73 Mauricio Kagel, „Über das instrumentale Theater“, in: Neue Musik. Kunst- und gesellschaftskritische Beiträge 8 (1961), o. S. [2]. 74 Mauricio Kagel, „Vom Selbstverständnis und von den Aufgaben des Künstlers“ [1979], in: Worte über Musik. Gespräche, Aufsätze, Reden, Hörspiele, München 1991, 151–157, hier 155; ders., „XII.“, in: Dialoge, Monologe, hg. von Werner Klüppelholz, Köln 1991, 201-211, hier 205. 75 15–50 cm Durchmesser, größtenteils auch mit kleinen Stahlkugeln darin; vgl. Kagel, staatstheater. szenische komposition, 12: „Zeichenerklärung“ und z. B. Nr. 1 (19): „Nachhallzeit“. 76 Ebd., Nr. 3 (21) „Kaiserschnitt“ und Nr. 4 (22) „Geburt“; vgl. hingegen oben, Anm. 67. 77 Kagel, staatstheater. szenische komposition, 137–172. 78 Z. B. „Siegfrieds Idyll“ (ebd., Nr. 6, 252, mit „Schmiedehammer“ auf „Schaumstoffamboß“ aus Wagners Sieg fried), „Der nächste“ (ebd., Nr. 10, 256, mit „Schwan-Wagen“ aus Wagners Lohengrin). 79 Ebd., 121–136 (Prim bis gr. Septime). 80 Im Abschnitt „kontra → danse. ballett für nicht-tänzer“ (ebd., 369–406) für sieben Tänzer und sieben Musiker (instrumental und/oder vokal) wird die gesamte Körpergestik in zwanzig Körperskizzen vorgegeben. Diese Tanzraumpläne verdichten die Tänzer*innen nach solistischem

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sche Zitat noch eine verdeutlichende Funktion hatte, die – letztlich vergleichbar mit Wagners Leitmotiven – die momentane Handlungssituation auf der Bühne näher erhellen sollte, werden in Kagels Staatstheater Gesten und Klänge „als solche und für sich genommen zu Sinnträgern“.81 Die Partitur, die noch bei Zimmermann Werkcharakter beanspruchen konnte, ist bei Kagel eine Materialsammlung. Die Beurteilung der Dramaturgie der Musik hängt in Staatstheater also auch von der jeweiligen Realisierung im Rahmen einer Aufführung ab.

Meta-Oper:82 Europeras (1985–91, UA 1987–91) von John Cage Während bei Kagel das musikalische Material (auch wenn es frei kombiniert werden darf ) in der sehr umfangreichen Partitur nicht nur detailliert und kleinteilig notiert, sondern selbst komponiert ist, konzentrierte sich John Cage in seinem späten Musiktheater vor allem auf die Kombination von Vorgefundenem, von präexistenten Opern. Bezog sich der Titel von Kagels Staatstheater vor allem auf die Institution Oper und den Opernbetrieb, bündelte Cage im Titel seines mehrteiligen Musiktheater-Hauptwerks Europeras (1985–91, UA 1987–91) 83 sogleich die Idee der europäischen Opernvielfalt. Kurze vorgegebene Fragmente aus

Beginn gegen Ende näher miteinander, bis sich zum Schluss alle auf- bzw. übereinander befinden (Nr. 20, 390). Die Musik dazu ist streng rhythmisch notiert, auch dynamisch, aber von der Tonhöhe her frei und beliebig zu beginnen, zu wechseln und zu wiederholen mit teilweisem Tonbandeinsatz. Synchronisation ist nicht beabsichtigt, der Tanz geht nicht aus der Musik hervor, sondern ist unabhängig. Überdies kann mit „jeder beliebigen Seite“ der Tanz- wie Musik-Partitur begonnen werden, „die Reihenfolge der Seiten“ ist aber verbindlich (ebd., 370, Punkt 6). Der „gewünschte Effekt“ ist die „Aussichtslosigkeit, dieses Ziel [eine vollkommene Darstellung] je zu erreichen.“ (Ebd., 369.) 81 Christian Martin Schmidt / Rainer Franke, „Kagel: Staatstheater“, in: Pipers Enzylopädie des Musiktheaters, Bd. 3, hg. von Carl Dahlhaus und Sieghart Döhring, München 1989, 234. Vgl. auch Karl-Heinz Zarius, Staatstheater von Mauricio Kagel. Grenze und Übergang, Wien 1977. 82 Der Begriff „Meta-Oper“ ist der Titel der CD „Experimentelles Musiktheater“ (BMG/Ariola [2004]) innerhalb der CD-Box „Musiktheater c: Experimentelle Formen“ (Bookletrückseite) der CD-Reihe Musik in Deutschland 1950–2000 des Deutschen Musikrats. „Meta-Oper“ wird hier definiert als „Auseinandersetzung mit der musikalischen Tradition“ und „Reflexion über Prinzipien der Oper als zusammengesetzte Gattung und als Institution“ (Covertext verso). Tobias Bleek, der für Musikauswahl und den Booklettext „Meta-Oper. Selbstreflexive Spiele mit der Tradition“ verantwortlich zeichnet, wählte für diese CD neben Cages Europeras 1 & 2 außerdem Kagels Aus Deutschland aus, merkwürdigerweise auch György Ligetis Aventures und Le Grand Macabre. Kagels Staatstheater und Zimmermanns Soldaten hingegen werden in einer separaten CD dieser Box gemeinsam präsentiert unter der Überschrift „Aufbrüche und Revolten“. 83 Es liegen fünf Versionen vor: 1 & 2 (1987, zusammen aufzuführen, 90'+45'), 3 & 4 (1990, 70'+30') sowie 5 (1991, 60'). 3 bis 5 sind quasi Kammermusikversionen von 1 & 2 für Klavier(e) statt Orchester unter Verwendung von Franz Liszts Opernphantasien und 78er-SchallplattenFragmenten ( John Cage: Aufführungsmaterial. Europeras 3 & 4. DIRECTOR [text by Andrew Culver], New York 1990).

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64 Opern von Gluck bis Giacomo Puccini84 sollen in Europeras 1 & 2 im Originaltempo von den Instrumentalisten des weitgehend traditionellen Orchesters gespielt werden, wobei Zeitpunkt und Ausschnitte nach dem Prinzip des Zufalls ermittelt werden. Dazu singen 19 Sänger*innen vollständige Opernarien in der jeweiligen Originalsprache, deren Zeitrahmen wiederum zufällig gesetzt wird. Bis hin zu den Programmheftnotizen, die aleatorisch und anonymisiert aus einer gegebenen Materialsammlung85 von präexistenten Inhaltsangaben ausgewählt werden, sind alle weiteren Aspekte der Aufführung durch dieses Prinzip gesteuert, sogar die „stage positions“ der Akteur*innen (sie werden per Zufallsverfahren aus Webster’s Dictionary of English Language bestimmt). Das umfangreiche Aufführungsmaterial enthält ebenso wie Cages Regiebuch zahlreiche aleatorische Zahlenfolgen, die unter anderem Licht, Dekoration und Choreographie regeln; von Zeit zu Zeit ist auch eine Tonbandcollage aus europäischer Opernmusik zuzuspielen.86 Ähnlich wie bei Kagel werden also musiktheatrale Elemente isoliert, dekon­ struiert und autonomisiert. Während in Staatstheater jedoch musiktheatrale Gesten ausgestellt und die Verbindung von Musik und Bewegung verdeutlicht wurde, erklingen in Europeras „objects trouvés“, also konkrete Fundstücke aus der Musikbibliothek des gängigen Opernrepertoires. Altbekanntes erscheint ohne Zusammenhang, jedoch anders als bei Kagel nicht in parodistischer Absicht. 87 Cage selbst schrieb dazu in der Partitur: Jeder Sänger […] hat unabhängig von den anderen einen eigenen Zeitplan zu erstellen, damit die Überlagerung der Arien, genauso wie bei der Überlagerung der Instrumentalstimmen, eine Musik ergibt, die eher durch Zufall als durch Absicht charakterisiert wird. 88

Altbekanntes erklingt so zwar ohne ersichtlichen Zusammenhang und semantische Funktion. Je höher der Bildungsstand der Hörer*innen jedoch ist, desto eher werden sie dem zufälligen Zusammentreffen bekannter Ausschnitte Bedeu84 John Cage, „Europeras 1 & 2“, in: Europeras 1 & 2 an der / at the Oper Frankfurt [Regiebuch], Edition Peters, o. O. o. J. [Frankfurt 1988], [3], je 1–16 Takte. Abbildungen von Einzelstimmen in: John Cage, hg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1990 (= Musik-Konzepte Sonderband II), 86–93. Der Verlag sandte leider keinen Stimmensatz zur Ansicht. 85 Aus älteren Programmheften (zwei von 24 Fragmenten von Handlungszusammenfassungen gängiger Opern). 86 Cage: „Europeras 1 & 2“, [3]. 87 War Kagels Staatstheater noch in neun Abschnitte unterteilt, so fehlt Cages Europeras 1 & 2 „irgendeine Form von Dramaturgie im Sinne der Erzeugung eines Spannungsverlaufs oder einer dramatischen Entwicklung“ und „jede Dramaturgie des zeitlichen Verlaufs“ (Sabine Sanio, „Das Nichtwissen vor dem Hören – John Cage und die späte Versuchsanordnung seiner Europeras“, in: Experimentelles Musik- und Tanztheater, hg. von Reininghaus und Schneider, 154–158, hier 155). 88 John Cage, „Bemerkungen zur Aufführung“, in: Europeras 1 & 2 an der / at the Oper Frankfurt [Regiebuch], [2].

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tung beimessen, auch wenn sie das aleatorische bzw. indeterminierte Prinzip aller Zeichenebenen – untereinander und zueinander – erfassen. Den jeweils in der konkreten Aufführung entstehenden Musik- und Handlungszusammenhang zu ignorieren dürfte kaum möglich sein. Subtexte – wenn nicht gar komplette Opern – werden zumindest ansatzweise assoziiert, auch wenn die Augenblicke des Wiedererkennens nur kurz sind. Trotz der rein zeichenhaften Struktur dieser Musik, die ohne Handlung auszukommen scheint, haben die semantischen Dimensionen der einzelnen Zitate eine Wirkung, die auf Basis einer Meta-Dramaturgie 89 nicht nur wie ein Kaleidoskop der europäischen Operngeschichte erscheint, sondern bis an deren dramaturgisch revolutionäre Anfänge – nämlich bei Gluck90 – zurückreicht.

Epilog: Vergleich mit der Dramaturgie originärer Musik im Theatertanz dieser Zeit Vergleicht man nun abschließend die Entwicklung der Dramaturgie der Musik im Musiktheater mit der Dramaturgie originärer Musik im Theatertanz,91 so kann man feststellen, dass entscheidende dramaturgische Neuerungen im 19. Jahrhundert vielfach vom Musiktheater ausgingen, während sie im späten 18. und im gesamten 20. Jahrhundert überwiegend vom Theatertanz ausgingen. Nicht vergessen darf man, dass beide Gattungen im 17. und frühen 18. Jahrhundert in den Ballets de cour (z. B. Jean-Baptiste Lullys Ballet de la nuit, UA 1653, und Ballet d’Alcidiane et Polexandre, UA 1658), Comédie-Ballets (z. B. Lullys Le Bourgeois Gentilhomme, UA 1670; Jean-Philippe Rameaus Platée, UA 1745) und Opéra-ballets (André Campras L’Europe galante, UA 1697; Rameaus Les Indes galantes, UA 1736) gewissermaßen verschmolzen wurden und hierbei meist ein kombiniertes musikalisches Gesangs- und Tanztheater entstand.92 In der dreiaktigen Opera seria waren die Zwischenaktballette von der Opernmusik unabhängig; 89 Vgl. dagegen Barbara Zuber, „Entrümpelung. John Cages Europeras 1 & 2“, in: John Cage, hg. von Metzger und Riehn, 100–113, die von „Oper ohne Dramaturgie“ (ebd., 103) spricht. 90 Die Abkürzung „Orfeo“ (Cage, Europeras 1 & 2 an der / at the Oper Frankfurt [Regiebuch], u. a. 16, dort zusammen mit „Zauberfl.“, „Così“, „Dido“, „Boris“) bezieht sich wahrscheinlich auf Glucks Orfeo ed Euridice (UA 1772) bzw. Orphée et Euridice (UA 1774) und nicht auf die gleichnamige Oper von Claudio Monteverdi, die als erstes erhaltenes Werk der Gattung freilich auch einen sinnvollen Startpunkt darstellen würde. Dass das Repertoire bei Puccini endet (und z. B. kein Werk von Richard Strauss enthält), dürfte freilich auch mit Urheberrechtsfragen zusammenhängen – analog die Verwendung von Tonträgern aus der Frühzeit des Grammophons. 91 Gemeint ist also nicht das deutsche Tanztheater im engeren Sinn. Der Begriff Theatertanz bietet sich hier als allgemeiner Oberbegriff an, um auch Musikwerke einzubeziehen, die keinen Bezug zur Gattung originärer Ballettmusik aufweisen. 92 Zuvor unterscheiden sich zwar äußerlich die Gattungsbezeichnungen (vgl. z. B. Claudio Monteverdis „Favola in Musica“ Orfeo von 1607 und dessen Ballo delle ingrate von 1608), aber nicht wesentlich das Konzept, das auch im Ballo weitgehend dem der Gesangsoper entspricht.

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allein die Ballette an den Aktschlüssen standen mit der Oper in direktem Zusammenhang. Allmählich sollte das Ballett eigenständige Werke ohne gesprochenen oder gesungenen Text hervorbringen, die auch von der Dramaturgie her eine separate musikalische Gattung ausbildeten. Im 18. Jahrhundert war Glucks Reform der Ballettmusik mit ihrer Nummerndramaturgie ohne feste Formschemata vor allem in den pantomimischen Szenen (Don Juan, UA 176193) noch der entsprechenden Reform in der Oper vorangegangen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts jedoch hatten Ferdinand Hérold (UA 1828) und andere auf Melodiezitate und -allusionen vor allem aus der Oper zurückgegriffen, um der zunehmend abendfüllenden, aber gesangstextlosen Ballettmusik mithilfe dieser semantisch konnotierten „airs parlants“ handlungsbezogene Bedeutung beizumessen.94 (Ob Prokof ’ev dieses Ballett bzw. diese Technik kannte, als er in L’amour des trois oranges wenngleich kürzere Anklänge an bekannte Opern einfügte, ist nicht bekannt, seine ironische Absicht jedenfalls war Hérolds Nachahmungsästhetik fremd.) Von Adolphe Adams Giselle (UA 1841) bis zu den großen Ballettmusiken von Pëtr Čajkovskij (UA 1877–92) lässt sich dann aber die sukzessive Übernahme des Verweischarakters durch personen-, sach- oder ideenbezogene musikalische Motive erkennen, die im Werk selbst konnotiert werden: zunächst auf Basis des Erinnerungsmotivs Weber’scher Provenienz bei Adam und Léo Delibes,95 dann unter voller Ausschöpfung des Diskurscharakters im Leitmotiv, wie es in Wagners theoretischen Schriften und späten Musikdramen erscheint. Dass Čajkovskij die Anwendung der Leitmotivik auf die pantomimischen Szenen seiner Ballette beschränkte und, bedingt durch die choreographischen Vorgaben, bei der klassischen Nummerndramaturgie blieb, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Ebenso, dass er für die reinen Tanznummern einen neuen, vom Musiktheater unabhängigen, fünfteiligen Musiktyp etablierte: die von mir sogenannte „Pas-Musik“ mit ihren Abschnitten Intrada, Adagio, Variation für männliche und weibliche Tänzer und Coda.96 Igor Stravinskij verzichtete zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Le sacre du printemps (UA 1913) nicht nur auf Leitmotivik und den Typ der Pas-Musik, sondern 93 Gluck gelang in den pantomimischen Szenen bzw. handlungsbezogenen Musiken von Don Juan und Semiramis (UA 1765) eine Klangrede, die durch realistische Tonmalerei dem Verständnis eines ausschließlich durch Gestik, Mimik und Ausstattung zu erzählenden Dramas wesentliche Hilfe gibt. Der Vergangenheit verhaftet erscheinen jedoch die Charaktertänze – Gavotte, Menuett, Gigue und Fandango –, denen das Reformatorische innerhalb der Musik noch ein wenig abgeht (zum genauen Tanz-Musik-Verhältnis können wir uns mangels choreographischer Aufzeichnungen nicht äußern). 94 Rothkamm, Ballettmusik im 19. und 20. Jahrhundert, 53–72. 95 Ebd., 113–150. 96 Ebd., 151–180.

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auch fast gänzlich auf Pantomime-Musik.97 Vielmehr montierte er trotz einer rhythmischen Beruhigung am Ende einzelner Abschnitte musikalisch Heterogenes direkt hintereinander.98 Dies erinnert an das Montageprinzip in Prokof ’evs L’amour des trois oranges. (In der Durchkomposition und Verabschiedung vom Nummernprinzip freilich setzt Stravinskij Wagners diesbezügliche Musiktheaterreform im Ballett um.) Noch deutlicher sind die Bezüge zwischen den Gattungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wo sich Musiktheater und Theatertanz ohnehin immer weniger trennen lassen. Cage hatte in seiner von Merce Cunningham verwendeten Music for piano für Suite for five (UA 1956) bereits mit Zufallsoperationen das originäre Musikmaterial kreiert und es – wie in vielen weiteren Werken der nächsten Jahrzehnte – in völliger Unabhängigkeit und Unkenntnis der Choreographie komponiert. Dies erinnert bereits an die entsprechende Unabhängigkeit von Musik und Szene, die er in den Europeras gut drei Jahrzehnte später realisieren sollte, freilich auf Basis vorgefundenen Materials. Zwischenzeitlich hatte nicht nur Zimmermann partiell eine Simultancollage von Seriellem und Quasi-Zitaten verschiedener Stile (Prokofj’ev, Richard Strauss, Karlheinz Stockhausen) in der literaturbezogenen Ballettmusik Présence (UA 1961) erprobt und dieses Prinzip in den Soldaten im großen Maßstab im Musiktheater realisiert.99 Auch Kagel, ursprünglich von Cage inspiriert, erfand und konzipierte sein „Instrumentales Theater“ zunächst im Bereich des Tanzes außerhalb des Opernbetriebs. Mit dem Theatertanz Pas de cinq, uraufgeführt 1966 an den Münchner Kammerspielen, erprobte er zunächst ein Konzept, nach welchem alle choreographisch-szenischen Bewegungen synchron aus der musikalischen Bewegung entstehen;100 dann erst machte er in Staatstheater die Hervorbringung von Musik als Theater in vielerlei Hinsicht anhand der Pluralität der großen Oper sichtbar. Bei allen grundsätzlichen Unterschieden und eigenen Ansprüchen der jeweiligen Gattungen an die Musik kann also von einem regen Austausch und einer Bezugnahme ihrer Dramaturgien ausgegangen werden. Funktion, Wirksamkeit und semantische Konnotation der Musik sind in diesen beiden Schwestergattungen nicht so unterschiedlich, dass ein/e Komponist*in nicht in beiden tätig sein konnte. Vielmehr nutzten Komponist*innen offenbar vielfach die Erfahrung bzw. die Möglichkeit des Experiments in der jeweils anderen Gattung, bevor sie ihre Konzepte anpassten oder übertrugen.

97 Dies entspricht seiner Tendenz zur Entliterarisierung im Musiktheater dieser Zeit, besonders frappant in L’histoire du soldat (UA 1917), wo es keinen Gesang mehr gibt. 98 Rothkamm, Ballettmusik im 19. und 20. Jahrhundert, 209–240. 99 Ebd., 291–304. 100 Ebd., 305–322.

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Robert Klugseder und Agnes Seipelt

Digitale Musikanalyse auf Grundlage von MEI-codierten Daten Robert Klugseder und Agnes Seipelt Peter Revers verbindet in dem von ihm geleiteten Forschungsprojekt „Analyse musikalischer Interpretation: Herbert von Karajan“ in idealer Weise Informationen aus (analogen) musikwissenschaftlichen Analysen mit algorithmisch und automatisiert abgeleiteten Daten zu Audioaufzeichnungen. Diese methodisch ‚hybride‘ Vorgehensweise (‚Mensch und Maschine‘) ist wegbereitend und wird die geisteswissenschaftliche Forschung der nächsten Jahrzehnte prägen. Eine verwandte, aber in der Datenbasis völlig unterschiedliche Herangehensweise beschreiben nachfolgende Ausführungen zur Musikanalyse auf Grundlage von digital-codierter Musiknotation.1

Vorbemerkungen: Digitale Musikwissenschaft und MEI „Digitalisierung“ ist heute ein häufig verwendeter Terminus. Die Begriffsbestimmung wird jedoch, abhängig davon, ob man Politiker*innen („Internetzugang für alle“), Wirtschaftsvertreter*innen („Automatisierung“) oder Geisteswissenschaftler*innen („Digital Humanities“) befragt, erheblich unterschiedlich ausfallen. Für Letztere ist das „Digitale“ seit einigen Jahren eine Herausforderung, die man, vor allem bei der Drittmittelakquise, bewältigen muss. Und das nicht selten unabhängig davon, ob die digitalen Techniken tatsächlich die zu bevorzugende Methode für die konkreten Fragestellungen darstellen. Man sollte diese verbreitete Verpflichtung zur Verwendung von digitalen Techniken in den Geisteswissenschaften grundsätzlich überdenken und nur für jene Szenarien vorschreiben, in denen ein Mehrwert zu erwarten ist. Dieser könnte folgendermaßen beschaffen sein: 1) Das Digitale führt zu einem Erkenntnisgewinn, der ohne diese Methode nicht erreichbar ist. 2) Durch automatisier1

Dieser Aufsatz basiert auf den Zwischenergebnissen des zweijährigen Projekts „Digitale Musikanalyse mit den Techniken der Music Encoding Initiative (MEI) am Beispiel von Kompositionsstudien Anton Bruckners“ des Instituts für kunst- und musikhistorische Forschungen (IKM) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Kooperation mit der Universität Paderborn und dem Zentrum Musik – Edition – Medien (ZenMEM) sowie dem Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH) der ÖAW, MEI und Verovio unter der Leitung von Robert Klugseder. Mitarbeiter sind Paul Gulewycz (ÖAW) und Agnes Seipelt (Universität Paderborn) sowie Peter Provaznik vom ACDH, der für die Programmierungen der Digitalen Edition und des Analyse-Tools zuständig ist, und Johannes Kepper (Beethovens Werkstatt), der bei der Konzeption und Entwicklung der harmonischen Analyse mit MEI berät. Gefördert wird es durch das Programm GO!DIGITAL 2.0 der ÖAW. Projekthomepage: www.bruckner-online.at (4.2.2019).

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te Prozesse wird eine deutliche Ersparnis von Arbeitszeit erreicht. Bei vielen Digital Humanities-Projekten der ersten Generation fand jedoch nur ein Wechsel in der Art und Weise der Datenerstellung und der Dissemination statt. So ist es mittlerweile üblich, textbasierte Forschungsdaten nicht mehr als PDF-Dateien oder in relationalen Datenbankensystemen online zur Verfügung zu stellen, sondern als ins HTML transformierte TEI-Daten. Diese Herangehensweise wird den beiden genannten Parametern für den sinnvollen Einsatz von digitalen Methoden jedoch selten gerecht. Die Datenerstellung wird durch das Fehlen praxistauglicher Editoren arbeitsaufwändiger (und somit kosten- und zeitintensiver). Zudem erreicht man durch das Generieren von Forschungsdaten mit digitalen Methoden an sich keinen Zugewinn an Erkenntnissen. Unter „digitaler Geisteswissenschaft“ ist somit primär nicht das Erzeugen von Daten zu verstehen („big data“, „Datenfriedhöfe“), sondern die Datenanalyse. Computer sollen daher vornehmlich in folgenden Anwendungsszenarien zum Einsatz kommen, in denen sie dem Menschen überlegen sind: 1) Ausführen von stupiden, handwerklichen Tätigkeiten zur Datenerhebung- oder Auswertung („Automatisierung“). 2) Organisation und Analyse von großen (für den Menschen nicht erfassbaren) Datenmengen. In beiden Szenarien können „Maschinen“, die zudem durch neuronale Netze lernfähig werden („deep learning“), eine große Hilfe darstellen. Das folgende, Albert Einstein zugeschriebene Zitat beschreibt die Symbiose aus „Mensch und Maschine“ eindrucksvoll: „Computer sind unglaublich schnell, genau und dumm. Die Menschen sind unglaublich langsam, ungenau und brillant. Gemeinsam sind sie mächtig jenseits aller Vorstellungskraft.“ Die „Maschine“ soll dort zum Einsatz kommen, wo sie im Vergleich zum Menschen effizienter arbeiten kann. Neben der fachspezifischen Expertise wird die Kommunikationsfähigkeit mit der „Maschine“ mehr und mehr eine wichtige Qualifikation eines Forschenden darstellen („Maschinenpädagogik“). „Mensch und Maschine“ als Team werden in den nächsten Jahrzehnten auch die Geisteswissenschaften bestimmen und die Forschungsmethoden in vielen Bereichen grundlegend verändern. Digital Musicology als Teil der Digital Humanities versteht sich im eigentlichen Sinn als Kanon von Modellierungs-, Transformierungs- und Analyseanwendungen zur Weiterverarbeitung von nativ digital generierten Informationen. Digitale Formen der Archivierung und Edition von Musiknotation als Teil der digitalen Musikwissenschaft werden mittelfristig die herkömmlichen, gedruckten Publikationsformen mehr und mehr ablösen. Das auf XML basierende Codierungsverfahren der Music Encoding Initiative (MEI) kann hier mittlerweile als Standard angesehen werden. MEI-basierte digitale Musikeditionen bieten die Möglichkeit der Darstellung von Korrekturen, Varianten oder Entwicklungsstadien von Kompositionen. Das XML-Format garantiert eine plattformunabhängige Langzeitarchivierung der Daten. Dies ermöglicht die zeitunabhängige Weiterverarbeitung in verschiedenen Medien, mit verschiedenen Anwendungsszenarien und 70

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unterschiedlichen Editoren bzw. Institutionen. Neben der Konservierung und der Edition von Notation wird es auch möglich sein, kleinere und größere Notationskorpora computergestützt nach bestimmten Kriterien analysieren zu können. MEI ist der Versuch, ein System für die Codierung von Musikdokumenten mit einer maschinenlesbaren Struktur zu definieren. Die erste Version von MEI wurde 1998 von Perry Roland entwickelt, als Vorbild diente ihm das XML-TEISchema. MEI bringt Musikwissenschaftler*innen verschiedener Forschungsbereiche aber auch IT-Spezialist*innen, Bibliothekar*innen und Historiker*innen zusammen, um eine möglichst große Bandbreite an Musikdokumenten und Strukturen in bestmöglicher Art und Weise beschreiben zu können. Das Ergebnis der Diskussionen spiegelt sich im MEI-Schema wieder. Dieses open access XMLSchema bietet ein Regelwerk für die Auszeichnung physischer und musikalischer Charakteristika von Dokumenten mit Musiknotation. Das Schema wird durch die MEI-Guidelines dokumentiert, die detaillierte Beschreibungen der Komponenten des MEI-Modells und Vorschläge für die praktische Umsetzung liefern. 2

Digitale Musikanalyse Die Analyse musikalischer Werke als eines der Hauptgebiete der Musikwissenschaft trägt maßgeblich zum Verständnis dieser bei und hilft, „Sinnstiftendes bei unmittelbaren Klangfolgen oder unter größerem Blickwinkel zur Sprache zu bringen.“3 Vor allem mit der harmonischen Analyse können (zumindest teilweise) musiktheoretische und harmonische ‚Regeln‘ („Ein reiner Dur-Akkord in Grundstellung besteht aus mindestens drei verschiedenen Tonhöhen in Terzabständen. Die Töne dazu sind Grundton, große Terz über dem Grundton und reine Quinte über dem Grundton“) nachvollzogen und mit verschiedenartigen Vokabeln und Zeichen um- und beschrieben werden. Allerdings, so Otfried Büsing, ist eine Analyse „keinesfalls eine Tatsachenfeststellung, sondern eine Interpretation, bei der Varianten und Alternativen oder auch Widersprüche einzukalkulieren sind.“4 Trotzdem gibt es schon seit den 1960er Jahren Ansätze, diese Regeln (zumindest jene, die sich festschreiben lassen) formalisiert zu beschreiben und mit diesen formalisierten Aussagen einen Computer die harmonischen Regeln erkennen zu lassen.5 Harmonik kann bzw. wird mit diesen Systemen somit in Algorithmen beschrieben.6 2 http://www.music-encoding.org (4.2.2019). 3 Otfried Büsing, Harmonik als Netzwerk, Hildesheim 2012, 1. 4 Ebd. 5 Eine Übersicht dazu findet man bei Néstor Nápoles López, Automatic Harmonic Analysis of Classical String Quartets from Symbolic Score, Masterarbeit, Barcelona 2017, https://tinylink.net/2hTCC (4.2.2019). 6 Dass diese Auffassung viele Schwierigkeiten birgt und wo und wie die Grenzen der Formalisierbarkeit von harmonischen Gegebenheiten, die eben teilweise interpretiert werden müssen, liegen, sind wichtige Fragen, die jedoch für diese Überlegungen zunächst ausgeklammert bleiben.

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Als Basis für diese Algorithmen dienen Noten, die in codierter Form, d. h. maschinenles- und prozessierbar, vorliegen. Diese Formate können beispielsweise auf ASCII, Midi oder XML basieren. Zu Letzterem gehört auch die genannte Auszeichnungssprache MEI. Bisher gibt es kein Programm oder System, das auf der Basis von MEI eine harmonische Analyse ausführt und die Ergebnisse in die MEI-Codierung an die jeweiligen Stellen zurückführt, obwohl in MEI Elemente zur harmonischen Beschreibung vorhanden sind. Aus diesem Grund sollen im Folgenden Überlegungen für eine entsprechende Analyse angestellt werden. Dem voraus geht eine Vorstellung der verwendeten Quelle, des in Anton Bruckners Lehrzeit angelegten sogenannten „Kitzler-Studienbuchs“, und ihrer historischmusikwissenschaftlichen Einordnung sowie des daraus entwickelten Codierungsmodells bzw. der Digitalen Edition.

Bruckners Lehrzeit 1861–1863 Nach einem strengen Studium der Musiktheorie bei Simon Sechter nahm Anton Bruckner Unterricht beim Linzer Theaterkapellmeister Otto Kitzler (1834– 1915). Kitzler unterrichtete ihn in der zeitgemäßen Art der Instrumentation, im Form- und Periodenbau und in gattungsspezifischen Fragestellungen. Den Kompositionslehren des 19. Jahrhunderts folgend, wurden zunächst einfache Kadenzübungen mit verschiedenen Schlüssen, Modulationsübungen, Übungen zum Periodenauf bau mit kontinuierlich steigendem Schwierigkeitsgrad und dreiteilige Liedkompositionen und daran anschließend Walzer, Polkas und Etüden komponiert. Erst danach widmete sich Bruckner komplexeren Gattungen wie der Klaviersonate, dem Streichquartett und der Symphonie. Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang seine Instrumentationsübungen zu Ludwig van Beethovens Klaviersonate in c-Moll op. 13, der Pathétique. All diese Übungen sind im Kitzler-Studienbuch erhalten, das 2013 von der Österreichischen Nationalbibliothek erworben wurde und nun für die Öffentlichkeit zugänglich ist.7 Das Manuskript umfasst 326 Seiten und enthält zusätzlich zu den Übungen und deren Varianten und Korrekturen auch Kommentare, die den Austausch zwischen Bruckner und seinem Lehrer dokumentieren. Dadurch wird ein wertvoller Einblick in Bruckners Kompositionsunterricht bei Otto Kitzler ermöglicht. Weitgehende Untersuchungen zum Auf bau und Inhalt des Studienbuchs und der Arbeitsweise Bruckners finden sich in der Forschung von Paul Hawkshaw. 8 7 8

Paul Hawkshaw / Erich Wolfgang Partsch, Das Kitzler-Studienbuch. Anton Bruckners Studien in Harmonie- und Instrumentationslehre bei Otto Kitzler (1861–63), Faksimile, Wien 2014 (= Sämtliche Werke: Kritische Gesamtausgabe 25). Vgl. Paul Hawkshaw, The Manuscript Sources for Anton Bruckner’s Linz Works: A Study of his Working Methods from 1856 to 1868, Columbia 1984; ders., Das Kitzler-Studienbuch. Ein unschätzbares Doku-

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Digitale Edition Die Digitale Edition des Studienbuchs basiert auf der bereits genannten Auszeichnungssprache MEI. Mit Plugins und/oder XSLTs9 können die mit Notensatzprogrammen erstellten Noten mit teilweise erstaunlich guter Qualität nach MEI konvertiert werden. Die zahlreichen Eingriffe in den Notentext wie beispielsweise Streichungen, Ausradierungen, Ersetzungen oder Varianten müssen dennoch von Hand nachträglich codiert werden. Dafür werden die jeweiligen Stellen mit dafür vorgesehenen Elementen ausgezeichnet; so enthält zum Beispiel eine Substitution eine Hinzufügung () und eine Löschung (). Durch die geschachtelte Baumstruktur in MEI können solche Phänomene und ihre Abhängigkeiten voneinander beschrieben werden (Abb. 1 und 2).

Abbildung 1: Kitzler-Studienbuch, A-Wn Mus.Hs. 44706, S. 1, T. 16 (in: Hawkshaw / Partsch, Das Kitzler-Studienbuch). © Österreichische Nationalbibliothek. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

9

ment zu Bruckners Arbeitsweise, in: Bruckner Symposion. Zum Schaffensprozeß in den Künsten im Rahmen des internationales Brucknerfestes Linz 1995, Linz 1997, 95–111; ders., Lied als Lehrmittel: Die Lieder in den Formenlehren Anton Bruckners während seiner Studienzeit bei Otto Kitzler 1861–1863, in: BrucknerTagung Bruckner – vokal, 2003, Sonderthema: Musikgeschichte Steyrs, Wien 2009, 179–197. XSLT steht für „Extensible Stylesheet Language Transformation“, mit der man XML-Dateien transformieren, prozessieren oder Operationen ausführen kann.

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Abbildung 2: MEI-Code für die Substitution in T. 16 (S. 1) in der Oberstimme.

Die zahlreich vorhandenen Annotationen Bruckners und Kitzlers im Notentext werden nachträglich in die Codierung aufgenommen. Sie kommentieren musikalische Phänomene, stellen Fragen, kritisieren oder stellen Aufgabenstellungen an den Schüler dar. Mit MEI kann zwischen verschiedenen Schreiber*innen oder Schreibmitteln unterschieden werden. Für dieses Vorhaben wird zwar der gesamte lesbare Notentext aufgenommen, weitergehende Überlegungen zur Genese, also die Codierung einer eventuellen Reihenfolge der Veränderungen, oder zu tiefergehenden philologischen Fragestellungen werden aber bewusst nicht angestellt. Die Codierung zielt darauf ab, den letztgültigen Text des Manuskripts wiederzugeben, in dem alle erkennbaren vorhergehenden Eingriffe summarisch, das heißt ohne weitere zeitliche Differenzierung, aufgenommen werden.10 Für die Modellierung oder, im traditionellen Sinne, die Editionsrichtlinien, wird zunächst das Standard-MEI-CMN-Schema11 benutzt, das aber an die Bedürfnisse des Projekts angepasst wird. Das bedeutet, das Schema wird in seinen Möglichkeiten entsprechend enger gestaltet, aber auch, falls nötig, mit projektspezifischen Elementen und Attributen angereichert. Zusammenfassend haben die vorgestellten Arbeitsschritte das Ziel, eine semantisch angereicherte und philologischen Ansprüchen gerecht werdende Quellenedition zu erstellen, die maschinenlesbar und -prozessierbar ist. Aus der Natur eines Studienbuchs heraus ist die Abfolge der Stücke nicht immer eine strikt chronologische bzw. logische. Vieles im Studienbuch ist fragmentarisch, unvollständig und skizzenhaft. Die Symphonie in f-Moll (1863; von Leopold Nowak später als „Studiensinfonie“ bezeichnet) liegt zum Beispiel zum Großteil nur in einzelnen, voneinander unabhängigen Motiveinfällen vor, nur das Scherzo ist vollständig vorhanden. Ein automatischer Durchlauf der unten 10 Damit wird eine spätere genetische Aufarbeitung möglich gemacht, andererseits können auch im Rahmen der Analyse eventuelle Zusammenhänge zwischen Korrekturen und harmonisch ‚interessanten‘ Wendungen erkannt werden. 11 CMN = Common Music Notation.

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Abbildung 3: Kitzler-Studienbuch, A-Wn Mus.Hs. 44706, S. 4 (in: Hawkshaw / Partsch, Das Kitzler-Studienbuch). © Österreichische Nationalbibliothek. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

beschriebenen Analyse würde in vielen Fällen somit kein brauchbares Ergebnis liefern. Aus diesem Grund sind für die Edition zwei getrennte Modi vorgesehen: die Werk- und die Quellenansicht, zwischen denen der User wechseln kann. Die Analyse-Anwendung wird in der zuerst genannten Ansicht implementiert. Diese bietet die Möglichkeit, die Stücke nach Werkverzeichnis-Nummern geordnet und ediert, also in Notensatz gesetzt12 , aufrufen zu können. Einige Kommentare und Annotationen Bruckners werden ebenfalls in die Edition aufgenommen. Auf Seite 4 des Studienbuchs (Abb. 3) kann man am Beginn der Übungsabschnitte die Worte „Plagalschluß“ oder „Trugschluß“ lesen. Vereinzelt sind zudem Verweise auf Modulationen wie „nach Bdur“ und „ins Amoll“ eingetragen. All das soll zum besseren Verständnis der Übungen zusätzlich zur Edition des Notentextes dargestellt werden. Über einen Link kann direkt in die synoptische Quellenansicht gewechselt werden, in der die Edition in der Rei12 MEI-Codierungen können mit der Anzeigebibliothek Verovio gerendert und in klassischer Notation angezeigt werden, vgl. www.verovio.org (4.2.2019).

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henfolge des Original-Manuskripts im Vergleich mit dem dazugehörigen Faksimile in einer kombinierten Ansicht angezeigt wird. Längere Kommentare sind oft zu umfangreich, um sie sinnvoll im gerenderten Notentext unterbringen zu können, weswegen sie nur in der Quellenansicht verfügbar sind. Solche Kommentare erscheinen in einer Übertragung, getrennt vom Notentext, in einem Informationsfenster am Seitenrand des Digitalisats. Diese Trennung der Inhalte ist ein akzeptabler Kompromiss, um die Musikedition einerseits nicht zu überladen, andererseits den Erfordernissen einer quellenkritischen Edition gerecht werden zu können.

Abbildung 4: FRBR-Beziehungen.

Ein weiteres Feature, das in der Edition Anwendung finden soll, ist die Anzeige von Substitutionen im Notentext (vgl. Abb. 2). Grundsätzlich soll das zuletzt Geschriebene und demnach Gültige () angezeigt werden. Für die Verbindung der Edition mit den Inhalten des auf dem Metadateneditor MerMEId basierenden Forschungsprojekts „Digitales Werkverzeichnis Anton Bruckner“13 werden zusätzlich FRBR14 -Beziehungen im Kopf bereich der MEI-Dateien angelegt. Jedes Werk wird mit einem Label versehen, in dem die WAB-Nummer des Werks zu 13 Forschungsprojekt zur Neubearbeitung des Werkverzeichnisses von Anton Bruckner am IKM der ÖAW, Leitung: Robert Klugseder, www.bruckner-online.at (4.2.2019). 14 FRBR = „Functional Requirements for Bibliographic Records“, ein Datenmodell für bibliographische Metadaten, das auch mit MEI beschreibbar ist.

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finden ist. Über eine mit einer oder mehreren kann mit der Relation „hasEmbodiment“ darauf geschlossen werden, ob sich das Werk aus einer oder mehreren Dateien zusammensetzt.

Abbildung 5: FRBR-Beziehungen im Kopf bereich einer MEI-Datei.

Harmonische Analyse Mit dem codierten Studienbuch als Datengrundlage sollen die Grenzen einer automatisierten, musikwissenschaftlichen Ansprüchen genügenden harmonischen Analyse ausgelotet werden. Das Ziel ist, eine Brücke zwischen editorischer Arbeit und späterer musikwissenschaftlicher und -theoretischer Auswertung bzw. Forschung zu schlagen, um digitale Editionen in Zukunft nicht nur dynamisch anzeigen, sondern auch auswerten zu können. Dabei ist klar, dass eine automatisierte Analyse an Grenzen stoßen wird. Spannend ist vor allem die Frage, wo diese Grenzen liegen und wie sie sich letztlich Benutzer*innen vermitteln lassen, um diese zur eigenständigen Untersuchung der nicht eindeutigen harmonischen Phänomene anzuregen. Durch die mit MEI gegebene Möglichkeit, Analyse-Ergebnisse in die ursprüngliche Codierung zu implementieren, können auch nicht automatisiert erkannte Daten manuell nachgetragen werden. Wie bereits angedeutet, gibt es auf dem Gebiet der computergestützten Analyse bereits weitgehende Forschung und unterschiedliche Ansätze, Musik mit dem Computer zu analysieren. Nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden sollen die Pionierarbeiten auf dem Gebiet der computerbasierten Stufenanalyse von Terry Winograd aus dem Jahr 1968 und von H. John Maxwell aus dem Jahr 1992.15 15 Tery Winograd, Linguistics and the Computer Analysis of Tonal Harmony, in: Journal of Music Theory 12/1 (1968), 2–49; H. J. Maxwell, An Expert System for Harmonic Analysis of Tonal Music, in: Under-

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Das in den 1980er Jahren von David Huron entwickelte Codierungsformat Humdrum16 bietet mit den von Craig Sapp implementierten Analyse-Funktionen der Humdrum extras17 ein Bündel an verschiedenen Analyse-Abfragen und Algorithmen. In der Kategorie „harmony“ findet man beispielsweise den Befehl „tsroot“, mit dem der von David Temperley 1997 entwickelte „algorithm for harmonic analysis“18 aufgerufen wird. Dieser wurde 2001 als Melisma Music Analyzer veröffentlicht und gibt Usern eine mit harmonischen Informationen angereicherte Humdrum-Datei aus (Abb. 6).19 Temperleys Ziel ist, mit diesem Algorithmus den Prozess des „menschlichen“ Analysierens so gut wie möglich nachzuahmen und zu modellieren. 20 Damit ist gemeint, dass er nicht nur die gleichzeitig klingenden Töne isoliert analysiert, sondern auch den Kontext beachtet und gegebenenfalls in die Analyse einbezieht. Dafür beschränkt er die Analyse zunächst auf die Tonart(„key finding“) und Grundtonbestimmung („root finding“) in vorher festgelegten Segmenten des Stückes. 21 Letztere verwendet Regeln, sogenannte „preference rules“, die unter anderem die Relevanz von Verzierungsnoten festlegen („ornamental dissonance rule“ 22), die Unterteilung in Segmente regeln („strong-beat rule“ 23) oder die Bestimmung von Akkordgrundtönen festlegen, wenn diese nicht eindeutig ist („harmonic variance rule“). 24 Dabei ist zu beachten, dass der von Temperley festgelegte Input Musik im MIDI-Format ist. Neben dem Melisma Music Analyzer bieten die Humdrum extras weitere Programme an, die z. B. die Befehle „keycor“ und „mkeyscape“ zur Verfügung stellen, mit denen ein Algorithmus aufgerufen wird, der die Tonarten bestimmt und graphisch anzeigt. Dieser Algorithmus wird unten näher erläutert. Im Gegensatz zu den Codierungsformaten Humdrum, Lilypond 25, Music­ XML26 oder MEI ist das Python-basierte und am Massachusetts Institute of Technology (MIT) entwickelte music2127 auf musikalische Analysen und Abfragen

16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27

standing Music with AI: Perspectives on Music Cognition, hg. von Mira Balaban, Kemel Ebcioglu und Otto E. Laske, Boston, MA 1992, 335–354. Vgl. http://www.humdrum.org (4.2.2019). Humdrum extras, http://extras.humdrum.org (4.2.2019). David Temperley, An Algorithm for Harmonic Analysis, in: Music Perception 15/1 (1997), 31–68. Humdrum extras, tsroot manpage: http://extras.humdrum.org/man/tsroot (4.2.2019). Vgl. Temperley, An Algorithm for Harmonic Analysis, 33. Vgl. ebd., 34. Ebd., 54. Ebd., 52. Ebd., 53. Die „line of fifths“ führt Temperley in seinem Aufsatz ein, es handelt sich um den Quintenzirkel, der aber aufgefaltet, als Linie, in beide Richtungen unendlich ist (vgl. ebd., 42). Lilypond. Notensatz für Jedermann, http://lilypond.org/index.de.html (4.2.2019). MusicXML, 2004 von Michael Good entwickelt, ist ein Vorgänger von MEI und basiert ebenfalls auf XML. Es ist vor allem als Austauschformat für unterschiedliche Codierungsformate in Gebrauch, vgl. https://www.musicxml.com (14.2.2019). Homepage von music21, http://web.mit.edu/music21 (4.2.2019).

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Robert Klugseder und Agnes Seipelt !!!OTL: Prelude No. 12 in F minor **tshrm

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F F =1 F C C C =2 F F F F =3 G G G G =4 C C C C C C =5 F

4F\ . =1 4c\ . 4C/ . =2 4F\ . 4FF/ . =3 4BB-/ . 4BBn/ . =4 4C/ . 4r . . . =5 2r

8r 8a-/ =1 8a-/L 8g/J 8r 8b-/ =2 8b-/L 8a-/J 8r 8aa-/ =3 8aa-/L 8gg/J 8r 8ff/ =4 8ff/L 8een/J 16r 16g/LL 16c/ 16g/JJ =5 16r

8r 8f\ =1 8f\L 8en\J 8r 8g\ =2 8g\L 8f\J 8r 8cc\ =3 8cc\L 8b-\J 8r 8a-\ =4 8a-\L 8g\J 8en\ . 8r . =5 8f\

Abbildung 6: Johann Sebastian Bach, Präludium f-Moll BWV 881 (Das wohltemperierte Klavier, Band 2), T. 1–4 in Humdrum-Codierung mit analytischen Informationen.

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diverser Art spezialisiert, dient aber nicht als Codierungssprache für Musiknotation. Music21 stellt einen ‚Werkzeugkasten‘ („toolkit“) bereit, mit dem die von MIDI, Lilypond, MusicXML und auch MEI importierten Daten analysiert, verarbeitet und wiederum ins jeweilige Ausgangsformat exportiert werden können. 28 Music21 wirbt damit, „simple to use but […] also extremely powerful“ 29 zu sein und mit wenigen Zeilen Code diverse Operationen durchführen und Abfragen stellen zu können. In der Tat ist music21 zurzeit eines der vielseitigsten Werkzeuge, zudem ist die zugrundeliegende Programmiersprache Python deutlich einfacher und simpler gehalten als manch andere. Die Dokumentation von Music21 ist sehr ausführlich und relativ gut verständlich. 30 Im Folgenden sind einige Zeilen Code abgebildet, mit denen die obige Humdrum-Datei des Präludiums von Bach importiert und mit Stufen versehen wird, wobei die Tonart des Stücks für die Analyse vorher angegeben werden muss:31 # import humdrum file bach = m21.converter.parse(‘bachfminor.krn’) # create chords by combining all voices bach_chords = bach.chordify() # define key f-minor key = m21.key.Key(‘f ’) for chord in bach_chords.recurse().getElementsByClass(‘Chord’): # convert each chord to closed position chord.closedPosition(forceOctave=4, inPlace=True) # obtain roman numeral in the context of the key roman_numeral = m21.roman.romanNumeralFromChord(chord,key) # attach result as lyric chord.addLyric(str(roman_numeral.figure)) # add chord reduction with numerals to original score bach.insert(bach_chords) # export everything as musicxml for further processing bach.write(fmt=’musicxml’, fp=’bachfminor.xml’)

Ein Nachteil bei einem MEI-Import ist, dass die analytischen Informationen nicht in die MEI-Datei zurückgeschrieben werden können. Als Export würde sich MusicXML anbieten, das in einem Notensatzprogramm wie Sibelius graphisch dargestellt oder zurück nach MEI konvertiert werden könnte. Eine Analyse mit MEI 28 Der Rücktransfer von MEI-Daten ist noch nicht möglich, soll in diesem Projekt jedoch verwirklicht werden. 29 „What is music21?“, Abschnitt „Learning music21“, http://web.mit.edu/music21/doc/about/ what.html (4.2.2019). 30 „music21 documentation“, http://web.mit.edu/music21/doc (14.2.2019). 31 Die Zeilen mit einer Raute (#) sind Kommentare zu der nachfolgenden Code-Zeile.

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als Input ist somit nur über Umwege möglich und über diese Umwege bzw. Konvertierungen kann viel von den Inhalten verloren gehen, verändert werden oder unnötige Informationen können hinzukommen. All diesen Systemen ist zudem gemein, dass sie die Benutzer*innen vor die Hürde der Einarbeitung in die jeweiligen Programmiersprachen und in die Arbeit mit der Kommandozeile stellen. Ziel des hier vorgestellten Analyseprojekts ist es nun, diese Hürden zu eliminieren. Der Ansatz ist, einen Algorithmus, der schon 1990 entwickelt wurde und in den Humdrum extras (Befehl „keycor“) und in music21 Verwendung findet, 32 für eine „kommandozeilenlose“ Nutzung mit MEI-Daten umzuarbeiten. Dieser sogenannte „key-finding“-Algorithmus von Carol Krumhansl und Mark Schmuckler (im Folgenden KS-Algorithmus genannt) 33 basiert auf der einfachen Idee des Auszählens von Tonhöhen und einem Abgleich mit Vergleichswerten. Dabei wird ermittelt, wie häufig jede Tonhöhe (unabhängig von Oktave und enharmonischer Verwechslung) in einem Stück vorkommt. Als Ergebnis entstehen Histogramme mit zwölf Zahlenwerten für die Töne der chromatischen Tonleiter. Diese Häufigkeitsverteilungen werden mit der sogenannten „PearsonKorrelation“ mit vordefinierten Vergleichswerten für jede Tonart in Beziehung gesetzt, womit die Ähnlichkeit der beiden Histogramme errechnet werden kann. R (x, y) =

∑(xn – x) ˉ (yn – y) ˉ ∑(xn – x) ˉ ∑(yn – y) ˉ 2

34 2

Die Vergleichswerte entstammen kognitiven Experimenten, bei denen die Proband*innen die Zugehörigkeit von Tönen zu Tonarten in verschiedenen musikalischen Kontexten bewerten sollten. Das Histogramm der Probe wird mit einem Histogramm jeder Tonart verglichen. Die Vergleichswerte für C-Dur35 werden für Cis-Dur um eine Position nach rechts verschoben, für D-Dur zwei Positionen nach rechts etc. Die ursprünglichen Vergleichswerte des Algorithmus stehen im KrumhanslKessler-Profil. 36 Im Laufe der Zeit leiteten weitere Wissenschaftler*innen zusätzliche Profile aus unterschiedlichen Musikkorpora oder aus Hörexperimenten ab, 32 Modulbeschreibung „music21.analysis.discrete“, http://web.mit.edu/music21/doc/moduleReference/moduleAnalysisDiscrete.html (4.2.2019). 33 Carol L. Krumhansl, Cognitive Foundations of Musical Pitch, Oxford 1990, 77–110; vgl. „keycor manpage“, in: Humdrum extras, http://extras.humdrum.org/man/keycor (4.2.2019). 34 Pearson-Korrelation mit x als Tonhöhen-Histogramm aus dem zu analysierenden Bereich und y als Vergleichswerte für jede Tonart. x-Strich und y-Strich sind die jeweiligen Durchschnittswerte. 35 Im simple-Profil mit den Werten 2,0,1,0,1,1,0,2,0,1,0,1. 36 Carol L. Krumhansl / Edward J. Kessler, „Tracing the Dynamic Changes in Perceived Tonal Organization in a Spatial Representation of Musical Keys“, in: Psychological Review 89/4 (1982), 334–368, hier 341–343.

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die aufgrund der musikalischen Grundlagen verschieden ausgeprägt sind. 37 Beispielsweise tendiert das originale Krumhansl-Kessler-Profil dazu, die Dominante als Tonika zu erkennen, das Aarden-Essen-Profil dagegen neigt dazu, die Subdominante als Tonika zu erkennen. Das simple-Profil hingegen hat keine besondere Ausrichtung, wird bei kleinen zu untersuchenden Regionen aber sehr ungenau (vgl. Abb. 7). **kern **number C 6.35 C# 2.23 D 3.48 D# 2.33 E 4.38 F 4.09 F# 2.52 G 5.19 G# 2.39 A 3.66 A# 2.29 B 2.88 c 6.33 c# 2.68 d 3.52 d# 5.38 e 2.60 f 3.53 f# 2.54 g 4.75 g# 3.98 a 2.69 a# 3.34 b 3.17 *- *-

**kern **number C 17.7661 C# 0.145624 D 14.9265 D# 0.160186 E 19.8049 F 11.3587 F# 0.291248 G 22.062 G# 0.145624 A 8.15494 A# 0.232998 B 4.95122 c 18.2648 c# 0.737619 d 14.0499 d# 16.8599 e 0.702494 f 14.4362 f# 0.702494 g 18.6161 g# 4.56621 a 1.93186 a# 7.37619 b 1.75623 *- *-

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Abbildung 7: Profile v.l.n.r.: Krumhansl-Kessler, Aarden-Essen, simple (http://extras.humdrum. org/man/keycor [4.2.2019]).

Die Tonart mit dem aus der Berechnung resultierenden höchsten Korrelationswert R wird als die „richtige“ Tonart des betreffenden Ausschnitts gewertet. Damit kann die Tonart eines ganzen Stücks oder eines Ausschnitts mit hoher Wahrscheinlichkeit korrekt bestimmt werden. Am Beispiel des Liedes Von der 37 Vgl. „keycor manpage“, http://extras.humdrum.org/man/keycor (4.2.2019).

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schlummernden Mutter aus Bruckners Studienbuch soll dies gezeigt werden: In Abbildung 8 findet sich, in Viertel gezählt, 5,3mal (gerundet) die Tonhöhenqualität c. Anschließend werden alle cis gezählt, dann alle d usw. Daraus entsteht folgendes Histogramm (von c, cis/des, e etc. bis h): 5,29; 0,5; 4,32; 0; 2; 15,6; 0; 7,8; 0; 6,5; 4,6; 038. Wendet man den KS-Algorithmus auf dieses Histogramm an, erhält man folgende Korrelationswerte: Cmaj: 0,45; C♯/D♭maj: -0,14; Dmaj: -0,17; D♯/E♭maj: 0,28; Emaj: -0,62; Fmaj: 0,76; F♯/G♭maj: -0,28; Gmaj: -0,02; G♯/A♭maj: 0,11; Amaj: -0,44; A♯/B♭maj: 0,79; Bmaj: -0,69.

Man erkennt, dass in diesem dreitaktigen Ausschnitt die Tonarten F-Dur mit 0,76 und Ais- bzw. B-Dur mit 0,79 die höchsten Werte haben und somit als eventuelle Tonarten in Frage kommen. 39

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Abbildung 8: Anton Bruckner, Von der schlummernden Mutter, Anfang, Kitzler-Studienbuch, S. 22, Verovio-Rendering der MEI-Codierung.

Nicht selten treten Tonartänderungen innerhalb eines Stückes auf. Der KSAlgorithmus auf das gesamte Stück angewendet könnte diese Änderungen nicht erkennen. Ein notwendiger Schritt ist die bereits von Temperley vorgenommene Unterteilung eines Stücks in Segmente, die jeweils mit dem KS-Algorithmus analysiert werden können. Die entscheidende Frage ist nun, welche Abschnitte das beste Ergebnis liefern werden. Bei ersten Tests lag die Spanne der Abschnitte 38 Die ungeraden Werte entstehen durch die Sextolen in der Klavierstimme. 39 Die Enharmonik spielt für den Algorithmus keine Rolle, da seine Referenzwerte auf Hörexperimenten basieren, in denen es keine Enharmonik gibt.

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zwischen acht Takten und einer einzelnen Zählzeit. Die Ergebnisse variierten bei Veränderung der Größe der Abschnitte jedoch stark, sodass hier keine eindeutige Lösung gefunden werden konnte. Das Problem bei großen Abschnitten ist die zu globale Berechnung, Binnenänderungen der Tonarten werden nicht berücksichtigt. Bei kleinen Abschnitten besteht hingegen die Gefahr, dass zu wenige Informationen vorhanden sind, um ein aussagekräftiges Ergebnis zu erhalten. Craig Sapp, Spezialist für computerbasierte Musiktheorie und Akustik an der Stanford University, hat dieses Problem gelöst, indem er den KS-Algorithmus auf Humdrum-Musikdaten und alle darin möglichen Segmentierungen anwendet und sie graphisch darstellt (vgl. Abb. 9 und 10). Die horizontale Achse beschreibt die Zeit vom Anfang des Musikstücks bis zum Ende. Die vertikale Achse beschreibt den Ausschnitt des Stücks, der dem Algorithmus übergeben wird. Somit repräsentiert die Spitze des Dreiecks das gesamte Stück und hat demnach nur einen Wert, eine Tonart. Auf der unteren Seite des Dreiecks werden die kleinsten Abschnitte, also Takte oder sogar Zählzeiten, dargestellt. Von oben nach unten werden die berechneten Ausschnitte immer zahlreicher und kleiner und damit auch immer genauer in ihren Ergebnissen. Je nachdem, welcher Ausschnitt aus dem Dreieck betrachtet wird, können mehr oder weniger Details der Tonartenstruktur erkannt werden. Sapp nennt dieses Diagramm „keyscape“, abgeleitet von „landscape“, weil, wie in einer Landschaft, einerseits Phänomene im Vordergrund existieren, und andererseits solche, die im Hintergrund angesiedelt sind. Dabei wird jeder Tonart eine Farbe zugewiesen. In Abbildung 11 sieht man das „keyscape“ der Schubert-Variation Nr. 6 aus 13 Variationen auf ein Thema von Anselm Hüttenbrenner D 576 in Beziehung zum gewählten Notenausschnitt. Die deutliche Tonartänderung nach der Wiederholung ist im keyscape sichtbar. Wie oben erläutert, gibt es verschiedene Profile des KS-Algorithmus, die man zum Berechnen benutzen kann und die sich in ihren Analyse-Ergebnissen immer leicht unterscheiden. Das eigentlich Komplizierte an Modulationen ist aber im Grunde nicht die Identifikation der verschiedenen Tonarten, sondern die „Grenzen“ der Tonarten, die Bereiche, in denen sich die Veränderungen abspielen. Ausschlaggebend ist die Bedeutung der Akkorde, die in verschiedenen Kontexten unterschiedliche oder mehrere Bedeutungen haben können. Grundlage der Akkordanalyse ist die Erkennung der Tonart bzw. des Grundtons. Mit der Segmentierung und der überlappenden Berechnung von Tonarten mit dem KS-Algorithmus werden diese Grenzen zumindest besser lokalisiert. Ambivalenzen und Doppeldeutigkeiten erkennt man bei der Analyse ohne Computerunterstützung gut, wobei zwei Analysen derselben Progression unterschiedlich ausfallen können. Temperleys Algorithmus versucht allerdings, unterschiedliche Interpretationen der Analyse zu bewerten. 84

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Abbildung 9: Segmentierung eines Musikstücks zur Berechnung der Tonarten.40

Abbildung 10: Schematische Darstellung einer Komposition.41 40 Craig Sapp, Computational Methods for the Analysis of Musical Structure, Stanford 2011, 96. 41 Ebd., 73.

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Abbildung 11: Keyscape der Variation Nr. 6 (Beginn) aus Franz Schuberts 13 Variationen auf ein Thema von A. Hüttenbrenner D 576 im Vergleich zum jeweiligen Notenausschnitt (Sapp, Computational Methods, 76).

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Der Ansatz im Bruckner-MEI-Analyseprojekt ist, den Benutzer*innen kein eindeutiges Ergebnis der Tonarten zu liefern, sondern sie dabei zu unterstützen, das für sie ‚richtige‘ Ergebnis zu finden. Bevor ihnen eine Akkord- oder Stufenanalyse vorgelegt wird, müssen sie selbst entscheiden, wo gegebenenfalls die Tonartänderungen stattfinden. Die Tonart des gesamten Stückes kann von der Applikation bestimmt werden und solange es sich um Musik aus dem dur/moll-tonalen Bereich handelt, arbeitet der KS-Algorithmus weitgehend fehlerfrei. Anschließend kommt die vorgestellte Methode von Sapp zum Einsatz, in dem jede Ausschnittgröße im Stück auf ihre Tonart hin untersucht wird. Neben der globalen Betrachtung des Stücks werden somit die gewählten Abschnitte immer kleiner, von acht Takten zu sieben, sechs Takten usw. Um die Tonartänderungen noch besser lokalisieren zu können, werden diese Abschnitte jeweils auch mit Überlappung berechnet. Diese so generierte Masse an Informationen über die Tonarten soll den Benutzer*innen schließlich in einem online-Analyse-Tool zugänglich gemacht werden.42 Das Tool wird die manuelle Adjustierung der Ausschnittgröße erlauben und zudem Tonartwechsel visualisieren. Auf bauend auf den vorgestellten Methoden wird die weitere Projektlaufzeit der Entwicklung einer Stufenanalyse gewidmet sein. Zum Einsatz kommen soll der von Temperley entwickelte Algorithmus zur Grundton- bzw. Akkorderkennung (Melisma Music Analyzer). Die bestehenden Applikationen sollen aber weder verbessert noch genauere Analyse-Werkzeuge programmiert werden. Die Algorithmen sollen in einer benutzerfreundlichen Weboberf läche genutzt werden können, wobei die Verwendung des Codierungsstandards MEI das Alleinstellungsmerkmal darstellt.

42 Vgl. http://www.bruckner-online.at (22.3.2019).

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Herausforderungen musikpädagogischen Handelns in einer diversifizierten Gesellschaft Zur theoretischen Fundierung eines Begriffs künstlerischer Praxis am Beispiel des offenen Ensembles Meet4Music an der Kunstuniversität Graz Silke Kruse-Weber und Maximilian Gorzela

Einführung Derzeit ist Europa mit einem demografischen Wandel konfrontiert, der sich gegenwärtig zu umfassenden Migrationsbewegungen gef lüchteter Menschen zugespitzt hat. Entsprechend stehen auch Musiker*innen heute vor großen Veränderungen in ihrem Arbeitsumfeld. Mehr als je zuvor sind professionelle Musiker*innen und Instrumentalpädagog*innen mit neuen Herausforderungen in neuen Kontexten und mit neuen Zielgruppen konfrontiert und müssen ihre Komfortzone verlassen, um auf die dynamischen Anforderungen der sich wandelnden Gesellschaft und Kultur reagieren zu können. Entscheidend sind deshalb lebenslanges Lernen sowie übertragbare Kompetenzen von Musiker*innen, wenn es darum geht, f lexible Portfolio-Karrieren und neue Berufsfelder, zum Beispiel in der Community-Musik, zu initiieren. In einer sich zunehmend schneller wandelnden Gesellschaft müssen die Absolvent*innen in vielseitigen Praxisfeldern arbeiten können. Hierbei werden Teilzeitjobs mit aufeinanderfolgenden kurzen Arbeitsperioden unterschiedlichster Art und die Zusammenarbeit mit verschiedenen Disziplinen kombiniert. Studierende müssen in ihrer Ausbildung auf die Fähigkeit zur Adaption an die sich verändernden Lernumgebungen vorbereitet werden.1 Universitäten sind daher zunehmend gefordert, Mitverantwortung für den Umgang mit den zunehmend diversifizierten Berufsbildern von Künstler*innen und Musikpädagog*innen zu übernehmen und bereits früh den Zugang zu vielschichtigen künstlerischen bzw. musikpädagogischen Praxisfeldern zu ermöglichen. Hochschuldidaktische Konzeptionen und Projekte sollten für diese ‚Felder­ erkennung‘ einen geschützten Rahmen schaffen, der zur Exploration innovativen künstlerischen und musikpädagogischen Handelns ermutigt und dabei zugleich 1

Vgl. Rineke Smilde / Sigurður Halldórsson, „‚New Audiences and Innovative Practice‘. An International Master’s Programme with Critical Reflection and Mentoring at the Heart of an Artistic Laboratory“, in: Collaborative Learning in Higher Music Education, hg. von Helena Gaunt und Heidi Westerlund, Farnham 2016, 225–230, hier 225.

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einen konstruktiven Umgang mit Niederlagen ermöglicht. Rineke Smilde stellt in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit eines „artistic laboratory“ heraus, in welchem sich Studierende unterschiedlicher Studienrichtungen austauschen und kollaborativ sowie kreativ arbeiten können. 2 Das Projekt Meet4Music an der Kunstuniversität Graz bietet Musiker*innen in der Ausbildung einen Boden, sich in neuen musikpädagogischen Handlungsfeldern auszuprobieren, offeriert es doch eine Möglichkeit, sich aus musikpädagogischer Perspektive den Herausforderungen der heterogen verfassten Migrationsgesellschaft zu nähern und auf diese Weise kulturelle Veränderung mitzugestalten. Im vorliegenden Aufsatz werden wir zunächst die Entstehung und Entwicklung des Projekts Meet4Music skizzieren sowie dessen Struktur und Ziele darlegen. Den zentralen Bezugspunkt dieser Überlegungen bildet dabei die Betrachtung der hochschuldidaktischen Dimensionen des Projekts mit den Erfahrungen der Studierenden. In einem nächsten Schritt wollen wir uns unter Zugrundelegung dreier komplementärer theoretischer Paradigmata dem Begriff künstlerischer Praxis annähern, der den musikpädagogischen ebenso wie den sozialen Ansprüchen von Meet4Music gerecht wird: Im Interesse einer begriff lichen Fundierung werden wir den praxialen Ansatz musikalischen Lernens von David J. Elliott mit den Einsichten der sozial- und kulturwissenschaftlichen Performativitätstheorien verbinden, die soziales Handeln als diskursive Hervorbringung geteilter Wirklichkeiten auffassen, und schließlich die Anschlussfähigkeit zum kognitionswissenschaftlichen Paradigma des Enaktivismus aufzeigen. Zuletzt werden wir die Ziele des Projekts Meet4Music an den in der Begriffsarbeit gewonnenen Einsichten ref lektieren und im Hinblick auf die Berufsfähigkeit zu einigen Implikationen für die hochschulische Bildung von Künstler*innen und Musikpädagog*innen zusammenführen.

1. Entstehung und Entwicklung von Meet4Music Angesichts der vermehrten Zuwanderung Gef lüchteter (insbesondere aus den arabischen Bürgerkriegsländern) nach Österreich seit Ende des Jahres 2015 sahen sich Studierende und Lehrende am Institut für Musikpädagogik der Kunstuniversität Graz herausgefordert, die gemeinsame Teilhabe an musikalischer Praxis zu nutzen, um sich aus musikpädagogischer Perspektive im Sinne interkultureller Verständigung gesellschaftlich zu engagieren. Nach der positiven Resonanz auf das Benefizkonzert Music4Refugees zur Begrüßung der gef lüchteten Menschen mit etwa 500 Besucher*innen im Dezember 2015, dessen Höhepunkt das gemeinsame Musizieren und Tanzen mit ca. 70 Musizierenden verschiedenster Kulturen bildete, sollte diese Initiative nachhaltig in dem Projekt Meet4Music weitergeführt 2

Vgl. Rineke Smilde, Musicians as Lifelong Learners. Discovery through Biography, Delft 2016.

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werden. Als offenes Ensemble zielt Meet4Music auf die gemeinschaftliche Teilhabe von Akteur*innen verschiedenster sozialer und kultureller Herkunft am aktiven Musizieren; dabei durchdringen sich künstlerisch-pädagogische Ziele wie musikalische Bildung und die Erweiterung der individuellen musikalischen Ausdrucksfähigkeiten mit sozialen Zielen der gesellschaftlichen Partizipation und des Austauschs mit Anderen wechselseitig. Meet4Music richtet sich an alle Menschen in und um Graz, ungeachtet ihrer Herkunft, ihrer musikbezogenen Vorerfahrungen, ihrer körperlichen und geistigen Dispositionen, ihres Alters, ihrer kulturellen, sexuellen und religiösen Identität.

2. Struktur und Ziele des Projekts 2.1. Meet4Music als offenes Ensemble Im Zuge der wöchentlichen Workshops, in denen abwechselnd im Chor, Drumcircle oder Gamelanensemble musiziert und Theater in den Räumen der Kunstuniversität Graz gespielt wird, haben Teilnehmende die Möglichkeit, Teilhabe am künstlerischen Gestalten zu erfahren. Dabei geht es nicht so sehr um die instruktive Erarbeitung vokaler, instrumentaler und theatraler Fertigkeiten, sondern um Bildungspraxis, in der die Anleitung auf die Ermöglichung der symbolischmusikalischen Hervorbringung und kommunikativen Aushandlung musikalischer Bedeutungen und Bedeutsamkeiten aller Teilnehmenden zielt. 3 Im Hinblick auf dieses Ziel eines kreativen Austauschs haben sich insbesondere Ansätze der angeleiteten Gruppenimprovisation als ertragreich erwiesen.4 Da die Workshops kostenlos angeboten werden und keine Anmeldung oder spezifischen Vorkenntnisse erfordern, bieten sie ein niederschwelliges Angebot, in dessen inklusivem Setting sich die Teilnehmer*innen als mit Anderen gleichberechtigt erfahren und in Interaktion treten können. 2.2. Hochschuldidaktische Dimensionen des Wahlfachs Meet4Music Studierende aller Studiengänge der Grazer Universitäten können sich ihre Teilnahme an Meet4Music-Workshops im Rahmen eines freien Wahlfachs anrechnen lassen, indem sie sich u. a. auch in der Anleitung einer Musiziereinheit innerhalb der Workshops aktiv einbringen, organisatorische und kommunikative Aufgaben übernehmen und daher unterschiedlichste Anlässe musikbezogenen, aber auch sozialen Lernens erfahren. Gruppenref lektionen nach den einzelnen Workshops 3 4

Vgl. auch Martina Krause-Benz, „‚Jetzt machen wir ’nen kleinen Auftritt…‘. Klassenmusizieren als performativer Akt?“, in: Diskussion Musikpädagogik 73 (2017), 41–49, hier 47. Vgl. Andrea Schiavio / Andrea Gande / Silke Kruse-Weber, „Negotiating Individuality and Collectivity in Community Music. A Qualitative Case Study“, in: Psychology of Music (2018), https:// doi.org/10.1177/0305735618775806 (31.1.2019), 2.

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und eine schriftliche Dokumentation über das gesamte Semester geben den Studierenden die Möglichkeit, ihr musikpädagogisches Handeln im Hinblick auf Chancen für das Musizieren und Lernen im ungewohnten Setting heterogener Gruppen Musizierender zu befragen. Die Studierenden können die Potenziale einer künstlerisch-pädagogischen Arbeit in den Workshops explorieren und zugleich auf individuelle Weise kreativ erweitern. So verlangt die Unverfügbarkeit der Musiziersituation von den Anleitenden eine hohe Bereitschaft zur Improvisation und zur Adaptivität an die Bedürfnisse der Teilnehmenden, um ein erfüllendes Musizieren anzubahnen. Indem die facilitators einen so genannten „dritten Raum“ (Homi K. Bhabha) 5 inszenieren, zu dessen Entstehen alle Musizierenden mit ihrer spezifischen (kulturellen) Identität einen gewinnbringenden Beitrag leisten können, erschließen sie sich über spezifisch musikpädagogisches Handeln hinaus auch ein Gespür für die Ermutigung zum offenen Austausch zwischen den teilnehmenden Akteur*innen. In diesem Raum können sich Kulturen zwar auch überlagern und durchdringen, aber entscheidend ist, dass Individuen, die aus verschiedenen kulturellen Räumen kommen, sich in diesem dritten Raum gemeinsam auf halten und interagieren, ohne dass Differenzen grundsätzlich verschwinden müssen.6

Angesichts der Frage nach Perspektiven musikpädagogischen Handelns in einer hoch diversifizierten Gesellschaft gerät mit dem Aspekt der Fremdheitserfahrungen die Kontingenz der eigenen kulturellen Identität in den Blick. Zugleich können unter Umständen konventionelle Vorstellungen musikpädagogischen Handelns in konstruktiver Weise aufgebrochen werden und so in der Folge zu einem neuen Verständnis des Handlungsfeldes beitragen: So mag etwa das Bild des/der für sich und seine/ihre Schüler*innen nach Exzellenz strebenden Instrumental- oder Gesangspädagog*in in diesem Kontext fragwürdig werden zugunsten einer f lexibleren, transdisziplinär verfassten Vorstellung musikpädagogischen Handelns, die auch soziale und organisatorische Aufgabenbereiche umfasst und kulturelle Teilhabe als zentrales Ziel wertschätzt.7 Meet4Music hat in diesem 5 6

7

Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000, 5. Martina Krause-Benz, „(Trans-)Kulturelle Identität und Musikpädagogik. Dimensionen konstruktivistischen Denkens für Kultur und Identität in musikpädagogischer Perspektive“, in: Responses to Diversity. Musikunterricht und -vermittlung im Spannungsfeld globaler und lokaler Veränderungen, hg. von Jens Knigge und Hendrikje Mautner-Obst, Stuttgart 2013, 72–84, hier 77. Ein solches transdisziplinäres Verständnis musikpädagogischen Handelns hat Martina KrauseBenz für die Musiklehramtsbildung ausformuliert, vgl. Martina Krause-Benz, „‚Eier legende Wollmilchsau‘, ‚von allem nur ein bisschen‘ – oder was sonst? Perspektiven einer transdisziplinären Musiklehrerbildung“, in: Interdisziplinarität und Disziplinarität in musikbezogenen Perspektiven. Festschrift für Peter W. Schatt zum 65. Geburtstag, hg. von Martina Krause-Benz und Stefan Orgass, Hildesheim 2013 (= Folkwang Studien 12), 163–182. Gleichwohl gilt sicherlich für jedes musikpädagogische Handeln, dass „die Herausbildung neuer Begriffe von Kunst, Wissenschaft und Päda-

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Zusammenhang gezeigt, dass die Heterogenität der musizierenden Gruppen nicht zur künstlerischen Qualität in Opposition gedacht werden muss, sondern dass das gemeinsame Musizieren – unter bestimmten Voraussetzungen und bei Engagement aller Beteiligten – einem hohen Niveau musikalischer Praxis gerade zuträglich ist. In den Meet4Music-Workshops Verantwortung zu übernehmen, ermöglicht den Studierenden somit ein (Sich-)Selbst-Lernen als Prozess transformatorischer Bildung, der in der Komplementarität der explorativen Aneignung von Handlungsdispositionen für das Musizieren und dem sensiblen Umgang in heterogenen Gruppen sowie der Metaref lexion einer solchen Aneignung über die Konsequenzen für die Lernenden selbst aufgeht. Zugleich ist die erforderliche Kontingenz der eigenen kulturellen Identität konstitutiv an die Erfahrung des Anderen zurückgebunden, denn musikbezogene transkulturelle Kompetenz erwirbt man nicht alleine, sondern stets in der Interaktion mit anderen Subjekten in sozialen Kontexten. Zukünftige Musikpädagog*innen sollten die Bereitschaft zum Auf bruch und zu der sich daran anschließenden verständigen Auseinandersetzung mit dem Anderen, also [den] Erwerb von musikbezogener transkultureller Kompetenz […] [üben], damit sich kulturelle Identitäten nicht dauerhaft verfestigen (auch wenn sie durchaus temporär stabil bleiben können), sondern damit das verständige Sich-Bewegen im transkulturellen Raum selbst zu einem Merkmal kultureller Identität wird. 8

2.3. Ref lexionen der Studierenden In der schriftlichen Ref lexion am Ende des Semesters sind die Studierenden gefordert, den persönlichen Ertrag zu beschreiben, den sie aus ihrer Teilnahme an den Meet4Music-Workshops ziehen konnten. Dabei ist es das Ziel, einerseits die Bedeutsamkeit, die das Musizieren in heterogenen Ensembles für sie hat, zu erfassen, und andererseits auf Erfahrungsgewinne einzugehen, durch die sie sich möglicherweise künstlerisch wie zwischenmenschlich bereichert fühlen. Die Ref lexionen der Studierenden dokumentieren, dass Meet4Music zur intendierten Anbahnung eines selbstref lektierten musikpädagogischen Handelns gereicht. Dabei fokussieren die Statements angesichts der gesellschaftlichen Auswirkungen der Migration Gef lüchteter im Oktober 2015 vor allem die Möglichkeit, in der gleichberechtigten, gemeinsamen Teilhabe an musikalischer Praxis zu einer angesichts von Migration und Flucht als essentiell erlebten gesellschaftlichen Kohäsion gelangen zu können. Ein Studierender beschreibt die gesellschaftlichen Herausforderungen, denen sich das Projekt stellt, folgenderweise:

8

gogik ein Stück weit dazu beitragen [kann], das Selbstverständnis“ (ebd., 178) als Musiker*in und Pädagog*in neu zu kontextualisieren. Krause-Benz, „(Trans-)Kulturelle Identität und Musikpädagogik“, 79.

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Herausforderungen musikpädagogischen Handelns in einer diversifizierten Gesellschaft Grundsätzlich habe ich bereits die Idee hinter Meet4Music als sehr spannend empfunden, da wir gerade in Zeiten wie diesen Projekte brauchen, die Leute näher zusammenbringen und die es uns ermöglichen, anstatt in Angst und Verschlossenheit voreinander zu leben, miteinander Kontakt aufzunehmen und voneinander zu lernen. (Sommersemester 2016)

Deutlich klingt in dem Statement ein Bewusstsein für die Reziprozität an, in der „voneinander“ gelernt und der Austausch mit dem Anderen als gewinnbringend erlebt werden kann. Diese Einschätzung deckt sich mit der Wertschätzung für das inklusive Musizieren in heterogenen Gruppen, die in der Stellungnahme einer Studierenden zum Ausdruck kommt: [I]ch [erlebte] Anfang des Semesters einen Konsens darüber, dass es eine klare Grenze zwischen Expert*innen, Lehrenden, teilnehmenden Studierenden und den Besucher*innen gab. Auch in der Ref lexion schien es mir oft, dass Studierende den Wert von Meet4Music darin sahen, den Anderen etwas beizubringen, einmal in der Woche den sozial Benachteiligten und ‚armen Asylbewerber*innen‘ etwas zu geben. Die Gruppe ist jedoch von innen heraus erstarkt. Die Besucher*innen haben die Einheiten mitgestaltet; Musik und Spiel ist entstanden, weil alle – auf vielfältige Art und Weise – ihren Teil beigetragen haben. (Sommersemester 2016)

Das wechselseitige Lernen voneinander im Austausch über die eigene (kulturelle) Identität erweist sich nun allerdings als unvereinbar mit einem konventionellen Verständnis, das Kulturen sich als Entitäten gegenüberstehen und kulturellen Austausch somit als Integration, als Übernahme einer bestimmten Perspektive auf Welt auffasst. Eine Teilnehmerin ref lektiert über die Möglichkeiten, im Sinne eines transkulturellen Verständnisses von musikalischer Praxis über das Ansinnen hinauszugehen, dem kulturell „Anderen“ die vermeintlich eigene musikalische Kultur aufzuoktroyieren: Ich denke, der Begriff des Interkulturellen greift […] nicht ganz, beschreibt er doch, dass es ein Ich und ein Anderes gibt, das im Austausch betont wird. Ich denke, unser Ziel sollte ein transkulturelles Zusammenleben sein. Das bedeutet, ref lektiert mit [unserem] kulturellen Erbe umzugehen, aber offen dafür zu sein, dass die Kultur, die scheinbar die eigene ist, eigentlich ein Konglomerat an allem ist, was zu diesem Zeitpunkt in meiner Umgebung besteht; das sich ständig erneuern muss, da [sich] die Zusammensetzung der Gesellschaft […] im ständigen Wandel befindet. (Sommersemester 2016)

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3. Fundierung des Begriffs musikalischer Praxis in Meet4Music aus Perspektive des praxialen Ansatzes, Performativität und Embodied Cognition 3.1. Der praxiale Ansatz Die in Meet4Music angestrebte Engführung musikalischer und sozialer Ziele legt nahe, sich auf einen Begriff musikalischer Praxis zu berufen, der nicht auf einer Dichotomie zwischen Musik und Gesellschaft basiert, sondern beide als gleichwertige Bezugspunkte sieht; in einem weiteren Kontext, in der Musizierende nicht nur reproduzieren, sondern die community of practice unter gegebener Diversität auch mitgestalten. Hilfreich ist in diesem Argumentationszusammenhang der Begriff des Musizierens, angelehnt an David J. Elliotts „New Philosophy of Music Education“, denn [d]ie musikphilosophischen Grundlagen, die Elliott entfaltet, erweisen sich zugleich als eine implizite Anthropologie und Ethik, und die Ziele des Musik-Lehrens und -Lernens sind auch allgemeine Ziele menschlichen Tuns und menschlicher Entwicklung.9

In Abgrenzung zu jenen musikphilosophischen Paradigmata, die insbesondere die ästhetische Erfahrung von Musik als spezifische Form des In-der-Welt-Seins auffassen, begründet Elliott die Bedeutsamkeit von Musik für den Menschen in deren Handlungscharakter; Musik stellt in diesem Sinne eine Praxis dar, die von Akteur*innen in ihrem jeweiligen Kontext ausgeübt wird.10 Elliott greift den von Christopher Small geprägten Begriff des „music(k)ing“11 auf und schreibt ihm den Anspruch einer besonderen Selbstref lexivität zu, die sich auf das eigene Handeln im Vollzug des Musizierens richtet. Im bewussten Umgang mit dem eigenen knowing-how des Musizierens realisiere sich mithin das anthropologische Grundbedürfnis, in der kognitiven und praktischen Bewältigung von Herausforderungen zum Genuss der eigenen Handlungsfähigkeit und der Erfahrung persönlicher Entwicklung und vertiefter Selbsterkenntnis zu gelangen: When our levels of musicianship match the challenge-levels of the pieces we interact with, we achieve the central values of musicing and listening: name9

Jürgen Vogt, „David J. Elliotts ‚praxiale‘ Theorie der Musikerziehung. Versuch einer kritischen Annäherung“, in: Musik & Bildung 31/3 (1999), 38–43, hier 38. 10 Vgl. David J. Elliott, „Introduction“, in: Praxial Music Education. Reflections and Dialogues, hg. von David J. Eliott, Oxford 2005, 3–18, hier 8. 11 „[T]he term musicking does not appear in any English dictionary, but it is too useful a conceptual tool to lie unused. […] I have proposed this definition: To music is to take part, in any capacity, in a musical performance, whether by performing, by listening, by rehearsing or practicing, by providing material for performance (what is called composing), or by dancing.“ (Christopher Small, Musicking. The Meaning of Performing and Listening, Middletown 1998, 9 [Hervorhebungen im Original]).

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Herausforderungen musikpädagogischen Handelns in einer diversifizierten Gesellschaft ly, musical enjoyment (or ‚f low‘), self-growth, self-knowledge (or constructive knowledge), and (throughout continuous involvements with music over time) self-esteem. In this view, musicianship is not only a rich form of thinking and knowing, it is a unique source of one of the most important kinds of knowledge humans can achieve: self-knowledge.12

Als anschlussfähig für die Ziele von Meet4Music erweist sich hier insbesondere das Ineins von musikbezogenen Tätigkeiten […] und distanzierender Ref lexion, das über den ‚Gegenstand Musik‘ hinausgeht. Der differenzierte individuelle Umgang damit wird für das musizierende, über Musik nachdenkende Subjekt thematisch. Es wird im ‚Gegenstand Musik‘ sich selbst zum Thema (der Auseinander-Setzung).13

Die von Elliott für das „musicing“ beanspruchten Merkmale stehen im Zeichen einer Teleologie der praxis, die ganz grundlegend auf ein erfülltes Leben als Mensch abzielt.14 Für alle Teilnehmenden der Meet4Music-Workshops sind in diesem Zusammenhang zunächst die Fremdheitserfahrungen konstitutiv, die sie als Musizierende in den heterogenen Ensembles machen: Akteur*innen mit diversen kulturellen Identitäten und musikbezogenen Vorerfahrungen treffen aufeinander, um die Ziele in der community of practice des jeweiligen Workshops konsensuell auszuhandeln und im gemeinsamen Interesse am erfüllten Musizieren zu bewältigen. Allein die Auseinandersetzung mit den Anderen, mit ihren Ansprüchen und Erwartungen an die gemeinsame Musiziersituation, aber auch mit ihren Fähigkeiten, die sie einzubringen bereit sind, kann letztlich zu einer gemeinsamen Erfahrung des „musical enjoyment“ gereichen. Indem Musizierende herausgefordert sind, sich zugleich sowohl mit der eigenen kulturellen Identität als auch den Anderen und dem gemeinsam zu erarbeitenden musikalischen Produkt in ein Verhältnis zu setzen, gelangen sie aber auch zu einer genaueren Kenntnis ihrer selbst und können ihren Beitrag zu der geteilten Erfahrung wertschätzen lernen. Studierende, die Meet4Music als Wahlfach belegen, sind darüber hinaus gefordert, ihre in den Workshops gewonnene Perspektive sprachlich darzulegen. Als zukünftige Musikpädagog*innen erschließen sie sich so neben dem auf musikalische Exzellenz zielenden Üben ein erweitertes Verständnis von Musizieren als selbstzweckhafter Praxis: Während das auf möglichst fehlerlosen, angemessenen Vortrag zielende instrumentale oder vokale Üben vor allem instrumentell als Mittel der Herstellung ( poiesis) „eines von der Tätigkeit auch theoretisch ablösba12 Elliott, „Introduction“, 9. 13 Hermann J. Kaiser, „Verständige Musikpraxis. Eine Antwort auf Legitimationsdefizite des Klassenmusizierens“, in: Zeitschrift für kritische Musikpädagogik (2010), 47–68, hier 51, http://www. zfkm.org/10-kaiser.pdf (31.1.2019). 14 Vgl. Vogt, „David J. Elliotts ‚praxiale‘ Theorie der Musikerziehung“, 42.

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ren Produkts“15 dient, wird das gemeinsame Musizieren im Zuge der Workshops selbst bedeutsam im Sinne „eine[r] Form des Lebens, in dem Musik, das tätige sich darin Bewegen, das Wissen um und über sie […] diesem Leben eine spezifische und je individuelle Form gibt.“16 3.2. Die performative Dimension Die Schwerpunktsetzung Elliotts auf das musikbezogene Handeln erlaubt nun auch, die soziale Dimension des gemeinsamen künstlerischen Gestaltens performativitätstheoretisch als interaktive Hervorbringung einer gemeinsamen Wirklichkeit aus dem Handeln der in ihren Voraussetzungen so unterschiedlichen Teilnehmenden in den Meet4Music Workshops zu interpretieren. Grundlegend ist die Annahme, dass man soziale und kulturelle Praktiken als performative Akte, und zwar im Sinne von ‚Aufführungen‘ auffasst, die von den ‚Akteuren‘ (also den in und an den Praktiken beteiligten Menschen) ‚inszeniert‘ werden […].17

Aus den verschiedenen Konzeptionen des Performativen in den Sprach-, Sozialund Kulturwissenschaften lassen sich zentrale konzeptionelle Merkmale herausstellen, die für eine theoretische Konsistenz und die entsprechende Anschlussfähigkeit an unsere musikpädagogische Perspektive verantwortlich zeichnen:18 (a) Als performativ wird ein solches Handeln bezeichnet, das die Wirklichkeit nachhaltig verändert. In der Folge „ein[es] einmalige[n], zeitlich und räumlich begrenzte[n] Ereigniss[es]“19 erscheinen Aspekte der sozialen Wirklichkeit anders als vor dem Vollzug der performativen Handlung. (b) Performatives Handeln zeichnet sich durch eine spezifische Form aus, die gewissen, kollektiv geteilten ästhetischen Kriterien gerecht werden muss, um ihre Wirkung zu entfalten: Das Handeln eines/einer Akteur*in wird nicht mehr in erster Linie als Zeichenprozess verstanden, sondern es geraten die immanenten Handlungsvollzüge in ihrem zeitlich-räumlichen Kontext in den Blick. 20 15 Kaiser, „Verständige Musikpraxis“, 53. 16 Ebd., 52. 17 Martina Krause-Benz, „‚Hier wird Musik gemacht!‘ Reflexionen über das Musizieren im Musikunterricht“, in: Diskussion Musikpädagogik 59 (2013), 55–59, hier 56. 18 Zu einem Überblick der zentralen sprach-, sozial- und kulturwissenschaflichen Entwicklungen, die das Performativitätsverständnis in der Pädagogik nachhaltig beeinflusst haben, vgl. Christoph Wulf / Jörg Zirfas, „Performative Pädagogik und performative Bildungstheorien. Ein neuer Fokus erziehungswissenschaftlicher Forschung“, in: Pädagogik des Performativen. Theorien, Methoden, Perspektiven, hg. von Christoph Wulf u. Jörg Zirfas, Weinheim 2007, 7–40, hier insbesondere 13–15. 19 Ebd., 16–17. 20 Vgl. ebd., 18.

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(c) Die Domäne, aus der die neuen Wirklichkeiten emergieren, ist der handelnde Körper: Durch Aufführungen, die definiert werden können als Geschehnisse zwischen Akteuren und Zuschauern, und durch Rituale, die definiert werden können als wiederholbare Geschehnisse zwischen Akteuren, bringen Menschen gemeinsam, gestisch, sprachlich, körperlich, mimetisch Wirklichkeiten hervor, die für alle Beteiligten einen, wenn auch kritisierbaren, verbindlichen Charakter haben. 21

(d) Insofern performatives Handeln wirklichkeitskonstituierenden Charakter hat, ist es beteiligt an der (Re-)Produktion, Affirmation und Subversion gesellschaftlicher Konventionen und Normen. Weil performative Akte auf sich selbst zurückverweisen, indem sie das vollziehen, was sie bedeuten, „haben sie die Kraft konventionelle Differenzierungen zu bestätigen wie zu dementieren.“ 22 Die institutionalisierte Form des Zusammentreffens in den Räumen der Kunstuniversität zur gemeinsamen künstlerischen Praxis bildet eine performative Rahmung für die gemeinsame Entwicklung von Aufgabenstellungen des improvisierenden Musizierens und Theaterspielens im Zuge der Meet4Music-Workshops unter Einbezug aller Beteiligten. Das sich in diesem Rahmen vollziehende Geschehen ermöglicht Erfahrungen, die die Teilnehmenden affizieren und nachhaltig prägen können (a). Das künstlerische Gestalten findet in einem geschützten Raum statt, der den explorativ-spielerischen Umgang mit dem eigenen Körper und die musikalische und theatrale Kontaktaufnahme mit den Anderen erlaubt, und gibt so Gelegenheit, sich kurzfristig – z. B. durch das Nachahmen von deren körperlichem Auftreten – in die Rollen einzufühlen, die diese in der jeweiligen Situation aufführen, und sich zu diesen durch eigenes Handeln in Bezug zu setzen (b, c). Dabei können eigene oder fremde künstlerische Performanzen zur Diskussion gestellt, affirmiert oder als inadäquat zurückgewiesen werden (d). In Bezug auf eine performativ-musikpädagogische Perspektive verbindet sich das Interesse für den jeweils immanenten Handlungsvollzug mit der Wertschätzung der Dignität der jeweils in ihrer spezifischen Form erscheinenden künstlerischen Aufführung: In der musizierenden Bezugnahme der Akteur*innen aufeinander entfaltet sich eine eigene soziale Ordnung, die den Spielraum darstellt, in welchem sich die Handelnden positionieren und in ihrem jeweiligen „Eigensinn“ (Ott) 23 sichtbar werden können. Der Begegnung mit dem Fremden und den Be21 Ebd., 17. 22 Ebd. 23 Thomas Ott, „Heterogenität und Dialog. Lernen am und vom Anderen als wechselseitiges Zuerkennen von Eigensinn“, in: Diskussion Musikpädagogik 55 (2012), 4–10.

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zugnahmen auf die Performanzen der Anderen kommt dabei eine zentrale Bedeutung für die Auseinandersetzung mit sich selbst zu. Gerade die Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstverständnis, in der das Musizieren Elliott zufolge eine wesentliche Komponente des Mensch-Seins berührt, steht im Zentrum eines performativen Interesses für die Selbstinszenierung Lernender. Die in der Fragilität der Identität begründete Notwendigkeit, sich selbst immer wieder in performativen Aufführungen neu zu konstruieren und also zu transformieren, ist auf Einf lüsse des Anderen auf die eigenen Identität angewiesen. Als Impulsgeber der Selbsttransformation dient dabei der sinnliche Nachvollzug und die kreative Nachahmung des körperlichen Verhaltens anderer. Die mimetische Nachahmung körperlichen Verhaltens richtet sich auf diese im Sinne von Bewegungsritualen, die durch ihren körperlich-zeigenden Vollzug und körperlich-explorativen Nachvollzug erschlossen werden können. 24 Für mimetische Prozesse ist charakteristisch, dass die/der Nachahmende seine/ihre Wahrnehmung des Handlungsvollzugs einer/eines Anderen zum Vorbild eigener Handlungsvollzüge macht, wobei es allerdings zu Verschiebungen kommen muss. Weil Mimesis über die bloße Nachahmung des Anderen hinausgeht, indem sie „das Fremde in die Logik und Dynamik der eigenen imaginären Welt einfügt“, 25 hat sie das Potenzial, etwas völlig Neues, Hybrides entstehen zu lassen. Die mimetisch geschaffene Repräsentation steht zitathaft zwischen Eigenem und Fremdem; sie „bietet die Möglichkeit, das Fremde nicht festzusetzen und einzugemeinden, sondern es in seiner Ambivalenz als Fremdes und zugleich Bekanntes zu erhalten.“ 26 Vor diesem Hintergrund kann das improvisierende Musizieren und Theaterspielen in den Meet4Music-Workshops als prädestiniertes Terrain für eine spielerische Auseinandersetzung mit dem Eigenen und dem Fremden gelten, trägt doch die nachahmende, variierende und kontrastive Bezugnahme auf Mitmusizierende der wertschätzenden Teilhabe aller am inklusiven Setting Rechnung. In performativitätstheoretischer Dimensionierung kann schließlich für das künstlerische Handeln in den Meet4Music-Workshops von einem neuen Modus der Wahrnehmung von Zeitlichkeit ausgegangen werden. Im gemeinsamen Musizieren und Theaterspielen erleben die Akteur*innen das gemeinsame Gestalten und die damit einhergehenden Gruppenprozesse in ästhetischer Einstellung. Das Handeln in der Gruppe wird von den Teilnehmenden als Selbstzweck wahrgenommen, sodass sich ihr Interesse dann allein auf den kontemplativen Nachvollzug des Wie richtet; sie erleben auf intensive Weise den Vollzug künstlerischen Gestaltens, ohne diesen auf seine Bedeutung oder seinen Sinn zu ref lektieren. 24 Vgl. Wulf / Zirfas, „Performative Pädagogik“, 31. 25 Christoph Wulf, „Transkulturalität“, in: Handbuch Pädagogische Anthropologie, hg. von Christoph Wulf und Jörg Zirfas, Wiesbaden 2014, 77–90, hier 83. 26 Ebd.

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Die intensive Erfahrung der Kontemplation kann dabei unter Umständen mit dem Verlust des Zeitgefühls einhergehen. Etwas wahrzunehmen bedeutet für die Musizierenden oder Theaterspielenden aus dieser Blickrichtung gerade nicht, das, was um sie ist, mit Begriffen zu belegen und erklären zu wollen, sondern es heißt, damit konfrontiert zu werden, dass es jenseits ihrer selbst etwas gibt, das nicht sie selbst sind und das sie zugleich zu verstehen herausfordert und ihre Verstehensversuche in Frage stellen kann. 27 Dieter Mersch unterscheidet daher sinnliche Wahrnehmung in einen Modus erstens der „Signifikation“, d. h. der Benennung, indem Sinneseindrücke in sprachlichen Begriffen beschrieben und mit Eigenschaften, Merkmalen oder Attributen assoziiert werden; und zweitens des „Erscheinens“ 28 von Ereignissen, welche aus der entgegengesetzten Richtung – vom Anderen aus – unvorhergesehen auf mich zukommen. Ein erstes Kriterium von Ereignissen besteht folglich in ihrer Nichtintentionalität: In dem Augenblick, in dem das Ereignis über mich hereinbricht, bin ich darauf nicht eingerichtet. Ereignisse sind also außergewöhnlich, insofern sie nicht zu meinen Erwartungen zählen. Ein derart hereinbrechendes „Dass“ – nämlich die Einsicht, dass dort etwas Anderes ist – überfordert mich, weil es mich kurzfristig entmächtigt bzw. mir meine Machtlosigkeit angesichts des Unverfügbaren vergegenwärtigt. Es lenkt meine Aufmerksamkeit auf sich und liefert mich dem Verwundern und Schrecken aus. 29 Als zweites Kriterium von Ereignissen können wir daher deren unumgängliche Anerkennung formulieren: Dass etwas über mich hereinbricht, vermag ich nicht zu leugnen; ich muss es anerkennen und vermag mich dem Ereignis, ohne bereits sein „wie?“ und „was?“ erklären zu können, nicht zu entziehen. 30 Für unseren Zusammenhang ist zudem bedeutsam, dass das Ereignis, indem es mich ungewollt überkommt, eine nachhaltige Spur in mir hinterlässt und mich aus der Erfahrung verändert hervorgehen lässt. Ein drittes Kriterium von Ereignissen besteht also in ihrem transformatorischen Potenzial. 31 Das Erscheinen geht der Signifikation voraus: Es ist die Zumutung eines Anderen, Unbekannten und Unerwarteten, das auf mich zukommt und mich – nach Vergegenwärtigung des Unverfügbaren – zur Reaktion herausfordert. Responsivität bildet somit ein viertes Kriterium von Ereignissen: Alles was ich tun kann, womit ich der über mich hereinbrechenden Erfahrung begegnen kann, besteht im Imperativ, auf sie zu reagieren, sie in Augenschein zu nehmen oder mich abzuwenden. 32 Die Erfahrung in Begriffen zu beschreiben ist damit eine unter vielen Möglichkeiten, auf das Erscheinen zu reagieren. 27 Vgl. Dieter Mersch, Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2002, 27. 28 Vgl. ebd., 30–31. 29 Vgl. ebd., 28–29. 30 Vgl. ebd., 32–33. 31 Vgl. ebd., 29. 32 Vgl. ebd., 52.

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Die Selbsterfahrung der an den Meet4Music-Workshops Teilnehmenden in der Konfrontation mit dem Anderen, dem Fremden, das im Praxisbegriff Elliotts eine konstitutive Funktion einnimmt, lässt sich im Rekurs auf die Ereignistheorie Merschs schließlich als Moment von Bildung explizieren: Bildung kann mit Hans-Christoph Koller verstanden werden als eine Erfahrung, aus der sich Bildende mit einer neuen Perspektive auf Welt hervorgehen. Dieser Bildungsbegriff ist insofern mit performativen Bildungstheorien vereinbar, als transformatorische Bildungsprozesse jenseits des kognitiv-rationalen Aspekts auch das übrige IchWelt-Verhältnis der sich Bildenden nachhaltig verändern. 33 Der in der Musikpädagogik zunehmend konsultierte Ko-Konstruktivismus bringt mit dem Begriff der Perturbation einen möglichen Anstoß einer Verschiebung der Perspektive auf Welt ein:34 Perturbationen sind tiefgreifende Störungen des kognitiven Haushalts durch neue Informationen, die sich nicht ohne weiteres in das je individuelle Konstrukt der Wirklichkeit integrieren lassen und daher eine Änderung und Stabilisierung des betroffenen Systems bewirken können. 35 Sie sind daher dazu prädestiniert, mit Ereignissen einherzugehen: Perturbationen wie Ereignisse gehen mit nicht-intentionalen – konstruktivistisch gesprochen: nicht-viablen – Erfahrungen einher und bedürfen einer Reaktion; die Assimilation oder Akkomodation des autopoietischen Systems löst ereignisphilosophisch die Notwendigkeit eines Respons ein. Während Perturbationen allein dem aktiv konstruierenden Subjekt zuzuordnen sind, nimmt Mersch für Ereignisse eine apriorische Nicht-Objektivität/Subjektivität in Anspruch. Tatsächlich lassen sich die Begriffe aber in dem Sinne komplementär aufeinander beziehen, dass der Ereignisbegriff lediglich vom Anderen her beschreibt, was auf der Subjekt-Seite eine Perturbation auslösen kann: Eine Perturbation „kommt nicht aus dem Subjekt selbst heraus, sondern wird von außen erzeugt, beispielsweise durch ein Ereignis.“ 36 Ein Ereignis impliziert Mersch zufolge durchaus einen Respons, eine Reaktion – und spätestens diese muss zwangsläufig subjektiv erfolgen: „Trotz aller Ohnmacht im Moment des 33 Vgl. Hans-Christoph Koller, Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungs­ prozesse, Stuttgart 2012, 9. 34 Zur Bedeutung von Ko-Konstruktion für musikbezogene Lernprozesse vgl. Maria B. Spychiger, „Musiklernen als Ko-Konstruktion? Überlegungen zum Verhältnis individueller und sozialer Dimensionen musikbezogener Erfahrung und Lernprozesse. Einführung des Konstrukts der Koordination“, in: Diskussion Musikpädagogik 40 (2008), 4–12, hier insbesondere 7, 9–10. Zur Begegnung mit dem Anderen als Anlass transformatorischer Bildungsprozesse vgl. wiederum Koller, Bildung anders denken, Kapitel 7 „Erfahrung als Krise II: Zu Bernhard Waldenfels’ Konzept der Erfahrung des Fremden“, 79–86. 35 Vgl. Martina Krause-Benz, „Zur Bildungsrelevanz eines ereignisreichen Musikunterrichts“, in: Musik(unterricht) angesichts von Ereignissen, hg. von Markus Hirsch, Münster 2016 (= Wiener Reihe Musikpädagogik 1), 69–86, hier 77. 36 Ebd., 78.

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Ereignisses bzw. der Perturbation verbleibt das Subjekt ja nicht in diesem Modus [der Passivität], sondern wird danach in irgendeiner Form aktiv.“37 Die durch ein Ereignis angestoßene Perturbation des Individuums mündet in diesem Sinne in einem Handeln, aus dem es ggf. mit einem veränderten Blickwinkel auf Welt hervorginge. Das Setting der Meet4Music-Workshops erweist sich insbesondere aufgrund der leiblichen Ko-Präsenz, in der die Teilnehmenden musizierend miteinander interagieren, als potenziell ereignishafter Erfahrungsraum, denn „[d]ie Qualität des Anderen, durch die ein musikalisches Ereignis konstituiert wird, dokumentiert sich […] durch das gemeinsame leibliche Spüren von Musik.“ 38 Unter der begünstigenden, angstfreien Atmosphäre der ko-leiblichen, intensiv auf das gemeinsame Musizieren gerichteten Wahrnehmung kann das Andere den Teilnehmenden in der immersiven Erfahrung der körperlich-sinnlichen Koordination bzw. des Flows widerfahren. Auch die Aufforderung an die aktiv teilnehmenden Studierenden und zum Teil auch die Teilnehmer*innen der Workshops, ihre Erfahrung in den Workshops zu ref lektieren, erschließt eine weitere Dimension der Erfahrung von Ereignissen. Das Sprechen über musikalische Erfahrungen kann unter Umständen auf das Unsagbare des Musizierens verweisen und deutet damit auf dessen ereignishafte Qualität: „Um Musik als Ereignis im Akt des (notwendigerweise defizitären) Sprechens nachträglich noch einmal zu erleben, ist insbesondere ein metaphorisches Sprechen über Musik besonders dienlich.“ 39 3.3. Das Paradigma des Embodiment und Enaktivismus Der Zusammenhang menschlichen Handelns mit der Hervorbringung sozialer Wirklichkeiten, die aus der ko-leiblichen Interaktion emergieren, ist auch Gegenstand eines jüngeren Paradigmas in den Kognitionswissenschaften, des Enaktivismus.40 Die Grundannahme des Enaktivismus, dass die Kognition dem ausführenden Körper nicht als Steuerinstanz übergeordnet sei, sondern beide Domänen vielmehr in einem reziproken Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen, ist anschlussfähig zu der These, dass körperliche Performanzen situativ stets einen Sinnüberschuss gegenüber einer bloßen Aktualisierung geistig explizierbaren Handlungswissens hervorbringen. Sowohl die Performativitätstheorien als auch der enaktive Ansatz stellen also eine lineare ‚Übersetzbarkeit‘ geistiger in körperliche Prozesse in Frage. Wir wenden uns daher abschließend einigen zentralen Konzep37 38 39 40

Ebd., 79. Ebd., 81. Ebd., 82. Vgl. Andrea Schiavio / Dylan van der Schyff, „4E Music Pedagogy and the Principles of SelfOrganization“, in: Behavioral Sciences 8 (2018), 1–15, http://www.mdpi.com/2076-328X/8/8/72, 15.09.2018.

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ten des Enaktivismus zu, die gemeinsam mit dem Praxisbegriff Elliotts und den oben entwickelten performativitätstheoretischen Einsichten zu einer Fundierung unseres Verständnisses der künstlerischen Praxis in Meet4Music beitragen mögen. Der enaktive Ansatz argumentiert, dass der Geist verkörpert ist und der Körper entsprechend wesentlichen Einf luss auf kognitive Prozesse nimmt. Menschliches Verhalten realisiert sich als Zusammenspiel geistiger und körperlicher Impulse und ist an einem distinkten (sozialen) Umfeld ausgerichtet; der Geist kann darüber hinaus auf kulturell tradierte Hilfsmittel und Artefakte in dieser Umwelt zurückgreifen, um Ziele zu erreichen.41 Die Verständigung über das gemeinsame künstlerische Gestalten in den Meet4Music-Workshops, durch die eine intersubjektiv geteilte Wirklichkeit erst entstehen kann, setzt eine relative Autonomie der Akteur*innen voraus, die im Enaktivismus als Bezogenheit eines autopoietischen, d. h. sich selbst hervorbringenden Wesens auf seine Umwelt charakterisiert wird: Menschen sind stets gleichzeitig autonome Wesen, deren Verhalten von außen nicht unmittelbar zu beeinf lussen ist, und stehen im Austausch mit ihrer Umwelt. Dieser Weltbezug manifestiert sich in der körperlich vermittelten Interaktion, als Ausprägung derer auch das gemeinsame Musizieren gefasst werden kann.42 Dem Ansinnen einer Engführung musikalischer Ziele mit sozialen Zielen der Verständigung in Meet4Music kommt insbesondere entgegen, dass Identität in diesem Zusammenhang als ein fortlaufend sich transformierendes Selbstverstehen zu verstehen ist, das sich in den körperlichen Interaktionen mit der Umwelt ausbildet. Das gemeinsame Musizieren in den Workshops mag daher u. U. zu neuen Formen des Selbstverstehens und der sozialen Identität führen.43 Für die enaktive Perspektive ist die Annahme zentral, dass der Körper wesentlichen Einf luss auf das geistige Erleben hat und konstitutiv an der kognitiven Modellierung z. B. räumlicher Vorstellungen, aber auch ästhetischer Wahrnehmungen Anteil nimmt. Vor diesem Hintergrund lässt sich körperliches und gestisches Handeln sowie insbesondere dessen Koordination mit dem Verhalten anderer Musizierender als basale Grundlage des musikbezogenen Verstehens und der nonverbalen Interaktion zwischen den Meet4Music-Teilnehmer*innen explizieren: [C]ollective music-making requires in-the-moment interactivity – a complex network of reciprocal and non-linear communicative processes that engage a range of bodily, affective, sonic, aesthetic and socio-cultural dimensions that are negotiated as the music unfolds. And so, while collaborating musicians will certainly develop their own ways of interacting and communicating that become stable 41 Vgl. Schiavio / Gande / Kruse-Weber, „Negotiating Individuality and Collectivity“, 3. 42 Vgl. ebd. 43 Vgl. ebd., 7–8. Diese Auffassung der Identitätsbildung ist somit auch viabel zum oben referierten transformatorischen Bildungsbegriff Kollers.

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Herausforderungen musikpädagogischen Handelns in einer diversifizierten Gesellschaft over time, such shared understandings and recurrent patterns of sound and movement emerge from the real-time activity of the ensemble itself – and not from some predefined schema.44

In der Bezugnahme auf andere bringen die Akteur*innen Sinn hervor, in dem die Relation zwischen Selbst und Anderem kodifiziert ist: Im imitierenden, variierenden oder auch kontrastierenden Musizieren oder Theaterspielen zeigt sich die individuelle Wahrnehmung der/des Gestaltenden von ihrem/seinem Gegenüber, die sie/er in der körperlichen Darstellung jedoch in eine kollektiv verständliche Form bringen muss, um am sozialen Austausch teilhaben zu können. Die gestaltende Ko-Konstruktion von Bedeutung integriert mithin grundsätzlich die Behauptung der je individuellen Perspektive auf Welt und die situative Anpassung an die in actu sich vollziehende Bedeutungsaushandlung im künstlerischen Kollektiv.45 Dies betrifft zum Beispiel persönliche ästhetische Bedürfnisse, die ein/e Akteur*in einbringen und zugleich den Präferenzen der anderen Musizierenden gerecht werden möchte. Körperliche Formen der Bezugnahme aufeinander können daher imstande sein, eine strikte Opposition von Individualität und Kollektivität zu nivellieren und ein in der Praxis des gemeinsamen Musizierens sich vermittelndes Zusammengehörigkeitsgefühl einzusetzen, das einer erfüllten Teilhabe aller am Musizieren entgegenkommt.46

4. Zusammenfassende Schlussbemerkungen im Hinblick auf die Hochschulbildung Im Rekurs auf Elliotts praxialen Begriff musikalischer Bildung haben wir das Musizieren und Theaterspielen in den Meet4Music-Workshops als anthropologisches Grundbedürfnis charakterisiert, in dem gemeinsames künstlerisches und interaktives Handeln zur Erfahrung der eigenen kulturellen Handlungs- und Entwicklungsfähigkeit – und somit zu tieferer Selbsterkenntnis – gereichen kann. Musikalische Praxis wird hiernach nicht als zweckhaft begriffen, sondern als ein performativer Prozess verstanden, den es immer wieder neu auszuhandeln gilt, 44 Ebd., 8–9. 45 Vgl. ebd., 3. Das Sich-verständlich-Machen für die Anderen durch eine als gelungen anerkennbare Performanz ist für verschiedene theoretische Perspektiven auf die Bedeutungsproduktion im Sozialen zentral. Ungeachtet seines zum Teil umstrittenen Gehalts (vgl. dazu Axel Honneth, Anerkennung. Eine europäische Ideengeschichte, Berlin 2018) mag der Begriff der „Anerkennung“ eine theoretische Vermittlung von sozialem Konstruktivismus, Performativitäts- und Praxistheorien sowie dem Enaktivismus leisten können; vgl. in musikpädagogischem Zusammenhang auch Hermann J. Kaiser, „Anerkennungstheoretische Grundlagen gemeinsamen Musizierens“, in: Musizieren innerhalb und außerhalb der Schule, hg. von Andreas C. Lehmann und Martin Weber, Essen 2008 (= Musikpädagogische Forschung 29), 15–31. 46 Vgl. Schiavio / Gande / Kruse-Weber, „Negotiating Individuality and Collectivity“, 12.

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und der Sichtweisen auf die Welt als ein Kennzeichen von Bildung sieht, weil sie erweitert bzw. neu konstruiert werden.47 Gelungene Workshops in Meet4Music lassen sich dadurch charakterisieren, dass in ihnen eine Wirklichkeit nicht vorgegeben bzw. aufoktroyiert wird.48 Wirklichkeiten werden vielmehr in gemeinsamer Interaktion dem inklusiven Anspruch gemäß ausgehandelt. Meet4Music erschließt also den niederschwelligen Anspruch des Musizierens als ganzheitliche, selbstzweckhafte Praxis mit eigener Daseinsberechtigung auch jenseits einer Form künstlerischer Exzellenz, die sich nur mittels eines hohen instrumentalen bzw. vokalen Übeaufwands realisieren lässt. Die Bedeutsamkeit des Musizierens und Theaterspielens in heterogenen Ensembles als Komponente einer sogenannten Lebens-Kunst haben wir auf unterschiedliche Aspekte zurückgeführt, die die interaktive Hervorbringung künstlerischer Bedeutung kennzeichnen: In der Verbindung von Elliotts Ansatz mit einer performativitätstheoretischen und enaktiven Perspektive geriet künstlerisches Gestalten als Praxis kollektiver Sinngebungsprozesse in den Blick, die essentiell auf die Körperlichkeit der Ko-Akteur*innen angewiesen ist. Gemeinsam ist allen drei Blickwinkeln, dass sie Geist und Körper, Musik und Mensch, Gesellschaft und Welt in einem holistischen Zusammenhang betrachten und kooperatives künstlerisches Handeln als Aushandlungsprozess beschreiben, der die konventionelle Opposition autonom agierender Akteur*innen zu einem sozialen Kollektiv unterläuft. Sowohl im Enaktivismus als auch in den Performativitätstheorien erscheint das Subjekt in seiner körperlichen (d. h. hier musikalischen bzw. theatralen) Performanz angewiesen auf die Anerkennung der Anderen; die Fokussierung auf den Prozess ( praxis) statt auf das Ergebnis ( poiesis) hängt zusammen mit der Einmaligkeit und Flüchtigkeit der von allen Teilnehmer*innen gemeinsam konstituierten Musiziersituation: Insofern die Aufführung aus der Interaktion aller Teilnehmer hervorgeht, sich in einem autopoietischen Prozess selbst erzeugt, erscheinen der Produkt- ebenso wie der Werkbegriff inadäquat. Denn die Aufführung liegt nicht als Resultat dieses Prozesses vor, sondern wird in und mit ihm vollzogen. Es gibt sie nur als und im Prozess der Aufführung; es gibt sie nur als Ereignis.49

Die Affektivität künstlerischer Praxis als Ereignis stiftet ein transformatorisches Moment, das die Akteur*innen aus den Workshops mit einem veränderten Verhältnis zum Anderen hervorgehen lässt. Wesentlich für eine Flexibilität des IchWelt-Verhältnisses ist die Einsicht der Teilnehmer*innen in die transkulturelle Verfasstheit der eigenen Identität, zu der sie in der Fremdheitserfahrung gelan47 Vgl. Krause-Benz, „Klassenmusizieren als performativer Akt?“, 43. 48 Vgl. auch ebd., 42. 49 Erika Fischer-Lichte, Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 32012, 67.

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gen, die schließlich zu der Bereitschaft führen mag, sich im künstlerischen Gestalten auf das Anders-Sein der Ko-Akteur*innen einzulassen und dieses als wertvollen Beitrag gemeinsamer künstlerischer Entwicklung wertschätzen zu können. Die empirische Validierung der von uns dargelegten theoretischen Fundierung steht noch aus:50 Es wäre zu untersuchen, inwieweit die Teilnehmer*innen und facilitators der Meet4Music-Workshops diese künstlerische Praxis als Erweiterung ihrer transkulturellen Kompetenz und als Prozess der Selbsttransformation erleben. Darüber hinaus ist mit Blick auf Implikationen für die Bildung künftiger Musikpädagog*innen zu fragen, inwiefern die Erfahrung des Musizierens in heterogenen Gruppen zur Wertschätzung eines weniger voraussetzungsreichen Verständnisses künstlerischer Praxis gereichen kann. Meet4Music kann als Exempel betrachtet werden, wie Studierende sich in einem geschützten Rahmen praxisbezogen Erfahrungen für die spätere Berufspraxis aneignen können, um hierbei ein Bewusstsein für transkulturelle Kompetenz und Offenheit für „künstlerische Praxis als Lebenskunst“ zu erwirken. Eine Didaktik für die „Transformation durch Ereignisse“ kann im Detail nicht definiert werden; die Anbahnung performativer Ereignisse geschieht nicht zwangsläufig aufgrund detaillierter didaktischer Planung; lediglich Rahmenbedingungen können didaktisch günstig inszeniert werden, damit das Bildungspotential im gemeinsamen Musizieren zur Geltung kommt. 51 Günstige Bedingungen werden geschaffen durch Sensibilität für den Anderen sowie die Bereitschaft, von der ursprünglichen Unterrichtsplanung abzuweichen. Die Workshops werden quasi rhizomartig gestaltet: Es wird im Vorhinein mit Ereignissen gerechnet, Unvorhergesehenes bewusst eingeplant sowie eine wertschätzende, offene Atmosphäre ohne vorgefertigte Lösungen geschaffen. 52 Schließlich sollten Exzellenzstreben und Musizieren als anthropologisches Bedürfnis nicht durch hierarchische Wertvorstellungen an Musikhochschulen und -universitäten gegeneinander ausgespielt werden. Das traditionell vorherrschende Berufsbild von Musiker*innen richtet sich an einem Wertesystem und cartesianischen Weltbild mit getrennten Prozessen von Leib und Seele, Musik und Mensch aus, in welchem an erster Stelle das Ziel steht, Solist*in, Kammermusiker*in oder wenigstens Orchestermusiker*in zu werden – und wenn dies alles nicht möglich war, dann in letzter Konsequenz als Instrumentallehrkraft zu arbeiten. So richten Studierende und Lehrende ihre Karriereziele immer noch einseitig an der Ausbildung ihrer musikalischen Exzellenz am Instrument aus und räumen dem instrumentalen bzw. vokalen Üben primäre Wichtigkeit ein, da instrumentale Exzel50 Eine qualitative Studie zum Projekt Meet4Music ist als Dissertation von Andrea Gande in Vorbereitung. 51 Vgl. Krause-Benz, „Klassenmusizieren als performativer Akt?“, 43. 52 Vgl. Krause-Benz, „Zur Bildungsrelevanz eines ereignisreichen Musikunterrichts“, 80.

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lenz ihnen vermeintlich Sicherheit verleiht und in ihr eine Garantie für die spätere Anstellung bzw. ein Hauptwert für ein professionelles Musiker*innendasein gesehen wird. Gleichwohl sollte der Begriff der instrumentalen Exzellenz von Musiker*innen und Musikpädagog*innen der Berufspraxis erweitert bzw. neu überdacht werden. Dass sich Musiker*innen heute f lexibel auf neue Herausforderungen und Arbeitsfelder einstellen und dafür als Musiker*innen unterschiedlichste Rollen einnehmen müssen, wird derzeit hinreichend diskutiert. Die Herausforderung besteht darin, die Aufmerksamkeit von Hochschullehrenden und Studierenden auf eine breitere Basis für die Dimensionen musikalischer Praxis in einer diversifizierten Gesellschaft zu lenken. 53 Liz Lerman, Tänzerin und Choreographin, weist darauf hin, dass unser traditionelles Wertesystem heutzutage die Weiterentwicklung von Musikhochschulen und - universitäten lähmt. In diesem Sinne schlägt Lerman ein Denken in der „Horizontalen“ – und damit der Vielfalt – und nicht „Vertikalen“ vor. 54 Das hierarchische Paradigma, das Paradigma der Dichotomie, könnte sich hiernach zu einem Paradigma des dialogischen Austauschs, Neugier und gemeinschaftlicher Kooperation entwickeln.

53 Vgl. u. a. das 2017 begonnene Projekt der Association Européenne des Conservatoires (AEC) Strenghtening Music in Society, https://www.aec-music.eu/about-aec/news/aec-new-project-strengtheningmusic-in-society-aec-sms (2.2.2019). 54 Liz Lerman, Hiking the Horizontal. Field Notes from a Choreographer, Middletown 2011.

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Ernest Hoetzl

Auf der Suche nach dem richtigen Ton Gedankensplitter zum Musizieren im 21. Jahrhundert Ernest Hoetzl Wir leben im 21. Jahrhundert. Die meisten bedeutenden Musikveranstalter wie Musikvereine oder Festspiele bedienen sich jedoch bei ihren Veranstaltungen meist Präsentationsformate des 19. Jahrhunderts. Musikvereine, zumeist gegründet im 19. Jahrhundert, verkörpern gemeinhin das Traditionelle in der Musikpf lege, Traditionen, welche es aber auch bei allem Bekenntnis zur Öffnung zum Neuen zu bewahren gilt. Unsere heutige Zeit ist bei aller Schnelllebigkeit in der Kunstpf lege häufig von einer Retrospektivität geprägt. Der Geschmack des Mainstream-Konzertpublikums im 21. Jahrhundert steht selbst dem Großteil des Repertoires aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ablehnend gegenüber. Die Beschäftigung mit Vergangenem in der Gegenwart stellt aber die Kunsttreibenden, die Kulturschaffenden vor eine Reihe von Problemen. Die Aufgaben von Musiker*innen am Beginn des 21. Jahrhunderts sind daher wesentlich durch das Spannungsfeld einer grundsätzlich neuen und sich ständig permutierenden kulturpolitischen und rezeptionshistorischen Situation sowie die immanente Bedeutung des Phänomens „Musik“ in seiner nicht zu unterschätzenden manipulatorischen Kraft bestimmt. Nicht zuletzt ist daher auch die demopädagogische Dimension der Arbeit eines Musikveranstalters von höchstem musikwissenschaftlichem Interesse. Als mir vor einiger Zeit in den USA mehr oder weniger zufällig das als „barocke Ekloge“ bezeichnete Gedicht The Age of Anxiety des angloamerikanischen Dichters Wystan Hugh Auden (1907–1973) in die Hände fiel, drängte sich mir unmittelbar eine Assoziation mit der gegenwärtigen Kulturszene auf. Unser Zeitalter der Unsicherheit, einer mitunter von Angst geprägten Auf bruchstimmung, in der Gesellschaftsstrukturen, politische Systeme und nicht zuletzt unsere Umwelt bisher noch nie dagewesenen Veränderungen unterliegen, bedingt zwangsläufig eine ‚cultural anxiety‘, in der die Wurzeln für unser retrospektives Kunstempfinden liegen könnten. Es besteht wohl kein Zweifel daran, dass die Authentizitätsbewegung – das sich ständig steigernde Interesse, die Elaborate der Vergangenheit in möglichst großer Originalität zu erleben – in unserer Gesellschaft ein allgemein akzeptiertes kulturelles Phänomen geworden ist. Und zwar nicht nur in der Musik. Denken wir doch nur an die Attraktivität von Antiquitäten: ein altes Möbelstück, auch in schlechtem Zustand, besitzt für uns bisweilen größeren Wert

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als eine, objektiv gesehen, bessere, perfektere Kopie. Die (vermeintliche) Authentizität wird, so möchte ich sagen, häufig zum optime desideratum eines Kunstwerks der Vergangenheit hochstilisiert. Das Wort „authentisch“, lateinisch ‚authenticus‘, griechisch ‚áυθεντίкòϛ‘, leitet sich von ‚auto-entes‘1 ab, als Kontraktion und Substantivierung von ‚αυτο‘ und ‚είναι‘ in der Bedeutung „selbst über jemanden Macht haben oder ausüben“. 2 Dieses Wort wurde wiederum kontrahiert zu ‚authentes‘ (häufig bei Euripides und Herodot) in der Bedeutung „Mörder mit eigenen Händen“. Aus diesem Wortinhalt „eigenhändiger Mörder“ hat sich nur der Aspekt des „Eigenhändigen“ erhalten, des Idiomatischen als ein einem Original Zuzuordnendes erhalten. Die Adjektivbildung zu „authentes“ („authentikos“) scheint eine Sprachschöpfung der hellenistischen Grammatiker zu sein. 3 Es ist dies die erste Epoche der griechischen Literaturgeschichte, in der versucht wird, klassische und vorklassische Texte in ihrer gültigen Form zu kodifizieren und herauszugeben. Die Philologen und Grammatiker waren dabei um einen authentischen Wortlaut in ihren Ausgaben bemüht. Man könnte diese Editionen ihrer Intention nach durchaus als „Urtextausgaben“ bezeichnen.4 Das vordringliche Anliegen dieser Zeit waren Ausgaben der klassischen Tragödientexte sowie die Homer-Exegese. Die großen Tragödien lagen bis hierhin nur in ‚Aufführungsausgaben‘ vor, welche, je nach den Modalitäten einer Produktion, stark voneinander divergierten. Es war die Leistung der alexandrinischen Philologen, aus diesem Material Lesedramen zu schaffen, namentlich das in der Antike berühmte Tragödienstaatsexemplar des Lykurg5 um 330 v. Chr., auf welches unsere heutigen Tragödientexte zurückgehen. Man hat aber im Hellenismus nicht nur die Texte fixiert, sondern auch die Auswahl derjenigen Literatur getroffen, welche für tradierungswürdig erachtet wurde. Diesem Umstand ist unter anderem zuzuschreiben, dass aus dem reichhaltigen klassischen Komödienschaffen allein die Werke des Aristophanes erhalten geblieben sind, wohl deshalb, weil er als einziger der Komödiendichter im attischen Dialekt schrieb.6 In diese ptolemäische Zeit fällt auch die Gründung der Bibliothek von Alexandria (um 280 v. Chr.) Um 150 v. Chr. war die Fixierung des Großteils der klassischen Texte abgeschlossen. In der Arbeit zu deren Herausgabe wurde versucht, die entstellende Wirkung der Überlieferungsgeschichte rückgängig zu machen und korrupte 1 2 3 4 5 6

Zuerst bei Sophokles, Ödipus Tyrannus, V. 107. Franz Passov, Handwörterbuch der griechischen Sprache, Darmstadt 1979, 441. Henry George Liddell / Robert Scott, A Greek-English Lexicon, Bd. 1, Oxford 1843, 275. Herbert Hunger et al. (Hg.), Geschichte der Textüberlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur, Bd. 1: Antikes und mittelalterliches Buch- und Schriftwesen, Zürich 1961, 209. Ebd., 217. Rudolf Pfeiffer, Geschichte der klassischen Philologie. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus, Reinbek bei Hamburg 1970, 78.

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Stellen durch Sachkenntnis zu berichtigen („Konjektur“). Der berühmte Leitsatz Aristarchs, des Leiters der Bibliothek zu Alexandria, „Homer aus Homer zu erklären“ 7, gilt nach wie vor als Leitsatz jeder textkritischen und editorischen Arbeit. 8 Das lateinische Wort „authenticus“ ist ebenfalls erst für die Spätantike belegbar, dort dafür aber reichlich und nicht zufällig in einer literaturgeschichtlichen Epoche, in der sich die Philologie für das bis zu dieser Zeit vorhandene und überlieferte literarische Gut zu interessieren beginnt, „die Zeit einer Hochblüte des Buchhandels und des Verlegertums“ 9. Es ist dabei faszinierend festzustellen, dass bereits Cicero das Wort „authentikos“ kennt, es aber griechisch zitiert.10 Die Verwendung griechischer Worte in der lateinischen Rede war ja durchaus üblich, ähnlich wie man heute englische Ausdrücke in die deutsche Sprache einzubauen pf legt.11 Dies beweist aber in unserem konkreten Fall, dass eben dieses Wort áυθενtίкòϛ noch nicht latinisiert wurde. Der Beginn der lateinischen Textkritik und somit der Authentizitätsbewegung in der römischen Literatur ist mit dem 2. Jahrhundert n. Chr. anzusetzen, wobei man sich auch hier auf die textkritische Methode Aristarchs beruft. So steht bei Sueton zu lesen: „Multaque exemplaria contracta emendare ac distinguere et annotare curavit soli huic nec ulli praeterea grammatices parti deditus.“12 (‚Und bei vielen Buchexemplaren, die er zusammengebracht hatte, sorgte er für die Verbesserung der Schreibfehler, der Wort- und Satztrennung sowie der Setzung kritischer Zeichen, allein diesem und keinem anderen Bereich der Philologie13 zugewandt.‘) Da ab dem 2. Jahrhundert einerseits das Schaffen von Primärliteratur zurückging, andererseits die Gelehrsamkeit zunahm, war auch ein vorrangig retrospektives Interesse an Kultur vorhanden, welches hier ebenfalls nach den Originalen, nach der Authentizität strebte. Rom war in seine Zivilisationsphase eingetreten. So schreibt der Philologe und Kirchenvater Hieronymus „Omnes veteris legis lib-

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„Denique Aristarchus Homericum testem et auctorem unum Homerum habuit.“ (‚Schließlich hielt Aristarch Homer für den einzigen Zeugen und Urheber Homers.‘) Zit. nach Karl Lehrs, De Aristarchi Studiis Homericis, Leipzig 1882, 46. 8 Zur textkritischen Methode Aristarchs vgl. auch Rudolf Hanslick, „Valerius Probus“, in: Pauly’s Realenzyklopädie der classischen Altertumswissenschaft, hg. von Georg Wissowa et al., Reihe 2, Bd. 8A, Stuttgart 1955, Sp. 192–212. 9 Hunger et al. (Hg.), Geschichte der Textüberlieferung, 333–334. 10 „Narrabat eum áυθεντιкῶς loqui.“ (Cicero, ad Atticum IX, 14,2) 11 Ernest Hoetzl, Die Rezeption des griechischen Dichters Catull in der Musik, in: Lateinische Texte verstehen und erleben, hg. von Alfred Haider, Wolfgang J. Pietsch und Roman A. Prochaska, Wien 1994, 83–86. 12 Sueton, De grammaticis, 24. 13 Gemeint ist damit die textkritische Arbeit.

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ros ex ipsis authenticis emmendare“14 (‚Alle Bücher nach altem Gesetz aus den authentischen selbst herauszugeben‘), womit wieder eindeutig die Lehre der Stemmatologie des Aristarch gemeint ist. Die hellenistische und auch spätantike textkritische philologische Arbeit wurde bezeichnenderweise erst im 19. Jahrhundert von Karl Lachmann wieder aufgegriffen, welcher vor allem bei seiner Arbeit mit biblischen Schriften von den über Jahrhunderte tradierten und dabei immer wieder umgeformten Texten („textus receptus“) abwich, um die im 4. Jahrhundert gebräuchlichen Texte der Bibel zu rekonstruieren.15 Damit war aber endlich auch eine Methode wieder erschlossen, mittels welcher musikalische Urtextausgaben geschaffen werden konnten.16 Die ersten großen textkritischen Bach- und Händelausgaben gehen daher auch auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Diese Ausgaben stellten freilich die Vorbedingung zu einem Versuch einer (letztlich nicht einlösbaren) historischauthentischen Aufführungspraxis dar. Es sei hier bemerkt, dass somit im 19. Jahrhundert die Ausgaben musikalischer Werke dieselbe Veränderung erfuhren wie die Texte der klassischen Tragiker im 3. vorchristlichen Jahrhundert, nämlich eine Transformation von Interpretationsausgaben, also Aufführungsmaterialien, zu mutmaßlich authentischen, objektiv ‚sauberen‘ Urtexten. Diese, bar jeglicher Hinweise auf die künstlerische Praxis, mussten daher zwangsläufig in ihrer Realisierung zu unterschiedlichsten Ergebnissen führen, vor allem in jenen Bereichen, in denen eine kontinuierliche Aufführungstradition nicht gegeben war. Woher rührt dieses große Interesse für Authentizität? Wie vage auch immer etwaige Antworten auf diese Frage sein mögen, sie sind von größter Tragweite für eine Einschätzung der gegenwärtigen kulturellen Situation und daher auch von eminenter Bedeutung für neue Sichtweisen der Kunst- und der Musikgeschichte. Bislang stand jede Form von Kunst, von künstlerischer Kreativität in einem kulturellen Evolutionsprozess,17 in dem der Faktor Zeit als unveränderbarer Parameter Nähe oder Distanz definierte. So war für einen Musiker der „Klassik“ die Musik der Barockzeit näher, zugänglicher und aufführungspraktisch vertrauter als beispielswiese die Organa der Schule von Nôtre Dame. Dieses Konzept einer linearen Tradition – Tradition im ursprünglichen Sinne des Wortes, nämlich „Weitergabe“ – wurde aber durch die moderne Medientechnik weitgehend durchbrochen. Die Musikgeschichte in ihrer Gesamtheit entwickelte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einem Feld unmittelbarer und spontaner Möglichkeiten. Es 14 Hieronymus, Commentarii in epistulam Pauli ad Titum, 3,9. 15 Hunger et al., Geschichte der Textüberlieferung, 196–197. 16 Philipp Brett, „Text, Context, and the Early Music Editor“, in: Authenticity and Early Music. A Symposion, hg. von Nicholas Kenyon, Oxford 1988, 83–114, hier 93. 17 Robert P. Morgan, Tradition, Anxiety and the Musical Scene, in: Authenticity and Early Music, hg. von Kenyon, 57–82, hier 59.

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ist so – man gestatte den Vergleich mit der modernen Datenverarbeitung -, als ob jede geschichtliche Epoche, jede geographische Region der Erde oder jeder musikhistorische Entwicklungsschritt als Datei abgespeichert wurde und nun durch ein und denselben Befehl in ein und derselben Zeit auf ein und dieselbe Weise abgerufen werden kann. Es ist uns in einer Selbstverständlichkeit möglich, in unmittelbarer Abfolge Musik des Mittelalters und der Romantik zu hören, wobei der Zeitabstand, der die beiden Epochen voneinander beziehungsweise diese ihrerseits von Rezipient*innen trennt, für Letztere irrelevant geworden ist. Jede Form von Musik, wie entfernt sie von unserem gegenwärtigen Standpunkt auch sein mag, wird gleichermaßen zugänglich. Aber nicht nur diachron, auch synchron zeigt sich dasselbe Phänomen. Wir haben die Möglichkeiten, man könnte sagen, die Freiheit, uns musikalisch unmittelbar von Europa aus zuerst zum Broadway und anschließend in ein tibetisches Kloster zu begeben, wobei die einzige „Distanz“ das Aufrufen einer entsprechenden Datei ist. Diese beinahe unbegrenzten Möglichkeiten bedingen zwangsläufig, dass für heutige Musikkonsument*innen Unterscheidungen zwischen vergangen und gegenwärtig, zwischen nah und fern, verwischt, bestenfalls kognitiv begreif bar, empirisch aber nicht nachvollziehbar werden. Dass dies eine Verunsicherung der eigenen kulturellen Identität mit sich bringt, einer Identität, welche ja nicht mehr in eine lineare Entwicklung eingebunden ist, scheint dabei als logische Konsequenz. Die Aufgabe der Linearität, also der kontinuierlichen Entwicklung der Musik und der Kunst, war sicherlich nicht zuletzt ein Produkt des digitalen Zeitalters. Aber auch in der Vermittlung von bloßer Information an sich lässt sich historisch eine ständige Tendenz von Linearen zum Simultanen verfolgen. Machen wir noch einen Sprung weit in die Vergangenheit. „Oral poetry“ ist grundsätzlich als akustische Informationsweitergabe linear. Die ersten schriftlich fixierten Texte des klassischen Altertums waren auf Papyrusrollen notiert. Die Majuskelschrift war kontinuierlich, es wurde ohne Zwischenräume, ohne Trennung in einzelne Worte geschrieben, sodass es notwendig war, Buchstabe für Buchstabe linear zu lesen. Das simultane Erfassen mehrerer Buchstaben als ein Wort, wie wir zu lesen gewohnt sind, ließ diese Schriftart nicht zu. Ein Exempel möge dies verdeutlichen: „Y O U A N D I“

mutet beim ersten Hinsehen vielleicht wie ein mittelasiatischer Frauenname an, erst beim linearen Lesen erkennt man die wirkliche Bedeutung dieser drei Worte: „you and I“. Das Fehlen jeglicher Gliederung dieser frühen Texte beziehungsweise die Beschaffenheit der Buchrolle an sich ließ es nicht zu, die Linearität zu verlassen. Man war faktisch gezwungen, den Text vom Anfang bis zum Ende linear zu verfolgen. Man konnte nicht, wie heute vielfach üblich, ein Kapitel problemlos 113

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überblättern oder zwei Textstellen derselben Buchrolle parallel miteinander vergleichen, da bar einer Gliederung des Textes keine Referenzpunkte wie Seitenzahlen, Absätze, Kapitel etc. existierten. Der erste revolutionäre Schritt aus der Linearität heraus war die Erfindung des Codex, wesentlich billiger und handlicher als die Buchrolle, eine Art Taschenbuchausgabe der Antike18 , welche nun erlaubte, problemlos vor und zurück zu blättern, weiter erleichtert durch ein späteres Auf kommen einer Gliederung der Schrift in Worte, des Textes in Absätze, Paragraphen, Kapitel. Damit war eine notwendige Vorbedingung für eine Zitierbarkeit der Literatur geschaffen. Die auf kommende Tendenz, vor allem in der wissenschaftlichen Literatur, Texte mit Wortregistern und Indizes auszustatten, war ein nächster Schritt von der linearen Verwendbarkeit eines schriftlichen Textes zu non-linearer Information. Diese erste Revolution der antiken „Datenverarbeitung“ ist um circa 400 n. Chr. abgeschlossen,19 zahlreiche wichtige Bibliotheken wurden von Grund auf erneuert. Diese Veränderung in der Methode der Kodifizierung von Information wurde nur durch die Erfindung des Buchdrucks im 16. Jahrhundert sowie durch die digitale Revolution im 20. Jahrhundert übertroffen. Die Digitalisierung von Information ist der ultimative Schritt, die Gesamtheit einer wie auch immer gearteten Information synchron zur Verfügung zu stellen. Da durch die technischen Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung Informationen auch in anderen Formen als in schriftlicher Fixierung verarbeitet, kodifiziert und präsentiert werden können, der visuelle und der akustische Aspekt immer mehr in den Vordergrund gelangt, kann man fast paradoxerweise von einer Rückkehr zu einer – jedoch non-linearen – „Oraltradition“ sprechen. Ja, auch rein technisch gesehen, ist digitale Information nicht-alphabetische Information. Durch den Digitalismus werden schlussendlich Linearität, Alphabetismus und Hierarchie von Information über Bord geworfen. Dies muss daher zwangsläufig eine organische Entwicklung, auch von Kultur und von Kunst beeinf lussen. Die genannten Entwicklungen müssen wesentliche Faktoren bei der Beurteilung der heutigen Aufgaben der Musikforschung darstellen. Wenn eine kulturelle Epoche in keine lineare Entwicklung eingebunden ist, sie somit ihren ureigenen Charakter, ihre persönliche Note verliert, wird sie das Bedürfnis verspüren, sich den kulturellen Werten der Vergangenheit zu nähern, diese aufzuarbeiten, und zwar in größtmöglicher Objektivität. Nur in solch einer kulturhistorischen Situation gewinnen Leistung der Vergangenheit Vorrang vor zeitgenössischen Errungenschaften. In einer ähnlichen Situation befand man sich ja auch im Hellenismus beziehungsweise in der Spätantike. 18 Nicholas Kenyon, Books and Readers in Ancient Greece and Rome, Oxford 1951, 83. 19 Ebd., 93.

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Die gegenwärtige retrospektive Tendenz, das Streben nach größtmöglicher Authentizität – das heißt jede Form von Kunst, jede Musik nach besten Mitteln und Möglichkeiten in weitgehend annähernder Originalität zu rekreieren – zeugt eben von dieser Einstellung zu ihrer Geschichte. Es zeugt aber auch davon, dass unsere Zeit in unserem Kulturraum einer eigenen, einheitlichen Kultur- und Musiksprache entbehrt, in der ja auch die Werke der Vergangenheit interpretiert werden könnten. Dadurch wir es unumgänglich zu versuchen, die jeweiligen Originalsprachen zu erlernen. Dass diese dann wiederum zu adaptieren sein werden, erklärt sich von selbst, denn sowohl Interpret*innen als auch Rezipient*innen entstammen in jedem Falle unserer Zeit. Es hat den Anschein, als begänne man wieder Latein zu sprechen (was in kleinen Kreisen, den „Circuli Latine Loquentium“ übrigens auch immer häufiger geschieht und sich wachsender Beliebtheit erfreut). Das 20. Jahrhundert, vor allem dessen zweite Hälfte, hat mehr vergessene Musik wiederbelebt als irgendeine musikalische Ära bisher. Wir haben aktiv versucht und größtenteils darin auch reüssiert, ein Repertoire zu schaffen, in dem Musik zahlreicher Generationen in gleicher Weise zugänglich wird. Sänger*innen des Jahres 1880 dachten vermutlich nicht darüber nach, ob sie den Rossini-Stil für Rossini, den Mozart-Stil für Mozart und den Verdi-Stil für Verdi anwenden sollten. Sie sangen einfach. Wie sie sangen, wie sie ein Crescendo empfanden, wo sie instinktiv schneller wurden, wo sie die Notwendigkeit einer Verzierung verspürten, alles geschah wohl im Stil seiner kulturhistorischen Rahmenbedingungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, einer kulturellen Muttersprache. Es gab noch kein Konzept verschiedener historischer Stile, verschiedener Interpretationen. Ein Wissen um diese, welches wie eine Software in die Hardware des Ausführenden einprogrammiert werden konnte, womit der Sänger auf Rossini, Mozart oder Verdi eingestellt wäre, bleib außerhalb jeglicher Diskussion. Der immanente Vorteil dieser engen Verbindung von Komposition und Musizierstil, 20 wie heute noch in der Popularmusik und in nicht-westlichen Musizierpraktiken, aber auch auf alten Tonträgern westlicher Musik vom Anfang des 20. Jahrhunderts zu erkennen, ist ähnlich gelagert wie die Vertrautheit mit einer Muttersprache, in der Grammatik, Semantik und Syntax in einem Ausmaß zur Verfügung stehen, dass in dieser für Benutzer*innen der Sprache auch ex improviso Spontaneität, Improvisation und Variation problemlos und ungekünstelt möglich sind. Wie gut auch immer man eine Fremdsprache beherrschen mag, die Muttersprache ist sie eben doch nicht. Wäre das Spannungsdreieck zwischen Komponist, Rezipient und Interpret nicht zerbrochen, zugunsten des Aspekts einer l’art pour l’art vielfach aufgegeben worden, wäre wahrscheinlich auch in unserer Kultur Authentizität bis heute kein Thema. 20 Nikolaus Harnoncourt, Der musikalische Dialog, Salzburg 1984, 13.

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Authentizität ist jedoch überall dort irrelevant, wo nach wie vor eine kulturell geschlossene Gesellschaft vorherrscht. Dass für Musiker*innen, deren Kultur über eine eigenständige Kultursprache verfügt, solche Überlegungen völlig absurd schienen, beweisen die zahlreichen Bearbeitungen und Editionen von Musik des 18. Jahrhunderts durch Musiker*innen des 19. oder 20. Jahrhunderts. Denken wir doch nur an die Bach’schen Orgeltoccaten als virtuose Klavierstücke in der Bearbeitung von Ferruccio Busoni oder Wolfgang Amadeus Mozarts Fassung von Händels „Messias“, in welcher versucht wird, durch den Einsatz von Bläsern, vor allem der zur damaligen Zeit im Orchester neuen Klarinetten, sich einem modernen Klangverständnis anzupassen. Ähnlich geartet ist etwa auch Wagners Bearbeitung der „Iphigenie“ Christoph Willibald Gluck mit schwerem Blech. Aber auch in der Gegenwart ist die Frage der Authentizität überall dort kein Thema, wo eine starke kulturelle Identität vorhanden ist. Indische Musik verkörpert eine der längsten ungebrochenen linearen Entwicklungen einer als klassisch zu bezeichnenden Musikkultur, deren Beginn in der vedischen Zeit anzusetzen ist und bis heute andauert. 21 Obgleich diese Musik, deren Grundprinzipien bereits im Samaveda konzipiert sind, natürlichen Veränderungen unterworfen und zahlreichen neuen Impulsen ausgesetzt war (etwa der arischen Wanderung im 2. vorchristlichen Jahrtausend, dem Indienfeldzug Alexanders des Großen und der darauffolgenden Hellenisierung, der Islamisierung des Nordens, sowie letztlich dem Einf luss der Kolonialmächte), konnte sich eine „eindeutige und unabhängige Kultursprache“ 22 entwickeln. So ist es auch für den Interpreten klassisch indischer Musik völlig selbstverständlich, seine traditionellen akustischen Instrumente elektronisch zu verstärken und sogar Instrumente, die der indischen Kultur fremd waren und importiert wurden, – wie vor ca. 200 Jahren die Violine durch die Portugiesen 23 oder in neuester Zeit verschiedene elektronische Instrumente durch aus Japan – für seine eigene klassische Musik zu verwenden und wie im Fall der Violine sogar zu behaupten, sie sei „ein indisches Instrument“ 24. Daher ist es auch nicht erstaunlich, bei einem Festival klassisch indischer Musik diese auf einer elektronischen Mandoline, begleitet von den traditionellen Instrumenten tabla und tampura, interpretiert zu erleben. Nur der Inhalt zählt, nicht die Form. „Authenticity is nothing, that matters.“ 25 Bei einem traditionsreichen Festival in Europa ein Klaviertrio Mozarts auf Violine, Violoncello und elektrischem Keyboard gespielt zu hören, erscheint mir doch eher unwahrscheinlich. 21 Reginald Massey / Jamila Massey, The Music of India, London 1986, 11. 22 Sitansu Ray, Studies in Indian Music Aesthetics, Ajmer 1989, 78. 23 Der König von Tanjavour lud regelmäßig westliche wie auch indische Musiker gemeinsam an seinen Hof. Hier wurde die Violine der indischen Musikkultur bekannt und in diese integriert. 24 Ray, Studies in Indian Music Aesthetics, 93. 25 Ebd., 108.

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Es ist wohl die Spitze der Ironie, dass die bedeutendsten Elaborate der Authentizitätsbewegung die verschiedensten Tonträger sind, eine Manifestation einer möglichst „inauthentischen“ Musizierform, nämlich ohne Publikum und in identischer Weise beliebig oft mechanisch wiederholbar. Wenn man bei CD-Produktionen mit französischen Sänger*innen die für das jeweilige Repertoire authentische Diktion der lateinischen Sprache erarbeitet, 26 führt dies zwar zu einem historisch richtigen Ergebnis, ist aber keinesfalls authentisch, wissen wir doch, dass Latein grundsätzlich in der landesüblichen Aussprache gesungen wurde. Die Authentizitätsbewegung scheint das Produkt unseres kulturellen Denkens zu sein. Jedes Repertoire, jede geographische Region hat ihre eigenen Interpret*innen und Rezipient*innen. Sie alle versuchen, authentisch zu sein. Authentizität muss wohl als „Kultursprache unseres Jahrhunderts“ 27 erachtet werden. Im metaphysischen Sinn ist daher unser sensus communis aestheticus die Authentizität. Musik ist eine spontane Kunst. Sie entsteht aus dem Augenblick und im Augenblick. Die vielen Parameter, die eine Aufführung eines Musikstückes sowie deren Qualität bedingen, sind unwiederholbar und schon gar nicht historisch reproduzierbar. Jedes Musikstück existiert daher in unzähligen Varianten. Auch die Intention des Komponisten lässt situationsbedingt häufig eine gewisse Bandbreite zu, finden sich ja eigens komponierte Einlagestücke, durch den Komponisten autorisierte Varianten, Reinstrumentationen beziehungsweise Kürzungsvorschläge28 , vor allem in der Opere serie der Barockzeit. Denken wir hierbei nur an die Opern- und Pasticcioproduktionen Händels in London unter Verwendung zahlreicher Versatzstücke Hasses. Eine originalgetreue Ausgabe, welcher man in der Ausführung apodiktisch Folge zu leisten hat, ist daher bereits in sich widersprüchlich, da damit alle Möglichkeiten und Varianten von vornherein ausgeschlossen werden. Gewisse neue Perspektiven aber scheinen sich auch hier durch die digitale Revolution aufzutun, ist es ja in der digitalen Datenverarbeitung möglich, Informationen parallel und zeitgleich verfügbar und zugänglich zu machen. So besteht auch hier in gewisser Weise eine Möglichkeit zur Variabilität. Wie immer solche Varianten aussehen mögen, der Herausgeber, aber auch der Interpret werden versuchen müssen, die Intentionen des Komponisten sowie die des zeitgenössischen Publikums zu befriedigen. 26 Beispielsweise arbeitete ich unter anderem für CD-Produktionen von Les Arts Florissants mit William Christie als Conseiller Linguistique für Latein. 27 Marshall Bearman, The Politics of Authenticity, New York 1970, 311. 28 Die Einspielung von Georg Friedrich Händels Messiah mit Nicholas McGegan erscheint in diesem Zusammenhang erwähnenswert, da auf diesem Tonträger verschiedene Varianten aufgenommen sind und Hörer*innen sich somit ja nach Lust und Laune digital eine eigene Version des Werkes erstellen können (Nicholas MgGegan, Philharmonia Baroque Orchestra, Händel’s Messiah, HMU 907050.52).

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Musikkonsument*innen, die mit der Tonsprache eines Richard Wagner oder eines Igor Strawinsky vertraut sind, werden auf die Musik des 17. Jahrhunderts sicherlich anders reagieren als Zuhörer*innen aus jener Zeit. Wir können Musik des 17. und 18. Jahrhunderts nicht spielen und auch nicht konsumieren, indem wir vorgeben, das 19. und 20. Jahrhundert hätte nie existiert. Wir können diese Musik nicht rekonstruieren, und wenn wir es könnten, wäre sie wahrscheinlich für uns bedeutungslos. Das ästhetische Vergnügen, welches uns ältere Musik bereitet, beinhaltet die Vergangenheit und die Gegenwart. Noch vor gar nicht langer Zeit waren sich Musiker*innen sicher, dass es Komponist*innen auch vergangener Zeit vorgezogen hätten, ihre Musik mit modernen Instrumentarium und veränderten Spielmanieren zu hören, als mit den zerbrechlichen unentwickelten Mitteln ihrer Zeit. Eine Aufführung mit alten Instrumenten ist dennoch keine Aufführung der alten Zeit. Moderner Geschmack ist ein unverlässlicher Führer zur Interpretation alter Musik. Aber es ist der einzige, über den wir verfügen. Dies ist der Fall 2018, dies war aber auch 1917 oder 1816 der Fall, und es ist ein Fehler, vorzugeben, es wäre anders. Niemand kann dem Geschmack und der Urteilsfähigkeit seiner Zeit, seinem Umfeld entkommen. Wenn man auch in der älteren konservativen Musikwissenschaft wiederholt der Ansicht war, dass Werke der Vergangenheit aufgrund ihrer „Systemlichkeit des ästhetischen Codes auf einen Hörer jeder Epoche, aber auch jeder Kultur in gleicher Wiese wirken, ja diesen durch die immanenten ästhetischen Werte zum Verständnis des Kunstwerkes sogar erziehen“ 29 können, dann wäre eine aufführungspraktische Diskussion, eine Diskussion um die Authentizität unnötig. Dagegenzuhalten ist jedoch, dass viele Bereiche der Musikliteratur erst durch akribisches Herausfiltern aufführungspraktischer Parameter überhaupt spiel- und somit rezipierbar gemacht wurden. Vielleicht ist eine Aufführung der Marienvesper (veröff. 1610) von Claudio Monteverdi im Stil des ausgehenden 19. Jahrhunderts den dem Werk innewohnenden ästhetischen Codes nach zwar noch verständlich, der Hörgenuss wird aber einer Aufführung von Lessings „Nathan“ in oststeirischem Dialekt nahe kommen. Nun ist aber ein barockes Musikwerk weder ein Gebrauchsgegenstand noch ein „Kunstwerk im emphatischen Sinn“ 30. Es ist ein Beispiel einer Musikfunktion, die der Musikspaltung vorausging und für welche ein unmissverständlicher Begriff fehlt. „Die ästhetische Dichotomie, die Spaltung der Musik in ‚Kunst‘ und ‚Nicht-Kunst‘ ist eine Denkform des 19. Jahrhunderts.“ 31 29 Hans Heinrich Eggebrecht, „Musikalisches Werk und ästhetischer Wert“, in: Musikalisches Denken. Aufsätze zur Theorie und Ästhetik der Musik, Wilhelmshaven 1977, 243–254, hier 253. 30 Carl Dahlhaus, „Plädoyer für eine romantische Kategorie. Der Begriff des Kunstwerks in der neuesten Musik“, in: Neue Zeitschrift für Musik 130/1 (1969), 18–22, hier 20. 31 Carl Dahlhaus, „Über die ‚mittlere‘ Musik des 19. Jahrhunderts“, in: Das Triviale in Literatur, Musik und bildender Kunst, hg. von Helga de la Motte-Haber, Frankfurt a. M. 1972, 131–147, 132.

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Wenn man von Gebrauchsmusik des 17. und 18. Jahrhunderts spricht, wird der Sachverhalt verfälscht, ja missverstanden. Sie ist ein Zeugnis der Einheit von Kunstcharakter und Gebrauchsfeld. Im Zeitalter der Ästhetik wird vorästhetische Musik zu ästhetischer Musik uminterpretiert. Bei der Aktualisierung alter Kunst verlässt diese somit ihre intendierten Parameter, ihre locos circumstantes. Sie wird zur autonomen und damit ästhetischen Kunst. Sie wird „entfunktionalisiert“. 32 Die Musik des 16. und 17. Jahrhunderts war grundsätzlich funktional. Erst im späten 18. und 19. Jahrhundert erfolgte sukzessiv eine „Ablösung der autonomen von der funktionalen Musik“. 33 Die Verschiedenheiten der Interpretation Alter Musik haben unter der Konstanz der ästhetischen Identifikation ihren konstanten Schnittpunkt. Auch vorästhetische Werke, welche aber nun ihrer Funktionalität enthoben wurden, wurden so zu ästhetischen Kunstwerken. Die Musikgeschichte muss hier die Fähigkeit des ästhetischen Verstehens ausbilden. Alte Musik verblieb immer in einem System einer Gebrauchsästhetik. Noch war der Aspekt einer l’art pour l’art, einer Hinwendung zum interesselosen Wohlgefallen an der „tönend bewegte[n] Form“34 nicht geboren. Die Authentizitätsbewegung ist nicht historisch, war nie historisch und wird nie historisch sein, weil sie nicht historisch sein kann. Und sie sollte es auch nicht sein. Sei entspringt dem Zeitgeist der Gegenwart und ist immer aus ihrem Geist heraus gegenwärtig, daher unterliegt sie einer ständigen Veränderung. Ursprünglich wurde versucht, möglichst viele Aspekte der historischen Gegebenheit einer Musikproduktion bis hin zu äußeren Rahmenbedingungen, dem Theater, und einer etwaigen Kostümierung der Ausführenden, sogar des Publikums, zu rekonstruieren. 35 Ein starres Festhalten an Doktrinen ist jedoch sicher nur hinderlich. 36 Heute sollten die Aspekte einer authentisch-musikalischen Ausführung, einer Ausführung auf der Basis einer historischen Informiertheit, für die Arbeit von Musiker*innen als selbstverständlich erachtet werden. Unser postmoderner Ansatz ist der eines Strebens nach Relevanz. Die Musikvereine Österreichs waren Gründungen des 19. Jahrhunderts, dem Geist des Biedermeier nahe stehend. Man darf also die Frage stellen, ob diese kulturelle Institution überhaupt Aktualität besitzen kann? 32 Hans Heinrich Eggebrecht, „Grenzen der Musikästhetik?“, in: Musikalisches Denken, 193–217, hier 206. 33 Carl Dahlhaus, Analyse und Werturteil, Mainz 1970, 20. 34 Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst, Wiesbaden 211989, 59. 35 Man denke an die ersten Monteverdi-Produktionen Harnoncourts in Zürich. 36 In diesem Zusammenhang erschien mir die instrumentale Lösung einer Aufführung von Glucks Iphigenie auf Tauris bei den Wiener Festwochen 1994 sehr gelungen, als der musikalische Leiter zwar ein modernes Orchester verpflichten musste, aber zur Klangfarbenergänzung Barocktrompeten und -pauken einsetzte.

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Musik ist eine Sprache, eine Sprache des Herzens, die einzige Sprache – so Pythagoras –, die direkt in das Innere der Seele einzudringen vermag, ohne den Filter des Gehirns vorgeschaltet zu haben. Diese Sprache hat aber viele Dialekte. Wenn wir versuchen, möglichst viele dieser Dialekte zu sprechen, werden wir universell verstanden. Nur in diesem Bestreben bekommt unser Tun Relevanz, im Streben nach Relevanz bedeutet authentisch somit modern.

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„… mit eben so leichtem Odem“ Bemerkungen zur Frühgeschichte des klassischen Wiener Kontrafagotts Klaus Hubmann

Ad notam Vor mehr als dreißig Jahren unterstrich Herbert Heyde die Bedeutung der 1965 erschienenen Monografie The Bassoon and Contrabassoon von Lyndesay Graham Langwill, machte auf einen kurzen Artikel von Paul Rubardt aufmerksam, der zwei bis dahin weitgehend unbekannte Kontrafagotte des Leipziger Instrumentenmachers Andreas Eichentopf, eines davon mit 1714 datiert, erwähnt, und konnte eine umfangreiche Studie zum Kontrafagott des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vorlegen, die erst vor wenigen Jahren durch Jürgen Eppels­ heim eine wertvolle Ergänzung erfuhr.1 Zur Geschichte des Kontra­fagotts der Wiener Klassik hingegen liegt bis dato keine grundlegende Arbeit vor, wenngleich auch jüngere Publikationen sehr wertvolle Einblicke in Detailaspekte bieten. Der vorliegende Beitrag versteht sich ebenfalls nicht als eine in sich geschlossene Studie zum Kontrafagott des ausgehenden 18.  Jahrhunderts, aber in gewisser Hinsicht als Ergänzung bzw. Korrektur zum einschlägigen Schrifttum der letzten vier Jahrzehnte. 2

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Lyndesay Graham Langwill, The Bassoon and Contrabassoon, London 1965; Paul Rubardt, „Johann Heinrich und Andreas Eichentopf, zwei bedeutende Musikinstrumentenmacher der Bachzeit“, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität  15/3 (1966), 411–413; Herbert Heyde, „Contrabassoons in the 17th and Early 18th Century“, in: Galpin Society Journal 40 (1987), 24–36; Jürgen Eppelsheim, „Pommern tiefer Lage (Bombardi, Bombardoni, Bomharte) als Bestandteil des Basso-continuo-Instrumentariums“, in: Die Musikforschung 66/1 (2013), 2–11. Günther Angerhöfer, „Das Contrafagott. Seine Entwicklung und seine Verwendung im Orchester bis 1800“, in: Oboe – Klarinette – Fagott 5/1 (1990), 43–56; Thomas Kiefer, „Tiefstimmige Doppelrohrblattinstrumente von der Harmoniemusik bis in das Blasorchester des 19. Jahrhunderts. Zu ihrer Entwicklung im Bereich der Donaumonarchie und den Auswirkungen auf den Instrumentenbau in Berlin und Mailand“, in: Wissenschaftliches Jahrbuch der Tiroler Landesmuseen 3 (2010), 47–99; Melanie Piddocke, Theodor Lotz. A Biographical and Organological Study, Dissertation, Edinburgh 2011, bes. 300–315; Gunther Joppig, „Zur Geschichte des Kontrafagotts“, in: Tradition und Innovation im Holzblasinstrumentenbau des 19. Jahrhunderts, hg. von Sebastian Werr, Augsburg 2012, 225–238.

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Eine Pressburger Erfindung von 1785 Als wahrscheinlichen Pionier des klassischen Kontrafagotts machte Will Jansen vor etwa vierzig Jahren den Prager Instrumentenbauer Simon Joseph Truška namhaft. 3 Eine These, die sich allein auf Truškas frühes Geburtsdatum stützt. Tatsächlich gehört der 1734 Geborene im Vergleich zu den Wiener Holzblasinstrumentenerzeugern Kaspar Tauber (geb. 1758) und Martin Lempp (geb. 1766), von welchen ebenfalls Instrumente aus der Zeit um 1800 erhalten sind, einer älteren Generation an. Auch Günther Angerhöfer teilte diese Ansicht: „Simon Joseph Truška in Prag (1734–1809) beschritt im Bau von Kontrafagotten neue Wege, wie 2 erhaltene Instru­ mente in Den Haag und Prag bezeugen. Beide haben die Höhe von 170 cm […].“ 4 Praktisch zeitgleich machten Harald Strebel und Melanie Piddocke5 2011 auf eine Einschaltung in der Wiener Zeitung vom 7. September 1785 aufmerksam, die hier wegen ihrer instrumentengeschichtlichen Bedeutung im vollen Wortlaut nach dem Original wiedergeben wird: Der sonst in Preßburg wohnhafte und sehr bekannte Tonkünstler und musikalische Instrumentmacher, Theodor Lotz, giebt allen Kennern und Liebhabern hiemit Nachricht, dass, nachdem er aus allerhöchsten Gnaden Sr. kais. Majestät, in Rucksicht seiner besondern Geschicklichkeit in seiner Wissenschaft, als k.  k. Hof= und Kammerinstrumentmacher gnädigst aufgenommen worden, er bis Ende Septemb. 1785 seinen Wohnort in Wien nehmen, und auf der alten Wieden nächst dem grünen Baum Nr. 67 zu erfragen seyn wird. Unter andern Gattungen blasender Holzinstrumenten, als Clarinet, Hautbois, Bassethorn, Flöten und Fagot [sic] etc. hat er auch einen grossen Oktavfagott verfertiget, welcher obwohl selber um eine ganze Oktav tiefer ist, als die sonst gewöhnlichen Fagot, dennoch mit eben so leichtem Odem, und mit der nemlichen Art Röhren und Fingerapplikatur gespielt wird. Herr Lotz hat mit diesem Instrument alhier die allerh. Gnade gehabt sich sowohl bey Sr. Maj. dem Kaiser, als auch in einer grossen musikalischen Akademie im k.  k. Nationaltheater mit der k.  k. blasenden Kammerharmoniemusik öffentlich mit algemeinen Beyfall hören zu lassen, und Kenner und Liebhaber bewunderten die gute Wirkung, die dieses Instrument sowohl bey blasender Musik, wie auch bey stark besetztem Orchester machte.6 3 4 5 6

Will Jansen, The Bassoon: Its History, Construction, Makers, Players and Music, Bd. 1, Buren 1978, 21. Angerhöfer, „Das Contrafagott“, 52, und fast wortident in „Fagott“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, zweite Auflage, hg. von Ludwig Finscher, Sachteil Bd.  3, Kassel und Stuttgart 1995, Sp. 297. Harald Strebel, „Neue Quellenfunde und Berichtigungen zu den Musikern und Holzblas­ instrumentenmachern Theodor Lotz und Raymund Griesbacher“, in: rohrblatt 26/4 (2011), 12–14; Piddocke, Theodor Lotz. [Anonymus] [Theodor Lotz?], „Nachricht“, in: Wiener Zeitung 72, 7. September 1785, 2109. Vgl. auch Piddocke, Theodor Lotz, 300–301.

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Demnach muss also Theodor Lotz (1746–1792) als Erfinder des klassischen Kontrafagotts in 16-Fuß-Lage angesehen werden. Leider sind von ihm keine derartigen Instrumente erhalten geblieben, auch keine anderer Instrumentenbauer, die eindeutig dem späten 18. Jahrhundert zuzuordnen wären, wohl aber nicht weniger als zehn Kontrafagotte des Lotz-Schülers Kaspar Tauber (1758–1831),7 die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den Typus seines Lehrers zurückgehen. Taubers frühe Instrumente, aber auch jene von Martin Lempp (1766–1836), Simon Joseph Truška, Carl Doke (ca. 1778–1826) (Abb. 1) und anderen zeigen allesamt dasselbe Bauprinzip. Im Unterschied zu barocken Kontrafagotten, die nicht nur akustisch sondern auch physisch eine exakte Verdopplung des ‚Normal‘-Fagotts darstellen, eine Gesamtlänge von fast 270 Zentimetern aufweisen und das Subkontra-B erreichen, sind die Kontrafagotte der Wiener Klassik wesentlich kompakter gebaut. Durch die Verteilung der Luftsäule auf drei Röhren, die durch eine weitere Umlenkung mittels eines zweiten kleinen Stiefels bewerkstelligt wird, und die Beschränkung der Tiefe auf das Kontra-D konnte ein handlicheres Instrument entwickelt werden, bei welchem man nicht wie beim monströsen barocken Modell auf ein stützendes Gestell angewiesen ist.

Abbildung 1: Kontrafagott von Carl Doke, Linz (vor) 1814. Musiksammlung Stift Kremsmünster.

Früher Einsatz des Kontrafagotts Wie aus der Nachricht der Wiener Zeitung hervorgeht, trat Theodor Lotz 1785 noch regelmäßig als Musiker auf. Ein Betätigungsfeld, das er etwa drei Jahre später zugunsten seines Instrumentenbaues gänzlich aufgeben sollte. Die erwähnte musikalische Akademie mit der „blasenden Kammerharmoniemusik“, also der Kaiserlichen Harmoniemusik, die am 12.  März 1785 stattfand, 8 muss wohl als erstes öffentliches Konzert mit dem neuen klassischen Kontrafagott gelten. Sehr wahrscheinlich ist Theodor Lotz auch mit dem „Contrafagottisten“ identisch, auf den man bei einem Konzert der Harmoniemusik Erzherzog Maximilians im Sommer des Jahres 1785 „ziemlich lang […] warten musste“, weil er vor dem 7 8

Vgl. Piddocke, Theodor Lotz, 304. Vgl. Mary Sue Morrow, Concert Life in Haydn’s Vienna: Aspects of a Developing Musical and Social Institution, New York 1989, 172; Piddocke, Theodor Lotz, 49–50.

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Auftritt noch einen Organistendienst zu absolvieren hatte, wie Johann Friedrich Reichardt in seiner Autobiographie berichtet.9 Mit dem Namen Lotz ist auch der allererste und einzige Einsatz des Kontra­ fagotts im Schaffen Wolfgang Amadé Mozarts verknüpft. Unter der mehrere Monate lang freigelassenen Rubrik „Im Monath Jully. [1785]“ des „Verzeichnüß aller meiner Werke“ vermerkte Mozart nachträglich: „Maurerische Trauer Musick bey dem Todfalle der Brbr: Meklenburg und / Esterhazÿ. – 2 Violini, 2 Viole, 1 clarinett, 1 Bassethorn, 2 oboe, / 2 corni e Basso.“ Am Autograph des Werkes10 ist zu beobachten, dass Mozart zu einem späteren Zeitpunkt im System unter der Akkolade eine Stimme für „gran fagotto“ und nach der letzten Seite der Partitur zwei weitere Bassetthorn-Stimmen hinzufügte. Für die beiden jung verstorbenen Freimaurer-Brüder – beide Todesfälle ereigneten sich im November 1785 –, fanden zwei Trauerfeiern statt, in der Loge „Zur gekrönten Hoffnung“ am 17. November und in der Loge „Zu den drei Adlern“ am 7. Dezember. Aus dem Anwesenheitsprotokoll geht hervor, dass zumindest bei der letzteren Theodor Lotz und die Bassetthornisten Anton David und Vincent Springer teilnahmen. Es liegt demnach auf der Hand, dass Mozarts Nachinstrumentierung mit diesen Ereignissen zu tun hat. Die Wiener Freimaurerloge „Zur gekrönten Hoffnung“ veranstaltete nach dem Wunsch von Anton David und Vincent Springer am 15. Dezember 1785 im Rahmen einer Versammlung ein Konzert, dessen Programm am 17. November im Journal für Freymauerer und in einem Einladungsschreiben durch den Logenbruder Conrad Dominik Bartsch vom 9. Dezember angekündigt wurde. Neben anderen Programmpunkten finden sich „5tens Die Parthien vom Br: Stadler für 6. blasende Instrumente entworfen, wobey auch der w[ürdige]: Br[uder]: Locz [= Theodor Lotz] den großen 8tav Fagott spielen wird.“11 Carl Ditters von Dittersdorf muss als erster Komponist der Musikgeschichte angesehen werden, der das Kontrafagott im Opernorchester einsetzte.12 Er verwendet das neue Instrument, als „Fagotto Grande“ bezeichnet, zur Verstärkung des Kontrabasses in seinen 1786 entstandenen und in Wien uraufgeführten Opern Betrug durch Aberglauben oder Die Schatzgräber KreD 293 (UA Kärntnertortheater, 9

„Bruchstücke aus Reichardts Autobiographie“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 41, 13. Oktober 1813, Sp. 665–674, hier 668. 10 Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Mus. ms. autogr. Mozart, W. A. 477. 11 Zitiert nach Hans-Josef Irmen, Mozart. Mitglied geheimer Gesellschaften, Zülpich ²1991, 179. Vgl. auch Harald Strebel, Anton Stadler. Wirken und Lebensumfeld des „Mozart-Klarinettisten“, Bd.  1, Wien 2016, 161–162. 12 Auch an dieser Stelle muss Angerhöfer korrigiert werden, wenn er schreibt: „Er [Beethoven] wird wohl aber in der Musikgeschichte als der erste Komponist gelten, der das Contrafagott in der Oper einführte. Erinnert sei an die ergreifende musikalische Gestaltung des II. Aktes im Fidelio…“ („Das Contrafagott“, 55.)

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3. Oktober 1786), Democrito corretto KreD 294 (UA Burgtheater, 24. Jänner 1787 und Die Liebe im Narrenhause KreD 295 (UA Kärntnertortheater, 12. April 1787).13 Bereits in der ersten schriftlichen Quelle zum klassischen Kontrafagott, nämlich in der eingangs zitierten Nachricht aus der Wiener Zeitung vom September 1785, wird von der guten Wirkung gesprochen, „die dieses Instrument sowohl bey blasender Musik, wie auch bey stark besetztem Orchester machte.“ Damit wurden dem Kontrafagott die beiden wesentlichen Einsatzbereiche buchstäblich in die Wiege gelegt. Im Herbst 1799 wandte sich der ungarische Graf Georg Festetics von Tolna mit einer Bitte an den berühmten Klarinettisten Anton Stadler, der zusammen mit Theodor Lotz bekanntlich die Bassettklarinette entwickelt hatte und für welchen Mozart sein letztes Solokonzert (KV 622) komponierte. Graf Festetics, ein Logenbruder Stadlers, wollte einen Leitfaden als Grundlage für die von ihm gestiftete und neu zu gründende Schule für angehende Berufsmusiker in Keszthely am Balaton (Plattensee) erstellen lassen. Stadlers umfangreiches Schreiben betitelt mit „Musick Plan  / Wien 1800“ empfiehlt unter anderem die Einrichtung einer „blasende[n] Harmonie oder Tafel / Musik“. Besonders weist Stadler darauf hin, wohl ganz im Sinne seines 1792 verstorbenen Freimaurer-Freundes Theodor Lotz, dass „der jetzt übliche Oktavfagott der nichts als die Grund Nothen, oder den Hauptbass mitzuspielen hat gute Wirkung tut.“14 Das vorrangige Wirkungsfeld des Kontrafagotts beschreibt sehr eindrücklich auch Joseph Fröhlich 1829: Wichtig für ein großes Orchester – noch mehr für bloße Blasinstrumenten = Harmoniemusik – ist der Kontrafagott. Er stimmt eine 8ve tiefer, als der gewöhnliche Fagott, ist also in Hinsicht der tiefen Töne, welche sich auf ihm gewinnen lassen, unschätzbar. Auch verleiht er, mit gehöriger Würde behandelt, dem Ganzen viele Feierlichkeit u. Kraft; und viele schnelle Stellen, welche der Kontrabaß nur mit Mühe gibt, liegen hier ganz bequem u. treten deutlich heraus. Man sollte daher bey jedem Orchester einen Kontrafagott haben, besonders bey Begleitung eines Singchors, wo er einen tr[eff lichen]. Effekt macht. […] Was seine übrige Behandlung betrifft, so kömmt diese mit der des Fagotts überein […]. Nur sehe man darauf, daß der Ton eine reine, majestätische Fülle bekömmt u. nicht durch Schnarren und Brummen entstellt ist.15 13 Vgl. Lothar Riedinger, „Karl von Dittersdorf als Opernkomponist“, in: Studien zur Musikwissenschaft 2 (1914), 212–349, hier 303. Stellvertretend für andere Werke sei hier auf die Partitur des Democrito corretto verwiesen, in welchem die Stimme des „Fagotto Grande“ unter jener der Fagotte notiert ist (https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b105072040/f6.image [3.3.2019]). 14 Anton Stadler, „Musick Plan“, 10. Juli 1800, National Széchényi Bibliothek, Budapest, MS Fol. Germ 1434, zit. nach Kiefer, „Tiefstimmige Doppelrohrblattinstrumente“, 50; vgl. Strebel, Anton Stadler, Bd. 2, Wien 2016, 357–358. 15 Joseph Fröhlich, Systematischer Unterricht in den vorzüglichsten Orchester=Instrumenten, 2.  Teil, Würzburg 1829, 519–520.

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Was die „Begleitung eines Singchors“ bzw. den Einsatz des Kontrafagotts „bey stark besetztem Orchester“ betrifft, gewähren uns zum Beispiel die noch vollständig erhaltenen originalen Aufführungsmaterialien der beiden großen Oratorien von Joseph Haydn, welche das Orchester der Wiener Tonkünstlersozietät verwendete und die heute in der Wiener Stadtbibliothek auf bewahrt werden, wertvolle Einblicke. Das Orchester dürfte aus etwa 120 Musikern bestanden haben. Die Holzbläser und die Hörner wurden verdreifacht (unterteilt in „1. Harmonie“, „2. Harmonie“ und „3.  Harmonie“), Trompeten, Posaunen und Pauken verdoppelt. Interessant sind eben die Kontrafagott-Stimmen der Jahreszeiten, die der ersten Harmonie, also den Solobläsern zugeteilt sind. Während das Hoboken-Verzeichnis einen einzigen Kontrafagott-Part nennt, der nur insgesamt drei Nummern des Oratoriums umfasst, werden beiden Kontrafagotten, dem zweiten weniger als dem ersten, im Material der Tonkünstlersozietät wesentlich mehr Chorstellen und bisweilen sogar größer besetzte Arien zugeteilt. Immerhin wurde das Stimmenmaterial von Haydn selbst verwendet – am 22. und 23. Dezember 1801 fanden die ersten TonkünstlersozietätAufführungen des Oratoriums statt16 – und kann somit als autorisiert gelten. Die Kontrafagotte spielen – und das ist eben überraschend – jeweils voneinander unabhängige Parts. Meistens verdoppelt das erste Kontrafagott das zweite Fagott in der Unteroktave und das zweite läuft parallel mit dem Kontrabass. Im letzten Satz des oben wiedergegebenen Zitats von Joseph Fröhlich klingt deutlich eine Kritik am Klang bzw. eine Warnung an Musiker an, mit dem Instrument entsprechend sorgsam umzugehen. In ähnlicher Weise drückt sich auch der Komponist und Musikschriftsteller Eduard von Lannoy aus, der 1835 über das Kontrafagott feststellt: „indeß wird er selten so geblasen, daß er von Wirkung seyn kann, und der Ton hat zwar Tiefe, aber meistens keine Stärke.“17 Oder an anderer Stelle: „Der Ton dieses Instrumentes ist gewöhnlich, meistens wohl durch die Schuld des Spielers, marklos, daher es höchstens als Baß zu einer Harmoniemusik zu verwenden ist.“18 Auf die des Öfteren bemängelte Schwäche des Kontrafagott-Tones reagierte spätestens um 1805 der Theodor Lotz-Schüler Franz Scholl (ca. 1752/58–1828), der am 17.  Juni 1805 dem Fürsten Nikolaus  II. von Esterházy seine Blasinstrumente empfiehlt. Darunter befindet sich auch ein Kontrafagott: Contra Facot nach gewöhnlicher Arth, nur da alle Virtuosen sich bei grossen Musiken über die schwäche dieses Thons von den [sic] Instrument beklagen, so habe [ich] eine ganz neue Erfindung eines solchen Contra Facots gemacht, welches ohne zu klagen einen erschütterten Thon von sich giebt.19 16 Eduard Hanslick, Geschichte des Concertwesens in Wien, Wien 1869, 35. 17 [Eduard von Lannoy], „Fagott“, in: Ignaz Jeitteles, Aesthetisches Lexikon, Bd. 1, Wien 1835, 263–264, hier 264. 18 Ebd., 164. 19 Acta Forchtensteiniana, CD 1805 N 3486-22-24, zit. nach Strebel, Anton Stadler, Bd. 2, 462.

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Was es mit Scholls Erfindung auf sich hat, entzieht sich leider unserer Kenntnis, weil kein einziges Kontrafagott aus seiner Werkstatt erhalten blieb.

Der Tonumfang – ein Mysterium? Kontra-D Die Tatsache, dass der Umfang des frühen klassischen Kontrafagotts bis zum Kontra-D reicht, korrespondiert ausgezeichnet mit den Erfordernissen eines 16-füßigen Bassinstrumentes für größer besetzte Harmoniemusik-Ensembles, ist doch der tiefste mögliche Ton das Subsemitonium modi der gebräuchlichsten Bläsertonart Es-Dur, auch Feldton genannt. 20 In schriftlichen Quellen des späten 18. und frühen 19.  Jahrhunderts findet man allerdings sehr selten exakte Angaben zum Ambitus des Kontrafagotts. Meist begnügte man sich mit dem Hinweis auf die Unteroktave des ‚gewöhnlichen‘ Fagotts. Bereits im Zuge der allerersten Erwähnung des neuen Instruments in der oben zitierten Nachricht des Theodor Lotz wird davon gesprochen, dass es „um eine ganze Oktav tiefer ist, als die sonst gewöhnlichen Fagot.“ Zehn Jahre später schreibt Johann Georg Albrechtsberger: Es giebt auch einen Contrafagott, welcher um eine Octave tiefer [als das Fagott] klingt, folglich den 16füßigen Ton durchaus anspricht. Er wird aber nur bey Feld= oder Regiments=Musiken zur Verstärkung des gewöhnlichen Fagots gebraucht, und mit diesen all’ Unisono geschrieben. 21

Und wiederum wenige Jahre danach äußerst sich Heinrich Christoph Koch in seinem bekannten und weit verbreiteten Musiklexikon: Man braucht außer dem gewöhnlichen Fagotte, bey solcher Musik, die aus lauter Blasinstrumenten bestehet, noch zwey andere tiefere Gattungen desselben, die statt des Contraviolons dienen, nemlich entweder einen Quartfagott, der um eine Quarte, oder einen Contrafagott, der um eine ganze Oktave tiefer stehet, als der gewöhnliche Fagott. 22

Unter dem Stichwort „Contrafagott, Doppelfagott“ vermerkt Eduard von Lannoy im Ästhetischen Lexikon von Ignaz Jeitteles: „Ein großer Fagott, der um eine Octave tiefer steht, als jener, dessen man sich gewöhnlich im Orchester bedient.“23 Adolph Bernhard Marx endlich vermerkt 1839: „[D]as Kontrafagott (Contra­ fagotto), das einen Umfang vom grossen bis zum eingestrichenen D hat, dessen 20 21 22 23

Heinrich Christoph Koch, Musikalisches Lexikon, Frankfurt a. M. 1802, Sp. 543–544. Johann Georg Albrechtsberger, Gründliche Anweisung zur Composition, Leipzig 1790, 428. Koch, Musikalisches Lexikon, 549. [Eduard von Lannoy], „Contrafagott, Doppelfagott“, in: Jeitteles, Aesthetisches Lexikon, Bd. 1, 164.

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Töne aber eine Oktave tiefer erklingen, als sie geschrieben werden, also sechszehn­ füssig.“24 August Müller, merklich von Marx beeinflusst, meint noch 1872, also zu einer Zeit, in der Kontrafagotte im Normalfall bis zum Kontra-C spielen konnten: „Das Contrafagott […] hat einen Umfang vom Contra=D bis d, wird aber eine Octave höher notirt.“25 Ausweichend drückt sich Johann Christian Lobe 1855 im zweiten Band seines bekannten Lehrbuchs der musikalischen Komposition aus, der zwar den Tonumfang des Kontrafagotts wie viele Autoren allgemein eine Oktave unter dem des Fagotts ansetzt, aber dennoch feststellt: „Die tiefsten und höchsten Töne sprechen schwer an, wesshalb man nur etwa in folgendem Umfang

dafür setzt. Es ist ein schwerfälliges Instrument, dem keine schnellen Figuren zugemutet werden dürfen. Sein Klang ist fagottartig, aber massiver und gröber.“ 26 Am 2.  April 1803 erschien in der Wiener Zeitung eine „Anzeige von verbesserten und neu erfundenen Blasinstrumenten“ des „priv[ilegierten] Blas=Instrumentenmacher[s]“ Franz Scholl, in der es unter anderem heißt: „Auch die Oktav=Fagott macht er auf eine eigene ganz neue Art, und diese geben das mittlere G mit der angenehmsten Leichtigkeit.“ 27 Welcher Instrumententyp hier gemeint ist, kann aufgrund fehlender Hinweise allerdings nicht beantwortet werden. Sollte es sich vielleicht um ein sonst im Wiener Umkreis nicht nachweisbares Tief-Quartfagott handeln? Jedenfalls erwähnt Joseph Fahrbach 1840 in seiner Fagott-Schule das „Quart=Fagott“, das aber „selten mehr gebraucht“ wird. 28 Kontra-Des Thomas Kiefer macht auf ein ab ca. 1825 (Beleg aus einem „Einschreibbuch“ von Franz Schöllnast) gelegentlich am Wiener Kontrafagott angebrachtes, vom linken Daumen, zusammen mit der D-Klappe zu bedienendes Tonloch für das tiefe

24 Adolph Bernhard Marx, Allgemeine Musiklehre, Leipzig 1839, 144. 25 August Müller, Wegweiser für den Unterricht im Clavierspiele in engster Verbindung mit der Allgemeinen Musiklehre […], Ems 1872, 391. 26 Johann Christian Lobe, Lehrbuch der musikalischen Komposition, Bd. 2: Die Lehre von der Instrumentation, Leipzig 1855, 376–377. 27 Franz Scholl, „Anzeige von verbesserten und neu erfundenen Blasinstrumenten“, in: Wiener Zeitung 27, 2. April 1803, 1174. 28 Joseph Fahrbach, Neueste Wiener-Fagott-Schule op. 17, Wien o. J. [1840], 15.

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Des aufmerksam. 29 Bei Wiener Kontrafagotten aus der Zeit um 1840/50 etwa von Augustin Rorarius (1788–1848), Martin Schemmel (um 1810–1864) oder Johann Stehle (um 1808/09–1871) scheint das Kontra-Des bereits zum Standard zu gehören. Kontra-C Bei Gunther Joppig finden wir ein Schwarz-Weiß-Foto eines um 1820 gebauten Kontrafagotts aus der Wiener Werkstatt von Johann Tobias Uhlmann (1778–1838) mit folgender Beschreibung: „Bei diesem Instrument liegt die Handstellung ziemlich weit auseinander, und die Tonlöcher, die direkt gegriffen werden, sind so groß, daß man zum Spielen dieses Instruments keine kurzen Finger haben darf. Der tiefste Ton bei diesem Instrument ist das Kontra-C.“ Ebenso spricht Günther Angerhöfer in Zusammenhang mit Simon Joseph Truška von Kontrafagotten, die „bei der Gesamt-Röhrenlänge von etwa 4 m das C1“ erreichen. 31 Joppig und Angerhöfer haben sich ganz eindeutig geirrt, und dieser Umstand ist insofern bedauerlich, weil die Arbeiten beider Autoren – handelt es sich doch um wichtige Standardliteratur zum Fagott – häufig zitiert werden. Die erwähnten Instrumente zeigen ganz klar die typische Wiener Bauart mit den Klappen für D und Es an der linken Daumenseite der Bassröhre. Eine (freilich hypothetische) Tief-C-Klappe, ebenso vom Daumen zu bedienen, müsste ja in die Gegenrichtung, das heißt zum Schallstück hin verlaufen (wie etwa bei dem anonymen Kontrafagott in Abbildung 2). Tatsächlich scheinen frühe Kontrafagott-Stimmen aber auf den ersten Blick diesen Befund zu bestätigen. In Mozarts Maurerischer Trauermusik, Haydns Sieben letzten Worten (Intermezzo) und Die Jahreszeiten (im Chor „Ach! Das Ungewitter naht“) sowie in Ludwig van Beethovens Fünfter Sinfonie findet man gelegentlich das Kontra-C. Während bei Beethovens Fünfter Sinfonie die Stellen mit KontraC genauso wie bei den parallel laufenden Kontrabass-Stimmen in die Oberoktav zu versetzen sind, 32 können alle Stellen mit dem tiefen C bei den erwähnten Werken Mozarts und Haydns durchaus mit einem austauschbaren, längeren Schallstück realisiert werden. Mit dem Griff für Kontra-D kann man somit wegen der Überlänge der Stürze den gewünschten Ton erreichen. 30

29 Kiefer, „Tiefstimmige Doppelrohrblattinstrumente“, 52. Hier findet sich auch eine sehr schöne Abbildung eines achtklappigen Kontrafagotts von Augustin Rorarius aus dem Besitz der Pfarre Santa Cristina im Grödental. 30 Gunther Joppig, Oboe & Fagott. Ihre Geschichte, ihre Nebeninstrumente und ihre Musik, Bern 1981 (= Unsere Musikinstrumente 9), 86, 110. 31 Angerhöfer, „Fagott“, Sp. 297. 32 Vgl. zu dieser Problematik Stephen George Buckley, Beethoven’s Double Bass Parts: The Viennese Violone and the Problem of Lower Compass, Dissertation, Houston 2013.

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Abbildung 2: Oben: Anonymes Kontrafagott, vermutlich Wien, um 1860, mit Klappe für KontraC, Sammlung Peter Wolf, Kronach. Unten: Kontrafagott von Johann Tobias Uhlmann, Wien, um 1820/25, Sammlung Klaus Hubmann, Graz.

Subkontra-B 1823 nennt Stephan Edler von Kees drei Arten des in Wien gebauten Fagotts, nämlich „a) […] den gewöhnlichen Fagott […] b) den Tenorfagott […] c) den Contra= oder Octavfagott, der bis ins tiefe B geht, und wohl eine Länge von 6 Schuh haben mag.“ 33 Tatsächlich wird das Subkontra-B an prominenter Stelle in der Arie des Raphael „Nun scheint im vollen Glanze“ in Haydns Schöpfung vorgeschrieben. Mit einem Aufsatzstück, das in die Schallröhre gesteckt wird, kann man diesen Ton mit dem tiefen D-Griff erreichen, allerdings nur diesen. Um in gewohnter Manier weiter spielen zu können, muss man die zusätzliche Röhre wieder entfernen. Aus diesem Grund ist das nach nur drei Takten Pause ebenso fortissimo zu spielende C in die obere Oktave versetzt. Das Subkontra-B der Kontrafagott-Stimme moderner Ausgaben von Beet­ hovens Neunter Sinfonie sowohl in Takt 6 am Beginn des letzten Satzes als auch ab Takt 331 (Allegro assai vivace alla Marcia) muss an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Im Stimmen-Erstdruck von Schott in Mainz von 1826 mit der Plattennummer 2321 (Beispiel) oder in der lange Zeit verwendeten Ausgabe von Breitkopf  &  Härtel von 1865 sind die betreffenden Stellen in die obere Oktav versetzt und somit ohne Einschränkung auf einem Kontrafagott der Beethoven-Zeit spielbar. Die Themenbereiche Ambitus und Spielbarkeit sollten sowohl in instrumentenkundlicher als auch aufführungspraktischer und musikeditorischer Hinsicht, besonders wenn es die Realisierung von „col Basso“-Anweisungen betrifft, keinesfalls unterschätzt werden.

33 Stephan Edler von Kees, Darstellung des Fabriks= und Gewerbswesens im österreichischen Kaiserstaate, Bd. 2, Wien 1823, 163–164.

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Ludwig van Beethoven, Kontrafagott-Stimme der Neunten Sinfonie, vierter Satz, Auszug aus dem Stimmen-Erstdruck (Mainz 1826).

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Franz Karl Praßl

Der Salzburger Liber Ordinarius (1198) als musikhistorische Quelle Franz Karl Prassl

Libri ordinarii mit Notation Für eine immer komplexer werdende Liturgie in all ihren regionalen bzw. örtlichen Ausformungen bedarf es einer schriftlichen Kodifizierung der jeweiligen Ordnungen: ihrer Inhalte, Abläufe, Inszenierungen und sonstigen Besonderheiten samt deren Begründungen. Waren dies unmittelbar vor, während und nach der karolingischen Epoche die so genannten Ordines Romani,1 entwickelt sich seit dem 11. Jahrhundert ein neuer Buchtyp für diese Notwendigkeiten: der Liber Ordinarius 2 (= LO). Solche Feierbeschreibungen (auch Directorium Liturgicum oder – missverständlich – Breviarium genannt) werden ab dem 12. Jahrhundert die rechtlich verbindlichen Normbücher schlechthin für alle Gottesdienste in einer Diözese, einer Abtei oder einem Kanonikerstift. Die Kompetenz, Liturgie zu ordnen, kommt bis in die Neuzeit dem jeweiligen Bischof oder höheren Prälaten (Abt, Propst) zu, der gewissermaßen an der Spitze einer lokalen kirchlichen Einheit steht, zum Beispiel der Ecclesia Voraviensis.3 Die ersten Exemplare eines LO auf dem Gebiet der Salzburger Kirchenprovinz sind aus dem 12. Jahrhundert bekannt, das letzte wurde um 1595 in Seckau geschrieben, knapp vor Einführung der römischen Liturgie im Jahre 1600.4 Die Mehrzahl der LOs ist ohne Notation. Musikalische Angaben auf Liniennotation wären wohl zu aufwändig gewesen, obschon ab und zu Marginalien auch notiert sind. Im 12. Jahrhundert jedoch hat man sich im Bereich des Salzburger Metropolitanverbandes die Mühe gegeben, mit adiastematischen deutschen Neu1 2

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Michel Andrieu, Les Ordines Romani du haut Moyen-Age, 5 Bde., Löwen 1931–61. Übersichten über die zahlreichen Editionen bringen: Aimé G. Martimort, Les „Ordines“, les ordinaires et les cérémoniaux, Turnhout 1991 (= Typologie des sources du moyen âge occidental 56); Jürgen Bärsch, „Liber ordinarius. Zur Bedeutung eines liturgischen Buchtyps für die Erforschung des Mittelalters“, in: Archa Verbi 2 (2005), 10–58; Tilmann Lohse, „Stand und Perspektiven der Liberordinarius-Forschung“, in: Liturgie in mittelalterlichen Frauenstiften. Forschungen zum Liber Ordinarius, hg. von Klaus Gereon Beuckers, Essen 2012 (= Essener Forschungen zum Frauenstift 10), 215–255. Das wichtigste neuere Projekt zur digitalen Edition von LO ist an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften angesiedelt: Cantus Network. Libri ordinarii of the Salzburg metropolitan province, http://gams.unigraz.at/context:cantus/sdef:Context/get?locale=de (2.2.2019). So im Titel eines LO aus Vorau aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, A-VOR 333. Vgl. Réka Miklós, Der Liber Ordinarius A-Gu 1566 – Edition und Kommentar, 2 Bde., Dissertation, Graz 2016. Edition auch online im Cantus Network Projekt (Anm. 2).

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men in mehr oder minder großem Umfang auch Angaben zu den Melodien der liturgischen Gesänge zu machen. Möglicherweise haben die Chorherren in diesem Fall auf Beispiele aus dem Bereich der Benediktiner des Hirsauer Reformverbandes zurückgegriffen, der LO von Rheinau etwa ist teilweise neumiert. 5 Die folgende Übersicht zeigt einige Beispiele für gänzlich oder teilweise notierte LOs aus dem Salzburger bzw. Passauer Bereich: A-A 296 A-Gu 208

LO aus Konstanz6 (?), XII1, in Admont, vereinzelt neumiert. LO aus Passau (Chorherren in der Diözese) für Seckau,7 XII dort in Hinblick auf den lokalen Usus ergänzt bzw. umgearbeitet. Notiert, teils mit Tonarangaben. A-Wn 1482 LO des Mengotus, Chorherren St. Nikola, Passau, XII2, notiert.8 A-SF XI 118 LO für Chorherren St. Pölten, um 1200, notiert mit Tonarangaben A-Su M II 6 LO des Rudigerus für das Salzburger Domstift9 um 1198, vollständig notiert, Tonarangaben. A-VOR 99 LO für Suben-Vorau, nach 1200, redigierte Abschrift des Salzburger LO, vollständig notiert, Tonarangaben. D-Mbs clm LO für Ranshofen, nach 1200, redigierte Abschrift des Salzburger 12635 LO, vollständig notiert, Tonarangaben. A-SPL 83/3 LO des Rudigerus für Passau, Dom/Diözese, ca 1230, teilweise notiert. A-VOR 333 LO für Vorau, XIII2, teilweise notiert. A-Gu 756 LO für Seckau 1345,10 teilweise notiert, eines der letzten Beispiele für adiastematische deutsche Neumen. Tabelle 1: Libri ordinarii aus dem Salzburger bzw. Passauer Bereich. 6 7 8 9 10

Das früheste Beispiel ist ein LO, der heute in Admont liegt, vielleicht aus Konstanz stammt und vielleicht als Modell für die Anlage ähnlicher Bücher gedient hat. Der 5

CH-Zz Rh 80. Anton Hänggi hat in seiner Edition des Rheinauer LO die musikalischen Fragen nicht behandelt, vgl. Anton Hänggi, Der Rheinauer Liber Ordinarius (Zürich Rh 80, Anfang 12. Jahrhundert), Freiburg 1957 (= SpicFri 1). Die Fragen zur Notation von LO sind insgesamt kaum studiert und stellen ein Desiderat sowohl musik- wie auch liturgiewissenschaftlicher Forschung dar. 6 Freundliche Mitteilung von Robert Klugseder. 7 Ediert durch Thomas Csanády im Cantus Network Projekt (Anm. 2). 8 Zu den Passauer LOs (Dom wie Chorherren) liegen neuere Studien von Robert Klugseder vor: „St. Stephan und St. Nikola – Die Ursprünge des ältesten Liber ordinarius der Diözese Passau“, in: Passauer Jahrbuch 54 (2012), 35–57; „Der mittelalterliche Liber ordinarius der Diözese Passau. Entstehungs- und Wirkungsgeschichte“, in: Studien zur Musikwissenschaft. Beihefte der Denkmäler der Tonkunst in Österreich 57 (2013), 11–43; „Mittelalterliche musik-liturgische Quellen aus dem Augustinerchorherrenstift St. Florian“, in: Musicologica Austriaca 31/32 (2012/13), 13–82. 9 Eine Einführung in den LO und seine Abschriften gibt Franz Karl Praßl, „Der älteste Salzburger Liber Ordinarius (Codex M II 6 der Universitätsbibliothek Salzburg). Zu seinen Inhalten und seiner Wirkungsgeschichte“, in: Musica sacra mediaevalis. Geistliche Musik Salzburgs im Mittelalter. Salzburg, 6.–9. Juni 1996, hg. von Stefan Engels und Gerhard Walterskirchen, St. Ottilien 1998, 31–47. 10 Edition: Inga Behrendt, Der Seckauer Liber ordinarius von 1345 (A-Gu 756): Edition und Kommentar, Dissertation, Graz 2009.

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älteste Seckauer LO kommt ursprünglich aus Passau, ist um einiges älter als das Salzburger Normexemplar, wurde aber für salzburgisch-seckauische Gewohnheiten hin adaptiert. Passau selber scheint ein wenig vor Salzburg ein erster Hotspot in der Entwicklung des Buchtyps LO gewesen zu sein, der viel Ausstrahlungskraft besaß, wenngleich in der planvollen Ausgestaltung eines liturgischen Ordnungsbuches mit dem Salzburger LO ein umfassend konzipiertes und auf Vollständigkeit bedachtes Modell vorgelegt wurde. Unbeschadet der frühen Abschriften des Salzburger Exemplares mit den Adaptierungen für die konkrete Liturgie in Ranshofen und Suben bzw. Vorau nimmt die Praxis des Notierens im Laufe des 13. Jahrhunderts rapide ab. Beispiele dafür sind der Vorauer LO innerhalb einer Handschriftengruppe, die unter Propst Bernhard (1267–82) entstanden ist, sowie der älteste bekannte LO für die Passauer Diözese, heute St. Paul im Lavanttal. Bis in die Mitte des 14. Jahrhunderts hat sich in Seckau die Praxis der adiastematischen Notationsweise gehalten. Der in der Literatur vor allem wegen seines beigebundenen Can­ tionars oftmals, aber nie gründlich behandelte LO von 134511 verwendet Notation vor allem dort, wo man nur mit Melodien liturgische Gesänge unterscheiden kann, zum Beispiel beim Kyrie oder bei seltenen, weniger bekannten oder lokalen Gesängen. Damit ist wesentlich mehr Eindeutigkeit gegeben als etwa im Seckauer LO von 1566, wo es dann summarisch heißt: Kyrie de confessoribus, was ja von Ort zu Ort verschieden war, in Seckau jedoch mit Hilfe des Graduale magnum, Codex A-Gu 17, vielfach, aber nicht gänzlich rekonstruiert werden kann.12

Notation im Salzburger Liber ordinarius Der Salzburger LO gehört zur kleinen Gruppe jener Liturgieordnungen, in denen die Incipits der Gesänge umfassend und möglichst vollständig notiert sind. Im Bestreben, ein umfassendes Bild der Salzburger Liturgie am Ausgang des 12. Jahrhunderts zu zeichnen, darf die musikalische Komponente keineswegs fehlen. Der Gottesdienst der Kirche ist mehr als seine textliche Gestalt. Wie schon mehrfach festgestellt worden ist, ist Musik selbst – und nicht nur ein musikalisch erklingender Text – ein wichtiges strukturbildendes Element der Liturgie.13 Das Ordinarium Missae beispielsweise ist ausschließlich durch die Verschiedenheit der diversen 11 Die wichtigste Literatur ist bei Behrendt, Der Seckauer Liber ordinarius von 1345 zusammengefasst. 12 Vgl. Franz Karl Praßl, „Das Seckauer ‚Graduale Magnum‘ UBG MS. 17“, in: Libri Seccovienses. Studien zur Bibliothek des Augustiner Chorherrenstiftes Seckau, hg. von Thomas Csanády und Erich Renhart, Graz 2018, 109–136. 13 Vgl. Franz Karl Praßl, „Liturgie verstehen durch Musik. Ansatz, Ziele und Aufgaben der Liturgiewissenschaft“, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 50 (2008), 356–370; „Pavlov’s Dog and Liturgy. Listening and Recognition in Gregorian Chant“, in: Gregorijanski koral od rokopisa do glasbe. Glasbenozgodovinske študije. Gregorian chant from manuscript to music. Chapters on music history. Festschrift Juri Snoj zum 60. Geburtstag, hg. von Katarina Šter, Ljubljana 2013 (= De musica disserenda 9/1–2), 253–269.

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Melodien ausdifferenziert, welche in einem konkreten lokalen Kontext den Rang einer Feier mitdefinieren bzw. akustisch erkennbar werden lassen. Das Gleiche gilt – wenngleich in einem reduzierteren Ausmaß – auch für die Hymnenmelodien. Bei gleich bleibenden Texten gibt die Melodie allein darüber Auskunft, welche Position eine liturgische Feier im Verlauf der Feiern des Temporale und Sanktorale einnimmt, bzw. in welcher Zeit des liturgischen Jahres das Offizium vollzogen wird. Das gilt besonders für die Hymnenmelodien der kleinen Horen und der Komplet; aber auch Vesperhymnen sind bei fixierter Melodiezuteilung, obschon das Versmaß auch anderes zuließe, oftmals durch die Melodie als solche mit einem konkreten liturgischen Ereignis verbunden. Notation ist weiterhin unerlässlich zur Darstellung der Psalmodie, zumindest in der Varianz der Schlusskadenzen, welche auch auf unterschiedliche Singtraditionen in verschiedenen geistlichen Häusern hinweisen. Generell identifiziert erst Notation eindeutig einen Gesang. Es ist kein Einzelfall, dass gleiche Texte in unterschiedlichen Melodien erscheinen und dies einerseits mit Regionalität,14 andererseits aber auch mit liturgischer Funktion zusammenhängt. So hat Kees Pouderoijen eine Liste von Irrtümern im CAO zusammengestellt, die sich daraus ergeben, dass bei der Indizierung der Texte die musikalische Varianz nicht mit berücksichtigt worden ist.15

Zum Umfang der Notation Die Notation im LO ist sehr umfänglich vorhanden. Im Bereich der Tagzeiten­ liturgie bzw. beim Totenoffizium sind generell Antiphonenincipits und die Incipits der Responsorien bzw. die von deren Versen notiert. Dort, wo es der Unterscheidung dient, finden wir auch melodische Hinweise zum Gesang der Versikel oder zur Melodie des „Benedicamus Domino“. Den Antiphonen ist in margine die Angabe des Psalmtons und seiner Differenz beigefügt, sodass mit dieser Dokumentation ein vollständiger Tonar der Salzburger liturgischen Tradition in Dom und Diözese rekonstruiert werden kann. Bei einem Gutteil der Hymnenmelodien sind ebenfalls Neumen zu finden. Es ist jedoch kein System erkennbar, dem gemäß ein Hymnenincipit notiert ist oder nicht. Im Zusammenhang mit der Tagzeitenliturgie sind auch die Prozessionsantiphonen bzw. -responsorien zu finden. Im Bereich der Messliturgie werden zunächst die Gesänge des Proprium Missae notiert, ausführliche Angaben gibt es zu Kyrie und Gloria, mitunter sind auch Credo-Intonationen neumiert. Den Introitusgesängen ist wiederum in margine der Psalmton samt seiner Differenz beigegeben, sodass an dieser Stelle auch die 14 Vgl. Alessandro De Lillo, „Die Vervollständigung des authentischen Repertoires im Gregorianischen Choral: Zum Stand der Forschung“, in: Beiträge zur Gregorianik 63 (2017), 89–101. 15 Kees Pouderoijen, „Einige Specimina von Fehlern in CAO III & IV“ in: Cantus planus. Papers read at the 6th Meeting, Eger, Hungary, Bd. 1, hg. von László Dobszay et al., Budapest 1995, 29–43.

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unterschiedliche modale Zuordnung von Gesängen sichtbar wird.16 Die Anlage der Notation geschah sehr planvoll, der Textschreiber hat zum Beispiel dem Notator (wenn es nicht ein- und dieselbe Person war) meist genügend Raum auch für komplexere Gruppenneumen gelassen. Sequenzenmelodien sind nur in einem geringen Umfang angegeben. Diese Art des Notierens wurde auch in den Abschriften des LO für Ranshofen und Suben/Vorau übernommen. Die Länge der Incipits ist durch das Zeilenlayout vorgegeben. Jede Seite ist doppelspaltig angelegt, sodass für Text und Rubrik normalerweise eine Zeile in einer Spalte vorgesehen ist. Jene Antiphonen, denen keine Angabe des zu singenden Psalms beigegeben werden muss, weil dies klar ist oder sich aus dem Kontext ergibt, erstrecken sich über eine Zeile, ist der Psalm anzugeben, wird das Incipit der Antiphon so verkürzt, dass auch das Psalmenincipit daneben noch in der gleichen Zeile Platz hat. Diese Fragen des textlichen Arrangements geben auch den Umfang der Notation vor. Darüber hinaus ist bei den Angaben auf den äußeren Seitenrändern der Psalmton (mit römischen Buchstaben-Ziffern) und die terminatio mit Neumen darüber angegeben. Die Formeln der terminatio erscheinen oftmals stark gekürzt, nur anhand der letzten beiden Silben bzw. Neumenzeichen ist zu erkennen, welche Schlussformel zu wählen ist. Dies genügt meist, um Eindeutigkeit herzustellen. Bei den Versikeln ist manchmal der Vorsängerteil komplett ausnotiert, meist wird jedoch nur die auf die letzte Silbe zu singende Schlussformel angezeigt. Das Incipit des Invitatoriumspsalms 94 ist mehr oder weniger lang ausgeschrieben, oftmals genügt das erste Wort „Venite“. Insgesamt erscheinen zehn verschiedene Schreibweisen für das Anzeigen der zu wählenden Melodie des Psalms. Relativ genau ausnotiert sind bei den Trauermetten die hebräischen Buchstaben in den Lamentationen (61r–65r), für die zwei verschiedene Melodieformeln vorgesehen sind. Manchmal werden auch zwei Zeilen für ein Incipit erwendet, wie etwa bei den Introiten „Laetare Jerusalem“, „Dum sanctificatus fuero“ und „Judica me Deus“ folium 143r. Dementsprechend werden auch die Neumierungen länger. Bei den Gradualien und ihren Versen hat Rudigerus meist genügend Platz für die Neumierung gelassen, oftmals bricht diese aber auch mitten im Melisma ab, wenn die Zeilenlänge aufgebraucht ist. Offertoriumsverse werden nicht mehr überliefert, in diesem Belang ist die Salzburger Liturgie ‚modern‘ geworden. Dennoch gibt es einige Gesänge, die vollständig im LO erscheinen, was in einem Verzeichnis der Liturgie durch Incipits selten vorkommt. Dazu zählt das 16 Vgl. Franz Karl Praßl, „Das Mindener Graduale der HAB Wolfenbüttel, Codex Guelf. 1008 Helmst. Beobachtungen zur liturgischen und musikalischen Überlieferung“, in: Schriftkultur und religiöse Zentren im norddeutschen Raum, hg. von Patrizia Carmassi, Eva Schlotheuber und Almut Breitenbach, Wiesbaden 2014, 225–268; Luigina Pelizzoni, Studio sul Versiculario del codice San Gallo 381, Rom 1977.

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„Responsorium sancti Ambrosii ex persona sancte Marie Vadis propitiator“, von dem es in der Rubrik heißt: „Canunt etiam aliqui ad salutandum crucem“. Das berühmte Stück ist hier im Mailänder Überlieferungsstrang als alternativer Gesang zur Kreuzverehrung ausgewiesen, der sich allerdings nicht lange gehalten hat, eine spätere Randglosse vermerkt kurz und bündig: „vacat“. Der Gesang ist auch nicht in die Abschriften für Ranshofen und Vorau übernommen worden. Die Notation stimmt mit keiner der von Mezei publizierten Melodien überein,17 es handelt sich hier offenbar um eine Besonderheit, die sich nicht durchsetzen konnte. Am Fest des heiligen Michael sind zwei der drei Alleluia umfangreicher dargestellt, die mit dem Vers „Concussum [est] mare“ und „Adorate Deum omnes angeli“. Während „Concussum“ nur umfangreichere Teile enthält, ist beim „Alleluia. Adorate“ der Vers vollständig notiert, das Alleluia hingegen nur als Incipit. „Concussum [est] mare“ ist ein in tschechischen, slowakischen, polnischen und ungarischen Quellen gut bekanntes18 Alleluia, während das Alleluia „Adorate“ – textidentisch mit dem gleichnamigen Introitus – in keiner der Quellen des Cantusindex aufscheint. Es macht den Anschein, dass dieses Alleluia eine Paraphrase einer damals sehr bekannten Melodie darstellt. Vollständig notiert sind kürzere Antiphonen bzw. zahlreiche Alleluia-Antiphonen der Osterzeit, auch dank der abgekürzten Schreibweise a e u i a, die platzsparend einfachere Melodien zur Gänze darstellen lässt. Auch das Alleluia der Osternacht ist an Ort und Stelle vollständig notiert (151r), nicht aber dessen zwei Verse. Bei der Wiederholung in der Pfingstvigil (154r) fehlen die Neumen. Folgende Ferialantiphonen sind textlich und melodisch vollständig im LO enthalten: „Rectos decet“, „Benedictus Deus Israel“, „Clamavi“, „Te decet hymnus“, „Caeli caelorum“, „Speret Israel“, „Habitare fratres“, „Jubilate Deo“, „Omnis terra“, „Benedic anima“, sowie „Bonum est confiteri“. Bei zahlreichen anderen Antiphonen fehlt oftmals nur ein Wort zur Vollständigkeit. Vollständig vorhanden ist auch das Responsorium breve „Christe, fili Dei vivi“ (26v, 32v, 33v), offenbar, um kirchenjahreszeitlich unterschiedliche Melodien korrekt darzustellen. Dreimal ist eine Melodie des „Benedicamus Domino“ vollständig angegeben (26v, 32r, 66v), auch in diesem Fall definiert ausschließlich die Melodie den liturgischen Rang des damit abgeschlossenen Offiziums. Die Liste der vollständigen aufgezeichneten und notierten Gesänge ergänzen das Responsorium prolixum „Spiritus ubi vult spirat“ der ersten Pfingstvesper und das „Alleluia. Laudate“ nach der Epistel am Samstag nach Pfingsten.

17 Mezei János, „Das Responsorium ‚Vadis propitiator‘ in den ungarischen Handschriften“, in: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungariae 27 (1965), 97–107. 18 Vgl. Cantusindex: http://cantusindex.org/id/g00396 (2.2.2019).

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Scandicus EA

Scandicus

Scandicus subpunctis resupinus

Quilismapes subbipunctis

Scandicus AA

Climacus

Torculus

Climacus resupinus

Torculus 2

Clivis

Scandicus oriscus

Quilisma scandicus liqu.

Torculus liquescens

Clivis 2

Bistropha

Torculus resupinus

Bivirga

Tabelle 2: Neumen im Salzburger Liber ordinarius. (Liqu. = liqueszierend, AA = Anfangsartikulation, EA = komplexe Endartikulation.)

Scandicus flexus Pes subbipunctis liquescens AA

Scandicus EA liquescens

Porrectus flexus Porrectus flexus AA

Trigon

Pes liquescens

Epiphonus

Quilisma scandicus oriscus

Porrectus

Torculus res. Oriscus

Pes + Pressus

Virga strata

Cephalicus

Scandicus flexus Scandicus flexus Scandicus flexus QuilismaQuilismaAA resupinus scandicus flexus scandicus flexus liquescens

Pressus

Clivis liquescens

Pes

Oriscus

Quilismascandicus

5 Strophen

Tristropha

Punctum

Scandicus AA liquescens

Tractulus

Virga

Bivirga liquescens

Franz Karl Praßl

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Die Neumen gehören zur großen Familie der deutschen Neumen des 12. Jahrhunderts. Sie geben viel vom damaligen aufführungspraktischen Zustand der Gregorianik wieder, der sich schon sehr von dem des 10. bzw. teils auch vom 11. Jahrhundert unterscheidet.19 Die Morphologie der Zeichen ist zunächst von jener Variante charakterisiert, bei der auf- und absteigende Äste eines Pes oder eines Torculus in einem spitzen Winkel zusammenlaufen und nicht mit einer Rundung ineinander übergehen. Nicht wenige mehr oder weniger gleichzeitige Gradualien aus dem Bereich der österreichischen Augustinerchorherren kennen analoge Schreibweisen 20 wie etwa das Salzburger Graduale A-Gu 444, die Seckauer Gradualien A-Gu 417, 479, 769, das Vorauer Graduale A-VOR 21, das Klosterneuburger Graduale A-Wn 13314 usw. Dieser Typ von Notation ist wiederholt von Stefan Engels und von mir beschrieben worden, sodass eine detaillierte Darstellung hier unterbleiben kann. 21

Notation von Hymnenmelodien Die Notation der Incipits von Hymnenmeldien ist eine essentielle Information über das lokale musikalische Profil einer liturgischen Tradition. Zahlreiche Hymnentexte sind zum Beispiel in vier Zeilen zu je vier Jamben („Ambrosianische Hymnenstrophe“) gemacht oder folgen der sapphischen Strophe. Bedingt durch ein identisches Versmaß sind die Melodien prinzipiell austauschbar. So weist Bruno Stäblein in seiner Edition von Hymnenmelodien im europäischen Mittelalter allein für den Komplethymnus „Te lucis ante terminum“ insgesamt 49 verschiedene Melodien nach. 22 Natürlich gibt es nicht wenige quasi ‚internationale‘ Hymnenmelodien, deren konkrete Verwendung bzw. Zuweisung zu bestimmtem Texten jedoch ist lokalen Festlegungen unterworfen. Damit verbunden sind auch die diversen lokalen Varianten weit verbreiteter Melodien. Weitaus bedeutender jedoch sind die regionalen bzw. örtlichen Traditionen des Hymnengesangs. Obschon die überwiegende Mehrzahl der Texte durch die liturgische Grundordnung der fränkisch-römischen Liturgie in der karolingischen Epoche und danach festgelegt 19 Ausführlich dargestellt in Luigi Agustoni und Johannes Berchmans Göschl, Einführung in die Interpretation des Gregorianischen Chorals, 2 Bde., Regensburg 1987/92. 20 Vgl. Franz Karl Praßl, „Beobachtungen zur adiastematischen Notation in Missalehandschriften des 12. Jahrhunderts aus dem Augustiner-Chorherrenstift Seckau“, in: Cantus planus. Papers read at the Fourth Meeting, Pécs, Hungary, 3.–8. September 1990, hg. von László Dobszay et al., Budapest 1992, 31–54., bes. 15 (Neumentabelle). 21 Pars pro toto: ebd.; Stefan Engels, Das Antiphonar von St. Peter in Salzburg Codex ÖMB Ser. Nov. 2700 (12. Jahrhundert), Paderborn 1994; Franz Karl Praßl, „Choral in Kärntner Quellen. Beobachtungen zur Überlieferung von Meßgesängen in zwei Missalien des 12. Jahrhunderts“ in: Musicologica Austriaca 10 (1991), 53–102. 22 Bruno Stäblein, Hymnen. Die mittelalterlichen Hymnenmelodien des Abendlandes, Kassel 1956, 209– 247, 678.

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ist – vor allem im Temporale –, ist die musikalische Konkretisierung vor allem ein lokales Phänomen, eher in größeren geographischen Einheiten oder nach Ordenstraditionen organisiert. Für die Identifikation der Melodien anhand der neumierten Incipits wurden die bei Stäblein edierten Klosterneuburger Hymnare23 herangezogen, allen voran die Codices 996, 997, 999, 1000, 1001, 1003 und 1004 der dortigen Stiftsbibliothek, allesamt Codices der Kanonissen in der heute so genannten Klosterneuburger Notation geschrieben. 24 Es hat sich gezeigt, dass es – bei allen Unterschieden in Details – doch eine breite gemeinsame Tradition bei den Chorherren bzw. Chorfrauen im Salzburger und Passauer Bereich gibt, welche sich etwa von den ‚benachbarten‘ Hymnaren der späteren Hirsauer Gebräuche – wie etwa das Hymnar für Kempten (CH-Zz Rh. 83) – deutlich unterscheidet. Von den weit mehr als 250 Hymnenincipits sind 80 mit Neumen versehen, doppelte bzw. mehrfache Einträge mitgerechnet. Die Neumierungen umfassen normalerweise das komplette Incipit, öfters sind auch nur zwei oder drei Neumenzeichen angegeben, wenn dies zur eindeutigen Identifizierung der Melodie ausreicht. Rechnet man die Mehrfacheinträge nicht mit, sind etwa die Hälfte der tatsächlich vorhandenen Hymnen notiert. Es fällt auf, dass nur ganz wenige Ferialhymnen neumiert sind und die Neumierungen im Sanktorale nach Pfingsten drastisch abnehmen. Unter den nicht mit Melodie ausgewiesenen Hymnen befinden sich die gängigen Marienhymnen wie „Ave maris stella“ oder „Quem terra, pontus aethera“. Nicht neumiert sind etliche Hymnen der Fastenzeit wie „Audi benigne conditor“ oder „Jesu quadragenarie“, die Hymnen der Rupert- und Augustinusfeste sind auch nur teilweise mit Hinweisen auf die Melodie versehen. In letzterem Fall hat man wohl für mehrere Texte des Festtages eine gemeinsame Melodie verwendet, die einmal aufgezeichnet ist.

Abbildung 1: Salzburger Liber ordinarius, „Sancte Dei pretiose“ (fol. 34v) und „Ecce iam noctis (tenuatur umbra)“ (fol. 82v). Blatt

Incipit

Melodie Liturgie / Anmerkungen

25v

Conditor alme siderum

23,4

(in Adventu) ad vesperas

26r

Veni redemptor gentium

503,1

(in Adventu) ad completorium

23 Ebd., 693. 24 Vgl. Michael L. Norton / Amelia J. Carr, „Liturgical Manuscripts, Liturgical Practice, and the women of Klosterneuburg“, in: Traditio 66 (2011), 67–171, und Stefan Engels, „Die Notation der liturgischen Handschriften aus Klosterneuburg“, in: Musicologica Austriaca 14/15 (1996), 33–74.

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26v

Conditor alme siderum

23,4

ad secundas vesperas

27r

Plaudat laetitia

521

Nikolai ad 1 vesperas

27v

Plaudat laetitia

521

Nikolai ad 2 vesperas

27v

Conditor alme siderum

23,4

dominica 2 ad vesperas

27v

Verbum supernum prodiens

126,3

ad matutinum

27v

Vox clara ecce intonat

16,5

ad laudes

28r

Jesu corona virginum

525

Lucia ad vesperas KL: de virginibus

28r

Jesu corona virginum

525

ad matutinum, KL: de virginibus

28r

Virginis festum

107,4

ad laudes, KL: virginis proles

28r

Virginis festum

107,4

ad 2 vesperas

28v

Conditor alme siderum

23,4

dominica 3 ad vesperas

30r

Vox clara ecce intonat

16,5

ad laudes

31v

Conditor alme siderum

23,4

in vigilia Nativitatis

31v

Veni redemptor gentium

503,1

vigilia, ad completorium

31v

Verbum supernum prodiens

126,3

vigilia, ad matutinum

32v

Veni redemptor gentium

503,1

Nativitas, ad 1 vesperas

32v

Verbum supernum prodiens

126,3

Nativitas, ad completorium

32v

Agnoscat omne saeculum

405,2

Nativitas, ad matutinum

33r

Christe redemptor omnium

71,6

ad laudes

34v

Sancte Dei pretiose

162,2

Stephani

34v

De Patre verbum

505,1

Johannis ad matutinum

35r

Sollemnis dies advenit

53,3

Johannis ad laudes

35r

De Patre verbum

505,1

ad vesperas

35v

Aeterna Christi munera et martyrum 525

Innocentum ad matutinum KL Melodie von Jesu corona virginum

36r

Deus tuorum militum

52,3

Thomae Cantuariensis Ad matutinum KL de uno martyre

36r

Martyr Dei

524

Thomae, ad laudes KL de uno martyre

36v

Agnoscat omne saeculum

405,2

infra octavam

36v

Christe redemptor omnium

71,6

infra octavam

37r

Iste confessor

160,2

Silvestri, KL de confessoribus

37r

A solis ortus cardine

53,4

dominica infra octavam ad vesperas

37r

Agnoscat omne saeculum

405,2

ad matutinum

38r

Agnoscat omne saeculum

405,2

in Circumcisione

39r

De Patre verbum

505,1

in octava Johannis ad laudes

39r

De Patre verbum

505,1

In octava Johannis ad vesperas

39r

Rex gloriose

158,2

41r

A Patre unigenite

505,1

43r

Lucis creator optime

501,1

in octava Innocentum ad laudes in octava Epiphaniae, ad vesperas, KL Melodie 14,5 im Katalog Schlager in dominicis ad 2 vesperas

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Franz Karl Praßl

45v

Jesu corona virginum

525

Agnetis ad matutinum

45v

Virginis festum

107,4

Agnetis ad laudes

45v

Doctor egregie (=Aurea luce)

152,3

in Conversione Pauli ad vesperas

46r

Quod chorus vatum

151,2

de Purificatione ad vesperas

46r

Fit porta

402,2

de Purificatione ad laudes

46v

A solis ortus cardine

53,4

ad 2 vesperas

47r

Virginis proles

07,4

49r

Macte summe confessorum

162,2

50v

Dies absoluti

508,1

Agathae ad laudes KL virginis proles Ruodberti ad laudes (Melodie = Sancte Dei Umbruch pretiose) in Septuagesima ad vesperas

53v

Ex mori docti mystico

412,2

in Quadragesima ad vesperas

57r

Vexilla regis prodeunt

32,5

dominica in Passione ad matutinum

57r

Vexilla regis prodeunt

32,5

ad vesperas

57v

Vexilla regis prodeunt

32,5

dominica in Palmis ad vesperas

61v

Rex Christe factor omnium

12,2

conclusio officii tenebrarum

61v

Rex Christe factor omnium

12,2

conclusio officii tenebrarum (2x)

70r

Vita sanctorum

423,2

dominica in Albis ad vesperas

70v

Ad caenam agni providi

4,5

melodia dominicalis ad completorium

70v

Ad caenam agni provide

503,1

melodia in privatis noctibus ad completorium

73v

Vita sanctorum

423,2

de martyribus infra pascha, ad matutinum

73v

Vita sanctorum

423,2

ad 2 vesperas

74v

Chorus novae Jerusalem

59,3

Georgii ad laudes

75r

Vita sanctorum

423,2

Philippi et Jacobi ad matutinum

75v

Salve crux sancta

152,3

de Inventione sanctae Crucis ad vesperas

76r

Jesu nostra redemptio

513,1

Ascensionis ad completorium

77r

Jesu nostra redemptio

513,1

fer 6 ad laudes

78v

Veni creator spiritus

17,4

Pentecostes ad completorium

79v

Veni creator spiritus

17,4

Pentecostes ad sextam

82r

O lux beata trinitas

22,4

Trinitatis ad vesperas

82r

Te lucis ante terminum

???

in diebus festis ad completorium

82r

Te lucis ante terminum

503,1

in profestis ad completorium

82r

Nocte surgentes vigilemus omnes

73,3

Trinitatis ad matutinum

82v

Ecce iam noctis tenuatur umbra

73,3

Trinitatis ad laudes, KL Mel 72,3

84r

Aeterna Christi munera et mart.

525

Johannis et Pauli ad laudes

86v

Petre pontifex inclite

505,1

Petri ad vincula

96v

Christe cunctorum

25,1

97v

Macte summe confessorum

162,2

100v Christe redemptor ... conserva

160,2

in Dedicatione ecclesiae Ruodberti, officium proprium KL Melodie für Urbs beata Jerusalem Omnium sanctorum ad laudes

102r

52,3

de sancto Clemente ad matutinum

Deus tuorum militum

143

Festschrift Revers LAYOUT.indd 143

5.4.2019. 08.28.40

Der Salzburger Liber Ordinarius (1198) als musikhistorische Quelle

105r

Martyr Dei

524

de martyribus ad laudes

107r

O lux beata trinitas

22,4

(dominicale ad vesperas)

107r

Ecce iam noctis tenuatur umbra

73,3

(dominicale ad laudes)

Tabelle 3: Liste der neumierten Incipits im Salzburger Liber ordinarius.

Hymnen mit den Melodienummern 501 bis 527 in der Edition von Stäblein sind Melodien, welche den Klosterneuburger Hymnaren entnommen sind und somit als typisch für das Kloster bzw. für die Region gelten könnten. In dieser Reihe kommen im Salzburger LO sieben neumierte Hymnen vor, darunter der Adventhymnus des Ambrosius „Veni redemptor gentium“, dessen ‚Klosterneuburger‘ Melodiefassung auch heute noch mit diesem Text in den deutschsprachigen Gesangbüchern steht, vor allem wegen Luthers Übertragung „Nun komm der Heiden Heiland“. Es gibt im Prinzip eine große Übereinstimmung zwischen der Klosterneuburger und der Salzburger Tradition, was die Auswahl der Melodien für bestimmte Texte betrifft, aber auch signifikante Unterschiede. Andere Melodien werden in Salzburg gegenüber Klosterneuburg verwendet bei „Aeterna Christi munera et martyrum“ und „Ecce iam noctis“. Die Feste des Diözesanpatrons Rupert verwenden für die Eigenhymnen Lehnmelodien, welche bereits allgemein bekannt sind.

Die Psalmtondifferenzen im Antiphonarteil des Liber ordinarius Der Salzburger LO enthält insgesamt 31 terminationes für die acht Psalmtöne, wobei – wenig überraschend – der erste Ton mit sechs und der achte Ton mit sieben dieser „Differenzen“ vertreten sind. Die 31 Schlusskadenzen der Psalmodie erscheinen in 76 Schreibweisen. Der Tonus peregrinus kommt auch beim Psalm „In exitu / Non nobis“ nicht vor, Antiphonen, die heute den Urmodi 25 zugezählt werden, sind im Rahmen des Oktoechos systematisiert. Da die Differenzen in sehr unterschiedlicher Länge und auch in der graphischen Variabilität der deutschen Neumen des 12. Jahrhundert notiert sind (von nur einer Silbe bis fünf, keine einzige Differenz führt die sechs Silben/Töne des Merkwortes „saeculorum. Amen“ an), war es notwendig, mit Vergleichsquellen eine eindeutige Identifizierung durchzuführen. Dazu wurden die Antiphonarien der Klosterneuburger Kanonissen 26 herangezogen (A-KN 1010 bis 1015, 1017, 1018), welche die differentiae in margine auf Linien notieren. Eine wichtige Vergleichsquelle ist auch der Tonar im Vorauer Antiphonale A-VOR 287. Seltener wurden dazu das Zwiefaltener Antiphonale („Hartker auf Linien“) D-KA Aug. 60 und das Münsteraner gedruckte Antiphonale von 1537 (D-MA Impr. 1537) zum Vergleich herangezogen. 25 Vgl. Agustoni / Berchmans Göschl, Einführung in die Interpretation des Gregorianischen Chorals, Bd. 1, 36–38. 26 Vgl. Norton / Carr „Liturgical Manuscripts, Liturgical Practice, and the women of Klosterneuburg“.

144

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5.4.2019. 08.28.40

Franz Karl Praßl 1. Ton – sechs Differenzen

1.a.

Bchv hv ygv tfvGYv vgv}

Ecce nomen Domini,

e u o u a e

Spiritus Domini super me

Ave Maria, Canite tuba, Ecce veniet desideratus, Dominus veniet occurrite

Levabit Dominus

1.b.

Bchv hv ygv tfvbgv ghgv}

Hic est discipulus ille

e u o u a e

Dicite pusillanimes, Venit lumen tuum

Nisi tu Domine servabis, Fundamenta

1.c.

Bchv bhv bhv gv b hvbvgv }

Diffusa est gratia (32vb)

e u o u a e

Diffusa est gratia (37ra), Ad te de luce

Apertis thesauris,

1.d.

Bvvbhv hv ygv tfvbGYv GYv }

Leva Jerusalem, Domine Dominus noster

e u o u a e

Domine Dominus noster (49r),

145

Festschrift Revers LAYOUT.indd 145

5.4.2019. 08.28.41

Der Salzburger Liber Ordinarius (1198) als musikhistorische Quelle

1.e.

Bvvbhv hv ygv tfvbgv GYv } e u o u a e

Veniet Dominus et non tardabit Ite, dicite Ioanni

Salutis nostrae

Reges Tharsis

Spiritu principali

1.f.

Bchv hv ygv tfvGYv t$dc} e u o u a e

Dies Domini sicut fur, Lapidabant Stephanum, Virgo Dei genitrix

2. Ton – zwei Differenzen

2.a.

Xchv bhv bhv hv vDRv fv }

De Sion exibit lex, O sapientia,

e u o u a e

O radix Jesse, Patrem nati

2.b.

Xchv bhv bhv bygvbDRv fv }

A bimatu et infra,

e u o u a e

Intellige clamorem meum 3. Ton – drei Differenzen

3.a.

Vvvhv bhv bhv FYv vfv eac} Vvv hv bhv bhv FYv vfv dc}

Pudore bono

e u o u a e

Cultor agri Domini, Fusum spargunt,

e u o u a e

146

Festschrift Revers LAYOUT.indd 146

5.4.2019. 08.28.41

Franz Karl Praßl

Beatus vir, qui in lege

Quando natus es ineffabiliter

3.b.

Vvvhv bhv bhv fv bhvbvyfv } e u o u a e

Ecce Dominus noster cum virtute, Nigra sum, sed formosa

Dominus legifer noster

3.c.

Vvvhv bhv bhv fv bhvbvhv }

Sic eum volo manere

e u o u a e

4. Ton – fünf Differenzen

4.a.

Bvvhv gvbvhv bkv bgv bdv }

Qui venturus est veniet,

e u o u a e

Scientes quia hora veniet, Nox praecessit, Omnibus se invocantibus, Egredietur Dominus

Auro virginum, Scientes quia hora (27v)

4.b.

Bvb vhv gvbvhv bkv bgv bDTv } Bvb vhv gvbvhv bkv bgv vDRv } e u o u a e

Ecce veniet propheta, Tuam Domine, Ecce rex veniet Dominus

Tuam Domine excita,

e u o u a e

Ecce veniet Dominus, Intuemini, Super te Jerusalem orietur

4.c.

Bvb vhv gvbvhv bjv hv GYv v} e u o u a e

Sion noli timere, Fidelia omnia, In domum Domini laetantes,

147

Festschrift Revers LAYOUT.indd 147

5.4.2019. 08.28.41

Der Salzburger Liber Ordinarius (1198) als musikhistorische Quelle

Ex Aegypto vocavi

4.d.

Bvb vhv gvbvhv bkv bgv esv }

Sancte Nicolae, Betleem non es minima

e u o u a e

Vigila super nos

Bethlehem non es minima

4.e.

Bvvhv gvbvhv bkv bgv bdfsv }

Bethlehem non es minima

e u o u a e

Alleluia (42vb) 5. Ton – zwei Differenzen

5.a.

5.b.

Vvv hv bhv b jv bgv bhv fv } Vvv hv bhv b jv bgv bhv brdv} e u o u a e

Montes et omnes colles, Ponent Domino, Laetamini cum Jerusalem

Innocenter puerilia, Flagrat virtus

e u o u a e

Vox clamantis in deserto, Omnis vallis implebitur, Haurietis aquas 6. Ton – zwei Differenzen

6.a.

Bchv hv fv bGYv bgv fv }

Gloriam mundi

e u o u a e

O Christi pietas, Benedictus Deus Israel

Exsulantis praedia

Nesciens mater

148

Festschrift Revers LAYOUT.indd 148

5.4.2019. 08.28.41

Franz Karl Praßl

Revela Domino, In excelsis laudate Ego dixi Domine, Salutare vultus mei

6.b.

Bchv hv fv bGYv bgv FTv }

Benedictus Dominus, Benedixit filiis

e u o u a e

Benedictus Dominus (70r) 7. Ton – vier Differenzen

7.a.

Vvv vjv jv b lv jv bhv yfv }

De caelo veniet dominator

e u o u a e

Ecce mitto angelum, Cantate Domino Veni Domine visitare

7.b.

7.c.

Vvv vjv jv b lv jv bhv zuhv } Vvv vjv jv b kv jv bhv GYv v}

Lauda Jerusalem Dominum, Satanae satellites,

e u o u a e

Tu es qui venturus es, O quam pulchra

e u o u a e

Cibavit eum Dominus

Omnes sitientes

7.d.

Vvv vjv jv b kv jv bzuhv jv}

Orante sancta Lucia (28rb)

e u o u a e

Orante sancta Lucia (28rb, sic!)

Confessio et magnificentia

Angelus ad pastores ait, Facta est cum angelo,

149

Festschrift Revers LAYOUT.indd 149

5.4.2019. 08.28.41

Der Salzburger Liber Ordinarius (1198) als musikhistorische Quelle 8. Ton – sieben Differenzen

8.a.

8.b.

Vvvhv bhv bgv bhv bfv dv } Vvvhv bhv bgv bygv fv dv }

Ne timeas Maria, In illa die, Judäa et Jerusalem,

e u o u a e

e u o u a e

Per te Lucia virga, Soror mea Lucia

Scitote quia prope est regnum

Vvvhv bhv bgv bhv bfv dfdv}

8.c.

e u o u a e

Missus est Gabriel angelus, Dicite filiae Sion, Iucundare filia Sion, Ponam in Sion

Vvvhv bhv bgv bygv fv dfdv} Vvvhv bhv bgv bygvbvfv DRv } Vvvhv bhv bgv vhv fv DRv }

8.d.

8.e.

8.f.

Missus est Gabriel, Dicite filiae Sion,

e u o u a e

e u o u a e

Hodie scietis quia veniet Dominus Ecce ancilla Domini

Dominus dixit ad me, Stephanus autem

e u o u a e

Stephanus autem

8.g.

Vvchv bhv bhv hv vHUv hv}

Veniet fortior, Erat enim in sermone

e u o u a e

Tabelle 4: Die Psalmtondifferenzen im Antiphonarteil des Salzburger Liber ordinarius.

Die Introituspsalmodie und ihre Differenzen im Gradualteil Im Gradualteil der Handschrift sind an den Blatträndern mit „seculorum. Amen“ die Schlusskadenzen der Psalmodieformeln des Introitus angegeben. Die erste Hälfte des Psalmverses (daher auch die Mittelkadenz) ist meist – je nach Platz in der Textzeile – vollständig ausgeschrieben, oft findet sich auch noch die ReIntonation. 150

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5.4.2019. 08.28.41

Franz Karl Praßl 1. Ton: zwei Formeln, a. eine Schreibweise, b. fünf Schreibweisen 1. Ton/Formel 1

1. Ton/Formel 2

1.a.1.

1.b.1.

1.b.2.

1.b.3.

Rorate caeli desuper (134v) Suscepimus Deus (138r)

Gaudete in Domino semper (134v)

Meditatio cordis (143v)

Exaudi Domine vocem meam (153v)

1.b.4.

1.b.5.

Statuit ei Dominus (158v)

Scio cui credidi (159r)

2. Ton: eine Formel, zwei Schreibweisen 2. Ton/Formel

2.x.1.

2.x.2.

Veni et ostende (136r)

Ecce advenit (138r)

151

Festschrift Revers LAYOUT.indd 151

5.4.2019. 08.28.41

Der Salzburger Liber Ordinarius (1198) als musikhistorische Quelle 3. Ton: eine Formel mit zwei Varianten an Tonzahlen 3. Ton/Formel

3.x.1.

3.x.1.

3.x.1.

3.x.2.

Dum clamarem (140v) Confessio et pulchritudo (162v)

Omnia quae fecisti (144r) Tibi dixit (142r)

Si iniquitates observaveris (157v)

Liberator meus (144r)

4. Ton: zwei Formeln, a. eine Schreibweise, b. drei Schreibweisen 4. Ton/Formel 1

4. Ton/Formel 2

4.a.1.

4.b.1.

4.b.2.

4.b.3.

Reminiscere (141r)

Exaudivit de templo (153v)

Accipite iucundidatem (154r)

Salus populi (157v) (Irrtum?)

152

Festschrift Revers LAYOUT.indd 152

5.4.2019. 08.28.41

Franz Karl Praßl 5. Ton: zwei Formeln, a. eine Schreibweise, b. zwei Schreibweisen 5. Ton/Formel 1

5. Ton/Formel 2

5.a.1.

5.b.1.

5.b.2.

Circumdederunt me (139v)

Verba mea auribus (142v)

Loquebar (158v)

6. Ton: zwei Formeln, a. zwei Tonzahlvarianten, b. zwei Tonzahlvarianten, vier Schreibweisen 6. Ton/Formel 1

6. Ton/Formel 2

6.a.1.

6.a.1.

6.b.1.

6.b.1.

Hodie scietis (136v)

In medio ecclesiae (137r)

Os iusti meditabitur (158r), Respice in me (156r)

Dicit Dominus: Ego cogito (157v)

6.b.1.

6.b.2.

Cantate Domino canticum (153r)

Esto mihi (140r)

153

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5.4.2019. 08.28.41

Der Salzburger Liber Ordinarius (1198) als musikhistorische Quelle 7. Ton: zwei Formeln, a. eine Schreibweise, b. drei Schreibweisen 7. Ton/Formel 1

7. Ton/Formel 2

7.a.1.

7.b.1.

7.b.2.

7.b.3.

Populus Sion (134v)

Audivit Dominus (140v)

Judica Domine nocentes (145r sic!) Exspecta Dominum (144r)

Ne derelinquas me (142r)

8. Ton: zwei Formeln, a. vier Schreibweisen, b. zwei Schreibweisen

8. Ton/Formel 1

8. Ton/Formel 2

8.a.1.

8.a.2.

8.a.3.

8.a.4.

Ad te levavi (134v)

Lux fulgebit (136v)

Domine ne longe (144v)

Introduxit vos (152r)

8.b.1.

8.b.2.

Invocavit (sic!) me (141r) Dilexisti iustitiam (158r)

Victricem (152v)

Tabelle 5: Differenzen der Introituspsalmodie im Salzburger Liber ordinarius.

154

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5.4.2019. 08.28.41

Franz Karl Praßl

Unterschiedliche Moduszuweisungen bei Introitusgesängen Eine unterschiedliche Zuweisung von Modi bei einzelnen Gesängen ist das ganze Mittelalter hindurch gängige Praxis gewesen. Abgesehen vom Fall äquivoker Modi, wo eine eindeutige Definition nicht möglich ist (z. B. Introitus „Deus in loco sancto“), weil der alles unterscheidende Ton fehlt, gibt es nicht wenige Fälle, wo – lange vor Guido von Arezzo festgelegt – Schreiber den Modus nach der Anfangsformel eines Gesangs zuweisen, oder – was sich als Norm langsam durchgesetzt hat – der Schlusston den Modus entscheidet. 27 Die nachfolgende Übersicht zeigt, wie unter Umständen zwischen Salzburg und Klosterneuburg28 unterschiedliche Ansichten zur Modalität existieren, aber auch, wie im Metropolitanverband offensichtlich Gemeinsamkeiten bei modalen Differenzen zu anderen Zentren der Gregorianik bestehen. LO

KL (A-Gu 807)

Deus in adiutorium

VIII

VII (transponiert re=sol)

andere

Deus in loco sancto

VII

V

V: Mp, Rou, Cist VII: L, E, Praem

Iudica Domine nocentes

VII

VII

IV: E, Ch

Victricem

VIII

VIII

III: E, Ch

Eduxit Dominus

VII

VII

IV: E,Ch, Mp

Accipite iucunditatem

IV

IV

VIII: L, Cist

Tabelle 6: Introitusgesänge mit einer unterschiedlichen Zuweisung zu einem der acht Kirchentöne.

Ergänzend ist zu bemerken, dass der Salzburger LO im Gradualteil auch die Ordinariumsmelodien relativ genau zuweist, vor allem das Kyrie. Übereinstimmend mit dem Missale Salisburgense 1492 gibt es spezielle Melodien für Hochfeste, Apostelfeste, mittlere Feste, Bekennerfeste, die Osterzeit und Gedenk- bzw. gewöhnliche Wochentage. Ordinarien für Marienfeste sind nicht angegeben. Diese sechs im LO nachgewiesenen Kyriemelodien sind andernorts bereits im Detail dargestellt worden. 29

27 Grundlegend ist nach wie vor Urbanus Bomm, Der Wechsel der Modalitätsbestimmung in der Tradition der Messgesänge im IX. bis XIII. Jahrhundert und sein Einfluss auf die Tradition ihrer Melodien, Einsiedeln 1929. 28 Vgl. Rumphorst Heinrich, „Handschrift Graz 807 (Klosterneuburg)“, in: Beiträge zur Gregorianik 31 (2001), 79–109. 29 Praßl, „Der älteste Salzburger Liber Ordinarius“, 40–47.

155

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5.4.2019. 08.28.42

Der Salzburger Liber Ordinarius (1198) als musikhistorische Quelle

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Stefan Engels

Die Handschrift Michaelbeuern A-MB Man. cart. 1 und die mensurierten Hymnen der monastischen Liturgie in Salzburg im 15. Jahrhundert Stefan Engels

Der Codex A-MB Man. cart. 1 Eine der wichtigsten liturgischen Handschriften des spätmittelalterlichen Salzburgs ist ein Sammelcodex, der sich heute unter der Signatur A-MB Man. cart. 1 in der Stiftsbibliothek von Michaelbeuern, einem Benediktinerkloster einige Kilometer nördlich von Salzburg, befindet (in der Folge als M bezeichnet).1 Er stammt allerdings nicht aus diesem Kloster, sondern wurde im Kloster St. Peter in Salzburg geschrieben. Seit dem Jahre 1977, als Franz Viktor Spechtler im Rahmen einer Sichtung von mittelalterlichen Handschriften mit deutschsprachigem Text auf den Codex aufmerksam machte, 2 rückte er wieder in den Blick der Forschung. Lipphardt beschrieb die Handschrift ausführlich, untersuchte die Hymnen und ihre Notation 3 und erstellte eine Liste der deutschen Gesänge. Außerdem untersuchte er die aus gregorianischen Antiphonen abgeleiteten deutschen Lieder, darunter die Übertragungen des „Salve Regina“, des „Veni Sancte Spiritus“ und des „Media vita“.4 Zwar hatten sowohl Lipphardt als auch Angerer die Handschrift

1

2 3 4

Papier, 112+12 Bl. 430x290, St. Peter in Salzburg, erstes Drittel des 16. Jahrhunderts. Er wird auch als „Michaelbeuerner Liederhandschrift“ bezeichnet; vgl. Stefan Engels, „Geistliche Musik Salzburgs im Mittelalter – Quellen und Repertoire“, in: Musica Sacra Mediaevalis. Geistliche Musik Salzburgs im Mittelalter. Salzburg, 6.–9. Juni 1996. Kongreßbericht, hg. von Stefan Engels und Gerhard Walterskirchen, St. Ottilien 1998 (= Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 40, Ergänzungsband), 9–30, hier 24–25; Stefan Engels, „Die Handschrift Michaelbeuern Man. Cart. 1 (Varia um 1500). Ein wichtiger Zeuge der monastischen Liturgie in Salzburg“, in: International Musicological Society Study Group CANTUS PLANUS. Papers Read at the 9th Meeting Esztergom & Visegrád Hungary 1998, hg. von László Dobszay, Budapest 2001, 59–69. Franz Viktor Spechtler, „Eine neue Handschrift zum Mönch von Salzburg aus Michaelbeuern (Salzburg)“, in: Litterae ignotae 50 (1977), 39–44. Spechtlers Interesse richtete sich vor allem auf den Text des Liedes „Joseph lieber nefe mein“ (G 22) des Mönchs von Salzburg. Walther Lipphardt, „Mensurale Hymnenaufzeichnungen in einem Hymnar des 15. Jahrhunderts aus St. Peter, Salzburg (Michaelbeuern Ms. Cart. 1)“, in: Ut mens concordet voci. Festschrift E. Cardine zum 75. Geburtstag, hg. von Johannes Berchmans Göschl, St. Ottilien 1980, 458–487. Walther Lipphardt, „Deutsche Antiphonenlieder des Spätmittelalters“, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 27 (1984), 39–82.

157

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Die Handschrift Michaelbeuern A-MB Man. cart. 1

mit guten Gründen in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts datiert, 5 doch konnte als Schreiber der Handschrift Laurentius Hauser nachgewiesen werden, der seine Profess in St. Peter in Salzburg um 1499 abgelegt hat.6 Daher bildet dieses Jahr den Terminus post quem der Abfassung. Auf jeden Fall war der Codex für einen Benediktinerkonvent, der nach den Regeln der Melker Reform ausgerichtet war und auch die diözesane Liturgie in Salzburg berücksichtigte, gedacht.7 Wann und auf welchem Weg der Codex nach Michaelbeuern gekommen ist, bleibt unbekannt. Er muss aber bis ins 17. Jahrhundert hinein in Gebrauch gewesen sein, was sich aus den verschiedenen Nachträgen des 16. und 17. Jahrhunderts ergibt. 8 Der Codex ist unvollständig. Er beginnt erst mit folium 19 mitten in einem Tonar und endet mit folium 132 in der Johannespassion für den Karfreitag nach der Singweise im Salzburger Domstift. Inhaltlich lässt sich die Handschrift sehr deutlich in zwei Teile gliedern.9 Der erste Teil enthält Gesänge der monastischen Liturgie: Toni communes zum Stundengebet (Psalmtöne mit Differentiae, „Gloria-Patri“-Verse in verschiedenen Tonarten für Responsorien, „Alleluja“-Formeln der Responsorien zur Osterzeit usw.), Gesänge und Texte zur Liturgie der Karwoche und Ostern, sowie verschiedene andere Gesänge, darunter auch ein vollständiges Hymnar. Eine solche Sammlung wird in Klöstern der Melker Reform als „Pharetra“ (‚Köcher‘) bezeichnet.10 Die Hymnen sind in M entweder als Incipit oder mit deren jeweils ausgeschriebenen ersten Strophe angeführt.11 5

Joachim Angerer, Lateinische und deutsche Gesänge aus der Zeit der Melker Reform, Wien 1979, 39. Lipphardt datiert die Handschrift zwischen 1450 und 1480 („Hymnenaufzeichnungen“, 461). 6 Siehe dazu Josef Feldner, „Handschriften in der Stiftsbibliothek von Michaelbeuern“, in: Dokumentation Benediktinerabtei Michaelbeuern, Salzburg 1985, 268–270; Katalog der Handschriften des Benediktinerstiftes Michaelbeuern bis 1600. Katalogband, bearb. von Beatrix Koll, unter Mitarbeit von Josef Feldner, Wien 2000 (= Veröffentlichungen der Kommission für Schrift- und Buchwesen des Mittelalters Reihe 2 6) 78–86; Beatrix Koll, „Die mittelalterlichen Handschriften des Benediktinerklosters Michaelbeuern. Ein Kurzbericht mit besonderer Berücksichtigung der Musikhandschriften“, in: Musica Sacra Mediaevalis, hg. von Engels und Walterskirchen, 69–81. 7 Vgl. die Beschreibung der Palmsonntagsprozession zum Nonnberg und die dortige statio auf fol. 86v. 8 Darunter befinden sich auch einige wenige mehrstimmige Nachträge, darunter ein vierstimmiges „Ave vivens hostia“. 9 Eine genaue Aufschlüsselung des Inhalts bieten Lipphardt, „Hymnenaufzeichnungen“, 461–465, und Koll, Katalog, 78–86; vgl. auch Harald Schamberger, Die Handschrift Man. cart. 1 der Stiftsbibliothek Michaelbeuern (A-MB Man. cart. 1) (Inventar in Zusammenarbeit mit Stephanie Annies), Diplomarbeit, Salzburg 2005. 10 So auch in St. Peter, wie zum Beispiel in der Pharetra des Johannes Pruckmoser, A-Ssp b II 5 aus dem Jahre 1545. 11 Eine übersichtliche Tabelle der Hymnen findet sich bei Lipphardt, „Hymnenaufzeichnungen“, 466–467. Die Gotische Notation wird dort von Lipphardt dem damaligen Sprachgebrauch gemäß als „rhombische Notation“ bezeichnet.

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20v–27v Hymnen innerhalb der kleinen Horen (Prim, Terz, Sext, Non und Komplet) des täglichen Stundengebetes zusammen mit den entsprechenden Antiphonen und den Toni communes. 27v–30r Hymnar: Temporale, Sanctorale, Commune. Auf einem Einlageblatt vor folium 21 finden sich zudem Incipits von „Te lucis ante terminum“ und „Iam lucis orto sydere“ in unterschiedlichen Melodien. Der zweite Teil ist offensichtlich bewusst als eine Sammlung von verschiedenen geistlichen Gesängen und Liedern in lateinischer und deutscher Sprache außerhalb von Messe und Offizium konzipiert und angelegt worden, die der diözesanen Salzburger liturgischen Tradition entnommen sind. Dazu gehören zahlreiche Mariengesänge, Passionsgesänge, eucharistische Gesänge, Gesänge zum heiligen Geist, ein Prozessionale, Reimoffizien für Benedictus, Scholastica, Pla­ cidus und Maurus, ein „Te Deum“ und vier Passionen mit der Bezeichnung „secundum chorum Salczeburgense“. St. Peter hatte seit dem Jahre 1431 die sogenannte Melker Reform übernommen. Diese Ordensreform entstand unter dem Eindruck der Reformbestrebungen im Gefolge des Konzils von Konstanz (1414–1418) und wurde mit Hilfe des Herzogs Albrecht V. und der Unterstützung des Nikolaus von Dinkelsbühl und anderer Professoren der Wiener Universität von einer Gruppe von Mönchen unter der Führung von Nikolaus Seyringer ins Leben gerufen. Diese Mönche waren eine Zeit lang im vom hl. Benedikt gegründeten Kloster Subiaco in Mittelitalien gewesen und hatten die dortigen consuetudines (‚Gebräuche‘, Statuten eines Klosters) kennengelernt, nach denen sie ihre Gemeinschaft nun ausrichteten. Sie übernahmen zunächst 1418 die Leitung des Stiftes Melk, wo Seyringer Abt wurde, und das Schottenkloster in Wien und verbreiteten ihre Ideen durch Visitationen in österreichischen und bayrischen Klöstern. Die Melker Reform war weniger ein festgefügter Verband verschiedener Klöster mit zentraler Leitung (wie die gleichzeitig entstandene Bursfelder Kongregation oder 500 Jahre zuvor die Reform von Cluny und die zentral geleiteten Orden wie beispielsweise die Zisterzienser). Sie war eher eine Reformbewegung, die sich durch die Übernahme der consuetudines Sublacenses als Ergänzung zur regula Benedicti definierte, diese Observanz jedoch den jeweiligen lokalen Gegebenheiten, Eigentraditionen und spirituellen Gewohnheiten nach Maßgabe ihrer Äbte anpasste. Melk sah man dabei in erster Linie als Vorbild und beispielgebend. Wert gelegt wurde unter anderem auf eine Erhöhung des Bildungsgrades der Mönche, daher auch auf eine Reform der Schulen und Bibliotheken und auf die Aufstockung der Buchbestände. Teil der Ordensreform war eine Reform der Liturgie, die selbstverständlich auch die liturgischen Gesänge mit einschloss. So wurden die Gottesdienste nach dem Ritus in Rom (rubrica ecclesiae Romanae bzw. rubrica Romana, ordo Romanus) reformiert und der 159

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Gesang nach der Cantilena Romana ausgerichtet. Eine einheitliche Liturgie zu den Gottesdiensten gab es unter den einzelnen Benediktinerklöstern nämlich nicht. Der Gebrauch von Tropen, Prosen und Sequenzen sollte dabei wesentlich reduziert werden. Orgelspiel wurde eingeschränkt gestattet, Mehrstimmigkeit jedoch strikt verboten. In St. Peter in Salzburg wurde die Melker Reform auf Wunsch des damaligen Erzbischofs Johann II. von Reisberg (Erzbischof 1429–1441) eingeführt.12 Das Kloster wurde in der Folge selbst zu einem Zentrum der Reform, von welchem zahlreiche Impulse ausgingen, und beeinf lusste mit seinen Visitationen 1434 und 1451 auch das Kloster Michaelbeuern.13 Es stellt sich natürlich die Frage, wie es in M zu einer solchen unüblichen Kombination aus dem liturgischen Repertoire eines Reformklosters und dem Ritus einer weltlichen Diözese gekommen ist, und wer an einer solchen Zusammenstellung ein Interesse haben konnte, das über die reine Dokumentationsabsicht für die Abfassung von M hinausging. Offensichtlich war die Handschrift für einen benediktinischen Konvent der Melker Reform bestimmt, für den auch die Kenntnis der diözesanen Liturgie notwendig gewesen ist. Dies träfe für die Petersfrauen zu.14 Die Petersfrauen bildeten spätestens seit dem 12. Jahrhundert einen Frauenkonvent, der an das Kloster St. Peter angeschlossen war und mit diesem ein Doppelkloster bildete.15 Der Abt von St. Peter war gleichzeitig auch Abt der Petersfrauen, die ihrerseits von einer Priorin oder Meisterin geleitet wurden. Ein Angehöriger des Männerkonventes erfüllte die priesterlichen Aufgaben in der Liturgie. Die Mitglieder des Konventes waren Adelige und Töchter aus Bürgerfamilien. Daneben bestand der Konvent aus Konversen (Laienschwestern) und Oblatinnen (Dienerinnen). Die Petersfrauen hatten ihr Kloster an der Stelle, an welcher sich heute das Franziskanerkloster befindet. Sie hielten nachweisbar seit 12 Angerer, Gesänge, 39; Robert Klugseder, „Die Auswirkung der Melker Reform auf die liturgische Praxis der Klöster“, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 123 (2012), 169–209, hier 198. 13 Vgl. Joachim Angerer, Die liturgisch-musikalische Erneuerung der Melker Reform. Studien zur Erforschung der Musikpraxis in den Benediktinerklöstern des 15. Jahrhunderts, Wien 1974 (= Veröffentlichungen der Kommission für Musikforschung 15), 65. 14 Nonnberg kommt als Adressat von M nicht in Frage. Zwar hatten die dortigen Chorfrauen die Melker Reform übernommen und standen auch in Kontakt zum Domstift, hielten aber an ihrer alten, durch die Hirsauer Reform geprägten Liturgie fest (Klugseder, „Auswirkungen“, 192). 15 Vgl. Maurus Schellhorn, „Die Petersfrauen“, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 65 (1925), 112–208, hier 122; Heinz Dopsch, „Die Petersfrauen“, in: St. Peter in Salzburg. Das älteste Kloster im deutschen Sprachraum. Katalog zur 3. Landesausstellung, Salzburg 1982, 85–90; ders., „Klöster und Stifte“, in: Geschichte Salzburgs, Bd. 1/2, hg. von Heinz Dopsch und Hans Spatzenegger, Salzburg 1983, 1002–1053; Stefan Engels, Graduale-Sequentiar. Farbmikrofiche-Edition der Handschrift Salzburg, Bibliothek der Erzabtei St. Peter (OSB), Cod. A IX 11. Einführung zur liturgischen und musikhistorischen Bedeutung des Graduales der Petersfrauen, München 2001 (= Codices illuminati medii aevi 60).

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1208 ihren Gottesdienst in der Stadtpfarrkirche (heute Franziskanerkirche) ab.16 Der Betchor befand sich ab 1458 über dem rechten Seitenschiff. Dort wurden das Chorgebet gesungen und die Konventmesse abgehalten.17 Die Klausur durften die Schwestern nicht verlassen, aber Erzbischof Eberhard II. gestattete um 1240 den Petersfrauen an gewissen Tagen, den Dom zu besuchen. Auch liturgische Hinweise im Petersfrauengraduale A-Ssp a IX 11 aus dem 12. Jahrhundert weisen auf die Verbindung mit der Liturgie der Kathedrale hin. Die Nonnen nahmen an bestimmten Tagen wie dem Palmsonntag an der allgemeinen Prozession teil und wohnten wohl den Gottesdiensten im Dom und vielleicht auch in der Stadtpfarrkirche bei. 1583 wurde der Konvent der Petersfrauen aufgelöst. Eine der letzten Nonnen, Cordula von Mundtenhaim, wurde 1588 im Kloster Nonnberg aufgenommen, dem sie als Äbtissin bis 1614 vorstand. Die leeren Klostergebäude wurden an die Franziskaner übergeben, die sie bis heute bewohnen.

Notationsarten in M Der Codex Michaelbeuern A-MB Man. cart. 1 ist in der Forschung stets auch Gegenstand liturgischer und notationstechnischer Überlegungen gewesen. Hingewiesen wurde mit Recht auf die verschiedenen Notationen, die in M verwendet werden.18 Während nämlich die Gesänge in lateinischer und deutscher Sprache aus dem Repertoire der Erzdiözese Salzburg in der Regel in der im süddeutschen Raum üblichen Gotischen Notation notiert sind,19 wird für die Gesänge des monastischen Ritus die von der Melker Reform bevorzugte Quadratnotation verwendet. Die Reformer orientierten sich nämlich auch in Bezug auf die Notation an den Vorlagen aus Rom und Subiaco, die in Quadratnotation abgefasst waren. 20 16 Schellhorn, „Petersfrauen“, 130. 17 Auch die ebenfalls mit dem Domkapitel zu einem Doppelkloster verbundenen Domfrauen hielten in der Stadtpfarrkirche ihre Gottesdienste ab, hatten aber mit der Melker Reform nichts zu tun. 18 Vgl. Angerer, Gesänge; Lipphardt, Hymnenaufzeichnungen und Antiphonenlieder, 39–82; Engels, „Die Handschrift Michaelbeuern“. 19 Ausnahmen sind in M die Sublazenser Sonderoffizien für Benedictus, Scholastica und Placidus in Gotischer Notation, wie die Antiphonenreihe pro suffragiis de sancto Benedicto in Sacro Specio fol. 102r oder das Responsorium „Vir Dei mundum fugiens“ fol. 114r in solemnitate sancti Benedicti de Sublac(ensi). ad (Sacrum) Spec(um). 20 Vgl. Angerer, „Gesänge“, 45–46. Dies gilt allerdings weder für die Petersfrauen noch für den Nonnberg oder für Michaelbeuern. Diese Konvente blieben bei der bisher gebräuchlichen Gotischen Notation. Über Choralnotationen in Österreich vgl. Stefan Engels, „Neumenfamilien und Choralnotationen in Österreich“, in: Cantus Planus. Papers Read at the 7th Meeting. Sopron, Hungary, 1995, Budapest 1998, 229–239; ders., „Die Notation der mittelalterlichen Choralhandschriften in Salzburg“, in: Medieval Music in Slovenia and its European Connections. Proceedings from the intenational symposium, Ljubljana, June 19th and 20th 1997, Ljubljana 1998, 109–121. Quadratnotation kommt ansonsten im österreichischen Raum viel seltener vor; dieser Notationstyp wurde lediglich durch die zentralistisch organisierten neuen Orden aus dem romanischen Kulturkreis eingeführt, so in

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Auf diese Weise können die meisten Gesänge in M entweder dem liturgischen Repertoire der Diözese oder dem von St. Peter zugeordnet werden. Dies führt aber auch dazu, dass gelegentlich sogar die gleichen Gesänge in den verschiedenen Versionen der Melker Reform und der Erzdiözese Salzburg in verschiedenen Notationen vorkommen. 21 Eine weitere Notationsweise ist die sogenannte „semimensurale“ Notation 22 für mensurierte oder rhythmisierte Gesänge, die aus beiden Notationsarten abgeleitet wird und eine charakteristische Besonderheit in den liturgischen Büchern von St. Peter darstellt. Sie kombiniert die Choralnotation mit Elementen aus der Mensuralnotation, ist also eine Spezialform der Gotischen Notation oder der Quadratnotation. Man gebraucht sie für den sogenannten cantus fractus. Darunter versteht man einen Gesang mit Elementen von proportionalen Rhythmen im Gegensatz zum nicht mensurierten cantus planus. Der cantus fractus ist in Europa neben Melodien für das „Credo“, Sequenzen, dem „Te Deum“ und Stücken aus dem Ordinarium Missae seit dem 14. Jahrhundert auch für Hymnen in verschiedenen Quellen aus Spanien, Südtirol und Norditalien bezeugt. Sein Vorkommen ist also nicht außergewöhnlich. In der Forschung ist der cantus fractus hinlänglich bekannt und untersucht. 23 Die Melker Reformhandschriften verwenden semimensurale Notation neben Hymnen auch für die einleitenden Versikel zur Matutin und im früher Zeit von den Dominikanern, Franziskanern, Augustiner-Eremiten und den Prämonstratensern, dann auch von den Kartäusermönchen. Andere Orden übernahmen diese Notation normalerweise nicht. Ausnahmen bilden etwa St. Lambrecht (vgl. Stefan Engels, „Die liturgischen Handschriften aus St. Lambrecht [Steiermark]“, in: International Musicological Society Study Group Cantus Planus. Papers read at the 16th meeting. Vienna, Austria 2011, Wien 2012, 135–142) und das Benediktinerstift Kremsmünster. Einige Missalia des 14. Jahrhunderts aus der Universitätsbibliothek Salzburg enthalten Präfationen, Gloria-Intonationen, etc. in Quadratnotation. Auch das berühmte „Radecker Missale“, ein Graduale-Sequentiar-Sakramentar-Lektionar mit der Signatur A-Su M III 48 vom Beginn des 14. Jahrhunderts, enthält Quadratnotation. 21 Das betrifft die Antiphon „Salve Regina“ (fol. 70r/v in Quadratnotation und fol. 80r in Gotischer Notation). Die beiden Versionen des „Regina coeli“ stehen auf fol. 70r unmittelbar hintereinander. Die Versionen der vier Passionen der Karwoche stehen im ersten Teil (fol. 40v–55r, 57r–60v) für die Melker Reform in Quadratnotation, im zweiten Teil (fol. 117v–132r, unvollständig) in Gotischer Notation „secundum chorum Salczeburgense“. 22 Die Notation wird auch als „mensuriert“, „mensural“ oder (in der italienischsprachigen Literatur) als „semifigurato“ bezeichnet. 23 Giampaolo Mele, Psalterium-Hymnarium arborense. Il manoscritto P.XIII della cattedrale di Oristano (secolo XIV/XV), Roma 1994; vgl. Marco Gozzi, „Il canto fratto: prima classificazione dei fenomeni e primi esiti del progetto RAPHAEL“, in: L’altro gregoriano ; atti del convegno internazionale di studi, Parma – Arezzo 3–6 dicembre 2003, hg. von Marco Gozzi, Roma 2005, 7–58, hier 7–9. Die Tradition des mensuralen Messgesanges dürfte aber vor allem bei den Sequenzen älter sein; vgl. Higini Anglès, „Eine Sequenzsammlung mit Mensuralnotation und volkstümlichen Melodien (Paris, B. N. lat. 1343)“, in: ders., Scripta musicologica, 3 Bde., Rom 1975–1976 (= Storia e letteratura 131–133), Bd. 1, 375–386. Auf den cantus fractus hat schon Bruno Stäblein aufmerksam gemacht (Schriftbild der einstimmigen Musik, Leipzig 1975 [= Musikgeschichte in Bildern 3, Lfg. 4], 68–70, 176–177, 208–209).

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„Te Deum“. Dazu kommen gelegentliche Verdoppelungen des Notenwertes in den Melodien des accentus, zum Beispiel bei Orationen. Längere und kürzere Noten können dabei auf verschiedene Weise gekennzeichnet werden, etwa durch Verlängerungspunkte. Es gibt also keine einheitlich verwendete Notationsweise. 24 Rhythmisierte Gesänge waren eigentlich nicht im Sinne der Melker Reform. Die Reformer trachteten von Beginn an, für die Benediktinerklöster eine einheitliche Liturgie zu formen, was natürlich auch die Durchsetzung einheitlicher Gesänge bedeutete, die sich an Rom bzw. Subiaco und Sacro Speco orientierten. Die Übernahme der einheitlichen Liturgie war der Beleg für die Teilnahme an der Reform. Vor dem Hintergrund dieser Vereinheitlichung ist es plausibel, dass die Reformer an den in Rhythmen gesungenen Hymnen Anstoß nehmen mussten, schon weil sie ihnen zu tanzartig erschienen. Alle Gesänge sollten „aequali, non saltando“ beziehungsweise nicht „ad saltandi memoriam“ gesungen werden, 25 beziehungsweise nicht „secundum metrum seu prosodiae“, sondern „nude et aequaliter“. 26 Man begegnet auch den Ausdrücken „more secularium aut eciam religiosorum aliorum nacionum“ oder ganz konkret „iuxta morem Italorum“. 27 All dies bedeutet nichts anderes, als dass der Gesang bisher auf diese Weise ausgeführt worden war. Aus den zahlreichen Quellen lässt sich außerdem herauslesen, dass diese Anordnungen sich nicht recht durchsetzen konnten und ab der Mitte des 15. Jahrhunderts offensichtlich völlig ignoriert wurden. 28 Die semimensurale Notation in M besteht aus einer Abfolge von Rhomben, Quadraten, sowie Ligaturen, die aus der Mensuralnotation abgeleitet sind. Im Grunde gilt: ein Quadrat steht für eine Brevis (B), also eine längere Note, eine Raute für eine Semibrevis (S). Eine Ligatur mit einem Aufwärtsstrich, einer Kauda nach oben an der linken Seite bei abwärts führenden Tönen, seltener bei aufwärtsführenden, entspricht der Ligatur cum opposita proprietate aus der Mensuralnotation und steht für zwei Semibreven (SS). Von diesen Ligaturen zu unterscheiden sind allerdings die üblichen Ligaturen der Quadratnotation. Zu Beginn des Hymnars erhalten die Zweitonligaturen in M eher einen Abwärtsstrich, obwohl mit Sicherheit SS gemeint ist, so beim syllabischen Hymnus „Eterne rerum conditor“ (fol. 22r). 24 Stäblein (Schriftbild, 70, 209) nennt neben Melk und St. Peter noch Tegernsee und St. Ulrich in Augsburg. Auch Tegernsee hat bei gleichem Repertoire und Melodiefassungen dieselbe rhythmische Intention, auch wenn der dortige Schreiber dies in anderer Weise darstellt. Die Mensurierung erfolgt dort durch vor- oder nachgesetzte Strichlein bei bestimmten Noten. 25 Angerer, Gesänge, 120. 26 So heißt es etwa in einem Visitationsprotokoll für Kremsmünster aus dem Jahre 1419; vgl. Altman Kellner, Musikgeschichte des Stiftes Kremsmünster, Kassel 1956, 98–99. Die Stelle bezieht sich zwar auf Prosen und Tropen, meint aber wohl auch den Hymnengesang unausgesprochen mit (vgl. Angerer, Gesänge, 118). 27 Belegstellen bei Angerer, Erneuerung, 89. 28 Das Verbot von Orgelspiel im Gottesdienst ließ sich ebenfalls nicht durchsetzen (Angerer, Erneuerung, 108).

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Hier ist die einzige zweitönige Neume über „tem-(pora)“ als Ligatur fe abwärts kaudiert. An dieser Stelle kommt aber aufgrund des Dreierrhythmus’ nur der Wert SS in Frage. Die Kauda der Ligatur über „(cre)-a-(tor)“ des Hymnus „Lucis creator optime“ auf folium 25v führt als durchgezogene Linie sowohl nach unten als auch nach oben. Das Gleiche geschieht auf dem Zusatzblatt nach folium 20v über „(an)te“. Die nach unten kaudierte Ligatur kommt im weiteren Verlauf nicht mehr vor. Hier handelt es sich also wohl um einen Denkfehler des Schreibers, den er in der Folge zu vermeiden trachtete. Man geht also nicht fehl, auch eine nach unten kaudierte zweitönige Ligatur als zwei Semibreven zu übertragen. 29 Die Minima kommt ein einziges Mal vor30 und zeigt, dass diese Möglichkeit zumindest bestanden hätte, aber in der Regel nicht gebraucht wurde. Einige Stücke enthalten auch eine Hybridnotation bzw. „Mischnotation“, indem sie Quadratnoten und semimensurale Notation kombinieren. 31

Weitere Quellen M ist kein Einzelfall. In liturgischen Handschriften aus St. Peter gibt es eine Reihe von Codices, welche ebenfalls mensurierte Notationen von Hymnen enthalten. Es sind dies die Handschriften mit den Signaturen a II 5, a II 10, a XI 6, a XII 24, b I 33, b II 4, b II 38, b IV 12, b VIII 1 und Hs A 575. 32 Das genaue Gegenstück zu M ist das Psalterium-Hymnale a XII 2433, entstanden im Jahre 1498 unter Abt Virgil II. Pichler. Es enthält Quadratnotation auf vier roten Linien und ein vollständiges Hymnar mit allen Strophen in semimensuraler Notation. Dessen Repertoire ist mit dem von M bei fast gleicher Schreibweise völlig ident. Vorzeichen werden keine geschrieben. 34 Pesligaturen werden häufiger als in M verwendet. Liqueszenznoten kommen nicht vor. Der einzige wirkliche Unterschied zwischen beiden Hymnaren ist die Melodie des Hymnus „Iste confessor“ auf folium 218v. 35 Gelegentlich werden andere Zeichen, aber mit der gleichen Bedeutung verwendet. 29 30 31 32

So versteht es auch Lippphardt, „Hymnenaufzeichungen“, 470. Im Hymnus „Telluris ingens“, fol. 26v, Z. 2. Dies wurde von Lipphardt übersehen (ebd., 468). Mischnotationen sind bereits im 14. Jahrhundert nachzuweisen (Angerer, Gesänge, 9). Der besseren Lesbarkeit wegen wird im Folgenden bei Handschriften aus St. Peter auf das RISMSigl A-Ssp verzichtet. 33 Perg. 231 Bl. 525x385; (Ergänzungen des 17. Jahrhundert). Johann Apfelthaler, „Zur mittelalterlichen Buchmalerei in der Abtei St. Peter“, in: Hl. Rupert von Salzburg 696–1996. Katalog der Ausstellung im Dommuseum zu Salzburg und in der Erzabtei St. Peter, Salzburg 1996, 405–440, hier 436; Peter Wind, „Katalogbeschreibung Nr. 188“, in: ebd., 456. 34 Gelegentlich, wie zum Beispiel fol. 202v, wurde von späterer Hand ein Auflösungszeichen (bdurum) nachgetragen. 35 Mel. 160 anstelle von M Mel. 532 nach Bruno Stäblein (Hg.), Hymnen (I). Die mittelalterlichen Hymnenmelodien des Abendlandes, Kassel 1956 (= Monumenta monodica medii aevi 1).

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Die Handschrift a XI 636 stammt aus dem 15. Jahrhundert und enthält nach Art der Pharetra Auszüge aus dem Offizium mit Quadratnotation auf vier roten Linien und ab folium 53v ein Hymnar in Auswahl in semimensuraler Notation. Von den Hymnentexten ist wie in M jeweils nur die erste Strophe angeführt. Die Notation gleicht M im Wesentlichen. Gelegentlich steht, besonders bei Verszeilenschlüssen, eine Semibrevis anstelle einer Brevis wie in M. Auf dem letzten Blatt (fol. 127v) ist in Gotischer Choralnotation der Hymnus „Jesu nostra redemptio“ in einer anderen, wahrscheinlich der diözesanen Version notiert. Wie man aus dem Ausdruck „iuxta morem Italorum“ schließen kann, übernahm man die Praxis des mensurierten Singens aus Italien. 37 Tatsächlich gibt es eine Handschrift, welche eine völlig gleiche Aufzeichnungsweise der Hymnen aufweist: Es handelt sich um einen Codex aus dem zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts aus der Benediktinerabtei San Zeno Maggiore in Verona. 38 Der Vergleich mit M zeigt nur kleinere unterschiedliche Schreibgewohnheiten auf. Der Codex verwendet die Graphie der aufsteigenden Ligatura cum opposita proprietate für die M zwei aufsteigende Rhomben schreibt, wodurch die grundsätzliche Bedeutung dieser Ligatur bestätigt wird. Die Neume SSS wird getrennt mit einer Zweierneume cum opposita proprietate und einer Rhombe wiedergegeben. M verwendet dafür drei Rhomben. Die Melodie und ihre Notation des Hymnus „Aures ad nostras“ sind nahezu ident. Gleiches gilt für „Gaude mater pietatis“ in der Melodie von „Pange lingua gloriosi proelium“, die sogar über ( pie)-ta-(tis) den mesurierten Pes als Kombination von Rhombus und Quadrat schreibt. 39 Ähnliches zeigt auch der Vergleich von „Novum sidus exoritur“ (Verona) mit der gleichen Melodie bei „Christe redemptor omnium“. Das Hymnar von M mit seiner Notation ist also keine singuläre Erscheinung, sondern gibt die Niederschrift eines Hymnenliederbuches wieder, welches auf eine längere Tradition zurückblicken konnte. Die übrigen Handschriften aus St. Peter sind als sekundäre Abschriften einzuordnen: B I 3340 ist ebenfalls eine Pharetra mit Quadratnotation auf vier Linien. Die mensurierten Hymnen enthalten an einigen Stellen kleinere Melodie- und Schreibvarianten. B II 441 enthält Auszüge aus dem Stundengebet und erweist sich durch die 36 Perg. 127 Bl. 375x275. 37 Schon Lipphardt („Antiphonenlieder“, 40) vermutete den Ursprung der Notation in Italien, sieht ihn aber fälschlicherweise in Subiaco selbst. Peter Wind stellt fest, dass im 14. Jahrhundert „das nicht in Salzburg entstandene Schrifttum vorwiegend aus dem Süden, dem oberitalienischen und wohl auch südfranzösischen Raum kam.“ („Die lateinischen Handschriften von St. Peter“, in: St. Peter in Salzburg. Katalog zur 3. Landesausstellung, 187–192, hier 190.) 38 Verona, Biblioteca Civica I-VEc 745; vgl. David Merlin, „Inni benedettini da un Salterio-Innario veronese“, in: Cantus fractus italiano: un’ antologia, hg. von Marco Gozzi, Hildesheim 2012, 247–258. Merlin veröffentlicht die hier diskutierten drei Hymnen. 39 Die Melodie steht einen Ton tiefer auf fa. 40 Papier. 341 Bl. 145x110. 15. Jahrhundert. 41 Papier. 122 Bl. 150x105. 15.–16. Jahrhundert.

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Gotische Choralnotation auf vier roten Linien und den deutschen Rubriken als zum Kloster der Petersfrauen gehörig.42 B II 3843 ist ein Brevier mit Kalender und Gotischer Choralnotation auf zwei oder drei roten Linien, auf welcher nur die Incipits der Hymnen notiert werden. Die Tradition der mensurierten Hymnen in Salzburg erhielt sich zumindest bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts, wie aus der Pharetra b IV 1244 aus dem Jahre 1608 hervorgeht. Außer den mensuriert notierten Hymnen hat sich in dieser Handschrift auch der Gebrauch der zwei Notationen erhalten: von Beginn an Gotische Choralnotation auf vier Linien, ab folium 138v Quadratnotation.

Der iambische Dimeter Eine Übertragung in moderne Notation und eine klangliche Realisierung scheint nach dem bisher Gesagten zunächst nicht schwierig.45 Beginnen wir mit dem jambischen Dimeter: Der Vortrag einer syllabischen Melodie in diesem Metrum bietet sowohl beim Studium der Notation als auch bei der klanglichen Realisierung kein besonderes Problem. Als Beispiel diene der Hymnus „Conditor alme siderum“. Die Melodie besteht aus sich abwechselnden Quadraten und Rhomben, also aus Breven und Semibreven, wobei die Semibrevis den halben Wert einer Brevis hat. Die einzige Ligatur, die zur Anwendung gelangt, ist die ligatura cum opposita proprietate mit ihrer Kaudierung nach oben in der Bedeutung von zwei unter einer Silbe verbundenen Semibreven.46

j j j j j jœ j & œj œj œ œ œ œj œ œ œ œj œ œj œ œ œj œ œ œ œj œ œj œ œj œ œ œœ œ œ œœœ œ Con -di - tor al - me sy - de -rum e - ter - ne lux cre-den - ti-um Chri -ste re -demp -tor om - ni -um ex-au - di pre -ces sup - pli - cum.

Beispiel 1: Codex A-MB Man. cart. 1, fol. 27v, Z. 3, Handschrift sowie moderne Übertragung. © Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und des Stiftes Michaelbeuern. 42 43 44 45

Vgl. auch Klugseder, „Auswirkungen“, 199. Papier. 298 Bl. 143x110. 15. Jahrhundert. Papier. 153 Bl. 147x103. Lipphardt („Hymnenaufzeichungen“, 469–480) hat bereits eine ganze Reihe von Hymnen in ein modernes Notensystem transkribiert, wobei die Übertragungen allerdings an manchen Stellen fehlerhaft bzw. nicht nachvollziehbar sind. 46 In den folgenden Übertragungen wird B als Viertelnote, S als Achtelnote übertragen.

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Die Sapphische Strophe Wesentlich komplizierter ist die sapphische Strophe. Sie besteht aus drei metrisch gleichen Zeilen mit je elf Silben und einer Schlusszeile, dem Adonius mit einmal fünf Silben. Alle Zeilen beginnen mit einem Trochäus. Das Mittelalter übernahm das Versmaß nicht aus der griechischen, sondern aus der römischen Metrik, so wie es in den Oden des Horaz (65–8 v. Chr.) überliefert wird. Diese Oden enthalten immer eine Länge auf der vierten Silbe und eine obligate Zäsur nach der fünften Silbe, also annähernd in der symmetrischen Mitte: — ◡ — — — ‖ ◡◡ — ◡ —× — ◡ — — — ‖ ◡◡ — ◡ —× — ◡ — — — ‖ ◡◡ — ◡ —× — ◡◡ —× Da die Hymnen seit der Spätantike nicht mehr metrisch, sondern akzentuiert vorgetragen wurden, entstand ein vereinfachter musikalischer Rhythmus. Schon Augustinus hatte die metrischen Längen und Kürzen durch musikalische ersetzt.47 — steht für eine lange Note, ◡ für eine um die Hälfte kürzere Note: — ◡◡ — — ‖ ◡◡◡◡ — — — ◡◡ — — ‖ ◡◡◡◡ — — — ◡◡ — — ‖ ◡◡◡◡ — — — ◡◡ — — Wiederum muss gelten, dass in der semimensuralen Notation eine lange Note (Brevis) den doppelten Wert eine kurzen (Semibrevis) haben muss. Prosodie der Dichtung und Rhythmus der Melodie sind prinzipiell zwei völlig verschiedene Dinge, die in Übereinstimmung gebracht werden können, aber nicht müssen. Ein einfaches Beispiel ist der folgende Hymnus:

Beispiel 2: Codex A-MB Man. cart. 1, fol. 22r, Z. 5. © Abdruck mit freundlicher Genehmigung der ÖAW und des Stiftes Michaelbeuern. 47 Stefan Engels, „‚Deus creator omnium‘. Augustinus als Zeuge für den Hymnengesang“, in: Cantare amantis est. Festschrift zum 60. Geburtstag von Franz Karl Praßl, hg. von Robert Klugseder, Purkersdorf 2014, 130–137. Auch die Humanisten übernahmen in der Folge diesen Rhythmus für die Abfassung deutscher Lieder, so zum Beispiel für das bekannte Lied „Herzliebster Jesus“ (Lipphardt, „Hymnenaufzeichnungen“, 471).

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Die Handschrift Michaelbeuern A-MB Man. cart. 1 Ecce iam noctis tenuatur umbra, lucis aurora, rutilans coruscat; nisibus totis rogitemus omnes cunctipotentem.

Die Notation enthält an fünf Stellen einen Pes aus dem Zeichenrepertoire der Quadratnotation: „noc-(tis)“, „(au)-ro-(ra)“, „(co)-rus-(cat)“, „om-(nes)“ und „(cunctipo)-ten-(tem)“, alle auf betonten und (rhythmisch) langen Silben im Wert einer Brevis, sodass die Graphie selbstverständlich mit SS zu übertragen ist. Zu diskutieren ist die ornamentierte Stelle „nisibus totis“. Während „ni“- als Ligatura c.o.p. mit SS problemlos übertragen werden kann, erhält man bei den zwei Ligaturen über „to“- vier und über „tis“ drei Töne, die als SS SS und SS B übertragen aus dem Rhythmus, der regulär nur Noten im Wert von jeweils einer Brevis vorsieht, zu fallen scheinen. Nun gibt es zwei verschiedene Möglichkeiten der Interpretation: Entweder überträgt man die Ligaturen als Minimae und verkürzt die Brevis um die Hälfte, um den ‚korrekten‘ Rhythmus zu erhalten (Bsp. 3a).48 Dies ergibt allerdings häufig eher komplizierte Ergebnisse. Die andere Möglichkeit ist die Beibehaltung der Notenwerte, wodurch sich lediglich eine Verlangsamung im Melodief luss ergibt, der die metrische Ausrichtung beim Singen keineswegs beeinf lusst (Bsp. 3b).

j j j & œ œ bœJ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ bœJ œ œ œ œ œ œ œ œ a

ni - si - bus to

b

-

tis

ni - si - bus to

-

tis

Beispiel 3: Codex A-MB Man. cart. 1, fol. 22r, Z. 5, zwei mögliche Übertragungen.

B ist zweifellos die bessere Alternative. Das Hymnensingen ist nämlich eine Angelegenheit der gesamten Gemeinschaft, nicht nur die Aufgabe eines ausgewählten Sängerchores. Der jeweilige Hymnus wurde in der Regel vom Kantor intoniert und von zwei Gruppen gegenchörig fortgesetzt, wobei die Chorgruppen bei jeder Strophe abwechselten. Die letzte, trinitarische Strophe wurde von allen gemeinsam gesungen. Daher muss der Rhythmus des Gesanges ‚gemeinschaftstauglich‘, also nicht kompliziert sein. Widrigenfalls wäre die Melodie sonst in kürzester Zeit ‚zurechtgesungen‘ worden. Die sapphische Strophe wird gerne in einer Mischnotation von Quadratnotation und semimensuraler Notation notiert, wie die folgenden drei Beispiele zeigen:

48 So verfährt Lipphardt, der die Graphie über ni- irrtümlich als viertönige Ligatur überträgt („Hymnenaufzeichnungen“, 472).

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Beispiel 4: Codex A-MB Man. cart. 1, fol. 29r, Z. 4–5. © Abdruck mit freundlicher Genehmigung der ÖAW und des Stiftes Michaelbeuern.

Ut queant laxis resonare fibris mira gestorum famuli tuorum, solve polluti labii reatum, sancte Iohannes.

Beispiel 5: Codex A-MB Man. cart. 1, fol. 29r, Z. 13–14. © Abdruck mit freundlicher Genehmigung der ÖAW und des Stiftes Michaelbeuern.

Martiris Christi colimus triumphum annuum tempus venerando, cuius cernua voce prece iam rotundus orbis adorat.

Beispiel 6: Codex A-MB Man. cart. 1, fol. 30r, Z. 4–5. © Abdruck mit freundlicher Genehmigung der ÖAW und des Stiftes Michaelbeuern.

Virginis proles opifexque matris, virgo quem gessit peperitque virgo, virginis festum canimus tropheum: accipe votum.

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Untersuchen wir zunächst den Rhythmus des Adonius (— ◡◡ — —): „Sancte Iohannes“ bietet keine Schwierigkeit. Über „Orbis adorat“ steht anstelle der Länge über „or-(bis)“ ein Torculus in Quadratnotation. Dessen drei Töne können nicht genau doppelt so lange sein wie die darauf folgenden kurzen Töne, sie entsprechen auch nicht genau der Länge einer Brevis, wohl aber einer langen Silbe, was sich von selbst ergibt, wenn dieser Torculus als freirhythmisch aufgefasst und interpretiert wird, wobei die Artikulation wie im Choral üblich auf die letzte Note zu legen ist.

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-

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Beispiel 7: Codex A-MB Man. cart. 1, fol. 29r, Z. 13–14, moderne Übertragung.

Nun wird auch die Notation von „accipe votum“ verständlich. Die Betonung liegt auf der Silbe „vo-(tum)“. Ihre Dauer soll nicht zwei Semibreven entsprechen, sondern dementsprechend länger oder ‚schwerer‘ freirhythmisch als eine Art ritardando gesungen werden.

& œ œj œj œœ ˙ ac - ci - pe vo - tum.

Beispiel 8: Codex A-MB Man. cart. 1, fol. 30r, Z. 4–5, moderne Übertragung.

Auf diese Weise lässt sich nun alles Übrige übertragen bzw. gesanglich ausführen. Die Melodie von „Virginis proles“ ist dabei am einfachsten. Außer der Clivis über „vo-(tum)“ begegnen uns über „pro-(les)“ und „ges-(sit)“ je ein Pes in Quadratnotation. Der Abschnitt „Ut queant laxis“ besteht jedoch aus reiner Quadratnotation und ist daher freirhythmisch bzw. im Sprachrhythmus wie in der Gregorianik zu interpretieren. Dies beeinträchtigt den Rhythmus der sapphischen Strophe nicht, sondern stützt ihn. Der Scandicus über „sol-(ve)“, der auf die höchste Note hinzielt, ist als quasi auftaktig zu verstehen, wobei die höchste Note als artikuliert die erste Länge des Verses repräsentiert. Den Abschluss der Zeile bei „reatum“ bilden zwei freirhythmische lange Clives, was beim Singen wieder eine retardierende Kadenz bewirkt. Auch „Martiris Christi“ beginnt mit einem freirhythmischen Abschnitt und einem freirhythmischen Verszeilenbeginn bei „cer-(nua)“ und „or-(bis)“. Eine Übertragung in moderne Notenschrift von „Martiris Christi“ sollte daher so aussehen:49 49 Ähnlich überträgt auch Stäblein, Schriftbild, 208.

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cui-us

œ

a - do - rat.

Beispiel 9: Codex A-MB Man. cart. 1, fol. 29r, Z. 13–14, moderne Übertragung.

Der Hymnus „Ave maris stella“ Es gilt also: der Text bestimmt die Artikulation der Melodie; die Melodie hat jedoch Vorrang vor dem Rhythmus und dieser vor dem Metrum. Auf diese Weise ist auch der rhythmisch anspruchsvolle Hymnus „Ave maris stella“ zu behandeln.50

Beispiel 10: „Ave maris stella“, Codex A-MB Man. cart. 1, fol. 28v, Z. 10–11. © Abdruck mit freundlicher Genehmigung der ÖAW und des Stiftes Michaelbeuern.

Hier begegnet uns gleich zu Beginn über den Silben „(A)-ve“ und „stel-(la)“ eine aufsteigende Zweitonneume in Form einer Raute mit angeschlossener, nach unten kaudierter Quadratnote. Diese kommt relativ häufig vor. A XI 6 notiert eine Rhombe und ein halsloses Quadrat; b I 33 kaudiert bei dieser Neume an anderen Stellen das Quadrat auf der rechten Seite. Gedeutet werden kann sie auf verschiedene Weise. So interpretiert sie Lipphardt als SS, 51 Merlin als SB. 52 Wahrscheinlich hat man sich einen schweren Pes mit der Artikulation bei der oberen Note vorzustellen, der etwa dem Pes quadratus der frühen adiastematischen Neumen entspricht. Das ergäbe je nach Zusammenhang SB oder eine Art BB, wobei die erste Note mehr oder weniger schwer zu nehmen wäre. Eine exakte Übertragung von „Ave maris stella“ sähe allerdings folgendermaßen aus: 50 Auch Claudio Monteverdi benützt eine mensurierte Fassung von „Ave maris stella“ in seiner Marienvesper. 51 Vgl. Lipphardt, „Hymnenaufzeichnungen“, 468–469. 52 Merlin, „Inni“, 251, 255.

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Beispiel 11: „Ave maris stella“, Codex A-MB Man. cart. 1, fol. 28v, Z. 10–11, moderne Übertragung.

Man sieht auf den ersten Blick, dass der Hymnus in dieser Form äußerst unsanglich ist. So war er wohl nicht gemeint. 53 Der Hymnus ist vielmehr wie eine Übertragung in gemischter Notation zu behandeln. Eine Mischnotation wie bei den Beispielen der Sapphischen Strophe wäre aber ungünstig, weil die Einzelnote einer Brevis gliche. Daher ist die einzelne Semibrevis als freie Einzelneume im Sprachrhythmus anzusehen und meint keinen bestimmten Wert. Dies wurde wohl auch vom Notator von a XI 6 so gesehen. Er beginnt das Stück mit einer Brevis, denn er sieht den ersten Ton aufgrund des Wortakzentes als gelängt an. Die zweite Neume ist ein ‚starker‘ Pes auf „(A)-ve“. Die Silbe „ma-“ wird durch die Betonung gelängt. Die erste Brevis des Climacus resupinus bei „-la“ zeigt an, dass die erste Note dieser Neume mit einer leichten Artikulation begonnen wird. Bei „ma-(ter)“ muss, wie im Choral üblich, die dritte Silbe artikuliert werden, um die Betonung „matér“ zu vermeiden. Ein exakter musikalischer Rhythmus, der auch die Melodie beeinf lusst, zeigt sich aber bei „atque semper“ und „felix celi“. Der Rhythmuswechsel bei „semper“ und „felix“ ist bewusst gesetzt. Die Codices M und a XI 6 stimmen darin überein, dass das Quadrat der Dreierligatur über „(de)-i“ nach rechts gewendet ist, jenes über „vir-(go)“ jedoch nach links. Gemäß den Regeln der Mensuralnotation wäre die erste Ligatur als SSB, die zweite als SSL zu interpretieren, was nicht ganz unmöglich ist, aber in diesem Zusammenhang nicht richtig zu sein scheint. Letztere Ligatur kommt im Übrigen nur an dieser Stelle vor. A XII 24 wendet auch das Quadrat der Ligatur über „vir-(go)“ nach rechts, meint also SSB. Die zwei Brevisnoten auf d über „(vir)-go“ werden in a XI 6 zu einer Brevis zusammengezogen, was auch das Verhältnis B:S als 2:1 nochmals belegt. Als Kadenz gehören diese zwei Noten wohl etwas länger ausgeführt. Bei der betonten Silbe „por-(ta)“ sollte man die zweite Semibrevis artikulieren. Diese Überlegungen führen zu folgender sanglicher Übertragung:

53 Auch Lipphardt sieht für die Übertragung dieses Hymnus’ ein Problem („Hymnenaufzeichungen“, 480).

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Beispiel 12: „Ave maris stella“, Codex A-MB Man. cart. 1, fol. 28v, Z. 10–11, moderne Übertragung.

Fazit Das Hymnar in M ist in Auswahl und Notation das schriftlich niedergelegte reguläre Hymnenrepertoire der Offiziumsliturgie in St. Peter in Salzburg, wie die fast identen Notationen in a XII 24 und a XI 6 belegen. Die Notation dieses Hymnenrepertoires dürfte von Benediktinerklöstern in Italien übernommen worden sein, wie ein Vergleich mit dem Hymnar aus Verona beweist. Basisnotation ist die Quadratnotation, die in einigen Hymnen allein verwendet wird. Hymnen im cantus fractus stehen in der daraus abgeleiteten semimensuralen Notation. Manchmal entsteht durch die Kombination beider Notationen eine Hybridnotation. Dort gibt es neben exakten metrischen Unterscheidungen von langen und kurzen Noten im Verhältnis 2:1 auch Passagen mit freiem Vortrag, die sich an den Gegebenheiten der Textaussprache nach der Tradition des gregorianischen Chorals orientieren. Bei der mensurierten Notation handelt es sich keineswegs um eine reine Mensuralnotation. Es werden nur Elemente mit Zeichen, die zur Verfügung standen, verwendet, um den Rhythmus zu verdeutlichen. 54 Diese dürfen allerdings nicht ‚wörtlich‘ verstanden werden. Die Melodien sind weder in ein gleichrhythmisches Schema gepresst, noch werden sie in ein klares modales System gezwungen. Die durch die semimensurale Notation zum Ausdruck gebrachten Rhythmisierungen können dem Wortakzent folgen, ohne aber Modi aus der Mensuralnotation damit zu meinen. Die Notation kann aber auch einfach den Wortf luss nachahmen. Der Reiz besteht, ähnlich wie im Minnesang, aus der Abwechslung von freiem Textvortrag (etwa bei ausgeschmückten Eingangs- oder Schlussf loskeln) mit rhythmisch exakten Passagen – eine Praxis, die allein im einstimmigen Vortrag von Gesängen möglich ist. Dies ist im späten Mittelalter selbstverständliche Musizierpraxis. 55 Die Hymnen sind keine eigenen Neukompositionen wie etwa die bekannte Melodie des „Credo cardinalis“ im cantus fractus. Die Notation ist vielmehr deskriptiv. Sie versucht, mit den Möglichkeiten des zur Verfügung stehenden Zeichenrepertoires das in der Praxis Erklingende zu beschreiben. Das 54 Lipphardt hat dies auf die mangelnde Kenntnis des Schreibers zurückgeführt („Hymnenaufzeichungen“, 480). 55 Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an die Lieder des Mönchs von Salzburg in semimensuraler Notation mit Anfangs- und Schlussornamenten.

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Beispiel 13: Codex A-MB Man. cart. 1, fol. 28v. Notiert wird jeweils nur die erste Strophe. Davor steht jeweils als Rubrik die liturgische Bestimmung. Deutlich zu erkennen sind die unterschiedlichen Notationsformen; so zum Beispiel bei „Doctor egregie“ (Quadratnotation) und dem darauf folgenden „Ave maris stella“ (Cantus fractus). © Abdruck mit freundlicher Genehmigung der ÖAW und des Stiftes Michaelbeuern.

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Wort steht wie im Choral immer im Vordergrund. Der Rhythmus erschließt sich nicht alleine durch das Studium der Quellen, sondern meist ganz einfach durch praktisches Singen. Die Tatsache, dass die Reformer im Zuge der Melker Reform von Beginn an das Singen rhythmisierter Hymnenmelodien einer Kritik unterzogen, belegt, dass eine solche Gesangspraxis bestanden hat, die noch auf die Zeit vor der Reform zurückgeht. 56 Ein Verbot dieser Praxis konnte sich jedoch niemals ganz durchsetzen. Hymnen im cantus fractus sind in Klöstern der Melker Reform spätestens ab der Mitte des 15. Jahrhunderts wie selbstverständlich in Gebrauch.

56 Vgl. Klugseder, „Auswirkungen“, 199, FN 55. Ein Beleg aus dem 14. Jahrhundert wäre der Psalter D-Mbs 15955, wenn die Datierung von Stäblein zutrifft („Schriftbild“, 208).

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Musik in emblematischer Denkform Bibers „Rosenkranzsonaten“ Laurenz Lütteken

Zum Problem In der Bayerischen Staatsbibliothek befindet sich eine Handschrift mit 15 ‚Sonaten‘ für Violine und Generalbass sowie einer Passacaglia für Violine solo von Heinrich Ignaz Franz von Biber (1644–1704).1 Diese Werke wurden 1905 von Erwin Luntz in den Denkmälern der Tonkunst in Österreich erstmals und 2003 durch Dagmar Glüxam neuerlich ediert, 2 und seit der Entdeckung von Eugen Schmitz ist der Kontext der Werke bekannt, für die sich der Name „Rosenkranzsonaten“ etabliert hat. 3 Die Bedeutung der Kompositionen für die Geschichte des Violinspiels einerseits, für die solistische Instrumentalmusik andererseits ist immer wieder, gesamthaft oder in Details, erforscht worden, mit wachsender Intensität, verbunden mit einer zunehmenden Präsenz in den Kontexten historisch informierter Aufführungspraxis.4 Gleichwohl herrscht über die Intention dieses ungewöhnlichen Zyklus eine gewisse Ratlosigkeit, schon deswegen, weil die von Luntz angestoßene Debatte, es handele sich hier ungeachtet der Widersprüche um eine Art von ‚Programmusik‘, sich offenkundig als irreführend erwiesen hat. 5 Die ungewöhnliche Werkgruppe stellt also nach wie vor eine Herausforderung dar. 1 2

3 4

5

München, Bayerische Staatsbibliothek, Mus. Ms. 4123, Faksimile in: Heinrich Ignaz Franz Biber, Mysterien-Sonaten (‚Rosenkranz-Sonaten‘). Bayerische Staatsbibliothek München. Mus. Ms. 4123, hg. von Ernst Kubitschek, Bad Reichenhall 1990 (= Denkmäler der Musik in Salzburg. Faksimile-Ausgaben 1). Heinrich Ignaz Franz Biber, Sechzehn Violinsonaten mit ausgeführter Klavierbegleitung, hg. von Erwin Luntz, Wien 1905 (= Denkmäler der Tonkunst in Österreich 12/2); ders., Rosenkranz-Sonaten, hg. von Dagmar Glüxam, Graz 2003 (= Denkmäler der Tonkunst in Österreich 153). Diese Ausgabe wird im Folgenden, zusammen mit der Faksimile-Edition, verwendet. Eugen Schmitz, „Bibers Rosenkransonaten“, in: Musica 5 (1951), 235–236, hier 235. Vgl. hier u. a. Manfred Hermann Schmid, „‚Der Auftritt des Virtuosen‘. Zu den Violinsonaten von Biber und Corelli“, in: Jakob Stainer und seine Zeit, hg. von Walter Salmen, Innsbruck 1984 (= Innsbrucker Beiträge zur Musikwissenschaft 10), 135–142; Christian Berger, „Musikalische Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jahrhunderts. Das ‚Lamento‘ aus Heinrich Ignaz Franz Bibers Rosenkranzsonate Nr. 6“, in: Analecta Musicologica 64 (1992), 17–29; Dagmar Glüxam, „Die ‚Rosenkranz-Sonaten‘ von Heinrich Ignaz Franz Biber. Ein Zyklus mit Vorgeschichte“, in: Österreichische Musikzeitschrift 54/4 (1999), 14–22; Charles E. Brewer, The Instrumental Music of Schmeltzer, Biber, Muffat and their Contemporaries, Burlington 2011, 297–300; Roseen Giles, „Physicality and Devotion in Heinrich Ignaz Franz Biber’s Rosary Sonatas“, in: Yale Journal of Music and Religion 4 (2018), 68–104. Vgl. hier etwa den Überblick bei Berger, „Das Lamento“; Eric T. Chafe, The Church Music of Heinrich Biber, Ann Arbor 1987 (= Studies in Musicology 95), 189–192.

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Bibers „Rosenkranzsonaten“

Um sich ihr erneut und unter veränderten Perspektiven anzunähern, erscheint es sinnvoll, die wichtigsten Eigenschaften der Sammlung nochmals und zusammenfassend in Erinnerung zu rufen. Die Datierung der Werke ist unsicher, mit einiger Plausibilität wird das Jahr 1674 vermutet, also die Zeit kurz vor den großen, 1676 einsetzenden instrumentalmusikalischen Druckprojekten Bibers. Die Stücke sind Fürsterzbischof Max Gandolph von Kuenburg (1622–1687, reg. ab 1668) gewidmet, dem großen Förderer des Komponisten, in dessen Regentschaft die Rekrutierung des Geigers für die Hof kapelle (Ende 1670) sowie sein Aufstieg erst zum Vizekapellmeister (1678), dann zum Hof kapellmeister (1684) fallen. Diese Werke blieben jedoch, im Gegensatz zu den nachfolgenden vier ausdrücklich als zusammengehörig deklarierten Sammlungen,6 ungedruckt, und es ist unklar, ob neben der handschriftlichen Widmungsvorrede ein ausdrückliches Titelblatt existierte; so oder so dürfte es sich um ein Arkanum des Widmungsträgers gehandelt haben, denn es gibt keinen Hinweis darauf, dass eine Drucklegung in diesem Falle geplant war. Den Werken fehlt zudem eine Gattungsbezeichnung; der in der Forschung verbreitete, hier aus pragmatischen Gründen ebenfalls verwendete Begriff „Sonate“ bezieht sich bei Biber nur auf einzelne Sätze, die Werke selbst tragen keine Titel, und es gibt kein Indiz dafür, dass das Titelblatt eine wesentliche Korrektur gebracht hätte.7 Den 15 Stücken sind, ausgeschnitten und auf das Papier geklebt, unbezeichnete und undatierte, runde Kupferstiche vorangestellt, die sich auf die in der Widmungsvorrede ausdrücklich erwähnten Mysterien des Rosenkranzes („XV. Sacrorem Mysteriorem“) beziehen und daher den Werken den etwas missverständlichen, hier jedoch ebenfalls beibehaltenen Namen „Rosenkranzsonaten“ verliehen haben; vor dem 16. Werk, der abschließenden Passacaglia, die als wohl erste ambitionierte Komposition für Solovioline überhaupt gelten kann, findet sich hingegen eine lavierte Federzeichnung, die zwar im Format und Duktus den Kupferstichen folgt, aber von anderer Hand stammt, deutlich ausgearbeiteter und eben kein Druck ist. Nur die erste Sonate und diese Passacaglia verlangen eine normal gestimmte Violine, alle anderen Werke eine oder mehrere anders gestimmte Saiten, also die Skordatur, die in der virtuosen Violinliteratur des 17. Jahrhunderts immer wieder begegnet, so erstmals bei Biagio Marini 1629, aber hier zum wohl einzigen Mal in umfassender Verwendung. 8 Eine Tabelle (Tab. 1 6

7 8

In der Widmungsrede zum Fidicinium sacro-profanum (1683) spricht Biber, mit Blick auf die vorausgehenden drei Publikationen, von einem vierblättrigen Kleeblatt, das sich hier füge; die „Rosenkranzsonaten“ gehören demnach explizit nicht in diese Serie (Ernst Kubitschek, „Vorwort“, in: Biber, Mysterien-Sonaten [Faksimile], 5–12, hier 7). In seiner Widmung spricht er von „Sonatis, Præludijs, Allemandis, Courent:[is,] Saraband:[is,] Arijs, Ciaconam, Variationibus etc.“ (Zit. nach ebd., Bg. 1r.) Die Probleme der Skordatur, die in der Edition von Luntz nicht vollständig gelöst werden konnten, wurden in der Forschung immer wieder ausführlich diskutiert; einen guten Überblick liefert Dagmar Glüxam in ihrer Edition („Vorwort“, in: Biber, Rosenkranz-Sonaten, IX).

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im Anhang) veranschaulicht, dass es in dieser Technik der Skordatur jedoch keinen erkennbaren Plan gibt, auch nicht hinsichtlich Zahl und Abfolge der Sätze. Bei den Kompositionen handelt es sich, dies eine weitere Besonderheit, zwar um reine Instrumentalmusik, die jedoch, ungeachtet der zahlreichen Tanzsätze, in einem vollständig geistlichen Kontext steht – und die einen zyklischen Anspruch erhebt. Zwei der von Biber gedruckten Sammlungen (Sonatae tam aris quam aulis servientes, 1676; Fidicinium sacro-profanum, 1683) beziehen zwar, auch dies ungewöhnlich, eine sakrale Verwendung als Möglichkeit ein, in ihrem ausschließlichen Anspruch sind die „Rosenkranzsonaten“ jedoch isoliert. Allerdings enthält nur die elfte Sonate auch einen ausdrücklichen Hinweis auf diesen Kontext, mit dem lateinischen Titulus „Surexit Christus hodie“ an zweiter Stelle.9 Alle anderen Werke lassen den geistlichen Zusammenhang einzig über den Titel und die beigefügten Kupferstiche erkennen. Das Rosenkranz-Gebet, das Rosarium oder die Corona, ist als spirituelle Gebetsübung dem Psalmgebet nachempfunden (Psalterium Beatae Mariae Virginis) und umfasst, zumindest seit der Einführung des Rosenkranzfestes 1571 (nach der siegreichen Seeschlacht von Lepanto), eine Gebetsfolge nach den 58 Perlen des geweihten Rosenkranzes.10 Die Gebetsübung beginnt mit den ersten drei Perlen beim Kreuz, also einem „Credo“ und drei „Ave Maria“-Gebeten um Glaube, Hoffnung und Liebe. Dann folgen fünf Gruppen mit jeweils zehn „Ave Maria“Gebeten, die ihrerseits jeweils von einem „Pater noster“ eröffnet werden. Das erste „Ave Maria“ der jeweiligen Gruppe wird ergänzt um das Mysterium, das ‚Geheimnis‘, in dessen Zeichen die Gebetsfolge steht. Die Mysterien folgen den zentralen Stationen des Marienlebens. Ein Rosenkranz besteht also, neben der Einleitung, aus fünf solcher Geheimnisse, und die zu betende Geheimnisfolge richtet sich nach dem Kirchenjahr: Weihnachtsfestkreis, Osterfestkreis, übriges Kirchenjahr (Tab. 2 im Anhang). Dadurch zerfallen Bibers Sonaten in drei Gruppen zu je fünf Werken mit einem Schlussstück, und jede Gruppe lässt sich einem Rosenkranz-Geheimnis zuordnen. Zudem entspricht, aufgrund der Kupferstiche, jede Sonate einer konkreten Station im Marienleben, sodass sich aus dieser Gruppierung auch musikalisch einige Besonderheiten erkennen lassen (Tab. 3 im Anhang). Die Rahmentonarten jeder Gruppe stehen im Quintabstand, die erste und dritte Gruppe weisen je in der Mitte eine Molltonart auf, während in der zweiten Gruppe die Molltonarten eine Rahmenfunktion einnehmen. Die erste Sonate und die Passacaglia stehen im Quintabstand, in den ersten beiden Gruppen dienen die 9

Vgl. Manfred Hermann Schmid, „‚Surrexit Christus hodie‘. Die Sonate XI aus den MysterienSonaten von Heinrich Ignaz Franz Biber“, in: Festschrift Theodor Göllner, hg. von Bernd Edelmann und Manfred Hermann Schmid, Tutzing 1995 (= Münchner Veröffentlichungen zur Musikgeschichte 51), 193–208. 10 Es gibt neben dieser ‚kanonischen‘ Form auch Varianten, etwa den dominikanischen Rosenkranz mit 150 Perlen (Wilfried Kirsch, Handbuch des Rosenkranzes, Wien 1950).

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Präludien offenbar zur Markierung der Rahmensonaten, im einen Fall ersetzt durch das Lamento. Das erste Stück der letzten Gruppe hingegen enthält als einziges den expliziten Hinweis auf den Kontext, das letzte als einziges einen Satz mit dem Titel „Canzon“, womit eine Canzona gemeint sein dürfte.

Marianische Frömmigkeit Die Zuordnung dieser Sonaten zu einem marianischen Kontext isoliert sie auch deswegen, weil es dezidiert ‚geistliche‘ Instrumentalmusik dieser Art im 17. Jahrhundert nicht gibt. Der Widmungsträger, Fürsterzbischof Max Gandolf, war ein strenger Verfechter der Gegenreformation, sichtbar an zahlreichen städtebaulich-kulturellen Maßnahmen ebenso wie an administrativen Neuerungen, aber auch einer Flut von Hexenprozessen und der ersten großen Vertreibungswelle von Protestanten.11 Die marianische Frömmigkeit war ihm ein zentrales Anliegen, das wohl bedeutendste Zeugnis dafür ist die Errichtung der Wallfahrtskirche Maria Plain außerhalb der Stadt. Der Fürsterzbischof stellte sich damit in eine Kontinuität gegenreformatorischer Marienverehrung in Salzburg.12 Bereits 1619 wurde an der Universität eine akademische Marienbruderschaft errichtet, die in drei Gruppen existierte: einer Congregatio maior für die Studenten, einer Congregatio minor für die Gymnasiasten und einer Congregatio angelica für die Elementarklassen; ihr gehörten etwa auch die Söhne Bibers an. Möglicherweise war die große Bruderschaft 1636/37 auch für den Auftrag an Adrian Bloemart und Zacharias Miller verantwortlich, die 1631 von Santino Solari errichtete Universitätsaula, die der Congregatio vorbehalten war, mit einem Bildzyklus der Rosenkranzgeheimnisse auszustatten.13 Biber spielt in der Widmungsvorrede auf die Förderung des Rosenkranzes und seiner Geheimnisse durch den Fürsterzbischof an, womit jedoch nicht der bereits vor seiner Wahl verwirklichte Gemäldezyklus gemeint sein kann. Ob also eine Beziehung zwischen den Werken und der Universitätsaula besteht, muss fraglich bleiben, ist am Ende sogar unwahrscheinlich, weil die Drucklegung von Bibers Sammlung unterblieb und die ausgeschnittenen Kupferstiche sich nicht auf den existierenden Bildzyklus beziehen. Weiterhin ist die Übertragung eines Bildprogramms auf einen instrumentalmusikalischen Zyklus weder selbstverständlich noch naheliegend, also in hohem Maße erklärungsbedürftig. 11 Vgl. Heinz Dopsch / Hans Spatzenegger (Hg.), Geschichte Salzburgs. Stadt und Land, Bd. 2: Neuzeit und Zeitgeschichte, erster Teil, Salzburg ²1995, 227–230. 12 Vgl. Franz Ortner, Reformation, katholische Reform und Gegenreformation im Erzstift Salzburg, Salzburg 1981, sowie zur Kirche Maria Plain Adolf Hahnl et al., Wallfahrtsbasilika Maria Plain bei Salzburg. Geschichte, Kunst, Spiritualität, Salzburg 2009. 13 Der Zyklus wurde von Andrian Blomaert und Zacharias Miller ausgeführt (Kubitschek, „Vorwort“, 12).

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Biber hat für seine Sonaten einen offenbar bestehenden druckgraphischen Zyklus mit den Rosenkranzgeheimnissen oder den entsprechenden Stationen des Marienlebens zerschnitten und in sein Manuskript eingeklebt. Diese Maßnahme weist nun eindeutig darauf hin, dass eine Drucklegung nie geplant war, denn ansonsten hätte der Komponist die Vorlage nicht zerstört. Graphische Rosenkranzzyklen lassen sich mehrfach nachweisen, die Vorlage allerdings, die Biber verwendet hat, konnte bisher nicht identifiziert werden. Dass diese eigens angefertigt wurde, erscheint unwahrscheinlich. Eher wäre denkbar, dass die graphische Folge in einem besonderen Verhältnis zum Auftraggeber stand und deswegen ausgewählt wurde (was nicht notwendig bedeutet, dass die Stiche in Salzburg entstanden oder von Salzburg beauftragt gewesen sein müssen). Ob diese Nähe also durch den (unbekannten) Künstler, die Darstellungen oder deren Kontext gegeben war, lässt sich nicht sagen. Einen Sonderfall stellt die angehängte Passacaglia dar, die den Zyklus als Violin­s olowerk beschließt. Ihr ist keine Mariendarstellung beigegeben, sondern ein Schutzengel mit einem Kind. Da es sich hier um eine Federzeichnung handelt, steht auch fest, dass diese Ergänzung, die mit der ursprünglichen Kupferstichfolge nichts zu tun hat (auch wenn die Figur dem Engel aus der Verkündigung nicht unähnlich ist), wohl auf den Komponisten zurückgeht. Die Verbindung zwischen Marienfrömmigkeit und Schutzengel-Verehrung ist zwar vielfach belegt, auch im Blick auf Kinder; die Congregatio angelica der Salzburger Marienbruderschaft war sogar ausdrücklich Kindern vorbehalten. Dennoch ist eine über das Spirituelle hinausreichende Bedeutung der Schutzengel-Darstellung unwahrscheinlich, zumal die hochkomplizierte, virtuose Musik selbst in eine ganz andere Richtung weist. Auch kann es sich bei diesem Schluss nicht um einen Ersatz für die Doxologie handeln, weil gerade dies sich aus einer Schutzengel-Darstellung nicht ableiten ließe. Ein anderer Aspekt ist dabei bedeutsam. Anders als bei einem Bildzyklus, der den Rosenkranz als Ganzes ins Bewusstsein rufen soll, bleibt die Musik an zeitliche Verlaufsform gebunden. Die Gesamtanlage von Bibers Werk lässt zweifellos einen Zyklus erkennen, doch die simultane Gegenwärtigkeit aller Geheimnisse war der Gebetspraxis fremd. So stehen die 16 Werke mit dieser Praxis in einer nur mittelbaren Beziehung, was ihre Einschätzung als ‚Andachtsmusik‘ ebenfalls problematisch macht; die erstaunliche zeitliche Ausdehnung der Stücke steht dem ebenfalls entgegen wie die komplizierte Skordatur-Praxis. Es erscheint demnach unwahrscheinlich, dass die sakralen Werke in einem wie immer definierten sakralen, paraliturgischen Kontext aufgeführt worden sind. Weiterhin ist unklar, ob der Komponist mit einer (teil-)zyklischen Aufführung rechnete. Umso dringlicher stellt sich die Frage nach dem Anliegen der Sammlung.

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Bibers „Rosenkranzsonaten“

Emblematische Denkform Die Verbindung von einem Bild, das durch das zugehörige Mysterium einen Titel trägt, und der entsprechenden Musik verweist auf einen Kontext, der für die „Rosenkranzsonaten“ erst einmal und auch vergleichsweise unspezifisch erwogen worden ist, den der Emblematik.14 Ein Emblem besteht in der Regel aus drei Teilen, von denen einer der bildlichen Darstellung vorbehalten bleibt: Lemma, Icon, Epigramm, oder, in der Theorie des 16. und 17. Jahrhunderts eher ungebräuchlich, aber von Albrecht Schöne in der Forschung etabliert, inscriptio, pictura und subscriptio.15 Es erscheint für die folgenden Überlegungen sinnvoll, sich nochmals der Funktion der drei Teile zu vergewissern. Die inscriptio eröffnet das Emblem und liefert „in der Regel eine kurzgefaßte Überschrift […], die nicht selten antike Autoren, Bibelverse oder Sprichwörter zitiert.“16 Die inscriptio muss nicht selbständig stehen, sie kann auch in das Bild integriert sein, etwa als Rahmen oder Schriftband. Das Bild darunter ist, da das Emblem zunächst ein Druckerzeugnis war, in der Regel ein Holzschnitt oder Kupferstich. Zwar waren den Themen der Embleme praktisch keinerlei Grenzen gesetzt, wie der böhmische Jesuit Bohuslaus Balbinus (1621–1688) in einem erstmals 1687 erschienen Lehrbuch vermerkt hat: „Nulla res est sub sole quae materiam Emblemati dare non possit.“17 Doch der Darstellungsmodus war davon unberührt. Zudem stand der Rätselcharakter der Darstellung selbst stets im Zentrum, also die pointierte, zugespitzte Deutung eines Motivs, das in der Wirklichkeit nicht anzutreffen war. Die subscriptio dient folglich der Auf lösung des in inscriptio und pictura aufgefalteten Rätsels, in einer inhaltlich nicht konzisen Weise, wohl aber in gebundener Sprache. Diese „emblematische Grundform“18 ist im 17. Jahrhundert vielfach verändert worden. So konnte die subscriptio umfangreich werden, auch die gebundene Sprache verlieren, sogar den Charakter von Predigten und Abhandlungen annehmen. Sie konnte zuweilen ganz wegfallen, was für die emblematischen Bildzyklen an Wänden oder Decken von entscheidender Bedeutung ist. Oder es konnte das Bild ganz ohne Text übrigbleiben, dem dann, vor allem aufgrund der verrätselten Darstellung, zugetraut wurde, aus sich heraus zu wirken. Entscheidend ist der 14 Albrecht Juergens, „Heinrich Ignaz Franz Bibers ‚Mysteriensonaten‘ von 1674“, in: Polyvalenz und Multifunktionalität der Emblematik, hg. von Wolfgang Harms und Dietmar Peil, Frankfurt a. M. 2002, 775–789. 15 Vgl. nach wie vor Peter Maurice Daly, Emblem Theory. Recent German Contributions to the Charactarization of the Emblem Genre, Nendeln 1979 (= Wolfenbütteler Forschungen 9), sowie die neuere Übersicht bei Karl E. Enenkel, The Invention of the Emblem Book and the Transmission of Knowledge, c. 1510–1610, Leiden 2018 (= Brill’s Studies on Art, Art History, and Intellectual History 292). 16 Albrecht Schöne, Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, München ²1968, 19. 17 Bohuslaus Balbinus, Versimilia humaniorum disciplinarium seu iudicium privatum de omni litterarum […] artifico, Augsburg 1710, 234. 18 Schöne, Emblematik, 19.

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Umstand, dass der 1531 durch Andrea Alciati fixierte Typus des Emblems sich in vielfältigen Facetten zu einer übergreifenden Denkform wandeln konnte, die in sehr unterschiedlichen Kontexten auf sehr unterschiedliche Weise zu funktionieren vermochte.19 Vor diesem Hintergrund ist auch die ‚Ersetzung‘ einzelner Bestandteile dieser eigentlich der Kombination von Wort und Bild vorbehaltenen Denkform möglich. Kurzum, es scheint, zumindest auf den ersten Blick, plausibel zu sein, den Darstellungsmodus von Bibers „Rosenkranzsonaten“ aus dem Emblematischen abzuleiten. So wäre die inscriptio der ersten Sonate das erste ‚Mysterium‘ mit dem Hinweis auf die Verkündigung, die pictura der eingeklebte Kupferstich – und das danach folgende Musikstück die subscriptio, die nun nicht mehr aus Worten, sondern aus Tönen besteht. Dass die inscriptio nicht mehr ausdrücklich präsent ist, sondern allein implizit, durch den Kontext des Bildes, steht einer solchen Lesart allerdings entgegen. Diese naheliegende Deutung provoziert jedoch zwei grundsätzliche Fragen. Die erste betrifft die immanente Ebene, die zweite die kontextuelle. Denn träfe die Interpretation auf diese vordergründige Weise zu, so stellt sich die Frage, welche ‚deutende‘ Funktion der Musik eigentlich zukommt. Selbstverständlich stehen die Sonaten offenbar in einem komplexen Verhältnis zum jeweiligen Mysterium, also zur jeweiligen Darstellung. Zwei sehr anschauliche Beispiele mögen dies verdeutlichen. Die Aria Tubicinum in C-Dur, die nach einer Intrada in der zwölften Sonate folgt, ist zweifellos ein Triumphstück nach der Auferstehung und Himmelfahrt Christi, zugleich vielleicht auch ein Hinweis auf das Jüngste Gericht. Das ist bemerkenswert deswegen, weil auf dem Kupferstich davon nichts zu sehen ist. Oder es ist der Beginn der 13. Sonate mit dem langen Orgelpunkt und dem auskomponierten Crescendo eine Anspielung auf das Brausen, in dem sich der Heilige Geist ankündigt, der im 13. Mysterium beschworen wird. Immerhin wird auf diese Weise der assoziative Kommentarcharakter sehr deutlich. Doch ist eine derartige kommentierend-assoziative ‚Abbildchkeit‘ gerade nicht die Aufgabe einer subscriptio, denn in ihr sollte es eigentlich darum gehen, ein Spannungsverhältnis aufzulösen. Ein solches Spannungsverhältnis existiert jedoch nicht, weil Bild und entsprechende Station aus dem Marienleben sich nicht spannungsvoll verhalten. Daraus resultiert die zweite grundsätzliche Frage. Der Charakter eines Emblems liegt zweifellos in der Pointierung, in der Verrätselung. Aber genau diese Funktion erfüllen die Sonaten Bibers nicht. Die Überschriften entstammen den Rosenkranzgeheimnissen, und die Darstellungen der geläufigen christlichen Ikonographie. Dass auch die Verrätselung heilgeschichtlicher Tatsachen möglich war, hat Jacques Callot wohl schon 1626 bewiesen, als er eine Reihe von 27 Radierungen veröffentlichte, in denen das Leben Mariae nicht abschil19 Dazu schon Dietrich Walter Jöns, Das ‚Sinnen-Bild‘. Studien zur allegorischen Bildlichkeit bei Andreas Gryphius, Stuttgart 1966, 29.

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dernd, sondern ausdrücklich in emblematischen Rätseln dargestellt wurde. 20 Am ehesten emblematischen Charakter trägt bei Biber das nachgeschobene Schlussbild mit dem Schutzengel, der einen Knaben führt. Dieses Motiv weist immerhin Entsprechungen zu emblematischen Darstellungen auf. Will man also Bibers „Rosenkranzsonaten“ emblematisch deuten, so erfüllen sie auf den ersten Blick einen zentralen Anspruch nicht: den der Verrätselung. Implizite Überschrift und Bild verweisen eindeutig auf eine Tatsache aus der Heilsgeschichte und können daher zunächst nicht als Emblem gelten. Nun allerdings kommt der Musik eine zentrale Bedeutung zu. Die gelegentlich zu beobachtenden programmatischen Elemente dienen offenbar nicht dazu, einen Teil des Heilsgeschehens einfach darzustellen. Vielmehr sind sie Indizien, Hinweise auf den Kontext, in dem das Instrumentalwerk steht, mehr nicht. Darin unterscheiden sie sich fundamental von Werken wie Johann Kuhnaus „Biblischen Sonaten“, in denen es, wie der Titel explizit besagt, um die Musicalische Vorstellung einiger Biblischer Historien geht. 21 In Bibers Sonaten geht es offenbar nicht um Schilderungen oder Abbildlichkeiten, die Musik steht offenbar in einem vielschichtigeren Verhältnis zum Gebetstext, auf den sie sich bezieht. Damit allerdings verkehrt sich, unter den Auspizien der Musik, ein zentraler Darstellungsmodus von Emblematik. Im Mittelpunkt steht nicht ein rätselhaftes Bild, das mit Hilfe von inscriptio und subscriptio zu einem vielschichtigen Bedeutungszusammenhang ‚aufgelöst‘ wird. Vielmehr ist das eigentlich ‚Rätselhafte‘ an diesen Emblemen die Musik selbst, die nun, mit Hilfe von Überschrift und Marienszene, gleichsam aufgelöst wird, also ihre eigentliche, ihre wesensmäßige Bedeutung erhält. In Bibers „Rosenkranzsonaten“ verschiebt sich also das Verrätselt-Bedeutungsvolle vom Bild auf die Musik, während es dem sprachlichen Anteil und der Konkretion des Dargestellten vorbehalten bleibt, Bedeutung zu konkretisieren. Wie ein emblematisches Bild, das zur Not auch ohne Text zu wirken vermag, weil sich der Kontext beim Anschauen erschließt, vermag auch eine Biber’sche Sonate ohne das Bild zu ‚funktionieren‘, da die Szene eben nicht einer ‚Auf lösung‘ bedarf. Diese Verschiebung mag erstaunlich erscheinen, sie ist aber vielleicht den Salzburger Umständen geschuldet – verstand sich die dortige Benediktiner-Universität doch gerade nicht als Institution jesuitischer Dogmatik, in der allerdings die Emblematik eine bedeutende, auch didaktische Rolle spielte. Von lehramtlichen Implikationen ist Bibers Musik jedoch vollständig frei. Die „Rosenkranzsonaten“ sind demnach emblematische Ref lexionen über das Marienleben, in denen das Rätselhafte nicht dem Bild, sondern der Musik vorbehalten ist. In den Werken soll sich das Geheimnis, das Mysterium, gleichsam 20 Jacques Callot, Vita Beatae Mariae Virginis Matris Dei emblematicus delineate [ca. 1626], Paris 1646. 21 Johann Kuhnau, Musicalische Vorstellung einiger Biblischer Historien. In sechs Sonaten auff dem Claviere zu spielen, Leipzig 1700.

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vergegenständlichen, mitteilbar machen. Nicht zufällig verweist Biber in seiner Widmungsvorrede auf harmonikal-hermetische Deutungsmöglichkeiten ‚seiner‘ Musik: die mit vier Saiten bespannte Geige sei in fünfzehnfachem Wechsel gestimmt, sodass diese verschiedenen Stimmungen gleichsam alle Seinsweisen der Geheimnisse, der Mysterien offenbar werden lassen. Gerade vor diesem Hintergrund erhält die Passacaglia ihren eigentlichen, abschließenden Sinn, unterstellt sie doch die musikalische Kunst insgesamt dem göttlichen Ratschluss – in der Form des Schutzengels. Bibers Sonaten entsprechen folglich der emblematischen Denkform, um der vermeintlich aporetischen Instrumentalmusik nachvollziehbar Bedeutung zu verleihen, um ihr ‚Rätsel‘ jenseits der Affektsprache aufzulösen, sie also an den Mysterien der Heilsgeschichte partizipieren zu lassen. Gerade dies verweist aber auf eine Programmatik, die wohl mit dem Auftraggeber zu tun hat. Indem Instrumentalmusik an den spirituellen ‚Geheimnissen‘ partizipiert, legitimiert sie sich auf eine vollständig andere Weise als etwa in der norditalienischen Anbindung an den Affektbegriff. Akzeptiert man also die These, Bibers Sonaten seien wesentlich durch die emblematische Denkform bestimmt, dann weist der Zyklus weit über den spirituellen Kontext hinaus: als Ref lexion über einen vollkommen anderen Begründungszusammenhang von Instrumentalmusik überhaupt.

Anhang Nummer Tonart

Satzfolge

Stimmung

I

D

Praeludium – Variatio/Aria Allegro/Adagio – Finale

g–d–a–e

II

A

Sonata – Allamande – Presto

a–e–a–e

III

h

Sonata – Courente/Double – Adagio

h–fis–h–d

IV

D

Ciacona [-Adagio-Presto-Adagio]

a–d–a–d

V

A

Praeludium – Allamande – Guigue – Sarabande/Double

a–e–a–cis

VI

c

Lamento

as–es–g–d

VII

F

Allemanda/Variatio – Sarabande/Variatio

c–f–a–c

VIII

B

Sonata (Adagio-Presto) – Guigue/Double [Presto – 2]

d–f–b–d

IX

A

Sonata – Courente/Double – Finale

c–e–a–e

X

g

Praeludium – Aria/Variatio

h–d–a–d

XI

G

Sonata – Surrexit Christus hodie – Adagio

g–d–g–d

XII

C

Intrada – Aria Tubicinum – Allemanda – Courante/Double

c–e–g–c

XIII

d

Sonata – Gavott – Gigue – Sarabanda

a–e–cis–e

XIV

D

[–]/Grave/Adagio – Aria – Aria – Guigue

a–e–a–d

XV

C

Sonata – Aria – Canzon – Sarabanda

g–c–g–d

XVI

g

Passagaglia [Violino solo]

g–d–a–e

Tabelle 1: Heinrich Ignaz Franz Biber, „Rosenkranzsonaten“, Übersicht.

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Bibers „Rosenkranzsonaten“ In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti. Amen Credo in unum Deum, patrem omnipotentem… Gloria patri, et Filio, et Spiritui Sancto. Sicut erat in principio et nunc, et semper, et in saecula saeculorum. Amen. Ave Maria 1 Ave Maria gratia plena, Dominus tecum, benedicta tu in mulieribus Et benedictus fructus ventris tui, Jesus, qui adaugeat nobis f idem. Sancta Maria, Mater Dei, ora pro nobis peccatoribus nunc et in hora mortis nostrae. Amen Ave Maria 2 Jesus, qui corroboret nobis spem. Ave Maria 3 Jesus, qui perf iciat in nobis caritatem. Rosarium gaudiosum

Rosarium dolorosum

Rosarium gloriosum

(De tempore natalico)

(De tempore paschalis)

(De tempore)

II/1

III/1

II/2

III/2

II/3

III/3

II/4

III/4

II/5

III/5

Pater noster I Ave Maria I/1 (Jesus, qui – Mysterium I/1) Ave Maria I/2–I/10 (ohne Mysterium) Gloria patri Pater noster II Ave Maria II/1 – Mysterium I/2 Ave Maria II/2–II/10 Gloria patri Pater noster III Ave Maria III/1 – Mysterium I/3 Ave Maria III/2–10 Gloria patri Pater noster IV Ave Maria IV/1 – Mysterium I/4 Ave Maria IV/2–10 Gloria patri Pater noster V Ave Maria V/1 – Mysterium I/5 Ave Maria V/2–10 Gloria patri Tabelle 2: Rosarium. Mysteria: I Verkündigung – Maria bei Elisabeth – Geburt – Darbringung – Jesus im Tempel II Jesus schwitzt Blut – Geißelung – Dornenkrönung – Kreuztragung – Kreuzigung III Auferstehung – Himmelfahrt – Pfingsten – Mariä Himmelfahrt – Mariä Krönung

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Nummer

Tonart

Besonderheit

Mysterium

Praeludium

Verkündigung

Freudenreicher Rosenkranz I

D

II

A

Gang zu Elisabeth

III

h

Geburt Jesu

IV

D

Ciacona

Darbringung im Tempel

V

A

Praeludium

Jesus im Tempel

Lamento

Jesus schwitzt Blut

Schmerzhafter Rosenkranz VI

c

VII

F

Geißelung

VIII

B

Dornenkrönung

IX

A

Kreuztragung

X

g

Praeludium

Kreuzigung

Glorreicher Rosenkranz XI

G

Surexit Christus hodie

Auferstehung

XII

C

Aria Tubicinam

Himmelfahrt

XIII

d

Pfingsten

XIV

D

Aufnahme Mariens in den Himmel

XV

C

Canzon

g

Passacaglia

Krönung Mariens

Schutzengel XVI

Tabelle 3: Heinrich Ignaz Franz von Biber, „Rosenkranzsonaten“, Übersicht (Zuordnungen zu den Geheimnissen).

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Bibers „Rosenkranzsonaten“

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Rainer J. Schwob

Mozarts Lieder – stilbildende Gelegenheitswerke? Rainer J. Schwob

„freündstücke“ Was ist bei Mozart eigentlich ein „Gelegenheitswerk“? Verglichen mit Franz Schubert, Robert Schumann oder Hugo Wolf ist Wolfgang Amadeus Mozarts Liedschaffen nicht sehr umfangreich. Dennoch wirkt es etwas überraschend, wie wenig sich Sänger*innen und vor allem Musik­ wissenschaftler*innen mit Mozarts Liedern beschäftigen – frappierend angesichts des Hypes, in dessen Rahmen jedes seiner Werke zelebriert und seziert wird. Ursache dürfte die etwas unklare Stellung der Lieder innerhalb von Mozarts Œuvre sein. Denn obwohl er von seinem zwölften Lebensjahr bis zum Jahr seines Todes Lieder schrieb, erlangten sie für ihn – entsprechend der Sichtweise seiner Epoche – offenbar nie den Stellenwert anderer Gattungen wie die Oper, das Klavierkonzert, das Streichquartett oder die Sonate für Klavier und Violine. Sein konstantes Interesse an der Sammlung geeigneter Liedtexte1 und drei ‚Schübe‘ an Liedern 1785, 1787 und 1791 deuten allerdings darauf hin, dass Mozart die Gattung nicht gering schätzte und Pläne zu ihrer Aufwertung verfolgte. In Werkführern, Lexikonartikeln und Überblicksdarstellungen wird nahezu unisono erläutert, Mozarts Lieder seien ‚Gelegenheitskompositionen‘. Schon 1799, als die erste umfassende Ausgabe seiner Liedkompositionen erschien, sprach der Rezensent der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung von „Gelegenheitsund Gefälligkeitsstücke[n]“, 2 und Ernst August Ballin bemerkt im Vorwort des Lieder-Bands der Neuen Mozart-Ausgabe, Mozart habe sich „zumeist wohl nur auf einen äußeren Anlaß hin zur Komposition eines Liedes entschlossen.“ 3 Arnold Werner-Jensen schreibt in seinem Mozart-Musikführer, „Mozarts Klavierlieder“ hätten „alle den Charakter liebenswürdiger Gelegenheits- und Gebrauchsmusik, angeregt jeweils durch private oder auch offiziellere Anlässe mehr als durch Aufträge, schnell und f lüchtig.“4 Mit einem differenzierteren Vokabular notiert 1 2 3 4

Zu Mozarts Lyrik-Sammlungen vgl. Ernst August Ballin, „Zum vorliegenden Band“, in: Wolfgang Amadeus Mozart, Lieder, hg. von Ernst August Ballin, Kassel 1963 (= Neue Ausgabe sämtlicher Werke 3/8) (im Folgenden NMA), VII–XVI, hier VII. Anonymus, „XXX Gesänge mit Begleitung des Pianoforte, von W. A. Mozart“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 2/5, 30. Oktober 1800, 87–89, hier 87. Vgl. Ballin, „Zum vorliegenden Band“, VII. Arnold Werner-Jensen, Wolfgang Amadeus Mozart. Musikführer, Bd. 2: Vokalmusik [1990], Leipzig 2001, 60.

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Mozarts Lieder – stilbildende Gelegenheitswerke?

Peter Revers in einem 2005 erschienenen Lexikonartikel über Mozarts Lieder: „Etliche sind zweifellos Gelegenheitsarbeiten, persönliche Dankadressen oder Freundesgaben.“5 Die Aussage trifft für die meisten Lieder zu und ist doch irreführend – vor allem wenn mitschwingt, sie seien ‚bloß‘ oder ‚nur‘ Gelegenheitskompositionen, die er für irgendwelche Bekannten geschrieben habe. Denn genau genommen sind alle Kompositionen Mozarts Gelegenheitskompositionen. Ein Beispiel: Die zwei französischen Arietten Oiseaux, si tous le ans KV 307 und Dans un bois solitaire KV 308 schrieb Mozart 1777 und 1778 in Mannheim für Auguste (Gustl) Wendling, die Tochter des Flötisten Johann Baptist und der Sängerin Dorothea Wendling – sie sind also typische ‚Gelegenheitswerke‘. Die Klaviersonate in C-Dur KV 309 komponierte Mozart ebenfalls in Mannheim für Rose Cannabich, die Tochter des Komponisten Christian Cannabich – offenbar eine vergleichbare Situation, nur wird dieses Werk normalerweise nicht als Gelegenheitswerk abgetan. Unbestritten ist die erwähnte Klaviersonate ein wichtiges Werk; die Unterschiede im Ansehen und vielleicht auch im Stellenwert der Kompositionen liegen also weniger im Anlass als in der Komposition und Rezeption begründet. Auch der (beispielsweise im zuvor zitierten Musikführer verwendete) Begriff der „Gebrauchsmusik“ ist für die Mozart-Zeit nicht wirklich nützlich, da er für mehr oder weniger jedes Musikstück von der Kleinen Nachtmusik KV 525 bis zum Requiem KV 626 zutrifft; das Gegenteil wäre ‚unbrauchbare‘ oder ‚funktionslose Musik‘. Wohl keine einzige Komposition hat Mozart allein aus innerem Antrieb oder ausschließlich aus einer höheren Überzeugung ihrer Notwendigkeit verfasst: Für fast jedes näher erforschte Werk lässt sich entweder ein*e Auftraggeber*in, ein*e Widmungsträger*in oder eine konkrete Aufführungssituation finden. Auch die letzten drei Sinfonien schrieb er (anders als gelegentlich dargestellt) nicht als Vermächtnis an die Nachwelt oder abstrakte Denkmäler für die Ewigkeit: Ihre Uraufführung zu seinen Lebzeiten in Prag oder Wien ist wahrscheinlich und in einigen Fällen auch belegt.6 5 6

Peter Revers, „Lieder mit Klavier- und Mandolinenbegleitung“, in: Das Mozart-Lexikon, hg. von Gernot Gruber und Joachim Brügge, Laaber 2005 (= Das Mozart-Handbuch 6), 386–390, hier 387. Zu den möglichen Absichten und ‚Strategien‘ Mozarts vgl. Peter Gülke, „Triumph der neuen Tonkunst“. Mozarts späte Sinfonien und ihr Umfeld, Kassel und Stuttgart 1998, 1. Die „Prager Sinfonie“ KV 504 wurde am 19. Januar 1787 in Prag (ur-)aufgeführt und eine ‚neue‘ Sinfonie (vermutlich KV 543, KV 550 oder KV 551) am 15. Oktober 1790 in Frankfurt am Main gespielt; vgl. Ludwig Ritter von Köchel, Chronologisch-thematisches Verzeichnis sämtlicher Tonwerke Wolfgang Amadé Mozarts […], hg. von Franz Giegling, Alexander Weinmann und Gerd Sievers, Wiesbaden 61964 (im Folgenden KV6), 562 (Eintrag zu KV 504); László Somfai, „Vorwort“, Abschnitt „Sinfonie in D KV 504 (‚Prager Sinfonie‘)“, in: Wolfgang Amadeus Mozart, Orchesterwerke, Werkgruppe 11: Sinfonien, hg. von Friedrich Schnapp und László Somfai, Bd. 8, Kassel 1971 (= NMA IV/11,8), IX–XIII, hier IX; H. C. Robbins Landon, „Zum vorliegenden

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Rainer J. Schwob

Gleichwohl Mozart ebenso wie viele andere Komponisten aus seinem Wiener Umfeld Verlagswesen und Notenhandel mit deren mehr oder weniger anonymen Konsument*innen als Einkommensmöglichkeit nützte,7 kam es seiner Inspiration vermutlich sehr zugute, wenn er eine konkrete Sängerin, einen bestimmten Klarinettisten, ein reales Akademie-Publikum vor Augen hatte. Diese Bindung zeigt zugleich seine lebendige Verwurzelung in der Rhetorik im Sinne der Kunst, wie eine Person in einer bestimmten Situation ihr Publikum von einer Sache überzeugen kann. Schon zu Mozarts Lebzeiten oder zumindest bald nach seinem Tod erwiesen sich einige seiner für konkrete Zwecke entstandenen Werke als dauerhaft aufführbar bzw. verkäuf lich und legten damit den Grundstein für seine spätere Rolle als nie veraltender ‚Klassiker‘; frühe Beispiele dafür wären die Klavierkonzerte,8 die Entführung aus dem Serail,9 Don Giovanni, die Zauberf löte, La Clemenza di Tito Band“, in: NMA, Bd. 4/11,9, VII–XII, hier VII. Die Sinfonie in g-Moll KV 550 wurde offenbar bei Baron van Swieten in Wien gespielt, wobei Mozart dem Zeugnis des Prager Musikers Johann Wenzel zufolge wegen unrichtiger Ausführung während der Aufführung das Zimmer verlassen habe (Milada Jonášová, „Eine Aufführung der g-Moll-Sinfonie KV 550 bei Baron van Swieten im Beisein Mozarts“, in: Mozart Studien 20, hg. von Manfred Hermann Schmid, Tutzing 2011, 253–268, bes. 262 und 268). 7 Beispielsweise für Variationszyklen und Sonaten für Klavier, Kammermusik und Klavierkonzerte. Neben eigentlichen Drucken kamen auch kommerzielle Abschriften in Frage: In dieser Form bot er beispielsweise die Klavierkonzerte KV 414 (385p), KV 413 (387a) und KV 415 (387b), die er offenbar eigens für diese Vertriebsform verfasst hatte, in der Wiener Zeitung vom 15. Januar 1783, [13], an. Vgl. auch Wolfgang Amadé Mozart, Brief an Leopold Mozart in Salzburg, Wien, 4. Januar 1783 und 22. Januar 1783, in: Mozart Briefe und Dokumente, hg. von der Stiftung Mozarteum Salzburg, Online-Edition, http://dme.mozarteum.at/briefe/ (3.2.2019) (im Folgenden MBuD; zitiert wird jeweils die „Lesefassung“). Die meisten Klavierkonzerte der Wiener Zeit sind aber für eine bestimmte Schülerin oder für den Eigengebrauch verfasst und wurden erst in ‚Zweitverwertung‘ gedruckt. 8 Von Mozarts 21 Konzerten für ein Klavier und Orchester (gezählt ohne die „Pasticcio-Konzerte“ KV 37, KV 39–41, KV 107) erschienen sieben zu seinen Lebzeiten im Druck, vier im Jahr nach seinem Tod (1792), fünf weitere bis 1799 und nochmals fünf zwischen 1800 und 1804, womit alle eigentlichen Solo-Klavierkonzerte im Druck vorlagen (vgl. die entsprechenden Einträge im KV6). Es mangelt auch nicht an Berichten über Aufführungen außerhalb von Wien; vgl. Rainer J. Schwob (Hg.), W. A. Mozart im Spiegel des Musikjournalismus, Edition, Deutschsprachiger Raum, 1782–1800, Stuttgart 2015 (= Beiträge zur Mozart-Dokumentation 1), Online-Edition auf http://dme. mozarteum.at/mozart-rezeption (3.2.2019). Zu Mozarts Instrumentalmusik im Druck vor 1800 vgl. auch Gernot Gruber, „Mozarts Nachwelt“, in: Mozarts Welt und Nachwelt, hg. von Claudia Maria Knispel und Gernot Gruber, Laaber 2009 (= Das Mozart-Handbuch 5), 249–512, hier 271–273. 9 Die Entführung etablierte sich schon in den 1780er Jahren fest in den deutschen Theaterkalendern; vgl. zahlreiche Korrespondentenberichte (über Werkregister / Suchfunktion) in Schwob (Hg.), Mozart im Spiegel des Musikjournalismus. Dieses Werk war nach Goethes Angaben auch die Ursache, weshalb er im November 1787 eigene Singspiel-Pläne (mit Philipp Christoph Kayser als Komponisten) aufgab: „Die ‚Entführung aus dem Serail‘ schlug alles nieder“ ( Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise, zit. nach: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. von Erich Trunz, Bd. 11, Hamburg 1950 [= Autobiographische Schriften 3], 437).

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Mozarts Lieder – stilbildende Gelegenheitswerke?

und schließlich das Requiem.10 Einen anderen Teil seines Schaffens, die kleinen, scheinbar unwichtigen Stücke, erklärte man zu Gelegenheitswerken – und verwendete dabei ein Wort, das im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend einen negativen Beigeschmack erhielt. Vielleicht wäre der von Mozart einmal selbst verwendete Ausdruck „freündstücke“11 für die kleinen Stücke zutreffender; als Fachterminus für ein gewidmetes Musikstück darf man ihn allerdings nicht verstehen, da Mozart ihn ansonsten ohne konkreten Werkbezug in der Bedeutung des heutigen „Freundschaftsdienstes“ verwendet.12 Für Mozart ist die ‚Gelegenheit‘ noch eine künstlerische Chance. Seine Messen, seine Kammermusik und selbst seine Sinfonik nehmen Bezug auf bestimmte Aufführende oder eine konkrete Aufführungssituation. Dies gilt auch beispielsweise für die Klavierkonzerte zum Eigengebrauch in Akademien13 und vermutlich auch für diejenigen Klavierkonzerte und Klaviersonaten, die für Schülerinnen bestimmt oder ihnen gewidmet waren.14 Seine Opern waren Auftragswerke, bei denen das Ensemble oft schon feststand, als das Sujet noch nicht gewählt und das Libretto nicht begonnen war. Auch beim Figaro, der – wenn man da Pontes Memoiren Glauben schenkt15 – ohne Auftrag begonnen wurde, standen bei der Komposition sicher10 Stellvertretend für die anderen genannten Vokalwerke sei hier Clemenza di Tito KV 621 genannt, scheinbar ein schnell hingeworfenes Auftragswerk in einer veralteten Gattung, das aber – anders als im gängigen Vorurteil – um 1800 auf Opernbühnen und in Konzertsälen außerordentlich erfolgreich war, vgl. Beate Hiltner, La clemenza di Tito von Wolfgang Amadé Mozart im Spiegel der musikalischen Fachpresse zwischen 1800 und 1850: Rezeptionsgeschichtliche Untersuchungen unter besonderer Berücksichtigung der Wiener Quellen und Verhältnisse, Frankfurt a. M. 1994; Sergio Durante, „Mozarts La clemenza di Tito und der deutsche Nationalgedanke: Ein Beitrag zur Titus-Rezeption im 19. Jahrhundert“, in: Die Musikforschung 53/4 (2000), 389–400; Hans Joachim Fritz, Mozarts La Clemenza di Tito. Die Geschichte einer Oper, Köln 2013, 298–305; Rainer J. Schwob, „La indistruttibilità di Tito: Zur Geschichte einer oft totgesagten Krönungsoper“, in: PLUS Kultur. Atelier-Gespräche III, hg. von Sabine CoelschFoisner, Salzburg 2015, 174–179, 345–346 (Anmerkungen), hier 177–178. 11 Im Brief an seinen Vater in Salzburg (Paris, 9. Juli 1778) schreibt Mozart betreffend die Ballettmusik zur Pantomime Les petits riens (KV 299b = Anh. 10) für den Ballettmeister Noverre, „ich will aber izt absoulement nichts machen, wenn ich nicht voraus weis was ich dafür bekomme – denn dies war nur ein freündstück für Noverre.“ (Zit. nach MBuD.) Vgl. auch Ballin, „Zum vorliegenden Band“, VII. 12 Beispiele: Wolfgang Amadeus Mozart, Brief an den Vater in Salzburg, Mannheim, 27. und 28. Dezember 1777; Brief an Maria Anna (Nannerl) Mozart in Salzburg, Wien, 19. September 1781, beide in: MBuD. Vgl. auch Leopold Mozart, Brief an Maria Anna Mozart in Salzburg, Rom, 27. Juni 1770; ders., Brief an Breitkopf & Sohn in Leipzig, Salzburg, 13. Dezember 1776, beide in: MBuD; ders., Brief an Lorenz Hagenauer in Salzburg, Wien, 6. November 1762, in: Wolfgang Amadeus Mozart, Briefe und Aufzeichnungen, Gesamtausgabe, hg. von Wilhelm A. Bauer, Otto Erich Deutsch und Joseph Heinz Eibl, 7 Bde., Kassel 1962–75 (im Folgenden MBA), Bd. 1, 58 (Nr. 40) (noch nicht in MBuD). 13 Vgl. Gülke, „Triumph der neuen Tonkunst“, 54–55. 14 Beispielsweise die für Barbara Ployer geschriebenen Klavierkonzerte in Es-Dur KV 449 und in G-Dur KV 453 (vgl. die entsprechenden Einträge im KV6). 15 Vgl. Lorenzo Da Ponte, Geschichte meines Lebens. Mozarts Librettist erinnert sich, hg. von Charlotte Birnbaum, Frankfurt a. M. 2005, 120–122.

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lich die Sänger*innen der Hofoper als Besetzung sowie Joseph II., sein Hofstaat und die Wiener Oberschicht als Publikum vor Mozarts geistigem Auge. Interessanterweise hat dieses Verfahren, extrem personalisiert und adressiert zu komponieren, der allgemeinen Brauchbarkeit seiner Werke nicht geschadet. Schon zu Lebzeiten, zumindest aber postum kam mit dem Notendruck Mozarts enormer Erfolg. Dass Mozart beispielsweise die Arien seiner Opern für bestimmte Sänger*innen mit ihm bekannten spezifischen Eigenschaften geschrieben hat,16 macht diese Musikstücke für andere Ausführende nicht ungeeignet, sondern höchstens zu einer größeren Herausforderung. Weil Mozart beim Komponieren in der Regel konkrete Ausführende oder Zuhörer*innen vor Augen hatte, ist sein Verhältnis zum Notendruck und -handel von besonderem Interesse, schließlich musste hier ein anonymes Massenpublikum bedient werden. Bei einigen Klavierstücken ist der Druck für Mozart offenbar nur die Zweitverwertung; andererseits gibt es zahlreiche Klavierwerke17 sowie kammermusikalisch besetzte Werke,18 die so kurz nach der Entstehung gedruckt wurden, dass man von Kompositionen für die Druckpresse sprechen kann – Auftraggeber ist in diesem Fall oft der Verleger. Es kann nicht ausgeschlossen, aber ebenso wenig bewiesen werden, dass Mozart auch diese Werke zunächst im Freundeskreis uraufführte bzw. uraufführen ließ oder trotz der Bestimmung für den Druck beim Komponieren an konkrete Aufführende gedacht hat.

Mozart und die Gattung „Lied“: Für bestimmte Personen oder für den Druck? Wie eingangs diskutiert, wurden und werden Mozarts Lieder gerne als „Gelegenheitswerke“ bezeichnet. Umso mehr überrascht der nähere Befund: Bei keinem einzigen Lied ist ein Widmungsträger angegeben, weder im Autograph noch im eigenhändigen Werkverzeichnis, das die meisten Lieder enthält. 16 Dass Mozart Rezitative und Tonartendispositionen frühzeitig vorbereitete, Arien aber erst nach Kennenlernen der Sänger*innen schrieb oder zumindest für diese umgearbeitete, ist wegen der brieflichen Dokumentation besonders gut bei den Opere serie Mitridate, Lucio Silla und Idomeneo zu verfolgen. Beispielsweise berichtet Leopold Mozart im Brief an seine Frau in Salzburg (Mailand, 24. November 1770), Wolfgang wolle „folglich lieber seine [des Primo uomo] Gegenwart erwarten, um das Kleid recht an den Leib zu messen.“ Betreffend Lucio Silla meldet Leopold Mozart seiner Frau (Mailand, 5. Dezember 1772), es sei „beÿ diesen Umständen, da die Prima Donna gestern erst ankahm, der Tenor aber noch nicht bekannt ist, […] leicht zu erachten, daß noch das meiste und Hauptsächlichste der opera nicht Componiert ist.“ Am 15. November 1780 berichtet Wolfgang seinem Vater aus München über die Anpassung der Arien an das singende Personal des Idomeneo, alle in: MBuD. 17 Vgl. etwa die bei Hoffmeister erschienenen Klavierwerke KV 485, 500, 501 (vierhändig), 511 und 540. 18 Vgl. etwa die bei Hoffmeister erschienenen kammermusikalischen Werke KV 478, 481, 496, 499, 526, 533 und 546.

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Auch das Köchelverzeichnis in seinen verschiedenen Auf lagen und die Einleitung zur Edition der Lieder in der Neuen Mozart-Ausgabe geben bei den in der Wiener Zeit entstandenen Liedern keine Entstehungsumstände oder Informationen zur Uraufführung und zu den beteiligten Personen an. Ausnahmen sind nur Das Traumbild KV 530, Als Luise die Briefe ihres ungetreuen Liebhabers verbrannte KV 520 sowie schließlich die für eine Freimaurerzeremonie im Jahre 1785 bestimmte Gesellenreise KV 468. Anders als bei vielen Konzertarien lassen sich also die adressierten Personen nur gelegentlich und aus dem Kontext erschließen. Das ist verblüffend, da wir ansonsten über Mozarts Leben – zumindest auf Reisen und in seiner Wiener Zeit – ausgesprochen detailliert informiert sind. Es ist bekannt, dass Mozart ständig auf der Suche nach für Vertonungen geeigneten Texten war; neben Opernsujets und Libretti interessierte er sich auch für Lyrik, und zwar sicher hauptsächlich wegen der Möglichkeit, diese zu vertonen.19 Sollte er ausgerechnet die Lieder ganz gegen seine sonstige Gewohnheit ohne konkreten Anlass, sozusagen auf Vorrat oder für die Nachwelt komponiert haben? Bei seiner üblichen Arbeitsmethode und angesichts seiner ständigen Arbeitsbelastung ist dies kaum vorstellbar. Auch die Werke selbst klingen nicht nach bezugslosem Idealismus: Gerade die dramaturgische Gestaltung einiger Lieder wie zum Beispiel Als Luise die Briefe ihres ungetreuen Liebhabers verbrannte KV 520 legt nahe, dass Mozart sich wie bei seinen Opern eine bestimmte Besetzung vorgestellt hat. Wie eingangs erwähnt, erstreckt sich Mozarts Liedschaffen über fast sein ganzes Leben. Allerdings zeigt die Chronologie mehrere Schwerpunkte, insbesondere die drei ‚Cluster‘ 1785, 1787 und 1791, in denen die meisten und auch die bekanntesten Mozart-Lieder entstanden sind. 20 Zwischen diesen Verdichtungspunkten liegen oft Monate oder Jahre ohne Gattungsbeiträge: Das Lied war offenkundig keine künstlerische Leitgattung Mozarts (wie Oper, Klavierkonzert, Streichquartett, ev. Sinfonie). Auch die Idee, wie später Ludwig van Beethoven oder Franz Schubert ganze ‚Liederzyklen‘ (mit entweder einer geschlossenen Textsammlung oder einer geschlossenen Gestalt der Vertonung) zu schaffen, hat Mozart nicht verfolgt. Dennoch scheint Mozart das Potential der Gattung Lied erkannt und in einigen wenigen Liedern bewusst vorangetrieben zu haben. Dafür spricht beispielsweise, dass er – ähnlich wie bereits für einige Klavier- und Kammermusikwerke skizziert – einige Lieder bald nach der Entstehung in Druck gegeben und möglicherweise direkt für den Druck komponiert hat. Zumindest diese Werke entsprechen also nicht der Definition für „Gelegenheitswerke“. 19 Vgl. NMA, Bd. 3/8, VII. Zu zeitgenössischer Lyrik in Mozarts Bibliothek vgl. Ulrich Konrad / Martin Staehelin, allzeit ein buch. Die Bibliothek Wolfgang Amadeus Mozarts, Weinheim 1991 (= Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek 66), Einleitung 11–29, und Katalog, vor allem 130– 145. 20 Vgl. auch die Übersicht in NMA, Bd. 3/8, IX.

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Unser Augenmerk fällt besonders auf vier Lieder, die in einem kurzen Zeitraum – am 23. und 26. Mai sowie am 24. Juni 1787 – entstanden sind: das Lied der Trennung KV 519, Als Luise die Briefe ihres ungetreuen Liebhabers verbrannte KV 520, Abendempfindung KV 523 und An Chloe KV 524. Aus dieser ‚Sammlung‘ veröffentlichte Artaria 1789 zwei Drucke mit je zwei Liedern; doch auffälligerweise wird dort KV 520 durch das zwei Jahre ältere Veilchen KV 576 ersetzt. Die Musikalische Real-Zeitung aus Speyer bringt eine hymnische Rezension dieser beiden Lieder und druckt das Veilchen in der beiliegenden Anthologie ab. 21 Die Entscheidung, die Zusammenstellung der Kompositionen zu ändern, ist irritierend, da das Lied der Trennung offenbar in einem inhaltlichen Zusammenhang mit dem unmittelbar darauf komponierten Lied Als Luise die Briefe ihres ungetreuen Liebhabers verbrannte steht: Obwohl die Texte von verschiedenen Autoren stammen (von Klamer Eberhard Karl Schmidt und von Gabriele von Baumberg) und höchst unterschiedlich sind, geht es in beiden um eine verlassene Luise. Die beiden Kompositionen nehmen keinen offenkundigen musikalischen Bezug aufeinander, stellen aber ein charakteristisches Kontrastpaar dar. Peter Schleuning spricht – mit Fragezeichen – von „Trennungsschmerz männlich und weiblich“. 22 Dieses Paar wäre für eine gemeinsame Veröffentlichung weit besser geeignet gewesen als die Kombination des Lieds der Trennung mit dem Veilchen – nur dachte Mozart beim Publizieren offenbar weniger zyklisch als beim Komponieren. Und möglicherweise konnte er die beiden Lieder nicht mehr im Druck kombinieren, weil er die Luise bereits zuvor an Gottfried von Jacquin abgetreten hatte.

Gottfried von Jacquin als ‚Komponist‘ von Mozart-Liedern Gottfried von Jacquin war der ältere Sohn von Nikolaus Joseph Freiherr von Jacquin (1727–1817), einem aus Leiden stammenden Arzt, Physiker und Botaniker, der im Jahr 1752 nach Wien kam und hier sein Medizinstudium abschloss. 1754 bis 1759 leitete er eine abenteuerliche Expedition in die Karibik zur Sammlung seltener Mineralien, Pf lanzen und Tiere; 1768 übernahm er die Professur für Botanik an der Universität Wien sowie die Leitung des Botanischen Gartens. 23 Die Familie wohnte (zumindest im Winter) im Direktorenhaus des Botanischen 21 Z., „Zwei (zwo) deutsche Arien zum Singen beim Klvier in Musik gesezt von Herrn Kapellmeister W. A. Mozart“, in: Musikalische Real-Zeitung [Bossler] 3/1, 6. Januar 1790, 1, nach Schwob (Hg.), Mozart im Spiegel des Musikjournalismus, Bd. 1, Nr. 57. 22 Peter Schleuning, „Trennungsschmerzen männlich und weiblich: Mozarts Lieder KV 519 und 520“, in: Frauen- und Männerbilder in der Musik: Festschrift für Eva Rieger zum 60. Geburtstag, hg. von Freia Hoffmann, Jane Bowers und Ruth Heckmann, Oldenburg 2000, 55–68. 23 Vgl. Helmut Dolezal, „Jacquin, Nikolaus Joseph Freiherr von“, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 10 (1974), 257–259, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118556452.html (3.1.2019). Zur Familie Jacquin vgl. auch Hedwig Kraus, „W. A. Mozart und die Familie Jacquin“, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 15/4 (1933), 155–168.

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Gartens;24 zwei Kilometer entfernt, in der Landstraßer Hauptstraße 224, lebten im Sommer 1787 die Mozarts. 25 Nikolaus Joseph von Jacquins jüngerer Sohn Joseph Franz (1766–1839) trat als Botaniker in die Fußstapfen des Vaters, veröffentlichte schon mit zwölf Jahren seine erste wissenschaftliche Studie (die Entdeckung und Beschreibung einer lebend gebärenden Eidechse) und übernahm 1797 die Professur des Vaters. 26 Als sich Mozart und seine Frau Constanze 1787 auf der Reise nach Prag Spitznamen für ihre Freunde ausdachten, nannten sie ihn „Blatteririzi“. 27 Seine Schwester Franziska von Jacquin war eine begabte Pianistin und Klavierschülerin Mozarts, der für sie unter anderem die vierhändige Klaviersonate KV 521 und das sogenannte „Kegelstatt-Trio“ KV 498 komponierte. 28 Am interessantesten ist aber die Freundschaft Mozarts zu Emilian Gottfried von Jacquin (1767–1792), dem älteren Sohn von Nikolaus Joseph. Gottfried interessierte sich offenbar weniger für die Pf lanzenwelt als sein Vater und Bruder, aber umso mehr für das weibliche Geschlecht, worauf Mozart in einem Brief anspielt. 29 Er war schöngeistig veranlagt, musikalisch interessiert und dürfte ein passabler Bass gewesen sein. Von ihm sind einige Kompositionen erhalten, insbesondere Lieder, die verschiedenen Frauen gewidmet sind. Er starb nur wenige Wochen nach Mozart. 30 Die beiden waren nahe befreundet, wie einige persönlich gehaltene Briefe Mozarts belegen. Dass Mozart Gottfried in Komposition unterrichtet hätte, ist nicht bezeugt. Allerdings gibt es einige Werke, die unter dem Namen beider Komponisten überliefert sind: Abgesehen von Liedern, auf die noch näher eingegangen wird, betrifft dies vor allem die Notturni KV 346 und KV 436–43931 sowie die 24 Vgl. die von Mozart bei Briefen an Nikolaus und Gottfried von Jacquin verwendete Adresse, z. B. aus Wien nach dem 8. Juli 1786, aus Prag am 15. Oktober 1787 oder aus Prag am 4. November 1787. 25 Heute Hausnummer 75–77; vgl. Otto Erich Deutsch (Hg.), Mozart. Die Dokumente seines Lebens, Kassel 1961 (= NMA X/34), 256. 26 Vgl. Helmut Dolezal, „Jacquin, Joseph Franz Freiherr von“, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 10 (1974), 257, https://www.deutsche-biographie.de/pnd117050199.html (03.02.2018). 27 Mozart, Brief an Gottfried von Jacquin in Wien, Prag, 15. Januar 1787, in: MBuD. 28 Vgl. auch Kraus, „W. A. Mozart und die Familie Jacquin“, 159–160. 29 „um 6 uhr fuhr ich mit grafen Canal auf den sogenannten breitfeldischen ball, wo sich der kern der Prager schönheiten zu versammeln pflegt. – das wäre so was für sie gewesen mein freund! – ich meyne ich sehe sie all den Schönen Mädchens, und Weibern nach – – laufen glauben sie? - Nein, nachhinken!“ (Brief an Gottfried von Jacquin in Wien, Prag, 15. Januar 1787, zit. nach MBuD). 30 Vgl. Christian Fastl, „Jacquin (Familie)“, in: Mozart-Lexikon, hg. von Gruber und Brügge, 286– 287, hier 286. 31 Bei den Notturni geht Constanze Mozart (bzw. Georg Nikolaus von Nissen, in dessen Handschrift der Brief verfasst ist) in einem Brief an Johann Anton André in Offenbach (Wien, 31. Mai 1800) offenbar von hoher handschriftlicher Verbreitung und einer gemischten Urheberschaft aus: „Partitur von 3 bassethörnern 5. Nummern. Die Singstimmen, die von Jacquin sind, dieser Not-

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Bass-Arie KV 621a. 32 Mozart dürfte sie seinem Freund sozusagen zur Verfügung gestellt haben, sodass sie (auch) als Werke Gottfried von Jacquins bekannt wurden. Mit Blick auf stilistische Merkmale der Lieder Mozarts und Jacquins hat Stefan Kunze 1967 nicht nur die Autorschaft Mozarts an der Arie KV 621a wahrscheinlich gemacht, sondern auch die stilistischen Unterschiede zwischen beiden Autoren dargestellt. 33 Dass die Werke eines wenig geübten Gelegenheitskomponisten und eines der bekanntesten Komponisten aller Zeiten nicht mit letzter Sicherheit auseinandergehalten werden können, mag mit der in dieser Zeit gewissermaßen minimalistischen Gattung des Liedes zusammenhängen. Noch zu Lebzeiten beider erschien ein erster Druck mit Liedern Gottfried von Jacquins, unter denen ein Lied – Als Luise die Briefe ihres ungetreuen Liebhabers verbrannte – die erwähnte Vertonung Mozarts ist. Dieser Druck ist leider nicht erhalten, allerdings gibt es ein Manuskript mit Werken Jacquins, in dem sich als fünftes Lied die Luise findet. 34 Das Werk stammt zweifellos nicht von Jacquin, sondern von Mozart, wie das ebenfalls erhaltene Autograph Mozarts beweist. 35 Postum (etwa im Jahr 1803) erschien ein weiterer Druck mit Liedern Jacquins, wiederum mit einem unzweifelhaft von Mozart stammendem Werk: dem Traumbild KV 530. Mozart hatte das Traumbild im November 1787 in Prag komponiert und von dort unverzüglich an Gottfried von Jacquin übersandt. In diesem Fall sind Druck, Brief und Mozart-Autograph erhalten. 36

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turni hat Traeg und Jedermann. Ich glaube aber nicht, daß sie heraus sind“, in: MBA, Bd. 4, 356 (Nr. 1299) (noch nicht in MBuD). Betreffend die Bass-Arie Io ti lasco, o cara, addio KV 621a schreibt Constanze in einem Brief an Breitkopf und Härtel in Leipzig (Wien, 25. Mai 1799), sie sei ein Werk Gottfried von Jacquins, bei dem Mozart nur die Violinstimmen ausgesetzt habe, und der Text sei „himmelweit von Mozarts handschrift verschieden“; vgl. MBA, Bd. 4, 239 (Nr. 1243) (noch nicht in MBuD). Doch zeigt das erhaltene Teilautograph durchwegs Mozarts Handschrift (vgl. den entsprechenden Eintrag im KV6). Vgl. Stefan Kunze: „Die Arie KV 621a von W. A. Mozart und Emilian Gottfried von Jacquin. Satztechnik und Gattung in den Liedern Mozarts und seiner Zeit“, in: Mozart-Jahrbuch 1967, Kassel 1967, 205–228. Laut KV6 befindet sich im Istituto musicale di Firenze ( jetzt Biblioteca del Conservatorio Luigi Cherubini, Florenz) unter der Signatur 601 ein handschriftliches Liederheft (17 Seiten), enthaltend „Lieder in Musik gesetzt von Emil Gottfr. v. Jacquin“; unter den sechs Liedern ist das fünfte Als Luise die Briefe ihres ungetreuen Liebhabers verbrannte. Leider konnte diese Quelle für die vorliegende Studie nicht eingesehen werden. A-Sm (Salzburg, Internationale Stiftung Mozarteum) Autogr 520, RISM ID no. 659100153, https://opac.rism.info (3.2.2019). Vgl. auch Wolfgang Amadé Mozart, Als Luise die Briefe ihres ungetreuen Liebhabers verbrannte, „Erzeugt von heißer Phantasie“ […] [Faksimile], hg. von Johanna Senigl, Salzburg 2004. Dazu schreibt Constanze Mozart (Nissens Handschrift) im Brief an Breitkopf und Härtel in Leipzig (Wien, 27. März 1799): „In Ansehung obiger Lieder muß ich Ihnen zu Ihrer und des Publicums Nachricht sagen, daß die beyden: Erzeugt von heisser Phantasie, und Wo bist du, bild etc. hier, und also wahrscheinlich auch an andern Orten, für die Arbeit des hier verstorbenen Emil

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Gottfried von Jacquin spielt auch eine Hauptrolle im „Bandel“-Terzett KV 441 („Liebes Manndel, wo ist’s Bandel?“), einer komischen Szene, die Mozart zu eigenen Versen im Wiener Dialekt geschrieben hat und die offenbar eine ‚Gelegenheitskomposition‘ im eigentlichen Wortsinn darstellt. Anstatt einer Besetzung wie „Sopran, Tenor und Bass“ sind in der Partitur, ganz wie in einer Oper, die handelnden Personen „Constanze“, „Mozart“ und „Jacquin“ angegeben. 37 Mozart selbst ‚exportierte‘ diese kleine Szene nach Prag, wie ein Wortspiel Mozarts in einem Brief aus Prag an Gottfried von Jacquin zeigt. 38 Sie wurde 1795, also schon wenige Jahre nach dem Tod beider, erstmals gedruckt und erfreut sich bis heute großer Beliebtheit. Zwar handelt es sich hier streng genommen nicht um ein ‚Lied‘, aber dieses Terzett zeigt exemplarisch einen der Freundeskreise Mozarts, in denen seine Lieder uraufgeführt worden sein könnten. Die Quellenlage zur Luise und zum Traumbild lässt vermuten, dass Mozart zwischen ‚Gelegenheit‘ und Komposition für den Druck nicht immer scharf trennte; dies ist besonders dort irritierend, wo wir eine ‚Gelegenheit‘ vermuten, sie aber nicht kennen. Für einen großen Teil der Lieder, auch noch in der späten Wiener Zeit, dürfte die Charakterisierung ‚Gelegenheitswerke‘ auf die eine oder andere Weise zutreffen. Mozarts Hauptwerke in dieser Gattung – wie die erwähnten Lieder KV 576, 519, 520, 523, 524 und 530 – sind jedoch nicht zufällige Genieleistungen am Rande seiner eigentlichen Kerngattungen, sondern bewusste Akzente auf dem Weg zum Kunstlied des 19. Jahrhunderts, den Mozart selber nicht mehr mitgestalten sollte.

Mozarts Freunde allerorten: Freunde-Netzwerk statt Freundeskreis Die starke Bindung an Adressaten, seien es Aufführende oder Zuhörende, macht Mozart zu einem extrem kommunikativen Komponisten. Der Versuch, seine Freunde zu katalogisieren, wird rasch unübersichtlich, da offenbar Hunderte dazu zählten. Einerseits behauptete nach dem Mozart-Boom um 1800 jeder, Gotfried Edlen v. Jacquin, eines genauen Freundes meines Mannes, passiren. Die Originalpartituren aber zeigen Ihnen, daß sie von meinem Manne selbst sind; auf der einen steht sogar von seiner Hand, daß sie in Jacquins behausung auf der Landstrasse (einer hiesigen Vorstadt) gemacht ist“ (zit. nach MBA, Bd. 4, 234 [Nr. 1240]). 37 Vgl. Faksimile in NMA, Bd. 3/9, XV. 38 Mozart, Brief an Gottfried von Jacquin, Prag, 15. Januar 1787: „[…] und da ich eben an diesem tage ein ganz gutes Pianoforte in mein zimmer bekommen habe, so können sie sich leicht vorstellen daß ich es den abend nicht so unbenüzt und ungespielt werde gelassen haben; es giebt sich Ja von selbst daß wir ein kleines Quatuor in Caritatis camera |: und das schöne bandel Hammera :| unter uns werden gemacht haben, und auf diese art der ganze abend abermal sine Linea wird verloren gegangen seÿn; und gerade so war es.“ (Zit. nach MBuD.)

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der ihn einmal gesehen hatte, sein Freund und Vertrauter gewesen zu sein – wie beispielsweise der berühmte Redakteur der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung, Johann Friedrich Rochlitz. 39 Andererseits ist der Begriff des ‚Freundes‘ zur Mozart-Zeit sehr offen und beschreibt eine Art persönliches Netzwerk kommunizierender und gegebenenfalls einander helfender Personen40 – sozusagen ein ‚social network‘ des 18. Jahrhunderts. Mozart hatte keinen festen ‚Freundeskreis‘ wie Schubert,41 sondern Freunde an jeder Hausecke und vor allem an jeder Reisedestination; einige kannten sich untereinander, andere auch nicht. Sie hatten auch nur geringes Bedürfnis, sich untereinander kennen zu lernen. Er hatte keine integrative Wirkung auf seine Freunde. Um mit Mozart befreundet zu sein, musste man kein Musiker sein. Hier sei aber eine kleine Auswahl von ‚Freunden‘, die selber musizierten oder komponierten, genannt. Außer Gottfried von Jacquin und seiner Schwester Franziska zählen hierzu beispielsweise: −− in der Salzburger Zeit Michael Haydn, den Mozart trotz einer gewissen Konkurrenzsituation hoch schätze und dessen Werke ihm häufig als stilistische und formale Muster dienten; −− 1770 in Florenz Thomas Linley der Jüngere, ein Altersgenosse und hochbegabter englischer Komponist, der schon mit 22 Jahren starb; −− 1778 in Mannheim (der schon erwähnte) Christian Cannabich, Komponist und Konzertmeister des berühmten Mannheimer Orchesters; −− in Wien natürlich Joseph Haydn; außerdem der von Mozart sehr geschätzte Kontrapunktiker und Theoretiker Johann Georg Albrechtsberger, später Lehrer von Beethoven; der hervorragende Amateurmusiker August Graf von Hatzfeld, den Mozart bei dessen unerwartetem Tod in einem Brief an Leopold Mozart seinen „liebsten besten Freund“ nennt;42 Franz Anton Hoffmeister, Komponist und einer der wichtigsten Musikverleger Mozarts; der Klarinettist und Komponist für Eigenbedarf Anton Paul Stadler, für den Mozart eine ganze Reihe von Werken komponierte;

39 Vgl. Ulrich Konrad, „Friedrich Rochlitz und die Entstehung des Mozart-Bildes um 1800“, in: Mozart. Aspekte des 19. Jahrhunderts, hg. von Hermann Jung, Mannheim 1995 (= Mannheimer Hochschulschriften 1), 1–22. 40 Vgl. „Der Freund“ in: Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart […], Bd. 2, Leipzig 1796, 283–284, bes. die 5. Bedeutung. 41 Auch im Falle Schuberts werden üblicherweise mehrere „Freundeskreise“ unterschieden, zumindest zwei: der „Linzer“ Kreis um Anton Spaun und der „Wiener“ Kreis um Franz von Schober (Walter Dürr / Arnold Feil, Franz Schubert Musikführer [1991], Leipzig 2001, 10–13). 42 Mozart, Brief an Leopold Mozart in Salzburg, Wien, 4. April 1787, wörtlich im Genetiv „beÿ gelegenheit des traurigen Todfalles Meines liebsten besten Freundes grafen von Hatzfeld“ (zit. nach MBuD).

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−− in Prag der Komponist Franz Xaver Duschek (Dussek) und seine Frau, die Sängerin Franziska Josepha, für die Mozart mehrere Konzertarien schrieb;43 außerdem der Musikdirektor Johann Joseph Strobach; −− 1789 in Leipzig der dortige Musikdirektor Carl Immanuel Engel, in dessen Stammbuch Mozart die Kleine Gigue KV 574 hinterließ. In derartigen Kreisen müssen wir uns wohl auch die Uraufführungen der Lieder denken.

Mozarts reale und ideelle Schüler: Nachwirkungen seines Liedschaffens Noch schwieriger als der Begriff der ‚Freunde‘ ist bei Mozart die Definition der ‚Schüler‘. Mozart hatte eine ganze Reihe gut bezahlender Klavierschülerinnen, unterrichtete aber in einigen Fällen auch Komposition. In Paris war die Tochter des Herzogs von Guines Mozarts „Scolarin in Composition“, auch wenn Lehrer wie Schülerin an ihrem „genie zur Composition“ zweifelten, wie Mozart dem Vater berichtet.44 Unklar ist, ob Fürst Karl von Lichnowsky und dessen Bruder Graf Moritz von Lichnowsky als Mozart-Schüler bezeichnet werden können,45 da ein eigentlicher Unterricht nicht bezeugt ist. Johann Nepomuk Hummel kam als Kind für zwei Jahre in den Mozart’schen Haushalt und fungierte dort als aufmerksamer Beobachter und ‚Vorspieler‘ am Klavier; es ist unklar, wie weit er in dieser Zeit regelmäßigen Unterricht in Klavier oder gar Komposition erhalten hätte.46 Ein besonders bekannter Schüler und Mitarbeiter Mozarts ist Franz Xaver Süßmayr, aber auch hier wissen wir über den Unterricht nur, dass er 1790 bis 1791 stattgefunden haben dürfte. Aufschlussreicher sind die drei Fälle, in denen Unterrichtsmaterialien erhalten sind, namentlich aus dem Unterricht von Barbara Ployer (ab 1784), Thomas Attwood (1785–87) und Franz Jakob Freystädtler (1786–87).47 Um das LehrerSchüler-Verhältnis zu verstehen, ist ein kurzer Blick auf Mozarts Unterrichts43 Ah, lo previdi / Ah, t’invola agl’occhi miei KV 272 (Salzburg 1777) sowie Bella mia fiamma, addio / Resta, o cara KV 528 (Prag 1787); vgl. die entsprechenden Einträge im KV6. 44 Maria Anna Mozart, Brief an Leopold Mozart in Salzburg, Paris, 14. Mai 1778, Nachschrift W. A. Mozarts, in: MBuD. Vgl. auch Dieter Torkewitz, „Komponieren im Dialog. Zu Wolfgang Amadeus Mozarts Kompositionsunterricht“, in: Im Schatten des Kunstwerks. Komponisten als Theoretiker in Wien vom 17. bis Anfang 19. Jahrhundert, Bd. 1: Komponisten als Theoretiker in Wien vom 17. bis Anfang 19. Jahrhundert, Wien 2012, 193–240, hier bes. 195–197. 45 Vgl. Christian Fastl, „Lichnowsky von Woszcyc, Karl Alois Johann Nepomuk Vinzenz Leonhard“, in: Mozart-Lexikon, hg. von Gruber und Brügge, 386. 46 Vgl. Rainer J. Schwob, „Hummel, Johann Nepomuk“, in: Mozart-Lexikon, hg. von Gruber und Brügge, 272–273, hier 272. 47 Michael Polth, „Mozart als Kompositionslehrer“, in: ebd., 472–474.

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methode erforderlich. Sie ist, ähnlich wie sein Konzept der ‚Freundschaft‘, sehr kommunikativ.48 Die Attwood-Studien und das Übungsmaterial von Barbara Ployer zeigen einen sehr ‚untheoretischen‘ Zugang zum Unterrichten. Mozart macht sich Gedanken über seine jeweilige Schülerin oder seinen Schüler, gibt eine konkrete Aufgabe vor, korrigiert die Lösung, macht Verbesserungsvorschläge, sodass letztlich eine Übungskomposition aus Beiträgen beider Seiten entsteht – Dieter Torkewitz spricht zutreffend von „Komponieren im Dialog“.49 Die Schüler*innen lernen so weder nach einer (beim Erscheinen bereits veralteten) gedruckten Kompositionslehre, noch werden sie darauf getrimmt, den Stil ihres Lehrers zu imitieren, sondern sie entwickeln in der Zusammenarbeit mit dem Lehrer ihren eigenen Personalstil. Arnold Schönberg ging, trotz aller Forderung nach theoretischem Grundwissen, bei fortgeschrittenen Schüler*innen ähnlich vor. Bei Mozart lassen sich sogar Einf lüsse des Unterrichts auf seine eigenen Kompositionen nachweisen. 50 Sowohl Freystädtler (Spitzname der Mozarts: „Gaulimauli“) als auch Attwood haben sich nach ihrer Ausbildung auch im Komponieren von Liedern versucht. Während Freystädtler als Komponist kaum zu Ruhm und Ehre gelangte und verarmt starb, wurde Attwood in London ein prominenter Komponist unter anderem von Opern, Liedern und Kirchenmusik. Er hielt Mozart zeitlebens in Ehren und unterrichtete selber nach dem Vorbild des Meisters. 51 Attwoods eigene Liedkompositionen auf stilistische Einf lüsse Mozarts hin zu untersuchen, wäre eine faszinierende Aufgabe. Allerdings dienten ihm vermutlich weniger Mozarts Lieder, von denen er vielleicht keine oder nur wenige kannte, als dessen ungleich prominentere Opern- und Konzertarien als stilistisches Vorbild. Da Mozarts Kompositionsunterricht eher sporadisch war – bei allen Qualitäten seiner Methode unterrichtete er nicht gern –, 52 kann man schwerlich von der 48 Vgl. Torkewitz, „Komponieren im Dialog“, etwa 236–237. 49 Vgl. ebd., im Titel und 204. 50 Vgl. MGG-Schriftleitung (Daniel Heartz), „Attwood, Thomas“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, zweite Auflage, hg. von Ludwig Finscher, Personenteil, Bd. 2, Kassel und Stuttgart 1999, Sp. 1126–1129, hier 1128. 51 Vgl. ebd. 52 Vgl. etwa Mozarts Nachschrift zum Brief seiner Mutter an seinen Vater in Salzburg (Mannheim, 7. Februar 1778): „aus gefälligkeit will ich gern lection geben, besonders wenn ich sehe, daß eins genie, freüde, und lust zum lernen hat. aber zu einer gewissen stund in ein haus gehen müssen, oder zu haus auf einem warten müssen, das kann ich nicht, und sollte es mir noch so viell eintragen. das ist mir unmöglich. das lasse ich leüten über, die sonst nichts können, als Clavier spiellen. ich bin ein Componist, und bin zu einem kapellmeister gebohren.“ (Zit. nach MBuD.) In den Wiener Jahren gehörte derartiger Unterricht außer Hauses aber zu seinen regelmäßigen und wichtigsten Einnahmequellen; zu seinen ‚Tarifen‘ siehe die Briefe an Leopold Mozart in Salzburg (Wien, 16. Juni 1781, 23. Januar 1782), in: MBuD; Rainer J. Schwob, „Mozart als Klavierlehrer“, in: Mozart-Lexikon, hg. von Gruber und Brügge, 470–472. In Wien unterrichtete Mozart nicht nur

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Bildung einer ‚Schule‘ wie beispielsweise bei Schönberg ausgehen. Wenn man von einer ‚Mozart-Schule‘ spricht, was zugegebenermaßen sehr selten geschieht, meint man eher Komponisten aus Mozarts Generation und der Generation danach, die sich radikal an ihm orientierten – oft, ohne ihn je persönlich kennengelernt zu haben. Da sich das Mozart-Verständnis schon um 1800 gegenüber seinen Lebzeiten grundlegend verändert hatte, nicht zuletzt durch neue Produktions­bedingungen für Komponisten, kam es dabei naturgemäß zu vielen Missverständnissen. Wichtiger als die kreative ist folglich die ideelle Anregung, die von Mozart auf andere Schaffende ausging. 53 Auch hier waren es wohl eher die Opern und Singspiele als die spärlichen Lieder, die stilistischen Einf luss ausübten. Aber interessanterweise waren zwei der wichtigsten Komponisten, die sich deutlich und bewusst an Mozart orientierten, ausgeprägte Liedkomponisten: Johann Rudolf Zumsteeg und Václav Jan Tomášek. 54 Der Komponist Johann Rudolf Zumsteeg (1760–1802), Zeitgenosse Mozarts und eigentlich ausgebildeter Cellist, kam zu Lebzeiten kaum über seine Heimat Stuttgart hinaus; seine Opern und Lieder fanden aber im ganzen deutschen Sprachraum große Beachtung. Er gilt als einer der wichtigsten Väter des deutschen Kunstlieds und damit als Brücke zu Schubert. Doch wo beginnt diese Brücke? Im Prinzip wurzelt Zumsteeg stilistisch in der Berliner Liederschule, aber auch der Einf luss Mozarts auf sein Werk wird von vielen Forschern betont. 55 Am deutlichsten ist in dieser Frage der Nachruf auf Zumsteeg, der in der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung vom 10. Februar 1802 veröffentlicht wurde und von einem Stilwandel in Zumsteegs Werk spricht: Als Mozart auftrat, und eine ganz neue Bahn in der Tonkunst brach; folgte Z.[umsteeg] dem Riesen mit Begeisterung auf dieser Bahn, sog dessen Musik in Saft und Mark ein, gab einen ziemlichen Theil seiner vormaligen Eigenheiten auf (worin mehr Kunst und ernstes Studium, als gewinnende Popularität und Klavierspiel, sondern vereinzelt auch Musiktheorie und Komposition (vgl. Polth, „Mozart als Kompositionslehrer“). 53 Selbstverständlich gibt es bis heute Komponisten, die sich stark an Mozart orientierten oder dies zumindest vorgaben; man denke nur an die Epoche von Max Reger über Richard Strauss bis Arnold Schönberg und Igor Strawinsky. Schönberg bezeichnete sich wiederholt als (der) „Schüler“ Mozarts (vgl. Matthias Schmidt, Schönberg und Mozart. Aspekte einer Rezeptionsgeschichte, Wien 2004 [= Publikationen der Internationalen Schönberg-Gesellschaft 5], Kapitel „Schönbergs Mozart“, 15–26, hier 15). 54 Unter den zahlreichen unbekannteren Komponisten, die sich an Stil und Werk Mozarts orientierten, seien hier nur Ludwig Berger, Gottlob Bachmann, Eduard Marxsen und Carl Zulehner genannt. 55 Vgl. etwa Gunter Maier, Die Lieder Johann Rudolf Zumsteegs und ihr Verhältnis zu Schubert, Göppingen 1971 (= Göppinger akademische Beiträge 28), 89–90.

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Rainer J. Schwob behältliche Melodie herrschend waren) und sezte nun mehr in der grossen, allbeliebten Mozartschen Manier, wobey er mit seiner gewohnten Gründlichkeit, so viel Anmuth, Melodie und schmelzenden Reiz zu verbinden wusste, dass man bald verschiedene seiner Stücke aller Orten wiederhallen hörte. – Jomelli und Mozart blieben in dieser zweyten Periode seine Hauptmuster und Vorbilder, – die Brennpunkte, aus deren Feuerströmen er seinen Genius tränkte: aber nicht die Formen, sondern den Geist und das ästhetische Wesen dieser grossen Genien fasste er auf, und gab sie in eignen Bildungen wieder. 56

In der Sicht der Zeitgenossen ist Zumsteeg also ein ideeller Schüler Mozarts. Vermutlich dachte der Korrespondent bei Mozarts Vorbildwirkung hauptsächlich an die Zauberf löte und musikdramatische Werke, aber Zumsteeg wird wohl auch die publizierten Lieder Mozarts gekannt haben. Ein weiterer bedeutender Liedkomponist dieser Zeit, der sich Mozart ideell zum Vorbild nahm (und ihn geradezu kultisch verehrte), gehört nun tatsächlich der Schüler-Generation an: Für Václav Jan Tomášek (1774–1850, im deutschsprachigen Raum meist Wenzel Johann Tomaschek genannt) ist Mozart, anders als für Zumsteeg, kein spätes Erlebnis, das zu einem Stilwandel führt, sondern der Ausgangspunkt, an dem er aber nicht haften bleibt. Dennoch ist die stilistische Verwandtschaft auffällig. Was Tomášek von Mozart gelernt haben könnte, ist in erster Linie das Unschematische, die Vielfalt und Abwechslung; ganz konkret vielleicht auch die Durchkomposition am Beispiel der Abendempfindung KV 523. Auch die elegante Ausgestaltung der Gesangsstimme bei einer schlicht gehaltenen und doch belebten Begleitung kennen wir von Mozarts Liedern. Möglicherweise erkannte auch Goethe bewusst oder eher unbewusst die Mozart-Abstammung von Tomášeks Musik, schätzte er doch Tomášeks Vertonungen seiner Lieder ebenso wie Mozarts Werke, obwohl sie vielen Idealen der Berliner Schule zuwiderlaufen. 57

Fazit Die musikhistorische Literatur vermittelt insgesamt den Eindruck, Mozart wäre kein großer Liedkomponist gewesen – eine durchaus einleuchtende Meinung angesichts seiner geringen Anstrengungen, große Kunstfertigkeit in diese Gattung zu investieren. Dabei sollte man aber nicht vergessen, dass er zumindest zwei Lieder – das Veilchen und die Sehnsucht nach dem Frühling KV 596 – geschaffen hat, die 56 [Anonymus], [Nachruf auf Johann Rudolf Zumsteeg], in: Allgemeine musikalische Zeitung 4/20, 10. Februar 1802, 324–328, hier 326. 57 Kenneth DeLong / Adrienne Simpson, „Tomášek, Václav Jan Křtitel [Tomaschek, Wenzel Johann]“ [2001], in: Grove Music Online, https://doi.org/10.1093/gmo/9781561592630.article.28077 (3.2.2019), Abschnitt „2. Works“.

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an weltweiter Bekanntheit vermutlich jedes einzelne Lied von Robert Schumann oder Hugo Wolf in den Schatten stellen. Als Quintessenz kann festgehalten werden, dass Mozarts ‚wichtigere‘ Lieder weder in ihrer Entstehung ungeplant, noch in ihrer Rezeption unbedeutend sind. Obwohl er kaum prominente Kompositionsschüler hatte, entfaltete Mozart über andere Komponisten eine große Wirkung auf die Entwicklung des Kunstlieds um und nach 1800: Über Zumsteeg und Tomášek führt der Weg zu Schubert, in die deutsche Romantik und in die slawischen Nationalschulen. Unter diesem Aspekt sollte man vielleicht die Bedeutung von Mozarts Liedschaffen, obwohl es in Zahlen gering ist und nur wenige ‚Hits‘ umfasst, rezeptionshistorisch neu bewerten.

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Elisabeth Kappel

„Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen“ Körperliche Elemente in Zornarien, betrachtet mit Friedrich von Hausegger Elisabeth Kappel Inwiefern drückt Musik menschliche Gefühle aus? Einen wesentlichen Beitrag zur Rolle des Körpers in der Musik leistete der österreichische Musikwissenschaftler Friedrich von Hausegger (1837–1899) im Jahr 1885 mit seinem Hauptwerk Die Musik als Ausdruck (21887), auf das sich die Ausführungen vorliegenden Beitrages beziehen.1 Hausegger beginnt seine Abhandlung mit der Frage „Was ist das Wesen der Musik?“ und beantwortet sie im letzten Kapitel mit „Das Wesen der Musik ist Ausdruck, geläuterter, zur edelsten Wirkung gesteigerter Ausdruck.“ 2 Im Folgenden werden die wesentlichsten Gedanken seiner These diskutiert. Grundlegend ist die Aussage „Jede Empfindung ist ein Reiz zur Muskelconcentration.“ „Mächtigere Empfindungen“ wie zum Beispiel Liebe oder Zorn führen zu Muskelbewegungen im ganzen Körper; diese Muskelbewegungen sind Ausdrucksgesten, die als Mimik und/oder Gestik erscheinen. 3 Absicht dieser Ausdrucksgesten sei es, Aufmerksamkeit zu erregen, um anderen die eigenen Gemütszustände zu zeigen. Hausegger beruft sich hier auf Charles Darwin, dessen Erkenntnisse aus der Studie Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren (1872; im Original The Expression of the Emotions in Man and Animals, 1872) überhaupt einen wichtigen theoretischen Bezugspunkt seiner Abhandlung bilden: Nach Darwin sind nämlich solche Erscheinungen des Ausdrucks ref lexartig, und auch die Fähigkeit, diese zu erkennen bzw. zu verstehen, ist instinktiv4 – Aus1

Friedrich von Hausegger, Die Musik als Ausdruck, hg. von Elisabeth Kappel / Andreas Dorschel, Wien 2010 (= Studien zur Wertungsforschung 50). Eine Übersetzung von Robert J. Crow ins Englische ist im Herbst 2018 als 60. Band der Studien zur Wertungsforschung erschienen. Hausegger wurde 1837 in Sankt Andrä/Kärnten geboren und lebte ab 1865 in Graz, wo er ab 1869 eine eigene Rechtsanwaltskanzlei betrieb. 1872 erwarb er mit seiner Habilitationsschrift Musik und Sprache die venia legendi für Theorie und Geschichte der Musik. Hausegger war für das Grazer Musikleben von großer Bedeutung: Er schrieb als Musikkritiker für die Grazer Tagespost und das Grazer Tagblatt, gehörte dem Direktorium des Steyermärkischen Musikvereins an (1886–94; heute: Musikverein für Steiermark) und war Gründungsmitglied mehrerer Vereine, zum Beispiel des Grazer Singvereins (1866) und des Grazer Wagnervereins (1873). Darüber hinaus gilt er als Begründer der musikhistorischen Disziplin in Graz. 2 Hausegger, Die Musik als Ausdruck, 17, 136. 3 Ebd., 20–21. 4 Charles Darwin, Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren, aus dem Englischen übersetzt von J. Victor Carus, Stuttgart 1872, 40, zit. nach Hausegger, Musik als Ausdruck, 26.

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drucksgesten sind also unmittelbar verständlich, keine Tätigkeit des Geistes wird erfordert. Diese Feststellung ist für Hausegger entscheidend. Wie erklärt sich Hausegger dieses unbewusste Erkennen und Verstehen von Ausdrucksgesten, also die Entsprechung von Ausdrucksgeste und Gemütszustand? Dazu dient ihm die Idee des ‚physiologischen Mitleids‘, 5 die bei ihm von zentraler Bedeutung für das Beziehungsdreieck Komponist * in/Werk – Interpret * in – Publikum ist. Voraussetzung dafür ist seine Behauptung, dass der Mensch eine „angeborene Aufmerksamkeit“ gegenüber dem Ausdruck anderer Personen habe.6 Wegen dieser angeborenen Aufmerksamkeit rufe das (interessierte) Beobachten einer erregten, ‚sich ausdrückenden‘ Person bei Menschen eine Reaktion hervor – und zwar in der Art, dass sie die Ausdrucksgesten (also die Muskelbewegungen) der beobachteten Person unbewusst nachahmen: Die Bewegungen sind ,ansteckend‘, wie das etwa beim Gähnen der Fall ist. In Hauseggers Vorstellung wirken diese im Zuge einer unwillkürlichen Nachahmung eintretenden Muskelbewegungen auf das Gemüt der Betrachtenden zurück, indem automatisch mit der nachgeahmten Muskelbewegung (Ausdrucksgeste) derselbe Gefühlszustand in der beobachtenden Person erwacht.7 Demzufolge können Menschen solche Erregungszustände auch empfinden, ohne von der auslösenden Ursache betroffen zu sein, etwa durch die „willkürliche Annahme einer bestimmten mimischen Haltung.“ 8 Lautäußerungen – der Ausdruck durch Töne – sind ebenfalls Folgen momentaner Erregungszustände (wie z. B. Schmerzensschrei oder Jubelruf ), sie stehen also ebenfalls in engem Zusammenhang mit „körperlichen Zuständen“ und sind mit Mimik und Gestik Teil des „Gesammtausdruckes“.9 Nach Hausegger führt ein bestimmter Erregungszustand zu einer bestimmten Lautäußerung (vergleichbar mit dem Gesichtsausdruck), d. h. auch Lautäußerungen erlauben Rückschlüsse auf den sie veranlassenden Erregungszustand. Zentral ist in diesem Zusammenhang der sogenannte „Mittelton“10: Der absolute Mittelton ist der der Kehle ei5

Hausegger spricht von „Mitempfinden“ (Die Musik als Ausdruck, 27–29). Möglicherweise übernimmt er den Begriff von Arthur Schopenhauers „Mitleid“ (Die Welt als Wille und Vorstellung, Leipzig 1819), den er namentlich jedoch erst gegen Ende seiner Abhandlung und in anderem Zusammenhang erwähnt. 6 Hausegger, Die Musik als Ausdruck, 28. 7 Ebd., 27–30. Das Übertragungsprinzip der musikalisch dargestellten Affekte auf den Menschen wurde etwa von Athanasius Kircher (Musurgia universalis, Rom 1650) verglichen mit zwei haargenau gleich gestimmten und räumlich nicht zu weit voneinander entfernten Saiteninstrumenten. Wird eine Saite eines Instruments gezupft, erklingt auf dem anderen, unberührt gebliebenen Instrument der vollkommen gleiche Ton (siehe z. B. Liber IX: Magia consoni et dissoni, 210 (Experimentum I); Teil 1, Kapitel 3–5, und Teil 2, Kapitel 7). 8 Hausegger, Die Musik als Ausdruck, 31. 9 Ebd., 20, 52. Hausegger nimmt an, dass die Ausdrucksäußerungen zunächst nur im gemeinsamen Auftreten verstanden wurden. 10 Ebd., 24.

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gene Ton, die Stimme in ihrer am wenigsten modifizierten Form. Jeder Mensch hat einen eigenen Mittelton; zusätzlich hat jeder Erregungszustand einen eigenen Mittelton (relativer Mittelton), der durch die Muskelveränderungen des jeweiligen Affektes entsteht. Verschiedene Tonhöhen ergeben sich durch Abstände vom Mittelton; diese resultieren aus verschiedenen Phasen des jeweiligen Erregungszustandes. Hausegger ist der Überzeugung, dass „ein bestimmter Ton nur einer bestimmten Muskelthätigkeit seinen Ursprung verdanken [kann]“ und daher durch eine Lautäußerung der Erregungszustand direkt erkennbar ist.11 Weiter folgert er: „der Ton der menschlichen Kehle [ist] nicht blos ein Phänomen (ausschließlich als solches hat ihn unsere Aesthetik betrachtet), sondern auch ein Ausdrucksmittel, wie Mimik und Geberdensprache.“12 Hausegger sieht in diesen hörbaren Ausdrucksgesten den Ursprung der Kunst; für ihn liegen also die Anfänge der Musik im menschlichen Körper.13 Wichtig im Zusammenhang mit Hauseggers Auffassung vom Wesen der Musik als Ausdruck von Gemütsbewegungen erscheinen auch seine Ansichten von der Darbietung eines Kunstwerks. Als Aufgabe der Interpret * innen sieht er das Erkennen des Wesens der Musik an – und versteht somit interpretieren im Sinne von ,übersetzen‘, nicht von ,auslegen‘: Vom reproducirenden Künstler verlangt man Congenialität. Ausdruck, Wärme, Empfindung fordern wir von seinen Leistungen. Soll er damit den vorgetragenen Werken Eigenschaften aus dem Seinigen beilegen, die sie sonst nicht hätten? Sicher nicht. Was man vom vortragenden Künstler erwartet, geht eigentlich das Werk selbst an.14

Er verlangt von Interpret * innen, dass sie „das Kunstwerk als Ausdrucksäußerung auffasse[n] und ihm demnach die entsprechende, unser Mitempfinden befriedigende Bewegung verleihe[n].“15 Bei der Erarbeitung des Kunstwerks nehmen diese die Rolle der Ausdruckempfangenden ein, der ‚physiologisch Mitleidenden‘: Was in diesem [im schaffenden Künstler] lebendig war, als er das Kunstwerk schuf, das muß der reproducirende Künstler in sich erwecken. Dem Ersteren

11 Ebd., 35. 12 Ebd. (Hervorhebung im Original). 13 Die Ableitung der Musik aus Naturlauten wird wahrscheinlich bei Johann Nikolaus Forkel (Allgemeine Geschichte der Musik, Bd. 1, Leipzig 1788, 59) zum ersten Mal ausführlich behandelt. Hausegger nennt Forkel in seiner Publikation nicht. 14 Hausegger, Die Musik als Ausdruck, 132. Hausegger ist sich natürlich im Klaren darüber, dass dasselbe Werk bei der Aufführung „Verschiedenheiten unterworfen sein kann, ohne daß darunter sein Hauptcharakter und seine lebendige Wirkung leiden.“ (Ebd., 134–135.) 15 Ebd., 134.

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Körperliche Elemente in Zornarien, betrachtet mit Friedrich von Hausegger [schaffenden Künstler] gegenüber muß er in das Verhältniß des Genießenden, des Mitempfindenden treten.16

Hausegger fordert von den Interpret*innen „wahres Verständniß“, welches dann zustande kommt, wenn das Kunstwerk in allen seinen Einzelheiten in ihm [dem Interpreten] lebendig geworden ist, das heißt: wenn eben der schaffende Geist, dem es entsprungen ist, in ihm wieder schaffend wirkt, so daß sich ihm das Kunstwerk nun wie eine eigene Entäußerung darstellt.17

Dem Publikum gegenüber treten Interpret*innen demnach als schaffende Künstler*innen (als ausdruckgebende Personen) auf. Die Interpret*innen sind für Hausegger somit Repräsentant*innen der Komponist*innen – die „mit Generalvollmacht ausgestattete[n], voll verantwortliche[n] Vertreter“18 – und übernehmen damit eine Mittlerfunktion zwischen Komponist*innen und Publikum: Mithilfe der Interpret*innen soll das Publikum dieselbe Emotion erleben können, die die Komponist*innen beim Komponieren im Sinn hatten.19 Hausegger spielt hier sicher auf Eduard Hanslick (1825–1904) an. Dieser beschreibt in seiner Abhandlung Vom Musikalisch-Schönen die Aufgabe der Interpret*innen bzw. das Verhältnis zwischen Musik und Ausdruck völlig konträr: Er trennt Produktion (Komposition) und Reproduktion bzw. Werk und Interpretation. Dabei gesteht er den Ausführenden, die er als alleinig zuständig für den Ausdruck ansieht, künstlerische Freiheit zu – er verlangt von ihnen, ihre momentanen Empfindungen einf ließen zu lassen und macht deutlich, dass das Kunstwerk an sich seines Erachtens keine „erregende[n] Moment[e]“ beinhalte: Der Act, in welchem die unmittelbare Ausströmung eines Gefühls in Tönen vor sich gehen kann, ist nicht sowohl die Erfindung eines Tonwerkes, als vielmehr die Reproduction desselben. […] Dem Spieler ist es gegönnt, sich des Gefühls, das ihn eben beherrscht, unmittelbar durch sein Instrument zu befreien und in seinem Vortrag das wilde Stürmen, das sehnliche Ausbrennen, die heitere Kraft und Freude seines Innern zu hauchen. Schon das körperlich Innige, das durch meine Fingerspitzen die innere Bebung unvermittelt auf die Saite drückt oder den Bo16 17 18 19

Ebd., 133. Ebd., 135. Ebd., 133. Ebd. Friedrich Theodor Vischer (etwa Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen, Reutlingen und Leipzig 1846) und mehr noch sein Sohn Robert Vischer (Über das optische Formgefühl – ein Beitrag zur Ästhetik, Leipzig 1873, VII) prägten den Begriff der „Einfühlung“, der dann vor allem von Theodor Lipps (Ästhetik: Psychologie des Schönen und der Kunst, 2 Bde., Hamburg 1903 und 1906) weiterentwickelt wurde. Hausegger zitiert zwar Friedrich Theodor Vischer, jedoch in anderem Zusammenhang.

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Elisabeth Kappel gen reißt oder gar im Gesange selbsttönend wird, macht den persönlichsten Erguß der Stimmung im Musiciren recht eigentlich möglich. Eine Subjectivität wird hier unmittelbar in Tönen tönend wirksam, nicht blos stumm in ihnen formend. Der Componist schafft langsam, unterbrochen, der Spieler in einem unauf haltsamen Flug; der Componist für das Bleiben, der Spieler für den erfüllten Augenblick. Das Tonwerk wird geformt, die Aufführung erleben wir. So liegt denn das gefühlsentäußernde und erregende Moment der Musik im Reproductionsact. 20

Für Hanslick ist demnach Ausdruck zweitrangig und nicht substantieller Bestandteil des musikalischen Kunstwerks – dieser kommt erst bei der Aufführung desselben hinzu: als momentane, persönliche Ausdrucksäußerung der Interpret*innen. Bezüglich der Repräsentation von Ausdrucksbewegungen im (musikalischen) Kunstwerk postuliert Hausegger, dass die „Schaffenskraft“ von Komponist*innen „[i]n der Fähigkeit [besteht], sich der Mittel der Kunst in der Art zu bedienen, daß sie als Ausdruck verstanden und durch sie Gemüthszustände auf Andere übertragen werden.“ 21 Wie kann man sich ein solches Kunstwerk vorstellen? Hausegger erläutert in seiner Abhandlung anhand eines Beispiels, der Arie der erzürnten Donna Anna („Or sai, chi l’onore“ [,Jetzt weißt du, wer die Ehre‘]) aus Don Giovanni (UA 1787), auf welche Weise Wolfgang Amadeus Mozart in seiner Musik Gefühle darstellt. 22 Dazu betrachtet er zunächst die Beschreibung der typischen körperlichen Symptome, die im Zustand des Zorns auftreten. Diesbezüglich beruft er sich hauptsächlich auf Johann Jakob Engel und Charles Darwin sowie aktuelle Handbücher zur menschlichen Physiologie. 23 Bei Engel ist zu lesen: Der Zorn rüstet alle äußeren Glieder mit Kraft; vorzüglich aber wafnet er diejenigen, die zum Angreifen, zum Fassen und zum Zerstöhren geschickt sind – alle Bewegungen sind eckig und von der äußersten Heftigkeit; der Schritt ist schwer, gestoßen, erschütternd. – Zorn hat wegen innerlicher Erhitzung nur einen sehr kurzen Athem; aber wie schnell wird dieser Athem, so oft er verhaucht, wieder ersetzt, um die Worte mit eben der Geschwindigkeit hinzuströmen, womit die Seele 20 Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Aesthetik der Tonkunst [1854], Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Dietmar Strauß, Mainz 1990, 109–110 (Hervorhebung im Original). 21 Hausegger, Die Musik als Ausdruck, 111. 22 Ebd., 111–114. 23 Karl Vierordt, Grundriß der Physiologie des Menschen, Tübingen 41871; Hermann von Meyer, Das Herz. Ein populärer Vortrag, Zürich 1880; Alexander Rollett, „Physiol[ogie] des Blutes und der Blutbewegung“, in: Handbuch der Physiologie, Bd. 4, hg. von Ludimar Hermann, Leipzig 1880, 3–340.

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Körperliche Elemente in Zornarien, betrachtet mit Friedrich von Hausegger ihre Gedanken entwickelt. [–] Eben der Zorn, dessen Rede in einem so heftigen, reißenden Strome einherbraust, wie gerne pfeift er in die höheren Töne hinein!24

Darwin schreibt: Unter dem mächtigen Einf lusse dieser Erregung ist die Thätigkeit des Herzens bedeutend beschleunigt oder kann auch sehr gestört sein – die Respiration ist beschwerlich, die Brust hebt sich mühsam, und die erweiterten Nasenf lügel zittern. Häufig zittert der ganze Körper. Die Stimme ist afficirt – das Muskelsystem ist gewöhnlich zu heftiger, beinahe tobsüchtiger Thätigkeit angeregt. Aber die Geberden eines Menschen in diesem Zustande weichen gewöhnlich von den zwecklosen Wendungen und Kämpfen eines vom wüthendsten Schmerz Geplagten ab, denn sie stellen mehr oder weniger deutlich die Handlung des Kämpfens oder Sichherumschlagens mit einem Feinde dar. – Immer ist das Herz und die Circulation afficirt – das Athemholen ist gleicherweise afficirt, die Brust hebt sich schwer, und die erweiterten Nasenlöcher zittern. [–] Das gereizte Gehirn gibt den Muskeln Kraft und gleichzeitig dem Willen Energie. – Zorn und Indignation, diese beiden Seelenzustände, weichen von der Wuth nur dem Grade nach ab. – Im Zustande des mäßigen Zornes ist die Thätigkeit des Herzens ein wenig vermehrt; – auch die Respiration ist ein wenig beschleunigt. 25

Hausegger betrachtet zunächst den Herzschlag. Nach Darwin ist „[i]m Zustande des mäßigen Zornes [...] die Thätigkeit des Herzens ein wenig vermehrt.“ Hausegger nimmt – sich auf zeitgenössische Physiologiebücher beziehend – als Norm 72 Herzschläge pro Minute an und geht davon aus, dass sich die Pulsfrequenz im Erregungszustand des Zorns (wie etwa dem der Donna Anna) auf 120 Schläge in der Minute steigert. Diese 120 Herzschläge pro Minute findet Hausegger in den Viertelnoten: Zwar ist der Arie ein Alla breve-Takt vorgezeichnet; jedoch argumentiert er, dass die Viertelnoten trotzdem sehr hervorstechen, da die zweiten Viertel in der Gesangsstimme häufig besonders betont sind, 26 wie dies unter anderem bereits in jedem zweiten Takt des ersten Motivs, aber dann vor allem in dessen Entwicklung (T. 80–82 bzw. 119–125) sowie in der Schlusssteigerung (T. 125–131) der Fall ist (Bsp. 1). 24 Johann Jakob Engel, Ideen zu einer Mimik, Bd. 1, Berlin 1785, 206–207, 208 (17. Brief ); Bd. 2, Berlin 1786, 84, 86 (33. Brief ), zit. nach Hausegger, Musik als Ausdruck, 111–112. Hausegger hat diese Stellen in seiner Abhandlung zu einem Absatz zusammengefasst. Die Passage „vorzüglich aber wafnet er diejenigen, die zum Angreifen, zum Fassen und zum Zerstöhren geschickt sind“ lautet bei Hausegger gekürzt und etwas geändert „vorzüglich aber waffnet er diejenigen, die zum Zerstören geschickt sind.“ 25 Darwin, Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen, 75, 244, 245, 251, zit. nach Hausegger, Die Musik als Ausdruck, 112. Hausegger hat diese Stellen in seiner Abhandlung zu einem Absatz zusammengefasst. 26 Hausegger, Die Musik als Ausdruck, 113.

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Beispiel 1: Wolfgang Amadeus Mozart, Don Giovanni, Arie „Or sai chi l’onore“, Sopran, T. 71–74; T. 80–86; T. 125–132.

Im Vergleich unterschiedlicher Einspielungen zeigt sich, dass ein Großteil der Interpret*innen offensichtlich ähnlich wie Hausegger empfindet und ein Tempo um 120 bevorzugt. Doch gibt es einige namhafte Ausnahmen: Maria Callas27 und Anna Netrebko28 zum Beispiel singen die Arie beträchtlich langsamer (ca. 100–105 Viertel pro Minute); Montserrat Caballé29 entschied sich mit fast 140 Viertel pro Minute für ein bedeutend schnelleres Tempo. Bezüglich der Atemfrequenz notiert Engel: „Zorn hat […] einen sehr kurzen Athem; aber wie schnell wird dieser Athem […] wieder ersetzt“; bei Darwin steht: „Im Zustande des mäßigen Zornes ist […] auch die Respiration […] ein wenig beschleunigt.“ Abermals findet Hausegger in physiologischen Handbüchern Normwerte für die Atemfrequenz und gibt zwölf Atemzüge pro Minute an. Eine Minute entspricht im angenommenen Tempo von 120 Vierteln pro Minute 30 Takten. In den ersten 30 Takten der Arie (T. 70–99; ab Takt 100 wiederholt sich der Beginn) erfordert die Melodie Hausegger zufolge also 15 Atemzüge (er definiert diese nicht näher, doch sind in den ersten 30 Takten 13 natürliche [Pausen-]Zäsuren in die Singstimme komponiert). Zum Vergleich: In der darauffolgenden Arie „Dalla sua pace la mia depende“ (,Von ihrem Seelenfrieden hängt meiner ab‘) kommt Don Ottavio mit nur acht Atemzügen pro Minute aus.) 27 Mit dem Dirigenten Nicola Rescigno und dem Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire 1964, CD: Maria Callas Remastered: Mozart, Beethoven Weber Arias, Warner Music 0825646340101, 2014. 28 Mit dem Dirigenten Nikolaus Harnoncourt und den Wiener Philharmonikern bei den Salzburger Festspielen 2002, online verfügbar unter https://www.youtube.com/watch?v=6ioFm6eLDk0 (2.2.2019). 29 Mit dem Dirigenten Anton Guadagno und der Orquestra Simfònica del Gran Teatre del Liceu Barcelona 1975, CD: OD 10116-3.

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Körperliche Elemente in Zornarien, betrachtet mit Friedrich von Hausegger

Ergänzend zu Hauseggers Ausführungen lässt sich hinzufügen, dass der Effekt eines aufgeregten, unterbrochen wirkenden Atmens noch durch mehrere Wiederholungen von Textpassagen verstärkt wird: „che il padre, che il padre“ (T. 77–78), „la chiede il tuo cor, la chiede il tuo cor“ (T. 82–85), „coperto, coperto il terreno“ (T. 93) sowie „d’un giusto furor, d’un giusto furor“ (T. 97–100). Ein weiteres physiologisches Symptom des Zorns ortet Darwin im Zittern. Nach Darwin „zittert [im Zustand des Zorns häufig] der ganze Körper.“ Dieses Zittern des Körpers findet seinen Ausdruck in der Begleitung – in den fast durchgehend vorhandenen Sechzehntel-Sextolen (T. 70–83 bzw. 100–113 und 119–134, jeweils mit Unterbrechungen) bzw. den tremoloartigen Sechzehnteln der hohen Streicher (T. 86–93 und 116–118, Bsp. 2).

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1. Violine

Beispiel 2: Wolfgang Amadeus Mozart, Don Giovanni, „Or sai chi l’onore“, 1. Violine, T. 70, 86.

Mit schnellen Repetitionen bzw. mit Tremolo zeigte bereits Claudio Monteverdi (1567–1643) den Zustand des Zorns an. Im Madrigal Il Combattimento di Tancredi e Clorinda (1624) erfolgte vermutlich die erste musikalische Darstellung des Zorns überhaupt, 30 so etwa bei der Vertonung der Verse „(e vansi incontro a passi tardi e lenti) quai due tori gelosi e d’ira ardenti“ (,[Sie treten sich gegenüber, mit schweren und langsamen Schritten,] wie zwei eifersüchtige Stiere, die vom Zorn entzündet sind‘; Bsp. 3). Zu den sichtbaren Ausdruckserscheinungen beim Zorn – Hausegger zählt das Zittern noch zur Übertragung der Bewegung innerer Organe („innerliche körperliche Symptome“) – äußert sich Johann Jakob Engel folgendermaßen: „Der Zorn rüstet alle äußeren Glieder mit Kraft; vorzüglich aber waffnet er diejenigen, die zum Zerstören geschickt sind – alle Bewegungen sind eckig und von der äußersten Heftigkeit; der Schritt ist schwer, gestoßen, erschütternd.“ Hausegger erkennt diese Ausdrucksbewegungen im prägnanten, punktierten Rhythmus der Melodie (vgl. Bsp. 1), in den „hinaufstürzenden“ Zweiunddreißigstel-Triolen von Violoncello und Kontrabass (T. 70–75 bzw. 101–105 – T. 80/81, 82/83, 110/111, 112/113, 119/120 und 121/122; T. 132–134), in den punktierten Noten von 1. Oboe und 1. Fagott (T. 72 und 74 bzw. 102 und 104, Bsp. 4), in den „den schlechten Takttheilen Gewicht verleihenden Noten“ und im „Aufschrei“ der Singstimme auf dem a2 (T. 83–84 bzw. 113–114, vgl. Bsp. 1).31 30 Monteverdi gibt in der Vorrede zu seinem achten Madrigalbuch (Madrigali guerrieri, et amorosi, 1638) an, er habe den stile concitato (,erregter Stil‘) sowie die Repetition auf gleicher Tonhöhe und damit die musikalische Darstellung des Zorns ‚erfunden‘. 31 Hausegger, Die Musik als Ausdruck, 113–114.

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Beispiel 4: Mozart, Don Giovanni, „Or sai chi l’onore“, T. 70–72, T. 81, T. 132 (Vc./Kb.); T. 82 (1. Ob.)

Darüber hinaus schreibt Mozart auch Pizzicato vor, das Monteverdi als weiteres Stilmittel für den stile concitato angibt – im Sinne von Hausegger wäre dies vielleicht als „eckige“, „heftige“ Bewegung des Körpers zu interpretieren. In Bezug auf die Lautäußerungen im Zustand des Zorns notiert Engel: „wie gerne pfeift er [der Zorn] in die höheren Töne hinein.“ Hausegger identifiziert „heftig hervorgestoßene hohe Töne, weite und grelle Tonabstände“ – so umfasst 213

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Körperliche Elemente in Zornarien, betrachtet mit Friedrich von Hausegger

zum Beispiel bereits die erste melodische Phrase der Singstimme eine Oktave (vgl. Bsp. 1). Nur wenn Donna Anna an ihren Vater denkt („che il padre, che il padre mi tolse“ [,der mir meinen Vater genommen hat‘]) ist die Melodik mit vorherrschenden Halbtönen sanfter (T. 77–79 bzw. 107–109, Bsp. 5), und das zornige Zittern der Streicher setzt für wenige Takte aus.

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Beispiel 5: Mozart, Don Giovanni, „Or sai chi l’onore“, Sopran, T. 77–79 (= T. 107–109).

Zu Lautstärke bzw. Dynamik der Arie – diese ist hauptsächlich im piano gehalten und widerspricht somit eigentlich dem gängigen Muster von Zorn bzw. würde daher eher auf Rache hindeuten – äußert sich Hausegger nicht. Auch ist Andante für eine Zornarie eine etwas unübliche Tempobezeichnung, die Hausegger indirekt dadurch erklärt, dass Donna Anna keinen „augenblicklichen Ausbruch“, sondern „edlen Zorne“ in „gemilderter Heftigkeit“ erlebt. 32 Ein oberf lächlicher Blick auf die vielleicht bekannteste (und letzte) Zornarie Mozarts zeigt ähnliche Elemente: In der Arie der Königin der Nacht, „Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen“ aus der Zauberf löte (UA 1791), setzt der Komponist Tremoli bzw. Tonrepetitionen in die Begleitung, sowie extremen Ambitus, große Intervallsprünge und viele Pausen in die Singstimme. Auch in Mozarts erster erhaltener Komposition für Gesang, der Konzert-(Wut-)Arie „Va, dal furor portata“ KV 21 (ca. 1765), ist Tremolo zumindest angedeutet, und in der Singstimme herrschen große Tonabstände sowie große Melodieumfänge vor. Dass sich bereits in einer so frühen Komposition Mozarts dieselben Merkmale finden, bestätigt vielleicht Hauseggers Auffassung, das Werk eines Komponisten wie Mozart sei eine unbewusste Schöpfung: Der Künstler schafft unbewußt, und alle die überraschenden Uebereinstimmungen seines Tongebildes mit in den Ausdrucks-Apparaten herrschenden Bewegungen sind nicht Ergebniß der Beobachtung, sondern Product eines unmittelbaren, in ihm wach gewordenen Dranges nach Ausdruck, welcher alle seine natürlichen Erscheinungen auf die mit der Empfindlichkeit und Beweglichkeit eines Ausdrucksmittels ihm zu Gebote stehende Tonwelt überträgt. 33

Entsprechungen der Komposition mit Ausdrucksgesten wären demnach nicht als Imitation eines sich ausdrückenden Körpers anzusehen, sondern als Produkt der inneren Notwendigkeit, sich selbst auszudrücken. 32 Ebd., 111. 33 Ebd., 114.

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Harald Haslmayr

„Nun wohlan! Es bleibt dabei …“ Zur Rekontextualisierung einiger Walzertakte in der Zauberflöte 1 Harald Haslmayr Am 9. Oktober 1791, also nur wenige Tage nach der Uraufführung am 30. September, schreibt Mozart seiner Frau Constanze nach Baden bei Wien einen – bekanntlich von Georg Nikolaus Nissen post mortem retuschierten – Brief über eine Reprise der Zauberf löte: […] hatten heute eine Loge. – … zeugten über alles recht sehr ihren beifall, aber Er, der allwissende, zeigte so sehr den bayern, daß ich nicht bleiben konnte, oder ich hätte ihn einen Esel heissen müssen; – Unglückseeligerweise war ich eben drinnen als der 2:te Ackt anfieng, folglich bey der feyerlichen Scene. – er belachte alles; anfangs hatte ich gedult genug ihn auf einige Reden aufmerksam machen zu wollen, allein – er belachte alles; – da wards mir nun zu viel – ich hiess ihn Papageno, und gieng fort – ich glaube aber nicht daß es der dalk verstanden hat. […] Nur gieng ich auf das theater bey der Arie des Papageno mit dem GlockenSpiel, weil ich heute so einen trieb fühlte es selbst zu Spielen. – da machte ich nun den Spass, wie Schickaneder einmal eine haltung hat, so machte ich eine Arpegio – der –  – machte erschrack – schauete in die Scene und sah mich – als es das 2:te mal kam ich es nicht – nun hielte er und wollte gar nicht mehr weiter – ich errieth seinen Gedanken und machte wieder einen accord – dann schlug er auf das Glöckchenspiel und sagte halts Maul – alles lachte dann – ich glaube daß viele durch diesen Spass das erstemal erfuhren daß er das Instrument nicht selbst schlägt. 2

Kein schöneres Zeugnis für die wesenhafte Doppeldeutigkeit der Zauberf löte ließe sich denken als diese Charakterisierung aus Mozarts eigener Feder: einem jener Kippbilder gleich, die je nach Blickwinkel entweder die Fratze einer alten Vettel oder aber eine prachtvolle junge Frau zeigt, je nachdem, changiert seine letzte Oper unausgesetzt zwischen Vorstadtposse und Einweihungsmysterium. Eliminiert man die eine Komponente, bricht auch die andere unweigerlich in sich zu1 2

In deutscher Sprache bisher unveröffentlichte Originalfassung des 2016 in polnischer Sprache erschienenen Beitrags in: „Carodziejski Flet“ – Teksti i Konteksty. Studia nad Librettem Opery, Kraków 2016, 215–216. http://dme.mozarteum.at/DME/briefe/letter.php?mid=1766&cat=3 (30.1.2019) (Hervorherbungen im Original).

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Zur Rekontextualisierung einiger Walzertakte in der Zauberflöte

sammen, und man ahnt es, dass Mozart mit der Zauberf löte eine so filigrane wie inkommensurable coincidentia oppositorum gelang, wie nur je eine auf der europäischen Opernbühne. So liegen uns demgemäß höchst gelehrte Untersuchungen über die ägyptisch-freimaurerischen Traditionen der „feierlichen Szenen“ einerseits wie auch andererseits akribische Herleitungen des Werkcharakters aus der genuinen Tradition der Wiener Vorstadtkomödie vor, wobei diese sich methodisch einer soziokulturellen Analyse bedienen, jene vor allem auf das Instrumentarium der Mythen- und Religionsgeschichtsschreibung auf bauen. Die folgenden Überlegungen nehmen ihren Ausgang von einer Stelle im Finale der Oper, in welcher die Trennung von „komödiantisch“ und „feierlich“ bzw. von „Textintention“ und musikalischer „Aussage“ vollends unmöglich erscheint, nämlich von jener Szene, in welcher Papageno freiwillig aus dem Leben scheiden will. Zu dessen Worten „Nun wohlan! es bleibt dabei…“ komponiert Mozart nämlich über neun Takte hinweg eine typische, unverwechselbar wienerische Walzerbegleitung! Eine konkrete Selbstmordabsicht also illustriert von einer tänzerisch-musikalischen Figur? „Wie kann denn das geschehen?“ – um ebenfalls mit einer geborenen Wienerin, nämlich der Fürstin Feldmarschall Marie Theres von Werdenberg, zu fragen. Handelt es sich an dieser Stelle um Ironie, Verfremdung, Doppeldeutigkeit oder gar eisigen Zynismus, einen, der freilich vollkommen untypisch für Mozart wäre…? Wir werden sehen. Begeben wir uns zur Lösung dieses merkwürdigen Rätsels auf eine ganz kurze Reise zur Vorgeschichte der Semantik des Wiener Walzers und seiner höchst subtilen Verwendung im Opernschaffen Mozarts – wohl wissend, dass es sich bei dieser Klärung nur um ein winziges Mosaiksteinchen im Kosmos der Zauberf löte handelt. Es kommt in der Tat einem so schönen wie signifikant erscheinenden Zufall gleich, dass das Wort „walzen“ erstmals 1750 in Wien nachweisbar ist, und zwar in der Komödie Bernadon auf der Gelseninsel von Johann Joseph Felix von Kurz (1717–1784), der selbst den Spitznamen „Bernadon“ trug und in vielfacher Hinsicht als ein ‚Vorläufer‘ von Schikaneder / Papageno gelten kann. 3 Vier Jahre später finden wir, wieder in Wien und in einem Stück von Kurz / Bernadon, nämlich in Der auf das neue begeisterte und belebte Bernadon, das erste Musikbeispiel, das mit dem „Walzen“ untrennbar verbunden ist. Bernadon verfällt bei der Aufzählung von Tänzen („bald steyrisch, bald schwäbisch, hanakisch, schlowakisch, bald walzen umatum, heißa rum rum“) an entsprechender Stelle bezeichnenderweise in eine neue Taktart und ins Allegro. […] Ein analoges 3

Eine für unseren Zusammenhang kompakte Übersicht über die Tradition des Wiener Vorstadttheaters bietet Dolf Lindner, Der Mann ohne Vorurteil. Joseph von Sonnenfels (1733–1817), Wien 1983, 97–99.

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Harald Haslmayr Beispiel dazu ist ein Duett aus dem Singspiel Der dumme Gärtner aus dem Gebirge oder Die zween Anton von B. E. Schack nach E. Schikaneder (1789 Wien).4

Über die historische Entwicklung der Vorformen des Walzers informiert, wenn auch in auffällig frankreichzentrierter Perspektive, das Buch von Remi Hess, 5 in unserem Zusammenhang genügt jedoch die folgende holzschnittartige Zusammenfassung: Um 1750 gelangt ein genuin bäuerlicher Tanz aus den Erbländern ob und unter der Enns (dem heutigen Ober- und Niederösterreich also) nach Wien, der synonym als „Deutscher“, „Ländler“, „Schleifer“ oder eben – etwas später – als „Walzer“ bezeichnet wird und der entweder im Dreiviertel-, Dreiachtel- oder im Sechsachteltakt notiert wird.6 Es sind vor allem zwei Elemente, die diesen Tanz den Zeitgenoss*innen als moralisch höchst fragwürdig, ja sogar als sittliche Gefahr erscheinen ließen: Zunächst erwies sich das durch die unablässige Drehung beim Tanzen unweigerlich sich einstellende Schwindelgefühl mit der adeligen Contenance vollkommen unvereinbar und noch viel anrüchiger war die Tatsache, dass sich die Tanzpartner*innen in offensichtlich erotischer Weise eng umschlungen hielten – kurz, der Walzer war ursprünglich so etwas wie der Lambada für die Welt des verlöschenden ancien régime, wie eine Fülle von Invektiven, moralischen Schriften und gar Verboten in der damaligen Zeit zu beweisen vermag. Doch auch in diesem Zusammenhang zeigt sich, dass Verbote den Reiz dessen, was hier moralisch verdächtig erschien, nur erhöhte, und so wundert es nicht, dass Mozart in seinem Aufgabenbereich als Kammerkompositeur seit 1788 immer wieder „Walzer“ komponierte, so seien hier stellvertretend die je Sechs deutsche Tänze KV 536 und 537 erwähnt, die 1789 in Wien als Zwölf deutsche Tänze erscheinen sollten – signifikanterweise wurden diese Tänze in London unter dem Titel Twelfe Waltzes gedruckt.7 Da es sich hier jedoch um keine Sozialgeschichte des Walzers handelt, mag ein einziger Blick ins 19. Jahrhundert genügen: Am Wiener Kongress, der den weltweiten Siegeszug des Walzers einläuten sollte, erklangen die Walzerpartien erst nachdem die Monarchen – die sich, zumindest im Rahmen ihres öffentlichen Erscheinens, ausschließlich des zeremoniellen Schreittanzes der Polonaise bedienten – den Saal verlassen hatten, unzumutbar erschien die „Frivolität“ des neuen Modetanzes für die gekrönten Häupter. 8 4 5 6 7 8

Rudolf Flotzinger, „Walzer“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, zweite Auflage, hg. von Ludwig Finscher, Sachteil Bd. 9, Kassel und Stuttgart 1998, Sp. 1880 (Kursivierung im Original). Remi Hess, Der Walzer. Geschichte eines Skandales, Hamburg 1996. Auf die in der Popularmusik auch der damaligen Zeit üblichen Wechsel zwischen geraden und ungeraden Taktarten in einem Stück kann hier nicht eingegangen werden. Zu erwähnen sind freilich auch die Deutschen Tänze KV 509, 571, 586, 600, 602 und 605. Es lässt sich feststellen, dass moralische Verdammungen des Walzers in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmen, was jedoch nichts an der erotisch konnotierten Semantik der Walzerfiguren zu Mozarts Zeiten ändert. Es passt ins Bild, dass die junge Maria Theresia bei Hof oft lieber „Deutsche“ tanzte als das mehr und mehr antiquiert wirkende Menuett.

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Tout court: Mozart war mit der erotischen Semantik des Walzers bestens vertraut und benutzte ihn gleichsam als musikalischen ‚Code‘, dessen ‚Entschlüsselung‘ durch die zeitgenössischen Hörer*innen er umstandslos voraussetzten konnte. Und so bediente er sich dieser ‚Proto-Walzer‘ oder auch Walzer-‚Floskeln‘ nicht nur in seinen eigenständigen Tanzkompositionen, sondern in sämtlichen Gattungen seines Schaffens. So finden wir – nur stellvertretend genannt – typische Walzerfiguren etwa im Kyrie (T. 44–56 und 86–98) der so genannten Dominicusmesse KV 66,9 in der Kammermusik erscheinen sie etwa im Trio II des zweiten Menuetts der Gran Partita KV 361, ebenfalls im Trio II des zweiten Menuettes des Divertimento KV 563 sowie im Trio II des Menuettes des Klarinettenquintettes KV 581. Den glanzvollen Einzug in die Symphonik Mozarts hält der Walzer im betörend klangsinnlichen Klarinettentrio der großen Symphonie in Es-Dur KV 543, diskret vorbeihuschend erscheint er dagegen in den Takten 16–20 im Trio der Jupiter-Symphonie in C-Dur KV 551.10 Betrachten wir nun die Verwendung der Walzer-Figuren in den Opern Mozarts,11 beginnend mit dem Idomeneo. In der zweiten Szene des zweiten Aktes treffen Idamante, der kretische Königssohn und prätendierte Thronfolger, und Ilia, die aus ihrer Heimatstadt Troja f liehen musste, erstmals alleine aufeinander – in den beiden Vertretern der Erzfeinde Griechenland und Troja ist Liebe aufgekeimt, beide ahnen aber noch nicht, dass Idamante aufgrund des Eides seines Vaters Idomeneo gegenüber Neptun dem Tod geweiht ist. Idamante eröffnet Ilia, dass er gerade im Begriff ist aufzubrechen, um jenes Ungeheuer zu besiegen, das aufgrund des noch nicht eingelösten väterlichen Eides Tod und Verderben über Kreta bringt. An Ilias bestürzter Reaktion auf diesen unmittelbar bevorstehenden Abschied erkennt Idamante die scheu einbekannte Gegenliebe Ilias – in der ‚Liebes-Tonart‘ A-Dur komponiert Mozart an dieser Stelle das allererste wirkliche Liebesduett seines Opernschaffens! In Takt 21 steigert sich das Tempo zu einem Allegretto, in einem so ungewöhnlichen wie anrührendem Unisono singen die beiden Verliebten: „Ah il gioir sorpassa in noi / il sofferto affanno rio/ tutto vince il nostro ardor.“ Also sinngemäß: ‚Die Freude übertrifft in uns die erlit9

Diese Stelle zeigt besonders anschaulich die anachronistische Fragwürdigkeit, die Begriffe „geistlich“ und „weltlich“ im Sinn des 19. ins 18. Jahrhundert zurück zu projizieren. 10 Dies geschieht bereits vier Jahre bevor Joseph Haydn den Walzer in den Trios seiner „Londoner Symphonien“ Nr. 93, 96 und besonders 97 erstmals zu einem internationalen musikalischen Exportschlager aus Österreich machen wird! 11 Alle Takt- bzw. Stellenangaben sind der Salzburger Neuen Ausgabe sämtlicher Werke entnommen und werden, da sie sofort und mühelos allgemein zugänglich sind, über ihre Nennung im laufenden Text hinaus in den Fußnoten nicht mehr eigens zitiert. Meines Wissens wurde noch kein systematischer Versuch unternommen, die Walzer-Passagen im musikalischen Subtext der Mozart-Opern aufzuspüren und zu deuten. Die konkrete musikalische Realisierung dieser Thematik betreffend, kann behauptet werden, dass sich einzig Nikolaus Harnoncourt in besonders überzeugender Weise um diese bemüht hat.

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tenen Leiden, alles besiegt unsere Glut‘. In den Takten 26–30 und 33–36 legt Mozart unter den Gesang im Dreiachteltakt eine Walzer-Begleitung, die Eins in „Tutti Bassi“, also in den Celli und Kontrabässen, die Zwei und Drei in den ersten und zweiten Violinen. Und noch einmal kehrt diese Stelle f lüchtiger Intimität wieder, nämlich in den Takten 71–75, nun aber die Zwei und Drei in den zweiten Violinen und den Bratschen, während die ersten Violinen eine schwebend-luftige Sechzehntel-Girlande darüberlegen! Das an dieser Stelle erstmals offenbar gewordene erotische Knistern zwischen Idamante und Ilia – man kann es in den Walzerfiguren ganz genau hören… In der Entführung aus dem Serail bedient sich Mozart keinerlei ‚Walzer-Codes‘, an ganz prominenter Stelle hingegen in Le nozze di Figaro. Eine der meistkommentierten Nummern des Meisterwerkes ist das Duettino Nr. 21 „Che soave zeffiretto“, zwischen der Gräfin und Susanna in der klassischen ‚Freilufttonart‘ B-Dur, und tatsächlich ist es für das Jahr 1786 im Wortsinn un-erhört, dass die adelige Gräfin mit ihrer Kammerzofe Susanna genau dieselbe Musiksprache teilt, ja ab Takt 50 erklingt sogar ein Unisono in schmeichlerischem Terzabstand, wobei – nota bene! – es Susanna ist, der die obere Stimme zufällt. Vom traditionellen sozialen Gefüge des ancien régime ist, zumindest vokal, wirklich kein Stein auf dem anderen geblieben. Der Inhalt dieses pikanten Briefdiktates ist es bekanntlich, den Grafen zu einem fingierten Stelldichein in den nächtlichen Garten zu locken, „ei già il resto capirà.“ Den Rest also wird der Graf unschwer verstehen, aber wir brauchen als wache Hörer*innen gar nicht auf den erwarteten erotischen Scharfsinn Almavivas im vierten Akt zu warten, denn Mozarts Orchester sagt uns bereits jetzt überdeutlich, worauf der Graf zu Recht hoffen darf, mindestens nämlich auf eine (Walzer-)Umschlingung, denn ab Takt 56 werden wir zu Zeug*innen eines verheißungsvoll-galanten, vier Takte lang währenden Wiener ‚Proto-Walzers‘!12 Da Mozart für die Wiederaufnahme des Figaro im Sommer 1789 in Wien die Darstellerin der Susanna der Uraufführung am 1. Mai 1786, Nancy Storace, nicht mehr zur Verfügung stand, komponierte er statt der musikalisch wie auch schauspielerisch höchst anspruchsvollen Szene „Venite inginocchiatevi“ für seine neue Susanna Ferrarese del Bene das vergleichsweise simpel gestrickte Lied in G-Dur „Un moto di gioia“ KV 579, das in unserem Zusammenhang allerdings insofern höchst interessant ist, da es sich hierbei um einen über 83 Takte lang durchgehaltenen Walzer im Dreiachteltakt handelt – man wird ohne Übertreibung vom ersten Walzer-Couplet der Operngeschichte, das sich zumindest im Repertoire gehalten 12 Es ist nur in einem oberflächlichen Sinn paradox, dass der Graf im zweiten Finale bei seinem „Conoscete Signor Figaro…“ (T. 398–402), wenn auch auf Italienisch, in einem genuin Wiener Tonfall spricht! Von Takt 441–449 antwortet Figaro genau im selben wienerischen Tonfall des Grafen – er hat dessen List offenbar durschaut!

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hat, sprechen dürfen. Und neuerlich ‚weiß‘ die Musik bereits, welches Vergnügen („che annunzia diletto“) das im Herzen bereits fühlbare Wort der Freude („Un moto di gioia mi sento nel petto“) soeben für Susanna ganz verlässlich verheißt. Der triumphale Erfolg, der dem Figaro in Prag beschieden war, zog bekanntlich den Auftrag zur Komposition des Il dissoluto punito nach sich, besser bekannt unter seinem Untertitel Don Giovanni. Mitten im ersten Finale kommt es zu jener Tanzszene, deren alle Grenzen sprengende Radikalität in der bisherigen Operngeschichte ihresgleichen sucht. In seiner so genannten „Champagner-Arie“ hatte Don Giovanni seinen Diener Leporello zunächst ja damit beauftragt, die Festgäste möglichst rasch trunken zu machen und anschließend zu einem Tanz aufspielen zu lassen, den er selbst für seine nächste Verführung zu nutzen gedenkt. „Sopra il teatro“, auf der Bühne also, beginnt mit dem Takt 406 das erste Orchester ein hochzeremonielles Menuett in D-Dur zu intonieren, zu welchem Don Ottavio und Donna Anna, Vertreter und Vertreterin der spanischen Hocharistokratie und beide maskiert, zu tanzen beginnen. So könnte es weitergehen, doch nach 24 Takten beginnt aus heiterem Himmel ein zweites Bühnenorchester zunächst einige Takte lang einzustimmen, irritierenderweise ebenfalls in D-Dur! Ab Takt 439 beginnt Don Giovanni mit der jungen Bäuerin und Braut Zerlina eine Contradanza13 im Zweivierteltakt zu tanzen, die Verführung kann beginnen, Hocharistokratie trifft auf den Bauernstand – gleichzeitig erklingen die beiden so unterschiedlichen Tanzarten. Doch damit nicht genug – der Höhepunkt der akustisch-ständischen Verwirrung ist erst dann erreicht, wenn sich in Takt 446 gar ein drittes Bühnenorchester auf einen Tanz (wiederum in D-Dur!) einzustimmen beginnt, der sich ab Takt 454 als ein waschechter bäuerlicher Walzer (3/8) entpuppen wird. „Waschecht bäuerlich“ deshalb, weil an seinem Beginn dreimal hintereinander das g 2 mit dem Vorschlag fis 2 erklingt – eine geradezu fotografische Imitation einer Drehleier, neben dem Dudelsack, auch „Bock“ genannt, das musikalische Emblem für bäuerliches Landleben14 von Vivaldi über die Wiener Klassiker, Schubert, die Strauß-Dynastie bis hin zu Mahler und Richard Strauss. Drei gleichzeitig in derselben Tonart erklingende Tänze sorgen für das perfekte akustische Chaos, das an Gender-Brisanz noch durch das biologische Geschlecht der beiden Walzertänzer gewinnt, denn von Leporello heißt es: „Fa ballar per forza Masetto“, er nötigt also Masetto gewaltsam zum Tanzen der „Teitsch“, wie in Takt 453 die Szenenangabe lautet. Zwei Männer walzen also umschlungen miteinander, Leporello indirekt 13 Die Contradanza leitet sich vom englischen country dance ab, der ab dem 17. Jahrhundert ein überaus beliebter Gruppentanz war. Das „Prometheus-Thema“, das Beethoven zu Beginn des 19. Jahrhunderts so obsessiv beschäftigte, trägt übrigens die Charakterzüge eines country dance. 14 Die Magna Charta für das gesicherte Verständnis dieser musikalischen Codes ist zweifellos der Mittelteil des „Weinchores“, der die Herbstkantate in Joseph Haydns Oratorium Die Jahreszeiten (1801) beschließt: Zunächst erklingt ein ‚klassisch‘ bäuerlicher Walzer, zu dem schließlich („da schnarret die Leier“) die Drehleier und der Dudelsack treten („da dudelt der Bock“).

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angestiftet von Don Giovanni, Masetto direkt genötigt von Leporello – drastischer lässt sich ein bedrohliches Chaos bis heute nicht darstellen, erst der panische Hilfeschrei Zerlinas, die sich dadurch der Attacke Don Giovannis zu entziehen versucht, bereitet dieser gespenstischen Szene ein so jähes wie abruptes Ende. An geistesgeschichtlicher Drastik gewinnt dieser Moment zusätzlich durch den Umstand, dass der Dreiertakt, der hier gerade als ein wüstes Stampfen vernehmbar ist, in der abendländischen Tradition ursprünglich das Tempus perfectum – also die vollendete Taktart der göttlichen Trinität – war, der Vierertakt hingegen ein irdisch-unvollkommenes Tempus imperfectum. So spricht Jesus Christus in Haydns Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze immer dann, wenn er sich an seinen himmlischen Vater wendet (insgesamt dreimal) in einem Dreiertakt, wenn er hingegen mit seinen irdischen Jüngern oder mit seiner Mutter spricht (insgesamt viermal) stets in einem Vierertakt! Eine veritable musikalische Umwertung aller Werte avant la lettre, wie sie sich radikaler nicht denken ließe, hat sich hier bei Mozart und da Ponte vollzogen. Die unbestrittene Walzer-Königin der Wiener Klassik ist ohne jeden Zweifel die Kammerzofe Despina aus Così fan tutte, wobei offen bleiben muss, ob ein derart kaltschnäuziger Zynismus in erotischen und unverhohlen sexuellen Fragen einer gerade erst Fünfzehnjährigen überhaupt zuzutrauen ist. Bekannt ist ihre mediterran legere Einstellung in Liebesdingen, sie kann oder will die extremen Berg- und Talfahrten der Gefühle der beiden jäh von ihren Liebhabern getrennten Schwestern Fiordiligi und Dorabella nicht verstehen, in beiden ihrer Arien ist der Walzer ein ständiger Begleiter. Zunächst warnt sie bereits im ersten Akt davor, den Treueschwüren von Männern im Allgemeinen auch nur den geringsten Glauben zu schenken: „In uomini, in soldati, sperare fedeltà…“ Da erklingt in Takt 24 in bohrender Penetranz ganz genau jene Drehleierimitation, die wir schon aus dem Don Giovanni-Walzer kennen, diesmal jedoch nicht weniger als zwölfmal (!) hintereinander in Oboen, Flöten und Fagotten, und zwar genau dann, wenn es von den Männern heißt: „Di pasta simile son tutti quanti…“, aus dem selben Teig sind sie also gemacht die Männer, und ihre Treueschwüre sind so hohl, unentwegt und gebetsmühlenartig und nervig wie der ewig gleiche Sound einer Drehleier. Es kommt aber noch besser – die Männer sind darüber hinaus sogar verlogen und falsch: Zum entlarvenden „Mentite lagrime, fallaci sguardi…“ erklingen ab Takt 33 sechs f lotte Walzertakte, und dies inmitten eines sonst konsequenten Zweivierteltaktes! Wiederholt wird diese surprise in den Takten 45–49, eine völlig überraschende Walzer-Interpolation also, ganz genau so f lüchtig und unverlässlich eben wie männliche Treuebeteuerungen. Mit köstlich entlarvender Ironie bedenkt Mozart die als Arzt verkleidete Despina im ersten Finale: Diese preist ihre medizinischen Fähigkeiten15 mit den 15 Ihre Lateinkenntnisse lassen freilich zu wünschen übrig, wie ihre Anrede „Bones puelles“ verrät.

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Zur Rekontextualisierung einiger Walzertakte in der Zauberflöte

Worten „Ecco una prova di mia virtù“ an, was in heutiger Sprache wohl am besten hieße: „Hier ein Beweis meiner fachlichen Kompetenz.“ Nun bedeutet „virtù“ im dix-huitième aber auch Treue, Standhaftigkeit und Tugend, um die es bei Despina, wie wir wissen, aber überaus schlecht bestellt ist – die vier geradezu grimmig ironischen Walzertakte von Takt 356–360 lassen daran nicht den geringsten Zweifel! Despina kommt übrigens direkt vom Land und nicht wie ihre gnädigen Damen aus Neapel,16 wie die Walzerkette ab Takt 2217 (später ab T. 52) in ihrer zweiten Arie zeigt, die sie eigentlich in einem österreichischen Dirndl singen sollte – Despina wäre von ihrer sozialen Herkunft her betrachtet eigentlich eine durchaus passende Gefährtin für Papageno. Genau diese rustikale Herkunft versucht sie allerdings am Ende ihrer Arie zu verleugnen, wenn sie im exaltierten Tonfall einer gerade hysterisch gewordenen Prima Donna (auch an jenen der Königin der Nacht erinnernden) verkündet: „E qual regina dall’alto soglio col posso e voglio farsi ubbidir“ – sie träumt also davon, sich als Königin vom hohen Thron herab und durch adelige Capricen Gehorsam verschaffen zu können. Aber damit wird es nichts – die uns bereits bestens bekannte Walzerkette holt sie ab Takt 87 (von feinsinnigstem Witz sind die Generalpausen zwischen den Takten 87 und 88) in lapidarer Drastik in ihr angestammtes soziales Milieu zurück.18 Walzertakte hier also als eine Art ‚musikalischer Personalausweis‘… In der Krönungsoper La clemenza di Tito, komponiert für Prag im Zauberf lötenJahr 1791 – zum Teil erfolgte die Komposition der beiden Opern bekanntlich parallel – erscheint nur eine einzige Walzerfigur, nämlich am Ende des im Sechsachteltaktes sphärisch schwerelos schwebenden C-Dur-Duettino zwischen den beiden Herzensfeunden Sesto und Annio „Deh prendi un dolce amplesso, amico mio fedel“ gleich am Beginn der Oper. Sesto war eine Hosenrolle (Carolina Perini, ein Sopran in einer Männerrolle), der Annio wurde vom Kastraten Domenico Bedini gesungen. Die herzliche Umarmung zweier Männer als Freunde (man denkt dabei unwillkürlich an Don Carlos und den Marquis von Posa) komponiert Mozart in überaus delikater Diskretion, wenn in den Takten 18 und 20 eine geradezu intime Walzerbewegung hörbar wird, die jegliche ackerschwere Dumpf heit meilenweit unter sich gelassen hat. Und so verstehen wir den hintergründigen Sinn der beiden Walzerpassagen aus der Zauberf löte nun vielleicht besser, es sind dies, wie schon gesagt, nur zwei 16 Oder Triest, wie es da Ponte eigentlich geplant hatte. 17 Man wird hier gerne Nikolaus Harnoncourt folgen, der in dieser Walzerkette die direkte Inspirationsquelle für die Walzeriaden von Jacques Offenbach erkennt. Den aus drei Achteln bestehenden Auftakt in Takt 21 kostet er in seiner CD-Einspielung von 1991 mittels einer raffinierten Tempoverlangsamung genüsslich aus. 18 Selbstverständlich lebt diese Arie wesentlich auch von der Komponente eines „Spiels im Spiel“, dessen genaue Erörterung an dieser Stelle freilich zu tief und umständlich in die Spezifika von Mozarts Opernästhetik führen müsste.

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Harald Haslmayr

winzige Mosaikteilchen, gewiss: In der Introduktion werden wir bekanntlich Zeugen davon, wie jede einzelne der Drei Damen sich in den ohnmächtig vor ihnen daliegenden Tamino verliebt: „Ein holder Jüngling sanft und schön! So schön als ich noch nie gesehn! Ja, ja! Gewiß zum Malen schön!“ Jede versucht nun, mit Tamino alleine bleiben zu können, indem sie die jeweils anderen beiden Damen zu Königin der Nacht zu schicken versuchen, doch mit weiblichem Scharf blick durchschaut jede Dame die erotischen Absichten der anderen. „Ich sollte fort?“ Genau unter dem wissenden „Ei, ei, wie fein!“ erklingen von Takt 128–130 drei ebenfalls sehr genau um das egoistische Motiv des Hierbleiben Wollens wissende Walzertakte – es muss zumindest eine Umarmung sein, die man Tamino angedeihen lassen könnte. An dieser Stelle setzt Mozart den Walzer klar hörbar als eine Art ‚tiefenpsychologischen Ultraschall‘ ein. Endlich sind wir bei Papageno angelangt, der mitten im zweiten Finale aus dem Leben scheiden will, wir kennen sein trauriges Motiv durch den Text von Schikaneder ganz genau, es ist die in diesem Moment nach dem Entzug des Anblicks von Papagena endgültig besiegelt zu sein scheinende Abwesenheit eines „Mädchen oder Weibchens“. „Nun wohlan, es bleibt dabei! Weil mich nichts zurücke hält, gute Nacht du falsche Welt!“ Zu diesen Abschiedsworten19 erklingt nun von Takt 533 an die allererste „Valse triste“ der Musikgeschichte, herzzerreißend komponiert in Mozarts ‚Todes‘-Tonart g-Moll (man denke nur an die Pamina-Arie, das Streichquintett KV 516 oder die Symphonie KV 550) und doch auf eine geheimnisvolle Weise gleichzeitig den Trost des Überlebens vorausahnen lassend – wir sind zurückgekehrt an das Kippbild unseres Anfangs, die Trauer des versuchten endgültigen Schritts aus dem Leben wandelt sich augenblicklich in nunmehr endlich mit einem weiblichen Gegenüber zu teilende Freude am irdischen Dasein! „Musik ist eine heilige Kunst…“

19 Vollkommen zu Recht weist Jan Assmann in seinem bahnbrechenden Werk über die Zauberflöte diese Stelle betreffend auf jene Komik hin, die durch das „barocke Pathos“ der Weltverneinung just aus dem Mund Papagenos entsteht. Der Charakter dieses „Selbstmordversuchs“ ist selbstverständlich denkbar weit entfernt vom existentiellen Pathos von Opernbühnen- Selbstmorden im Stil eines Wozzeck oder einer Cio-Cio-San. Am ehesten ließe sich diese Papageno-Stelle mit dem tragikomischen Selbstmord des Iro in Claudio Monteverdis Il ritorno d’Ulisse in patria vergleichen ( Jan Assmann, Die Zauberflöte. Oper und Mysterium, München 2006, 357).

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Ulf Bästlein

„Es ist nichts geringes, durch eine sehr einfache und kurze Melodie, den geradesten Weg nach dem Herzen zu finden“ 1 Musikalische Lyrik als Aufklärung Ulf Bästlein Die Musik würkt auf den reizbarsten Theil des Menschen, auf seine Sinnlichkeit, deren Leitung doch einer der ersten Zwecke der zur Bildung eines Volks anzuwendenden Mittel ist. Auf klärung des Verstands allein würkt darauf oft nur langsam, oft nur schwach, oft gar nicht; die Musik hingegen allezeit, und oft so gewaltsam, dass sie zu unbegreif lichen Taten entf lammt. 2

Johann Abraham Peter Schulz beschreibt hier die Ambiguität, die der Wirkkraft von Musik seit jeher eigen ist. Sie kann „zu unbegreiflichen Taten entflammen“ – so geschah es etwa 1864 bei der Erstürmung der Düppeler Schanzen, als die Kapellen des 1. Preußischen Armeekorps (300 Musiker!) mit maximaler Lautstärke den Yorckschen Marsch, die wichtigste Militärweise Preußens, intonierten, um ihre preußisch-österreichischen Kameraden zu einem für die damalige Zeit beispiellosen Gemetzel unter den feindlichen dänischen Truppen zu animieren. Sie ‚orchestrierten‘ auf diese mehr als makabre Art und Weise ein grausames Schlachten, das sich der haushohen militärtechnischen Überlegenheit der Bündnispartner verdankte. Als Beleg für eine andersgeartete, moderne ‚musikalische Kriegsführung‘ mag hier die Meldung in der Zeitung Die Welt vom 22. August 2018 zitiert werden, dass „die deutsche Bahn Alkoholiker, Kriminelle und Drogenabhängige aus den Bahnhöfen vertreiben will, und zwar mit ‚atonaler Musik‘.“ 3 Musik kann leicht „zu unbegreif lichen Taten“ missbraucht werden. Berühmt ist Platons Dictum: Beruht nun nicht eben deshalb, o Glaukon, sagte ich, das Wichtigste in der Erziehung auf der Musik, weil Zeitmaß und Wohlklang vorzüglich in das Innere 1 Johann Abraham Peter Schulz, „Lied“, in: Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2, Leipzig 1774, 718-720, hier 718. 2 Johann Abraham Peter Schulz, Gedanken über den Einfluss der Musik auf die Bildung eines Volks, und über deren Einführung in den Schulen der Königl. Dänischen Staaten, Kopenhagen 1790, 8. 3 Elmar Krekeler, „Atonale Musik als Waffe gegen Junkies? Eine Frechheit!“, in: Die Welt, 22. August 2018,  https://www.welt.de/kultur/article181266132/Plan-der-Deutschen-Bahn-Atonale-Musikals-Waffe-gegen-Junkies-Eine-Frechheit.html (25.1.2019).

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Musikalische Lyrik als Aufklärung der Seele eindringen, und sich ihr auf das kräftigste einprägen, indem sie Wohlanständigkeit mit sich führen, und also auch wohlanständig machen, wenn einer richtig erzogen wird, wenn aber nicht, dann das Gegenteil?4

Platon warnte vor Änderungen in der Musik. Diese würden immer mit umfassenden politischen Änderungen einhergehen. Martin Luther bediente sich intensiv der Musik, um seine Reformation durchzusetzen. Das Singen von Liedern, die er oft selbst komponiert und gedichtet hatte, war für ihn ein probates Mittel, um seinen Anhängern Glaubensinhalte zu vermitteln. Die Lieder singende Gemeinde wurde durch Luther geradezu zum Markenzeichen der Reformation. Es ließen sich hier im kirchlichen wie im weltlichen Bereich viele weitere Beispiele für die bewusste Instrumentalisierung von Musik zu verschiedenen – meist alles andere alles emanzipatorisch-auf klärerischen – Zwecken anführen. In unserer digitalen Gegenwart ist Musik in einem für frühere Epochen unvorstellbaren Ausmaß omnipräsent (meist wiederum instrumentalisiert zur vermeintlichen ‚Entspannung‘, zum ‚Zudröhnen‘ – ab ca. 110 Dezibel 5 – oder als Kaufstimulation). Meldungen wie „Akustische Umweltverschmutzung steigt“6 gehören zum Alltag und immer öfter wird ein Recht auf „akustische Selbstbestimmung“ 7 eingefordert. Für den Komponisten der Lieder im Volkston Schulz, der 1790 seine Gedanken über den Einf luß der Musik auf die Bildung eines Volkes8 veröffentlichte, stand freilich außer Frage, dass die Kraft der Musik im Sinne der Auf klärung zu „würken“ habe. Dies lässt uns Heutige auf horchen! Auch seiner Gründung eines Lehrerseminars in Kopenhagen, das wesentlich auf musische Inhalte ausgerichtet war, lag die Absicht zugrunde, die musikalische Bildung in den dänischen Staaten zu intensivieren und so die Voraussetzungen dafür zu schaffen, auf klärerisches Gedankengut durch Musik verbreiten zu können. Jean-Jacques Rousseau, der einf lussreichste französische Auf klärer, Komponist und Verfasser des bereits in seiner Zeit berühmten Dictionnaire de musique (1768), hielt wenig von reiner Instrumental- und umso mehr von Vokalmusik, die den ihr jeweils zu Grunde liegenden Text so darbieten sollte, dass dessen Aussage 4 Platon, Der Staat, übersetzt von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher [1828], Berlin 1987, 401. 5 Selbstversuch des Verfassers, der diese Wirkung „Entselbstung“ nennen würde; vgl. auch Katharina Ludwig, „Presslufthammer im Ohr: Clubgänger unterschätzen Gefahr durch laute Musik“, in: Der Tagesspiegel, 29. April 2013, https://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/gesundheit/presslufthammerim-ohr-clubgaenger-unterschaetzen-gefahr-durch-laute-musik/8135486.html (26.1.2019). 6 Akustische Umweltverschmutzung steigt. Symposium „Soundscapes & Listening“ beleuchtet Lärmproblematik [Pressetext], https://www.pressetext.com/news/20090514003 (26.1.2019). 7 Klaus Miehling, Lautsprecher aus!, Zwangsbeschallung contra akustische Selbstbestimmung, Berlin 2010, 109–110. 8 Vgl. Schulz, Gedanken über den Einfluss der Musik auf die Bildung eines Volks.

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unmittelbar in die Seele des Menschen eindringen und dort die entsprechenden Leidenschaften erwecken könne.9 Um auf klärerische Inhalte durch Musik vermitteln zu können, brauchte man Worte, d. h. Gesang.10 Die vertonten Texte mussten allerdings der Forderung nach „Natürlichkeit und Simplizität“ – und damit Verständlichkeit – gerecht werden. Rein instrumentale Musik galt gegen Ende des 18. Jahrhunderts in den Kreisen der Auf klärer zunehmend als inhaltsleer und zweitklassig. So ist es nur folgerichtig, […] dass sich das Lied als spezifisch bürgerliches Kulturinstitut, das sich ausdrücklich von der feudal dominierten ständischen Bühnenkultur der italienischen Oper distanzierte, immer mehr durchsetzte. Als Liebhaber-Kunst musste das Lied einfache Inhalte aus einer sozial nicht markierten oder aus der bürgerlichen Lebenssphäre auf eine technisch einfache und leicht singbare Weise präsentieren. Wie das Singspiel ist auch das Lied eine populäre Kunstform, die sich im Rahmen bürgerlicher Geselligkeit als kollektive und aktive Kunstausübung weder in den Kanon der elitären Bildungskunst einordnen lässt, noch auf Trivialliteratur reduzieren lässt. Schon als junger Dichter hatte Voß Anteil an dieser Entwicklung.11

Johann Abraham Peter Schulz und sein Dichterfreund Johann Heinrich Voß arbeiteten über Jahrzehnte in einer Art Komponisten-Dichter-Werkstatt gemeinsam an der Entwicklung und Verbreitung solcher Lieder im Volkston.12 „Die höchst fruchtbare Zusammenarbeit von Voß und Schulz stellt einen Glücksfall in der Liedgeschichte dar“,13 und ihr Briefwechsel ist ein bewegendes Zeugnis dieses kongenialen Schaffens.14 Sie betonten die Einheit von Leben und Kunst,15 doch nicht, 9 10

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Vgl. die Artikel „Sonate“ und „Musique“ in Jean-Jacques Rousseau, Dictionnaire de Musique [1768], Hildesheim 1969, 450–452 und 305–317. Vgl. hierzu Katharina Hottmann, „Auf, stimmt ein freies Scherzlied an!“. Weltliche Liedkultur im Hamburg der Aufklärung, Stuttgart 2017, 12–13. Hottmann führt aus, dass für den Charakter des Liedrepertoires der Aufklärung „Sprechhaltung und implizierte Adressierung […] konstitutiv“ seien. Marion Marquardt, „Johann Heinrich Voß – ein Bürger ohne Republik“, in: Johann Heinrich Voß: Kulturräume in Dichtung und Wirkung, hg. von Andrea Rudolph, Dettelbach 1999, 12–13. Johann Abraham Peter Schulz, Lieder im Volkston, 3 Bde., Berlin 1782, 1785, 1790. Die Zusammenarbeit mit Voß begann 1780. Später wurde Voß zum erbitterten Feind der ‚Volkstümelei‘ der Romantiker (Des Knaben Wunderhorn), die er als „Dunkelmänner“ bezeichnete. Sein öffentlich ausgetragener Streit mit Clemens Brentano, Achim von Arnim und Josef Görres zeigt, wie sehr der Aufklärer Voß die in seinen Augen rückwärtsgewandten und antiemanzipatorischen literarischen Werke der Romantik ablehnte. Walter Dürr / Stefanie Steiner, „Johann Abraham Peter Schulz und seine ‚Lieder im Volkston‘“, in: Johann Abraham Peter Schulz, Lieder im Volkston, hg. von dens. unter Mitarbeit von Michael Kohlhäufl, München 2006, XIX. Heinz Gottwaldt / Gerhard Hahne (Hg.), Briefwechsel zwischen Johann Abraham Peter Schulz und Johann Heinrich Voss [Voß], Kassel 1960 (= Schriften des Landesinstituts für Musikforschung Kiel 9). Diese sahen beide übereinstimmend nicht im städtischen Leben, vielmehr auf dem Land; nicht in der Oper, vielmehr im Lied; vgl. die Briefe an Voß vom 12. Mai 1780 und 26. Juli 1789 (ebd., 14, 69).

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wie später die Romantiker*innen, in einer überhöht ideellen Form, sondern im Konkret-Alltäglichen. „Kaum ein anderer bedeutender Autor der Goethezeit hat sich so intensiv mit musikästhetischen und aufführungspraktischen Fragen der Liedkomposition befasst wie Johann Heinrich Voß, der selbst musikalisch hochgebildet und ein guter Klavierspieler war.“16 Johann Friedrich Reichardt schrieb über ihn: „Es haben aber bisher sehr wenige Liederdichter mit so eigentlicher Rücksicht auf Gesang gearbeitet, wie es mein Freund Voß getan hat.“17 Johann Heinrich Voß verfasste viele seiner „Lieder“ (nach heutigem Sprachgebrauch: seiner Gedichte) „unter dem Vorgefühl einer Schulzischen Melodie“18. Er war berühmt durch seine Homer-Übersetzungen, ein anerkannter Sprachvirtuose und -schöpfer.19 Dass Voß, der wie kaum ein anderer antike Versmaße beherrschte, in der Zusammenarbeit mit Schulz die bewusste Reduktion auf das möglichst Schlichte, Natürliche (dies auch in Wort- und Metrumwahl) suchte, zeigt, wie sehr ihm das gemeinsame Projekt am Herzen lag. – Der Briefwechsel zwischen Voß und Schulz gewährt einen Einblick in diese einzigartige gemeinsame Werkstatt. Das Ziel ihrer Bemühungen war, wie gesagt, eine möglichst innige Verf lechtung von Lyrik und Musik im „Volkston“. Sie feilten gemeinsam an jedem kompositorischen wie textlichen Detail. „Die kongeniale Zusammenarbeit von Voß (…) und Schulz (…) kann wohl in der Geschichte der Gattung ‚Lied‘ als einmalig bezeichnet werden.“ 20 Ein Blick in diese Werkstatt könnte und sollte Künstler*innen wie Wissen­ schaftler*innen dazu animieren, den auf Robert Schumann zurückgehenden Ausdruck der „Musikalischen Lyrik“ 21 ernst zu nehmen: Das Lied als musikoliterarische Gattung besteht ja stets aus Wort und Musik. Ausführende Künstler*innen sind jedoch nach wie vor oft uninteressiert bzw. -informiert, was Text und Autor*in den von ihnen dargebotenen Vokalkompositionen betrifft. Auch kommt es immer noch viel zu häufig vor, dass man in Programmheften vergeblich nach den entsprechenden Angaben sucht. Die musikwissenschaftliche Lied-Forschung wiederum konzentriert sich vornehmlich auf den kompositorischen Anteil der 16 Ulf Bästlein, „Ein Lied ohne Weise ist nur halb, was es sein soll“, in: Booklet zu Sascha El Mouissi und Ulf Bästlein, Seid menschlich, froh und gut: Lieder nach Lyrik von Johann Heinrich Voß, Gramola 99118 (2016), 5. 17 Johann Friedrich Reichardt (Hg.), Musikalischer Almanach, Berlin 1796, 116–117. 18 Brief an Johann Abraham Peter Schulz vom 5. Juni 1783, in: Briefwechsel, hg. von Gottwaldt und Hahne, 32. 19 „Ein Mann wie Voß wird übrigens so bald nicht wiederkommen. Es haben wenige andere auf die höhere deutsche Kultur einen solchen Einfluß gehabt als er“ ( Johann Wolfgang von Goethe am 7. Oktober 1827, in: Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. von Heinrich Hubert Houben, Leipzig 1939, 516–517.) 20 Dürr / Steiner, „Schulz und seine ‚Lieder im Volkston‘“, XVI. 21 Robert Schumann, Gesammelte Schriften, hg. von Gustav Jansen, Bd. 2, Leipzig 1891, 447.

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jeweiligen Vokalkompositionen. 22 Umgekehrt agiert die Literaturwissenschaft größtenteils textfixiert. So hat sich nicht viel geändert, seit Max Friedländer 1902 kritisch bemerkte, dass bei der innigen Verbindung von Musik und Poesie […] die Literaturhistoriker Bedenken tragen mochten, den Gegenstand zu behandeln, ohne nach der musikalischen Seite hin völlig ausgerüstet zu sein, die Musiker aber eine nicht minder große Scheu wegen der literarischen Anforderungen empfanden, die ihnen die Aufgabe stellt.“ 23

Der Liedästhetik von Schulz und Voß lagen zentrale Begriffe wie „Simplicität“, „Faßlichkeit“, „Natürlichkeit des Ausdrucks“, „Volksmäßigkeit“, „Schein des Bekannten“ sowie die damit einhergehenden musikalischen Gestaltungskonventionen wie Strophenform, leichte Sangbarkeit, einfach begleitender Klaviersatz zugrunde. Das gemeinsame Ziel konnte nur erreicht werden, wenn man ‚verständliche‘ Lieder schuf. 24 Ein „Volkston“ sollte entstehen, der zugleich das Herz rühren und den großen und erhabenen, aber natürlichen Ausdruck erreichen sollte. 25 Das ‚einfache Volk‘ in seinen Sitten zu veredeln und den Adel zu humanisieren: Das war die zutiefst auf klärerische Absicht. 26 Voß legte viele dieser „kunstlosen 22 Hermann Danuser hat Schumanns Begriff „Musikalische Lyrik“ dankenswerterweise zum Titel eines bedeutenden zweibändigen Werkes gemacht (Hermann Danuser (Hg.), Musikalische Lyrik, Laaber 2004 [= Handbuch der musikalischen Gattungen 8/1 und 8/2]). Er führt in der Einleitung zu diesem Doppelband überzeugende Gründe dafür an, warum der Begriff „Musikalische Lyrik“ den Gattungsbegriff „Lied“ künftig ersetzen sollte (Hermann Danuser, „Einleitung“, in: Musikalische Lyrik, 11–34, hier 15–16); u. a. lege dies die besonders enge „Verbindung zwischen dichterischer und tonsprachlicher Gestaltung“ nahe (ebd., 13, Anm. 3). 23 Max Friedländer, Das deutsche Lied im 18. Jahrhundert, Quellen und Studien, Bd. 1, Stuttgart 1902, VII. 24 Christian Kaden gelingt es in seinem Kapitel „Musik der Aufklärung, Aufklärung im Musikalischen“ nicht, den Intentionen und der Wirkung der musikalischen Lyrik der Aufklärung gerecht zu werden. Seine Behauptung: „Die, die sich in der Musik zu begegnen dachten, blieben in ihr und mit ihr als Subjekt allein“ wird durch viele Berichte über die Wirkung der Lieder im Volkston widerlegt. Schulz’ Werk wird bei Kaden nicht einmal erwähnt (vgl. Das Unerhörte und das Unhörbare. Was Musik ist, was Musik sein kann, Kassel 2004, 230). 25 Ludger Rehm hierzu: „Das Liedersingen und das Lieddichten sind bei Voß Kristallisationspunkt von Ästhetik und Leben. In hainbrüderlicher Geselligkeit, antihöfischer Natürlichkeit sowie befreiter und befriedeter Kindlichkeit liegt für Voß als auch für Schulz der Nucleus eines liedästhetischen Programms, in dem Antikerezeption und Aufklärung gleichermaßen integrale Bestandteile sind wie der – zeitweise radikaldemokratische – Wille zu politischer Veränderung und Vervollkommnung individueller buürgerlicher Lebensgestaltung“ („Zur Ästhetik des Liedes bei Johann Heinrich Voß – und Johann Abraham Peter Schulz“), in: Booklet zu El Mouissi und Bästlein, Seid menschlich, froh und gut, 7). 26 „Die Genese der Lieder im Volkston von Schulz ist zweifellos vielfältig; die überdeutliche politische Dimension, letztlich auch in der Vorrede erkennbar, ist jedoch – als Folge der Rezeptionsgeschichte – oftmals übersehen worden.“ (Laurenz Lütteken, Das Monologische als Denkform in der Musik zwischen 1760 und 1785, Tübingen 1998 [= Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 24], 252.)

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Kunstlieder“ 27 seinem überaus erfolgreichen Hamburger Musen-Almanach (aus heutiger Sicht eine Art Präfiguration des Internets im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert), dessen Herausgeber er war, bei und sorgte so für ihre nachhaltige Verbreitung. 28 Das Faszinierende aber ist und bleibt, dass – bei aller Einfachheit – jedes Lied ein kleines Kunstwerk wurde! Die Beantwortung der Frage, worin dieses je ne sais quoi letztlich besteht, wäre eine der interessantesten Aufgaben, die sich ein*e Musiker*in und/oder Wissenschaftler*in stellen könnte. Einerseits wollten Schulz und Voß sich gegen die als höfisch-künstlich empfundene Musik der vorausgehenden Epoche absetzen, andererseits – und das wird oft vergessen – stellen diese Lieder auch eine Reaktion auf einen als zu kalt empfundenen Rationalismus, der mit der Auf klärung einherging, dar. Das Volkstümliche bei Schulz und Voß ist immer beseelt und getragen vom Glauben an die elementare Kraft der Musik, auf die Menschen als sinnlich-geistige Wesen zu wirken: Ihre musikalische Lyrik wird nie „tümelig“, soll aber das Herz ebenso wie den Verstand erreichen. Schulz argumentierte in seinen Schriften musikpsychologisch und entwarf schon 20 Jahre vor Zelter und Humboldt ein musikpädagogisches Schulprogramm, 29 wobei er auch darin mit Voß und dessen pädagogischen Vorstellungen völlig übereinstimmt. 30 An die Stelle der höfischen Kultur mit den Zentren Kirche und Schloss als Stätten der Musik tritt im 18. Jahrhundert bekanntermaßen mehr und mehr die bürgerliche Kultur. Schulz selbst stellte in Sulzers Allgemeine Theorie der Schönen Künste dem bis zur Barockzeit maßgeblichen Expertentum als nunmehr entscheidende neue Instanz das Urteil des ungebildeten, aber empfindsamen Hörers entgegen: Dieser allein könne, „wann er auch nichts von der Kunst verstehet, […] allemal entscheiden, ob ein Stück gut oder schlecht ist.“ 31 „In Sachen Musik wird also nun, durchaus in auf klärerisch-emanzipatorischer Absicht, der urteilende individuelle Verstand durch das Gefühl ersetzt und dieses gefühlsmäßige Urteil erstmals über das Urteil fachkundiger, professioneller Autoritäten gesetzt.“ 32 Das Streben nach einer möglichst vielen verständlichen musikalischen wie dichterischen Sprache ist ein bürgerliches Streben. Es wurde zu einem der großen Themen 27 Walter Wiora, Das Deutsche Lied. Zur Geschichte und Ästhetik einer musikalischen Gattung, Wolfenbüttel 1971, 107. 28 „Entscheidend ist die bei den Autoren wie den Lesern der Musenalmanache vorherrschende Auffassung vom Gedicht als eines sangbaren Liedes.“ (Kerstin Gräfin von Schwerin, Johann Heinrich Voß, Hannover 2013, 96.) 29 Vgl. Schulz, „Lied“, 718–720. 30 Vgl. Rehm, „Zur Ästhetik des Liedes bei Johann Heinrich Voß – und Johann Abraham Peter Schulz“, 7. 31 Johann Abraham Peter Schulz, „Musik“, in: Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 3, Leipzig 1793, 425. 32 Hartmut Schick, „Joseph Haydn. Komponieren im Geist der Aufklärung“, in: Musik in der Geschichte. Zwischen Funktion und Autonomie, hg. von Inga Mai Groote, München 2010, 12.

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des 18. Jahrhunderts, das Denker wie Denis Diderot, Friedrich Nicolai, Moses Mendelssohn und Johann Bernhard Basedow eingehend diskutierten. Denkbar größte Ferne zu einem solch unbedingten Streben nach Verständlichkeit zeigt Arnold Schönbergs Äußerung: „Wenn es Kunst ist, dann ist es nicht für die Menge. Wenn es für die Menge ist, dann ist es nicht Kunst.“33 Der Preis dafür, Komplexität vermeintlicher Popularität zu opfern, kann bekanntlich sehr hoch sein. Heinrich W. Schwab hat „Das Problem der Popularität“ im 18. Jahrhundert umfassend behandelt, auch anhand Friedrich Schillers vehementer Reaktion auf Gottlieb August Bürgers überbordenden Volksliedenthusiasmus:34 „Die Kritik Schillers zielt nicht auf das Volkslied, sondern zentral auf das Problem von Popularität und Kunst. Am Volksbegriff setzt sie an. Schiller geht davon aus, dass die Gesellschaft seiner Zeit zu sehr in Elite und Masse geschieden ist und dass es daher unmöglich ist, überhaupt von einem einheitlichen Volk zu sprechen.“ 35 „Unsre Welt ist die homerische nicht mehr, wo alle Glieder der Gesellschaft im Empfinden und Meinen ungefähr dieselbe Stufe einnahmen, sich also leicht in derselben Schilderung erkennen, in denselben Gefühlen begegnen könnten.“36 Und doch ist der musikalischen Lyrik von Voß und Schulz genau dies gelungen: „Alle Glieder der Gesellschaft“ konnten sich in „derselben Schilderung erkennen“. Dies verdankte sie den Resultaten der präzisen, hochkomplexen Arbeitsweise der beiden Künstlerfreunde. Denn Die Reduktion der musikalischen wie dichterischen Mittel zeigt allerdings nur eine Seite der Liederkomposition, nämlich die der hörenden und ausführenden Rezipienten. Aus der Perspektive des Liederkomponisten handelt es sich demgegenüber um eine äußerst prekäre Operation, den „Volkston“ durch den „Schein des Ungesuchten, des Kunstlosen und des Bekannten“ hervorzubringen, denn dieser werde „von dem Komponisten oft mit Mühe, oft vergebens gesucht“. Erreicht kann er nur dann werden, so Schulz weiter im Vorbericht, wenn es gelinge, der Melodie „eine frappante Aehnlichkeit des musikalischen mit dem poetischen Tone des Liedes“ zu verleihen, wenn sie sich „dem Metro der Worte anschmiegt“ und wenn sie letztlich ausgezeichnet ist „durch die höchste Vollkommenheit der Verhältnisse aller ihrer Theile“. 37 33 Arnold Schönberg, Ausgewählte Briefe, hg. von Erwin Stein, Mainz 1958, 248. 34 Heinrich W. Schwab, Sangbarkeit, Popularität und Kunstlied. Studien zu Lied und Liedästhetik der mittleren Goethezeit (1770–1814), Regensburg 1965 (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 3), 85–135. 35 Ebd., 128. 36 Friedrich Schiller, „Über Bürgers Gedichte“, in: Werke, Nationalausgabe, Bd. 22, hg. von Herbert Meyer, Weimar 1958, 247. 37 Rehm, „Zur Ästhetik des Liedes bei Johann Heinrich Voß – und Johann Abraham Peter Schulz“, 7–8. „In allen diesen Liedern ist und bleibt mein Bestreben, mehr volksmäßig als kunstmäßig zu singen, nämlich so, daß auch ungeübte Liebhaber des Gesanges, sobald es ihnen nicht ganz und

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Und Voß: Welche Wahrheit und Natur, nicht die der Oberf läche für jedermann, sondern tiefempfundene, die nur der Geweihte der Musenkunst den Sinnen vorzaubert, und die gleichwohl, weil alles Verhalt, alles reine Schönheit und Kraft ist, in das kunstloseste Ohr eindringt. 38

In der Tat haben zum Beispiel die Werke Neujahrslied oder Im Grünen39 genau diese Wirkung, wie der Verfasser selbst als ausführender Sänger erleben konnte. Jeweils anwesende Hörer*innen haben ihm wiederholt diesen nachhaltigen Eindruck bestätigt.40 Dass die musikalische Lyrik von Schulz und Voß trotz ihrer enormen Popularität relativ schnell im „tiefen Brunnen der Vergangenheit“ (Thomas Mann) verschwand, dafür mögen vier Gründe ausschlaggebend gewesen sein. Erstens: Diese musikalische Lyrik hatte in den Augen bzw. Ohren der Nachgeborenen einen folgenreichen Mangel: „Als Gesellschaftslieder dienten sie nicht primär dem identitätsstiftenden Ausdruck individueller Befindlichkeiten (wie die erfolgreiche Erlebnislyrik), sondern der emanzipatorischen Verstärkung eines bürgerlichen Selbst- und Solidaritätsbewusstsein.“41 Das Verständnis von Musik als Mittel der Veränderung von Kultur und Gesellschaft stand im Widerspruch gar an Stimme fehlt, solche leicht nachsingen und auswendig behalten können. Zu dem Ende habe ich nur solche Texte aus unseren Liederdichtern gewählt, die mir zu diesem Volksgesange gemacht zu sein schienen, und mich in den Melodien selbst der höchsten Simplicität und Faßlichkeit beflissen, ja auf alle Weise den Schein des Bekannten darein zu bringen gesucht, weil ich es aus Erfahrung weiß, wie sehr dieser Schein dem Volksliede zu seiner schnellen Empfehlung dienlich, ja nothwendig ist. In diesem Schein des Bekannten liegt das ganze Geheimniß des Volkstons […].“ ( Johann Abraham Peter Schulz, Vorbericht zu Lieder im Volkston, Berlin 1784, zit. nach Heinrich Welti, „Schulz, Johann Abraham Peter“, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 34, Leipzig 1892, 744–749, hier 747.) 38 Johann Heinrich Voß, Brief an Johann Abraham Peter Schulz, 3. Mai 1790, in: Briefwechsel zwischen Johann Abraham Peter Schulz und Johann Heinrich Voss, hg. von Heinz Gottwaldt und Gerhard Hahne, Kassel 1960, 81. 39 Bästlein / El Mouissi, Seid menschlich, froh und gut, Nr. 4 bzw. 26, http://www.ulf-baestlein.eu/ hoerproben (30.1.2019). 40 Der Dichter Theodor Storm schreibt am 31. Januar 1841 an Bertha von Buchan: „Wäre ich zu Hause gewesen, so hätte ich Johann Heinrich Voß‘ „Des Jahres letzte Stunde ertönt mit ernstem Schlag“ meinem Vater und meiner Familie vorsingen müssen; wie ich’s immer, wenn ich zu Hause gewesen, getan habe. Du kennst doch das alte Lied! Es ist so schön, so fromm und stimmt hinreißend alle Herzen zur Andacht. Wenn sein Dichter das ganze Jahr hindurch vergessen wäre, in jener Jahresstunde würde dieses unvergessliche Lied seine größte Totenfeier hervorrufen.“ Dieses Briefzitat zeigt, wie tief die musikalische Lyrik eines Voß und Schulz bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts im Leben der Menschen verankert war. Theodor Storm war leidenschaftlicher Sänger und trat regelmäßig als Tenor-Solist auf (Antje Erdmann-Degenhardt, Weihnachten bei Theodor Storm, Husum 2008, 55). 41 Adrian Hummel, „Bürger Voß“, in: Johann Heinrich Voß, Idylle, Polemik und Wohllaut, hg. von Elmar Mittler und Inka Tappenbeck, Göttingen 2001 (= Göttinger Bibliotheksschriften 18), 156–157.

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zur romantischen Ästhetik des 19. und auch noch des beginnenden 20. Jahrhunderts.42 Den für die romantische Musik konstitutiven Ausdruck unbedingter Subjektivität bot diese musikalische Lyrik kaum. Zweitens: Die Lieder im Volkston waren nicht für den Konzertsaal komponiert. Sie sollten ‚draußen‘ wirken: auf den Feldern, auf den Straßen, in den Wohnzimmern, in den Schulen. Es ist ein sehr schöner Anblick für einen unpartheiischen Weltbürger und allgemeinen Menschenfreund, wenn er bei diesem Volke einen Landmann mit seiner Traube oder mit seiner Zwiebel in der Hand singend und lustig und glücklich sieht; wenn er sieht, wie die Bürger in den Städten die Sorgen von ihren Tischen durch ein Liedchen entfernen, und wie die Personen aus der schönen Welt, die Damen von dem feinsten Verstande und die Männer von den größesten Talenten ihre Zirkel und Spaziergänge mit Liedern aufgeräumt erhalten und ihren Wein mit Scherz und Gesang vermischen.43

Das Bürgertum übernahm mit dem beginnenden 19. Jahrhunderts immer häufiger vom Adel die Rolle eines interessierten und fördernden Publikums. Die vokale Gattung „Lied“ oder besser „musikalische Lyrik“ war für diesen großen kulturhistorischen Wandel von enormer Bedeutung. Zunächst wurde noch ‚zu Hause‘ musiziert, doch spätestens ab Mitte des 19. Jahrhunderts ersetzten ständig wachsende Konzerthallen und Opernhäuser die Wohnzimmer als Orte musikalischer Veranstaltungen. Die musikalische Lyrik als „identitätsstiftender Ausdruck individueller Befindlichkeiten“ wurde nun zunehmend in diesen zwar öffentlichen, aber doch im Wesentlichen lediglich dem Bürgertum und Adel zugänglichen Konzertorten aufgeführt. Die Lieder im Volkston passten nicht zu einer solchen Aufführungspraxis. Drittens: Laurenz Lütteken hatte recht, als er 1998 in Bezug auf die musikalische Lyrik der Auf klärung kritisierte, dass „die Forschungslage in einer ganz besonderen Weise unbefriedigend“ und der Struktur- und Geschmackswandel, der die Liedproduktion der Auf klärung von der der „mittleren Goethezeit“44 unterscheidet, bislang nicht verstanden“ worden sei.45 Max Friedländers dreibändi42 Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhundert kommt es zur faszinierenden Zusammenarbeit zwischen Bert Brecht und Kurt Weill, Hanns Eisler und Paul Dessau. Es wäre hochinteressant, diese Dichter-Musiker-Beziehungen vor dem Hintergrund der Zusammenarbeit von Schulz und Voß zu untersuchen. 43 Vorbericht zu Oden mit Melodien. Erster Theil, hg. von Karl Wilhelm Ramler und Christian Gottfried Krause, Berlin 1753. Hierbei handelt es sich um eine Beschreibung der französischen, aufgeklärten Lebenswelt, die dem deutschen Kulturraum als Vorbild dienen soll. 44 Hier wird der Titel der Dissertation Heinrich W. Schwabs zitiert: Sangbarkeit, Popularität und Kunstlied. Studien zu Lied und Liedästhetik der mittleren Goethezeit (1770–1814) (vgl. Anm. 34) – ein nach wie vor für das Verständnis dieser Epoche unentbehrliches Buch. 45 Lütteken, Das Monologische als Denkform, 31. Hottmann gibt einen Überblick über die prekäre

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ges Werk Das deutsche Lied im 18. Jahrhundert hätte als Steinbruch für weitere Forschungen auf diesem Gebiet dienen können, blieb aber weitgehend ungenutzt.46 Vielmehr wird die musikalische Lyrik der Auf klärung meist als eine Art Übergang vom (generalbassbegleiteten) Barocklied zum (klavierbegleiteten) Lied der Romantik nur kurz gestreift. „Die große Wertschätzung aber, die gerade auch Schulz von seinen Zeitgenossen entgegengebracht wurde, könnte heute noch kurrente liedästhetische Maßstäbe, die sich am Kunstlied der Romantik gebildet haben, kritisch befragen.“47 Viertens: Was Lütteken über die unbefriedigende wissenschaftliche Aufarbeitung dieser spannenden Epoche der Liedliteratur schrieb, gilt in gleichem Maße für die ausführenden Künstler*innen. Nach wie vor gibt es kaum Einspielungen der Lieder der Aufklärung, geschweige denn Aufführungen. Es böte sich jedoch an, diese inhaltlich wie kompositorisch so hochinteressanten Vokalwerke in neuen Konzertformaten zu präsentieren. Dies ist aber bisher an der Trägheit der potentiellen Interpreten*innen und der, um es höf lich auszudrücken, ‚Marktorientiertheit‘ der Veranstalter*innen48 gescheitert. Das von Schulz und Voß wesentlich mitgeprägte Ideal der „Einfachheit im Lied“ behielt hingegen bis ins 20. Jahrhundert hinein große Bedeutung für Liedkomponist*innen.49 Schulz’ „Lieder, die in ihren wenigen, schlichten Noten einen erheblichen Reichtum verstecken“, 50 wirkten also weiter; weniger allerdings in ethischer als in ästhetischer Hinsicht. Gustav Mahlers „Liedkompositionen nehmen oft eine Art Mittelstellung zwischen den Polen einfaches Volkslied und artifizielles, kompositionstechnisch komplexes Kunstlied ein.“51 „‚Im Volkston‘, eine im Lied der Romantik häufig zu findende Ausdrucksanweisung, Forschungslage („Auf stimmt ein freies Scherzlied an“, 19–31). 46 Max Friedländer, Das deutsche Lied im 18. Jahrhundert, Quellen und Studien, 3 Bde., Stuttgart 1902. 47 Ludger Rehm, „Voß und die Musik“, in: „Ein Mann wie Voß...“. Ausstellung der Eutiner Landes­ bibliothek, des Gleimhauses Halberstadt und der Johann-Heinrich-Voß-Gesellschaft zum 250. Geburtstag von Johann Heinrich Voß, Bremen 2001 (= Veröffentlichungen der Eutiner Landesbibliothek 4), 127. 48 „Das Problem am Kanon [hier ist gemeint: der ständig im Musikbetrieb aufgeführten Werke] ist nicht so sehr, was er enthält, sondern vor allem, was fehlt.“ (Berthold Seliger, Klassenkampf, Ernste Musik, Bildung und Kultur für alle, Berlin 2017, 67.) 49 Peter Tenhaef bemerkt zu Recht: „Keine andere musikalische Gattung wurde so oft und nachhaltig mit Vorstellungen von Einfachheit verbunden wie die des Liedes, jedenfalls seit dem Zurücktreten des polyphonen Liedes um 1600. Diese Einschätzung gilt […] in mancher Hinsicht auch noch für das romantische Kunstlied von Schubert bis Reger“ (Peter Tenhaef, „Johann Abraham Peter Schulz und die Simplizitätsideale des Liedes“, in: Lied und Liedidee im Ostseeraum zwischen 1750 und 1900. Referate der 8. Internationalen musikwissenschaftlichen Tagung „Musica Baltica – interregionale musikkulturelle Beziehungen im Ostseeraum“. Greifswald – Lubmin, November 1998, hg. von Ekkehard Ochs et. al., Frankfurt a. M. 2002, 31–42, hier 1–2). Tenhaef gibt hier einen gelungenen, lesenswerten kurzen Überblick über die Geschichte der „Simplizitätsideale“ des Liedes. 50 Ebd., 7. 51 Peter Revers, Mahlers Lieder. Ein musikalischer Werkführer, München 2000, 40.

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beschreibt im Grunde sehr präzise die zugrundeliegende Vorstellung von einer durch Kunst geschaffenen Ursprünglichkeit. Auch Mahlers Denken weist in diese Richtung.“52 Im ethischen Sinne hat der auf klärerische Volkston-Begriff von Voß und Schulz freilich wenig gemeinsam mit dem der romantisch-realitätsfernen Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn. 53 Mahler aber entromantisiert diese Gedichte, wie Peter Revers überzeugend dargelegt hat: „Es ist ohne Frage ein hohes Verdienst Mahlers, mit seinen Vertonungen wesentlich dazu beigetragen zu haben, dass die Volkspoesie von jener Patina der Idylle befreit beziehungsweise ihre Scheinhaftigkeit bloßgelegt wurde: dies umso mehr, als Mahlers Werk für die Rezeptionsgeschichte der ‚Wunderhorn-Texte‘ von zentraler Bedeutung war und ist.“54 Damit hat Mahler unbewusst eine Brücke zu dem der realen Lebenswelt verpf lichteten „Volkston“-Begriff der Freunde Voß und Schulz geschaffen. – Voß würde sicherlich schmunzeln über diese Ironie der Geistesgeschichte. Fazit: Natürlich lassen diese mitunter essayistischen Ausführungen viele Fragen offen. Angesichts der intensiven Pf lege des klassischen und romantischen (aber auch zunehmend des modernen) Liedrepertoires mögen sie auch als ein Hinweis darauf gelesen werden, wie sinnvoll und lohnend es wäre, sich künftig wissenschaftlich wie künstlerisch intensiver mit den vokalen Werken der Auf klärung zu befassen. Der durch und durch auf klärerische ästhetische und ethische Impetus, der den gemeinsamen Werken der Künstlerfreunde Schulz und Voß ihr zeitlos Frisches und Inspirierendes gibt, scheint heute aktueller und wichtiger denn je zu sein. Diese musikalische Lyrik schafft das Unmögliche: Sie überwindet die Dialektik von Fasslichkeit und ästhetischer Qualität, und zwar durch ihre „Tiefe an der Oberf läche“.55 Jedwede „Volkstümelei“ (im auf klärerischen oder romantischen Sinne) ist dem Homer-Übersetzer Voß und seinem Komponistenfreund Schulz fremd. Die bewusste Reduktion 56 auf vermeintlich Einfachstes entpuppt sich bei genauer Betrachtung und ihrer praktischen Realisierung, also beim Musizieren, als höchste Kunstfertigkeit. Voraussetzung dafür war auch eine einzigartige historische Konstellation, die es den Künstlerfreunden erlaubte, an die Möglichkeit einer 52 Ebd., 40–41. 53 Vgl. Dürr / Steiner, „Schulz und seine ‚Lieder im Volkston‘“. 54 Revers, Mahlers Lieder, 15. 55 Hugo von Hofmannsthal, „Buch der Freunde“, in: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, hg. von Bernd Schoeller, Bd. 10: Reden und Aufsätze III, Frankfurt a. M. 1986, 233–299, hier 268. 56 „Innovativer Reduktionismus“ war natürlich keine Erfindung von Schulz und Voß. So ist zum Beispiel die für die Musikgeschichte wichtige Erfindung der Monodie bzw. des Generalbasses im Italien des späten 16. Jahrhunderts immer wieder auch als Absage an die hochentwickelte, komplizierte Vokalpolyphonie der Spätrenaissance verstanden worden. In gewisser Weise greift Schulz auf diese Errungenschaft zurück. Das Vorgestern wird in der Geistesgeschichte bekanntermaßen immer wieder durch eine veränderte Perspektive (natürlich auf Kosten des Gestern) aktuell, neu. Schulz und Voß gelingt freilich mit Ihrer musikalischen Lyrik etwas, das weit über eine Aktualisierung von Vergangenem hinausgeht!

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Verbesserung der Welt durch „Musik für alle“ zu glauben. – Ein (fast) vergessener Kairos der Kulturgeschichte, der im Titel dieses Aufsatzes in einer Formulierung von Schulz folgendermaßen zum Ausdruck kommt: „Es ist nichts geringes, durch eine sehr einfache und kurze Melodie, den geradesten Weg nach dem Herzen zu finden.“

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Schubert und Heine im großen preußischen Waffenlager Zum „verdächtigen Untertitel“ des Gemäldes Im Etappenquartier vor Paris (1894) von Anton von Werner Marie-Agnes Dittrich Noch im Jahre seiner Entstehung 1894 kaufte die Berliner Nationalgalerie, die heutige Alte Nationalgalerie, ein Gemälde von Anton von Werner (1843–1915) in der Annahme, mit „Vervielfältigungen des Bildes im Buntdruck ein gutes Geschäft“1 zu machen. Das Bild, Im Etappenquartier vor Paris, zeigt musizierende deutsche Offiziere im Kriegsjahr 1870. Tatsächlich verkauften sich die Reproduktionen bestens, und Abbildungen sind bis heute häufig und auch im Internet leicht zu finden. Aber so gut wie nie ist auf den Reproduktionen der Bilderrahmen zu sehen (Abb. 1). Er trägt ein Schild mit der ersten Liedzeile (T. 3–6) aus Franz Schuberts2 Lied „Am Meer“ aus dem sogenannten Schwanengesang (D 957) mit einem Text von Heinrich Heine. Offenbar war es wichtig, dass 1870 nicht irgendein Klavierlied gesungen wurde, sondern genau dieses. Aber warum gerade „Das Meer erglänzte weit hinaus“?3 Anton von Werner (Abb. 2) war seit 1874 Mitglied der Berliner Akademie der Künste und am 6. April 1875 von König Wilhelm I. von Preußen zum ersten Direktor ihrer neu eingerichteten Kunsthochschule, der Königlichen Akademischen Hochschule für die Bildenden Künste zu Berlin, ernannt worden.4 Außerdem war er – unter anderem – Mitglied der preußischen Landeskunstkommission, Vorsitzender des Vereins Berliner Künstler, Vorsitzender der Mitgliedergenossenschaft der Akademie, Vorsitzender der Lokalgenossenschaft Berlin und Hauptvorsitzender der Allgemeinen Deutschen Kunstgenossenschaft 5 und laut Personalienbuch der Akademischen Hochschule unter anderem Mitglied der Accademia di Belle 1 2 3

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Anton von Werner, Erlebnisse und Eindrücke 1870–1890, Berlin 1913, 408. Einige Publikationen zu diesem Bild nennen fälschlich Robert Schumann. Dieser Frage konnte ich aus Anlass der Internationalen Konferenz Music and Media: War of Media – Media of War (25.–28. November 2015) an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien erstmals nachgehen. Dieser Text basiert auf meinem Vortrag am 25. November 2015, „Warriors of a ‚nation of culture‘. With Schubert ‚In Quarters before Paris‘ (‚Im Etappenquartier vor Paris‘)“. Dietmar Schenk, Anton von Werner, Akademiedirektor: Dokumente zur Tätigkeit des ersten Direktors der Königlichen Akademischen Hochschule für die Bildenden Künste zu Berlin, 1875–1915, Berlin 1993, 10–11, 24. Dominik Bartmann, Anton von Werner. Zur Kunst und Kunstpolitik im Deutschen Kaiserreich, Berlin 1985, 32–33.

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Abbildung 1: Anton von Werner, Im Etappenquartier vor Paris, unterer Bildrahmen.

Arti in Venedig, des Instituto de Bellas Artes in Caracas, der kaiserlich-königlichen Akademie zu Wien und Träger diverser Verdienstmedaillen und Orden, darunter des Roten Adlerordens vierter Klasse, von Offizierkreuzen des Ordens der italienischen Krone, der Ehrenlegion und mehrerer Ritterkreuze.6 „Orden verpf lichten“, so eine Karikatur von Olaf Gulbransson,7 und Werner, der „das Berliner, ja, das gesamte preußische Kunstleben im Sinne einer monarchisch-nationalen Ästhetik“ kontrollierte, 8 war einer konservativen Kunst und Kunstpolitik verpf lichtet.9 Er malte Portraits aller preußischen Berühmtheiten, zahlreiche Schlachtenbilder, auch in Form realistisch wirkender Panoramen, stattete öffentliche Bauten und vornehme Häuser mit Wandgemälden aus, illustrierte Dichtungen und entwarf Friese für die Siegessäule, aber „berühmt wurde er erst durch seine Historienbilder, die in der That als Reklamebilderbogen für das neue deutsche Reich unvergleichlich sind“10 – so der Maler und Schriftsteller Friedrich von Khaynach, der an der Berliner Akademie studiert hatte11 und die dortige Kunst, abgesehen von wenigen Ausnahmen wie Menzel oder Liebermann, mit 6 Schenk, Akademiedirektor, 24–26. 7 Olaf Gulbransson, Karikatur „Orden verpflichten“, in: Beiblatt zum Simplicissimus 8/49, 1. März 1904. 8 Bartmann, Kunst und Kunstpolitik, 33. 9 John C. G. Röhl, Wilhelm II. Der Aufbau der Persönlichen Monarchie 1888–1900, München 2001, 1014. 10 Friedrich Freiherr von Khaynach, Anton von Werner und die Berliner Hofmalerei, Zürich 1893, 11. 11 Ebd., 8–10.

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Abbildung 2: Olaf Gulbransson, Anton von Werner (1904). © Bildrecht Wien. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

derselben Inbrunst verabscheute wie das deutsche Kaiserreich, seine Gesellschaft12 und seine Kunstpolitik: Werners Geist dominiert in Berlin, er ist gleichsam nur die künstlerische Seite des großen preußischen Waffenlagers. Wohin das Auge blickt – man sieht Soldaten, hohe und geringe, Fahnen, Gewehre und Kanonen, pomphafte Feste, wo ebenfalls ausschließlich Soldaten sind. Diese ganze steif leinene, unverschämte, trostlose, 12 Khaynachs Behauptung (ebd., 37), kein Antisemit zu sein, ist angesichts zahlreicher antisemitischer Formulierungen in seiner Schrift unglaubwürdig. (Bei Anton von Werner dagegen habe ich übrigens keine antisemitischen Äußerungen gefunden.)

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Schubert und Heine im großen preußischen Waffenlager spießbürgerliche, feudale Gesellschaft hat Werner auf die Leinwand gebannt, so gründlich, peinlich und nüchtern, wie diese selbst ist und wie sie künftigen freien Geistern eine widrige Erinnerung an einen Teil deutscher Geschichte sein wird.13

Anton von Werner ist bis heute unvergessen, weil er als Akademiedirektor die Zulassung weiblicher Studierender verhinderte,14 weil der Verein Berliner Künstler unter seinem Vorsitz auf Betreiben konservativer Mitglieder 1892 eine Edvard-Munch-Ausstellung nach nur wenigen Tagen schloss und damit nicht wenig Reklame für ihn und die moderne Kunst allgemein machte,15 wegen der „Tschudi-Affäre“ (als er 1908 im Streit um die Moderne Hugo von Tschudi als Direktor der Nationalgalerie ablösen sollte, nachdem der bei Kaiser Wilhelm II. wegen des Kaufs von Werken französischer Impressionisten in Misskredit geraten war),16 und vor allem, weil sein Gemälde Die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches am 18. Januar 1871 das Ereignis als scheinbar „historisches Dokument“17 im kollektiven Gedächtnis bewahrt hat. Denn Werners technisches Können, das nicht einmal Khaynach bezweifelte, erweckte wegen seiner „Brillanz und Detailtreue“ nicht nur den Beifall seiner Zeitgenoss*innen,18 sondern suggerierte auch Authentizität19 – Khaynach verglich sie mit kolorierten Fotographien 20 –, ungeachtet der Tatsache, dass Werner von der Kaiserproklamation mehrere Fassungen anfertigte, die je nach Wunsch der Auftraggeber unterschiedliche Personen ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellten, auch solche, die nachweislich nicht dabei gewesen waren. 21 Zwar äußerte Werner die Ansicht, Historienbilder könnten nicht die Wirklichkeit zeigen, da sie „mehr als ein nur chronistisches Dokument“ 22 , nämlich vor 13 Ebd., 28. 14 Gabriele Poggendorf, „Anton von Werner und die Geburt der Kunsthochschule“, in: „Die Kunst hat nie ein Mensch allein besessen“. Eine Ausstellung der Akademie der Künste und Hochschule der Künste 9. Juni bis 15. September 1996, hg. von der Akademie der Künste und der Hochschule der Künste Berlin, Berlin 1996, 295–302, hier 298. 15 Bartmann, Kunst und Kunstpolitik, 187–194. 16 Ebd., 213–254. 17 Ebd., 96. 18 Poggendorf, „Anton von Werner und die Geburt der Kunsthochschule“, 295–302, hier 295. 19 Dominik Bartmann, „Zur Ausstellung“, in: Anton von Werner. Geschichte in Bildern, Ausstellung des Berlin Museums und des Deutschen Historischen Museums Berlin, im Zeughaus, 7. Mai –27. Juli 1993, hg. von dems., München 1997, 9–10, hier 9. 20 „Tüchtig sind diese Sachen, wenn man will, schon; was er malt, malt noch lange nicht jeder. […] es sind Atelierstücke, die den Duft von Sitzfleisch und staubiger Stubenluft ausströmen, leidlich gefärbte photographische Aufnahmen, die dem Beschauer die schrecklichste Empfindung abnötigen, die man über ein Kunstwerk haben kann, nämlich frostiges Staunen über soviel Fleiß und Geschicklichkeit.“ (Khaynach, Berliner Hofmalerei, 13.) 21 Bartmann, Kunst und Kunstpolitik, 96–122; ders., „Der Maler der Kaiserproklamation“, in: Geschichte in Bildern hg. von dems., 332–369. 22 Anton von Werner, Rede bei der Trauerfeier der Königl. Akademie der Künste für Adolph von Menzel am 6. März 1905 gehalten von Anton von Werner, Berlin 1905, 12.

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allem Bilder, sein sollten. Aber die Varianten der Kaiserproklamation unterscheiden sich nicht aus ästhetischen, sondern aus politischen Gründen. Nach 1880 rücken sie die Vertreter Preußens in den Mittelpunkt und setzen so den „Alleinanspruch Preußens auf die Führung im Deutschen Reich ins Bild.“ 23

Das Gemälde I m Etappenquartier vor Paris Das Bild Im Etappenquartier vor Paris zeigt eine Szene aus dem Krieg gegen Frankreich. Anton von Werner legte Wert darauf, „zur Zeit des Krieges: Maler im Hauptquartiere der Dritten Armee“ 24 gewesen zu sein. Als am 2. September 1870 die Nachricht von der Schlacht von Sedan und der Gefangennahme Napoleons III. eintraf, so erinnerte sich Werner 1913, „da hielt es auch mich kaum länger, ich mußte dabei sein.“ 25 Die deutschen Truppen waren auf dem Vormarsch nach Paris, und der Schleswig-Holsteinische Kunstverein beauftragte Werner, ein Bild, den „General Moltke vor Paris“ darstellend, zu malen. Man glaubte, der Feldzug würde so rasch zu Ende gehen wie der von 1866, und so tat Eile not. Dieser Auftrag war die erwünschte Veranlassung zur Begründung meines Gesuchs, mich in das Zentrum der kriegerischen Ereignisse begeben zu dürfen, das ich dem mir freundlich gesinnten Großherzog von Baden mit der Bitte um seine Hilfe unterbreiten ließ, und auf dessen Bewilligung ich sicher hoffen durfte. 26

Von Karlsruhe reiste Werner über Straßburg, in dem es von deutschen Touristen wimmelte – es „zogen viele dorthin, um sich die arg zerschossene für Deutschland wiedergewonnene ‚wunderschöne Stadt‘ anzusehen“ 27 –, per Bahn und dann mit einer Militärkolonne nach Versailles, dem Hauptquartier der deutschen Truppen. Endlose Züge schwerer Artillerie und Munition überholten wir, rechts und links von der kotigen Landstraße lagen ganz- oder halbtote Pferde […] Die Luft schwer grau mit einem gelben Streifen am Horizonte, unten überall Kot, tief zerfahrene Wege, Soldaten überall, die Bewohner der Dörfer teils indolent, teils tückisch dem Getriebe zuschauend, das war die Signatur jener Gegend im Oktober 1870. In Gretz sowohl, wie am folgenden Tage in Brunoy wurden wir in reizenden Landhäusern einquartiert, die mit dem feinsten Geschmack und vollendetsten Komfort ausgestattet waren. Wir schliefen in prächtigen Himmelbetten und richteten uns in den eleganten Salons in aller Eile behaglich ein, die Train23 Monika Flake, „Deutschland. Die Begründung der Nation aus der Krise“, in: Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama, München 1998, 101–128, hier 123. 24 Julius von Pflugk-Harttung (Hg.), Krieg und Sieg 1870–71. Ein Gedenkbuch, Berlin [1895], XI. 25 Werner, Erlebnisse und Eindrücke, 6. 26 Ebd., 6–7. 27 Ebd., 7.

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Abbildung 3: Anton von Werner, Im Etappenquartier vor Paris (1894). © bpk / Nationalgalerie, SMB / Jörg P. Anders. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

soldaten suchten im Park Tannenzapfen, und bald prasselte im Marmorkamin ein lustiges Feuer. Ein Bild, das ich erst 24 Jahre später nach meinen damaligen Skizzen 28 malte: „Im Etappenquartier vor Paris“ verdankt seine Entstehung der Erinnerung an diesen Aufenthalt. […] Beschädigt oder verwüstet war hier noch nichts, denn die Bewohner waren zurückgeblieben oder hatten doch irgend jemand in den Villen zur Beaufsichtigung gelassen, und unsere Soldaten wußten sich mit den concierges und jardiniers schnell in gutes Einvernehmen zu setzen. 29

Von der Trostlosigkeit, an die sich Werner Jahrzehnte später erinnerte, lässt das Gemälde nichts ahnen. Wären nicht ihre schmutzigen Stiefel, könnte man übersehen, dass die deutschen Offiziere, Ulanen in Blau und ein Husar mit weiß verschnürter roter Jacke, Besatzer sind: der Salon des Schlösschens von Brunoy – Werner nannte es „ein ganz besonderes Erzeugnis französischen Geschmacks“ 30 – ist unversehrt, nichts wurde geplündert, jedes erlesene Dekorationsstück ist an 28 Eine Skizze trägt das Datum „24. Oktober 1870“. 29 Werner, Erlebnisse und Eindrücke, 12–13. Orthographie original. Die frz. Wörter „concierges“ bzw. „jardiniers“ sind nicht in Fraktur gesetzt. 30 Ebd., 13.

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seinem Platz, und auch die Möbel sind intakt, denn das Holz für das Kaminfeuer, das eben gezündet wird, stammt von draußen. Und vor allem verströmen die Besatzer Harmonie. Sie machen Musik und erfreuen damit sogar die beiden hier weder indolenten noch tückischen Französinnen: die Concierge, die mit ihrer eher ängstlich blickenden Tochter zuhört, scheint tatsächlich in gutem Einvernehmen mit dem Soldaten daneben zu stehen. Den „Kontrast zwischen kostbarem, überfeinerten Rokoko-Interieur und den hemdsärmeligen, aber gutmütigen Kriegern“ 31 empfanden einige Zeitgenossen als komisch 32 (eine Kritik lobt den „echten Humor, den nur eine wirklich tief veranlagte Seele besitzt“ 33); der Kaiserin Auguste Viktoria allerdings sollen die schmutzigen Stiefel missfallen haben. 34 Es ist nicht das einzige von Werners Gemälden, das den Eindruck erweckt, die deutsche Besatzung müsse geradezu ein Vergnügen gewesen sein. Kriegsgefangen (1886) zeigt den Abschied eines Franzosen von seiner Frau, die ihr brüllendes Baby kurzerhand einem deutschen Soldaten in den Arm gedrückt hat, der zur Belustigung seiner Kameraden „nicht recht weiß, wie ihm geschieht.“ 35 Werners Zeitgenoss*innen brachten es fertig, derartige Gemälde nicht nur wegen ihres angeblichen Humors zu schätzen, sondern auch, weil sie darin die menschliche Seite des Krieges (und vor allem der deutschen Eroberer) sehen wollten. 36 Dass Im Etappenquartier erst 24 Jahre später entstand, macht das Bild übrigens nicht zu einer Ausnahme. Der Sieg über Frankreich war die raison d’être des Deutschen Reichs, eine Tatsache, an die die pompösen Siegesfeiern am Tag der Schlacht von Sedan jedes Jahr ebenso erinnerten wie die ständige Produktion von Denkmälern, Statuen und Büchern. Auch Maler kamen zu und blieben bei Ruhm und Einkünften, indem sie den Krieg immer wieder führten und gewannen. Werner selbst hatte in Berlin bei der Siegesparade am 16. Juni 1871 mit einem quer über die Straße Unter den Linden gespannten Velarium Kampf und Sieg37 „seinen ersten durchschlagenden Erfolg“38 und scheint einen Großteil seiner weiteren Lebenszeit damit verbracht zu haben, an den Krieg und seine Rolle darin zu erinnern. Der Krieg ist das Leitmotiv seiner Reden an der Akademie, die er aus jedem denkbaren Anlass – bei Abschlussfeiern, Gedenkfeiern für verstorbene Angehörige des Kaiserhauses oder zum Geburtstag eines Generals – nicht nur hielt, sondern auch 31 Bartmann, Kunst und Kunstpolitik, 91. 32 Ebd. Vgl. dazu auch http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/print_document.cfm?document_ id=1400 (25.1.2019). 33 „Die große Berliner Kunstausstellung“, in: Deutsches Volksblatt, 1. Juni 1894, Morgenausgabe, 1–2, hier 2. 34 Arbeiter-Zeitung, Zentralorgan der Sozialdemokratie Deutsch-Österreichs, 27. Juni 1921, Mittagsblatt, 3. 35 Dominik Bartmann, „Kriegsgefangen“, in: Geschichte in Bildern, hg. von dems., 304–309, hier 304. 36 Bartmann, Kunst und Kunstpolitik, 90. 37 Näheres über dieses bemalte Segel in Geschichte in Bildern, hg. von Bartmann, 315–317. 38 Paul Meyerheim, „Erinnerungen an Anton von Werner. Von seinem Freunde Paul Meyerheim“, in: Velhagen und Klasings Monatshefte 29/7 (1914/15), 408–412, hier 408.

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publizierte. 39 Auf einer Karikatur von 1894 malen Akademiestudenten Soldatenstiefel, Waffen und Uniformen ab; die Unterschrift behauptet, Werner habe „der modernen Malerei den Krieg erklärt“ und daher einen Akademielehrer empfohlen, weil er „Landwehroffizier sei, […] was gewiß für die Tüchtigkeit des Mannes bürge. Verschiedene Militäreffecten-Handlungen sehen freudig der neuen Kunstära entgegen.“40 Anlässlich der 25-Jahr-Feier der Schlacht von Sedan erschien 1895 ein „Gedenkbuch“41 mit dem Titel Krieg und Sieg; sein Titelbild zeigt den gallischen Hahn, der im Kampf mit dem preußischen Adler seine Krone verliert (dieses Motiv hatte auch schon Werners Velarium von 1871 enthalten). Der Generalleutnant und Militärschriftsteller Albert von Boguslawski stellt französische Dekadenz und französisches Großmachtstreben und die mangelnde Bildung des französischen Volkes gegen deutsche Bescheidenheit, Pf lichterfüllung und Bildung mit dem Resümee, „daß das deutsche Volk, als uns gallischer Übermut und Neid den Handschuh hinwarfen, dem französischen moralisch überlegen war.“42 Für dieses Gedenkbuch schrieb Anton von Werner den Abschnitt „Versailles und die Hauptquartiere“43 im Kapitel „Kulturgeschichte des Krieges“. Die Anfangsvignette des Kapitels, Ludwig XIV. zu Pferde neben der Figur der „Heidelberga deleta“44 vor dem Hintergrund des brennenden Schlosses,45 insinuiert, der Pfälzische Erbfolgekrieg habe den Krieg von 1870/71 verursacht. Die zeitliche Nähe zum 200. Jahrestag der Zerstörung Heidelbergs (1693) dürfte dabei geholfen haben. In Werners Beitrag, einer Schilderung seiner eigenen Erlebnisse, geht es (wie so oft) vor allem um name dropping und Werners freundschaftliche Begegnungen mit vielen Berühmtheiten aus Hochadel und Armeeführung. Eine Abbildung zeigt das neue Gemälde, hier mit dem Titel Im Etappenquartiere. Die Szene von 1870 beschreibt Werner hier so: Tannzapfen und trockene Zweige wurden gesammelt, irgendwo noch ein Stück Zaun oder dergl. gefunden, um ein Feuer im Kamin zu entzünden, und dann, während die Erbswurstsuppe brodelte, setzten sich musik- und sangeskundige Mannschaften, an denen es nie fehlte, ans Klavier und ließen deutsche Weisen 39 Anton von Werner, Ansprachen und Reden des Direktors A. von Werner an die Studirenden der Königlichen Akademischen Hochschule für die bildenden Künste zu Berlin und Verzeichniss der Lehrer, Beamten und Schüler derselben seit 1875, Berlin 1896. 40 Britta Kaiser-Schuster, „Anton von Werner in der Karikatur“, in: Geschichte in Bildern, hg. von Bartmann, 110–116, hier 111. 41 Julius von Pflugk-Harttung (Hg.), Krieg und Sieg. 42 Albert von Boguslawski, „Zustände und Eigenschaften des französischen und des deutschen Volkes“, in: ebd., 34–37, hier 37. 43 Anton von Werner, „Kulturgeschichte des Krieges“, in: ebd., 649–676. 44 Diese Inschrift (dt.: ‚Das zerstörte Heidelberg‘) trug eine Medaille Ludwigs XIV. nach der Verwüstung der Stadt, https://www.zum.de/Faecher/G/BW/Landeskunde/rhein/hd/km/ kdm/07/01a.htm (25.1.2019). 45 Werner, „Kulturgeschichte des Krieges“, 649.

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Marie-Agnes Dittrich erklingen, allbekannte Volks- und Soldatenlieder, aber auch Schumannsche und Schubertsche Weisen.46

Musik als Symbol deutscher Innerlichkeit Unter seiner kriegsverharmlosenden Oberf läche vermittelt das Bild der musizierenden Besatzer noch weitere Botschaften: Die intime Szene, die kultivierte Häuslichkeit mit militärischer Tradition vereint, erhebt so beide zu einem „monument of German greatness.“47 Und es ist ein „Bild der ‚deutschen Seele‘.“48 Deutsche Männlichkeit ist (mit kräftigen Farben) in die ganz in Pastelltönen gehaltene ‚weibliche‘ Sphäre eingedrungen – selbst die Wandbilder im zierlichen Salon zeigen Frauen –, und deutsche Innerlichkeit, symbolisiert durch die Liebe zur Musik, triumphiert über effeminierte französische Oberf lächlichkeit.49 Deutschland wird auch hier (wie später noch etwa bei Thomas Mann) als „Kulturnation“ im Land der „Zivilisation“ inszeniert. Werners Schriften bestätigen diese Sichtweise. Zwar scheint er seine Frankreich-Reisen genossen zu haben, studierte und schätzte die französische Malerei 50 – „aber nur jene Meister, die das Banner von Ehrlichkeit, Geist und Schönheit in Zeichnung, Farbe und Ausführung hochhielten“51 –, und der Realismus, besonders von Ernest Meissonnier, wurde zum Vorbild für seine eigenen Historienbilder.52 Aber er hatte schon von Jugend auf eine „Abneigung gegen das französische Wesen“53 und äußerte sich immer wieder über die Franzosen allgemein und ihre Oberf lächlichkeit im Gegensatz zu deutscher Tiefe und Empfindungsfähigkeit. Umgekehrt, glaubte Werner, sähen die Franzosen die Deutschen als Kinder, „denen man ihr Spielzeug: Wachtparaden, Musik und Philosophie wohlwollend lässt.“54 46 Ebd., 655. 47 Celia Applegate, „Culture and the arts“, in: Imperial Germany 1871–1918, hg. von James Retallack, Oxford 2008, 106–127, hier 114–115. 48 Kai Artinger, „‚Ein Bild der ‚deutschen Seele‘. Anton von Werners ‚Im Etappenquartier vor Paris 1871‘ (1894)“, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz, Bd. 32, hg. von Werner Knopp, Berlin 1995, 419–440. Die Jahreszahl 1871 ist irreführend, das Bild basiert auf einer Skizze von 1870. 49 Zum Zusammenhang von Männlichkeit, Tiefe und Innerlichkeit der deutschen Musik vgl. auch Frank Hentschel, Bürgerliche Ideologie und Musik. Politik der Musikgeschichtsschreibung in Deutschland 1776–1871, Frankfurt a. M. 2006, passim, bes. aber 416–426. 50 Thomas W. Gaethgens, „Anton von Werner und die französische Malerei“, in: Geschichte in Bildern, hg. von Bartmann, 49–61, sowie François Robichon, „Der Krieg von 1870/71 und die französische Militärmalerei“, in: ebd., 62–79. 51 Meyerheim, „Erinnerungen an Anton von Werner“, 409. 52 Poggendorf, „Anton von Werner und die Geburt der Kunsthochschule“, 295–302, hier 295. 53 Anton von Werner, Jugenderinnerungen (1843–1870), hg. von Dominik Bartmann, Berlin 1994, 130. Laut Bartmann (VII–VIII) basieren die Erinnerungen auf heute fast völlig verschollenen Tagebuchaufzeichnungen. 54 Ebd., 164.

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Dass Musik hier als typisch deutsch gelten soll, verweist auf eine damals erst vor kurzem erfundene Tradition. Seine kulturelle Unterlegenheit im Vergleich mit Österreich und Frankreich kompensierte das neue Deutschen Reich durch maßlose Übertreibung. Wie wichtig die Musik dabei war, zeigt sich zum Beispiel in der Rezeption von Adolf Menzels Das Flötenkonzert Friedrichs des Großen in Sanssouci (1852). Das Gemälde galt zunächst nur als Genrebild, präsentierte es doch den König nicht als Kriegshelden oder Staatsmann, sondern in einem privaten Moment der Entspannung.55 Aber später wurde es neu interpretiert, denn zu den Gründungsmythen56 des Deutschen Reichs gehörte, neben dem Hermann- oder dem Lutherkult, auch die Verehrung Friedrichs des Großen als des Philosophen, Komponisten und Virtuosen auf dem Königsthron, der Voltaire Asyl geboten, mit Johann Sebastian Bach auf Augenhöhe über Fugen geredet und mit Carl Philipp Emanuel Bach konzertiert habe. So wurde Menzels Genrebild zu einem Historiengemälde aufgewertet und galt nun als so bedeutend, dass es 1875 für die Nationalgalerie gekauft wurde. Auch Beethoven, der in Berlin „auf den Sockel“57 gekommen war, erklärte man zu einem Deutschen in diesem Sinne. 1870 fielen überdies die Feiern seines 100. Geburtstages mit dem Krieg gegen Frankreich zusammen – dazu bekanntlich Richard Wagners Beethoven-Schrift von 1870, die keine Monographie, sondern ein antifranzösisches und anti-österreichisches Pamphlet ist (Mithilfe zeitlicher Koinzidenz erhöhte übrigens auch Werner seine eigene Bedeutung im Sinne dieser Gründungsmythen: Die „Nachricht von der französischen Kriegserklärung“ habe ihn am 13. Juli 1870 erreicht, am selben Tag, als das vatikanische Konzil das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes proklamiert und er selbst „gerade am Kopfe des protestierenden Luther“58 gemalt habe). Musik war auch für Anton von Werner persönlich wichtig. Er spielte Violoncello, wurde, seinen Memoiren zufolge, häufig gebeten, für gekrönte Häupter und diverse Fürsten oder Großherzoginnen zu musizieren, und beschrieb seine Begegnungen mit Musiker*innen: So werden zum Beispiel auf einer einzigen Seite seiner Jugenderinnerungen Clara Schumann, Hans von Bülow, Joseph Joachim und andere genannt.59 55 Zum Bild und seinen Interpretationen vgl. Gabriele Busch-Salmen, „Mit geschärfterem Blick. Adolph Menzels ‚Flötenkonzert Friedrichs des Großen in Sanssouci‘ – ein vertrautes Gemälde?“, in: Flöte aktuell 2 (2012), 16–25; Françoise Forster-Hahn, „Die ‚formende Kraft‘ historischer Bilder. Adoph Menzels und Anton von Werners Darstellungen deutscher Geschichte“, in: Geschichte in Bildern, hg. von Bartmann, 80–90, hier 81–82. 56 Zu den Gründungsmythen in der Kunst vgl. auch Flake, „Die Begründung der Nation“, 123; Agnete von Specht, „‚…Danke ich Gott, dass ich ein Preuße bin.‘ Nationale Identifikation und Historienmalerei in Preußen“, in: Studien und Vorträge zur preußischen Geschichte des 18. Jahrhunderts der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten [2011], https://www.perspectivia.net/publikationen/ friedrich300-studien/specht_identifikation (25.1.2019). 57 Elisabeth Eleonore Bauer, Wie Beethoven auf den Sockel kam. Die Entstehung eines musikalischen Mythos, Stuttgart 1992. 58 Werner, Erlebnisse und Eindrücke, 4. 59 Werner, Jugenderinnerungen, 79.

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Warum gerade das Lied „Das Meer erglänzte weit hinaus“? Was das Musizieren Im Etappenquartier vor Paris bedeutet, wird in den mir bekannten Interpretationen des Gemäldes diskutiert. Aber es muss auch wichtig gewesen sein, was musiziert wurde, jedenfalls im Jahre 1894. Denn bereits in den Akten über den Erwerb des Bildes durch die Nationalgalerie wird der Anfang des Liedes, den das Schild am Rahmen zeigt, wie ein Untertitel genannt: „Künstler: Anton von Werner. Gegenstand: Oelgemälde. Im Etappenquartier vor Paris. ‚Das Meer erglänzte weit hinaus‘.“60 Und Werner selbst schrieb in einem Brief an die Nationalgalerie vom 28. Dezember 1894: „Das Lied ‚Das Meer erglänzte weit hinaus‘ war damals bei allen Militärmusik-Kapellen sehr beliebt, u. ich erinnere mich, es als Morgenmusik im Hauptquartier des Kronprinzen vom 6. Musikkorps fortissimo gehört zu haben.“61 Allerdings stimmt mit dem Notenbild des Liedes die im Gemälde (vgl. Abb. 4) nur angedeutete Struktur der Musik nicht überein: Die Noten im Bild zeigen wie in einem Klaviersatz nur zwei Systeme (solche Ausgaben waren allerdings nicht unüblich) und dunklere Passagen für kleinere Notenwerte fast nur abwechselnd entweder im oberen oder im unteren System, obwohl kleine Notenwerte (Zweiunddreißigstel) im Lied immer gleichzeitig vorkommen. Auch greift der Pianist eine weite Lage, und seine rechte Hand spielt eine hohe Taste (ein h); im Lied müssten beide Hände näher beieinander und die rechte Hand tiefer liegen (und der Ton h käme nicht vor). Diese Diskrepanz ist merkwürdig, gerade bei einem Musikkenner wie Werner, dessen Sorgfalt und Detailtreue berühmt war. Die Skizze von 1870 hilft nicht weiter: sie lässt das Notenpapier als weiße Fläche leer.62 (Dort spielt der Pianist übrigens in engerer Lage und statt auf einem Flügel nur auf einem Pianino, auch das Interieur ist wesentlich schlichter). Wenn Werner sich trotzdem im Brief an die Nationalgalerie so genau an die Musik von 1870 zu erinnern meint, muss etwas an dem Lied in dieser Zeit, also 1894, eine besondere Bedeutung gehabt oder bekommen haben. Ob sie in der Musik gelegen haben könnte, die auch damals beim Militär noch beliebt war,63 bleibt unklar, schon angesichts der Frage, was man überhaupt in ihr gehört haben könnte, wenn 60 Zentralarchiv Staatliche Museen zu Berlin, Akten der Nationalgalerie, Protokolle der Landeskommission, Sitzungen vom 8.–10. Mai 1894, SMB-ZA, I/NG 460, Bl. 195v. 61 Anton von Werner, Brief an die Nationalgalerie, zit. nach Dominik Bartmann, „Im Etappenquartier vor Paris“, in: Geschichte in Bildern, hg. von dems., 310–314, hier 310. 62 Abbildung in Geschichte in Bildern, hg. von Bartmann, 310. 63 Wie häufig und in welcher Form es in Militärliederbüchern dieser Zeit oder der Zeit um 1870 vorkommt, konnte ich im Rahmen dieser Untersuchung nicht feststellen, weil sehr viele Liederbücher Kriegsverlust sind. Roland Schmidt-Hensel (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung) verdanke ich die Mitteilung, die Bestände der Bibliothek an Militärmusik ließen darauf schließen, dass das Lied „sich im späteren 19. Jh. immenser Popularität“ erfreut habe, allerdings sei eine fächerübergreifende Sammlung „Krieg 1870/71“, die offenbar auch Musikalien enthalten habe, Kriegsverlust (Mail vom 3. August 2015).

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Abbildung 4: Anton von Werner, Im Etappenquartier vor Paris, Detail. © bpk / Nationalgalerie, SMB / Jörg P. Anders. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

man Schuberts Lied, das fast durchwegs im Pianissimo gehalten ist, von Militärkapellen (und mindestens bei der erwähnten Morgenmusik 1870 auch noch fortissimo) spielen ließ. Auch Heines Gedicht64 über das einsame Paar und das Mädchen, wegen dessen vergifteter Tränen die Seele vor Sehnen stirbt, bietet keine unmittelbare Erklärung. Das Meer erglänzte weit hinaus Im letzten Abendscheine; Wir saßen am einsamen Fischerhaus, Wir saßen stumm und alleine. 64 Der Text ist z. B. enthalten in Des Deutschen Soldaten Liederbuch. Lieder der Deutschen Reichs-Armee und der Kaiserlichen Marine nach von verschiedenen Regimentern geliefertem Material gesammelt und zusammengestellt von Hausburg, Premier-Lieutenant im 4. Magdeburgischen Infanterie-Regiment Nr. 67, Berlin 21892.

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Marie-Agnes Dittrich Der Nebel stieg, das Wasser schwoll, Die Möwe f log hin und wieder; Aus deinen Augen liebevoll Fielen die Tränen nieder. Ich sah sie fallen auf deine Hand Und bin aufs Knie gesunken; Ich hab von deiner weißen Hand Die Tränen fortgetrunken. Seit jener Stunde verzehrt sich mein Leib, Die Seele stirbt vor Sehnen; Mich hat das unglücksel’ge Weib Vergiftet mit ihren Tränen.

Das Meer und das „Hinaus“ in den 1890er Jahren Vielleicht geht es aber weniger um Heines Gedicht oder Schuberts Lied als um eine Resonanz der ersten Textzeile, „Das Meer erglänzte weit hinaus“, in den politischen Debatten der 1890er Jahre. Die Wörter „Meer“ und „hinaus“ finden sich nämlich mehrfach in unmittelbarem Zusammenhang bei Hegel. Die Seefahrt ermögliche Entdeckungen, Kommunikation und Handel, ihre Gefahren förderten die Selbständigkeit, den Verstand und die Freiheit. Weil nur der europäische Geist sich dem Meer geöffnet habe und so über sich hinaus strebe, stehe Europa auf einer höheren Entwicklungsstufe als das am Meer nicht interessierte und daher stets statische Asien oder als Afrika. Einige Beispiele aus verschiedenen Hegel-Ausgaben mögen genügen: Das Meer gibt uns die Vorstellung des Unbestimmten, Unbeschränkten und Unendlichen, und indem der Mensch sich in diesem Unendlichen fühlt, so ermutigt dies ihn zum Hinaus über das Beschränkte. Das Meer ladet den Menschen zur Eroberung, zum Raub, aber ebenso zum Gewinn und zum Erwerbe ein; das Land, die Talebene fixiert den Menschen an den Boden; er kommt dadurch in eine unendliche Menge von Abhängigkeiten, aber das Meer führt ihn über diese beschränkten Kreise hinaus.65 In Asien hat das Meer keine Bedeutung; im Gegenteil, die Völker haben sich gegen das Meer verschlossen. […] In Europa dagegen ist gerade das Verhältnis zum Meere wichtig; das ist ein bleibender Unterschied. Der europäische Staat kann wahrhaft europäischer Staat nur sein, wenn er mit dem Meere zusammenhängt. 65 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, hg. von Friedrich Brunstäd, Stuttgart 1961, 151. Diese Passage ist immer noch populär. Sie findet sich z. B. bei Dieter Richter, Das Meer. Geschichte der ältesten Landschaft, Berlin 2014, 68.

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Schubert und Heine im großen preußischen Waffenlager Im Meere liegt das ganz eigentümliche Hinaus, das dem asiatischen Leben fehlt, das Hinaus des Lebens über sich selbst. Das Prinzip der Freiheit der einzelnen Person ist dadurch dem europäischen Staatsleben geworden.66 Das Meer begründet überhaupt seine eigene Lebensweise. Das unbestimmte Element gibt uns die Vorstellung des Unbeschränkten und Unendlichen, und indem der Mensch sich in diesem Unendlichen fühlt, so ermutigt dies ihn zum Hinaus über das Beschränkte.67 Ein europäischer Staat kann nur in Verbindung mit dem Meer groß sein. Das Meer trennt zwar das Land, aber es verbindet die Menschen. Im Meere liegt das ganz eigentümliche Hinaus, das dem asiatischen Leben fehlt. Es ist dies das Hinaus des Lebens über sich selbst.68 Eine dritte Haupterscheinung [im Übergang zur Neuzeit in Europa] wäre dieses Hinaus des Geistes, diese Begierde des Menschen, seine Erde kennen zu lernen. Der Rittergeist der portugiesischen und spanischen Seehelden hat einen neuen Weg nach Ostindien gefunden und Amerika entdeckt.69 [Die drei Weltteile der Alten Welt] sind so umeinander gelagert, daß sie eine leichte Kommunikation haben. Die Alte Welt durchbricht das Mittelmeer, aber zum Behuf der Kommunikation. […] Das Meer also hat zunächst diese Seite, daß es das Verbindende ist. Das Mittelländische Meer hat diese Bestimmtheit, vielfache Busen zu haben; also ist es nicht ein Ozean, der sich zunächst als leeres unendliches Hinausgehen ins Unbestimmte darzeigt […] Es ist ein großer Unterschied zwischen Völkern, welche sich mit dem Meere einlassen, und solchen, welche sich davon abscheiden.70 Unmittelbar hängen hiermit die Entdeckungen zusammen, das Seeheldentum der Portugiesen, die Umschiffung des Vorgebirges der guten Hoffnung, sowie die Entdeckung von Amerika, durch die das spanische Rittertum eine neue Weise der Betätigung gefunden hat. In diesem Hinaus […] hat es sich eine Erweiterung auch seiner Tapferkeit gegeben.71 66 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, hg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg 51955, 241. 67 Ebd., 197. 68 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte Berlin 1822/1823 [Nachschriften von Karl Gustav Julius von Griesheim, Heinrich Gustav Hotho und Friedrich Carl Hermann Victor von Kehler], hg. von Karl Heinz Ilting, Karl Brehmer und Hoo Nam Seelmann, Hamburg 1996 (= Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte 12), 111. 69 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. 4: Die germanische Welt, hg. von Georg Lasson, Leipzig ²1923, 871 (Hervorhebung im Original). 70 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, 96–97. 71 Hegel, Die germanische Welt, hg. von Lasson, 857 (Hervorhebung im Original).

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In welcher Form derartige Vorstellungen nun auch immer verbreitet waren, ob durch Hegels eigene Schriften, die Aufzeichnungen seiner Studenten oder einfach durchs Hörensagen: Hegel, der „erste offizielle Philosoph des Preußentums“ 72 , beeinf lusste Geschichtsphilosophie, Politik und Erziehung, und seine Rechtfertigung von Expansion, Kolonialismus, Imperialismus und Rassismus73 muss im Deutschen Reich gerade in den 1890er Jahren auf große Resonanz gestoßen sein, als es, obwohl Preußen traditionell eine Landmacht war, mit England als Handelsund Seemacht zu konkurrieren begann. Selbstverständlich wurde der Zusammenhang von Meer, wirtschaftlicher und geistiger Expansion, Freiheit und Politik nicht nur bei Hegel diskutiert,74 und man müsste nicht einmal die Philosophie bemühen, um zu verstehen, wie wichtig das Meer als Symbol der deutschen Expansionspolitik war. Selbst in vermeintlich kunstästhetischen Debatten taucht es in diesem Zusammenhang auf. Ein ungemein erfolgreiches Buch war Rembrandt als Erzieher, verfasst 1890 „[v]on einem Deutschen.“ 75 Es erlebte Dutzende von teils stark veränderten Auf lagen und wurde vielfach kommentiert76 und imitiert.77 Im Gewirr apodiktischer Behauptungen und logischer Fehlschlüsse propagiert es das gesunde (Nieder-)Deutsche gegen zersetzende Tendenzen wie Wissenschaft oder Judentum. Einige Gedankensplitter streifen erst den Zusammenhang zwischen Meer, Freiheit und Fortschritt und treffen dann auch auf die deutsche Politik: […] es gibt vielleicht ein geheimes tieferes Band, welches die Bewohner der deutschen und außerdeutschen Nordseeküste mit dem Träger der deutschen Nationalitätsidee [Bismarck] verbindet; das Zentrum eines Kreises steht zu seiner Peripherie stets in engerer Beziehung, als zu dem dazwischen liegenden Raume.78 Die deutsche Politik wird immer teilweise eine Seepolitik sein müssen. 79 […] Wer die See hat, hat die Welt; und die Niederdeutschen haben die See; der Zug auch der 72 Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen, hg. von Hubert Kiesewetter, Tübingen 82003, 37. 73 Alison Stone, „Hegel and Colonialism“, in: Hegel Bulletin, 1–24, doi:10.1017/hgl.2017.17 (25.01.2019). 74 Gunter Scholz, Philosophie des Meeres, Hamburg 2016, passim. 75 Von einem Deutschen [= Julius Langbehn], Rembrandt als Erzieher, Leipzig 1890. In ihrer Abwertung von Objektivität und Wissenschaft wirkt die Schrift bestürzend aktuell. 76 Eine geistreiche Entgegnung ist: Nautilus [= Artur Seemann], Billige Weisheit. Antidoton gegen Rembrandt als Erzieher, Leipzig 1890. 77 Allein auf die zahlreichen „als Erzieher“-Schriften (Moltke, Wagner, Wilhelm II., um nur drei zu nennen) aus dieser Zeit einzugehen, würde den Rahmen dieses Textes sprengen. Eine einzige Schrift soll allerdings wegen ihrer besonderen Bösartigkeit genannt werden: Der Rembrandtdeutsche. Von einem Wahrheitsfreund, Dresden 1892. Der erste Teil paraphrasiert das Rembrandt-Buch; der zweite beinhaltet wirre, meist antisemitische Gedankenfetzen im ‚Twitter-Format‘. 78 Derartige durch nichts begründete Behauptungen sind typisch für dieses Buch (und auch seine Nachahmungen). 79 [Langbehn], Rembrandt als Erzieher, 141.

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Schubert und Heine im großen preußischen Waffenlager übrigen heutigen Deutschen zur See zeigt sich in der großen Vorliebe, welche sie für ihre Marine hegen. Je mehr maritime Elemente Deutschland in sich aufnimmt, desto vortheilhafter ist es für dasselbe. In die Trockenheit des deutschen Lebens sollte man daher etwas niederländische Feuchtigkeit einführen […]80

Im durch und durch militarisierten Deutschen Reich war schon der Schnurrbart des Kaisers ein „Sinnbild für den Verlust an Zivilität“ 81; Wilhelm II. sah im Militär neben der protestantischen Kirche und dem Adel eine der Stützen seiner Herrschaft. 82 Vom Meer und der Idee einer mächtigen Kriegsmarine war der Kaiser (ein „passionierter Seemann“ 83) geradezu besessen; er hatte schon als Kind mit Booten gespielt und präsentierte gern sich in Admiralsuniform und seine Familie in den seit damals beliebten Matrosenanzügen. Und er förderte die Marinemalerei. Er verfügte, dass Maler, die sich darin üben wollten, auf Schulschiffen und bei Seemanövern an Bord sein dürften – die Handelsmarine schloss sich dem an –, und auf seine persönliche Initiative hin wurde 1894 an der Akademischen Hochschule Unterricht in der See- und Schiffsmalerei erteilt. 84 Wilhelm II. zeichnete auch selbst Kriegsschiffe in heroischer Pose. Kein Wunder, dass sein Regierungsantritt 1888 (wenn man einem frühen Biographen Anton von Werners glauben möchte) von den Künstlern bejubelt wurde: Wie von schwerem Drucke befreit, jauchzten ihm aller Herzen zu, und an diesem allgemeinen Jubelruf durften sich auch die Künstler beteiligen, um so mehr, als sie wußten, daß Kaiser Wilhelm II schon als Prinz die Kunst geübt hatte und gelegentlich auch eine seiner mit f lotter Hand hingeschriebenen Zeichnungen mit Kriegsschiffen auf hoher See als höchst willkommenen Beitrag zu dem Weihnachtsbazar des Vereins Berliner Künstler beigesteuert hatte. 85

Bei der Huldigungsfeier zu seinem Regierungsbeginn anlässlich der Eröffnung des Reichstags, für die übrigens Anton von Werner den Saal so festlich dekoriert hatte, dass sich die Kaiserinmutter Victoria abgestoßen fühlte, hatte Wilhelm II. in einer Rede versprochen, die Politik seiner Vorgänger fortzuführen. 86 Aber nur zwei Jahre danach hatte er 1890 Bismarck entlassen. Die Gefahr, die man im Ausland, besonders in England, in der Abkehr von dessen Ausgleichspoli80 Ebd., 146. 81 Volker Ullrich, Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1872–1914, mit einem aktuellen Nachwort „Neue Forschungen zum Kaiserreich“, Frankfurt a. M. 22007, 398. 82 Röhl, Wilhelm II., 160–168. 83 Georg W. Büxenstein, Unser Kaiser. Ein getreues Lebensbild Kaiser Wilhelms II., Berlin [ca. 1900], 293. 84 Röhl, Wilhelm II., 1009. 85 Adolf Rosenberg, A. von Werner, Berlin 21900, 109. 86 Röhl, Wilhelm II., 30.

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tik und in Wilhelm als Lenker des Staatsschiffs ohne Bismarcks Rat erkannte, wurde sprichwörtlich durch John Tenniels Karikatur Dropping the Pilot aus dem Punch vom 29. März 1890, im Deutschen bekannt unter dem Titel Der Lotse geht von Bord. 87 Auch in Deutschland war die Abwendung von Bismarcks Politik sehr umstritten. Eine um 1909 erschienene Schrift schrieb über die „heftige und andauernde Agitation“ 88 seit 1890, über die Flottenpropaganda und über die Gegner des „Flottentaumels“:89 So fehlten dem Hochadel, der oft mit England durch Heirat verbunden war, die „bewußte national-politische Überlegung und der sachlich-politische Boden überhaupt.“ 90 Er habe „unter intensiver Mitwirkung des weiblichen Elements“ auf den Kaiser Einf luss zu nehmen versucht. Dessen Flottenbegeisterung sei aber nicht nur eine Laune gewesen, denn er habe nur getan, was das deutsche Volk seit 150 Jahren angestrebt habe; das Drängen nach einer Weltmachtstellung sei aus dem deutschen Volke hervorgegangen.91 Gegen die Sorge wegen der mit der Konkurrenz zu England wachsenden Kriegsgefahr wurde Englands „Handelseifersucht“ angeführt, die sogar für Bismarck ein Grund gewesen sei, die Idee einer starken deutschen Flotte grundsätzlich zu befürworten.92 Eine Schrift von 1897 plädierte für eine Flotte, weil in England die Idee eines Seekrieges und die Zerstörung „Karthago=Deutschland[s]“ befürwortet werde.93 Strategische Gründe hatten schon den Bau des Nord-Ostsee-Kanals (Baubeginn 1887) beeinf lusst; er sollte beide Meere unabhängig von Dänemark verbinden, mit dem Deutschland im Dauerkonf likt stand, und breit genug für Kriegsschiffe sein. Seine strategische Sicherung wiederum war ein Anlass für Deutschlands Interesse an Helgoland, seit der napoleonischen Zeit in englischem Besitz. Zugunsten einer Entspannungspolitik überließ England es in einem Vertrag von 1890 dem deutschen Reich. Das Interesse an der Nordsee, das schon früher bestand, zum Beispiel bekanntlich bei Heine, steigerte sich zu einer Helgoland-Begeisterung, auch unter Künstler*innen, die man sich wohl kaum groß genug vorstellen kann. Heinrich Pudor, Direktor des Königlichen Konservatoriums für Musik zu Dresden, der auch als Maler und (vor allem antisemitischer) Schriftsteller tätig war, reagierte auf Rembrandt als Erzieher mit einer Schrift, 87 Der deutsche Wikipedia-Artikel ist lesenswert, auch wegen des reichen Bildmaterials im Kontext der Karikatur: https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Lotse_geht_von_Bord#cite_note-Quante-23 (21.8.2018). 88 Graf Ernst zu Reventlow, Was würde Bismarck sagen: Zur deutschen Flotte, Zu England-Deutschland?, Berlin [ca. 1909], 48. 89 Ebd., 47. 90 Ebd., 6. 91 Ebd., 25–26. 92 Ebd., 58–77. 93 [Anonymus], Eine starke Flotte – eine Lebensbedingung für Deutschland. Von einem Vaterlandsfreunde, Berlin 1897, 35.

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die Wilhelm II. als Inbegriff aller darin erwähnten Tugenden interpretiert. Von ihren 33 Textseiten widmen sich immerhin zwei dem Helgoland-Vertrag. Die Erwerbung Helgolands, die dem Kaiser allein zu verdanken sei, müsse „als eine herrliche Errungenschaft gefeiert werden“, Helgoland sei „ein Juwel“, ein „Tropfen deutschen Herzblutes.“ „Dadurch, dass Helgoland wiedergewonnen wurde, ist das Nationalbewußtsein in den deutschen Landen erstarkt.“ 94 Sogar bis Wien reichte die Helgoland-Begeisterung – daher die Themenwahl für Anton Bruckners Helgoland-Kantate (1893).95 Dass das Reich im Tausch für Helgoland auf Gebietsansprüche in Afrika verzichtete, verschärfte aber in Deutschland Ressentiments gegen England und fachte Kolonialdebatten (1887 war die Deutsche Kolonialgesellschaft gegründet worden) und Kolonialfieber weiter an; eine Folge waren 1891 die Gründung des nationalistischen und rassistischen „Alldeutschen Verbandes“ und 1898 das erste Flottengesetz und der Flottenverein zur Propagierung der Flotten-Idee. So wurde eine Rüstungsspirale in Gang gesetzt. Sie steigerte die Angst vor einer deutschen Invasion, die seit dem Sieg über Frankreich auch in England schwelte, richtete sich doch die Flottenrüstung „vorab gegen England“ 96 , und ließ eine neue literarische Gattung, die invasion scare literature, entstehen – dazu zählt der Wikipedia-Artikel auch Bram Stokers Dracula und H.G. Wells’ The War of the Worlds (beide 1897); als erstes Beispiel nennt er George T. Chesneys The Battle of Dorking (1871).97 In dieser Erzählung machen deutsche Truppen nach der Eroberung Englands Quartier im eleganten Haus eines Gefallenen, dessen Söhnchen eben erschossen wurde. Sie sind schmutzig wie die Soldaten im Etappenquartier. Aber Musik machen sie nicht.98

Der „verdächtige Untertitel“ des Gemäldes Jeder weitere Ausbau der deutschen Flotte und jede kriegshetzerische Äußerung Wilhelms II. lösten in England neue Invasionsängste aus, und in diesem Zusammenhang erwähnt Werner sein Gemälde noch ein weiteres Mal. Seine Wortwahl liefert meiner Ansicht nach einen Hinweis darauf, dass der hier angenommene Zusammenhang zwischen der Liedzeile auf dem Gemälderahmen mit der Meeresbegeisterung und der deutschen Expansionspolitik mehr als eine subjektive Assoziation ist. Werner nennt den Untertitel des Gemäldes nämlich „verdäch94 Heinrich Pudor, Kaiser Wilhelm II. und Rembrandt als Erzieher, Dresden 1891, 25–26. 95 Andrea Harrandt, „Helgoland“, in: http://www.bruckner-online.at/?page_id=1259# (25.1.2019). 96 Gerd Fesser, „Herrlichen Tagen führe ich euch noch entgegen!“ Das Wilhelminische Kaiserreich 1890– 1918, Bremen 2009, 47. 97 https://en.wikipedia.org/wiki/Invasion_literature (28.8.2018). 98 George T. Chesney, The Battle of Dorking [1871], London 1914, 89.

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tig“. Es geht in der entsprechenden Passage (in seinen Erinnerungen von 1913) um eine Verteidigung seiner Gemälde gegen den Zeitgeschmack. Seinen Kampf gegen die Moderne hatte Werner längst verloren.99 Auf eine Kritik, die behauptete, die vielen Historiengemälde machten die Nationalgalerie zu einem patriotischen Bilderspeicher, reagiert Werner mit deutlich beleidigtem Unterton: Abgesehen […] von der Möglichkeit, daß auch meine Sedanbilder auf die Nachwelt kommen könnten, muß mich deshalb ernstlich der Gedanke beunruhigen, daß sich leider auch ein kleines Bild von mir in der Berliner Nationalgalerie befindet, die Darstellung eines persönlichen Erlebnisses: „Im Etappenquartier vor Paris“100, welches in ganz bescheidener Weise daran erinnert, daß die deutschen Truppen im Jahre 1870/71 wirklich vor Paris gewesen sind. Ich nehme aber als selbstverständlich an, daß das Bild unter der Leitung eines zielbewußten gelehrten Galeriedirektors so bald wie möglich im Kellermagazin verschwinden wird, wie schon viele andere.101

Gegen gelehrten Opportunismus und gegen die Moderne verteidigt Werner sein Gemälde mit Verweis auf dessen Beliebtheit und weite Verbreitung,102 vor allem im farbigen Nachdruck, und auf seine spätere Aktualität und politische Brisanz: Daß dieser harmlose Farbendruck einst berufen sein würde, in den Schaufenstern von Londoner Geschäften unseren angelsächsischen Vettern die Schrecken einer erträumten deutschen Invasion im Bilde vorzuführen, wie es nach zuverlässigen Berichten der Fall gewesen ist, habe ich nicht vorausgeahnt. Und das Bild trägt überdies noch den verdächtigen Untertitel auf dem Goldrahmen: „Das Meer erglänzte weit hinaus“103, eingraviert, was aber in London hoffentlich nicht bekannt war!104

Werner nennt für dieses Vorkommnis kein Datum, aber es könnte sich um den naval scare von 1909 handeln, der durch den Bau neuer deutscher Großkampfschiffe ausgelöst wurde. Es ist eine traurige Folge dieser Spannungen, dass Werner selbst auf seinem Sterbelager „Träume verfolgten, daß er in englische Gefangenschaft

99 Zu Werners Bedeutung und Bedeutungsverlust vgl. auch Ernst Piper, „Das kulturelle Leben im Kaiserreich“, in: Das deutsche Kaiserreich 1890–1914, hg. von Bernd Heidenreich und Sönke Neitzel, Paderborn 2011, 75–96; Sabine Meister, „Wer hat Angst vor der Avantgarde? Die wahre Kunst und die Ware Kunst im Kaiserreich“, in: ebd., 97–108. 100 Hervorhebung im Original. 101 Werner, Erlebnisse und Eindrücke, 408. 102 Vgl. dazu auch Christa Pieske, „Vermittlung von Geschichte in den Medien der Zeit Anton von Werners“, in: Geschichte in Bildern, hg. von Bartmann, 163–173, hier 171–172. 103 Hervorhebung im Original. 104 Werner, Erlebnisse und Eindrücke, 408–409.

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geraten sei.“105 Sein Gemälde wurde im Jahre 2003 noch einmal aktuell; damals wurde es oft neben einem Foto amerikanischer Soldaten abgebildet, die sich in einem der Paläste Saddam Husseins lümmelten.106 Von Dauer blieben die Siegerposen, die einander sehr ähnlich sind, in beiden Fällen nur im Bild.

105 Meyerheim, „Erinnerungen an Anton von Werner“, 412. 106 Ulrich Hägele, „Kanonenfutter für die Presse? Kriegsfotografie als Kulturmuster moderner Gesellschaften“, in: zkfm, Zeitschrift für Kommunikationsökologie und Medienethik 8/1 (2006), 79–86, hier 84, https://www.netzwerk-medienethik.de/wp-content/uploads/2012/01/ZfKM_2006_ komplett.pdf (25.1.2019).

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Irene Kiesewetter verh. Prokesch-Osten (1811–1872) – „eine der ersten Klavierspielerinnen Wiens“ Ingeborg Harer

Methodische Überlegungen Die „Historisch informierte Aufführungspraxis“ beschäftigt sich mit Interpretationsforschung im weitesten Sinn. Im Zentrum steht dabei die Frage, „wie“ in einer bestimmten Zeit musiziert wurde, wobei gegebenenfalls eine Wiederaufführbarkeit von Werken der Vergangenheit nach den musikalischen und spielpraktischen Merkmalen der damaligen Zeit angestrebt wird. Neue Erkenntnisse über diese Parameter, etwa Lautstärke, Tempo, Agogik und andere sowie die Wahl des entsprechenden historischen Instruments sind wünschenswert und ermöglichen gegebenenfalls eine Umsetzung bzw. Übertragung in gegenwärtige Aufführungen. Wenn aber – wie dies bei historischer Forschung zum Musizieren im privaten und halböffentlichen Bereich der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon von vornherein zu vermuten ist – diese gewünschten Kriterien für immer ‚verloren‘ sind, weil sie in keiner Form aufgezeichnet wurden, was könnte dann das Forschungsergebnis, was der Erkenntnisgewinn sein?1 Vor allem: Wie ist vorzugehen, damit überhaupt aufgrund einer Analyse von historischen Quellentexten, die ausschließlich vom Musizieren hinter verschlossenen Türen erzählen, ein Ergebnis definierbar wird? Das Musizieren in den Salons und privaten Bürgerhäusern jenseits der zensurierten Öffentlichkeit zu erforschen, bedeutet daher zunächst, sich der Praxis des instrumentalen Spiels und des Liedvortrags mit allen verfügbaren historischen Quellen und von allen Seiten quantitativ anzunähern. Die großf lächige Erweiterung von Quellentexten, die den Kontext zur erklungenen Musik möglicherweise freilegen, werden vermutlich wenig Auskunft über die Ausführung der Musikstücke nach den oben angesprochenen Parametern geben. 1

Vgl. Ingeborg Harer, „Über Spielpraxis schreiben – Details aus dem Grazer Musikleben des 19. Jahrhunderts“, in: Wissenschaft und Praxis – Altes und Neues. Festschrift 50 Jahre Institut 15: Alte Musik und Aufführungspraxis an der Kunstuniversität Graz, hg. von Ingeborg Harer und Gudrun Rottensteiner, Graz 2017 (= Neue Beiträge zur Aufführungspraxis 8), 166–185; Ingeborg Harer, „‚Schönheit, Fülle der Begabung, männlicher Ernst für alles Wahre, Reine, Hohe…‘. Marie Pachler (1794–1855) und ihr musikalisch-literarischer Salon in der Grazer Herrengasse“, in: Lebensbilder steirischer Frauen 1650–1850, hg. von Elke Hammer-Luza und Elisabeth Schöggl-Ernst, Graz 2017 (= Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark 82), 339–352; Ingeborg Harer, „Anselm Hüttenbrenner – ein Exponent des Biedermeier“, in: Anselm Hüttenbrenner (1794–1868) – Leben, Werk und Umfeld, hg. von Michael Aschauer und Ulf Bästlein, Innsbruck 2019, im Druck.

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Zu erwarten wäre jedoch ein Narrativ, das die Interpretationen der damaligen Zeit „sozio-kulturelle informiert“ beschreibt und so für heutige Ohren und Augen nachvollziehbar ans Tageslicht holt. Möglichkeiten und Grenzen dieser Nachforschungen sollen im Folgenden am Beispiel der Pianistin Irene Kiesewetter verh. Prokesch-Osten (1811–1872) und ihres musikalischen Umfelds, zu dem ihre Musizierpartner gehören, ausgelotet werden. Methodisch wird folgendermaßen vorgegangen: Auf Basis der zur Verfügung stehenden historischen Quellen, in denen Irene Kiesewetter Erwähnung findet, wird die Quantität des Auftretens der Musikerin im privaten Kreis erfasst. Die dadurch entstehende Chronologie der Auftritte, die anhand der transkribierten Quellen im Anhang nachvollziehbar ist, zeigt die Häufigkeit der musikalischen Darbietungen einerseits, die Netzwerke und soziokulturelle Struktur der Salons andererseits. Höhergestellte Bürger und Mitglieder des niederen Adels statteten sich zwecks geistigen Austauschs und Freundschaftspf lege gegenseitige Besuche ab, bei denen – neben Essen und Trinken – Musik und Literatur nicht fehlten und Geselligkeit im Zentrum stand. Wie in den folgenden Abschnitten des Haupttextes gezeigt wird, wurde Irene Kiesewetter in ihrem Elternhaus schon als Kind mit den gesellschaftlichen Gepf logenheiten vertraut, die den Rahmen für das Musizieren darstellten und die schließlich auch die Grundlage für ihre weitere Rolle als Gastgeberin und Ehefrau eines Diplomaten bildeten. Damit war gleichzeitig die Voraussetzung für die Fortsetzung des Musizierens im jeweiligen Zuhause in Wien, Athen, Berlin und Graz erfüllt. Diese Angaben zu Kiesewetters Lebensweg, die im Haupttext beschrieben werden, sind für das Verständnis der Chronologie unabdingbar. Bei den für die Chronologie verwendeten Ausschnitten aus den Quellentexten, die über das Musizieren in bürgerlichen Salons der damaligen Zeit Auskunft geben, handelt es sich in der überwiegenden Mehrheit um Ego-Dokumente, die, wie es charakteristisch für Tagebucheintragungen, Briefe und ähnliches ist, subjektive Eindrücke – manchmal aus der Erinnerung ins Gedächtnis gerufen – wiedergeben. Immer sind sie – wie dies am Beispiel von Irene Kiesewetter besonders deutlich wird – geprägt von den persönlichen Beziehungen der Autoren zur Pianistin. 2 Bei Irene Kiesewetter handelt es sich um jene Pianistin, die als „Dilettantin“ im Zusammenhang mit Schuberts Freundeskreis häufig genannt wird, zu der es jedoch bislang wenig detaillierte Forschung gibt. 2

Die Begriffe „Subjektivität“ und „Geselligkeit“, die Aufführungen im Salon der Biedermeierzeit prägten, werden als bisher wenig beachtete Forschungsansätze von Jennifer Ronyak diskutiert; vgl. „‚Serious Play‘, Performance, and the Lied: The Stägemann Schöne Müllerin Revisited“, in: 19th-Century Music 34/2 (2010), 141–167; dies., Intimacy, Performance, and the Lied in the Early Nineteenth Century, Bloomington 2018, bes. 21–43, 77–104; vgl. auch Martin Günther, Kunstlied als Liedkunst. Die Lieder Franz Schuberts in der musikalischen Aufführungskultur des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 2016 (= Schubert: Perspektiven – Studien 4).

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Kaum erfährt man Fundiertes aus ihrem Leben. Nichts ist zu ihrer Ausbildung als Pianistin bekannt, wenig wurde bisher zu ihrem Klavierspiel und ihrer Rolle im Musikleben geschrieben. 3

Irene Kiesewetter – eine „Dilettantin“ Die in Wien am 27. März 1811 geborene Tochter von Raphael Georg Kiese­wetter (1773–1850) wuchs in einem Elternhaus auf, in dem das Musizieren selbstverständlich war. Irenes Vater, eine zentrale Persönlichkeit im Wiener Musikleben, war auch ein leidenschaftlicher Partituren- und Notensammler, bevorzugt von Musik der Vergangenheit, insbesondere Barockmusik. Er beschränkte sich jedoch nicht auf die bloße Sammlertätigkeit, sondern brachte das Ergebnis seiner Leidenschaft auch zum Klingen. Zu diesem Zweck verstand er es, ähnlich denkende Personen – professionelle Musiker sowie Sänger*innen und musikalisch hochgebildete Dilettant*innen gleichermaßen – zum gemeinsamen Musizieren um sich zu versammeln. Es blieb nicht allein beim Aufführen dieser Werke, die den Blick in die unbekannte Vergangenheit für die damaligen Ausführenden öffneten, auch Gegenwärtiges nahm man regelmäßig in Angriff. So wurden unter Anwesenheit des Komponisten die neuesten Lieder von Franz Schubert vorgetragen.4 Das regelmäßige Musizieren im Elternhaus begann im Jahre 1816, als Irene fünf Jahre alt war, und erstreckte sich bis in die frühen 1840er Jahre. Unter anderen gehörten auch die Schwestern Fröhlich 5 diesem Kreis an, die wiederum ihrerseits musikalische Abende bei sich zu Hause veranstalteten, sodass gegenseitige ,musikalische Besuche‘ der Regelfall waren. Altes und Neues wurde in diesem Freundeskreis ‚ausprobiert‘ und auch nach Schuberts Tod setzte sich die Pf lege dessen Werke im Hause Kiesewetter fort. In diesem familiären Umfeld konnte Irene ein breites Repertoire an Musik kennenlernen, Klavier spielen und an Gesprächen über Musik und Literatur teilnehmen.

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4 5

Ingeborg Harer, „Irene Kiesewetter verh. Prokesch-Osten“ [9.11.2018], in: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, hg. von Beatrix Borchard und Nina Noeske, Hamburg 2003ff., http://mugi.hfmt-hamburg.de/Artikel/Irene_Kiesewetter (30.1.2019). In weiterer Folge beziehen sich alle biographischen Angaben, wenn nicht anders angegeben, auf diesen Beitrag. Vgl. Herfried Kier, Raphael Georg Kiesewetter (1773–1850). Wegbereiter des musikalischen Historismus, Regensburg 1968, 91–93. Es handelt sich um die Sängerin und Pianistin Anna Fröhlich (1793–1880), die Sängerin und Malerin Barbara Fröhlich verh. Bogner (1779–1878), die Verlobte Franz Grillparzers Katharina Fröhlich (1800–1879), die nur gelegentlich musizierte, sowie die Sängerin Josefine Fröhlich (1803–1878) (Ingeborg Harer, „Anna Fröhlich (1793-18180) – Sängerin, Pianistin, erste Professorin“ [17.1.2019], in: Spiel/Mach/t/Raum – frauen* an der mdw, http://www.mdw.ac.at/spielmachtraum/artikel/anna-froehlich (22.1.2019).

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Der spätere Diplomat und Orientforscher, Anton Prokesch-Osten (1795– 1876),6 lernte Irene Kiesewetter im Rahmen einer solchen, von Johann Baptist Jenger (1797–1856) geleiteten Abendveranstaltung im Hause Kiesewetter am 15. März 1830 kennen. Geheiratet wurde am 25. November 1832. Bis 1834, dem Jahr, in dem das Ehepaar ein neues Zuhause in Athen bezog, da dort Anton ProkeschOsten seinen Dienst als österreichischer Diplomat ausübte, wurde weiter beinahe täglich in Wien musiziert, im Hause Kiesewetter und Prokesch sowie in anderen Salons. Auch in Athen setzten sich die musikalischen Abende fort und das Heim der Prokeschs – eine repräsentative Villa mit 27 Räumen und Gärten7 – war Anziehungspunkt für internationale Gäste: Franz Grillparzer (1791–1872), Hans Christian Andersen (1805–1875), Theophil Hansen (1813–1891) und weitere Vertreter des Geisteslebens und der Politik waren häufig zu Gast. Als Anton Prokesch-Osten 1849 nach Berlin versetzt wurde, folgte Irene ihm mit den Kindern nach. 8 Der illustre Personenkreis in Berlin bestand fortan beispielsweise aus Alexander von Humboldt (1769–1859), Hermann von Pückler-Muskau (1785– 1871) und Giacomo Meyerbeer (1791–1864). Ab den 1850er Jahren verbrachte Irene Prokesch-Osten ihren Lebensabend in Graz, wo sie im 1859 gekauften und von Theophil Hansen umgebauten Wohnhaus in der heutigen Elisabethstraße 38 / Ecke Merangasse ihre musikalischen Abende gestaltete, während ihr Ehemann seine „Wanderjahre“ fortsetzte und seinem diplomatischen Dienst in Konstantinopel nachging. Irene Prokesch-Osten starb am 7. Juli 1872 in Graz, ihr Ehemann am 26. Oktober 1876 in Wien. Beide fanden im Familien-Mausoleum (erbaut von Theophil Hansen) am Grazer Leonhardfriedhof ihre letzte Ruhestätte. Die beschriebenen Lebensstationen von Irene Kiesewetter bzw. Prokesch-Osten bilden den Rahmen für eine weitere Annäherung an das Salongeschehen. Der Blick soll nun auf das von ihr gespielte Repertoire und die ihr gewidmeten Werke gelenkt werden.

Repertoire Zunächst sind drei von Franz Schubert komponierte Werke zu nennen, die im direkten Zusammenhang mit Irene Kiesewetter stehen: Ein Exemplar des Erstdrucks der Variationen über ein französisches Lied für das Piano-Forte auf vier Händen D 624 trägt auf dem Titelblatt den Vermerk aus Schuberts Hand „für Fräulein Irene v. 6 7 8

Zu Lebenslauf und Karriere vgl. Daniel Bertsch, Anton Prokesch von Osten (1795–1876). Ein Diplomat in Athen und an der Hohen Pforte. Beiträge zur Wahrnehmung des Orients im Europa des 19. Jahrhunderts, München 2005 (= Südosteuropäische Arbeiten 123). Ariadni Moutafidou, „Villa und Landgut des Prokesch von Osten in Athen. Vermietung und Staatsanleihen 1844–1851“, in: Biblos 48/2 (1999), 291–295. Insgesamt wurden vier Söhne und eine Tochter geboren. Drei Söhne starben früh (zwei davon in Griechenland), sodass nur Anton (1837–1919) und Irene (1841–1898) ihre Eltern überlebten.

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Kiesewetter“.9 Des Weiteren entstanden 1827/28 zwei anlassbezogene Werke, die im Hause Kiesewetter zur Aufführung kamen und auf eine überwundene Erkrankung Irenes bzw. – im zweiten Werk – deren Tanzbegeisterung Bezug nehmen: Es handelt sich dabei um die Cantate zur Feier der Genesung der Irene Kiesewetter für zwei Tenöre und Bässe, gemischten Chor und Klavier zu vier Händen D 936, sowie Der Tanz für Sopran, Alt, Tenor, Bass, Klavier D 826.10 Es komponierten außerdem verschiedene Zeitgenossen für Irene Kiesewetter bzw. Prokesch-Osten, die heute unbekannt sind, so etwa Johann Baptist Arnold (Lebensdaten unbekannt) oder August von Adelburg (1830–1873).11 Letzterer ist dem diplomatischen Umfeld des Ehepaars aus der Zeit in Konstantinopel zuzuordnen, wo der später in Wien und Deutschland erfolgreiche Geiger und Komponist August Ritter von Adelburg geboren wurde und seine Jugend in den dortigen diplomatischen Kreisen verbrachte. Wir können annehmen, dass das Repertoire der Pianistin stets von ihrem Umfeld, der Spiel-Situation, den Personen oder dem Anlass abhängig war, dass sie also die für sie komponierten Stücke teilweise auch spielte und gewisse Stücke von ihr selbst gewählt wurden. In Irene Kiesewetters Repertoire sind beispielsweise auch Kompositionen von Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven und natürlich Franz Schubert vertreten. Selten ist jedoch zu erfahren, um welche Werke es sich genau handelte, wie auch die Dokumente im Anhang belegen. Des Weiteren zeigt sich, dass sowohl vierhändige Stücke als auch Bearbeitungen von Symphonien und Opern auf dem Programm der Musikabende standen. Dass die Qualitätsansprüche und damit die für das Publikum wahrnehmbaren klanglichen Ergebnisse möglicherweise damals andere waren als heute, sei hier außer Acht gelassen, wurde doch häufig ohne lange Vorbereitung spontan musiziert, wobei Geselligkeit stets im Vordergrund stand. 9

Erstdruck des Werkes von A. Diabelli et Comp., Plattennummer 996, nach April 1822, Wienbibliothek, Sign. MH 15518, online abrufbar unter http://www.schubert-online.at/activpage/ manuskripte.php?top=1&werke_id=466&herkunft (31.1.2019). 10 Die Autographe ( jeweils ohne Titelblatt, jedoch mit der Namensangabe der Widmunsträgerin „Irene“ versehen) befinden sich heute in den Beständen der Wienbibliothek unter den Signaturen MH 32 (D 936) bzw. MH 37 (D 826), online abrufbar unter http://www.schubert-online.at/activpage/manuskripte.php?top=1&werke_id=34&werkteile_id=&image=%27MH_00032_D936_001. jpg%27&groesse=50&aktion=einzelbild&bild_id=0 bzw. http://www.schubert-online.at/activpage/manuskripte.php?top=1&werke_id=42&werkteile_id=&image=%27MH_00037_D826_001. jpg%27&groesse=50&aktion=einzelbild&bild_id=0 (31.1.2019). 11 Johann Baptist Arnold, Terzettino [für Sopran, Alt, Tenor und Klavier] composto e dedicato alla nobil Signorina Irene di Kiesewetter da Giovanni Battista Arnold. Poesia di Metastasio, Partitur, Handschrift, 4 Bl., Österreichische Nationalbibliothek, Fond Kiesewetter, Signatur SA.67.B.20 MUS MAG, dieses Werk muss wohl vor der Verheiratung Irene Kiesewetters (25. November 1832) entstanden sein; August von Adelburg, Une soirée aux bords du Bosphore: Fantaisie nocturne contenant Introduction, Chanson Turque, Barcarolle pour Violon avec accompagnement de Piano. Op. 8. A Son Excellence Mme. La Baronne de Prokesch-Osten, Prag [1858]. In den 1850er Jahren hielt sich Irene Prokesch-Osten in Berlin und Graz auf, ob das Werk mit Adelburg als Geiger und Irene am Klavier zur Aufführung kam, kann nicht verifiziert werden.

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Wie die vorhandenen zeitgenössischen Quellen zeigen, trat Irene auch als Klavierbegleiterin bei Lied-Vorträgen in Erscheinung. Es versteht sich von selbst, dass durch die Freundschaft mit Schubert der Schwerpunkt auf dessen Liedern lag. Der Vortrag dieser Lieder erfolgte ausschließlich im privaten Kreis. Einerseits war Irene Kiesewetter „Dilettantin“ im besten Wortsinn – kein einziger öffentlicher Auftritt ist dokumentiert –, andererseits war der „Liederabend“ im Konzertbetrieb noch nicht etabliert, denn: Das Lied wurde [in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts] ausschließlich als ein Theil der Hausmusik zum eigenen Genusse und höchstens zur Unterhaltung eines kleinen Privatkreises betrachtet, aber der Form und dem Inhalt nach für viel zu unbedeutend angesehen, um sich da geltend zu machen, wo nur der Concert- oder Opernarie in ihrer aristokratischen Großartigkeit der Zutritt gestattet war.12

Das gemeinsame Musizieren im Rahmen von privaten Gesellschaften erfolgte für Irene zumeist mit anderen Laien – Personen, die hohes Können und Wissen über die Musik mitbrachten, jedoch beruf lich nicht im Musikleben verankert waren.

Musikalische Partnerschaften Aus dem Personenkreis, der mit Irene Kiesewetter musizierte, seien zwei Namen herausgegriffen: der Pianist Johann Baptist Jenger (1797–1856) und der Sänger Karl Freiherr von Schönstein (1796–1876). Wie aus den Dokumenten im Anhang hervorgeht, musizierte sie häufig mit beiden, die wie sie als „Dilettanten“ im Musikleben wirkten. Folgende Informationen zu den beiden Musikern und ihrer zeitgenössischen Rezeption dienen zur Ergänzung der Chronologie im Anhang. In ihrem unmittelbaren Umfeld war Irene Kiesewetter schon vor ihrer Verheiratung als bewährte Pianistin bekannt. Eine wertschätzende Aussage dazu ist von Johann Baptist Jenger überliefert, der in seinen Briefen an Marie Pachler (1794–1855) in Graz gelegentlich auf Irene Kiesewetter zu sprechen kommt, wenn er beispielsweise einen Brief folgendermaßen beginnt: „Die Tochter Irene meines Herrn Hofrates von Kiesewetter, von welcher ich mit Ihnen als von einer der ersten Klavierspielerinnen Wiens, so viel ich mich erinnere, öfter gesprochen habe […].“13 Jenger war ein emsiger Vermittler in verschiedenen musikalischen Belangen – heute würden wir ihn einen begabten Netzwerker nennen.14 Er bewährte sich 12 Leopold von Sonnleithner, „Bemerkungen zur Gesangskunst IV. Ueber den Vortrag des Liedes, mit besonderer Beziehung auf Franz Schubert“, in: Recensionen und Mittheilungen über Theater und Musik 45, 7. November 1860, 697. 13 Vgl. den Brief vom 29. Januar 1828 im Anhang. 14 Vgl. Werner Aderhold, „Johann Baptist Jenger – der Mittler“, in: Schubert und seine Freunde, hg. von Eva Badura-Skoda et al., Wien 1999, 303–310.

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außerdem als dilettierender Pianist und Musikkenner, der sehr gefragt war, und so wurde die Leitung der musikalischen Abende im Hause Kiesewetter 1827 „stabil an den – in der musikalischen Welt rühmlichst bekannten hiesigen Dilettanten J. B. Jenger übertragen.“15 Jenger war jedoch auch Irenes musikalischer Partner im Vierhändigspiel. Am 26. Oktober 1827 spielten die beiden Franz Schuberts Divertissement à l’hongroise D 818, diesmal im Hause der Schauspielerin und Sängerin Sophie Müller (1803–1830) in Wien, wie Jenger an Marie Pachler berichtet.16 Deren Sohn Faust Pachler, der Jenger aus dessen Grazer Zeit (1815–25) und als Gast im Salon seiner Mutter kannte, schreibt Jahre später über ihn: Obgleich nur ein anspruchsloser Dilettant im Klavierspiel, wurde Jenger doch in alle, zuletzt selbst in die höchsten Kreise gezogen, denn er verstand sich wie keiner auf die delikate Begleitung der Singstimme und wußte während des Spiels in jede Tonart zu transponieren.17

Wie Irene Kiesewetter bewährte sich Jenger vor allem auch als Klavierbegleiter zum Lied-Vortrag. Auf die gemeinsamen Auftritte des Sängers Karl Freiherr von Schönstein und der Pianistin Irene Kiesewetter geht der folgende zeitgenössische Text des SchubertFreundes Leopold von Sonnleithner (1797–1873) ein: Einer der besten, vielleicht der beste Schubertsänger war seinerzeit Herr Karl Freiherr von Schönstein […]. – Eine schöne edel klingende Tenorbaritonstimme, hinreichende Gesangsbildung, ästhetische und wissenschaftliche Bildung und feines lebhaftes Gefühl zeichneten diesen Kunstfreund aus. Es war ein wahrhaftiger Genuß, diese Lieder von ihm vorgetragen zu hören, begleitet von dem seither verstorbenen Johann Baptist Jenger oder von dem damaligen Fräulein Irene Kiesewetter, jetzt Baronin Prokesch.18

Karl Freiherr von Schönstein, dem Schubert seinen Zyklus Die schöne Müllerin widmete, verbreitete die Lieder des Komponisten und Freundes in den privaten Kreisen der höheren Wiener Gesellschaft. Schönstein, der nicht nur in den Salons, sondern auch in öffentlichen Konzerten auftrat, erhält von der Presse wegen seiner 15 Aloys Fuchs, „Notizen. Über die Privat Conzerte, älterer Musik für Kirche u Kammer, welche bei Hofr. Kiesewetter in Wien abgehalten wurden (angek. von einem langjährigen Mitglied derselben) Wien am 21. April 1841“, Handschrift, Wienbibliothek H.I.N.-177415; vgl. Karl Becker, Johann Baptist Jenger (1793–1856). Ein Breisgauer Freund Franz Schuberts. Ein Beitrag zum 150. Todestag Schuberts, Bühl/Baden 1978 (= Veröffentlichungen des Alemannischen Instituts Freiburg i. Br. 45), 35; Kier, Raphael Georg Kiesewetter, 68. 16 Vgl. den Brief vom 26. Oktober 1827 im Anhang. 17 Faust Pachler, Beethoven und Marie Pachler-Koschak, Berlin 1866, 22. 18 Leopold von Sonnleithner, Wien, 1. November 1857, zit. nach Otto Erich Deutsch (Hg.), Schubert – die Erinnerungen seiner Freunde, Leipzig ²1983, 125–146, hier 136.

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stimmlichen und musikalischen Gestaltung höchstes Lob. 1830 etwa wird „[s]ein schönes portamento, sein ruhiger, gediegener und doch höchst lieblicher Vortrag“ hervorgehoben.19 An anderer Stelle heißt es 1838: „Der Tenor des Freiherrn von Schönstein ist von der ansprechendsten Natur, und das liebliche Stimmvermögen macht sich geltend durch eine wahrhaft künstlerische Ausbildung. Das sotto voce ist besonders herrlich.“ 20 Auch Franz Liszt äußerte sich zu Schönsteins Gesang: In den Salons hörte ich mit dem lebhaftesten Vergnügen und oft mit einer Rührung, die bis zu Thränen ging, einen Kunstfreund, den Baron von Schönstein, die Schubertschen Lieder vortragen. […] Der Baron von Schönstein declamiert sie mit der Kunst eine großen Künstlers und singt sie mit dem einfachen Gefühle eines Dilettanten, der sich seinen Empfindungen hingiebt, ohne sich durch die Zuhörer präoccupiren zu lassen. 21

An dieser Stelle sei noch weiter ausgeholt, um eine detaillierte Betrachtung der damaligen Musiziersituation zu ermöglichen. Eine Beschreibung der Qualität von Schönsteins Gesang kann nämlich nochmals mit Anmerkungen von Leopold von Sonnleithner kombiniert werden, der sich an die 1830er Jahre erinnert und an den „einfachen“, „natürlichen“ Gesang von damals appelliert. Denkt er an Schönsteins Stimme und Vortrag, wenn er Folgendes schreibt? Die Schönheit seiner [Schuberts] Melodien ist auch (mit wenigen Ausnahmen) eine selbständige, rein musikalische, d. h. sie ist von den Worten ganz unabhängig, wenn sie gleich sich diesen in jeder Beziehung treu anschließt, und die Empfindung des Dichters stets tief auffaßt, ja oft noch veredelt. […] Schubert forderte daher vor Allem, daß seine Lieder nicht sowohl deklamirt, als vielmehr f ließend gesungen werden, daß jede Note mit gänzlicher Beseitigung des unmusikalischen Sprachtones der gebührende Stimmklang zu Theil, und daß hiedurch der musikalische Gedanke rein zur Geltung gebracht werde. Damit in nothwendigem Zusammenhange steht die strengste Beobachtung des Zeitmaßes. 22

19 [Anonymus], „Correspondenz. Wien aus der ersten Hälfte Aprils“, in: Damen-Zeitung. Ein Morgenblatt für die elegante Welt 2/89, 15. April 1830, 356. 20 F. C. Weidmann, „Vorgestern“, in: Allgemeine Theaterzeitung und Originalblatt für Kunst, Literatur, Musik, Mode und geselliges Leben 67, 3. April 1838, 295. 21 „Aus der Musikwelt. […] Franz Liszt über Wien. (Bruchstücke aus einem Briefe Liszts an seinen Freund Lambert Massard, aus Nr. 35 der Gazette musicale de Paris übersetzt von Baron Lannoy.)“, in: Allgemeine Theaterzeitung und Originalblatt für Kunst, Literatur, Musik, Mode und geselliges Leben 40, 25. Februar 1839, 198–199, hier 199, Original: Franz Liszt, „Lettre d’un bachelier ès-musique a M. Lambert Massard“, in: Revue et Gazette Musicale de Paris 5/35, 2. September 1838, 345–352. Vgl. auch Franz Liszt, „An Lambert Massard (1838)“, in: Essays und Reisebriefe eines Baccalaureus der Tonkunst, hg. von Lina Ramann, Leipzig 1881 (= Gesammelte Schriften von Franz Liszt 2), 227. 22 Sonnleithner, „Bemerkungen zur Gesangskunst IV“, 700.

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Mit Bezug auf die Klavierbegleitung – und hier seien wieder Irene Kiesewetter und Johann Baptist Jenger angesprochen – schreibt Sonnleithner, dass bei Schubert die strenge Einhaltung des Zeitmaßes aus der „Art seiner Begleitungsformen zweifellos“ hervorgehe, denn ein lebhaft pochendes Herz kann (abgesehen von einem Blutschlagf lusse) nicht plötzlich stille stehen, damit der Sänger auf den Worten: ‚Dein ist mein Herz, und wird es ewig bleiben‘ – sein hohes A recht lange klingen und seine Gefühlsüberschwenglichkeit austönen lassen könne. 23

Es stellt sich die Frage, ob Sonnleithners Erläuterungen zum „korrekten“ Vortrag von Schubert-Liedern – so, wie er diesen in Erinnerung hatte – in Verbindung mit der Musiziersituation im Hause Kiesewetter / Prokesch-Osten gebracht werden können. Ob diese ‚Regeln‘ des Liedvortrags von Irene Kiesewetter und ihre musikalischen Partnern vielleicht – bewusst oder unbewusst – eingehalten wurden, ist freilich nicht mehr beweisbar. In weiterer Folge ist zu überlegen, ob sich die Art und Weise, wie Schubert’sche Lieder unter der Anwesenheit oder sogar Mitwirkung des Komponisten vorgetragen wurden, von denselben Mitwirkenden auch in den Abenden, die sich in den Jahren nach dessen Tod gerade im Hause Kiesewetter/Prokesch-Osten fortsetzten, beibehalten wurde. Auch dafür wird es keine verbindliche Antwort geben, wenngleich Sonnleithner hier durch seine konkrete Erinnerung die Imagination eines idealen Vortrags im damaligen musikalischen Geschehen ermöglicht.

Der Salon Kiesewetter / Prokesch-Osten aus historisch informierter Sicht Als Zeitgenosse und langjähriger Salonkenner legt Leopold Sonnleithner nahe, möglichst die ursprüngliche Vorstellung Schuberts zur Interpretation seiner Lieder aufrechtzuhalten. Diese Forderung eines Musizierens nach historischen Vorbildern ist eine für die Zeit um 1860 eher unübliche und nimmt im Kern bereits die Konzepte der heutigen Vertreter*innen der „Historisch informierten Aufführungspraxis“ voraus, etwa wenn er schreibt: Ein getreuer, rein musikalischer Vortrag schließt ja Gefühl und Empfindung keineswegs aus; aber der Sänger soll nur nicht sich überheben, soll nicht poetischer und geistreicher sein wollen als der Tonsetzer, der mit deutlichen Noten und Zeichen ganz genau angegeben hat, was und wie er es gesungen haben wolle […]. 24

23 Ebd., 701. 24 Ebd.

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Versetzt man sich nun in die Situation, wie sie in den Quellen im Anhang beschrieben wird – nämlich, dass das Musizieren im Hause Kiesewetter oft spontan stattfand, vermischt mit Gesprächen, Diskussionen, Lesungen von Gedichten oder Dramen in verteilten Rollen – so bedeutet dies für die Musik, dass wahrscheinlich ausschließlich nach Noten gesungen und gespielt wurde. Diese Praxis des Lied-Vortrags steht freilich im Gegensatz zu dem bei heutigen Liederabenden gebotenen Bild, das einen Sänger oder eine Sängerin ohne Notenblatt zeigt. Eine historisch informierte Betrachtungsweise der Musiziersituation und eine Übertragung auf die Gegenwart würde diese standardisierte Gepf logenheit, in der Auswendigspielen oft höher bewertet wird, relativieren. Das Spielen und Singen nach Noten war den Beteiligten (Musiker*innen und Zuhörer*innen) in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch selbstverständlich. Nochmals sei hier auf Sonnleithner verwiesen, der das zunehmende Auswendigsingen seiner Gegenwart (um 1860) mit folgenden Worten kritisiert: Hier muß auch noch der von Vielen angenommene Gebrauch erwähnt werden, die Lieder aus dem Gedächtnisse, ganz ohne Notenblatt vorzutragen oder zwar mit einem solchen Blatt in der Hand aufzutreten, dieses aber alsbald sinken zu lassen, um dann dem Mienen- und Gebärdenspiel freiesten Raum zu gestatten. Als Gedächtnisprobe hat ein solches Benehmen einen gar geringen Werth; als Uebergang zum dramatischen Vortrage ist es geradezu fehlerhaft; als absichtliches Hervortretenlassen der eigenen Persönlichkeit wird es in hohem Grade lächerlich und den reinen Kunsteindruck störend. 25

Doch die Zeit schritt voran und damit die interpretatorischen Veränderungen. Sonnleithner hebt noch Julius Stockhausens (1826–1906) Vortragskunst allgemein positiv hervor, ohne auf Details einzugehen: In neuerer Zeit [um 1860] steht Stockhausen als Schubertsänger obenan. Wenn er sich auch nicht ganz der Richtung des Zeigeschmackes entziehen konnte, so nähert er sich doch am meisten jener einfach edlen, naiven Auffassung, welche Schubert selbst gewünscht hat. 26

Irene Prokesch wohnte zu dieser Zeit bereits in Graz – und konnte Julius Stockhausen bei sich zu Hause begrüßen (vgl. den letzten Eintrag im Anhang), jenen Sänger, der Schuberts Liedzyklus Die schöne Müllerin als gesamten Zyklus vorgetragen in den öffentlichen Konzertbetrieb eingeführt hatte. 27 25 Ebd., 699. 26 Sonnleithner, Wien, 1. November 1857, 136. 27 Julius Stockhausen präsentiere Schuberts Die schöne Müllerin erstmals als Zyklus am 4. April 1856 in Wien. Während seiner äußerst erfolgreichen drei Konzerte in Graz zwischen dem 30. April und 6. Mai 1860 sang Stockhausen den Zyklus dort am 6. Mai 1860. Ein Besuch bei Familie Prokesch in Graz könnte eventuell in diesem Zeitrahmen stattgefunden haben.

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Wenn sich in Bezug auf die Möglichkeiten der historisch informierten Rekonstruierbarkeit von Musiziersituationen des frühen 19. Jahrhunderts Zweifel auftun, dann soll an dieser Stelle konkret nach dem Erkenntnisgewinn der historischen Forschung gefragt werden. Wie schon eingangs angedeutet, ergibt das Zusammentragen von Quellentexten als Ergebnis nicht mehr und nicht weniger als eine Situationsbeschreibung, nämlich die (Nach-)Erzählung einer „soziokulturell informierten Aufführungspraxis“. 28 Überblickt man die Auswahl der historischen Quellentexte im Anhang, die einer Interpretationsforschung im Bereich des privaten Musizierens der Biedermeierzeit dienlich sein soll, dann entsteht folgender Befund: 1) Die ‚Verdichtung‘ der Ereignisse – Quantität der Auftritte, Repertoire, Personenkreis, Orte – lässt ein Bild in unserer Fantasie entstehen, das wenigstens einen Einblick in das Musizieren freilegt, der ohne diese Erfassungsmethode im Verborgenen bleiben würde. 2) Darüber hinaus liegt damit die erste chronologische Aufstellung der Auftritte Irene Kiesewetters / Prokesch-Ostens im Salon und eine Beschreibung ihres musik-kulturellen Handelns vor, das weit über das Klavierspiel hinausging. 3) Die Quellenauswertung, nämlich die Suche nach den Parametern des Spiels – Tempo, Dynamik, Lautstärke, Agogik etc. – bleibt ohne konkretes Ergebnis. Bemühungen um die Rekonstruierbarkeit dieser Musik und des Musizierverhaltens nach den Grundlagen der „Historisch informierten Aufführungs­praxis“ sind daher vordergründig obsolet. Es ist ausschließlich die Betrachtungsweise unter dem „sozio-kulturell informierten“ Blickwinkel, welche die Interpretationen quasi in die Gegenwart zurückholt. Die Lektüre der Chronologie lässt die Musik wieder im Geiste erklingen und diese in ihrer Bedeutung für das damalige tägliche Leben erahnen – kreative Gestaltungsmöglichkeit (besonders für musizierende Frauen), Netzwerkpflege (Freundschaft und berufliche Kontakte), nonverbale Kommunikation unter den Beteiligten, Geselligkeit, Zusammengehörigkeit und höchste Wertschätzung für die Kunst. ***

Anhang Die aus den Quellen extrahierten Angaben zu den literarisch-musikalischen Veranstaltungen im privaten Zuhause der Familien Kiesewetter und Prokesch-Osten beziehen sich auf die jeweiligen Wohnorte der Familie: Wien in den 1820er Jahren, Athen in den 1830er Jahren, ab ca. 1849 Berlin und in den 1850er Jahren Graz. Es sei darauf hingewiesen, dass die Übersicht nicht den Anspruch der Voll28 Zum Begriff vgl. Harer, „Über Spielpraxis schreiben“, 183–185.

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ständigkeit erhebt und im Folgenden nur jene Abendunterhaltungen aus den derzeit verfügbaren Quellen herausgegriffen wurden, die explizit mit Irene Kiesewetter verh. Prokesch-Osten in Verbindung stehen.

Johann Baptist Jenger, Brief an Marie Pachler, Wien, 26. Oktober 1827 […] An Ihre Lieblingin [sic] Sophie Müller und Vater werde ich heute Abend Ihre Grüße entrichten. Wir haben bei ihr eine kleine musikalische Soiree, wo ich mit einem Fräulein, was Sie so gerne schon lange kennen möchte – weil sie von der Müller ihrem Vater, von Freund Schwammerl [Franz Schubert] und mir schon so viel Liebes und Gutes von Ihnen gehört hat – das ‚Divertissement Hongroise‘ spielen werde. Dieses Fräulein ist Irene Kiesewetter […]. 29

Johann Baptist Jenger, Brief an Marie Pachler, Wien, 29. Januar 1828 Die Tochter Irene meines Herrn Hofrates von Kiesewetter [ Jengers Vorgesetztem], von welcher ich mit Ihnen als von einer der ersten Klavierspielerinnen Wiens, so viel ich mich erinnere, öfter gesprochen habe – ist kürzlich von einer bedeutenden Krankheit genesen. 30

Anton Prokesch-Osten, Tagebucheintrag, Wien, 25. März 1830 […] Um Mittag zu Hofrat Kiesewetter; Konzert alter Musik, das mich sehr anspricht. 31

Prokesch lernt bei diesem Besuch Irene Kiesewetter kennen; vgl. auch Alexander Freiherr von Warsbergs Nachruf von 1876, der auf dieses Konzert verweist.

Anton Prokesch-Osten, Brief bzw. Beschreibung im Rückblick, Wien, 24. Oktober 1830 Ich bin eines Abends in einer Gesellschaft mir wenig oder gar nicht bekannter Personen – man macht Musik – singt – trägt auf dem Pianoforte vor. Ein schönes Fräulein, mit großen, wundermilden Augen, etwas blaß im Gesicht, wie ich das 29 Zit. nach Otto Erich Deutsch (Hg.), Schubert. Die Dokumente seines Lebens, Bd. 2/1, München 1914, 431–432. 30 Zit. nach ebd., 456–457. 31 Anton Prokesch [der Jüngere] (Hg.), Aus den Tagebüchern des Grafen Prokesch von Osten 1830–1834, Wien 1909, 22.

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Alexander Freiherr von Warsberg, 1876 verfasster Nachruf im Rückblick, Wien, 25. März 1830 Es war auch in einem solchen Concert [im Hause Kiesewetter], daß sie [Irene Kiesewetter] Prokesch zuerst sah. Sie spielte eben eine Sonate von Beethoven, und sein Entschluß sie zu heirathen, diese und keine andere ohne jede Frage und Rücksicht nach den äußeren Verhältnissen stand sofort bei diesem ersten Blick und beim Hören dieser Töne fest. Ihr Spiel war sie selbst wie der Styl im Schreiben den Mann verräth. Schubert und später Liszt haben sie viel gekannt, und auch als Künstlerin hoch gewerthet. Niemand wußte ihren rein menschlichen, frauenhaften Werth, ihre Grazie und Liebenswürdigkeit, ihre Schönheit und beredte Conversation, ihre Interesse an allem Schönen, Edeln und Guten begeisterter zu schildern als der Fürst Pückler-Muskau. 33

Anton Prokesch-Osten, Brief an Friedrich von Gentz, Wien, 8. Oktober 1830 Gestern brachte ich mit den Meinigen einen Abend bei Hofrath Kiesewetter zu, wo Baron Schönstein auf meisterhafte Weise uns einige zwanzig Lieder Schubert’s vortrug. Ich habe seit lange [sic] nicht einen solchen Genuß, seit lange die Seele nicht so voll gehabt. Mehrere dieser Lieder waren von Heine, und ich dachte an Sie. Vor allen anderen hinreißend war dasjenige, welche mit den Worten beginnt: Ich stand in dunklen Träumen Und starrt’ ihr Bildnis an, Und das geliebte Antlitz Heimlich zu leben begann – – Ganz Ihr Prokesch 34 32 Anton Prokesch [der Jüngere] (Hg.), Aus dem Nachlasse des Grafen Prokesch-Osten […] Briefwechsel mit Herrn von Gentz und Fürsten Metternich, 2 Bde., Wien 1881, Bd. 1, 402. 33 Alexander Freiherr von Warsberg, „Graf Prokesch-Osten II.“, in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung 357, Augsburg, 22. Dezember 1876, 5465–5468, hier 5466. 34 Prokesch (Hg.), Briefwechsel Gentz und Metternich, Bd. 1, 393. In den Kreisen der Familie ProkeschOsten schätzte man in den frühen 1830er Jahren die Lyrik Heinrich Heines; vgl. Sonja Gesse-

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Anton Prokesch-Osten, Tagebucheintrag, Wien, 16. Oktober 1830 Mit den Meinigen, der Familie Kiesewetter, Schönstein, Jenger und Teltscher im Garten des Dr. Menz, eines Grazers, auf der Siebenbrunnerwiese zu Mittag und abends. Die schöne Irene spielt mit Jenger die Pastoralsinfonie und die Ouverture zu Egmont. Schönstein singt einige zwanzig Schubertsche Lieder. 35

Anton Prokesch-Osten, Tagebucheintrag, Wien, 20. Oktober 1830 Letzter Tag mit den Meinigen. Abends Kiesewetter, Jenger und Teltscher bei uns. Irene entzückt mich durch ihr ganzes Wesen. 36

Anton Prokesch-Osten, Tagebucheintrag, Wien, 24. Oktober 1830 Namenstag des Hofrats Kiesewetter, dort mit der Familie zu Tische und abends mit ihnen bei den vier Schwestern Fröhlich, wovon die eine an einen Herrn von Bogner verheiratet, die andere Grillparzers Freundin ist. Dort wird alte Musik von Kaldara und Adolfini treff lich aufgeführt. Die Zuhörer sind Maler, Dichter und Musiker. 37

Anton Prokesch-Osten, Tagebucheintrag, Wien, 7. November 1830 Konzert alter Musik bei Hofrat Kiesewetter (Psalm von Marcello). Ich bleibe über Mittag dort. 38

Anton Prokesch-Osten, Tagebucheintrag, Wien, 14. November 1830 Nachmittags bei Irene und abends wieder mit ihr bei Fröhlich, wo ‚Die letzten Dinge‘ Spohrs’ und die ‚Erste Jeremiade‘ von Miani gegeben werden. 39 Harm, Zwischen Ironie und Sentiment: Heinrich Heine im Kunstlied des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 2006, 71–72. Es war besonders Herr von Gentz, der sich an Heines Buch der Lieder nicht sattlesen konnte; vgl. ebd., 13–14, sowie die Eintragungen vom 8. bis zum 23. Oktober 1830 in Prokesch (Hg.), Briefwechsel Gentz und Metternich, Bd. 1, 393–399. 35 Prokesch (Hg.), Tagebücher Prokesch von Osten, 55. 36 Ebd. 37 Ebd., 55–56. 38 Ebd., 56. 39 Ebd., 57.

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Julius Schneller, Brief an Anton Prokesch-Osten, Freiburg im Breisgau, 23. November 1830 Kiesewetters Haus, Herr und Frau, und Irene’s holde verbindende Kraft kenne ich, als wäre ich bei allen Abenden gegenwärtig gewesen. Wie zart und stark das liebe Mädchen spielte, wie gerührt und erfreut der liebe Vater zuhörte, wie sinnig und geschäftig die gute Mutter alles ringsum ordnete, weiß ich, als hätte ich es mitempfunden, mitgenossen. […] Baron Schönsteins wunderbare Stimme mit dem kraftvollen und geistreichen Vortrage, wird mir gepriesen, daß ich sie gleichsam höre; aber alles Vortreff liche wird überboten durch die Gefälligkeit, womit er die ganze Reihe Schubertscher Lieder sang; er und Jänger [ Jenger] mit seinem gefälligen, herzlichen, freiburgischen Wesen, und Teltscher mit seinem gemütlichen, künstlerischen und freien Sinne bilden ein zweites Drei.40

Betrifft die Abende vom 8., 16. und 20. Oktober 1830, s. oben.

Anton Prokesch-Osten, Tagebucheintrag, Wien, 15. Dezember 1830 Mit Irene, die f leißig Generalbaß studiert.41

Moritz Sonnleithner, Brief an Pepi [Josefine] Fröhlich nach Mailand, Wien, 22. und 27. Dezember 1830 Mittwoch den 22. [Dezember] […]. Abends war Probe bei Kiesewetter von der Musik, die heute produziert wird. Grillparzer sang auch mit; die Probe wurde zeitlich aus; Grillparzer und Walcher gingen noch zu Ihnen [zu Fröhlichs] […]. Montag den 27. […] Mittags war Musik bei Kiesewetter. Thobald [v. Rizy] sang dabei einige kleine Solos, fürchtete sich sehr und wackelte mit der Stimme, daß sie gar nicht zu kennen war; […]. Grillparzer und ich bemühten uns aus allen Kräften; allein die Tenore waren zu alte Männer, als daß es gut gehen konnte.42

40 Ernst Münch (Hg.), Briefwechsel zwischen Julius Schneller und seinem Pflegesohn Prokesch. Schneller’s hinterlassene Werke, Bd. 2, Leipzig 1834, 369. 41 Prokesch (Hg.), Tagebücher Prokesch von Osten, 69. Irene Kiesewetter scheint als Subskribentin der Generalbass-Studie von Ignaz Ritter von Seyfried auf (Ludwig van Beethoven’s Studien im Generalbasse, Contrapuncte und in der Compositions-Lehre, Wien [1832], XIII). 42 August Sauer (Hg.), Grillparzers Gespräche und die Charakteristiken seiner Persönlichkeit durch die Zeitgenossen, Wien 1905, 372.

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Anton Prokesch-Osten, Tagebucheintrag, Wien, 23. Januar 1831 Zu Tische und den Abend bei Kiesewetter, wo Schönstein singt.43

Anton Prokesch-Osten, Tagebucheintrag, Wien, 2. März 1831 Soiree mit Schönstein und Kudelkas bei Kiesewetters.44

„Wiener Tagesbegebenheiten für Ausländer“, in: Wiener Zeitschrift, 15. März 1831 Am 6. [März 1831] gab Hr. Hofrath Kiesewetter in seinem Hause eine Aufführung alter Musik, welche für Musiker stets sehr anziehend ist. Man hört da, was man nicht mehr hört, und was doch so hörenswerth ist.45

Anton Prokesch-Osten, Tagebucheintrag, Wien, 11. März 1831 Abends bei Kiesewetter; Fräulein Krinks (nachmals Baronin Eichthal) und Irene führen treff lich ein Konzert auf Harfe und Fortepiano aus. Schönstein singt mehrere Lieder.46

„Wiener Tagesbegebenheiten für Ausländer“, in: Wiener Zeitschrift, 5. April 1831 Am 25. [März 1831] hatte das diesjährige letzte Concert alter Musik im Hause des Hrn. Hofraths von Kiesewetter statt. Traetta, Hasse und Durante entzückten die Hörer durch ihre edle Einfachheit.47

Friedrich von Gentz, Tagebucheintrag, Wien, 20. November 1831 Um 6 Prokesch; mit ihm um 7 Uhr zu Hofrat Kiesewetter, wo ich die Bekanntschaft seiner Tochter Irene machte, die Prokesch liebt und heiraten will, deren 43 44 45 46 47

Prokesch (Hg.), Tagebücher Prokesch von Osten, 76. Ebd., 85. [Anonymus], „Wiener Tagesbegebenheiten für Ausländer“, in: Wiener Zeitschrift, 15. März 1831, o. S. Prokesch (Hg.), Tagebücher Prokesch von Osten, 86. [Anonymus], „Wiener Tagesbegebenheiten für Ausländer“, in: Wiener Zeitschrift, 5. April 1831, o. S.

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Ingeborg Harer Persönlichkeit mir gefiel, deren musikalisches Talent ich bewunderte und auf die ich einen sehr vorteilhaften Eindruck zu machen schien.48

Friedrich von Gentz, Tagebucheintrag, Wien, 5. Dezember 1831 Den 5. […]. Verschiedne Pf licht-Besuche abgestattet, […]. Um 8 Uhr zu Kiese­ wetter; dort bis 11 Uhr mit Prokesch, Irene, schöner Musik und angenehmer Unterhaltung.49

Anton Prokesch-Osten, Tagebucheintrag, Wien, 9. Dezember 1831 Irene überrascht mich mit einer Abendgesellschaft, zu der Gentz, Paar und die beiden Kudelkas geladen sind. Sie trägt mehrere Musikstücke vor; Vogel [Vogl] singt Schubertsche Lieder, Tietze ein paar Lieder von Lachner, Worte von mir und mein ‚Leiermädchen‘ von Irene in Musik gesetzt. 50

Friedrich von Gentz, Tagebucheintrag, Wien, 9. Dezember 1831 Den 9. […]. Abends um 8 zum Hofrat Kiesewetter, wo zum Geburtstage meines Freundes Prokesch eine musikalische Soirée war, bei welcher Irene und der Sänger Vogel [Vogl] sich besonders auszeichneten. Ich wurde mit viel Ehre behandelt […]. 51

Friedrich von Gentz, Tagebucheintrag, Wien, 16. Dezember 1831 Den 16. […]. Abends um 7 kam Prokesch; ich fuhr mit ihm um 8 Uhr zu Kiesewetter; Irene hatte mir das Favorit-Lied von Heine und Schubert abgeschrieben; ich kam gegen 12 Uhr nach Hause. 52

48 August Fournier / Arnold Winkler (Hg.), Tagebücher von Friedrich von Gentz (1829–1831), Zürich 1920, 333. 49 Ebd., 336. 50 Prokesch (Hg.), Tagebücher Prokesch von Osten, 118. 51 Fournier / Winkler (Hg.), Tagebücher Gentz, 337–338. 52 Ebd., 339.

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Anton Prokesch-Osten, Brief an Friedrich von Gentz, Wien, 22. Dezember 1831 Ich habe heute einen lieben Abend gehabt. Man kann nicht geistreicher und wärmer das Clavier behandeln, als meine liebe Irene. 53

Anton Prokesch-Osten, Brief an Friedrich von Gentz, Wien, 28. Januar 1832 Irene sagte mir, daß sie es darauf anlege, Ihnen heute einige Schubert’sche Lieder durch Schönstein singen zu lassen. Sie hat eine Art Feldzugsplan deshalb angelegt und ist im vollen Triumpfe, daß dessen Ausführung ihr gelang. Sie wird selbst an Sie schreiben. Recht guten Morgen!54

Irene Prokesch-Osten, Brief an Friedrich von Gentz, Wien, 29. Januar 1832 Ich wünschte recht sehr, daß es Ihnen möglich und nicht unangenehm wäre, uns heute Abend mit Ihrem gütigen und freundlichen Besuche beehren zu können! – Ich habe nemlich, in der Voraussetzung, daß Schönsteins Vortrag Schubertischer Lieder, Ihnen gewiß einiges Vergnügen gewähren wird, nicht unterlassen können ihn zu bitten, uns recht bald einen Abend zu schenken; was er mir auch mit größter Bereitwilligkeit für heute Abend zusagte. Besonders mußte er mir versprechen, uns die Heinischen Lieder, und unter diesen: ‚Ihr Bild‘ zu wiederholten Malen, hören zu lassen. – Heute würde mich eine abschlägliche Antwort doppelt betrüben, weil ich fest überzeugt bin, daß Schönstein’s Gesang Sie befriedigen wird. – Ich darf aber doch gestehen, – daß ich auf eine gütige Zusage hoffe! – Ihre ergebene Irene 55

Irene Prokesch-Osten, Brief an Friedrich von Gentz, Wien, 30. Januar 1832 den 30. Januar 1832, Abends. Erlauben Sie mir, im Falle, als Sie den gestern gehörten Liedern noch einige Erinnerung schenken wollten, Ihnen hier die Texte derselben, in der Ordnung wie sie gesungen wurden, in Abschrift zu übersenden. Ein andermal will ich schon Sorge tragen, daß Sie die Texte während des Singens nachlesen können. – Wie innig freut mich Ihr gütiges Versprechen: I h r B i l d 53 Prokesch (Hg.), Briefwechsel Gentz und Metternich, Bd. 2, 6–58, hier 58. 54 Ebd., 61–62, hier 62. 55 Handschrift, H: HHStA, Wien. Nachlaß Prokesch-Osten, Karton II, bisher ungedruckt, http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/885.html?l=en (1.2.2019).

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Ingeborg Harer mit mir singen zu wollen! – Sie werden dazu von ganzem Herzen bereit finden. Ihre ergebene Irene 56

Anton Prokesch-Osten, Tagebucheintrag, Wien, 4. Februar 1832 Soiree bei Irene mit Fröhlichs, Walcher, Grillparzer u. s. w. Irene spielt meisterhaft das Final aus ‚Don Juan‘. 57

Anton Prokesch-Osten, Tagebucheintrag, Wien, 22. Dezember 1833 Sonntag. Altes Konzert bei meinem Schwiegervater. 58

Anton Prokesch-Osten, Tagebucheintrag, Wien, 31. Dezember 1833 Das Jahr geschlossen unter den Liedern Schönsteins und dem Klavierspiele meiner Frau, von den Ihrigen umgeben. 59

Anton Prokesch-Osten, Tagebucheintrag, Wien, 26. März 1834 Zu Tische bei den Schwiegereltern; einstweilen bei mir ein Konzert arrangiert als Überraschung für Irenes Geburtstag: Thalberg, Schönstein, Hoschek, Rizzi, Ranthartinger [Randhartinger] und die Familie Fröhlich singen und spielen unter Jengers Leitung; außer Irenes Familie nur Paar.60

Anton Prokesch-Osten, Tagebucheintrag, Wien, 4. April 1834. Schönstein und Ranthartinger [Randhartinger] singen den Abend bei mir.61

56 Handschrift, H: HHStA, Wien, Nachlaß Prokesch-Osten, Karton II, bisher ungedruckt, http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/2349.html?l=en (1.2.2019). 57 Prokesch (Hg.), Tagebücher Prokesch von Osten, 131. 58 Ebd., 198. 59 Ebd., 200. 60 Ebd., 210. 61 Ebd., 211.

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Irene Kiesewetter verh. Prokesch-Osten (1811–1872)

Bettina Schinas, Brief an ihre Eltern, Athen, Ende April 1835 […] die Prokesch sehr schön, Sachen von Beethoven gespielt[.]62

Hermann von Pückler Muskau, Tagebucheintrag, Athen, 22. März 1836 […] Die reizende Gebieterin des Hauses [Irene Prokesch-Osten] spielte, ehe sie uns entließ, als den würdigsten Schluß zum Faust, das Finale des Don Juan. Eines Kunsturtheils über diese Leistung unfähig, kann ich nur sagen, daß mich kaum je Klavierspiel so befriedigt hat. Diese Wiederschöpfung aus einem Guß, dies Wühlen in den Tönen wie in einem Haufen Perlen, dieses nachhallende Donnern und Lispeln der kleinen Hand, dies Entsetzen, dies Entzücken – Alles mußte das Seinige beitragen, einen so tiefen Eindruck auf mich hervorzubringen: höchstes Kunsttalent, inniges Gefühl, tiefes Verständniß des unübertroffenen Meisters, ein vortreff liches Instrument, eine schöne Frau und ein empfängliches Gemüth. Mit geschlossenen Augen lauschte ich, und im Traum der Nacht noch erklangen mir fortwährend die Zaubertöne wieder.63

Friedrich Gottlieb Welcker, Tagebucheintrag, Athen, 7. Februar 1842 Nach dem Kaffee am Kamin besuchten wir den Ball bei Prokesch, wo einige komische Masken, Damen in Reifröcken und mit Schönpf lästerchen, schwarze Gespenster mit hohen spitzen Mützen und langen Sprachröhren u. s. w. zuerst auftraten, die dann meist verschwanden, während Frisuren und Schlenker, Reifröcke und dergleichen auch zum Tanz verblieben. […] Nach Tisch ein barockes französisches Fastnachtsspiel, gegeben von vier Hiesigen: und zuletzt der Cotillon, unter welchem wir nach zwei Uhr uns zurückzogen.64

Friedrich Gottlieb Welcker, Tagebucheintrag, Athen, 28. März 1842 Nun zog ich mich schnell an, um einen Versuch zu machen und brachte den Abend sehr angenehm bei Prokesch zu, bis spät. Er hatte einige Fremde zu Tisch gehabt, die auch blieben. Der Gegensatz unserer Ansichten über Herodot, die Aegypter, historisch und mythisch, kam zur Sprache und er faßte die allgemeinsten 62 Zit. nach Ruth Steffen (Hg.), Bettina Schinas geb. von Savigny. Leben in Griechenland 1834 und 1835. Briefe und Berichte an ihre Eltern, Münster 2002, 204. 63 Hermann Pückler-Muskau, Südöstlicher Bildersaal, Bd. 2: Griechische Leiden, 1. Teil: Aus meinem Tagebuche, Stuttgart 1840, 367. 64 Friedrich Gottlieb Welcker, Tagebuch einer Griechischen Reise, Bd. 1, Berlin 1865, 57.

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Ingeborg Harer Gründe der neuen Ansicht wenigstens nachsichtig. auf. Frau v. Prokesch spielte mit einem Italiener Mozart, während Prokesch seine reiche und gewählte Sammlung griechischer Münzen und immer wieder neue, ausgesuchte ägyptische Denkmäler vorlegte. Endlich zogen die sanftesten Beethovenschen Musikstücke, von der Frau allein vorgetragen, die Aufmerksamkeit ungetheilt auf sich – mich sehr anheimelnd – und Gespräch über Poesie schloß die schöne Abendunterhaltung. Prokesch zeigte sich in seiner großen Liebenswürdigkeit und beide sehr freundlich.65

Eduard von Bauernfeld, Tagebucheintrag, Wien, 28. Juni 1846 Gestern nach der italienischen Oper (‚Don Pasquale‘) bei Frau von Prokesch. – Liszt spielte in seiner gewaltsamen Manier, die sich im Concert theatralisch genug, im Salon geschmacklos ausnimmt. Zwar ein wunderbarer Virtuose, trotz seinem Dreinschlagen und bisweilen Danebengreifen.66

Adolf Friedrich von Schack, Berlin, 1850er Jahre Häufig brachte ich den Abend in seinem [Prokesch-Ostens] Hause zu, das ein wahrer Musensitz war und in welchem seine Gemahlin, die eine vorzügliche Stimme besaß, die Gäste durch ihren Gesang entzückte.67

Alexander Freiherr von Warsberg, „Graf Prokesch-Osten IV.“, in: Beilage zur A llgemeinen Zeitung, Augsburg, 24. Dezember 1876, aufgezeichnet in den 1860er Jahren in Graz Sonst wenn er [Prokesch] nur für wenige Wochen, meistens sogar nur für Tage, von Konstantinopel auf Urlaub in die Heimath kam, fand er in dieser Wohnung in Graz einen selten heiteren und künstlerisch belebten Kreis um seine Gemahlin versammelt. Stockhausen sang dort die Müllerlieder, die Schubert’sche Winterreise, und schöner als er dies je in einem seiner glänzendsten Concert that.68

65 Ebd., 156–157. 66 Carl Glossy (Hg.), Aus Bauernfelds Tagebüchern, Bd. 1: 1819–1848, Wien 1895, 126. 67 Adolf Friedrich von Schack, Ein halbes Jahrhundert; Erinnerungen und Aufzeichnungen, Stuttgart 1888, 324. Ähnlich in: Heinrich Ritter von Zeißberg, „Prokesch, Anton von“, in: Allgemeine Deutsche Biographie, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 26 (1888), 631–645: „Auch in Berlin war übrigens sein Haus ein wahrer Musensitz, an dem seine Gemahlin die Gäste – darunter vor allem Humboldt, Fürst Pückler-Muskau und Meyerbeer – durch ihre vorzügliche Stimme und ihren schönen Gesang entzückte.“ 68 Beilage zur Allgemeinen Zeitung 359, Augsburg, 24. Dezember 1876, 5501–5503, hier 5503.

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Irene Kiesewetter verh. Prokesch-Osten (1811–1872)

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Carl Dahlhaus und das „Symphonische Loch“ im 19. Jahrhundert im Spiegel der Romantheorien von Bruno Hillebrand Joachim Brügge

Der Roman als Sujet einer epischen Metaphorik des Symphonischen? Dem Beschwören einer Nähe von Symphonie und Roman im 19. Jahrhundert haftet bis heute etwas von einem konzertführerhaften Allgemeinplatz an, ohne dabei wirklich konkret formale Dispositionen und mögliche Analogien zwischen beiden Gattungen zu thematisieren.1 Vor allem das Bild einer umfassenden „Weltschöpfungs“-Metaphorik gerät dabei leicht zu einem poetologisch allzu stark verpf lichtenden Nenner für beide Gattungen, wie etwa das prominente Symphoniebonmot eines Gustav Mahlers verdeutlicht: „Nun denke Dir ein so großes Werk, in welchem sich in der Tat die ganze Welt spiegelt – man ist, sozusagen, selbst nur ein Instrument, auf dem das Universum spielt“ 2 , oder Stendhals empirischer Definitionsversuch, „den Roman als Spiegel breitester Lebenswirklichkeit“ zu deuten: 1 2

Solches spiegelt sich auch in der Recherche einschlägiger RILM-Titel, etwa zu den Stichworten „novel“ + „symphony“: 155 Einträge oder „Roman“ + „Symphonie“: 189 Einträge (Stand jeweils 7.1.2019). So Mahler in einem Brief vom 28. Juni 1896 an Anna von Mildenburg (Gustav Mahler, Briefe, hg. von Herta Blaukopf, Wien 1982, 164–165) im Umfeld der Arbeiten an seiner Dritten Symphonie. Zur Symphonik Mahlers wurde besonders in neueren Studien ein „narratologischer Blick“ eröffnet, der in Analogie zum Roman nach „der Erzählstruktur und Dramaturgie eines Werkes fragt“, so Oliver Korte und Peter Revers im Vorwort zu Gustav Mahler, Bd. 1, Laaber 2011, IX–XII, hier XI. Der narratologische Ansatz wird dabei unter anderem aufgefasst als eine Art ‚Lizenz‘, vermeintliche Defizite in der Formbetrachtung zu erklären, ausgehend etwa von Theodor W. Adornos Mahler-Buch von 1960. Adorno ist allerdings diversen idealtypischen Denkmustern seiner eigenen Musikästhetik verhaftet, wie seine Kritik an der Idee der Reprise der Sonatensatzform verdeutlicht, die vermeintlich „die Dynamik der Durchführung rückgängig mache“ und so den Symphonien Mahlers nicht gerecht werde (so Federico Celestini, „Fünfte Symphonie“, in: Gustav Mahler. Interpretationen seiner Werke, Bd. 2, hg. von Peter Revers und Oliver Korte, Laaber 2011, 3–51, hier 5). Ob man mit dieser Sicht der komplexen Debatte zu den Sonatensatzformen am Ende des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts gerecht wird, ist aus heutiger Sicht mehr als fraglich: Beethoven arbeitet ja wiederholt mit der Idee der veränderten Reprise und bringt so die Dynamik der Durchführung in das statische Moment der Reprise mit hinein, und schon Carl Philipp Emanuel Bach komponierte 1760 (schon im Titel ausgewiesen) Sechs Sonaten fürs Clavier mit veränderten Reprisen, Wq 50.

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Carl Dahlhaus und das „Symphonische Loch“ im 19. Jahrhundert Der Roman will Orientierung schaffen wie andere Dichtungsarten auch. Aber er ist immer angelegt auf einen breiten Weltentwurf, auch ein Entwerfen neuer Wirklichkeit, nicht auf Mimesis im Sinne einfacher Nachahmung. 3

Mit dieser gemeinsamen Textstrategie einer ästhetischen wie zugleich weltschaffenden Entgrenzung von Roman und Symphonie war es mehr als naheliegend, dass Komponist*innen wie Literat*innen in zahlreichen Aussagen versucht haben, sich wechselseitig durch die jeweils andere Gattung zu legitimieren, wofür exemplarisch die folgende Aussage von Thomas Mann steht: Die Musik hat von jeher stark stilbildend in meine Arbeit hineingewirkt. Dichter sind meistens „eigentlich“ etwas anderes, sie sind versetzte Maler oder Graphiker oder Bildhauer oder Architekten oder was weiß ich. Was mich betrifft, muß ich mich zu den Musikern unter den Dichtern rechnen. Der Roman war mir immer eine Symphonie, ein Werk der Kontrapunktik, ein Themengewebe, worin die Ideen die Rolle musikalischer Motive spielen.4

Auch die direkte Vorlage eines Romans konnte für die Komposition einer Symphonie der Anlass sein wie der Titan von Jean Paul für Mahlers Erste Symphonie. 5 Ein gemeinsames Moment der Gattungen „Roman“ und „Symphonie“ im 19. Jahrhundert zeigt sich auch in einem kritischen Gattungsdiskurs, wobei es die Schriftsteller*innen sicherlich leichter hatten, ihre romanpoetologischen Vorstellungen in Worte zu fassen – in Gegensatz zu den Komponist*innen, deren symphonischer Diskurs im Musikalischen (wie im Narrativen!) wesentlich durch das Abarbeiten an der Vorgabe der Beethoven’schen Symponik bestimmt war.6 Hier werden auch die Differenzen zwischen beiden Gattungen deutlich, indem beispielsweise für den Roman keine Bürde eines singulären Werkes wie Beethovens Neunte Symphonie op. 125, für die Symphonik vorlag7 – Opus 125 fand zwar als Vokalsymphonie zahlreiche Nachahmer, belastete aber als Höhepunkt der Beethoven’schen Symphonik die Gattung im Ganzen. 8 Und ebenso als Differenz 3 4 5 6

7 8

Bruno Hillebrand, Theorie des Romans. Erzählstrategien der Neuzeit [1993], Frankfurt a. M. 1996, 13, 16. Thomas Mann, Der Zauberberg, Frankfurt a. M. 1924, 15. Vgl. Eckhard Roch, „Erste Symphonie“, in: Gustav Mahler, hg. von Revers und Korte, Bd. 1, 88–126. Vgl. im Überblick Wolfram Steinbeck, „Zur Theorie der Symphonie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, dort: „Beethoven – Maß und Bürde“, in: Die Symphonie im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1: Romantische und nationale Symphonik, hg. von Wolfram Steinbeck und Christoph von Blumröder, Laaber 2002 (= Handbuch der musikalischen Gattungen 3/1), 20–24. Gattungstypologisch ist der Roman eine „fast bis heute […] unfixierte Gattung“ geblieben (Hillebrand, Theorie des Romans, 13). Zur Vokalsymphonie vgl. Romantische und nationale Symphonik, hg. von Steinbeck und von Blumröder, 120–132, mit der Tabelle einer Beethovennachfolge von Vokalsymphonien (und auch Odesymphonien) 122. Die unvollendet gebliebene, in CD-Einspielung des ersten Satzes vorliegende Zehnte Symphonie in Es-Dur von Beethoven, von Barry Cooper in einer allerdings kontrovers diskutierten Version rekonstruiert, hätte alleine schon mit der geplanten Verzehnfachung der

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zwischen Roman und Symphonie für das 19. Jahrhundert zeigt sich in der Romanpoetologie kein der Symphonik vergleichbarer „Erhabenheits-Topos“ in der Gattungsdiskussion. Vor dem eben skizzierten Kontext einer ambivalenten Verbindung von Roman und Symphonie sei ferner auf das Buch von Hans-Klaus Jungheinrich, Der Musikroman, verwiesen, dem eine ausgewogene Balance zwischen essayistischer Perspektive und sachkundiger Erörterung formaler Analogien zwischen Roman und Symphonie gelingt.9 Anregend sind beispielsweise die Vergleiche von gemeinsamen „Diskursivitätstypen“ Joseph Conrads zur Symphonik von Johannes Brahms10 oder die kluge Beobachtung zu Mahler, zu dem es in „der deutschen Romanliteratur […] kein Pendant [gab]“11: Man könnte vielleicht an eine Mischung von Franz Kaf ka, Heinrich Mann und Karl May denken – also glatterdings nicht auf einen Nenner zu bringende. Nochmals konstituiert Mahler die Würde des Subjekts in aller Brüchigkeit: Die Symphonien handeln von Helden, die (in der Zweiten, Dritten, Fünften, Siebten) gleich am Anfang zu Grabe getragen werden, um dann irgendwie wiederaufzustehen […].12

Diese Metaphorik literarischer Analogien zu konkreten musikalischen Werken gerät allerdings schnell an eine Grenze des Nachvollziehbaren, so etwa der Vergleich von Max Reger großen Variationswerken, den Hiller-Variationen (op. 100) oder den Mozart-Variationen (op. 132), zu den Kriminalromanen von Agatha Christie.13 Gleichwohl überwiegt die zum Nachdenken anregende Diktion des Buches, wie auch das folgende Bonmot zur unterschiedlichen Titelgebung von Roman und Symphonik: Der „Dritte“ von Flaubert, der „Fünfte“ von George Eliot, der „Siebte“ von Thomas Mann? Bei den Romanciers hat sich eine Durchnummerierung ihrer erzählerischen Großwerke nie eingebürgert. […] Die Namen der Hauptpersonen eignen sich gut als Romantitel: Anton Reiser, Madame Bovary, Effie Briest […]. Oder die vom Handlungsverlauf hauptsächliche betroffenen Kollektive, etwa die Buddenbrooks, die Forsystes (Galsworthy) […]. Oder auch besondere Schauplät-

9 10

11 12 13

Violinen die Symphoniegeschichte endgültig zum Stillstand gebracht: https://www.youtube. com/watch?v=cKoE1f7evDA (21.6.2018). Hans-Klaus Jungheinrich, Der Musikroman. Ein anderer Blick auf die Symphonie, Salzburg 1998. „Vom Typus erinnert Conrad freilich viel mehr an Brahms als an Mahler: in der Ausbildung einer leisen, skrupelösen, diskreten und detailgenauen Meisterschaft, im durchgebildet ‚Kammermusikalischen‘, das latent den Gestus ‚großen‘ Erzählens hat und mitunter die ausgesparte Orchestrierung durchklingen läßt […].“ (Ebd., 127–128.) Ebd., 147. Ebd., 147–148. Ebd., 129.

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Carl Dahlhaus und das „Symphonische Loch“ im 19. Jahrhundert ze: der Stechlin, der Zauberberg […]. Solch kaum ausschöpf barer Vielfalt der Roman-Betitelung steht die Eintönigkeit der zunächst bloß numerischen Symphonie-Identifizierungen entgegen; der mögliche Zusatz der Tonart (Bruckners Achte in c-Moll) macht es nicht viel farbiger und konkreter, denn es gibt jeweils nur rund ein Dutzend symphonisch probater Dur- und Moll-Tonarten.14

Carl Dahlhaus’ These vom „Symphonischen Loch“ im 19. Jahrhundert – eine (zudem noch) politisch inkorrekte wie obsolete Kanondebatte? Die Symphonie, die durch Beethoven aus einer Gattung, die eine unbefangene Massenproduktion zuließ, zur großen Form geworden war, in der ein Komponist mit wenigen Werken das Äußerste erstrebte, geriet um die Mitte des 19. Jahrhunderts in eine Krise, als deren sichtbares Zeichen die Tatsache erscheint, daß nach Schumanns Dritter Symphonie (1850), die chronologisch seine letzte ist, fast zwei Jahrzehnte lang kein Werk von Rang geschrieben wurde, das die absolute, nicht durch ein Programm bestimmte Musik repräsentiert.15

Bis in die Gegenwart hinein hat die Dahlhaus-These Befürworter*innen wie entschiedene Gegnerschaft auf den Plan gerufen – Letzteres wohl auch im Hinblick auf diverse heute wieder zu entdeckende Komponisten wie Robert Volkmann (1815– 1883), Joachim Raff (1822–1882), Carl Reinecke (1824–1910), Anton Rubinstein (1829–1908), Karl Goldmark (1830–1915) und andere. Quantitativ betrachtet stimmt die Dahlhaus-These vom „Symphonischen Loch“ somit für den Zeitraum von 1850–70 nicht, wie schon die große Pluralität alleine der „Symphonik der 1850er und 1860er Jahre in Deutschland“16 vermittelt. Unbestreitbar aber ist ebenso der Umstand, dass die These einer Krisengeschichte der Symphonie nach Beethoven schon von den Zeitgenoss*innen selber erkannt bzw. als Problem der Gattung angesprochen wurde. Solches verdeutlicht der überaus interessante wie zugleich skurril anmutende Wiener Symphonienwettbewerb von 1835, der als Ref lex auf die Symphoniegeschichte nach Beethoven zu sehen ist – mit einer ebenso stattlichen Liste symphonischer „Kleinmeister“ (entsprechend der Symphonieproduktion ab 1850, s. o.): Georges Onslow (1784–1853), Carl Loewe (1796–1869), Thomas Täglichsbeck (1799–1867), Christian Gottlieb Müller (1800–1863) und andere.17 Sieger war Franz Lachner (1803–1890) mit seiner Fünften Symphonie, die neben der verpf lichtenden Nummerierung auch durch die Tonart c-Moll in 14 Ebd., 48. Vgl. auch die Praxis bei Malern wie Jackson Pollock, Bilder mit Ziffern zu titulieren. 15 Carl Dahlhaus, „Das zweite Zeitalter der Symphonie“, in: Die Musik des 19. Jahrhunderts, Laaber 1980 (= Neues Handbuch der Musikwissenschaft 6), 220–229, hier 220. Anfang der 1850 Jahre entwickelte Franz Liszt in Weimar die in Konkurrenz zur Symphonie tretende Symphonische Dichtung. 16 So die gleichnamige Kapitelüberschrift in Romantische und nationale Symphonik, hg. von Steinbeck und von Blumröder, 161–177. 17 Vgl. ebd., 45–65.

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eine beinahe schon ohnmächtige Konkurrenz zur Fünften Symphonie von Beethoven tritt und auch im gutwilligst gemeinten Vergleich zwangsläufig den Kürzeren ziehen muss – der Titel Sinfonia passionata mutet in diesem Kontext noch zusätzlich ironisch an. Vereinzelte Ausnahmen wie „Spohrs Sonderweg“18 vermochten an dieser Schief lage nichts zu ändern – erst die Symphoniegeschichte nach (!) 1870 erfuhr eine für diese Gattung einzigartige Belebung und Dimension (Brahms, Bruckner, Mahler, Dvorak, Tschaikowsky, Sibelius), die in Bezug auf das verpf lichtende Erbe von Beethoven zu eigenständigen Lösungen gelangten (und die symphonischen Werke der kompositorisch ‚zweiten Garnitur‘ deutlich in den Schatten stellten). Von hier an wurde Symphoniegeschichte erst richtig zur schier unlösbaren Herausforderung: Was für ein Anspruch, nach (!) Bruckner, nach (!) Brahms (und später auch nach Mahler) noch eine Symphonie schreiben zu wollen. Und dieses umso mehr, wenn man sich das jahrzehntelange Ringen solcher Komponisten wie Brahms oder Sibelius um die Gattung vor Augen führt – Symphoniegeschichte also zugleich als „Krisengeschichte“ wie als „Apotheose herausragender Einzelwerke“ begreift. Die umfangreiche Symphoniegeschichte bringt zwangsläufig auch jedes Handbuchvorhaben an seine Grenzen:19 So etwa wird Alan Hovhaness (1911–2000) in einem kurzen Abschnitt gewürdigt, 20 der mit über 50 Beiträgen 21 wohl den Rekord an komponierten Symphonien im 20. Jahrhundert für sich beanspruchen darf (was den Verdacht auf ‚Vielschreiberei‘ nahelegt, die sich dann selbst ad absurdum führt bzw. das individuelle Werk in der Gattung gleichsam verschwinden lässt). Dagegen fehlen (im Register22) Hinweise auf den dänischen Komponisten und Organisten Rued I. Langgaard (1893–1952), der 16 Symphonien komponierte und der mit seinem einzigartigen Orchesterwerk Sfærernes Musik (‚Sphärenmusik‘; 1916–18) Werke wie György Ligetis Atmosphères (1961) komplett vorwegzunehmen scheint23 (ein Umstand, der Ligeti auch nachträglich bekannt gewesen ist24). Ebenso 18 So die gleichnamige Kapitelüberschrift in ebd., 57–65. 19 Vgl. Romantische und nationale Symphonik, hg. von Steinbeck und von Blumröder, sowie Die Symphonie im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 2: Stationen der Symphonik seit 1900, hg. von Wolfram Steinbeck und Christoph von Blumröder, Laaber 2002 (= Handbuch der musikalischen Gattungen 3/2). 20 Günter Moseler, „Symphonischer Amerikanismus“, in: Stationen der Symphonik seit 1900, hg. von Steinbeck und von Blumröder, 181–185, hier 185. 21 Moseler spricht von 53 Werken (ebd.), Michael Saffle (Nathan Broder) gar von deutlich über 60 Beiträgen („Hovhaness, Alan Scott, eigentl. Alan Vaness Chakmakjian“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, zweite Auflage, hg. von Ludwig Finscher, Personenteil Bd. 9, Kassel und Stuttgart 2009, Sp. 401–403, hier 401–402). 22 Stationen der Symphonik seit 1900, hg. von Steinbeck und von Blumröder, 335. 23 Vgl. Lutz Lesle, „Weltseele – Abgrund – Allerseelen: Zur Wiederentdeckung der ‚Sphärenmusik‘ des dänischen Komponisten Rued Langgaard“, in: Neue Zeitschrift für Musik 161/6 (2000), 24–27, sowie den Beitrag von Tomi Mäkelä in diesem Band. 24 Vgl. den Kurzbericht von Per Nørgård: http://www.youtube.com/watch?v=0OX_4cJyhgI (26.1.2019).

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fehlt ein Hinweis auf den japanischen Komponisten, Violinisten und Dirigenten Qunihico Hashimoto (1904–1949), der zwei Symphonien komponiert hat (D-Dur, 1940, und F-Dur, 1947) und stellvertretend für eine ganze Reihe weiterer japanischer Symphoniekomponisten steht wie Yasushi Akutagawa (1926–1981)25 oder Toshirō Mayuzumi (1929–1997). 26 Schon die unmittelbar benachbarten Niederlande mit Komponisten wie Bernard Zweers (1854–1924) können so aus dem Fokus geraten. 27 In diesem Sinne ist die Symphoniegeschichte des 19. und (!) 20. Jahrhunderts eine wahrhaft erst noch zu entdeckende terra incognita – als Erschließung von Repertoire, was nach wie vor eine zentrale Aufgabe des Faches Musikwissenschaft (auch angesichts der gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Ausrichtung) sein sollte. Dieses betrifft natürlich auch die große Gruppe der emigrierten Komponisten*innen, die nicht so bekannt waren wie Erich Wolfgang Korngold (1897–1957) – so etwa Karl Weigl (1881–1949), der sechs Symphonien komponierte und in Amerika unter anderem am Boston Conservatory eine Anstellung fand, sich aber ansonsten beruf lich schwer tat28 (solches betrifft natürlich auch die massenhafte Flucht der vertriebenen jüdischen Künstler*innen nach Südamerika 29).

Symphonien erzählen Geschichten – Fallbeispiel Johannes Brahms, Cellosonate op. 38 (Reflex auf die verlorene Liebe zu Clara Schumann?) und Vierte Symphonie op. 98 (Abschied von der Welt?) Johannes Brahms’ instrumentales Oeuvre verkörpert das Ringen um die Sympho­ nie nach Beethoven exemplarisch – die Symphonie als Bürde wie als kompositorische Herausforderung bestimmte dessen Kammermusik ebenso wie seine Orchesterwerke: Symphonien und Konzerte (und partiell auch die Vokalmusik 30). Man könnte sogar so weit gehen und sagen, dass Brahms’ mühselige Annäherung an die Gattung Symphonie sich geradezu im Sog des „Symphonischen Lochs“ ab den 1850er Jahren vollzogen hat, wobei das Sujet eines Symphonischen in anderen Gattungen ausgetragen wird, wie sich dieses auch bei anderen Komponisten der Zeit zeigt:31 25 Prima sinfonia (1954/55), Symphony for Children „Twin Stars“, text by Kenji Miyazawa (1957). 26 Symphonic Mood (1950), Phonology Symphonique (1957), Mandala Symphony (1960). 27 Zweers schrieb drei Symphonien, wobei die Dritte Symphonie An mijn Vaderland von 1887–90 natürlich zum Vergleich mit Werken wie Smetanas Zyklus Má vlast (Mein Vaterland) herausfordert. 28 Vgl. dazu im Überblick http://www.karlweigl.org/works.php?work=132 (21.6.2018). Ebenfalls nicht in Stationen der Symphonik seit 1900, hg. von Steinbeck und von Blumröder im Register aufgeführt (343). 29 Vgl. dazu im Überblick Alisa Douer und Ursula Seeber (Hg.), Wie weit ist Wien, Wien 1995. 30 Etwa in orchestralen Satzbildern im Deutschen Requiem op. 45, genauso wie in diversen Klavierbegleitungen seiner Lieder, die sich häufig wie ein Klavierauszug einer symphonischen Passage lesen lassen. 31 Etwa der symphonische Diskurs in den Opern Wagners oder die Konkurrenz der Symphonischen Dichtung durch Franz Liszt, s. u.

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•• Serenade für Orchester op. 11 (in den Versionen: 1857/58 für kleines, 1858/59 für großes Orchester), als Jugendwerk zwischen Serenade und epigonaler „Wiener Klassik-Symphonie“ stehend; •• Klavierkonzert in d-Moll op. 15 (von 1854 bis 1858 in Versionen als Sonate für zwei Klaviere, Symphonie und schließlich Klavierkonzert konzipiert) – mit dem offenkundigen Abarbeiten an Beethovens Neunter Symphonie; •• Die beiden symphonisch ‚getarnten‘ Klavierquartette op. 25 und op. 26 ( jeweils 1855–61), verbunden auch mit der Idee der beruf lichen Selbstfindung und Übersiedlung nach Wien. An seiner Ersten Symphonie in c-Moll op. 68 komponierte Brahms volle 14 Jahre (1862–76), um dann gleich im nächsten Jahr 1877 die Zweite Symphonie in D-Dur op. 73 zu vollenden. Solches beschwört ein weiteres Diktum der Beethoven’schen Symphonik, nämlich das zeitnahe Komponieren antithetischer Symphonienpaare, was sich dann sechs Jahr später wiederholt: 1883 entsteht die Dritte Symphonie in F-Dur op. 90, ein Jahr später die Vierte Symphonie in e-Moll op. 98 (1884/85). Erstaunlich mutet dabei die in der Brahms-Literatur schon häufig angesprochene wechselseitige Verbindung der beiden Cellosonaten in e-Moll op. 38 und F-Dur op. 99 zu der Dritten und Vierten Symphonie an: Unmittelbar nach der Vierten Symphonie komponierte Brahms die Cellosonate in F-Dur, mit deutlichem kompositorischen Ref lex zur Dritten Symphonie (etwa die pastos-f lächige Anlage der beiden Kopfsätze), während die frühere e-Moll-Sonate in einigen Details auf die Vierte Symphonie verweist. Neben den zahlreichen stilistischen Werkzuweisungen an die Dritte und Vierte Symphonie sowie an die beiden Cellosonaten, wobei Brahms möglicherweise ebenso eigene ältere Entwürfe aufgegriffen und sich an diversen Referenzwerken (Bach, Schumann, Wagner u. a. 32) orientiert haben könnte, besticht dabei auch das Bild einer „Abschiednahme von der Welt“ für die Vierte Symphonie als Ausdruck der eigenen Vergänglichkeit. Dies spiegelt sich auch in der Tonart e-Moll, die in beiden Werken, der Cellosonate op. 38 und der Vierten Symphonie, wie eine verdeckte „Bekenntnistonart“ von Brahms anmutet – eine innere Verbindung, die sich bereits in einem bemerkenswerten musikalischen Detail zu Beginn des Kopfsatzes zeigt, wo eine skandierend nachschlagende Viertelbegleitung im Klavier (op. 38) zu den Holzbläsern aus der Vierten Symphonie (dort das Hauptthema des Satzes intonierend) aufscheint. Diese erinnert als rhythmische Signatur einer im Klaviersatz stilisierten Lauten- bzw. Harfenbegleitung (allerdings wie erstarrt, nicht im Arpeggio gespielt) auch an zahlreiche Vertonungen des deutschsprachigen Kunstliedes seit Schubert, zumeist als ausdrucksstarkes Klangsymbol hoffnungsloser Liebe (vgl. Bsp. 1 und 2). 32 Vgl. dazu im Überblick Robert Pascal, „Sinfonien“, in: Brahms Handbuch, hg. von Wolfgang Sandberger, Stuttgart 2009, 506–528, hier 517–518.

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Beispiel 1: Johannes Brahms, Cellosonate op. 38, erster Satz, T. 1–4, skandierende Begleitung.

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Beispiel 2: Johannes Brahms, Symphonie Nr. 4 op. 98, erster Satz, T. 1–4, Violinen + Holzbläser (Stimmenauszug).

Lediglich in einem einzigen weiteren Werk von Brahms taucht diese Begleitung zu Beginn im Kopfsatz auf, nämlich im Horntrio in Es-Dur op. 40, allerdings einem Andante, welches mit seinem Entstehungsjahr 1865 gut zu Opus 38 passt (die Cellosonate wurde 1862 [erster und zweiter Satz] bzw. 1865 [dritter Satz] komponiert, vgl. Bsp. 3). Bemerkenswert ist für das Horntrio auch der Umstand, dass für dessen Adagio mesto (in es-Moll) ebenfalls eine biographische Hypothese in der Brahmsliteratur diskutiert worden ist, wobei Brahms hier seine Trauer über den Tod der Mutter musikalisch aufarbeiten soll. 33 Komponiert in Baden-Baden im Mai 1865, wurde das Trio dort im Haus von Clara Schumann (!) zum ersten Mal gespielt: Ist es von hier aus zu viel interpretiert, in der skandierenden Begleitung in den drei Satzanfängen der Kopfsätze von Opus 38, Opus 40 und Opus 98 eine verbindende rhythmische Signatur zu sehen (s. o.)? Umso mehr, da auch am Beginn des 33 Vgl. Constantin Floros, Johannes Brahms. „Frei aber einsam“. Ein Leben für eine poetische Musik, Zürich 1997, 80–81.

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Beispiel 3: Johannes Brahms, Horntrio op. 40, erster Satz, T. 1–7.



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Adagio mesto von Opus 40 nun direkt Arpeggien auftreten? Zudem stimmt dabei eine weitere Werkverbindung nachdenklich, und zwar das Zitat des Klavierliedes „Dort in den Weiden steht ein Haus“ op. 97 Nr. 4, im Adagio mesto, ab Takt 63, welches Brahms auch mehrfach vertont hat. 34 Dort tritt zu einem durchlaufenden Achtelbass als instrumentales Nachspiel im Klavier ab Takt 14 und Takt 32 eine vergleichbare Folie auf, allerdings in der Version nachschlagender Achteln (diese lassen sich auch vereinzelt in anderen Vertonungen von Brahms nachweisen 35). Ist das alles nur eine zufällige satztechnische Übereinstimmung, oder spielt hier nicht doch die übergeordnete Idee von „Abschied“ zu wichtigen Frauengestalten im Leben von Brahms eine Rolle? Die Verbindung von Opus 38 und Opus 40 in Bezug auf ein mögliches (op. 38) und reales Adagio (op. 40), als biographische Hypothese eines Abschiednehmens von Clara Schumann (und seiner Mutter), erhält ferner eine zusätzliche Pointe, indem ausgerechnet Clara Schumann das „fehlende Adagio“ in der Cellosonate monierte: „Wie schade, Cello, und kein Adagio!“ 36 Ob allerdings ein Adagio für Opus 38 tatsächlich existierte, welches von Brahms dann wieder aus der Sonate entfernt wurde, um so seine Liebe zu Clara nicht zu ‚enttarnen‘, wird aktuell eher skeptisch betrachtet 37 – ebenso die These, ein solches, vermeintlich verworfenes Adagio aus Opus 38 in der späteren Cellosonate op. 99 zu vermuten. 38 In Bezug auf das enigmatische Andante moderato in Opus 98 aber verleiht die biographisch motivierte Absenz eines möglichen Adagios in Opus 38 eine zusätzliche, den Verlust Claras gleichsam nachträglich beschwörende Dimension. Und dies umso mehr, steht die Vierte Symphonie als persönliches Bekenntniswerk doch auch für 34 Vgl. ebd., 83. 35 Vgl. etwa Mit vierzig Jahren op. 94 Nr. 1, T. 3–4. 36 Unpublizierter Brief an Hermann Levi, zitiert nach Christiane Wiesenfeldt, „Sonaten für Violoncello und Klavier“, in: Brahms Handbuch, hg. von Sandberger, 449–456, hier 450. 37 Vgl. ebd., 450. 38 Vgl. ebd.

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die letzte Teilnahme von Brahms an einem öffentlichen Konzert anlässlich der von Hans Richter geleiteten Wiener Aufführung am 7. März 1897 (einen Monat vor Brahms’ Tod am 3. April 1897). Auch in diesem biographischen Bekenntnisund Abschiedswerk, in Verbindung zur Cellosonate op. 38 (mit dem Sujet: „Abschied von Clara“) und dem Horntrio op. 40 (mit dem Sujet: „Abschied von der Mutter“), zeigt sich die auch von Brahms selber wiederholt angesprochene Leidensmetaphorik, die eindringlich auf Joseph Conrad als literarischem Alter Ego verweist:39 „Pain and trouble are the only incontrevertible realities of existence. Happiness can be controverted and ease denied – even if it existed.“40

Der „Roman in der Krise“? Bruno Hillebrands Romantheorien in ausgesuchten Aspekten Wie die Symphonie gerät anscheinend auch der deutschsprachige Roman Mitte des 19. Jahrhunderts in eine Krise – oder genauer formuliert: In eine seiner zahlreichen Krisen, die sich schon nach 1835 abzeichneten: Der Roman steckte in einer schweren Krise. Wienbarg fragt rhetorisch: „Woher der Stoff zu einem zeitgeschichtlichen Roman? Ich frage aber dagegen, woher entnahm Göthe ihn für Wilhelm Meister? – Versteht mich recht. Um alles in der Welt keinen Wilhelm wieder. Der ist abgetan, das ist Göthe’s und seiner Zeit.“41

39 Als pars pro toto vgl. die Aussage von Brahms zu den drei Intermezzi op. 117, sie seien die „Wiegenlieder meiner Schmerzen“; vgl. zum Sujet bei Brahms grundsätzlich auch Gustav-Hans H. Falke, Johannes Brahms, Wiegenlieder meiner Schmerzen – Philosophie des musikalischen Realismus, Berlin 1997. 40 Joseph Conrad, Brief an John Galsworthy, 5. April 1904 (The Collected Letters of Joseph Conrad, Bd. 3: 1903–1907, hg. von Frederick R. Karl und Laurence Davies, Cambridge 1996, 127). Conrads melancholisch dunkle Weltsicht war vielfach Gegenstand kontroverser Debatten (etwa Hannah Arendt, The Origins of Totalitarism, New York 1951). Aus heutiger Sicht kann man ihn aber eher als Kritiker nationalistischer Identitätsstiftung ansehen. Zur Rezeption von Joseph Conrad als literarischem Alter Ego von Johannes Brahms vgl. auch die Analysen einer Überblendung von chinesischer und europäischer Literaturen in Yang Mu, The Completion of a Poem: Letters to Young Poets, übersetzt von Lisa Lai-Ming, Leiden 2017, 71: „For the purpose above, as you read and learn from foreign literature, you are practicing your creative abilities at the same time. A friend of mine is fond of Joseph Conrad’s novels and the music of Johannes Brahms. One day, in high spirits, he told me that each time he listened to Brahms’ Violin Concerto in D Major, Opus 77, he would think of the tropical ambience of Malaysia and the Strait of Malacca, because he associated the music with a novel by Conrad (probably Lord Jim)“. Die Verbindung von Conrad zur Musik Brahms’ ist auch belegt durch die Skizze des schottischen Malers Sir Muirhead Bone, Conrad listening to music, Drypoint 1923, vgl. http://www.victorianweb.org/painting/misc/bone1. html (26.1.2019): „Conrad sat for this portrait on 22 May 1923 at Folly farm, Great Barrington, Connecticut, when he was listening to Brahms, one of the three drypoint portraits Bone made of him in America. It was published in 1926.“ 41 Hillebrand, Theorie des Romans, 219.

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Hillebrand beschreibt die Situation für den Roman im 19. Jahrhundert in der zentralen ästhetischen Prämisse aus „Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft“ mit einer ganzen Reihe von interessanten Stichworten, die eine ästhetische Nähe auch zu Problemen der Symphonik dieser Zeit aufzuweisen scheinen. So sagt das „Junge Deutschland [der] Romantik, der Innerlichkeit [und] dem Vergangenen [den Kampf an]“, wobei der „Realismus“ ein neues „theoretisches Konzept ab 1850“ einfordert, mit den Komponenten einer „organischen Form“ und dem „menschlichen Inhalt des Romans als Forderung.“42 Das selbstreflexive Moment einer vielfach diskutierten Romantheorie, mit einem weiten Bogen etwa von Carl Nicolai, Versuch einer Theorie des Romans (1819) 43 bis zu einer „Hegelschen Romanästhetik“44 verweist in deutlicher Analogie ferner auf den symphonischen Diskurs in den Opern Richard Wagners (u. a.). Dabei wird deutlich, dass die gegenüber der Literatur verspätet einsetzende deutsche musikalische Romantik ab 1830 zeitgleich auf den „nachromantischen Roman“ trifft.45 Umgekehrt kann das Aufkommen der neuen Gattung „Symphonische Dichtung“ und deren „Erzählungen“ durchaus in Verbindung zum „Historischen Roman“ im 19. Jahrhundert gesehen werden (s. u.). Dennoch gerät eine so scheinbar mühelos zu konstruierende Idealtypik zwischen Roman und Symphonik schnell an ihre Grenzen – vor allem in Bezug auf die zentrale Kategorie der Romanästhetik für das mittlere 19.Jahrhundert, dem Realismus: Immermann, der als Vorläufer des sogenannten Realismus gilt, hat damit das Spannungsfeld einer neuen Stilrichtung schon abgesteckt. Der zunehmende Materialismus, Kommerzialismus, Positivismus wird den Romanciers um die Jahrhundertmitte in die innere Isolation zurücktreiben. Der deutsche Roman mit seiner inselhaften Wirklichkeit wird sich über oder neben der merkantilen, sozialen wie politischen Realität ansiedeln. Die vielbesprochene Innerlichkeit ist die Rückzugsposition der enttäuschten Literatur nach über dreißig Jahren Freiheitsentzug – die Jahre 1830 und 1848 sind nur akute Verdichtungen einer latenten Krise. Man konnte sich nicht zufriedengeben mit „Tendenzen“, die ohne ästhetische Integration blieben, man konnte andererseits sich nicht entfalten wie in Frankreich oder England, wo das politische Klima wie der hauptstädtische Zentralismus Möglichkeiten der Kommunikation und der äußeren Weltfülle boten, die Deutschland nicht kannte.46

Ein anregendes wie komplexes Szenario, welches zu diversen weiterführenden Studien zu Positionen der Symphoniegeschichte geradezu herausfordert: Inwieweit 42 43 44 45 46

Ebd., 192. Vgl. ebd., 198–199. Vgl. ebd., 201–202. Vgl. ebd., 207–208. Ebd., 213.

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stimmen etwa die ästhetischen Positionen des literarischen „Jungen Deutschland“ mit denen der musikalischen „Neudeutschen Schule“ überein? Geht deren Absage an eine elitäre Literatur und den deutschen Idealismus von Klassik und Romantik nebst der Forderung nach Aufarbeitung politischer, sprich gesellschaftlicher Missstände einher mit ästhetischen Konzepten der „Neudeutschen Schule“ um Franz Liszt, der mit seinen Symphonischen Dichtung ab 1850 eine Art von „Kompensation“ der auf der Stelle tretenden Gattung „Symphonie“ verkörpert? Würde ein solches Szenario nicht auch ein (hier unterstelltes) „Defizit“ der „symphonischen Kleinmeister“ von 1850–70 besser verstehen lassen (s. o.), die eben keine wirklich innovativen Entwicklungen zur Symphonik zu leisten imstande waren? Und lag darin nicht auch die Leistung der „großen“ Symphonik nach 1870 – mit Gustav Mahler als Fixpunkt, der in seiner Musik eine empirische Dimension entfaltet, die die Brüche der Epoche besonders widerspiegelt? Das Wien des Fin de Siècle war der ideale Schmelztiegel, der für Komponisten wie Brahms, Bruckner und Mahler die notwendige Grundlage bildete, seismographisch die Veränderungen ihrer Epoche in ihrem komplexen symphonischen Oeuvre überhaupt erst verorten zu können. Von hier aus betrachtet wäre die deutsch-österreichische Symphonik auch ein Äquivalent zum literarischen Realismus in Paris oder London, über das Otto Ludwig (1891) auf „dem Höhepunkt des literarischen Realismus“ schrieb: Wir haben kein London, in welchem das Wunderbarste natürlich erscheint, weil es in Wirklichkeit so ist, keinen Verkehr mit Kolonien in allen Weltteilen, kein so großes politisches Leben […].47

Fazit Wie für diverse andere Gattungen lässt sich auch für die Symphonik eine These von „Auf lösung und Zerfall des Gattungsgefüges im 20. Jahrhundert“48 konstatieren, die sich neben der „Auf lösung des Werkbegriffs“ auch durch die Aufgabe eines „verpf lichtenden Gattungssystems“ auszeichnen.49 Besonders für die „Innovationsästhetik der Neuen Musik“50 geriet das zu einer vollständigen Neubewertung für die Identität von „Individualwerk“ und „Gattungsanspruch“, wobei sich das Individualwerk verstärkt von einer Gattungsbezogenheit isolierte. Inwieweit dabei Aspekte von Tendenzen einer Romanpoetologie zu verorten wären, wie diese Hillebrand für den Roman des 20. Jahrhunderts anspricht, wäre ein weiteres Themenfeld in der Bewertung von Roman und Symphonie für das 47 Zit. nach ebd., 223–224. 48 Siegfried Mauser, „Auflösung und Zerfall des Gattungsgefüges im 20. Jahrhundert“, in: Theorie der Gattungen, Laaber 2005 (= Handbuch der musikalischen Gattungen 15), 239–243. 49 Ebd., 241. 50 Ebd., 239.

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20. Jahrhundert – mit Stichworten wie einer „anthropologischen Verantwortung des Romans“, der „utopischen Aufgabe des Romans“ oder dem „Ende des psychologischen Erzählens.“51 Für die Neue Musik nach 1970 jedenfalls war die inhaltliche Auseinandersetzung mit literarischen Sujets im Umfeld weitgestreuter Romantheorien ein schon selbstverständliches Thema geworden 52 – durchaus im Sinne einer vielfach konträr diskutierten Postmoderne, die bei aller terminologischen Diskussionswürdigkeit im Ganzen ein eher homogenes „setting“ übergreifender ästhetischer Motive, sprich „Strategien“ vermittelt. 53 Solche Differenzen in Bezug auf die Identität und Brüche der Gattung „Symphonie“ befördert zu haben ist vielleicht der bis heute andauerndste Impuls der symphonischen Krise in der Mitte des 19. Jahrhunderts.

51 Hillebrand, Theorie des Romans, 277. 52 Vgl. als pars pro toto Wolfgang Rihms aufwendiges Projekt seines Zyklus Vers une symphonie fleuve im Umfeld des ‚Roman fleuve‘ der französischen Autoren des 19. Jahrhunderts Honore de Balzac, Romain Rolland und Emile Zola sowie Hubert Fichte (1935–1986), dessen 19-bändiges, unvollendetes Projekt Geschichte der Empfindlichkeit (1987–1993) sowie Hans Henny Jahnns (1894– 1959) Fluß ohne Ufer (Bde. 1 und 2 1949 und 1950, Bd. 3 1961). Vgl. dazu im Überblick Joachim Brügge, „Vers une Symphonie fleuve I–V (1995–2000). Fragen zu formalen, gattungsspezifischen und ästhetischen Aspekten“, in: Wolfgang Rihm, hg. von Ulrich Tadday, München 2004 (= MusikKonzepte Sonderband), 109–127. 53 Zu den Kategorien einer auf andere Künste übertragbaren „Romanpoetologie nach 1945“ vgl. für die Postmoderne Hillebrand, Theorie des Romans, 455–456.

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Die Orchester Richard Wagners Von der Schauspielergesellschaft zur „polyphonische(n) Symphonie“ („Gemeinschaft“) 1 und ihrem „Sprachvermögen“ 2 Dieter Gutknecht Die Orchestersituation war in mittleren Städten Deutschlands um 1830 annähernd ähnlich strukturiert. Nimmt man die noch bestehenden Hoforchester aus, dann waren die instrumentalen Vereinigungen häufig Schauspielergesellschaften zugehörig. Schauspieler und Musiker unterstanden einem „Direktor“, der in freier Unternehmertätigkeit für Theater- und Opernaufführungen verantwortlich war, aber auch für die finanzielle Versorgung der Schauspieler, Sänger, Instrumentalisten und für die Bühnenausstattung aufkommen musste. Die Gesellschaften finanzierten sich häufig unter Aufsicht und Unterstützung von „Komitees“, 3 deren Mitglieder einen absichernden Geldbetrag gewährleisteten, aber auch an den Einnahmen beteiligt waren. Eine solche fatale Konstruktion konnte nur dann erfolgreich sein, wenn fast sämtliche Vorstellungen des Theaters und der Opernaufführungen vor vollem Haus stattfanden. Das brachte die gesamte Kompanie in das Dilemma, häufig Stücke aufführen zu müssen, von denen man sicher war, dass sie ein ausverkauftes Haus garantierten, was wiederum zur Folge hatte, dass diese zumeist aus dem Vaudeville- oder Operettenrepertoire stammten. Eine solche Programmgestaltung verärgerte zumeist das kunstverständige Publikum, aus dessen Reihen sich häufig die Geldgeber rekrutierten. Auch die örtliche Zeitungskritik ließ nicht lange mit vernichtenden Besprechungen ob solcher Programmeinseitigkeit auf sich warten, 1

2

3

Richard Wagner, „Oper und Drama“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 11, hg. von Julius Kapp, Leipzig o. J. [1914], 268; Gerd Rienäcker, „Das verdeckte Orchester. Notate zu Richard Wagners Orchestervision und -praxis in Bayreuth“, in: Welttheater. Die Künste im 19. Jahrhundert, hg. von Peter Andraschke und Edelgard Spaude, Freiburg 1992, 146–149, hier 146. Wagner prägte diese Definition eigentlich im Zusammenhang mit der Charakterisierung von Harmonie, die er als „Gedachtes“ interpretiert, das erst durch die Sinne als „Polyphonie“ bzw. „polyphonische Symphonie“ wahrnehmbar würde. Rienäcker überträgt den Begriff auf die neuartige Orchesterdefinition der Bayreuther Jahre als „polyphonische Gemeinschaft“. Wagner, „Oper und Drama“, 274. Im textlichen Zusammenhang spricht Wagner dem Orchester bzw. einzelnen Instrumentengruppen durchaus eine der Sprache ähnliche Erzeugung zum Beispiel der Vokale „P, B, und W“ zu, beklagt aber in diesem Zusammenhang, dass dieses „individuelle Sprachvermögen“ „noch lange nicht erkannt“ sei. Astrid Eberlein / Wolf Hobohm, Wie wird man ein Genie? Richard Wagner und Magdeburg, Oschersleben 2010, 31.

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wodurch die finanzielle Situation für die gesamte Gesellschaft noch prekärer werden konnte und meistens auch wurde. Hinzu kam, wenn ein Direktor auswärtige Solisten mit klangvollen Namen einlud, um auf diese Weise Publikum in die Aufführungen zu locken, dass dadurch der Rahmen der zur Verfügung stehenden Mittel zumeist überschritten wurde. Die eintretende finanzielle Notsituation musste in den meisten Fällen der Direktor persönlich bereinigen, es sei denn, dass Stadt, „Komitee“ oder gar „königliche Mittel“ aushalfen, die Situation mit einem Zuschuss zu retten.4 In den meisten Fällen jedoch waren die Künstler diejenigen, die solche finanziellen Probleme zu tragen hatten. Entweder wurde ihre vorher ausgemachte Gage gekürzt oder aber auch ganz gestrichen, was wohl jedes Mitglied einer solchen Schauspielergesellschaft häufiger erleben musste.5 Die Rolle, die die Direktoren in finanziell problematischen Situationen einnahmen, war in den meisten Fällen derart, dass sie eher an ihren eigenen Profit dachten, als den Musikern ihre ihnen zustehende Bezahlung zukommen zu lassen, was Wagner in der Anfangszeit seines Musikdirektorenamtes selbst mehrmals zu spüren bekam.6 ***

Im Folgenden gilt es, der Frage nach Größe und Qualität des Magdeburger Orchesters nachzugehen, das Wagner im Juni 1834 bei seinem ersten Dirigat zur Verfügung stand. Als Musikdirektor der Bethmann’schen Schauspielergesellschaft musste Wagner mit dem Ensemble in der vorstellungsfreien Sommerzeit Bühnen wie zum Beispiel in Bad Lauchstädt (wenige Kilometer südlich von Halle gelegen), Rudolstadt und Bernburg bespielen.7 So kam es, dass Wagners erstes Dirigat – 4 5

Ebd., 30–31. Zur allgemeinen Theatersituation sei die Lage in Köln angeführt: Martina Grempler, „Köln hat ein Schauspielhaus, aber kein Theater“, in: Oper in Köln, hg. von Christoph Schwandt, Berlin 2007, 47–77, hier 49; Dieter Gutknecht, „Ein neues Haus und alte Probleme (1829–1853)“, in: ebd., 79–100, hier 91, 96; Kerstin Schüssler-Bach / Hans Elmar Bach, „Köln muss ein seiner würdiges Theater haben (1853–1872)“, in: ebd., 101–129, hier 109. 6 Eberlein / Hobohm, Wie wird man ein Genie?, 33, 52: dass „die Zahl der Mitglieder des Theaterorchester von den Einnahmen und dem Rechnungswesen des Theaterdirektors abhing.“ In Magdeburg mag man es an der Person des Theaterdirektors Eduard Heinrich Bethmann (1773–1857) sehen, dessen Direktionszeit (1834–36) sich mit Richard Wagners Engagement in Magdeburg deckte, in Köln zum Beispiel an Friedrich Sebald Ringelhardt (Gutknecht, „Ein neues Haus und alte Probleme“, 90), der 1832 den Bankrott seines Unternehmens verkünden musste. Sein Nachfolger wurde Julius Mühling, der dem verstorbenen Johann Andreas Seebach (1777–1823) in Magdeburg in der Leitung der „Logen- und Harmonie-Concerte, sowie des Seebach’schen Musikvereins“ folgte. Theatererfahrung brachte er vielleicht aus Nordhausen mit, seiner vorherigen Anstellung als Musikdirektor. Vgl. hierzu [Anonymus], in: Allgemeine musikalische Zeitung 7 (1834), Sp. 111– 114, hier 111; Richard Wagner, Mein Leben, hg. von Martin Gregor-Dellin, München 1963, 111. 7 Eberlein / Hobohm, Wie wird man ein Genie?, 75; Richard Wagner, Brief an Theodor Apel, 27. Juli oder 3. August 1934 (datiert auf „Sonntag“), in: Richard Wagner, Sämtliche Briefe, Bd. 1, hg. von Gertrud Strobel und Werner Wolf, Leipzig 1967, 159 (Brief Nr. 15).

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gleich mit Wolfgang Amadeus Mozarts Don Giovanni (bei Wagner: Don Juan) – auf der winzigen Bühne des Goethe-Theaters in Bad Lauchstädt und mit einem äußerst kleinen Orchesterbereich vor der Bühne stattfand. Wagner schreibt selbst: Dieser kleine Badeort hatte zur Zeit Goethes und Schillers eine höchst rühmliche Bedeutung gewonnen; das aus Holz errichtete Theater war nach Goethes Plan [1802] ausgeführt; dort hatte die erste Aufführung der „Braut von Messina“ stattgefunden. 8

Auch wenn aus diesen Zeilen eine gewisse Hochachtung vor dem geschichts- und kulturträchtigen Ort herauszuhören ist, kamen Wagner doch Bedenken, die Stelle eines Musikdirektors anzutreten, vor allem, nachdem er erstmalig mit Direktor Heinrich Bethmann zusammengetroffen war.9 Es soll an dieser Stelle nicht weiter Wagners Biographik gefolgt, sondern näher darauf eingegangen werden, wie die Orchester zu dieser Zeit in vielen Städten organisiert waren, um die Arbeitsbedingungen Wagners in seiner ersten Anstellung näher kennenzulernen. Am Beginn seiner Anstellung erfuhr Wagner vom Regisseur der Gesellschaft, dass an einem wohl nicht mehr fernliegenden Sonntag Mozarts Don Giovanni aufgeführt werden sollte. Es bestünde allerdings das Problem, wann hierzu die Proben stattfinden sollten, denn für die Aufführungen in Bad Lauchstädt stand nicht das Magdeburger Orchester zur Verfügung. Man hatte an deren Stelle „die Merseburger Stadtmusiker“ engagiert, die jedoch am Samstag vor der Aufführung nicht zur Probe kommen wollten.10 Bei den „Merseburger Stadtmusikern“ handelt es sich um eine noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestehende Formierung, nämlich eine instrumentale Vereinigung, die in früheren Zeiten als „Stadtpfeifer“ im städtischen Dienst standen. Bekanntlich waren es von der Stadt bezahlte, zünftig organisierte Musiker, von denen jeder mehrere Instrumente beherrschte und deren Mitglieder den musikalischen Nachwuchs selbst ausbildeten. Diese bezeichnete man zu Beginn des 19. Jahrhunderts dann häufig als „Stadtmusiker“.11 Demnach standen Wagner für die Don Giovanni-Aufführung in Bad Lauchstädt die von der Stadt Merseburg (wenige Kilometer östlich von Bad Lauchstädt gelegen) angestellten Berufsmusiker zur Verfügung, über deren genaue Anzahl keine Angaben zu eruieren waren. Da mir der Orchesterplatz vor der Bühne in Bad Lauchstädt sehr vertraut ist, kann von einer 8 Wagner, Mein Leben, 106. Das Theater in Bad Lauchstädt wurde vom Weimarer Hof finanziert. 9 Ich verweise auf die detaillierte Schilderung Wagners (ebd.). 10 Ebd., 107. 11 Zum Terminus „Stadtmusiker“ vgl. Ottmar Schreiber, Orchester und Orchesterpraxis in Deutschland zwischen 1780 und 1850, Berlin 1938, 22; Martin Wolschke, Von der Stadtpfeiferei zu Lehrlingskapelle und Sinfonieorchester. Wandlungen im 19. Jahrhundert, Regensburg 1981 (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 59), 69; Eberlein / Hobohm, Wie wird man ein Genie?, 46–55.

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maximalen Besetzung von 13–14 Streichern (4, 4, 2, 2, 1–2), acht Holzbläsern (2, 2, 2, 2), vier Blechbläsern (2 Hörner, 2 Trompeten), Pauken und möglicherweise einem Tasteninstrument, also von einem Ensemble von ungefähr 30 Musikern ausgegangen werden, die auch für die drei Bühnenorchester zur Verfügung stehen mussten. Wahrscheinlich war Wagners Ensemble dürftiger besetzt, da die Stadtkapelle sicherlich nicht alle benötigten Musiker stellen konnte, es sei denn, dass aus dem nahen Halle einige zur Aushilfe verpf lichtet wurden. Auch der wenige Platz, der für das Orchester vor der Bühne zur Verfügung stand, spricht für eine geringere Orchesterstärke. Es mussten bekanntlich auch drei Posaunen und vielleicht ein Tasteninstrument für das Continuo untergebracht werden. Aber dass Wagner den Continuo in barocker Manier mit Cembalo/Violoncello/Kontrabass hat ausführen lassen, ist eher unwahrscheinlich. In Violoncello-Schulen finden sich bereits seit dem Ende des 18. Jahrhunderts Hinweise darauf, dass auch eine „[h]armonisierende Rezitativ-Begleitung durch das Violoncello“12 praktiziert wurde. Für Dirigenten erläutert Ferdinand Simon Gassner (1798–1858) die Beispiele unterschiedlicher Ausführungsmöglichkeiten 1844 folgendermaßen: Entweder wird die Begleitung auf dem Pianoforte gespielt; oder mit Contrabass und Violoncello in der Art, dass der Violon die Grundnote, das Cello aber die zur Harmonie gehörigen Intervalle anschlägt; oder aber die Harmonien werden in das Streichquartett eingeschrieben; auch begnügt man sich – freilich mit minderer Wirkung – von den Bässen nur die Grundnoten anschlagen zu lassen, wo sich dann der Zuhörer die mangelnden Intervalle, welche zu den Harmonien gehören, denken muss.13

Rudolf Stephan führt einige zeitnahe Beispiele zu Wagners Don Giovanni-Aufführung aus Giacomo Meyerbeers Les Huguenots (1836) an, die der von Gassner 12 Rüdiger Pfeiffer, „Harmonisierende Rezitativ-Begleitung durch das Violoncello“, in: Generalbaß­ spiel im 17. und 18. Jahrhundert, Michaelstein 1987 (= Studien zur Aufführungspraxis und Interpretation der Musik des 18. Jahrhunderts 32), 39–43, hier 39. Der Autor verweist auf die Schule von Johann Baptist Baumgartner (Instructions de Musique, Théorique et Pratique, à L’Usage du Violoncello, Den Haag o. J. [ca. 1774]); vor allem sei hier die wichtigste Gemeinschaftsproduktion zu diesem Thema genannt, die für das Conservatoire in Paris als Lehrwerk verfasst wurde: [Pierre] Baillot, [Jean-Henri] Levasseur / [Charles-Simon] Catel / [Charles-Nicolas] Baudiot, Méthode de Violoncelle et de Basse d’accompagnement, Paris 1804. 13 Ferdinand Simon Gassner, Dirigent und Ripienist für angehende Musikdirigenten, Musiker und Musikfreunde [1844], Straubenhardt 1988, 118; Fritz Kohlmorgen, Die Brüder Duport und die Entwicklung der Violoncellotechnik von ihren Anfängen bis zur Zeit Bernhard Rombergs, unveröffentlichte Dissertation, Berlin 1922, 144, dort ein Notenbeispiel einer Violoncello-Ausführung von Jean Pierre Duport (1741–1818); Joseph Fröhlich, Violoncello-Schule, Bonn o. J. [ca. 1825], ²1870, 82–91; hingewiesen sei vor allem auf die Violoncelloschule op. 165 von Justus Johann Friedrich Dotzauer (1783–1860), die zwar der Pariser Méthode folgt, aber in Deutschland weit verbreitet und Grundlage seiner Lehrmethode war; vgl. Rudolf Stephan, „Über das Ende des Generalbaßspiels“, in: Bach-Jahrbuch 1954, 80–88, hier 85.

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genannten zweiten Art ähneln und meint, noch in Wagners Rheingold (1869) „Nachklänge“ dieser Praxis zu erkennen, obwohl die Violoncelli nach Wagners Vorschrift an dieser Stelle geteilt werden sollen.14 Man kann davon ausgehen, dass Wagner bei der Don Giovanni-Aufführung 1834 in Bad Lauchstädt eine der Gassner’schen Varianten (zwei oder drei?) gewählt haben dürfte, was auch der geringen Platzmöglichkeit entgegenkommen würde. Nach dem Don Giovanni musste Wagner noch die „Zauberposse“, wie er sie nennt, Lumpazivagabundus nach Johann Nestroy in der Vertonung von Adolf Müller (1801–1886) dirigieren, „welchen ich vollständig einzustudieren hatte“,15 ein Stück, das seinen ganzen Charme aus dem Schauspielerischen gewinnt, wobei die instrumentale Begleitung durchaus sparsam war. Somit eignete sich dieses Stück besonders für den äußerst beschränkten Orchesterraum des Theaters in Lauchstädt. In Rudolstadt, wohin die Bethmann’sche Schauspielergesellschaft wohl Ende August von Bad Lauchstädt hin auf brach, musste Wagner keine Aufführungen dirigieren, sondern war nur für die Einstudierung der Werke verantwortlich,16 deren Leitung der ortsansässige Hof kapellmeister Friedrich Müller (1786–1871)17 mit der Rudolstädter Hof kapelle übernahm. Hier ging es vor allem um Vincenzo Bellinis Romeo und Julia (in Deutschland unter diesem Titel, im Original: I Montecchi e i Capuletti, 1830), die Wagner in nur fünf Tagen einstudieren musste, wobei ihm vor allem zwei Sängerinnen große Schwierigkeiten bereiteten.18 Er hatte leichtfertig von dieser Oper der Direktion gegenüber berichtet, „sie sei sehr leicht.“19 Hinzu kam das „Einstudieren der vielen Opern und Singspiele, mit welchen das Vogelschießfest-Publikum des Fürstentums [Schwarzburg-Rudolstadt] um diese Zeit traktiert werden musste.“ 20 Von den „vielen Opern“ nennt Wagner nur diejenige des später in Wien, Berlin und Kopenhagen tätigen böhmischen Komponisten und Kapellmeisters Franz Glaeser (1798–1861) Des Adlers Horst, die 1832 am Königstädter Theater in Berlin uraufgeführt wurde und zu seinen bekanntesten Werken aufsteigen sollte. 21 Auf der Rückreise nach Magdeburg musste Wagner in Bernburg für Aufführungen im Schloss des Herzogs von Bernburg-Anhalt „für das Herausbringen 14 Stephan, „Über das Ende des Generalbaßspiels“, 86–87. 15 Wagner, Mein Leben, 109. Im Original lautet der Titel: „Der böse Geist Lumpazivagabundus“; vgl. Norbert Heinel, Richard Wagner als Dirigent, Wien 2006, 542; zu dem Wiener Komponisten vgl. Anton Bauer, Die Musik Adolf Müllers in den Theaterstücken Johann Nestroys. Ein Beitrag zur Geschichte des volkstümlichen Theaters in Wien, Dissertation, Wien 1935. 16 Wagner, Mein Leben, 111. 17 [Anonymus], „Müller“, in: Hugo Riemanns Musik-Lexikon, Leipzig 71909, 959. 18 Eberlein / Hobohm, Wie wird man ein Genie?, 77. 19 Wagner, Brief an Theodor Apel, 13. September 1834, in: Sämtliche Briefe, Bd. 1, 162. 20 Wagner, Mein Leben, 111. 21 Wagner, Brief an Theodor Apel, 13. September 1834, in: Sämtliche Briefe, Bd. 1, 164; vgl. ferner Eberlein / Hobohm, Wie wird man ein Genie?, 77.

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mehrerer Opern, welche wiederum der dortige fürstliche (herzogliche) Kapellmeister dirigierte, sorgen“, Aufführungen, zu denen ihm, wie er berichtet, nur ein „Bruchteil(e) der Gesellschaft“ zur Verfügung stand. 22 Welche Opern aufgeführt wurden, davon spricht Wagner nicht, es war auch nicht zu eruieren. Es lässt sich aber aus Wagners Andeutung vermuten, dass es Aufführungen waren, die mit einem nur kleinen Sänger- und Instrumentalisten-Ensemble aufgeführt werden mussten. Auf jeden Fall gestaltete sich die gesamte Situation für Wagner offensichtlich so deprimierend, dass er einmal wieder ernstlich am „fatalen Theatermusikdirektoren-Metier“ 23 zweifelte. Anfang Oktober war die gesamte Bethmann’sche Schauspielergesellschaft wieder in Magdeburg, wo Wagner am 12. Oktober 1834 mit Mozarts Don Giovanni seine erste Theatersaison eröffnete. 24 ***

Die Geschichte des Magdeburger Orchesters, 25 das Wagner in den Jahren von 1834 bis 1836 leitete, gibt im Ganzen einen charakteristischen Einblick in Zusammensetzung und Problematik einer in vielen Städten anzutreffenden Einrichtung, die sich teils aus städtischen, teils „militärischen“ Mitgliedern (professionelle Musiker) bis hin zu Dilettanten und wohl auch Schülern zusammensetzte. Das hatte in Magdeburg eine lange Tradition. 1752 war Johann Friedrich Rolle (1716–1785) Musikdirektor in Magdeburg geworden, 26 was unmittelbar mit einer Reihe von musikalischen Aktivitäten verbunden war. Friedrich Rochlitz beschreibt die Zusammensetzung des Orchesters und deutet auch gewisse Qualitäten des Magdeburger Orchesters unter Rolles Leitung an: „An die Mitglieder des starken, wohlgeübten Sängerchors und Orchesters schlossen sich freiwillig die geschicktesten Musiker der garnisonirenden Regimenter und gebildetsten Liebhaber an.“ 27 Rochlitz nennt das Orchester „stark“, was sich offensichtlich auf die Besetzungsstärke bezog, gebildet aus den bereits genannten Quellen. Das Magdeburger Theater wurde 1796 gegründet, womit gleichzeitig „eine zwar zunächst noch kleine, aber dennoch mehr und mehr aufeinander einge22 Wagner, Mein Leben, 113. 23 Ebd. 24 Wagner, Brief an Theodor Apel, 13. Oktober 1834, in: Sämtliche Briefe, Bd. 1, 166. 25 Wolf Hobohm, Beiträge zur Musikgeschichte Magdeburgs im 19. Jahrhundert, Dissertation, Halle 1982, Bd. 1/1, 161–195; Eberlein / Hobohm, Wie wird man ein Genie?, 46–55. 26 Ralph-Jürgen Reipsch / Andreas Waczkat, „Rolle“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, zweite Auflage, hg. von Ludwig Finscher, Personenteil, Bd. 14, Kassel und Stuttgart 2005, Sp. 302–308, hier 303. 27 Zit. nach Eberlein / Hobohm, Wie wird man ein Genie?, 46. Leider geben die Autoren nicht die vollständige Quelle an, aus der sie den Text von Friedrich Rochlitz entnahmen.

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spielte, feste, dauerhafte Gemeinschaft“ entstand. 28 In den zeitgenössischen Berichten 29 dominieren schon kurz nach der Gründung Mitteilungen von äußerst schwankenden musikalischen Leistungen nicht nur des Orchesters, sondern auch der Gesangssolisten. Beurteilungen in zeitlich unterschiedlichen Korrespondentenberichten, die von nicht „lohnender Erwähnung, gänzlichem Schweigen“ und nur gelegentlich „lobender Kritik“ sprechen, zeichnen ein Qualitätsbild des Magdeburger Orchesters, das das Auf und Ab eines nicht gut geleiteten Ensembles drastisch vor Augen führt. Louis Spohr jedenfalls scheint nach Konzerten in Magdeburg 1804 einen positiveren Eindruck gewonnen zu haben, wenn er berichtet: „Man akkompagnierte mir ziemlich gut…“ 30 In der kurzen Theater- und damit -orchestergeschichte vor Wagners Dienstantritt 1834 bestand weder bei den Dirigenten, der Theaterleitung noch bei den Mitgliedern eine homogen gewachsene Konstanz – konnten sie sicherlich auch wegen der zahlreichen prekären Situationen kaum erlangen –, sodass immer nur für kurze Zeitabschnitte eine manchmal gedeihliche Arbeit möglich, aber an eine Förderung der Qualität durch ein kontinuierliches Wirken nicht zu denken war. Einige Quellen berichten davon, dass sich das Orchester des Theaters im Zeitraum von 1820–40 „organisatorisch gefestigt und zu einer Körperschaft mit einer sie repräsentierenden und ihre Belange vertretenden Leitung“ entwickelt hat. 31 Nach dieser Notiz kann man davon ausgehen, dass es vor Wagners Dienstantritt offensichtlich zu einer gewissen Strukturierung des Orchesters gekommen war, wobei man von einer Anzahl von festangestellten Musikern ausgehen kann, die sich eine gemeinsame Vertretung, vergleichbar dem heutigen Orchestervorstand, gegeben hatten, die die häufigen Verhandlungen, sei es mit der Stadt oder der Schauspielergesellschaft, im Sinne der Musiker führte. Das wird aus einer Annonce deutlich, die das Orchester 1836 in einer für sie wieder einmal existenzbedrohlichen Zeit herausgab, um für ein zu ihren Gunsten veranstaltetes Benefizkonzert zu werben. 32 Hierzu hatte man die Oper Lestocq, ou L’Intrigue et L’Amour (1834) von Daniel-François-Esprit Auber (1782–1871) ausgewählt, deren Erlös dem gesamten Ensemble zugutekommen sollte. Diese Annonce ist unterzeichnet: „Die sämmtlichen 33 Mitglieder des Orchesters“, eine Unterschrift, die das geschlossene Auftreten der Gemeinschaft unterstreicht. Da von der Orchesterbesetzung zu Beginn der Spielzeit 1834/35 keine zweifelsfreien Angaben vorliegen, kann man vielleicht von einer solchen von 4, 4, 2, 28 Ebd., 48. 29 Z. B. Allgemeine musikalische Zeitung 1/29 (1799), Sp. 460–464, sowie 5/36 (1803), Sp. 597–602, hier 601: „Magdeburgs Theater verdient kaum Erwähnung.“ 30 Zit. nach Eberlein / Hobohm, Wie wird man ein Genie?, 49. 31 Ebd., 51. 32 Ebd., 51, Faksimile 168.

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2, 2; 2, 2, 2, 2; 2, 2, 3, Pk. 33 ausgehen, wobei die Hörner vielleicht vierfach besetzt waren. Das ergibt 30. bzw. 32 Musiker, die dann für bestimmte Opern aus den genannten „Beständen“ vermehrt werden konnten. Eine solche Aufstockung war zum Beispiel für die Auber’sche Oper nicht unbedingt notwendig, vielleicht nur für das Schlagwerk. Ansonsten sieht die Partitur einfach besetzte Bläser (eine Flöte, eine Piccolo-Flöte), vierfaches Horn und Streicher vor. 34 Von einem Mann, der sich zum Antritt seiner Stelle folgenden Leitspruch gab: „Magdeburg sollte mich nun zur eigentlichen Glorie meines erwählten [!] Berufs führen“, 35 kann man erwarten, dass er sich mit der Opernsituation, die er bereits zum Teil kennengelernt hatte, von Anfang an nicht würde zufrieden geben können. Aber Wagner berichtet in Mein Leben von keiner mühevollen Probenarbeit zur Verbesserung des Orchesters, sondern findet nur lobende Worte: Die Musiker des Orchesters, die offensichtlich von Anfang an ihn als ihren Chef anerkannten, sind „tüchtig“, ihr „Zusammenspiel“ ist „gut“, 36 konkretere oder detailliertere Angaben macht Wagner allerdings nicht. Auch in einem Brief an seinen Freund Theodor Apel vom 8. Februar 1835 schreibt Wagner lediglich: „Vorigen Dienstag war die Stumme [Aubers La muette de Portici], u. endlich haben wir unsre Oper wieder ganz in Respekt gesetzt; – die Leute waren so frappiert von dem guten Gehen dieser Oper, daß nur ein Redens davon in Magdeburg ist.“37 Aber auch die Kritik konnte zu einer Aufführung von Heinrich Marschners (1795–1861) Oper Der Templer und die Jüdin (1829) konstatieren, dass sich die gute Probenarbeit Wagners mit dem gesamten Opernensemble schon in der kurzen Zeit von Oktober bis Dezember deutlich bemerkbar gemacht habe: Dem Ref. ist es nicht erinnerlich, daß je ein Chor auf hiesiger Bühne sich so hervorgethan, als der Sachsenchor, sowohl durch Fülle als durch Reinheit des Gesanges; eben so gingen die Finale’s der beiden ersten Akte noch nie so brav [„tüchtig, reputabel“]. Sichtbar wurde durch einen solchen Erfolg der treue [„respektabel“] Fleiß des treff lichen Musik-Directors, Hrn. Wagner, belohnt. 38

Nicht nur Wagners Einsatz kam den Aufführungen zugute, sondern auch sein Organisationstalent, aber auch eine gewisse Rücksichtslosigkeit, wenn er die Finanzen 33 Hier und im Folgenden: Erste Violinen, Zweite Violinen, Violen, Celli, Kontrabässe; Flöten, Oboen, Klarinetten, Fagotte; Hörner, Trompeten, Posaunen, Pauke. 34 Herbert Schneider, Chronologisch-thematisches Verzeichnis sämtlicher Werke von Daniel François Esprit Auber, Bd. 1, Hildesheim 1994, 760, AWV 24. 35 Wagner, Mein Leben, 113. 36 Ebd., 114. 37 Wagner, Sämtliche Briefe, Bd. 1, 188. 38 [Anonymus], „Der Templer und die Jüdin, Oper von Marschner“, in: Magdeburgischen Zeitung, 4. Dezember 1834, Faksimile in: Eberlein / Hobohm, Wie wird man ein Genie?, 150; vgl. ferner Wagners eigenen Bericht „Aus Magdeburg“, in: Neue Zeitschrift für Musik 4/36 (1836), 151–152, hier 151: „denn ich kann es Ihnen in’s Geheim […] versichern, daß hier manchmal tüchtig musiziert wird.“

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durch Orchesterverstärkungen ohne Absprache wohl über die Maßen strapazierte, wie er selbst mit einem gewissen Stolz berichtet. 39 ***

Es mag für Wagners Magdeburger Theaterorchester wohl auch zugetroffen haben, was Kai Köpp als eines der „typischen Merkmale(n) der Orchesterpraxis“ des 19. Jahrhunderts erkannt hat, nämlich, dass „kaum oder gar keine Proben stattfanden und der größte Teil der Ripienisten auf seine Blattspiel-Fähigkeiten angewiesen war.“40 Dieser Zustand traf im normalen Theaterturnus leider wohl allgemein zu, man braucht nur an Wagners Dirigate des ersten Don Giovanni, an Romeo und Julia oder besonders an die Uraufführung seiner zweiten Oper Das Liebesverbot 1836 in bankrotter Zeit des Magdeburger Theaters zu denken, um Köpps Feststellung zu untermauern. Eine gewisse Ausnahme trat ein, als Wagner die qualitative Leistung des Orchesters nicht allein durch die Besetzungsstärke verbesserte, sondern in den wenigen Proben, die ihm tatsächlich zur Verfügung standen, durch intensive Arbeit an zahlreichen Details zum Beispiel der instrumentalen Technik, der Präzision und der Klanggestaltung das Zusammenspiel auf ein höheres Niveau brachte. Es ist zu bezweifeln, dass Wagner diese qualitative Verbesserung aus den Theorica zum Orchesterspiel gewonnen hatte, die mit Johann Friedrich Rei­chardts (1776) und Heinrich Christoph Kochs (1795) Empfehlungen beginnen und mit unter anderem Ferdinand Simon Gassners (1844) Darlegungen in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts reichen, um nur einige zu nennen.41 Vor dem Hintergrund von Wagners bisherigen Orchestererfahrungen wirken die Vorschriften in den theoretischen Schriften wie die Beschreibung einer Idealsituation, die von der allgemeinen Realität weit entfernt zu sein scheint. Natürlich wurden einige Orchester, besonders die Berliner Königliche Hof kapelle (14, 14, 8, 10, 8; 2, 2, 2, 2; 4, 4, 4, Pk. und Schlagwerk, zwei Harfen) sicherlich von dem Konzertmeister (Leopold Alexander Ganz [1806–1869], Violine; Moritz Eduard Ganz [1802– 1868], Cello) 42 und den Stimmführern zu einer hohen Spielkultur ausgebildet und 39 Wagner, Mein Leben, 133: „Ich war unermüdlich in Auffindung von Möglichkeiten, unsre Vorstellungen weit über das Niveau der solch dürftig organisierten Stadttheatern sonst möglichen Leistungen zu erheben. Den Direktor Bethmann verfeindete ich mir unaufhörlich durch Verstärkung des Orchesters, welche er zu bezahlen hatte.“ 40 Kai Köpp, Handbuch historische Orchesterpraxis. Barock – Klassik – Romantik, Kassel 2009, 247. 41 Johann Friedrich Reichardt, Über die Pflichten der Ripien-Violinisten, Berlin 1776; Heinrich Christoph Koch, „Über den Charakter der Solo- und Ripienstimme“, in: Journal der Tonkunst, Bd. 1/2, Erfurt 1795, 143–155; ders., „Ueber die Nothwendigkeit eines Zeichens der Artikulation der Töne, und über die richtige Schreib- und Vortragsart der Vorschläge“, in: ebd., 156–190; Gassner, Dirigent und Ripienist; weitere Literatur bei Köpp, Handbuch, 163–165. 42 Hector Berlioz, Memoiren [1865], hg. von Wolf Rosenberg, Königstein 1985, 296.

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angehalten, aber der Betrieb in Orchestern wie Magdeburg funktionierte völlig anders. Hier ist es noch nicht einmal bezeugt, dass der schon im 18. Jahrhundert geforderte einheitliche Bogenstrich in den einzelnen Gruppen praktiziert wurde, den die Theoretiker noch weit bis ins 19. Jahrhundert forderten. Sicherlich wird auch nicht das einheitliche Spiel in den Lagen praktiziert worden sein. Eine einheitliche dynamische Gestaltung wichtiger Motive oder Themen konnte bei den wenigen zur Verfügung stehenden Proben vielleicht nur in Andeutungen erreicht werden. Eine differenzierte Gestaltung von Übergängen musste für den Dirigenten zum Vabanquespiel werden. Bei der herrschenden Probennot konnte kaum an einer einheitlichen Tongestaltung zum Beispiel durch Spiel aller Streicher an derselben Bogenstelle gearbeitet werden, schon gar nicht am messa di voce bei langen Tönen, wie sie Koch so vehement forderte.43 Wagners Orchester der Anfangsjahre – und hier schließe ich stillschweigend auch diejenigen in Königsberg und Riga mit ein – funktionierten in der Art, dass sie die von ihnen geforderten Opern ohne herausragende Merkmale in der Ausführung und lediglich ohne große exekutorische Fehler zur Aufführung brachten. Sich einstellende Wackeleien im Orchester oder im Zusammenspiel mit den Sängern auf der Bühne wurden vom Dirigenten häufig durch kräftiges Stampfen mit einem Fuß zu korrigieren versucht, was zwar als Unsitte immer wieder beklagt wurde, aber sich doch noch lange hielt.44 Eine wie in Magdeburg zusammengesetzte inhomogene Gruppierung von Profispielern, Dilettanten (wenn auch manchmal hervorragenden) und Schülern von Orchestermitgliedern, wobei die Mitglieder der beiden letzten Gruppen häufig wechselten, konnte deswegen im Allgemeinen wohl nur ein bescheidenes Niveau erreichen.45 ***

Wagners Eintritt in das Dresdner Operngeschehen (1842–49) 46 hätte nicht glänzender beginnen können – wenn er denn selbst seine neue Oper Rienzi hätte 43 Koch, „Ueber die Nothwendigkeit“, 164. 44 Fußstampfen kam bei Wagner auch häufiger vor, wie zahlreiche Besprechungen seiner Konzerte belegen; vgl. etwa J. G. Müller, „Aus Dresden“, in: Neue Zeitschrift für Musik 29 (1848), 157–160, hier 158; Dieter Gutknecht, „Richard Wagner, Über das (mein) Dirigieren (1869). Vom Einsteiger zum interpretierenden Dirigenten“, in: Wagner-Lesarten – Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“ im Blickfeld der „Historischen Aufführungspraxis“, hg. von Kai Hinrich Müller, im Druck (2018), urn:nbn:de:101:1-2018090618171102005205 (3.2.2019). Auch Gassner moniert das „akustische“ Dirigat allgemein (Dirigent und Ripienist, 62). 45 Dieses traurige Bild galt natürlich nicht für die wirklich gutgeführten Orchester zum Beispiel in Berlin, Dresden, Frankfurt, Stuttgart, München und Wien, deren Qualitäten auch Berlioz bei seinen Dirigaten in Deutschland kennengelernt hatte und in seinen Memoiren durchaus lobend beschrieb. 46 Heinel, Richard Wagner als Dirigent, 50–101.

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uraufführen dürfen. Da er jedoch als zweiter Kapellmeister hinter Carl Gottlieb Reissiger (1798–1859) angestellt war, kam diesem die Ehre zu, Wagners Werk zu dirigieren. Es sollte Wagner erst ab der sechsten Aufführung nach starken Protesten47 seinerseits möglich werden, seine Oper selbst zu leiten. In diesem Fall war die Einstellung eindeutig geregelt. Daneben bestand in Dresden wie in vielen anderen Orchestern auch das sog. „Akzessionsprinzip“, wonach auf die freigewordenen Positionen stets die Dienstälteren vorrückten, also kein Prinzip, bei dem die qualitativ Besseren berufen wurden.48 Diese Tradition hatte auch Hector Berlioz mit Erstaunen kennenlernen können, als er 1842 erstmalig in Dresden dirigierte.49 Wagner machte sich später daran, dieses traditionelle Verfahren zu reformieren bzw. abzuschaffen, wie er es unter anderem in den Vorschlägen an den König (1846) unterbreitete. 50 Trotz dieser misslichen Situation war die Königliche Kapelle ein durch die Vorgängerdirigenten Carl Maria von Weber, der von 1817 bis zu seinem Tod 1826 das Amt inne hatte, und Carl Reissiger (ab 1826) ein bestens geschultes Ensemble mit einigen hervorragenden Solisten, wie ihrem Konzertmeister (1839–61) Karol Lipiński (1790– 1861) und dem ersten Cellisten Friedrich Dotzauer (1783–1860), der von 1811–50 die Cello-Gruppe führte. Berlioz lobt in seinen Berichten ferner das Englischhorn und den Hornisten „Herr(n) Levy“ 51 ( Josef Rudolf Lewy, 1802–1881, ab 1837 angestellt) ausdrücklich, berichtet auch teils überrascht, teils verärgert von der in Dresden noch immer existierenden Verzierungstradition vornehmlich der Bläser in ihren Soli. Mit solchen herausragenden Musikern und einer geregelten vermehrten Probenarbeit, wie er sie zum Beispiel zur Vorbereitung seiner Aufführung der Neunten Sinfonie von Ludwig van Beethoven beschreibt, 52 konnte Wagner allmählich das Dirigier-/Musizierideal erahnen, das er hier vorfand. Des Weiteren konnte er mit einem solchen Orchester all das erkennen, was für seine dirigentische, aber viel mehr noch kompositorische Zukunft entscheidend wer47 Heinel berichtet vom „Schlendrian“, der sich im Verlauf der Aufführungen eingeschlichen habe (ebd., 52). 48 Eckhard Roch, „Richard Wagners Reformpläne ‚Die Königliche Kapelle betreffend‘, oder Musikalische Schwierigkeiten mit der Demokratie“, in: Der Klang der Sächsischen Staatskapelle Dresden, hg. von Hans-Günther Ottenberg und Eberhard Steindorf, Hildesheim 2001, 155–168, hier 162. 49 Berlioz, Memoiren, 282: „Ich habe in Deutschland oft Beispiele jener falsch aufgefaßten Ehrerbietung für Greise gesehen, die Kapellmeister veranlaßt, ihnen eine musikalische Tätigkeit, die schon längst ihre physischen Kräfte übersteigt, zu überlassen, und zwar leider so lange, bis sie den Tod davon haben.“ 50 Richard Wagner, „Die Königliche Kapelle betreffend“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 12, hg. von Julius Kapp, Leipzig o. J. [1914], 45–102, hier 68. 51 Berlioz, Memoiren, 282. 52 Richard Wagner, „Bericht über die Aufführung der neunten Symphonie von Beethoven im Jahre 1846 in Dresden“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 2, hg. von Julius Kapp, Leipzig o. J. [1914], 50–64, hier 54.

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den sollte. Im Orchesterklang – natürlich demjenigen in der Qualität der Dresdener – sieht er nicht nur die wie auch immer gestaltbare Harmonie darstellbar, sondern darüber hinaus auch ein „mittätiges Organ für die Verwirklichung der dichterischen Absicht“ gegeben. 53 Er erkennt in ihm gar die Fähigkeit zur Artikulation sprachverwandter Lautbarkeit, 54 womit „uns das Orchester nach einem noch bei weitem individuelleren Sprachvermögen vorführen müßte, als es selbst jetzt geschieht, wo das Orchester nach seiner sinnvollen Eigentümlichkeit noch lange nicht genug erkannt ist.“ 55 Das sind insgesamt qualitative Klangvorstellungen eines Orchesters, die Wagner erst in den folgenden eigenen Vertonungen allmählich für seine Vorstellungen einzusetzen gelernt hat. Wagner durchlebte bei seiner Arbeit mit den unterschiedlichen Orchestern, wozu noch seine Dirigate in Zürich, seine Höreindrücke des Orchesters des Pariser Conservatoire und seine Dirigiererfahrungen zum Beispiel in London als bildende Erfahrungen hinzuzufügen wären, aber auch die Interpretationsmöglichkeiten, die er zum Beispiel durch das Klavierspiel Franz Liszts kennenlernte, 56 die unterschiedlichen Orchesterqualitäten vom quasi Prima-vista-Spiel-Stadium bis hin zum Organ, das das dichterische Wort in allen Nuancen von der erlebbaren Aktion bis zu den erfahrbaren Gefühlen darzustellen in der Lage ist. Zu welchen Nuancierungen der Orchesterklang der neuen Erfahrung letztlich fähig war, kostet Wagner mit seinem Ring-Klangkörper aus, dessen Möglichkeiten neuartiger Klangschöpfungen zur Umsetzung des dramaturgischen Geschehens Tobias Janz überzeugend darstellte. Natürlich ist zunächst als Grundlage für eine äußerst differenzierte und farbprächtige Klanggestaltung die Besetzung des Ring-Orchesters verantwortlich (16, 16, 12, 12, 8; 4 [mit Piccolo], 4 [mit Englischhorn], 4 [mit Bassklarinette], 3; 8, zwei Tenortuben, zwei Basstuben, ein Kontrabasstuba, drei Trompeten, eine Basstrompete, drei Posaunen, eine Kontrabassposaune, umfangreiches Schlagwerk, darunter 16 Ambosse auf der Bühne, sechs Harfen), 57 insgesamt betrachtet eine gelinde Steigerung der Berliner Hofkapelle, allerdings bekanntlich unter Hinzufügung neuartiger Blasinstrumente und vermehrtem Schlagwerk. Dann musste die Handhabung eines so gewaltigen Instruments für die notwendige Umsetzung der dramaturgischen Gestaltung erfolgen, die, wie Janz (u. a.) nachweisen konnte, Wagner erst im Verlaufe der 53 Wagner, „Oper und Drama“, 272–273: „Das Orchester ist der verwirklichte Gedanke der Harmonie in höchster, lebendigster Beweglichkeit.“ 54 Ebd., 274. 55 Ebd. (Hervorhebung im Original). 56 In einer Londoner Kritik über ein von Wagner dirigiertes Konzert mutmaßt der Kritiker, dass Wagners Dirigiertheorie darin bestünde, wonach der Dirigent im Orchester die Position eines Pianisten einnehmen würde (Heinel, Richard Wagner als Dirigent, 303). 57 Tobias Janz, Klangdramaturgie. Studien zur theatralen Orchesterkomposition in Wagners „Ring des Nibelungen“, Würzburg 2006, 56.

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Komposition des Rings immer überzeugender einzusetzen wusste. 58 Das RingOrchester kann man somit auch als Ziel und Endpunkt von Wagners orchestralen Erfahrungen insgesamt verstehen.

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Erlösung dem Erlöser! Zur Dialektik des Symphonischen in Richard Wagners Spätwerk Eckhard Roch

Musik und Drama Frühe Periode – mittlere Periode – späte Periode, das sind die drei Lebensalter eines großen Komponisten, und jede dieser Schaffensphasen lässt sich durch typische Merkmale ungefähr beschreiben. Das Frühwerk als die Zeit des allmählichen Auf keimens des Talents, die mittlere Periode als Blütezeit des Schaffens und das Spätwerk als die Zeit der Reife. Es ist die höchste, die letzte Phase der künstlerischen Entwicklung, die Zeit der Vollendung – um im Bilde des Jahreszyklus zu bleiben –, die Zeit der Ernte, die von den letzten Dingen, von Tod und Ewigkeit handelt. Rein formal gesehen setzt eine solche Periodisierung natürlich ein gewisses Lebensalter, einen genügend großen Umfang des Lebenswerkes und eine bedeutende Rezeptionsgeschichte voraus, denn diese Dreiteilung des Schaffens scheint ein Vorrecht nur der ganz Großen zu sein. Gewiss zählt Wagner zu diesen und auch sein Lebensalter von knapp 70 Jahren lässt es durchaus sinnvoll erscheinen, vom ‚späten Wagner‘ und seinen ‚späten Werken‘ zu reden. Vom 13.–30. August 1876 fanden in Bayreuth die ersten Festspiele mit drei Gesamtaufführungen des Ringes des Nibelungen statt. Wagner hatte sein Lebensziel erreicht. Die Festspiel-Idee als moderne Rechtfertigung des musikalischen Dramas nach antikem Vorbild war Wirklichkeit geworden. Aber der Erfolg war nicht ungetrübt. Mängel der Aufführung, Desinteresse des offiziellen Deutschen Reiches und eine überwiegend feindselige Presse, vor allem aber das Defizit von 148.000 Reichsmark ließen Wagner fast resignieren. Die Festspiele, ein Pyrrhus-Sieg? Merkwürdigerweise bedurfte es bei Wagner stets des Misserfolges, wenn nicht gar des Scheiterns, wenn es irgendwie weitergehen sollte. Und auch in diesem Falle trat Wagner als der große Organisator (heute würde man vielleicht Kulturmanager sagen) auf den Plan. Zwecks Tilgung der Schulden wurde schon im Januar 1877 der Plan zur Bildung eines „Patronatsvereins“ gefasst. Zugleich entstand die Idee, eine „Hochschule für dramatisch musikalische Darstellung“ zu gründen, in welcher sich Wagner sein eigens geschultes Sängerpersonal heranziehen wollte. Freilich kam dieses Projekt, das Wagner bis ans Ende seines Lebens beschäftigen sollte, nie zur Ausführung. Um des bloßen Geldes willen begab sich Wagner auf 307

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völlig neues Terrain. Schon Anfang des Jahres 1876 hatte er zur hundertjährigen Gedenkfeier der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika einen Großen Festmarsch in G-Dur komponiert, für den er 5.000 Dollar forderte und auch erhielt. Die unverhofft günstige Aufnahme dieser Komposition ließ sogar den Gedanken an eine Auswanderung nach Amerika bei ihm auf kommen. Eines Tages jedoch (am 16. Februar 1876) zeigt er, gewissermaßen mitten in der Komposition des amerikanischen Marsches, Cosima sein neuestes Album-Blatt. Es sei der Chor der Frauen zu Parzival, „komm schöner Knabe!“, „amerikanisch sein wollend“. Die erste kompositorische Skizze des späteren Parsifal war geschrieben. Doch vieles hielt ihn noch vom Beginn dieser großen Arbeit ab.1 Endlich, am 25. Januar 1877, findet sich in Cosimas Tagebuch der befreiende Satz: „Ich beginne den Parzifal.“ Bis zum 28. Februar entstand der zweite dialogisierte Prosaentwurf. Am 19. April war die Parsifal-Dichtung abgeschlossen. Die Komposition beschäftigte Wagner die folgenden Jahre. Erst am 13. Januar 1882 war die Partitur vollendet. Vom 26. Juli bis 29. August wurde der Parsifal im Rahmen der zweiten Bayreuther Festspiele 16-mal aufgeführt. Danach sollte Wagner nichts mehr komponieren. Wagners letzte Schaffensperiode ist somit relativ leicht abzugrenzen. Es ist die Zeit nach den ersten Bayreuther Festspielen, in deren Mittelpunkt nur noch ein großes Werk, nämlich der Parsifal, steht. Und doch stimmt diese Chronologie nicht ganz. Wagners erste Begegnung mit dem Parsifal reicht nämlich schon in seine Dresdner Zeit zurück, die Zeit des Tannhäuser und Lohengrin, als er sich im Sommer 1845 während einer Marienbader Wasserkur in Wolfram von Eschenbachs Epos Parzival vergrub und auch eine erste Skizze zu Lohengrin, dem kleinen Bruder des Parsifal, entwarf. Es ist eine merkwürdige Besonderheit im Schaffen Wagners, dass er alle seine Werke ungefähr um die Lebensmitte ‚empfängt‘, um diese Projekte dann in jahrelanger Arbeit und mit einer beispiellosen Zielstrebigkeit auszuführen. Es sind daher nicht die Werke selbst, welche das Kriterium des Spätwerks bei Wagner bilden, sondern die künstlerische Persönlichkeit als Ganzes, Wagner in seinem Denken und Handeln in der letzten Phase seines Lebens. Vielleicht lässt sich diese Periode des ‚letzten Wagner‘ in knappster Form durch den Spruch kennzeichnen, der über seiner Bayreuther Villa prangt: „Hier wo mein Wähnen Ruhe fand – Wahnfried sei dieses Haus genannt.“ Wagner hat in diesem letzten Asyl wirklich die Ruhe gefunden, die seinem bewegten Leben als Künstler, Revolutionär und Ehemann nie zuteil geworden war. Aber bei aller Tragik dieses Lebens war diese Ruhelosigkeit auch eine der Voraussetzungen seines Schaffens gewesen. Sein heiterstes Werk beispielsweise, Die Meistersinger von Nürnberg, entstand hart am sozialen Abgrund. Seine Kunst sei immer aus Not 1

Cosima Wagner, Die Tagebücher, hg. von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack, 2 Bde., München 1976/77, Bd. 1, 970.

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entstanden, pf legte er selbst gern zu sagen. Jetzt in Wahnfried war die äußere Not überwunden. In einem fatalen Sinn erfüllte sich damit das Verhängnis, das Wagner selbst schon im Tannhäuser thematisiert hatte. In den Armen der Venus versiegt dem Künstler die Schöpferkraft. Der ‚letzte Wagner‘ im Haus Wahnfried ist ein kranker und etwas müder Mann. Brustkrämpfe, Husten und Verdauungsprobleme plagen ihn. Wilde Träume beunruhigen seinen Schlaf. Nur eine ausgeklügelte Diät, Massagen, tägliche Bäder und vor allem ein streng geregelter Tagesablauf sorgen für sein Wohlbefinden. Das Arbeiten fällt ihm schwer. Es gibt Tage, an denen er nur zehn Takte oder weniger komponiert. Interessanterweise sucht er dann Zuf lucht bei einer Tätigkeit, die er früher stets als ‚unkünstlerisch‘ und seiner eigentlich nicht würdig abgelehnt hatte: der Schriftstellerei. Wagner war im Entwerfen neuer Theorien und Systeme zeitlebens unermüdlich; immer wieder meldete er sich mit teils praktikablen, teils utopischen Reformvorschlägen zu Wort, und alles kreist um die eine, immer wiederkehrende Idee – das Theater. Fast habe es etwas Komisches, spottete Nietzsche einmal, wie Wagner sich sein Leben lang abmühe, die Deutschen für das Theater zu begeistern, das ihnen eigentlich egal sei, während sein Unternehmen in Italien oder Frankreich viel eher zu verwirklichen gewesen wäre. 2 Dieses lebenslange Mühen ist auch ein Teil der Tragik von Wagners letzten Jahren. Schon in den Jahren der Revolution von 1848 hatte Wagner nach den Ursachen seines Scheiterns gesucht. Damals war er Revolutionär geworden, um die kulturellen Voraussetzungen für sein musikalisches Drama zu schaffen. Nach der gescheiterten Revolution entwarf er dann das „Kunstwerk der Zukunft“, dessen künstlerisches Ergebnis der Ring des Nibelungen war. Jetzt, nach der Enttäuschung der ersten Festspiele des Jahres 1876, besann er sich auf seine revolutionären Ziele, aber einzig die „Annahme einer Entartung“ und daher möglichen (sittlichen und religiösen) Erneuerung der Menschheit konnte ihm jetzt noch Anlass zur Hoffnung auf eine Besserung der Kunstverhältnisse geben. 3 Der Revolutionsgedanke wandelte sich zum Regenerationsgedanken. Dieser Regenerationsgedanke begegnet zuerst 1867 in seiner Schrift „Deutsche Kunst und deutsche Politik“ und nimmt während der Parsifal-Niederschrift 1877 und den darauf folgenden Jahren konkretere Gestalt an. Zwar hatte Wagner schon 1848 im „Kunstwerk der Zukunft“ die Ursachen der verderbten Gegenwart in einem Sündenfall der Urzeit gesucht. Neu war aber, dass er seine Hoffnungen nun auf eine Regeneration von Moral und Religion baute. Zur Beförderung dieser Gedanken schrieb Wagner während der Komposition des Parsifal Aufsätze über Religion und Kunst und Heldentum und Chris2 3

Friedrich Nietzsche, „Nachgelassene Fragmente“ 32 [28], in: Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1988, Bd. 7, 763. Richard Wagner, „Religion und Kunst“, in: Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 10, VolksAusgabe, Leipzig o. J. [1912], 211–285, hier 236.

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tentum. Die Theorie entstand also in unmittelbarem Zusammenhang mit dem künstlerischen Werk, als konkrete Frucht der praktischen Arbeit am Parsifal. Vor allem beschäftigte Wagner die Rolle des Christentums in der Entwicklung und Politik Europas. Er las viel zu diesem Thema: Bedeutsam wurden für den späten Wagner neben Schopenhauer vor allem Werke des französischen Vegetariers Jean Antoine Gleizès (1773–1843), des französischen Orientalisten und Religionsforschers Joseph Ernest Renan (1823–1892), dessen Leben Jesu seine Religionsauffassung im Parsifal beeinf lusste, ferner Schriften des Bismarck-Gegners Constantin Frantz (1817–1891) und zuletzt die Schriften des Rassentheoretikers Graf Arthur von Gobineau (1816–1882). Wie immer nahm Wagner hier schnell und ungeprüft auf, was er für seine eigenen Ziele brauchen konnte. In „Religion und Kunst“ erwies er sich zum letzten Mal als der große Kompilator verschiedensten Gedankengutes. Die großen Themen seiner Zeit wie Vegetarianismus, die Bewegung gegen die Vivisektion, der Sozialismus und fatalerweise sogar der Antisemitismus erschienen ihm als Versuche zur Wiederauffindung des verlorenen Paradieses: Da sie alle auf einer Art religiösem Bewusstsein fußten, wäre von deren Vereinigung auf die Wiederherstellung wahrer Religiosität zu hoffen. Und nur auf der Grundlage religiöser Sittlichkeit könne wahre Kunst entstehen, heißt es in „Religion und Kunst“.4 Unter den großen Religionen erschien ihm das Christentum dafür am besten geeignet. Warum? Weil es auf der Fähigkeit zum Leiden, zum Mitleiden beruht. Die Erlösung der Welt durch Mitleid war ein Lieblingsgedanke des letzten Wagner, der unmittelbar zum zentralen Anliegen des Parsifal führt. Wagners späte Kunst – ganz auf Religion gestellt?

Dramaturgie Nicht unbedingt. Denn Wagner wäre nicht Wagner, wenn dieser urchristliche Gedanke nicht sogleich auch philosophisch im Sinne Schopenhauers gedeutet würde. Der christliche Leidensgedanke ist für Wagner nämlich nichts anderes als der Ausdruck der Verneinung des Willens zum Leben. Der Wille zum Leben führt zur Sünde, zum Sündenfall. Die Verneinung hingegen zur Sündenlosigkeit, zur Erlösung. Indem Wagner hier neuen Wein in alte Schläuche gießt, wird nun auch die alte, spätestens seit dem Tannhäuser bekannte Zwei-Welten-Dramaturgie im Parsifal religiös begründet: Tannhäuser Ritter der Wartburg – Zauberreich der Venus Geistigkeit – Sinnlichkeit

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Ebd., 251.

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Eckhard Roch Lohengrin Gralsritter Lohengrin – Zauberin Ortrud christlich – heidnisch Parsifal Reich Gottes – Reich der Welt Christentum – Heidentum Welt der Gralsritter – Klingsors Zauberreich

Nichts wirklich Neues also im Parsifal? Wagners zentrales Problem ist und bleibt die Erlösung. Irgendjemand müsse bei ihm immer erlöst sein, bald ein Männlein, bald ein Fräulein, spottete Nietzsche. 5 An dieser Konstellation hat sich auch im Parsifal nichts geändert. Wagner unternimmt mit diesem Werk nur einen neuen Versuch zur Lösung dieses Problems. Die pädagogische Tendenz dieses Stoffes – der Parzival des Wolfram von Eschenbach ist ein mittelalterlicher Erziehungsroman, kein Mythos – kommt dabei den Neigungen des alten Wagner entgegen. Parsifal, der reine Tor, soll bei seinem Besuch des Grals die mitleidvolle Frage stellen, aber er befolgt den väterlichen Rat des alten Gurnemanz, nur zu reden, wenn er gefragt werde. Deshalb stellt er die erlösende Frage nicht und die Tragödie nimmt ihren Lauf. Das Fragemotiv des Parsifal steht somit in einer merkwürdigen Beziehung zum Frageverbot des Lohengrin. Wurde die Frage dort verboten, so muss sie hier gestellt werden. Es geht in beiden Fällen um die Erlösung, aber die Werte haben sich ins Gegenteil verkehrt. Der merkwürdige Bogen, den Wagners Denken vom Tannhäuser bis zum Parsifal beschreibt, lässt sich stichpunktartig wie folgt darstellen: Tannhäuser: Uneingeschränkte Bejahung der Sinnlichkeit. Lohengrin: Der rationale Zweifel (Frage Elsas) zerstört die Liebe. Der Ring des Nibelungen: Das Böse entsteht durch den Verrat an der Geschlechtsliebe. Tristan und Isolde: Erlösung bedeutet Aufgehen in der Geschlechtsliebe (Liebestod). Parsifal: Erlösung besteht in der Negation der Geschlechtsliebe.

War das Wagners letztes Wort zum Thema Liebe, das ihn bekanntlich bis zum letzten Atemzug beschäftigte (Fragment „Über das Weibliche im Menschlichen“)? Viel zitiert wurde eine Äußerung des letzten Wagner, er sei der Welt noch einen Tannhäuser schuldig. Er ist ihn nicht schuldig geblieben, denn auch dieser ging in den Parsifal mit ein. Hatte der Tannhäuser noch ziemlich unverhohlen die Erlösung durch Sinnlichkeit (zur als „sinnig erkannte[n] Sinnlichkeit“6) propagiert, so spielte er im Parsifal nun seinen letzten dialektischen Trumpf aus. Nicht durch die Erfüllung der 5 6

Friedrich Nietzsche, „Der Fall Wagner“, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 6, 11–53, hier 16–17. Richard Wagner, „Das Kunstwerk der Zukunft“, in: Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 3, 42–177, hier 45.

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Liebessehnsucht, sondern ihre Negation wird Kundry vom Fluch ihres Daseins erlöst. Parsifal weist Kundrys Liebeswerbung zurück. Ihre Sinnlichkeit vermag nichts bei dem reinen Toren. Klingsors Zauberreich mit all seinen Verführungskünsten stürzt krachend in sich zusammen. Amfortas ist von seiner Wunde geheilt – symbolisiert durch die Wiedergewinnung der heiligen Lanze, deren Blutstropfen sich mit dem Blut der Gralsschale zur mystischen Einheit fügt. Aber war diese Verneinung der Sinnlichkeit wirklich ernst zu nehmen, war der alte Wagner tatsächlich vor dem christlichen Kreuz zusammengebrochen? So der Vorwurf Friedrich Nietzsches, dem das lebenslange Ringen Wagners um Liebe – Glaube – Hoffnung, das im Parsifal seine konsequente Erfüllung fand, scheinbar entgangen war. Die Peripetie des Parsifal ereignet sich im zweiten Aufzug, in der Szene zwischen Kundry und Parsifal: Mit dem Aufschrei: „Amfortas! Die Wunde!“ reißt sich Parsifal aus Kundrys Umarmung los. Er nutzt die zweite Chance zur Gewinnung des Paradieses. Statt vom Baum der Erkenntnis zu essen, wird Parsifal durch Mitleid wissend! Das ist die Dialektik der Fabel des Parsifal und die letzte Antwort Wagners auf die Frage der Erlösung von Sünde und Schuld. Das verlorene und nun mit Bewusstsein wiedergewonnene Paradies! Durchaus kein Kniefall vor dem Kreuz! Man könnte diese Dialektik des Parsifal oder, um mit Nietzsche zu reden, die „Umwertung aller Werte“ als dramatische Besonderheit auf sich beruhen lassen, wenn die dichterische Fabel bei Wagner nicht immer zugleich auch musikalische Konsequenzen nach sich zöge. Das Verhältnis von Geistigkeit und Sinnlichkeit oder des Männlichen zum Weiblichen hat auch eine allegorische Dimension: Die Musik sei ein Weib, hatte Wagner in „Oper und Drama“ behauptet.7 Ihre Natur sei die Liebe, empfangend und gebärend, was der männliche, dichterische Geist in ihr zeugt. Die erste Szene des Rheingold, in welcher die Rheintöchter das Liebeswerben des Nibelungen Alberich verhöhnen, ist eine Allegorie der italienischen, französischen und deutschen Oper, die Wagner in Oper und Drama als Lustdirne, Kokette und Prüde apostrophiert.8 Die Musik des Ringes beruht auf Wagners These, dass das lebendige musikalische Drama aus der Befruchtung der absoluten Musik durch die Dichtung hervorgehe, so wie das seelenlose Wellenmädchen Undine erst durch die Liebe des Mannes eine Seele empfängt.9 Im Verlaufe von „Oper und Drama“ wird diese Theorie von der Zeugung der Melodie durch die Dichtung dann anhand von Stabreim und „dichterisch-musikalischer Periode“ erläutert und kompositorisch praktikabel gemacht. Wie aber verhält es sich mit der Rolle der Musik im Parsifal? An dieser Stelle kommt nun die vom späten Wagner ‚entdeckte‘ Affinität von Religion und Kunst zum Tragen. Wagner unterzieht das Verhältnis der einzelnen 7 8 9

Richard Wagner, „Oper und Drama, erster Teil: Die Oper und das Wesen der Musik“, in: ebd., 222–320, hier 316. Ebd., 317–318. Ebd., 316.

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Künste zur Religion einer kritischen Musterung und gelangt zu dem überraschenden Schluss, dass „[s]treng genommen […] die Musik die einzige dem christlichen Glauben ganz entsprechende Kunst“ sei.10 Das ist nun freilich kein ursprünglich Wagner’scher Gedanke. Als metaphysischste aller Künste erschien die Musik schon in Hegels Vorlesungenen zur Ästhetik und bei Schopenhauer (Metaphysik der Musik) wurde dieser Gedanke auf die Spitze getrieben. Dem Theoretiker von „Oper und Drama“ hatte die metaphysische Priorität der Musik gegenüber der Dichtung allerdings nicht geringe Kopfschmerzen bereitet. Der Ring des Nibelungen blieb – trotz des Schopenhauer’schen Schlusses – der Theorie von „Oper und Drama“ verhaftet und selbst im Tristan war die Musik noch weitgehend Dienerin des Dramas geblieben. Die letzte theoretische Kehrtwende gelingt Wagner erst durch seine Besinnung auf die christliche Religion. Der gleiche Wagner, der 1848 die Erlösung der Musik durch das Wort im Schlusschor von Beethovens Neunter Symphonie behaupten zu müssen glaubte,11 erblickt jetzt ausgerechnet in der sprachlichen Unantastbarkeit der christlichen Dogmen den entscheidenden Impuls für die Entwicklung der abendländischen Musik: „[D]ie Dichtkunst [mußte] ihre […] bildende Kraft an den Dogmen der christlichen Religion ungeübt lassen“, heißt es in „Religion und Kunst“. So blieb ihr nur „der lyrische Ausdruck entzückungsvoller Anbetung“ und sie musste so „notwendig in den des Begriffes unbedürftigen, rein musikalischen Ausdruck sich ergießen.“12 Die poetische Lyrik sei somit „zur Auf lösung des wörtlichen Begriffes in das Tongebilde“ genötigt gewesen!13 Es wäre müßig, Wagner diesen Sinneswandel als Widerspruch zu seinen früheren Lehren vorwerfen zu wollen. Beachtenswert ist vielmehr die Totalität des Wechsels, Wagners Hang zum System, der die vorherigen Positionen konsequent ins Gegenteil verkehrt. War die Melodie zuvor aus der Vereinigung von Dichtung und Musik entstanden, so versteigt sich Wagner jetzt zu der Behauptung, die Musik verhalte sich zur Religion wie Christus zur Jungfrau Maria! War die Musik ursprünglich von der männlichen Dichtung beseelt oder befruchtet worden, so wird sie jetzt ‚unbef leckt‘ empfangen. War die Musik ursprünglich durch das Wort erlöst worden, so versteht Wagner die Musik jetzt umgekehrt als die Erlösung von der Nichtigkeit der Erscheinungswelt, denn die Musik hebe den Zwiespalt zwischen dem Begriff und der Empfindung geradewegs auf. Damit ist der Paradigmenwechsel des letzten Wagner vollkommen – der Wechsel vom Paradigma der Vokalmusik zum Paradigma der absoluten Musik.14 10 11 12 13 14

Wagner, „Religion und Kunst“, 221. Wagner, „Das Kunstwerk der Zukunft“, 95–96. Wagner, „Religion und Kunst“, 221. Ebd., 222. Vgl. Carl Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik, Kassel 1978.

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Schon 1872, über der Korrektur von „Oper und Drama“ sitzend, war Wagner zu der Einsicht gekommen: Ich weiß, was Nietzsche darin nicht paßte, das ist auch das, was Kossak aufnahm und Schopenhauer gegen mich auf brachte, was ich über das Wort sagte; damals wagte ich noch nicht zu sagen, daß die Musik das Drama produziert habe, obgleich ich es in mir wußte.15

Solch späte Einsichten erscheinen bei Wagner fast wie eine Befreiung von einem lebenslangen, hartnäckig verteidigten Irrtum. Nach dem Parsifal will er nur noch Symphonien schreiben!16 Während der Komposition des Parsifal klagt er: Jetzt, wo er die Kundry zu komponieren habe, fielen ihm nichts wie heitere SymphonieThemen ein. Er möchte Symphonien schreiben, wo er schreiben könne, was ihm einfällt, denn an Einfällen fehle es ihm nicht.17 Als im Jahre 1878 seine Jugendsymphonie in C-Dur wieder aufgefunden wurde, beschäftigte sie ihn sehr. Er spielte mit großer Freude verschiedene Stücke daraus vor und dirigierte schließlich am 24. Dezember 1882, also gut fünf Monate nach der Uraufführung des Parsifal, eine Privataufführung dieser Symphonie im Teatro La Fenice in Venedig. Die letzte von ihm selbst dirigierte Komposition – seine C-Dur-Symphonie! Eine späte Besinnung auf seinen frühen „symphonischen Ehrgeiz“ (Egon Voss)? Zur Komposition der geplanten Symphonien ist es nicht mehr gekommen. Wie würden sie ausgesehen, wie würden sie geklungen haben, diese Symphonien, von denen Cosima zu jedem Geburtstag eine erhalten sollte? „Symphonische Dialoge“ würde er seine Symphonien nennen, denn die vier Sätze im alten Stil würde er nicht komponieren, aber ein Thema und ein Gegenthema müsse man haben, miteinander reden lassen.18 „Ich hasse das Pathos“, rief er dann wieder aus, „sie werden sich wundern, wenn ich meine Symphonien herausgebe, wie einfach die sein werden; sie könnten zwar schon ein Beispiel davon an meinen Märschen und an dem Idyll [haben].“19 Aber dann beruhigte er sich und Cosima mit der Versicherung: Alles wird fertig (Parsifal), auch die Symphonien. 20 Ob Wagner – wäre es ihm vergönnt gewesen – dieses Versprechen wirklich eingelöst hätte, mag dahingestellt bleiben. Aber wie dem auch sei: Am Paradigmenwechsel des letzten Wagner zur „Idee der absoluten Musik“ kann kein Zweifel sein. Die Frage ist freilich, ob sich dieser auch auf die danach komponierte 15 Cosima Wagner, Tagebucheintrag, 11. Februar 1872, in: Tagebücher, Bd. 1, 490. 16 Cosima Wagner, Tagebucheintrag, 19. November 1878, in: Tagebücher, Bd. 2, 114. 17 Cosima Wagner, Tagebucheinträge, 22. September 1878 und 19. November 1878, in: ebd., 180, 234. 18 Cosima Wagner, Tagebucheintrag, 22. September 1878, in: ebd., 180. 19 Cosima Wagner, Tagebucheintrag, 4. Februar 1879, in: ebd., 304. 20 Ebd.

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Musik auswirkt. Denn alles bliebe reine Rhetorik und Ideologie, wenn es sich nicht in der musikalischen Faktur selbst nachweisen ließe. Auf den ersten Blick enthält die musikdramatische Struktur des Parsifal keine grundsätzlich neuen Elemente, sondern schließt – wie Werner Breig bemerkt – an die Errungenschaften von Ring und Tristan an. 21 Das mag über weite Strecken stimmen. Es gibt alle Stilelemente der früheren Werke auch im Parsifal: Leitmotive, Sequenz-Steigerungen, feinste allmähliche Übergänge, eine raffinierte Instrumentation – aber sie werden doch zugleich anders gehandhabt: Die Leitmotive weniger bildchenhaft als vielmehr symphonisch im musikalischen Satzgefüge, Sequenzen begegnen nur noch in Ausnahmefällen und nicht mehr als rhetorisches Mittel der Verknüpfung, und die Übergänge, auf die Wagner seit jeher besonders stolz war, werden zu einer kaum noch überbietbaren Feinheit kultiviert. Es gibt im Parsifal jedoch auch einige überraschend neuartige oder doch zumindest andere kompositorische Lösungen, von denen uns einige im Folgenden beschäftigen sollen.

„Vorrede“ Ungewöhnlich erscheint schon das Vorspiel zu Parsifal. Seit dem Lohengrin nennt Wagner seine instrumentalen Einleitungen bekanntlich nicht mehr Ouvertüren, sondern Vorspiele. Das hatte beim Lohengrin einen dramatisch begründeten Sinn. Da das Drama laut Aristoteles ein Ganzes mit Anfang, Mitte und Ende darstellt, so gehören zum Vorspiel alle Inhalte, die vor dem eigentlichen Drama geschehen, im Fall des Lohengrin etwa die Sendung des Heiligen Grals durch eine Engelsschar. Auch Wagners nächstes Vorspiel, das berühmte Vorspiel zu Rheingold, ist eine Vision. Es stellt nichts Geringeres als den Prozess einer musikalischen Weltentstehung aus den Naturtönen der Obertonreihe dar. Seine Vorspiele müssten „elementarisch“ sein, sagt Wagner einmal, weil sonst das Drama überf lüssig werde. Diesem Prinzip folgt er sogar noch in der Tristan-Einleitung, welches nach einem Zeugnis Wagners auch eine Weltentstehung, nur jetzt nach buddhistischer Lehre bedeuten soll. 22 Das Meistersinger-Vorspiel ist – seiner Benennung zum Trotz – wieder eine reine Ouvertüre. Und das Parsifal-Vorspiel? Wagner bezeichnet es gegenüber Cosima als eine „Vorrede“: „Hier nichts und da nichts, aus nichts hat Gott die Welt gemacht.“ 23 Er meine nämlich, er habe die Themen wie der Prediger seine Stellen aus der Bibel neben einander gestellt. 24 21 Werner Breig, „Wagners kompositorisches Werk“, in: Wagner-Handbuch, hg. von Ulrich Müller und Peter Wapnewski, Stuttgart 1986, 353–470, hier 457. 22 Brief an Mathilde Wesendonck, 3. März 1860, in: Richard Wagner: Sämtliche Briefe, hg. von der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth, Bd. 12: Briefe des Jahres 1860, hg. von Martin Dürrer, Wiesbaden 2001, 86. 23 Cosima Wagner, Tagebucheintrag, 23. September 1879, in: Tagebücher, Bd. 2, 413. 24 Cosima Wagner, Tagebucheintrag, 22. August 1880, in: ebd., 603.

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Also auch eine allegorische Weltentstehung? Auf jeden Fall ist der Hinweis auf die parataktische Struktur, das Nebeneinanderstellen der Themen, unmittelbar nachvollziehbar (Bsp. 1–3). Sehr langsam

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Beispiel 3: Parsifal, Vorspiel, „Glaubensthema“ und „Gralsruf “.

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„Liebe – Glaube – Hoffen?“ hat Wagner selbst in seinen programmatischen Erläuterungen zum Vorspiel diese Themen genannt, offenkundig in Anlehnung an das berühmte Motto im 13. Kapitel des Ersten Briefs an die Korinther, wobei er die Abfolge des Originals im Sinne einer Progression umstellt: Aus der Liebe entsteht der Glaube und aus diesem geht das Hoffen hervor. Natürlich bestehen diese sogenannten „Themen“ aus einzelnen Motiven, die leitmotivisch gedeutet und benannt worden sind. An dieser Stelle interessiert jedoch zunächst die Form dieses Vorspiels bzw. dieser „Vorrede“. Wagner selbst meinte gegenüber Cosima, es sei ein „Marsch mit einem Trio, wo das Thema des Trio zuerst f lüsternd unterbrochen auftritt, bis es dann in seiner Breite erscheint.“ 25 Wohl eine etwas freie Interpretation. Wichtig erscheint neben der dreiteiligen Anlage jedoch vor allem die parataktische Reihung der drei Themen, die nur durch ‚redende‘ Pausen miteinander verbunden sind. Im gesprochenen Drama wäre diese Pause unmöglich, erklärt Wagner Cosima, die redende Pause, das sei das Eigentum der Musik. 26 Die damit bekundete Abstinenz von jeglicher Überleitung lässt die Absicht einer Exposition dieser Themen erkennen. Es ist gewissermaßen eine emphatische Vorrede, deren Pausen wie Gedankenstriche eines Textes über den Inhalt hinauszuweisen scheinen. Auf diese instrumentale Exposition der Themen im Vorspiel folgt, da sich hier das symphonische und dramatische Prinzip überlagern, noch eine zweite, die dramatische Exposition: Das Gralsmotiv erklingt als Morgenweckruf der Trompeten und Posaunen auf der Bühne. Die folgende Erzählung des Gurnemanz ordnet den Themen nun ihre dramatische Bedeutung zu. Freilich stellt diese Erzählung wie der ganze erste Aufzug mehr eine allegorische Wiederholung von schon Bekanntem als eine wirkliche Exposition dar.

Symphonischer Ehrgeiz Dennoch: Der „symphonische Ehrgeiz“ schlägt während der Komposition des Parsifal bei Wagner auf Schritt und Tritt durch. Am Abend des 7. Februar 1881 schreibt er an der Partitur, „indem er immer wieder sagt, wieviel lieber er Symphonien schreiben würde, jeden Augenblick des Dramas wegen lege er Themen weg, er könne nicht so verfahren wie zum Beispiel selbst noch Carl Maria von Weber, der seinen Eremiten mit einer Tanz-Weise einführt, weil sie ihm gerade einfiel.“ 27 Ein weiteres Beispiel für die fortwährenden Klagen über sein musikdramatisches Verfahren. Anscheinend taugen die ‚Symphoniethemen‘, die ihm ständig einfallen, nicht zum Parsifal. So erklärt er Cosima, er könne das Thema 25 Cosima Wagner, Tagebucheintrag, 26. November 1879, in: ebd., 449–450. 26 Cosima Wagner, Tagebucheintrag, 21. März 1878, in: ebd., 65–67. 27 Cosima Wagner, Tagebucheintrag, 7. Februar 1881, in: ebd., 685.

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von Romeo und Julie (ein Thema, das noch aus der Tristan-Zeit stammt) nicht gebrauchen, wie er es zu Titurels Bestattung gedacht hatte, und würde es in einer Symphonie anbringen. 28 Was unterscheidet die Themen und Motive des Musikdramas von den Symphoniethemen? Auch dessen ist Wagner sich bewusst: Es ist ihre Plastizität, ihre eindringliche, meist ikonisch geprägte Gestaltqualität, die nur wenig verändert werden darf, damit sie in den verschiedensten Kontexten erkennbar bleibt. In seiner um diese Zeit entstehenden Schrift „Über die Anwendung der Musik auf das Drama“ hat sich Wagner den Unterschied zwischen seinem musikdramatischen und dem symphonischen Stil selbst klarzumachen versucht. Das Ergebnis dieser Ref lexion ist eine Art dramatische Symphonik, im Gegensatz zur herkömmlichen, von Marsch und Tanzweise herrührenden Symphonik. Bereits in der Erfindung der Themen, ihrem Ausdruck sowie der Gegenüberstellung und Umbildung sei der sogenannten „Programmsymphonik“ ein leidenschaftlicher und exzentrischer Charakter zu eigen, wie ihn die reine symphonische Instrumentalmusik gänzlich von sich fern gehalten habe. 29 Da die Symphonik immer mehr solcher plastischen Elemente in sich aufgenommen habe, sei dem Programmsymphoniker schließlich nichts anderes übrig geblieben, als die neue Form des musikalischen Dramas selbst zu Tage zu fördern. 30 Auf den ersten Blick bleibt in dieser Theorie also alles beim Alten: Aus der „Krise der Symphonie nach Beethoven“ (Dahlhaus) geht über die Vermittlung der symphonischen Dichtung unmittelbar das musikalische Drama Wagners hervor. Und doch kann eine leichte Akzentverschiebung in Wagners Argumentation nicht verborgen bleiben. „Die programmatische Instrumentalmusik“, schreibt er weiter, „welche von ‚uns‘ mit schüchternem Blicke und scheelem Auge angesehen wurde“, habe so viel Neues in der „Harmonisation“, so viele theatralische, malerische und instrumentatorische Effekte mit sich gebracht, dass es darauf hin unmöglich gewesen sei, noch Symphonien im Beethoven’schen Stil zu komponieren. 31 Genauer besehen stelle sich die Entwicklungskette plötzlich ganz anders dar: Die Symphonie mündete infolge ihrer Befruchtung durch das Drama direkt in die Symphonische Dichtung. Von dieser habe nun sogar das musikalische Drama zu lernen, vor allem das Prinzip der musikalischen Einheit: Auch die neue Form der dramatischen Musik müsse, um wiederum als Musik ein Kunstwerk zu bilden, die Einheit des Symphoniesatzes aufweisen: „Diese Einheit gibt sich“, so Wagner, 28 Cosima Wagner, Tagebucheintrag, 8. März 1879, in: ebd., 313. 29 Richard Wagner, „Über die Anwendung der Musik auf das Drama“, in: Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 10, 176–193, 181. 30 Ebd. 31 Ebd., 182.

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Eckhard Roch dann in einem das ganze Kunstwerk durchziehenden Gewebe von Grundthemen, welche sich, ähnlich wie im Symphoniesatze, gegenüberstehen, ergänzen, neu gestalten, trennen und verbinden: nur daß hier die ausgeführte und aufgeführte dramatische Handlung die Gesetze der Scheidungen und Verbindungen gibt, welche dort allerursprünglichst den Bewegungen des Tanzes entnommen waren. 32

Also doch „Leitmotive“? Die gab es freilich schon im Ring und den romantischen Opern vom Fliegenden Holländer bis zum Lohengrin. Es wäre jedoch voreilig, von dieser 1879 und damit während der Komposition des Parsifal geschriebenen Ansicht rückwirkend auf das musikalische Verfahren des Ringes zu schließen. Dort gebrauchte Wagner die Szene der Nornen am Beginn der Götterdämmerung, um sein musikalisches Verfahren allegorisch darzustellen. An Vergangenes erinnernd, werfen sie einander die motivischen Seile zu, aus denen sich der musikdramatische Verlauf des Ganzen konstituiert. Bei der Frage „Weißt du, was daraus wird?“ jedoch, der Frage, wie es musikalisch weitergehen soll, reißt das Seil. 33 Dementsprechend hat Wagner in „Oper und Drama“ die Funktion seiner Motive zweifach bestimmt: Als Ahnung und Erinnerung. Wenn sich der Hörer durch ständige Vorahnung und entsprechende Rückerinnerung den Zusammenhang des Ganzen konstruiere, so entstehe eben die Struktur des Leitfadens, eine eindimensionale Textur, dessen Elemente durchaus zutreffend als „Leitmotive“ bezeichnet werden. 34 Ganz ähnlich versteht Theodor W. Adorno die Leitmotivik im Versuch über Wagner als „Sorge um das Nichtabreißen des von Beethoven überkommenen ‚roten Fadens‘.“ 35 Hier nun, in seiner Schrift aus dem Jahre 1879, spricht Wagner nicht von einem Faden, sondern von einem „Gewebe“ nach symphonischem Muster, also einem mehrdimensionalen Beziehungsgefüge, das sich nicht mehr nur durch Ahnung und Erinnerung bestimmen lässt. An die Stelle progressiver Reihung tritt das in sich ruhende, statische Gewebe, ein „Netzwerk“ könnte man mit einem modernen Ausdruck formulieren. Möglicherweise besteht darin auch einer der Gründe für das Zurückdrängen der Sequenzen im Parsifal, deren Reihungsprinzip ja immer linear auf einen Höhepunkt zustrebt. Wie kommt ein solches Gewebe zustande? Die aus den früheren Werken bekannten Mittel der freien Assoziation und musikalisch-dramatischen Analogiebildung der Leitmotive reichen dafür nicht aus. Hierzu bedarf es vielmehr wahrhaft symphonischer Techniken, wie der motivischen Ableitung (‚aus Bekanntem wird hörbar Neues‘), der Variation (‚Neues wird auf Bekanntes rückbezogen‘) und der 32 Ebd., 185. 33 Wagner, Götterdämmerung, erste Szene. 34 Wagner, „Oper und Drama“, 190–191, 200. 35 Theodor W. Adorno, Versuch über Wagner, in: Die musikalischen Monographien, Frankfurt a. M. 1971 (= Gesammelte Schriften 13), 7–148, hier 52.

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Motivkombination (‚Neues setzt sich aus Bekanntem zusammen‘). Dass die Gesetze der Verknüpfung weiterhin durch den dramatischen Verlauf vorgegeben werden sollen, bleibt im Grunde sekundär. Entscheidend ist das Ergebnis: Die Musik des Parsifal erscheint wie aus einem Guss. Der Grund dafür ist nicht nur in der ständigen Vergegenwärtigung motivischen Materials zu suchen, sondern liegt auf der Materialebene dieser Musik selbst, in der Substanzgemeinschaft der Motive. Diese sind Teil übergeordneter Themen (vgl. „Liebesmahlthema“), gehen durch Umkehrung oder Variation auseinander hervor oder ineinander über und sind auf einer elementaren Ebene miteinander verwandt, aufgrund typischer Intervalle, vor allem diatonischer Drei- oder Viertonskalen oder Quart- und Quintsprüngen. Äußerst aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Schilderung von Beethovens Kompositionsverfahren, wie sie Wagner in „Oper und Drama“ gibt. Beethovens Instrumentalsätze seien, so Wagner, die „Vorführung des Aktes der Gebärung einer Melodie.“ 36 Beethoven habe jedoch die volle Melodie, die er erst im Verlaufe des Tonstückes als fertige vorstellt, schon von Anfang an fertig gehabt und sie nur in ihre Bestandteile zersprengt, um diese dann durch „organische Schöpfung“ zu einem neuen Ganzen zu verbinden. 37 Die folgende Darstellung der Motivaufsplitterung des sogenannten „Liebesmahlthemas“ nach Alfred Lorenz 38 scheint dieses Verfahren Beethovens nun auch bei Wagner zu bestätigen (Bsp. 4). Wagner verlagert die einheitsstiftende musikalische Arbeit gewissermaßen auf eine Ebene unterhalb der Themen und Motive. Alles ist ‚thematisch‘ infolge ständiger Präsenz dieses elementaren Materials. Cosima bemerke gar nicht, wie er seine Melodien in einem Stile halte, „sodass es wie ganz gleich aussieht und doch anders. So platsch platsch, eine Melodie neben der andren aufstellen“, das sei keine Kunst. 39 Man könnte den Stil des Parsifal statt durch Leitmotive, die, in musikalischen Kategorien ausgedrückt, ein System fortwährender Exposition und Reprise bilden, nach dem Paradigmenwechsel besser als ‚permanente Durchführung‘ erklären. Im Parsifal begegnen also Stilmerkmale, die reiner Leitmotivik, welche ja auf einem literarischen Verfahren beruht, offenkundig zuwiderlaufen. Da ist neben der musikalischen Substanzgemeinschaft vor allem auch die multifunktionale Verwendung der Motive: So wird ein und dasselbe „Rittmotiv“ beispielsweise für Kundry, die fremden Ritter in der Erzählung Parsifals und schließlich auch die Ritter vor Klingsors Zauberburg verwendet. Aus dem Leitmotiv wird damit eine allgemeine Reitfigur, wie sie zum Beispiel auch in Franz Liszts symphonischer Dichtung Mazeppa begegnet. Ja, diese punktierte Achtelfigur knüpft 36 Wagner, „Oper und Drama“, 315. 37 Ebd. 38 Alfred Lorenz, Der musikalische Aufbau von Richard Wagners „Parsifal“, Berlin 1933, 33–35. 39 Cosima Wagner, Tagebucheintrag, 4. April 1879, in: Tagebücher, Bd. 2, 325.

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Eckhard Roch

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Beispiel 4: a. Parsifal, Motivaufsplitterung des „Liebesmahlthemas“ (nach Lorenz, Der musikalische Auf bau von Richard Wagners „Parsifal“, 33–35); b. Tristan und Isolde, Zweiter Aufzug, Einleitung; c. Parsifal, fallende Quinten des „Mitleidsmotivs“; d. Parsifal, Varianten des „Liebesmahlthemas“; e. Parsifal, „Motiv der Schwermut“; f. Parsifal, Umgestaltung des „Glaubensthemas“.

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sogar an Parsifals Motiv (der bekanntlich gar kein Ritter ist) und schließlich sogar an das Schreitmotiv des Gralsmarsches an, das melodisch wiederum mit den Gralsglocken verwandt ist. Das vorgebliche Leitmotiv degeneriert somit zur rein rhythmischen Charakterfigur. Diese Tendenz findet ihre Bestätigung in einer Äußerung Wagners, die Cosima aus dem Jahre 1880 überliefert hat: „Neulich bei den Meistersingern sagte er, die Themen, die er zuweilen zum Abschluß wieder bringt, nicht mit dem ganzen Ausdruck, der ihnen zukommt, zu spielen; ‚ich schreibe das hier anstatt Floskeln.‘“40

Harmonik Auch in Bezug auf die Harmonik bringt Wagner, der harmonische Kühnheiten ohne dringende Notwendigkeit grundsätzlich ablehnte, im Parsifal nicht wirklich Neues. Der Parsifal geht mit seiner Tendenz zur Diatonik sogar wieder hinter den Tristan mit seiner extremen Chromatik zurück, aber er gelangt im Dienste des Ausdrucks doch zuweilen an eine Grenze, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt. Ihm sei plötzlich klar geworden, schrieb Wagner schon während des Dramenentwurfes zum Parsifal 1859 an Mathilde Wesendonck, dass die Wunde des Amfortas sein Tristan des dritten Aktes in einer unendlichen Steigerung sei.41 Dazu bedurfte es nun außergewöhnlicher Mittel. Das zentrale Motiv des „Wissens durch Mitleid“ kulminiert in der Szene, als Parsifal in der Umarmung Kundrys die Wunde des Amfortas im eigenen Herzen brennen fühlt (Bsp. 5).

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Beispiel 5: Parsifal, Zweiter Aufzug, Peripetie.

Wagner setzt hier einen verminderten Septakkord mit darübergelegter kleiner None des Grundtones, den Akkord: e–des–b–f–g in weiter Lage, der jedoch unaufgelöst bleibt und statt in einer Auf lösung nur in der Gesangsstimme „Amfortas!“ fortgesetzt wird. Analog verfährt Wagner beim Ausruf „Die Wunde!“ Adorno 40 Cosima Wagner, Tagebucheintrag, 7. Juli 1879, in: ebd., 565. 41 Richard Wagner, Brief an Mathilde Wesendonck, 29./30. Mai 1859, in: Briefe, Bd. 11, 105.

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Eckhard Roch

sah hier bereits die Grenze zur Atonalität erreicht,42 doch verfolgt Wagner mit dieser Kühnheit wohl eher einen symbolischen Zweck: Allein die Sprache, d. h. die rationale Erkenntnis des Ausrufes: „Amfortas! Die Wunde!“, bringt die ‚Auflösung‘ der unharmonischen Pein.

Sprache Die Sprache des Parsifal zeichnet sich gegenüber den früheren Werken durch eine außergewöhnlich große textliche Vielfalt aus. Endreim steht neben Stabreim bis hin zur reimlosen Prosa-Rede. Eine freie Handhabung der poetischen Formen tritt an die Stelle dogmatischer Vorentscheidungen, wie sie etwa der Stabreim im Ring darstellte. Wagner erreicht im Parsifal dadurch ein Höchstmaß an Expressivität, wofür der Dialog zwischen Klingsor und Kundry zu Beginn des zweiten Aufzuges als extremes Beispiel dienen kann.43 Die Kundry, die bekanntlich mit einem Schrei aus dem Schlaf der jeweils anderen Welt erwacht und damit wiedergeboren wird, bewegt sich hier gleichsam noch auf vorsprachlichem Gebiet. Der Schrei ist – um Hegels bekannte Musikdefinition zu paraphrasieren – die nicht-kadenzierte Interjektion, der Urgrund alles lauthaften Seins, der Anfang aller Musik. Kundrys Sprechen besteht zunächst noch in einzelnen Interjektionen und abgerissen hervorgestoßenen Wörtern. Ein emphatischer Text, welcher die Sprache bewusst zurücknimmt und in seiner parataktischen Struktur wohl nicht zufällig an die nebeneinandergestellten Themen des Vorspiels gemahnt. Wagner betreibt hier wie so oft ‚Musiktheorie im Drama‘. So, wie sich aus den abgebrochenen Interjektionen allmählich die zusammenhängende Sprache entwickelt, so auch die Melodie, die Musik. Die Melodik des Gesangsparts steht auch im Parsifal ganz im Dienste des Ausdrucks. Rezitativartige und ariose Partien begegnen auf engstem Raum, sind jedoch stets inhaltlich motiviert. Beispiel 6 zeigt dies anhand eines Abschnitts aus Gurnemanz’ Rede im ersten Aufzug.

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Beispiel 6: Richard Wagner, Parsifal, Erster Aufzug, Gurnemanz’ Rede.

42 Adorno, Versuch über Wagner, 64. 43 Breig, „Wagners kompositorisches Werk“, 461.

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Auf dem expressiven Höhepunkt der Passage kommen Orchestermelodie und Gesangspart zusammen, das bedeutet in Wagners Theorie: Das Sprechen wird zum Singen, zum Ausdruck innersten Empfindens, denn die symphonisch gedachte Orchestermelodie ist auch im Parsifal das eigentliche Medium der Musik. Das wirft natürlich die Frage nach der Genese der Melodie des Gesangsparts auf: Ist sie sprachgezeugt, wie es der Lehre von „Oper und Drama“ entspricht? Schon Eduard Hanslick vermutete in seiner Parsifal-Rezension von 1882, dass Wagner in der Regel zuerst die Orchesterbegleitung komponierte und dann erst darüber die Gesangspartien skizzierte. Das zusammenhängende und zusammenhaltende Ganze sei die symphonische, selbstständige Orchesterpartie. Mit Ausnahme jener Motive, die zuerst vom Gesangspart vorgetragen werden (etwa das Mitleidsmotiv, welches ja ein sprachliches Motto vorstellt, oder das sogenannte „Amfortas-Motiv“ Gurnemanz’ im ersten Aufzug ), herrscht im Parsifal der Eindruck vor, dass Wagner die Gesangsmelodie je nach Ausdruckscharakter deklamierend, arios oder parallel zur Orchestermelodie in den musikalischen Satz erst nachträglich einfügt.44 Bestimmte Melodien wie der Marschcharakter des „Glaubensthemas“ oder des „Gralsglockenmotivs“ sind durchaus instrumentale Erfindungen. Und selbst das „Liebesmahlthema“, welches seinen Namen ja durch die Einsetzungsworte des Abendmahles, welche auf diese Melodie gesungen werden, erhielt, kann aufgrund seiner metrischen Verwerfungen nicht wortgezeugt sein. Überhaupt spielt der oftmals synkopische Rhythmus im Parsifal eine bedeutendere Rolle als in den früheren Werken. Wie am Beispiel des „Liebesmahlthemas“ unschwer zu erkennen ist, dient er der Verknüpfung der nebeneinandergestellten motivischen Gebilde, genauer gesagt der Verwischung ihrer metrischen Grenzen. Nicht sprachgezeugt ist wohl auch die berühmte „Blumenmädchenszene“, auf die Wagner ganz besonders stolz war. Die Blumenmädchen sind eigentlich Pf lanzen, also halbmenschliche Wesen analog den Rheintöchtern im Ring, deren Gesang daher vorsprachlichen Charakter trägt, und dieser ist schon im Ring eindeutig instrumentaler Natur. Wagner gibt sich hier bewusst modern: „amerikanisch sein wollend“ schafft er ein Stück effektvoller Unterhaltungsmusik. Es ist im Grunde ein dreifach geteilter Hintergrund-Chor mit darübergelegter Vokalise der Solistinnen (ebenfalls verschieden gruppiert). Analog zu den Rheintöchtern scheint der Ensemblegesang der Blumenmädchen legitimiert durch ihre niedere Seinsstufe, und doch muss beim Dichterkomponisten Wagner eine Äußerung wie die folgende überraschen:

44 Eduard Hanslick, „Briefe aus Bayreuth über Wagner’s ‚Parsifal‘“, in: Neue Freie Presse 6440, 1. August 1882, Feuilleton, Folge III, 1.

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Eckhard Roch Niemand im Publikum würde den Text beachten, aber die Sängerinnen sängen doch anders, fühlten sich als Individuen, wenn sie auch im Chor nicht bloße unsinnige Wiederholungen zu singen hätten, und das trüge zu der Gesamtwirkung bei.45

Die erlöste Kundry hat im dritten Aufzug nur zwei Worte zu sprechen, ehe sie am Schluss entseelt zu Boden sinkt. Sie ist von den unzähligen ihr aufgedrängten Rollen als Dienerin und Verführerin des Mannes erlöst, von der männlichen Kultur kehrt sie zur weiblichen Natur zurück. Avanciert sie mit ihrer Sprachlosigkeit nicht zugleich auch zu einem Symbol der „absoluten Musik“, wie es in Wagners Theorie einst die Undine gewesen war?

Zeit Das Drama stellt laut Wagner stets eine unmittelbare Gegenwart dar. Dem linearen Zeitcharakter aller Musik zum Trotz besteht die Funktion der Motivwiederholungen daher sowohl in ständiger Vergegenwärtigung des Vergangenen als auch in der Vorwegnahme des Zukünftigen, also in der Überwindung von Zeit. Zeit wird auf diese Weise nicht wirklich dargestellt, sondern einfach negiert. Dort, wo sie nicht negiert werden kann, sondern gefüllt werden muss, wird sie jedoch allzu leicht zum Problem. Die Rede ist von der berühmten Verwandlungsmusiken des ersten bzw. dritten Aufzugs. Bekanntlich geriet die Verwandlungsmusik der Uraufführung aufgrund der zu langsamen Bühnenmaschinerie zu kurz, sodass noch einige Takte hinzukomponiert werden mussten. Es handelt sich bei dieser Verwandlungsmusik um einen Marsch, der auf einer Ostinato-Figur beruht und nach der Tradition der französischen Battaglia leicht zu verlängern oder zu verkürzen ist. Um die Realitätsnähe des Geschehens zu unterstreichen, schreibt Wagner ein Bühnenensemble von sechs Posaunen, später sechs Trompeten, Rührtrommeln und Glocken auf der Bühne vor, die – so die Partituranweisung – möglicherweise noch durch die entsprechenden Militärmusikinstrumente zu verstärken sind. „Ich schreite kaum, doch wähn ich mich schon weit“, stellt Parsifal verwundert fest. Doch ist Gurnemanz’ tiefsinnig scheinende Antwort „Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit“ nur eine euphemistische Umschreibung dessen, was Adorno als das Versagen der Wagner’schen Form vor der Zeit kritisiert hat.46 Anhand der Perpetuierung des Schreitmotivs der Verwandlungsmusik wird jedenfalls offenbar, dass musikalische Zeit auch im Parsifal nichts anderes ist als – Bühnenzeit. Und doch scheint Wagner im Parsifal um eine mehr symphonische Bewältigung von Zeit – um musikalisch erfüllte Zeit – wenigstens bemüht gewesen zu sein: Der dritte Akt beginnt nicht nur in der gleichen Gegend des Grals, sondern gleicht auch 45 Cosima Wagner, Tagebucheintrag, 26. März 1878, in: Tagebücher, Bd. 2, 70. 46 Adorno, Versuch über Wagner, 40.

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im Auf bau offensichtlich dem ersten. An dieser dramatisch-zyklischen Konzeption ist das symphonische Formmodell kaum zu übersehen: Parsifal kehrt nach dem langen Weg der Leiden (gewissermaßen die ‚Durchführung‘ des „Mitleidmotivs“ des zweiten Aufzugs) in die Welt des Grals zurück. Die Wiederkehr (‚Reprise‘) der musikalischen Motive ist damit dramatisch gerechtfertigt. Aber Wagner löst auf diese Weise zugleich das symphonische Reprisenproblem, denn Parsifals Rückkehr bedeutet keine bloße Wiederkehr des Gleichen: Viel Zeit ist vergangen, die Ritterschaft befindet sich im Zustand des Verfalls, und auch Parsifal hat sich verändert: In dunkler Rüstung erscheint der einstmalige Naturbursche vor dem greisen Gurnemanz. Vor allem aber mit Kundry ist ein Wandel vor sich gegangen: „Wie anders schreitet sie als sonst!“ Kundry ist erlöst. Aber sie schweigt. Nur „Dienen, Dienen“ stößt sie noch hervor. Ihre Sprachlosigkeit geht ganz auf in Musik. Und eine weitere Dimension erfüllt diese Reprise der Gralsszene im dritten Aufzug des Parsifal: Die Legitimation der Wiederholung des Ganzen überhaupt, die Befreiung des Dramas von der Zeit im quasi liturgischen Ritus.

Ritus Der letzte Wagner gibt sich, nachdem er alles gesagt zu haben glaubt und doch nicht gehört wurde, zunehmend resigniert. Nur noch raten und helfen will er. Ein Beispiel geben, das ist – Egmont zitierend – eines seiner letzten Ziele.47 Und wirklich: Man sucht seinen Rat! Zuschriften von Vegetariern, Aufforderungen zum Unterschreiben diverser Petitionen, die Einsendung von Kompositionen im Wagner’schen Stil, Bittstellungen und Rezensionen, das alles gehört zum Alltag des erfolgreichen Genies. Wie an einen Gott wenden sich so viele an ihn, kommentiert Cosima.48 Doch das ist nur die Außenseite des letzten Wagner. Am liebsten würde er sich ganz in das Innere seines Asyls in Wahnfried zurückziehen. Selbst von den Festspielen will er nicht mehr viel wissen, den Parsifal am liebsten nicht aufführen! Nur die sogenannten „Hausfestspiele“ interessieren ihn noch, das private Musizieren im engsten Freundeskreis im Haus Wahnfried. Da werden eigene Werke oder Teile aus Kompositionen von Weber und Heinrich Marschner, ja sogar Felix Mendelssohn Bartholdy, vor allem aber während der Komposition am Parsifal immer wieder Bach gespielt. War der Parsifal, diese späte Rückbesinnung Wagners auf die christliche Religion, ernst gemeint oder – wie Nietzsche gehofft hatte – doch nur ein Satyrspiel, ein letzter Betrug des alten Zauberers Wagner? Nein, er war ernst gemeint, genauso ernst wie die späte Versöhnung mit der absoluten, symphonischen Musik, die Wagner ja religiös begründet hatte. 47 Cosima Wagner, Tagebucheintrag, 25. November 1879, in: Tagebücher, Bd. 2, 448–449. 48 Cosima Wagner, Tagebucheintrag, 19. Juli 1878, in: ebd., 144.

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Eckhard Roch

Der dritte Akt, die dramatisch-musikalische Reprise, überführt das psychologische Geschehen des ersten in den Kult – das Bühnenfestspiel wird zum Bühnenweihfestspiel und somit zum wiederholbaren Ritus. Auch das ist eine späte Erkenntnis Wagners: Das Bühnenfestspiel als unmittelbarer Ausdruck des Lebens war eigentlich nur einmal aufführbar. Erst seine musikalische Rückbesinnung auf die Religion löst das Problem der Zeitlichkeit des Dramas. Der Ritus ist – wie die „absolute Musik“– wiederholbar. Beim Parsifal wird das Festspielhaus zum Tempel, die Tragödie hat hier – wie Thomas Mann formulierte – nach Jahrtausenden zum zweiten Male (und zum letzten Male) – wenigstens die Miene eines Nationalaktes und künstlerischen Gottesdienstes angenommen.49 Wagner wählt die Benennung „Bühnenweihfestspiel“ durchaus in Analogie zu den beliebten Kirchweihfesten, als deren würdevolleres Pendant er „das mystische Liebesmahl seiner Gralsritter“50 verstanden wissen will. Der Parsifal eine moderne Passionsgeschichte? Wer wird im Parsifal erlöst? Und wer ist der Erlöser? Nachdem Parsifal den Weg zum Gral wiedergefunden hat, wird er zum neuen Gralskönig geweiht. Als solcher versieht er sein erstes Amt. Er tauft Kundry. Sie, der ewige Jude als Frau, empfängt die Taufe von seiner Hand. Darauf sinkt sie entseelt zu Boden. Erlösung im Tode! Dieses alte Motiv der Wagner’schen Tragödien ist Wagners Antwort auf die Frage nach der Erlösung der Frau auch im Parsifal. Wagner, dessen musikdramatisches Schaffen immer um das gleiche Problem kreiste, nämlich die Erlösung des Mannes durch die Frau, kommt hier zu der späten Erkenntnis, dass zunächst erst die Frau selbst erlöst werden muss, ehe sie zur Erlöserin des Mannes werden kann. „Gleichwohl geht der Prozeß der Emanzipation des Weibes nur unter ekstatischen Zuckungen vor sich“, schreibt er kurz vor seinem Tode in der als Schluss für „Religion und Kunst“ gedachten Abhandlung „Über das Weibliche im Menschlichen“. Dann bricht die Aufzeichnung jäh ab mit den Worten „Liebe – Tragik.“ 51 Fast nimmt es sich aus wie ein symbolisches Fazit seines Lebens, dass Wagner ausgerechnet über diesen Worten stirbt. Es liegt nahe, von hier aus eine Verbindung zum ähnlich kryptischen Schluss des Parsifal zu ziehen. Der Parsifal endet mit der in sich kreisenden Melodie des Liebes-Motivs aus dem „Liebesmahlthema“. „Erlösung dem Erlöser!“ singt der Chorus mysticus aus der Höhe. Ein Orakelspruch, der Rätsel aufgibt. Lösungen gäbe es viele: Ist Parsifal selbst noch unerlöst, nachdem er Kundry erlöst und Amfortas geheilt hat? Oder will Wagner hier seinen eigenen Ruf nach Erlösung andeuten? Nach Erlösung vom Drama, nachdem er den Weg zur Sym49 Hans Rudolf Vaget (Hg.), Im Schatten Wagners, Thomas Mann über Richard Wagner, Texte und Zeugnisse 1895–1955, Frankfurt a. M. 22005, 25. 50 Richard Wagner, „Das Bühnenweihfestspiel in Bayreuth 1882“, in: Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 10, 297–308, hier 297. 51 Richard Wagner, „Über das Weibliche im Menschlichen“, in: Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 12, 343–345, hier 345.

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phonie endlich wiedergefunden hat? Die Antwort der Musik ist eindeutiger: Am Ende wie am Anfang des Parsifal steht das gleiche Motiv der Liebe, gemäß des paulinischen Mottos: „Nun bleiben Glaube, Liebe, Hoffnung. Diese drei. Am größten unter ihnen aber ist die Liebe.“52

52 Erster Brief an die Korinther, Kapitel 13.

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Christoph Flamm

Not oder Tugend? Mahlers Klavierquartettsatz Christoph Flamm Fast noch druckfrisch – jedenfalls mit Blick auf das Zeitempfinden im analogen, papierenen Publikationsraum – ist der analytisch wie kontextuell überaus hellsichtige Aufsatz des in diesem Band Geehrten über Mahlers frühen Klavierquartettsatz, erschienen 2016 in der Festschrift für Henry-Louis de La Grange.1 Der Gedanke, zu gleichem Zweck ebenfalls in einer Festschrift (und überdies einer für eben diesen Autor bestimmten) einen Aufsatz zum gleichen Werk zu lancieren, mag also Stirnrunzeln und sogar Unbehagen hervorrufen. Es war aber genau dieser Aufsatz von Peter Revers, bei dessen Lektüre der Verfasser dieser Zeilen, der vor wenigen Jahren eine kritische Neuausgabe von Mahlers Klavierquartettsatz für den Henle-Verlag besorgt hat, nochmals mit den grundlegenden Fragen nach der Identität der diversen Klavierkammermusikwerke aus Mahlers Studienzeit konfrontiert wurde: Fragen, die sich ohne weitere Quellenfunde, welche leider kaum zu erwarten sind, bislang nur unzureichend beantworten ließen. Die von Revers unter Hinweis auch auf jüngere Mahler-Literatur erneut vorgebrachte Vermutung, dass das am 12. September 1876 in Iglau ( Jihlava, Tschechien) neben der verschollenen Violinsonate als Klavierquartett aufgeführte, aber als Klavierquintett rezensierte Werk eine Bearbeitung jenes Klavierquintett-Kopfsatzes darstellen müsste, für den Mahler kurz zuvor, am 1. Juli 1876, einen ersten Preis in seinem Nebenfach Komposition am Wiener Konservatorium erhalten hatte, ist schon für sich bemerkenswert. Sie könnte sich – und das führt ins Zentrum dieses Beitrages – darüber hinaus als Schlüssel für die Erklärung vieler, wenn nicht gar der meisten Probleme und Widersprüchlichkeiten erweisen, die mit eben jenem einzig überlieferten Klavierquartettsatz verbunden sind, sollte er in der Substanz mit dem ursprünglichen Klavierquintett übereinstimmen. Allerdings steht genau diese Identität seit Längerem nicht mehr zur Debatte: „Eine Identifizierung [von Mahlers frühem Klavierquintett] mit dem Quartettsatz in a-Moll wird heute generell ausgeschlossen.“ 2 1 2

Peter Revers, „‚[…] he would never complete a composition‘. Gustav Mahler’s Piano Quartet – An Unfinished Project“, in: Naturlauf: Scholarly Journeys Toward Gustav Mahler. Essays in Honour of Henry-Louis de La Grange, hg. von Paul-André Bempéchat, New York 2016, 471–501. Erich Wolfgang Partsch / Andreas Michalek, „Verschollene und fragmentarische Werke, Apokryphe“, in: Gustav Mahler – Interpretationen seiner Werke, hg. von Peter Revers und Oliver Korte, Bd. 1, Laaber 2011, 3–11, hier 6–7.

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Not oder Tugend? Mahlers Klavierquartettsatz

Die Arbeitshypothese dieses Beitrages ist, dass gerade die vielen satz- und spieltechnischen Merkwürdigkeiten des uns bekannten Klavierquartettsatzes sich erstens erklären lassen durch eine Reduktion der ursprünglichen Besetzung von fünf auf vier Instrumente, und zweitens durch eine vor allem in den Streicherstimmen erfolgte Umdisposition, durch welche die mutmaßliche Iglauer Werkgestalt in die uns überlieferte Quartettfassung überführt wurde. Würden sich diese Hypothesen bestätigen, wäre der uns bekannte Klavierquartettsatz eine von drei Versionen eines einzigen Stückes.

Historische Gegebenheiten Bekanntlich wurde Mahlers Werk ebenso wie dasjenige seines Kommilitonen Rudolf Krzyzanowski (Kržyžanowski, 1859–1911) auf dem Programmzettel des Iglauer Konzertes als Quartett angeführt, und es waren auch nur vier ausführende Musiker genannt: Concert / des Conservatoristen / Gustav Mahler, / unter gefälliger Mitwirkung / der Herren / Aug. Siebert, und Eug. Grünberg, / Mitglieder des k. k. Hofopernorchesters, und des Herrn / Rudolf Kržýžanowski, / Dienstag den 12. September 1876 / im / Saale des Hotel Czap. […] / 1. Kržýžanowski Rudolf. Quartett für Piano und 2 Violinen und Viola […] / 4. Mahler Gustav. Sonate für Violin und Piano. (Herr Siebert, Herr Mahler.) / 5. Mahler Gustav. Quartett für Piano, 2 Violinen und Viola. […]3

Die am 17. September im Mährischen Grenzboten erschienene Konzertbesprechung hingegen sprach stets von zwei Quintetten: Zuerst Nummer 1 das Klavierquintett von Rudolf Kržyžanowski, dessen ersten Satz wir bloß zu hören bekamen. […] Wir können mit Recht behaupten, daß der Komponist mit diesem Quintette ein schönes Werk geschaffen und daß wir ihn einst unter die ersten Größten zählen können werden. […] Die nächsten Nummern 4 und 5, Sonate für Violine und Piano und das Klavierquintett hatten Herrn Mahler zum Autor. […] Über das Klavierquintett bemerken wir nur, daß dasselbe den ersten Preis im Konservatorium zu Wien errang. […] Die Aufführung der beiden Quintetts war eine musterhafte und der reichliche Beifall des Publikums nach jedem Vortrage somit auch verdient.4

Der ungenannte Rezensent kann schwerlich ohne Grund, aus Unachtsamkeit oder gar aus Ignoranz konsequent von Quintetten statt Quartetten gesprochen 3 4

Programmzettel abgebildet in: Kurt Blaukopf, Mahler. Sein Leben, sein Werk und seine Welt in zeitgenössischen Bildern und Texten, Wien 1976, Abb. 30. Zit. nach ebd., 151.

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haben. Die Tatsache, dass er von der Auszeichnung von Mahlers Klavierquintett am Konservatorium wusste, belegt ein Insider-Wissen, das er möglicherweise von Mahler direkt erhalten hatte. 5 Was wiederum bedeutet, dass die Etikettierung der beiden gespielten Werke als Quintette aus Perspektive der anwesenden Komponisten korrekter war als das, was auf dem Programmzettel stand. Schon Kurt Blaukopf glaubte, dass Krzyzanowskis Quartettsatz genau diese Vorgeschichte haben müsse: „Kržyžanowskis Komposition scheint mit jenem Werk identisch zu sein, das laut Jahresberichten des Konservatoriums am 22. Dezember 1875 in einem Zögling-Konzert aufgeführt wurde und als ‚Klavierquintett (C-moll, 1. Satz)‘ bezeichnet ist.“ 6 Peter Revers führt nun in seinem rezenten Aufsatz zu diesem Sachverhalt die noch weiter gehende These von Knud Martner an: „One is indeed tempted to assume that the two recorded ‚Conservatory Quintets‘ were the works performed in Iglau.“ 7 Während Revers diese – durch die Rezension im Prinzip gut gestützte – These als alles in allem für überzeugend hält, also auch das aufgeführte Mahler’sche Werk als in der Substanz mit dem prämierten Quintettsatz für identisch erachtet, weist er die früher immerhin gelegentlich postulierte 8 Identität des aufgeführten Quartetts mit dem als Autograph überlieferten Kopfsatz zurück, da die Besetzung in Iglau laut Programm aus Klavier, zwei Violinen und Viola bestand, der uns überlieferte Klavierquartettsatz aber für die Standardbesetzung Klavier, Violine, Viola und Cello gesetzt ist. In der Tat kann diese rätselhafte Diskrepanz der Besetzungen nur hypothetisch erklärt werden, umso mehr, als sich keine anderen Quellen als eben jenes eine Autograph9 erhalten haben, also 5

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Hiervon geht etwa Paul Banks („Quartet for Piano, 2 Violins und Viola“ [sic], http://www.mahlercat.org.uk/Pages/Lostworks/Quartet1876.htm [3.2.2019]) aus. Tatsächlich berichteten bereits am 4. Juli und damit nur wenige Tage nach der Preisverleihung sowohl das Neue Wiener Tagblatt (10/182, Tages-Ausgabe, 5) als auch das Wiener Fremden-Blatt (30/182, 6) über Mahlers ersten Preis, ohne allerdings die preisgekrönte Komposition zu nennen. Es ist also denkbar, dass der Rezensent des Mährischen Grenzboten bereits vor dem Konzert von Mahlers Auszeichnung erfahren und sich andernorts nach dem Werk erkundigt hatte. Ebd. Das Manuskript dieses Klavierquintetts – anscheinend nur die Streicherstimmen – liegt unediert in der Österreichischen Nationalbibliothek (Musiksammlung, Signatur: F194.Krzyzanowski.3). Knud Martner, Mahler’s Concerts, New York 2010, 9. Vgl. zur Überlieferungsproblematik besonders Renate Hilmar-Voit, „Vorwort“, in: Gustav Mahler, Sämtliche Werke. Kritische Gesamtausgabe, Supplement Bd. 3: Klavierquartett 1. Satz, hg. von Manfred Wagner-Artzt, Wien 1997, VII–XI; Jeremy Barham, „Mahler’s First Compositions: Piano Quartet and Songs“, in: The Mahler Companion, hg. von Donald Mitchell und Andrew Nicholson, Oxford 2002, 597–607; Eckhard Roch, „Vollendete Werke vor der Ersten Symphonie: Klavierquartett, Das klagende Lied, Frühe Lieder“, in: Mahler Handbuch, hg. von Bernd Sponheuer und Wolfram Steinbeck, Stuttgart 2010, 154–167, zum Klavierquartett 154–157; Michael Aschauer, „Klavierquartettsatz a-Moll“, in: Gustav Mahler – Interpretationen seiner Werke, hg. von Revers und Korte, Bd. 1, 12–24; Christoph Flamm, „Vorwort“, in: Gustav Mahler, Klavierquartett a-moll, hg. von dems., München 2015, III–IV. New York, Pierpont Morgan Library, M214.Q16 (Nachlass von Mrs. Wolfgang Rosé).

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keine Streicherstimmen oder andere Niederschriften der Partitur; wir haben leider nicht einmal Hinweise auf die Tonart der prämierten und aufgeführten Werke von Mahler. Gesetzt den Fall, das in Iglau gespielte Werk wäre in der Substanz tatsächlich mit dem uns überlieferten Stück identisch: Warum hat dieses dann eine andere Streicherbesetzung, nämlich die für Klavierquartette übliche mit Cello statt zweiter Violine? Verschiedenes ist denkbar. Mahler könnte seine Reduktion des Quintetts für das Iglauer Konzert zunächst in der irrigen Annahme begonnen haben, dass die verkleinerte Besetzung am Ende die Standardbesetzung für Klavierquartette sein würde, und hätte dann, mit dem tatsächlichen Streicherensemble konfrontiert, in der letzten Phase die (nicht überlieferten) Stimmen entsprechend modifizieren und seine eigene Klavierpartitur zumindest partiell überarbeiten müssen. Oder aber, und das ist wohl wahrscheinlicher, er wollte die für das Iglauer Konzert speziell zurechtgeschneiderte, exzentrisch besetzte Version seines Werkes nachträglich in eine normal aufführbare Standardform überführen – was allerdings nur dann Sinn ergibt, wenn er mittlerweile einen ästhetischen Mehrwert gegenüber der originalen Quintettbesetzung erkennen konnte. Es wäre dann wohl diese Quartettform gewesen, an die Mahler gesprächsweise im Zusammenhang mit einer Aufführung bei dem Brahms-Freund und Chirurgen Theodor Billroth erinnerte (die Studierziffern im Autograph legen das ohnehin nahe), und möglicherweise war es auch diese Quartett- statt der ursprünglichen Quintettversion, die zu einem bislang nicht nachgewiesenen Kammermusikwettbewerb in Russland eingeschickt worden sein soll.10 Kann man sich den Vorgang einer mehrfachen Transformation in der Praxis überhaupt vorstellen? Zunächst liegt die Vermutung nahe, dass Mahler in dem von ihm organisierten Konzert in Iglau unbedingt seinen und Krzyzanowskis Klavierquintettsatz (es waren für den Examenszweck im Konservatorium wohl ohnehin jeweils nur Kopfsätze entstanden) als besonders groß besetzte und besonders ambitionierte Werke vor Publikum präsentieren wollte, dass er aber die dafür notwendigen Streicher nicht vollständig auftreiben konnte. Siebert und Grünberg traten im Iglauer Konzert, wie den Dokumenten zu entnehmen ist, als (auch solistische) Geiger auf, Mahler als Pianist; die Bratsche in den Quartetten wird daher vermutlich Krzyzanowski übernommen haben, dessen Hauptfachinstrument während des Studiums bei Karl Heißler 1872–1876 Violine war11 (sodass immerhin denkbar ist, er könnte in den Quartetten doch auch einen Violinpart übernommen haben und einer der beiden anderen Streicher die Viola). In jedem Fall war kein Cellist zugegen. Die völlig irreguläre, traditionslose und satztech10 Herbert Killian (Hg.), Gustav Mahler in den Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner, Hamburg 1984, 55. 11 Vgl. Christian Fastl, „Krzyzanowski (Kržyžanowski), Ehepaar“, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, http://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_K/Krzyzanowski_Ehepaar.xml (3.2.2019).

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nisch abstruse Streicherbesetzung von zwei Violinen mit Viola legt nahe, dass in Iglau nicht freiwillig auf ein Cello verzichtet wurde. Allerdings muss sich diese Einschränkung immerhin so früh abgezeichnet haben, dass die neue Besetzungsform beim Druck des Programms berücksichtigt werden konnte. Somit waren auch entsprechende kompositorische Adaptionen denkbar, und seien sie auch eher kurzfristig nötig geworden. Dass die Cellostimme der Quintette von Mahler in die linke Hand des Klavierparts übertragen wurde, wie Renate Hilmar-Voigt erwägt,12 ist bei gründlicher Vorbereitung, wie sie eine öffentliche Aufführung gewiss erforderte, denkbar; an Stellen, wo das Cello eben nicht in Bass-Funktion eingesetzt wird, sind aber darüber hinaus alternative Lösungen vonnöten: Hoch liegende Cello-Passagen könnten nicht nur in die rechte Hand des Klaviers, sondern theoretisch auch in die Bratschen- oder gar in eine Violinstimme eingegangen sein, falls diese Instrumente an dieser Stelle nicht bereits eigenes strukturell wichtiges Material boten. Die Verteilung einer fünften Stimme auf vier andere Instrumente müsste daher im Notenbild ganz allgemein zu Verdickungen führen, etwa zu Doppelgriffen in den verbliebenen drei Streichern oder einem dichteren mehrstimmigen Satzbild im Klavier. So gut wie unverändert dürfte bei allen mutmaßlichen Transformationen des Stückes wohl nur die 1. Violine geblieben sein. Um die zweifache These von der Transformation des Quintetts in ein Quartett wie auch von einer Quartettbesetzung in eine andere zu prüfen, wird im Folgenden neben dem modernen edierten Notenbild des Quartettsatzes auch das Autograph näher betrachtet, und zwar gerade seine problematischen Seiten: die häufigen Überarbeitungs- und Kompositionsspuren sowie die speziell im Klavier anzutreffenden Merkwürdigkeiten und ‚Unspielbarkeiten‘. Die Hoffnung dabei ist, aus diesen Merkmalen Rückschlüsse auf die vermuteten Umwandlungsprozesse ziehen zu können.

Hinweise auf den ursprünglichen Quintettsatz Schon das in Oktaven geführte Anfangsthema im Klavierbass (ab T. 3) lässt sich als typische Cello-Phrase deuten, dies umso mehr, wenn man die von Michael Aschauer bemerkte Nähe zum 1876 entstandenen Klavierquartett op. 15 von Robert Fuchs – damals Mahlers Professor in Harmonielehre am Wiener Konservatorium – berücksichtigt, wo in der Tat das Cello solistisch in den durch Akkordrepetitionen ausgebreiteten Klanghintergrund einfällt.13 Bei Fuchs wechselt das Hauptthema danach in Unisono-Oktaven ins Klavier, während die Streicher die akkordische Begleitung übernehmen. Mahlers Satzbeginn könnte ein 12 Hilmar-Voigt, „Vorwort“, VIII. 13 Aschauer, „Klavierquartettsatz a-Moll“, 15, wo zugleich die vielen (von der Stimmverteilung unabhängigen) grundlegenden Unterschiede beider Satzanfänge aufgezeigt werden.

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solches Wechselprinzip ursprünglich auch zugrunde gelegen haben, das Hauptthema also zuerst im Cello, dann im Klavier bringend; aber anders als Fuchs überlässt er den Begleithintergrund immer ganz dem Klavier. Und überhaupt widerspricht die aus motivischen Kernen statt periodischen Einheiten sich sofort ergebende Themenentwicklung der Grundidee einer Vertauschung unveränderten Materials. Fraglich ist auch, ob eine hypothetische Quintettversion dem Klavier hier während der gesamten Themenaufstellung wirklich nur das dürre Terzenband der rechten Hand anvertraut haben sollte. Genauso gut denkbar wäre eine Parallelführung von Cello und Klavier für den gesamten Satzanfang (also nicht erst ab den T. 9 bzw. 10), sodass der wenig verständliche Hinweis „Solo“ im Cello in T. 12 (es ist ja nur ein einziger Einsatz mit dem Kopfmotiv) nicht bedeuten würde, dass sich der Cellist hier emphatisch über andere Stimmen erheben soll, sondern schlicht den Umstand beschriebe, dass das Cello hier erstmals nicht mehr vom Klavier dupliziert wird – was nur dann Sinn ergibt, wenn es von Anfang an verdoppelt wurde (Abb. 1). In der Reprise sieht die Situation etwas anders aus: Dort bleibt das F1 im Klavier in Takt 159, analog zum Cello, als Ganze liegen; die Vermutung liegt nahe, dass Mahler in Takt 9 nur eine ephemere Achtel im Klavierbass vorsah, damit die sonoren tiefen Tön des Cellos nicht durch die Unteroktaven des Klaviers entwertet werden (das auf F1 folgende D fehlt dafür im Autograph in der Reprise in Takt 160, vielleicht aus demselben Grund, das Cello nicht zu überlagern). Außerdem umfasst die Parallelführung von Cello und Klavier nun auch jenes Kernmotiv (T. 162–164), das in der Exposition mit besagtem Hinweis „Solo“ dem Cello allein zugeteilt wurde. Diese Diskrepanzen zwischen Exposition und Reprise sind, da sie letztlich nur Details betreffen, nicht ganz einfach zu erklären. Denkbar wäre, dass Mahler bei der Niederschrift des uns bekannten Autographs einer Vorlage folgte – nämlich der Quintettversion –, von der er sich zu Beginn der Überarbeitung stärker oder jedenfalls gewissenhafter ablöste als gegen Ende, wo vielleicht eine eher mechanische Übertragung stattgefunden hat; sogar Zeitdruck könnte hier eine Rolle gespielt haben, den auch die fragmentarische Notationsweise der letzten Seiten des Autographs zu implizieren scheint.14 Das alles ist natürlich reine Spekulation. Wohl kein Ergebnis von Flüchtigkeit sind dagegen die Unterschiede zwischen Exposition und Reprise dort, wo sich erstmals alle Instrumente am thematischen Geschehen beteiligen (T. 14 bzw. T. 164): Aus einem Dialog zwischen Außenstimmen (Violine und linke Hand des Klaviers) und Mittelstimmen (Viola und Cello) wird in der Reprise ein Wechsel zwischen hohen Stimmen (Violine und Viola) und tiefen Stimmen (Cello und linke Hand des Klaviers). In beiden Fällen handelt es sich um dezidiert vierstimmige Sätze (plus Begleithintergrund), die eine ursprüngliche Verteilung auf vier Streicher (plus begleitendes Klavier) sinnvoll erscheinen lassen. 14 Vgl. dazu die Beschreibungen und Lesarten des Autographs in den kritischen Ausgaben von WagnerArtzt (Klavierquartett 1. Satz, 22–26) und Flamm (Klavierquartett a-moll, 25–28).

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Abbildung 1: Gustav Mahler, Klavierquartettsatz, Autograph, S. 1, T. 1–22. © The Morgan Library & Museum. Bequest of Mrs. Wolfgang Rosé. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

Eine Grundannahme zur Verteidigung der Hypothese einer originären Quintettbesetzung könnte also sein, dass die linearen, motivisch oder melodisch geprägten Elemente der linken Hand des Klaviers ursprünglich dem Cello zugeteilt waren, dann aber für die amputierte Iglauer Besetzung in den Klaviersatz wanderten. Die innerhalb von vierstimmigen Passagen meist symmetrische Gruppierung der

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Beispiel 1: Mahler, Klavierquartettsatz, T. 190–196.

Ober- und Unterstimmen oder der Außen- und Mittelstimmen zu Paaren scheint diesen Gedanken noch weiter zu stützen. Offen bleibt allerdings, ob das Klavier dann mehr als nur die verbleibenden harmonischen Flächen (meist Akkorde) zu spielen gehabt hätte: Zum einen käme dies an manchen Stellen einer Unterforderung des Pianisten gleich, zum anderen würde es eine weitgehende Trennung von Streichern und Klavier bedeuten statt jener Interaktion, die in der Quartettversion durch die thematische Integration der linken Hand erzeugt wird – wobei man bemerken darf, dass gerade diese weitgehende Fixierung auf die linke Hand mechanische Züge trägt, als wäre es eben doch kein genuiner, eigenständig erfundener Klaviersatz. Weitere Stellen mit konsequenter Vierstimmigkeit finden sich zum Beispiel in den überleitenden Takten 38–41, die in ihrer Bewegung in gleichförmigen Halben und Ganzen beinahe Fux’sche Strenge verströmen. Noch deutlicher vierstimmig konstruiert ist der sich unmittelbar anschließende, großformal als Überleitung fungierende, aber aufgrund seiner Prägnanz und Gewichtung als „thematische[r] 336

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Beispiel 2: Robert Fuchs, Erste Violinsonate op. 20, 1. Satz, T. 70–74.

Kontrast“15 zu wertende Abschnitt zwischen Haupt- und Seitenthema. Speziell in der Reprise (T. 190–201) gemahnt dieser kontrapunktisch-lineare Satz überdeutlich an ein Streichquartett (Bsp. 1). Das Klavier scheint hier den vierstimmigen (Streicher-)Satz strikt verdoppeln zu wollen. Es gerät dabei in der linken Hand an die Grenze des Spielbaren, so bei den durch Arpeggienschlangen mühsam verbundenen, überweiten Intervallen in den Takten 191 und 192 wie auch bei der ohne Hilfe des Pedals (welches sich in dieser chromatischen Faktur aber verbietet) nicht mehr darstellbaren, da fast zwei Oktaven umfassenden Mehrstimmigkeit in Takt 194. Allerdings steht Mahler mit solchen pianistischen Zumutungen nicht allein: In Robert Fuchs’ 1878 publizierter Erster Violinsonate op. 20 etwa findet sich kurz vor Ende der Exposition des Kopfsatzes eine ganz ähnlich – wenn auch nicht ebenso dramatisch weit – auseinanderlaufende Zweistimmigkeit in der linken Hand, die mehrfach wie selbstverständlich die physiologischen Gegebenheiten des Klavierspiels ignoriert (Bsp. 2). Kurz darauf gestaltet Mahler in seinem Überleitungsblock das Erreichen der Tonika-Durparallele als fünfstimmiges Jubilieren (T. 198–200): Hier nun könnten Streicher und Klavier, vielleicht erstmals, zu einer gemeinsamen Textur verschmolzen sein, was mit dem Freudengestus semantisch bestens korrespondieren würde. Es ist gut vorstellbar, dass in diesem ganzen Abschnitt (T. 190–201) die in der überlieferten Version tiefste Streicherstimme ursprünglich der Viola zugeteilt war, denn sie steigt hier nirgends unter c herab, sodass auch hier die eigentliche Cellostimme in den Klavierbass gewandert wäre (Bsp. 3). Genau solche Vorgänge sind zu erwarten, wenn ein Klavierquintett für eine Aufführung ohne Cello bearbeitet werden muss. 15 Klaus Hinrich Stahmer, „Mahlers Frühwerk – eine Stiluntersuchung“, in: Form & Idee in Gustav Mahlers Instrumentalmusik, hg. von dems., Wilhelmshaven 1980, 9–29, hier 16; vgl. Klaus Hinrich Stahmer, „Drei Klavierquartette aus den Jahren 1875/76. Brahms, Mahler und Dvořák im Vergleich“, in: Brahms und seine Zeit. Symposion Hamburg 1983, hg. von Constantin Floros, Hans Joachim Marx und Peter Petersen, Laaber 1984, 113–123.

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Beispiel 3: Mahler, Klavierquartettsatz, hypothetische Klavierquintettversion von T. 190–194.

In der Exposition ist dieser Abschnitt („Entschlossen“, T. 42–53) anders gestaltet. Das Cello fungiert dort zunächst nur als Orgelpunkt, den das Klavier in der linken Hand verdoppelt, während die rechte Hand die hypothetische ursprüngliche Viola-Stimme einstimmig ausführt. Erst nach vier Takten entsteht dann ungefähr jenes Satzbild, das wir aus der Reprise kennen: also eine Verdoppelung des polyphonen kontrapunktischen Satzes durch das Klavier, wobei das Cello noch immer nur als Orgelpunkt dient. Die fünfstimmige Dur-Passage (T. 50–53) zeigt verglichen mit der Reprise eine komplexere, innerhalb der Streicher stärker dissoziierte Stimmverteilung. Mit anderen Worten: Während dieser ganze Abschnitt in der Reprise ein starres und zum Schematismus neigendes Satzbild aufweist, bei dem das Klavier einen autarken vierstimmigen Streichersatz lediglich verdoppelt – was übrigens mit seinem historisierenden und ‚gelehrten‘ Kontrapunkt-Gestus gut übereinstimmt –, findet Mahler in der Exposition zu einer ausgewogeneren und f lexibleren Verteilung der Stimmen, d. h. zu einer wirklichen Interaktion von Streichern und entschlacktem Klavier, das übrigens dadurch erst spielbar wird. Wie diese Stelle in der vermuteten originalen Quintettversion ausgesehen haben könnte, ist unklar: Möglicherweise standen sich Klavier-Orgelpunkte und Streichquartettsatz zunächst unverbunden gegenüber, um dann bei Erreichen der Dur-Ebene in fünfstimmigem Jubel zu verschmelzen. Jedenfalls zeigt der Vergleich von Reprise und Exposition auch hier, dass Mahlers Kreativität und Geschicklichkeit zu Beginn des Satzes deutlich größer waren als gegen Ende. Indirekt mag man diesem Befund entnehmen, dass Mahler beim Schreiben des uns bekannten Autographs möglicherweise von einer Vorlage ausging, die an-

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ders besetzt war, die er in verschiedenen Stadien der Überarbeitung verschieden transformierte und an der er in der Reprise jedenfalls enger festhielt als in der Exposition. Allerdings gibt es auch in der Exposition genügend Stellen, die daran Zweifel wecken, dass Mahler – der bekanntlich bei dem Iglauer Konzert mit Schuberts Wanderer-Fantasie und einer Chopin-Ballade (vermutlich op. 23) auftrat und dementsprechend wusste, wie man ein Klavier kompositorisch behandelt und pianistisch bedient – den uns überlieferten Klavierpart überhaupt originär in dieser Gestalt ersonnen hat. So hat die linke Hand in den Takten 20–23 zwei polyrhythmische Linien zu gestalten, die sehr unbequem fast durchgängig mit kleinem Finger und Daumen gespielt werden müssen, weil sie bis zu einer Duodezime auseinander liegen. Hier wurde offensichtlich in das triolische Begleitmuster des Klaviers die ehemalige Cellostimme implantiert, und zwar um den Preis einer partiellen Unspielbarkeit. Schon in Takt 20 zeigt ja die fehlende Auf lösung des vorausgehenden Trillers auf dis (vgl. dagegen T. 69/70), dass hier in der linken Hand eine Manipulation des ursprünglichen Stimmverlaufs stattgefunden haben muss, der bis dahin als Parallelführung der Außenstimmen konstruiert war. Das Autograph weist in den Takten 21–24 eine tiefgreifende Korrektur der neuen Cello-Stimme auf (vgl. Abb. 1), welche die vorgesehene Oktavierung der Oberstimme in der linken Hand zunächst aufbricht (T. 21) und dann neu verlangt (T. 22–23) anstelle der ursprünglich vorgesehenen Koppelung mit der Viola (T. 23–24); dass Takt 24 des Cellos post correcturam ungefüllt bleibt (in den modernen Ausgaben wird eine Ganztaktpause stillschweigend ergänzt), ist wohl kaum Absicht, sondern zeigt eine gedankliche Leerstelle: Hier ist die Umverteilung der Streicherstimmen aus der hypothetischen Originalversion in eine Sackgasse geraten, weil sie in verschiedene Richtungen zugleich steuerte – die Mittelstimmen des Satzes sind in das Innere der Klavierakkorde verlagert, die Funktion von Viola und Cello schwankt unentschlossen zwischen eigenständigem Motivträger, Gegenstimme und Verdoppelung (Bsp. 4). Wohl aufgrund einer ähnlichen Verschränkung von Cello- und Klavierstimme zeigt sich der Klavierpart in den Takten 27–29 enigmatisch (Bsp. 5a): Der mit den Akkordrepetitionen der rechten Hand permanent kollidierende Melodiebogen auf g1 – ganz offensichtlich ursprünglich dem Cello als Kantilene anvertraut – kann in der linken Hand des Klaviers nicht einmal ansatzweise singend dargestellt werden, obwohl er als Unteroktave zur Violine eigentlich ebenfalls „sehr leidenschaftlich“ hervortreten müsste. Besser spielbar, aber ebenso wenig gesanglich ist das von der linken Hand ausgehaltene einsame e 1 in den Takten 72 und 73 (Bsp. 5b), neben dem die Zweiklänge der darüber und dann darunter liegenden rechten Hand merkwürdig unverbunden stehen; das alles könnte ja auch bequem von einer Hand allein angeschlagen werden. Es ist also auch hier gar kein 339

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Beispiel 5: Mahler, Klavierquartettsatz, oben: T. 27–29 (nur Klavier); unten: T. 72–73 (nur Klavier).

wirklicher Klaviersatz erkennbar, sondern erneut eine reichlich ungeschickt ins Klavier operierte Streicherstimme. Als misslungene Operation müssen dann auch die Takte ab 84 bezeichnet werden (Bsp. 6): In der linken Hand des Klaviers wird der unzweifelhaft mit dem Cello verbundene Orgelpunkt D zweistimmig mit dem Kernmotiv kombiniert, dessen Ausführung dem Pianisten nun zwingend eine Dezimenspannung abverlangt, da Pedalgebrauch sich verbietet. Es scheint, als könnte das Kernmotiv hier ursprünglich von der Viola gespielt worden sein, da die überlieferte Bratschenstimme in dieser ganzen Passage (T. 83–91) außergewöhnlich hoch liegt, also vermutlich im Original der 2. Violine anvertraut war. Die in der autographen Notierung seltsam zwischen geraden und Triolenachteln schillernde Oberstimme der 340

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Beispiel 6: Mahler, Klavierquartettsatz, T. 84–86.

rechten Hand ab Takt 85 mutet ebenfalls wie das Ergebnis einer Übertragung von Streicher-Elementen (Melodik in geraden Achteln) in die triolische Begleitung des Klavierparts an. Noch dazu erscheint im Autograph der tautologische Hinweis „trem[ol].“ bei den hier singulär erscheinenden Tremolo-Oktaven im Klavierbass (T. 88–90) – sicherlich keine redundante Spielanweisung, sondern ein Hinweis darauf, dass Mahler an dieser Stelle eine kompositorische Entscheidung im Moment der Niederschrift festhielt, und das heißt wohl: während der modifizierenden Übertragung aus der Quintett-Vorlage. Die dadurch entstandenen Ungereimtheiten reißen nicht ab. In Takt 91 greifen die Linien von rechter und linker Hand ungeschickt mit Tonverdoppelungen ineinander, vermutlich da die Grundidee einer oktavierenden Verstärkung der absteigenden Streicher mechanisch und gemeinsam mit der Übernahme der originären Cello-Stimme umgesetzt wurde. In den Takten 92–96 zeigt sich, dass der Verlust einer Streicherstimme dann nicht vollständig aufgefangen werden konnte, wenn das Klavier zu sehr mit eigenem Material (hier Akkordbrechungen) beschäftigt ist (Bsp. 7): Ein mutmaßlich in vier Oktaven geführtes Unisono wird in Takt 93 nur noch teilweise realisiert, denn die Oktavlage der originalen 2. Violine (in T. 92 deutlich genug vorbereitet von der jetzigen Viola) fehlt ganz, während sie in Takt 95 wieder durch die Viola übernommen wird; das Cello hingegen wurde möglicherweise eine Oktave nach oben transponiert, wie der abrupt und stimmführungswidrig angesprungene Zielton A in Takt 94 zeigt, der allerdings als Ausgangston für die imitative Motivwiederholung auch zwingend tief liegen muss (im Autograph wurde das passende a ausgestrichen und zu A korrigiert). Lag hier am Ende die Idee eines Wechsels von Oberstimmen und Unterstimmen zugrunde, die dann merkwürdig unausgegoren mit der eines kollektiven Unisonos verschränkt wurde? 341

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Not oder Tugend? Mahlers Klavierquartettsatz 92

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Beispiel 7: Mahler, Klavierquartettsatz, T. 92–96 (nur Streicher).

Das massive Unisono in den Takten 98–100 zeigt erstmals Doppelgriffe in der Violine und dann – im Autograph nachkorrigiert – in der Viola, womit de facto eine Vierstimmigkeit des Streichersatzes (wieder)hergestellt ist. Darüber hinaus bewegen sich Viola und Cello in unnatürlich hohen Lagen, jedenfalls wenn man bedenkt, dass die Violine in etwa derselben Lage positioniert ist, wobei das Cello im Autograph sogar nochmals eine Oktave höher notiert war (bis d3 – vermutlich in oktavierend zu lesendem Violinschlüssel), was nahelegt, dass beide die originalen Stimmen von 2. Violine bzw. Bratsche übernommen haben könnten und die eigentliche Cellostimme erneut in den Klavierbass gewandert ist. Ein wahres Durcheinander bietet sich in der anschließenden Passage ab Takt 102. Das Kernmotiv wird hier in Streichern und der linken Hand des Klaviers enggeführt, zugleich erklingt über dem triolischen Begleithintergrund ein aufsteigender Terzgang, der als Oberstimmenmelodie die harmonische Entwicklung vorantreibt. In einer Quintettversion könnte dem Cello entweder gemeinsam mit den anderen Streichern das Kernmotiv anvertraut gewesen sein – oder aber diese Oberstimme. Für Letzteres spricht, dass die zweistimmig notierte Verbindung von Begleitachteln und Oberstimme in der rechten Hand des Klaviers viele Merkwürdigkeiten aufweist, speziell dort, wo sie mit Balkensetzung bis in das untere System reicht. Von fataler Ungeschicklichkeit ist die Überlagerung der repetierten Begleitakkorde der linken Hand mit dem akkordisch ausgeführten Motivkern in den Takten 104 und 108, wo bis zu drei von vier Akkordtönen beiden Händen zugleich zugewiesen werden. Selbst wenn man eine hektisch und unter Zeitdruck ausgeführte Werkgenese konzedieren möchte, kommt diese Stelle einem Offenbarungseid nahe. Wie konnte Mahler angesichts seiner pianistischen Kenntnisse und Fähigkeiten derartigen Unsinn schreiben? Zu vermuten ist also eine Verschränkung von ursprünglichem Klaviersatz (darunter sicherlich die perkussiven Begleitakkorde) mit Elementen des Streichersatzes, der möglichst vollständig verdoppelt werden sollte. Dass derartige Stellen pianistisch viel sinnvoller eingerichtet werden können, zeigt ein sehr ähnlich konstruierter Passus aus dem langsamen Satz von Griegs Cellosonate op. 36 (1882, Erstdruck 1883), der bestens in den Händen liegt (Bsp. 8). 342

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Christoph Flamm 104

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Beispiel 8: oben: Mahler, Klavierquartettsatz, T. 104–105 (nur Klavier); unten: Edvard Grieg, Cellosonate op. 36, 2. Satz, T. 33–34 (nur Klavier).

Im Autograph passierte Mahler in dieser Passage (T. 109–114) noch zusätzlich ein gravierender Lapsus: Er wies dem untersten System in dieser Akkolade versehentlich das Cello zu, nicht die linke Hand des Klaviers, und musste den Fehler mit umständlicher Beschriftung und großem „N.B.“ korrigieren. Passieren konnte das vermutlich, weil er bei der Abschrift von der Vorlage standardmäßig zunächst die Cellostimme in die linke Hand des Klaviers übertrug (Abb. 2). Wie die kritischen Berichte der modernen Editionen zeigen, ist das Autograph voll von kleineren Notationsfehlern wie am Taktende abbrechenden oder zu Taktbeginn frei einsetzenden Bögen vor allem in Viola, Cello und in der linken Hand des Klaviers:16 Phänomene, die sich weder beim Entwerfen eines Werkes noch bei der Abschrift einer unveränderten Vorlage einstellen, wohl aber bei der taktweisen Ad-hoc-Neuverteilung von vorgegebenem Material auf andere Stimmen. In dieser Hinsicht ist auch ein Blick auf die in den Takten 139–143 schlampig (fehlende Schlüssel) und inkonsequent ausgeführte Verdoppelung der hohen Streicher durch das Klavier erhellend, wobei ein weiteres Mal die Viola so hoch geführt ist, dass sie bestens einer 2. Violine entsprechen könnte. Sind die bisher vorgebrachten Indizien ausreichend, um die Hypothese einer umgearbeiteten Quintettvorlage zu bestätigen? Nicht unbedingt. Zum einen bleibt die Frage unbeantwortet, was vom Klavierpart denn übrig bliebe, wenn alle als Übernahme der originalen Cello-Stimme vermuteten melodischen Elemente wieder entfernt würden (ganz abgesehen davon, dass sie auch originär als Verdoppelung des Cellos präsent gewesen sein könnten). Zum anderen gibt es Satzbilder, die durchaus den Eindruck einer absolut intakten, authentischen 16 Etwa in den Takten 9, 23, 29, 37, 42, 47, 76, 80, 81, 86, 105, 115, 135, 148, 173, 181, 191, 194, 202, 212.

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Not oder Tugend? Mahlers Klavierquartettsatz

Abbildung 2: Mahler, Klavierquartettsatz, Autograph, S. 8, T. 106–112. © The Morgan Library & Museum. Bequest of Mrs. Wolfgang Rosé. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

Klavierquartett-Struktur bieten, besonders die Takte 54–66 bzw. 202–214, 116– 131 sowie 174–187 bzw. 223–226. Werfen wir einen Blick auf diese drei Passagen, die im Klaviersatz jeweils Akkordbrechungen aufweisen, welche per se als Klavier-idiomatisch gelten können, hier bei Mahler aber bezeichnenderweise weitere Merkwürdigkeiten produzieren. Die durch beide Hände laufenden Akkordbrechungen in den Takten 54–66 (202–214) sind schon auf den ersten Blick seltsam inkohärent (Bsp. 9). Zwar liegen in der linken Hand die Nonen- und Dezimengriffe zumeist gut und ihre Basstöne 344

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Christoph Flamm 54

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Beispiel 9: Mahler, Klavierquartettsatz, T. 54–64 (nur Klavier).

können bei kleinerer Handspanne problemlos mit dem Pedal gehalten werden. Doch die rechte Hand schwankt unentschlossen zwischen zwei diversen Mustern, deren Linie teils rein einstimmig nach einer Achtelpause einsetzt, teils mit Verdichtung zu Zweiklängen nach zwei Achtelpausen. Mahlers Autograph zeigt in Form zahlreicher Überarbeitungsspuren enorme Schwierigkeiten, sich zwischen Zweiklängen (Terzen) und einfacher Achtellinie zu entscheiden, und das Ergebnis ist von bizarrer Unbequemlichkeit: Sowohl die oftmals übermäßige Weite der Achtellinie in der rechten Hand als auch die widersinnige Doppelung einzelner Töne durch beide Hände zeigen, dass dieser Klaviersatz erneut das unglückliche Ergebnis einer Kombination von diversen Einzelelementen sein muss. Die in den Takten 58–61 in der linken Hand notierte Mehrstimmigkeit (in der Reprise T. 206–209 weniger konsequent) ebenso wie die wiederum kaum anders als hilflos zu bezeichnende Zweistimmigkeit in Takt 64 (T. 212) stützen die Vermutung, dass auch hier im Hintergrund eine Cello-Stimme verborgen ist, auch wenn sie in den Akkordbrechungen zuvor weniger leicht zu erahnen ist: Womöglich waren die Dezimengriffe ursprünglich dem Cello anvertraut, was einem typischen Muster entsprechen würde. Die auf das Ende der Durchführung zusteuernde Passage in den Takten 116– 131 wirkt satztechnisch wesentlich kohärenter. Sowohl die Sechzehntel-Figur der rechten Hand als auch die in der linken Hand liegende Verbindung des Kernmotivs mit dem Oktav-Orgelpunkt sind für das Klavier ausgesprochen adäquate Lösungen. Mit Blick auf die Streicher könnte dennoch auch hier der Gedanke keimen, dass ursprünglich eine Quintettbesetzung zugrunde lag: Die Viola 345

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Not oder Tugend? Mahlers Klavierquartettsatz

liegt tendenziell hoch (wiederum verglichen mit der Violine, die sich abgesehen vom Anfangston f 3 bis kurz vor Schluss nur in mittlerer Lage bewegt), sodass eine Ausführung durch eine 2. Violine zumindest nicht undenkbar wäre. Was aber wäre dann der ursprünglichen Bratschenstimme zugeteilt worden? Sollte das Orgelpunkt-A des Cellos unverändert geblieben sein, müsste sich die Bratsche an der Engführung des Kernmotivs beteiligt haben, wie sie jetzt in der linken Hand des Klaviers zu finden ist. Der Umstand, dass das Ende des Orgelpunkts in Takt 128 im Autograph falsch notiert wurde (das Cello hält den Ton bis Taktende aus, während er im Klavierbass bereits in der Taktmitte weitergewandert ist), belegt auch hier eine Unsicherheit (oder einen Lapsus) in der Zuordnung von Cello und Klavierbass, die meines Erachtens daher rührt, dass genau hier permanent Neuverteilungen im Zuge der Reduktion von Quintett- auf Quartettbesetzung notwendig waren. Diese Unsicherheit tritt schlagend zutage in der Kulmination in den Takten 132–135, wo die musikalischen Schichten im Autograph in der Vertikalen so eklatant verschoben sind,17 dass eine exakte Zuordnung – auch wegen der zahlreichen Tonkollisionen im Klaviersatz – eigentlich nicht mehr möglich ist, sondern in den Neuausgaben Kompromisslösungen gefunden werden müssen. Nebenbei erwähnt, füllen die Doppelgriffe der Viola hier wieder den Streichersatz zur Vierstimmigkeit auf, und das in einer Lage, die eher einer 2. Violine entspräche. Spieltechnisch im Klavier kaum zu bewältigen sind dann die SechzehntelPassagen in den Takten 174–187, weil die arpeggierten Akkordtöne oft zu weit auseinander liegen, um wie vorgesehen gehalten werden zu können, was besonders dann unangenehm wird, wenn die Überbindungen der unteren Stimmen in der rechten Hand jedenfalls eine gebundene Ausführung der melodischen Umspielungen im Diskant nahezu verunmöglichen. Dabei hätte Mahler sich an einem analogen Muster im Kopfsatz von Frédéric Chopins Klaviersonate in h-Moll op. 58 (1844, Erstdruck 1845) orientieren können, das auch dort nicht einfach zu spielen, aber besser an den Möglichkeiten der rechten Hand orientiert ist (Bsp. 10). Trotz dieser Einschränkung erscheint dieser nur in der Reprise auftauchende Formteil als derjenige, der dem Ideal eines authentischen Klavierquartettsatzes am nächsten kommt. Die Akkordbrechungen der linken Hand im Klavier bilden, ähnlich wie in den Takten 54–66, zwar denkbare Cello-Muster, doch bewegt sich die Cellostimme des vorliegenden Quartettsatzes so frei zwischen harmonischer Stütze und motivischem Akteur im Stimmengef lecht, so frei auch in Bezug auf die Lagen, dass eine simple Verlagerung der originalen Cello-Stimme ins Klavier bei gleichzeitiger Umdisposition der 2. Violine und der Viola nicht 17 Wiedergabe der originalen Notierung im Kritischen Bericht der Ausgabe Mahler, Klavierquartett a-moll, 27 bzw. 30.

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Christoph Flamm

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Beispiel 1: Richard Strauss, Salome, Beginn, T. 1–8 (Salome. Drama in einem Aufzug nach Oscar Wildes gleichnamiger Dichtung op. 54, hg. von Claudia Heine, Mainz 2019 (= Werke. Kritische Ausgabe Serie I, Bd. 3/1). © Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags Dr. Richard Strauss (Wien) in Verbindung mit Boosey & Hawkes, Edition Peters Group, Schott Music.

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steht, so heißt es in der Partitur, „hinter der Scene“, und zwar „auf der Seite, von der Salome auftritt“. Wo sich Salome befindet, weiß der Zuschauer dadurch, dass Narraboth in ihre Richtung blickt. Und genau aus dieser Richtung kommt die klangliche Krönung des Cis-Dur-Klangs. Das alles hat scheinbar nichts mit dem Mond zu tun, der musikalisch immer noch zu fehlen scheint. Wo sich der Mond in der Partitur befindet, lässt sich jedoch erkennen, wenn man weiß, dass Strauss hier in Schichten komponiert, wie er es auch später häufig in seinen Opern machen wird. Einerseits greift er topisch auf die Operngeschichte zurück, indem er mit minimalen Mitteln eine exotistische Atmosphäre schafft. Andererseits exponiert er zwei zentrale musikdramaturgische Mittel, die auf Personen bezogen sind: das Salome-Motiv und die mit Salome verbundene Tonart. Drittens aber wird in der Tat beides eingerahmt durch den Mond. Man muss sich dazu klar machen, dass Strauss schon ausweislich seiner Tondichtungen wahrscheinlich der begabteste musikalische Illustrator der Musikgeschichte war, aber es ist nicht zu übersehen, dass ihm Illustrationen dann am leichtesten fielen, wenn sie mit Aktionen verbunden waren. Vermutlich ist der Beginn des Zarathustra der spektakulärste Sonnenaufgang der Musikgeschichte – aber es ist eben der Sonnenaufgang, der Durchbruch der Sonnenstrahlen, mithin eine Bewegung, die musikalisch nachgezeichnet wird. Die überzeugendste stillstehende, unbewegliche, über der Wüste f lirrende Sonne hat nicht Strauss vertont, sondern Sergej Prokof ’ev in seiner Skythischen Suite. Sucht man in Salome nach der Bewegung des Mondes, so tritt diese in der Beschreibung des Pagen zu Tage: Die Mondscheibe sieht aus, wie eine Frau, die aus dem Grab aufsteigt. Das ‚Aufsteigen‘ ist gewissermaßen das Bild, das Strauss braucht. Und wie das Aufsteigen geschieht, beschreibt der Page ebenfalls. Die Mondscheibe „gleitet langsam dahin.“ Die dritte Schicht des Beginns der Salome ist denn auch eine Strauss’sche Illustration des Mondes. In den ersten sieben Takten der ersten Flöte bzw. den ersten acht Takten der zweiten Violine findet man eine langsam chromatisch aufsteigende Linie: in der Flöte in ganzen Noten, in den zweiten Geigen in einem jeweils halbtaktig unterteilten tremolo con sordino (vgl. Bsp. 1). Diese Bewegung nimmt harmonisch keine Rücksicht auf das Eintreten des Cis-Dur, sondern verwendet beharrlich den für die Melodielinie passenden Ton, sodass sich zum Cis-Dur-Akkord hier ein ais ergibt. Und es ist eben eine Bewegung, die sich strukturell von den Halteton-Akkorden der anderen Instrumente unterscheidet. Gleichzeitig aber ist die aufsteigende melodische Linie seltsam paradox: eine Abfolge von halben Noten ist rhythmisch nur minimal strukturiert. Und diese Abfolge ist zugleich Bewegung und Klangf läche, denn das Tremolo wird eher als strukturierte Klangf läche denn als Bewegung wahrgenommen. So verschwindet der Mond zugleich 417

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Zum Mond in Strauss’ Salome

mit seinem Auftreten musikalisch eher als dass er auffällt: als eigenständiges Element wird er nicht gehört, aber der Effekt bleibt wahrnehmbar und wird von del Mar als „verschleiert“ und von Roese als „Stimmung“ wahrgenommen. Nun ist es durchaus ungewöhnlich, dass Strauss eine Illustration so komponiert, dass sie nur mittelbar wahrgenommen werden kann und nicht drastisch wirkt. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: der Mond ist in Salome Projektions­ f läche, nicht Protagonist, er ist nur passiv vorhanden, stellt allerdings in dieser Passivität gerade das stabile Element der szenischen Handlung dar. Der Mond darf darum, wenn Strauss seiner eigenen musikalischen Dramaturgie folgen will, musikalisch nicht hervortreten. Sehr wohl ist der Mond bzw. seine Darstellung aber geeignet, die disparaten musikalischen Schichten des Salome-Beginns zusammenzuhalten. Auch wenn der Zuhörer es vermutlich bewusst nicht wahrnimmt, sind es die suggestive chromatische Linie und das ebenso suggestive gleichförmige Violin-Tremolo, welche die ungewöhnliche Klarinettenmelodik, das nur als Farbe verwendete cis-Moll und das musikalisch unmotiviert erscheinende Cis-Dur quasi als Hintergrundklammer zusammenhalten und auch während des folgenden Dialogs zwischen Narraboth und dem Pagen den musikalischen Hintergrund-Zusammenhang garantieren, vor dem dann das Salome-Motiv mit der musikalischen Illustration der tanzenden Füße der Prinzessin eingefügt werden kann. Der dramaturgische und musikalische Zweck des ‚Mond-Motivs‘ (und man kann darüber diskutieren, ob es ein Motiv oder nur eine Struktur ist) ist es, im Hintergrund zu bleiben, dort aber immer wieder aufzutauchen – unauffällig, aber genauso präsent wie der Mond auf der Bühne. Entscheidendes Merkmal des Mond-Motivs ist der chromatische Aufgang verknüpft mit dem Violin-Tremolo. Wenn Salome den Mond erblickt wird beides zu einer Linie über drei Oktaven hinweg verknüpft (Bsp. 2):

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Beispiel 2: Salome, Ziffer 29+6 bis 30-5, Violine I.

Später allerdings wird das Motiv dann auf eine Länge von nur knapp über zwei Takten verkürzt, bei Salomes „Gewiss ist er keusch wie der Mond“ (Bsp. 3). Gerade an diesem Beispiel lässt sich erkennen, wie unauffällig das Motiv ist, denn es entwickelt sich nahtlos aus den vorangegangenen Tremoli der ersten Violinen auf einer Tonhöhe und endet auf die beginnenden Tremoli der zweiten Violinen. Dennoch verleiht die kurze chromatische Figur dem Wort „Mond“ einen f limmernden Akzent, weil über ihr das as der Singstimme lang ausgehalten wird. 418

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Beispiel 3: Salome, Ziffer 79-6 bis 79+1, Stimmenauszug.

Nun ließe sich einwenden, dass Streicher-Tremoli in der Salome sehr häufig vorkommen, man also quasi unweigerlich immer wieder einmal solche Tremolo-Figuren finden wird, die daher viel zu uncharakteristisch sind, um in irgendeiner Weise mit der Mond-Darstellung verknüpft zu werden. Es ist in der Tat richtig, dass Strauss aus naheliegenden dramatischen Gründen in der Salome das Tremolo insbesondere der Violinen häufig verwendet, aber er verwendet es in der Regel so, dass die Violinen einen über längere Zeit ausgehaltenen Ton oder ganze Akkorde – auch diese über längere Zeit ausgehalten – im Tremolo spielen. Eine chromatische melodische Bewegung während des Tremolos, selbst wenn sie nur wenige Takte umfasst, ist äußerst selten. Sie kommt neben den zitierten Stellen nur noch dreimal vor. Am auffallendsten ist die Stelle in Beispiel 4, an der Herodes befiehlt: „Manassah, Isachar, Ozias, löscht die Fackeln aus. Verbergt den Mond… verbergt die Sterne!“ (auffahrend) œ #œ œ Œ bœ ™ bœ bœ Herodes & C ‰ J Man -nas - sah,

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Beispiel 4: Salome, Ziffer 354-2 bis 354, Stimmenauszug.

Dass diese wenigen Töne dann in Ketten von auf- und abschwingenden Sechzehnteln aufgelöst werden, könnte man als musikalischen Ref lex auf das Verschwinden des Mondes auffassen. Allerdings findet sich die Regieanweisung „Der Mond verschwindet“ bereits zwei Takte zuvor, weshalb übrigens Herodes Anweisung – abgesehen von naturgesetzlichen Hinderungsgründen – wenig Sinn macht. Und im Übrigen erscheinen die wenigen Töne in einer tiefen Lage, sodass sich die Annahme eines Bezugs zum Mond verbietet. 419

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Zum Mond in Strauss’ Salome

Ein, allerdings nicht exaktes, chromatisches Tremolo findet man vorher in Salomes Monolog zwischen den Worten „und wenn ich dich ansah, hörte ich geheimnisvolle Musik“ und „Oh! Warum hast du mich nicht angesehen“ (Bsp. 5):

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Beispiel 5: Salome, Ziffer 339 bis 340, Stimmenauszug.

Man könnte dies durchaus mit der früheren Textstelle Salomes über Jochanaan „Gewiss ist er keusch wie der Mond“ in Zusammenhang bringen. Der zu Salomes Worten „Warum hast du mich nicht angesehen, Jochanaan“ im Schlussmonolog erfolgende tremolierende Abgang der Violinen auf der folgenden Partiturseite wäre dann gewissermaßen im wörtlichen wie im graphischen Umkehrschluss die Entlarvung des Jochanaan als unkeusch (Bsp. 6):

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Beispiel 6: Salome, Ziffer 340+1 bis 340+5, Stimmenauszug.

Der chromatische Aufgang kam in der Tat auch in der Musik zur ersten Begegnung zwischen Jochanaan und Salome vor, nämlich vor dem Text „Laß mich deinen Mund küssen, Jochanaan!“ Auch hier ist die chromatische Linie am Ende nicht ganz exakt (Bsp. 7):

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Viol. II

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Beispiel 7: Salome, Ziffer 136-3 bis 136, Stimmenauszug.

An dieser Stelle ebenso wie im Monolog Salomes ist vom Mond nicht die Rede, die Verbindung muss assoziativ über die Evokation der Keuschheit im Bild des Mondes durch Salome hergestellt werden. Sowohl ein solches assoziatives Vorgehen als auch die Beschränkung auf nur kurze Motive oder Motivpartikel, die eigentlich nur für den erkennbar sind, der die Partitur wirklich studiert, finden sich auch in anderen Werken von Strauss, sind also nicht ungewöhnlich. An anderen Stellen der Oper, an denen der Mond im Text angesprochen wird, erscheint er musikalisch nicht. Es handelt sich hier um die Herodes-Stelle „Wie der Mond heute nacht aussieht! Ist es nicht ein seltsames Bild? Er sieht aus wie ein wahnwitziges Weib, daß überall nach Buhlen sucht…“. Und auch zu Jochanaans „Der Mond wird werden wie Blut“ findet sich keine Musik, die eine Entsprechung zum Mond im Sinne des Beginns der Oper wäre. ***

Zusammenfassend lässt sich also sagen: Strauss hat am Beginn der Salome noch eine musikalische Konzeption für den Mond, die deutlich erkennbar ist. Er greift diese Konzeption aber nur gelegentlich und dann wieder nur im Zusammenhang mit Salome auf. Scheiterte also Strauss an der musikalischen Umsetzung des Mondes? Oder war der Mond bei ihm dramaturgisch anders konzipiert als bei Wilde? Für Salome ist der Mond „kühl und keusch“, er ist „wie die Schönheit einer Jungfrau, die rein geblieben ist“, eine Keuschheit und Reinheit, die Salome auch dem Propheten Johannes unterstellt, den sie mit dem Mond vergleicht, wenn sie ihn als „keusch“ und sein Fleisch als „kühl“ bezeichnet. Strauss konzentriert sich ganz auf diese Projektion Salomes. Der Mond ist das, was weder Salome noch der Prophet sind: keusch und natürlich. In der Oper von Strauss ist der Mond nicht die Projektionsf läche der wichtigsten Protagonisten. Strauss lässt keinen Zweifel daran, dass Herodes seine Ängste und nicht den Mond meint, wenn er vom wahnwitzigen Weib spricht, ohne dass musikalisch auf den Mond Bezug genommen würde. Und am Beginn der Oper setzt das Mond-Motiv nicht zufällig gleichzeitig mit dem Salome-Motiv ein. Im Gespräch Narraboths und des Pagen steht Salome im Mittelpunkt, im ersten Cis-Dur-Akkord verweist die Musik wie in einer 421

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Zum Mond in Strauss’ Salome

Teichoskopie ebenfalls auf Salome. Im Mond-Motiv aber ist sie bereits präsent, denn der Mond ist, zumindest in Strauss’ Oper, das Symbol der Keuschheit, einer Keuschheit, die am Anfang der Oper auch Salome zu eigen ist. Diese Keuschheit verschwindet jedoch sehr schnell aus der Bühnenhandlung. Sie ist der Hintergrund, vor dem die Dekadenz der Handlung erst zum Vorschein kommt, jenes emotionalen Strudels, der Salome von der unschuldigen Kindfrau zum, in den Worten Herodes’, „Weib“ macht (wodurch sie sein Interesse verliert, gefährlich wird und darum handlungslogisch getötet werden muss). Es ist darum kein Wunder, dass Strauss auf das musikalische Motiv des Mondes nicht mehr zurückkommen kann. Es ist nicht nur die Tatsache, dass bei Strauss in der Regel nur handelnde Personen ein Leitmotiv erhalten, die dazu führte, dass der Mond kein Leitmotiv erhält, wie Albert Gier bemerkte.6 Denn die Schönheit Salomes erhält im Cis-Dur sehr wohl ein Leitmotiv, wenn auch nur ein harmonisches. Vielmehr ist das Leitmotiv des Mondes eben, dass er nicht als Leitmotiv erscheint und so gewissermaßen im Laufe der Oper durch seine auffallende musikalische Abwesenheit glänzt.

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Albert Gier, Salome: Literatur wird Oper, Vortrag in der Staatsoper unter den Linden, Berlin, 3. Januar 2000, http://www.opus-bayern.de/uni-bamberg/volltexte/2005/12 (29.1.2019).

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„große Erfahrung in Allem, was das Orchester betrifft“ Richard Strauss über Instrumentation Klaus Aringer Im November 1905, die Publikation von Hector Berlioz’ Instrumentationslehre in der Überarbeitung von Richard Strauss stand unmittelbar bevor, formulierte Ferruccio Busoni in der Zeitschrift Die Musik elf „unveränderliche Regeln“ zur Instrumentation.1 Unter Stichworten wie „absolute Orchestration“, „Instrumentierung als Arrangement“, das „Orchester als einziges Instrument“, „besondere Effekte“, in Kapiteln zu Lagenstaffelungen, Pedalwirkungen, dynamischer Abstufung und klanglicher Proportion und Gedanken über die Orchesterkomposition als öffentliche Musik stellte Busoni allgemeine Prinzipien der Instrumentation auf, die als richtig und gültig anerkannt von den Komponisten zukünftig respektiert werden sollten. Strauss war von derartigen Verallgemeinerungen und theoretischen Abstraktionen des Gegenstandes Instrumentation, wie sie Busoni thesenhaft formulierte (und von Strauss in extenso ausgeführt erwartete), weit entfernt, als er wenige Jahre zuvor auf Verlegerbitte mit der Revision von Berlioz’ Standardwerk aus dem Jahre 1843/44 begonnen hatte. Er behielt Berlioz’ Grundkonzeption bei, um sie zu kommentieren und mit neuen Musikbeispielen zu bereichern. Damit schrieb er jene Aktualisierung des Buches fort, die Berlioz selbst noch 1855 durch seine „Nouvelle Edition“ eingeleitet hatte. ‚Instrumentationslehre‘ bedeutete für Strauss eine empirisch-künstlerische Disziplin, die er von einer „mit wissenschaftlicher Sorgfalt“ 2 erarbeiteten Darstellung, wie sie François-Auguste Gevaerts Nouveau traité d’instrumentation (1885) darstelle, mit Bedacht absetzte. 3 Anders als seine 1927 formulierten Dirigier-Maximen („Zehn goldene Regeln. Einem jungen Kapellmeister ins Stammbuch geschrieben“4), die ursprünglich scherzhaft für Hans Knappertsbusch formuliert worden waren, 5 bis heute aber als ernsthafte Überzeugungen gelesen werden, lassen sich Strauss’ 1 2 3 4 5

Ferruccio Busoni, „Etwas über Instrumentationslehre“, in: Die Musik 5 (1905/06), 168–170, zit. nach: ders., Von der Einheit der Musik, Berlin 1922, 73–77. Hector Berlioz, Instrumentationslehre, hg. von Richard Strauss, Leipzig 1905, [1–4], hier [1]. Vgl. Klaus Aringer, „‚Von den ‚dämonischen Mächten des Orchesters‘. Richard Strauss’ Vorwort zu seiner Neuausgabe der Instrumentationslehre von Hector Berlioz“, in: Kunst und Wissen in der Moderne. Otto Kolleritsch zum 75. Geburtstag, hg. von Andreas Dorschel, Wien 2009, 175–185. Richard Strauss, Betrachtungen und Erinnerungen, hg. von Willi Schuh, Zürich 1949, 46. Die ursprüngliche Fassung des Textes findet sich in Franz Grasberger (Hg.), Der Strom der Töne trug mich fort. Die Welt um Richard Strauss in Briefen, Tutzing 1967, 308–309.

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Instrumentationsgrundsätze umfassend nur aus seinen Partituren (auf die er ähnlich wie Richard Wagner immer wieder verwiesen hat6) erschließen. Wenn im Folgenden hier der Versuch unternommen wird, aus Strauss’ schriftlichen Annotationen zum Thema wichtige und übergeordnete Bereiche herauszufiltern, dann deshalb, weil sich in ihnen schlaglichtartig das Bewusstsein des Komponisten über einen zentralen Bereich des eigenen Tuns widerspiegelt.

Handwerkliche und ästhetische Positionen Strauss dürfte die Fundamente der Orchesterbehandlung zunächst durch seinen Vater kennengelernt haben, der ihm auch „eine Tabelle über den Umfang und die beste Lage der verschiedenen Instrumente“ gegeben haben könnte, wie Richard sie 1877 seinem Freund Ludwig Thuille empfahl, den Rest sollten beide (wie es damals üblich war) in „den Partituren der alten großen Meister“ 7 studieren. Zwischen 1875–80 hatte Strauss im Unterricht bei Hof kapellmeister Friedrich Wilhelm Meyer (1818–1893) 8 eigener Erinnerung nach „etwas Instrumentieren gelernt.“ 9 Hiervon zeugt in der als Arbeitsprobe erstellten Concertouvertüre in h-Moll (1876) der Vermerk „mit Hilfe des Herrn Kapellmeister Meyer instrumentiert.“10 Wenige Jahre später hatte Strauss bereits ein Bewusstsein über die spezifischen Unterschiede zwischen Bläser- und Streichersatz erlangt, wie seine Äußerungen aus dem Jahr 1884 über sein 1881 komponiertes Opus 7 zeigen: Die Serenade [für Streicher op. 6] von Weingartner verdient das ihr gespendete Lob in vollem Maße, diejenigen Kritiker, die sie der meinigen vorziehen, bedenken nicht, ein wieviel schwerfälligerer Apparat meine Besetzung gegenüber dem Streichorchester ist, wie einfach harmonisch und in dem Figurenwerk das Stück gehalten werden muß, um die Klangfülle der Bläser richtig wirken zu lassen.11

Jede Unterweisung auf dem Feld der Instrumentation12 ging damals von einer gewissenhaften Kenntnis der technischen Möglichkeiten und ästhetischen Wirkungen der Instrumente aus, dabei herrschte um 1900 unverändert der Grundsatz vor, dass die Streichinstrumente als Fundament des Orchesters die „mittlere und 6

„Was soll ich über meine ‚Idomeneobearbeitung‘ sagen, was nicht die Partitur schon klar und deutlich ausspricht?“ (Ebd., 338.) 7 Willi Schuh, Richard Strauss. Jugend und frühe Meisterjahre. Lebenschronik 1864–1898, Zürich 1976, 45. 8 Vgl. ebd., 39–40. 9 Richard Strauss, Späte Aufzeichnungen, hg. von Marion Beyer, Jürgen May und Walter Werbeck, Mainz 2016 (= Veröffentlichungen der Richard-Strauss-Gesellschaft 21), 251. 10 Franz Trenner, Richard Strauss Werkverzeichnis, München 1993, 38. 11 Willi Schuh (Hg.), Richard Strauss. Briefe an die Eltern 1882–1906, Zürich 1954, 48. 12 Vgl. Arrey von Dommer, „Instrumentirung“ in: H[einrich] Ch[ristoph] Koch’s Musikalisches Lexikon, Heidelberg ²1865, 457.

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normale Farbe“ vertraten,13 dem die Blasinstrumente seit der Romantik immer mehr individuelle Klangcharakteristiken hinzufügten. In der dadurch erzielten „Vermannigfaltigung des Ausdrucks“, der stärkeren „Ausbeutung koloristischer Mittel“14 sahen viele nicht nur eine Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten, sondern auch Gefahren: Das „Zurücktreten der Zeichnung gegen die Farbe“ oder genereller die „einseitige Ausbeutung der elementaren Faktoren des musikalischen Ausdrucks“ zuungunsten „streng formaler Gestaltung“15 betrachtete man mit Unbehagen. Mit der Forderung nach dem rechten Maß im Gebrauch der orchestralen Ausdrucksmittel gingen Warnungen vor Übertreibungen einher. Franz Strauss hielt seinem Sohn, der bereits früh eine Neigung zu starker Bläserverwendung (speziell der Blechblasinstrumente) und Hervorhebung der nicht-thematisch geführten Stimmen zeigte, lange Zeit einen Orchestersatz entgegen, der einen maßvollen Einsatz der Bläser und eine klar vorherrschende Melodie propagierte. Entsprechende Äußerungen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Korrespondenz zwischen Vater und Sohn, sie reichen von sanften Mahnungen bis zu f lehentlichen Bitten. Nach dem Don Juan (1888) bat der Vater den Sohn vergebens, „künftig mit der Behandlung des Bleches etwas sparsamer und vorsichtiger“ und „nicht zu viel auf den äußeren Glanz und mehr auf den inneren Gehalt bedacht“ zu sein.16 Angesichts des Guntram-Orchesters f lehte er dann sogar: „Habe Mitleid mit den armen Orchestermitgliedern!!!“17 Das Phänomen Instrumentation stand für Strauss in einem komplexen, strikt praxisbezogenen Bezugsfeld, als dessen zentrale Elemente das Studium von Partituren, die Kenntnisse der Instrumente und die Praxis des Dirigierens anzusehen seien. Die Theorie der Instrumentation gründete sich lange auf die exempla classica der Orchestergeschichte und deren bevorzugte Bereiche wie die Oper, auch das Wissen um die Eigenarten und Leistungsfähigkeiten der Orchester­ instrumente zählte man noch zum propädeutischen Bereich der Theorie. Ein eingehenderes, tieferes Studium der Instrumente jedoch ermögliche Strauss zufolge jedem Komponisten nur der intensive Austausch mit den Instrumentalisten, das Eindringen in die „Präludiergeheimnisse des Stimmzimmers“ sowie eine enge Fühlung mit den „dämonischen Mächten des Orchesters“ als Dirigent.18 Als Sohn eines Orchestermusikers wusste er, wovon er sprach. Erst über das intime handwerkliche Wissen der Instrumentalisten und die psychologische Durchdringung des Orchesterverbandes gelange man als Komponist zu einer wahren Kenntnis 13 Hugo Riemann, Handbuch der Orchestrierung (Anleitung zum Instrumentieren) [1902], Berlin 41921, 29. 14 Ebd., 84. 15 Ebd. 16 Schuh (Hg.), Richard Strauss. Briefe an die Eltern, 121. Vgl. auch ebd., 134, 196, 228, und Grasberger (Hg.), Der Strom der Töne, 11. 17 Schuh (Hg.), Richard Strauss. Briefe an die Eltern, 192. 18 Berlioz, Instrumentationslehre, hg. von Strauss, [1].

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handwerklich-künstlerisch-ästhetischer Instrumentationsprinzipen. Im gleichen Sinne äußerte später Theodor W. Adorno über Gustav Mahler, dass diesem die tägliche Orchesterpraxis, das „Wie der instrumentalen Spielweisen samt jenen Anpassungen, Schwächen, Übertreibungen und Mattheiten“,19 in Summe also die Psychologie des Musikerverhaltens, als Quelle schöpferischer Inspiration gedient habe. 20 Für Richard Strauss war die kreativ-fortschrittliche Komponente bei der Erschließung neuer Klangwelten des Orchesters sowohl auf der komponierenden wie auch auf der reproduzierenden Seite zu finden: Regt so einerseits der ausübende Musiker durch seine Fertigkeit den schöpferisch Tätigen zu neuen Ideen an, so ist andererseits die geniale Idee, die jeder Ausführungsmöglichkeit vorerst zu spotten scheint, um dann nach und nach die strebsamen Techniker zu sich heraufzuziehen, im Verlaufe der bisherigen Entwicklung von noch größerem Einf luß auf den Fortschritt in der Handhabung der Instrumente und die Bereicherung ihrer Ausdrucksmöglichkeiten gewesen. 21

Diese bemerkenswert rigorose und modern anmutende Feststellung macht auf eine zentrale Umstellung aufmerksam: Im Gegensatz zur älteren, noch von Johannes Brahms respektierten Unterscheidung zwischen solistischer und ensem­ble­ mäßiger Schreibweise ging Strauss in der Nachfolge Wagners und Berlioz’ von einer Übertragung der „bisher nur im Solokonzert gewagten Virtuosentechnik auf alle Instrumente des Orchesters“ aus22 und stellte sich damit selbstbewusst gegen seinen Vater, der den Standpunkt vertrat: „Alles was so überaus schwer ist, kann nicht schön gebracht werden.“ 23 Die Streicherpartien seiner Oper Guntram charakterisierte Strauss gleichermaßen scherzhaft wie wahrheitsgetreu als „lauter Bratschen-, Cello- und Kontrabaß-Konzerte“, 24 und immer wieder ist im Kontext der Tondichtungen von den „kaum zu überwindenden Schwierigkeiten“ 25 einzelner Instrumentalpartien die Rede. Damit trug Strauss bekanntlich in der Nachfolge Richard Wagners auch wesentlich zur Etablierung von noch heute in der Instrumentalistenausbildung verwendeten „Orchester-Studien“ bei, in denen die schwierigsten Stellen zum Studium (nicht nur im Hinblick auf die Erlangung entsprechender technischen Fertigkeiten, sondern auch bezüglich des musikalisch 19 Theodor W. Adorno, „Mahler. Eine musikalische Physiognomik“, in: Die musikalischen Monographien, Frankfurt a. M. 1971 (= Gesammelte Schriften 13), 149–319, hier 179. 20 Bezeichnenderweise nahm Strauss 1944, als er den Till Eulenspiegel noch einmal abschrieb, eine „witzige Improvisation der Clarinetten meiner lieben Berliner Staatskapelle“ in seine Partitur auf (vgl. Schuh, Richard Strauss, 408). 21 Berlioz, Instrumentationslehre, hg. von Strauss, [2]. 22 Ebd., [6]. 23 Schuh (Hg.), Richard Strauss. Briefe an die Eltern, 192. 24 Ebd., 197. 25 Ebd., 157.

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einheitlichen Ensemblespiels) zusammengestellt sind. Die ersten dieser Studien wurden von Mitgliedern der mit Strauss’ Werken bestens vertrauten Hofopern­ orchester in Wien und Berlin herausgegeben. 26 Komponisten, die beim Unterrichten und der Abfassung von Lehrwerken über ihr eigenes Metier nachdenken, sind nicht selten nur beschränkt in der Lage, substanzielle Auskünfte zu geben. Den Faktor des Unbewussten, den Strauss bei Wagner konstatierte, gab es auch in seinem Schaffensprozess. Gerade hinsichtlich des Instrumentierungsvorgangs neigte er in Selbstaussagen dazu, die komplexen Verbindungslinien zwischen Komponieren und Instrumentieren zu einem primär von handwerklicher Technik getragenen Routine-Vorgang herunterzuspielen, was den sehr komplexen künstlerischen Prozessen bei der Ausfertigung der Partiturniederschrift nicht einmal ansatzweise gerecht wurde: Allem Anschein nach war Strauss von Jugend an so in den Umgang mit den dämonischen Mächten des Orchesters hineingewachsen und hat dann als Komponist und Dirigent eine solche Souveränität im Eingehen auf die Eigenschaften und Möglichkeiten des Orchesters erlangt, daß er absolut kein Gefühl mehr dafür hatte, welche Anstrengung die Transformation einer Klavierpartitur in eine dem Klangkörper des modernen Orchesters angemessene Orchesterpartitur eigentlich bedeuten müßte. Orchestration impliziert, was oft vergessen wird, eben keineswegs nur eine reiche Palette von schönen oder charakteristischen Klangfarben, die zum Leuchten kommen sollen; es geht mehr noch um eine Durchstrukturierung des Klangraums mit Hilfe von unterschiedlichen Instrumenten und Instrumentengruppen, um eine dem Klavier fernerliegende, dem Orchester aber immanente Mehrdimensionalität des Motivischen, und was der kompositorischen Parameter noch mehr sind. 27

Strauss’ enorme Metiersicherheit (die er in seiner 1895 verfassten Antwort auf den Fragebogen von Friedrich von Hausegger als „große Erfahrung in Allem, was das Orchester betrifft“, zusammenfasste28) beruhte auf einer außerordentlichen Vereinigung von Vorstellungskraft und Erfahrung; sie äußert sich auch darin, dass ihm „eine Trennung von Inspiration und Technik, von Erfindung und Arbeit“ in künstlerischen Dingen unmöglich war. 29 Indem er auf das traditionelle Postulat der Einheit von Komposition und Instrumentation pochte, brachte er zum Ausdruck, dass er Instrumentation als Faktor der Komposition, nicht als Äußerlichkeit auffasste. 26 Richard Strauss, Orchesterstudien aus den symphonischen Werken, Wien 1910, sowie ders., Orchesterstudien aus seinen Bühnenwerken, Berlin 1912. 27 Reinhold Schlötterer, „Zum Schaffensprozess bei Richard Strauss“, in: Richard Strauss. Autographen – Portraits – Bühnenbilder. Ausstellung zum 50. Todestag, München 1999, 23–37, hier 35 (Hervorhebung im Original). 28 Vgl. Walter Werbeck, Die Tondichtungen von Richard Strauss, München 1996, 534–539. 29 Vgl. Laurenz Lütteken, Richard Strauss. Musik der Moderne, Stuttgart 2014, 65–71.

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In diesem Sinne war sein Lob für das orchestrale Gewand („Orchesterraffinement“30) manch kritisch beurteilter Kompositionen (etwa von Berlioz und Emmanuel Chabrier31) ein durchaus zwiespältiges; gewissen Eigenarten der italienischen Orchestertradition bei Verdi wie dessen nicht „zur Nachahmung“ zu empfehlende Art der Trompetenführung32 oder dessen Paukenschreibweise waren prinzipiell nicht nach seinem „Geschmack“;33 sogar Mahler warf er „furchtbare Dummheiten“ bei dessen Instrumentation von Carl Maria von Webers Die drei Pintos vor, 34 und „mit schlecht instrumentierten Opern“ konnte er als Dritter Kapellmeister in München ohnehin „nie viel anfangen.“35 Brahms’ Dritte Sinfonie fand er in Berlin anfangs „so miserabel und unklar instrumentiert, daß man während des ersten und letzten Satzes nur zwei zusammenhängende viertaktige Gedanken […] fassen konnte.“36 Die Unterschiede seiner eigenen Art für Orchester zu setzen gegenüber Gustav Mahler, den Strauss sehr schätzte, umriss er 1945 in einer Art Rückschau so: [E]r wunderte sich stets über meine subtile, durchsichtige Polyphonie, die bei genauester Dynamik dem Einzelinstrument wichtige Stimmen anvertraute, während ich seinem etwas massig mit vielen Verdopplungen […] arbeitenden Orchester mit dick unterstrichener Oberstimme gegenüber meiner oft zu schwach unterstrichener [sic] Melodie meine concurrenzliche Anerkennung zollte. 37

Komposition und Instrumentation können in Aufführungen in unerwünschter Weise soweit auseinandertreten, dass sich das klangliche Gewand gewissermaßen zu verselbständigen vermag; dies musste Strauss bei einer Wiedergabe von Tod und Verklärung unter der Leitung von Arthur Nikisch im Jahr 1900 („Er hat eigentlich nur die Instrumentation dirigiert“ 38) ernüchtert erfahren.

Orchesterpolyphonie Wie bereits erwähnt verband Richard Strauss seine Art zu instrumentieren wesentlich mit einem bevorzugten Modell des Orchestersatzes. In der Nachfolge von Adolf Bernhard Marx (1795–1866)39 unterschied er zwei grundsätzlich verschiedene 30 Schuh (Hg.), Richard Strauss. Briefe an die Eltern, 136. 31 Ebd., 136, 131. 32 Berlioz, Instrumentationslehre, hg. von Strauss, 307. 33 Ebd., 397. 34 Hans von Bülow / Richard Strauss, „Briefwechsel“, hg. von Willi Schuh und Franz Trenner, in: Richard Strauss Jahrbuch 1954, hg. von Willi Schuh, Bonn 1953, 7–88, hier 60. 35 Strauss, Späte Aufzeichnungen, 120. 36 Schuh (Hg.), Richard Strauss. Briefe an die Eltern, 32. 37 Strauss, Späte Aufzeichnungen, 331. 38 Schuh (Hg.), Richard Strauss. Briefe an die Eltern, 232. 39 Vgl. Adolf Bernhard Marx, Die Lehre von der musikalischen Komposition, Bd. 4 [1847], Leipzig 21851, 389.

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Orchesterschreibweisen: auf der einen Seite den kompositionstechnisch anspruchsvolleren sinfonisch-polyphonen Orchestersatz, auf der anderen Seite den reicher mit koloristischen Ausdrucksmitteln versehenen dramatisch-homophonen Stil. Die Synthese beider Richtungen sah er als eine der wesentlichen Errungenschaften Richard Wagners an.40 Über die Verkürzung komplexer historischer Entwicklungen hinaus, die einer Kommentierung bedürften, regen diese Thesen doch auch heute noch zum Nachdenken an. Strauss’ prononcierte Ansicht, der polyphone Satz sei die „höchste Blüte des musikalischen Genies“ und seine Folgerung, er erst erschließe die „höchsten Klangwunder des Orchesters“,41 verdeutlichen seinen Standpunkt, den er im Alter in eine musikhistorische Linie einreihte.42 Eine differenzierte, möglichst weit getriebene Beteiligung aller Stimmen am thematischen Gefüge erzeuge nach Strauss jene dem Orchester eigene, charakteristische Klangfülle und „gleichmäßige Durchwärmung des Klangkörpers“, während „gleichgültig geführte Mittel- und Unterstimmen“ eine gewisse „Härte“, eine „Sprödigkeit des Kolorits“ erkennen ließen. Der „Orchestersatz mit seinen Möglichkeiten“ wurde ihm zum Abbild einer „denkbar weitreichenden (und damit kontrollierbaren) Verfügbarkeit sämtlicher musikalischer Parameter.“43 Das Verfahren des „reichsten polyphonen“ Stils sei abhängig von der technischen Entwicklung der Instrumente und vom Spielvermögen der Instrumentalisten. Es begünstige tendenziell eine für alle Instrumente gleichartige Schreibweise.44 Aus diesem Grund forderte Strauss von den Orchestermusikern neue und für sie völlig ungewöhnliche spieltechnische Dinge, aus demselben Grund auch stand er prinzipiell allen Neuerungen im Instrumentenbau offen und fördernd gegenüber. Als Protagonisten jener neuen Generation von Instrumententypen, die den „größten Fortschritt in der modernen Orchestertechnik“ ermöglicht hätten, nennt er das Ventilhorn, das sich am besten mit allen anderen Gruppen mische und vom Diskant bis zum Bass vielseitig verwendbar sei: „einzig in seiner Vieldeutigkeit und immer von besonders hervorleuchtender Wirkung.“45 Primär aus Gründen technischer Leistungsfähigkeit sympathisierte er auch sonst mit Instrumenten neuesten Bautyps, vor allem mit der französischen Oboe 46 und der 40 Berlioz, Instrumentationslehre, hg. von Strauss, [2]. 41 Ebd., Vorwort, [3]. 42 Vgl. Strauss, Späte Aufzeichnungen, 347, 352. 43 Lütteken, Richard Strauss, 69. 44 Im Unterricht sprach Strauss davon, das „ideale Thema […] solle möglichst von jedem Instrument gespielt werden können.“ (Kurt Stiebitz, „Richard Strauss als Lehrer“, in: Musik im Unterricht 43 [1952], 44–47, hier 46.) 45 Berlioz, Instrumentationslehre, hg. von Strauss, 279. 46 Vgl. Christian Schneider, „Fritz Flemming (1873–1947). Wegbereiter der französischen Oboe in Deutschland“, in: Tibia 1 (2002), 19–28; Geoffrey Burgess, „Richard Strauss, Fritz Flemming and the Internalization of the French Oboe“, in: Tradition und Innovation im Holzblasinstrumentenbau des 19. Jahrhunderts, hg. von Sebastian Werr, Augsburg 2012, 157–173.

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zylindrischen Boehm-Flöte, zu deren Durchsetzung nach dem Ersten Weltkrieg auch in den österreichischen und deutschen Orchestern seine Partituren wesentlich beitrugen.47 Strauss wusste (nicht nur durch die mahnende Worte des Vaters) freilich auch um die Kehrseite der polyphonen Satzweise, das unerwünschte Vorherrschen thematisch untergeordneter Stimmen und die damit verbundene „Verdunkelung“ der führenden Hauptstimmen, vor allem durch eine zu starke Präsenz der Blechbläser, die dem hörenden Erfassen entgegenstehen kann. Überhaupt setzt der ungewohnte Grad an polyphoner Durchformung des Orchestersatzes in seinen Opern eine neue Form der Balance voraus, die sich bei Orchestern erst nach gewisser Gewöhnung einstellt, weil „so complicierte Polyphonie erst nach Jahren, wenn [es] das Orchester schon fast auswendig kennt, ganz plastisch u. durchsichtig wird.“48

Retuschen und aufführungspraktische Änderungen Richard Wagners Maxime der „Deutlichkeit“, die Gustav Mahler zu seinem instrumentatorischen Credo erhob, wird von Strauss seltener thematisiert; sie spielte in seiner Dirigiertätigkeit eine stärkere Rolle als in seinem Orchestersatz, wie seine Reaktion auf die ersten Weimarer Probeneindrücke des Don Juan bezeugt: „Ich habe zu meiner Freude ersehen, daß ich wieder Fortschritte in der Instrumentation gemacht habe, alles klingt famos und kommt prächtig heraus, wenn es auch scheußlich schwer ist.“49 Spätere Retuschen, das Arbeiten an der Instrumentation, sind von wenigen Ausnahmen abgesehen (z. B. der grundlegenden Umarbeitung von Macbeth) für Strauss nicht charakteristisch. Er, der sich der Wirkung seiner Orchestrierung zumeist vollkommen sicher war und „Gedrucktes nicht gerne noch einmal neu“50 komponierte, nahm nur ausnahmsweise nachträgliche Korrekturen vor: wenn er wie in Guntram experimentiert hatte („eventuelle Änderungen kann ich ja bei den Proben machen“51) oder wenn sich die Textverständlichkeit im Nachhinein als gravierend verbesserungswürdig herausgestellt hatte. Dementsprechend änderte er Mitte Oktober 1939 die Passagen des „Hüters der Schwelle“ aus der Oper Die Frau ohne Schatten instrumentatorisch ab.52 Strauss akzeptierte in Einzelfällen sogar instrumentatorische Änderungen von findigen Orchestermusikern, die auf ihren Instrumenten einzelne Stellen im Sinne des Komponisten anders oder sinnfälliger 47 Vgl. Eckardt Haupt, Flöten – Flötisten – Orchesterklang. Die Staatskapelle Dresden zwischen Weber und Strauss, Köln 2011 (= Studien zum Dresdner Musikleben im 19. Jahrhundert 2), 175–195. 48 Strauss, Späte Aufzeichnungen, 62. 49 Schuh (Hg.), Richard Strauss. Briefe an die Eltern, 119. 50 Günter Brosche (Hg.), Richard Strauss – Clemens Krauss. Briefwechsel. Gesamtausgabe, Tutzing 1997, 241. 51 Schuh (Hg.), Richard Strauss. Briefe an die Eltern, 174. 52 Brosche (Hg.), Strauss – Krauss. Briefwechsel, 239, 241.

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herausbrachten. So setzte der Pauker der Wiener Philharmoniker Hans Schnellar (1865–1945) bei einer Probe der Symphonia domestica das Thema kurz vor der Coda (ein Takt nach Ziffer 142) über das notierte eintaktige Colla parte auf vier Takte ausgedehnt fort, um die Beweglichkeit seiner Pauken zu demonstrieren.53 Strauss, der Schnellar und seinen Erfindungen bereits in der Instrumentationslehre ein Denkmal gesetzt hatte,54 akzeptierte diese Variante, die bis heute bei den Wiener Philharmonikern gespielt wird.55 Er erinnerte sich damit an eine Retuschenpraxis Hans von Bülows, der am Beginn der Reprise des Kopfsatzes von Beethovens Achter Sinfonie (T. 190) die Pedalpauken unterstützend mitgehen ließ.56 Schlechte Orchester zwangen Strauss freilich mitunter zu Behelfslösungen.57 Bei älteren Werken des Repertoires hielt er Eingriffe in die Instrumentierung (Retuschen), wie sie durch die inzwischen gebräuchlichen Instrumententypen möglich geworden waren (mit Ausnahme von Bachs Partien für hohe Trompete und Horn und seinen Chorsätzen 58) für unangemessen und distanzierte sich im Alter von entsprechenden Eingriffen Wagners und Mahlers bei Beethoven („eine gewisse Primitivität gehört hier zum Stil“59). Auch die um 1900 noch üblichen Bläseraussetzungen des Generalbasses für größere Säle als Ersatz für Cembalo oder Orgel fand Strauss problematisch und bekannte in einem Brief an Philipp Wolfrum vom 5. Juli 1902, dass er „den Klavier- oder Cembaloklang im Orchester sehr liebe.“60 Einen diesbezüglichen Ausnahmefall unter der Repertoirewerken bildete das 1885 von ihm in Meiningen einstudierte Mozart-Requiem, wo er „aus der furchtbar putzigen Süßmeyerschen [sic] Instrumentation einiges herausstreichen“ musste, unter anderem „die Posaunen in ‚Lacrimosa‘ und ‚Quam olim Abrahae‘“.61

Balance Innerhalb der Instrumentengruppen wie auch im kompletten Orchester ist die korrekte Balance primär eine Angelegenheit von Besetzungsproportionen und Instrumentenwahl. Was im Bereich der Streicher die (nur vereinzelt in den Partituren 53 Vgl. das Faksimile der Stimme http://www.wienerpauke.at/cms/layout/picture.php?pic=/img/ db/pics/85.jpg (4.1.2019). 54 Berlioz, Instrumentationslehre, hg. von Strauss, 411. 55 Otto Strasser, Sechse is. Wie ein Orchester musiziert und funktioniert, München 1984, 139–140. 56 Berlioz, Instrumentationslehre, hg. von Strauss, 397. 57 Hatten die Hornisten einen zu kleinen Ton, verstärkte er sie zumeist mit Posaunen (Schuh [Hg.], Richard Strauss. Briefe an die Eltern, 54, 101). 58 Berlioz, Instrumentationslehre, hg. von Strauss, 242, 299, 378. 59 Strauss, Späte Aufzeichnungen, 331–332. Die Aussage bezieht sich auf die Partien für Naturtrompeten und -hörner. 60 Zit. nach Hans-Jörg Nieden, Bachrezeption um die Jahrhundertwende: Philipp Wolfrum, München 1976, 286. 61 Schuh (Hg.), Richard Strauss. Briefe an die Eltern, 69.

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exakt festgelegte) Besetzungsabstufung regelt, erscheint im Bläsersektor als eine Sache korrekter Instrumenten- und Lagenwahl durch den Komponisten. Lebenslang war Strauss (vor allem an mittleren und kleineren Opernhäusern) mit zu schwachen Streicherbesetzungen konfrontiert;62 damit kam das, was in den Partituren angelegt ist, nur abgeschwächt zur Geltung. Die Aufführungspraxis hielt also vielfach nicht Schritt mit den Erfordernissen der Instrumentation. Strauss erachtete den Streichersatz als außerordentlich schwierige, für einen jungen Komponisten ausgiebig an guten Vorbildern zu studierende Grundlage der orchestralen Schreibweise.63 Im Verhältnis zu den Bläsern empfand er die vier­ fache Hornbesetzung im Jahr 1900 gegen zweifach besetzte Holzbläser bereits als zu stark, im selben Atemzug meinte er: „Ohne dreifache Holzbläser kann man kaum mehr instrumentieren.“64 Indes folgen seine Kompositionen beiden Maximen später nur teilweise. Während Strauss zufolge dem Fagott auch in seinen tiefen Tönen kein Basscharakter eigen war, sah er das Kontrafagott und die Bassklarinetten als „natürlichen Bass der Holzbläser“ bzw. „richtigen Bass zu 3 Fagotten“ an, „will der Komponist der ganzen Gruppe der Holzbläser eine dem Streichquintett einigermaßen ebenbürtige Selbständigkeit verleihen.“65 Für die Mittelstimmen des polyphonen Orchesters empfahl Strauss neben den „stets zu schwachen Bratschen und Fagotte[n]“66 immer wieder vor allem Hörner heranzuziehen. In der Symphonia domestica unternahm er diesbezüglich auch einen folgenlos gebliebenen (und von der Aufführungspraxis weitgehend vernachlässigten) Versuch mit Saxophonen. Der im gesamten Orchester des 19. Jahrhunderts so zentralen „Bassfrage“ widmete Strauss in der Instrumentationslehre wichtige Bemerkungen. Den Kontrabässen seien hier „reiche Hilfstruppen“ zur Seite gestellt worden, aber oft verfehle eine Massierung an Bassinstrumenten ihren Zweck;67 er hielt die Bassklarinette für den „schönsten und weichsten Baß“ der Holzbläser und empfahl für einen „basso cantante“ die Basstuba sowie tiefe Hörner heranzuziehen.68 Die Basstuba sei als Unterstützung der Kontrabässe aber nur im Mezzoforte und in „stark besetzten Orchestern“ zu empfehlen.69 Eine Verfeinerung der instrumentatorischen Grundbalance vollzieht sich durch kompositorisch vorgeschriebene Teilungen der Gruppen bei den Streichern bzw. durch die gezielten Kombinationen der Blasinstrumente. Hierbei spielen alle jene bevorzugt als ‚Bindemittel‘ eingesetzten Instrumente, die sich als „weiche 62 Strauss (Hg.), Späte Aufzeichnungen, 183. 63 Berlioz, Instrumentationslehre, hg. von Strauss, [4], 141. 64 Schuh (Hg.), Richard Strauss. Briefe an die Eltern, 237. 65 Berlioz, Instrumentationslehre, 213. 66 Brosche (Hg.), Strauss – Krauss. Briefwechsel, 121. 67 Berlioz, Instrumentationslehre, hg. von Strauss, 88, 105. 68 Ebd., 132, 213, 240, 327. 69 Ebd., 363.

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Mittel- und Füllstimmen“ 70 und „Vermittler der Klangfarben“ 71 mit anderen Instrumenten bestens mischen konnten, eine besondere Rolle. Je älter Strauss wurde, desto stärker mischten sich selbstkritische Töne in die Beurteilung der Instrumentierung. Bereits der Stoßseufzer nach der Generalprobe der Alpensinfonie („Jetzt endlich hab’ ich instrumentieren gelernt“ 72) verdeutlicht, dass er Instrumentierung als einen kaum je abgeschlossenen Prozess an Erfahrungen betrachtete. Vor allem bei den Bühnenwerken zeigte sich, dass die Balance zwischen Singstimmen und Orchester aus unterschiedlichen Gründen immer wieder litt. In Ariadne auf Naxos, der Frau ohne Schatten und in Intermezzo wandte sich Strauss daher mit Bedacht (vollständig oder teilweise) dem kleineren, „großenteils solistischen, nur fein untermalenden“ 73 Orchester zu, um die Textverständlichkeit zu heben, worüber das Vorwort zur Intermezzo-Partitur ausführlich Rechenschaft gibt. Trotz größter kompositorischer und aufführungspraktischer Vorsichtsmaßnahmen sei der polyphone Orchestersatz „nun einmal der Tod des auf der Bühne gesprochenen Wortes“.74 Bis in das Spätwerk hinein verstärkte Strauss in unterschiedlicher Weise seine experimentierende Auseinandersetzung mit kleineren Orchesterbesetzungen, ohne sein Diktum von 1927, „das Orchester der Zukunftsoper ist das Kammerorchester“,75 selbst ganz einzulösen.76 Am 10. Februar 1941 notiert er nach den Korrekturen des Capriccio: „‚Habe nun – ach! –‘ sowohl Singstimmen und Orchester von A bis Z durchrevidiert und dabei zu meinem Schrecken einsehen müssen, daß ich wohl 90 Jahre alt werden muß, bis ich lerne für menschliche Stimmen zu schreiben und eine ‚Oper‘ richtig zu instrumentieren.“ 77 Den Dirigenten Clemens Krauss bevollmächtigte er am 29. Juli 1940 jene Stellen im Lied der Frauen op. 68 Nr. 6 anzugeben, die er im „Holz und Blech entbehrlich“ fände. Nachdenklich notierte Strauss: „Merkwürdig, wie revisionsbedürftig man nach ein paar Jahren schon seine eigenen Erzeugnisse erfindet!“ 78

Klangfarbendifferenzierung Instrumentationskunst zeichnet sich für Strauss zunächst durch besondere, „geniale“ klangliche Einfälle aus, auf die er bevorzugt bei Carl Maria von Weber und Richard 70 Ebd., 241. 71 Ebd., 198. 72 Richard Specht, Richard Strauß und sein Werk, Bd. 1, Leipzig 1921, 334. 73 Schuh (Hg.), Betrachtungen und Erinnerungen, 142. 74 Ebd. 75 Ebd., 47. 76 Vgl. Klaus Aringer, „Richard Strauss und das kleine(re) Orchester“, in: Richard Strauss und die Sächsische Staatskapelle, hg. von Hans Günter Ottenberg und Wolfgang Mende, Hildesheim 2019 (= Dresdner Beiträge zur Musikforschung 5), im Druck. 77 Brosche (Hg.), Strauss – Krauss. Briefwechsel, 391–392. 78 Ebd., 348.

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Wagner hinwies.79 Instrumentation bringt im Idealfall das klangliche Potential der Instrumente schöpferisch und zielsicher charakterisierend zur Anwendung. Dabei war es Strauss wichtig zu zeigen, wie vielseitig die einzelnen Instrumente verwendet werden können.80 Bei den Blechblasinstrumenten war er einer der ersten, der die Dämpfer zur klanglichen Modifikation mit Erfolg einführte, dieser Effekt war für die meisten Orchestermusiker um 1900 noch vollkommen neu.81 Vor einer allzu häufigen Anwendung besonderer klanglicher Effekte indes warnte Strauss: „je seltner die Anwendung eines besonderen Ausdrucksmittels, desto größer dessen Wirkung.“82 Die orchestrale Farbe beruhte für ihn weiters auf einer in den jeweiligen Instrumentenfamilien maximal ausgebauten Besetzung, vor allem der Holzbläser.83 Dies ist der Grund für seine Bevorzugung des „großen Orchesters“, das hinter die Errungenschaft der dreifachen Holzbläser des Lohengrin, dessen Partitur Strauss als instrumentatorisches „Musterkompendium“ pries84 und dessen „Instrumentationswunder“ ihn „stets von neuem“ entzückten,85 nicht zurückfiel. Bekanntlich gingen seine praktisch realisierten Besetzungen dann teils noch weit über den Stand des Ring-Orchesters hinaus. Hierbei integrierte er auch neue oder zu seiner Zeit wieder entdeckte Instrumententypen wie Heckelphon,86 Oboe d’amore, Bassetthorn sowie die kleinen Klarinettentypen. Eine besondere Rolle für Strauss’ polyphonen Orchesterstil kommt der nach Instrumentengrößen am reichsten ausdifferenzierten Instrumentenfamilie der Klarinetten zu, die als einzige unter den Holzblasinstrumenten das gesamte Spektrum der Lagen repräsentiert und in dynamischer und klangfarblicher Hinsicht zu reichster Differenzierung des Tones befähigt ist. In Brüssel beeindruckte ihn ein Arrangement von Mozarts Sinfonie in g-Moll KV 550 für 22 Klarinetten (in sechs verschiedenen Stimmungen) so sehr, dass ihm durch den „Reichtum von Klangfarben“ bewusst wurde, „wieviel ungehobene Schätze das Orchester noch in sich birgt“ für den „Dramatiker und Tonpoeten“, der diese Klangfarben in den Dienst des Ausdruckes und der Charakterisierung zu stellen vermag.87 Die meisten Möglichkeiten im Bereich der Klangfarben eröffnen komplexe Instrumentenkombinationen.88 In den unendlichen Mischungen und der aufgelockerten 79 Berlioz, Instrumentationslehre, hg. von Strauss, 12, 41. 80 Vgl. hierzu die Anmerkungen und Beispiele zum Violoncello (ebd., 91–102). 81 Schuh (Hg.), Richard Strauss. Briefe an die Eltern, 214; 234; Berlioz, Instrumentationslehre, hg. von Strauss, 307–314, 353. 82 Berlioz, Instrumentationslehre, hg. von Strauss, 66. 83 Ebd., 204. 84 Berlioz, Instrumentationslehre, hg. von Strauss, [3]. 85 Strauss (Hg.), Späte Aufzeichnungen, 248. 86 Vgl. Ann-Katrin Zimmermann, „Im Gefolge der Salome. Anfänge, frühes Repertoire und Aufgaben des Heckelphons im Orchestersatz“, in: Tradition und Innovation, hg. von Werr, 175–197. 87 Berlioz, Instrumentationslehre, hg. von Strauss, 204. 88 Vgl. Jürgen Maeher, „Klangfarbenkomposition und dramatische Instrumentationskunst in den Opern von Richard Strauss“, in: Richard Strauss und das Musiktheater. Bericht über die Internationale

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Führung der Instrumente lag für Strauss die eigentliche Kunst des Instrumentierens. Längere Passagen in einer einheitlichen Instrumentengruppe sollten seiner Ansicht nach von den Komponisten vermieden werden. Hierzu pf legte er anzumerken, dass sich nichts schneller abnutze „als langandauernde Vierstimmigkeit in den Hörnern“. 89 Je älter Strauss wurde, desto weniger konnte er äußerlich neuen Klangreizen etwas abgewinnen: „Neue Klänge u. Instrumentenmischungen im Orchester nützen sich rasch ab u. verlieren schnell den Reiz des Sensationellen.“ 90 Gegen jedwede Form von gedankenloser Instrumentierung regte sich in ihm der Widerstand des „Orchestermenschen, dem jede Farbe in diesem Wunderkörper viel zu teuer ist, als dass er sie verschwendet oder gar verschmiert sehen möchte.“ 91 Noch kurz vor seinem Tod soll er dem Zeugnis seines Sohnes nach die schillernde Pracht buntfarbiger Blumen mit der Instrumentation seiner Partituren verglichen haben.92

Grosse Besetzung Ebenso wie Mahler verteidigte Strauss große Besetzungen gegen den Vorwurf der Maßlosigkeit als Voraussetzung für Ausdrucksreichtum und als Bedingung für die klangfarbliche und dynamische Differenzierung und Verschmelzung. Strauss bekräftigte die Bemerkungen von Berlioz, dass ein kleines Ensemble lärmend wirken kann, während ein großes sehr zart musizieren könne und ergänzte: „Großes Blech klingt eher weich.“ 93 Hinter dieser Weisheit verbirgt sich die akustische Tatsache, dass die Schallstärke nicht gleichmäßig mit dem Anwachsen der Besetzung korreliert. Dementsprechend sticht eine von wenigen Instrumenten gespielte Stimme oft aus der Klangmasse stärker hervor als eine mehrfach besetzte. Strauss warnte vor den oft gedankenlos als „Verstärkungen“ bezeichneten Verdoppelungen einzelner Partien, die im großen Tutti „ganz wertlos“ seien.94 Hingegen wirke das „pp eines großen Streichorchesters“ unvergleichlich.95 Die Apologie der großen Streicherbesetzung basierte nicht nur auf der metaphysischen Überhöhung der Klangwirkung, sie ermöglicht auch die Ausführung technisch sonst unrealisierbarer Passagen, die im gemeinsamen „al fresco“ zu einer neuen Klangerfahrung führen (wie im „Feuerzauber“ in der Walküre).96 Angestrebt Fachkonferenz Bochum, 14. bis 17. November 2001, hg. von Julia Liebscher, Berlin 2005, 139–181, hier 148–178. 89 Stiebitz, „Richard Strauss als Lehrer“, 46. 90 Strauss, Späte Aufzeichnungen, 83. 91 Nieden, Bachrezeption, 285. 92 Grasberger (Hg.), Der Strom der Töne, IX. 93 Berlioz, Instrumentationslehre, hg. von Strauss, 438. 94 Ebd., 105. 95 Ebd., 438. 96 Ebd., 50.

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wird hier gerade nicht Deutlichkeit, sondern ein bewusst diffus gehaltener Effekt. Dementsprechend äußerte Strauss bereits während der Guntram-Proben, die sehr schwierigen Streicherpartien des „besonders glänzend instrumentierten Werkes“ 97 seien „eben nur für sehr großes Streichquartett ausführbar.“ 98 Strauss behielt die ästhetischen Prämissen der großen Besetzung an vielen Stellen auch im kleinen Orchester bei, und es gehört zu den nicht leicht erklärbaren Wundern von Partituren wie Ariadne auf Naxos oder Metamorphosen, dass Strauss Wirkungen des großen Orchesters über seine Art der Instrumentation auch mit einem viel kleineren Apparat herzustellen vermochte.99

Sonderinstrumente Einen vergleichsweise traditionellen Standpunkt nahm Strauss bezüglich des orchestralen Sonderinstrumentariums ein. Dieses sollte seiner Ansicht nach solistisch hervortretend nur eingesetzt werden dürfen, wenn der poetische Gehalt der Musik oder die Bühnensituation es zwingend erfordere und legitimiere. Dem Anfänger riet er, „mit allen besonders grellen und charakteristischen Farben des Orchesters so sparsam wie möglich zu verfahren“, weil ein „Mißbrauch“ mit den „besonderen Leckerbissen“ des Orchesters leicht „das Ohr des Zuhörers unnötig“ abstumpfe.100 Insbesondere die Solo-Violine sei ein „bedeutungsvolles Symbol“, das „ohne zwingenden poetischen Grund“ „nicht angewendet werden sollte.“101 Bezeichnenderweise verwendete er die meisten der von ihm in der Neubearbeitung der Berlioz-Instrumentationslehre hinzugefügten Instrumente in seinen Werken nur in wenigen Fällen (Oboe d’amore, Heckelphon, Kontrabassklarinette, Basstrompete, [Wagner-]Tuben, Bariton, Rute und Schelle), einige gar nicht (Viola alta, Violotta/Cellone, Altf löte, Bariton-Oboe, Heckel-Clarina); lediglich die Celesta sowie das Holz- und Strohinstrument (Xylophon) kommen in Strauss’ Partituren öfter vor. Am Ende seines Vorworts der Überarbeitung von Berlioz’ Instrumentationslehre zieht Strauss in ebenso amüsanter und zugleich sarkastischer Weise den leider nicht zu identifizierenden (vielleicht auch erfundenen) Komponisten einer Lustspielouvertüre durch den Kakao, „in welcher die vier Nibelungentuben mit dem übrigen Blech zusammen in lebhaftesten Rhythmen (als einfache Tuttiverstärker) dahertanzten.“ Auf Strauss’ besorgte Nachfrage habe der Komponist unbefangen gemeint: „aber ich bitte sie, Tuben gibt’s doch heutzutage in jedem größeren Orchester, warum soll ich sie denn da nicht auch hinschreiben?“, 97 Strauss (Hg.), Späte Aufzeichnungen, 196. 98 Schuh (Hg.), Richard Strauss. Briefe an die Eltern, 197. 99 Vgl. Aringer, „Strauss und das kleine(re) Orchester“. 100 Berlioz, Instrumentationslehre, hg. von Strauss, 155. 101 Ebd., 65.

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was Strauss mit dem Satz quittierte: „Da schwieg ich still und dachte bei mir: ‚Dem Manne kann nicht geholfen werden.‘“102 ***

Strauss’ reichhaltige Anmerkungen zur Instrumentation sind in handwerklichästhetischer Hinsicht als bedeutungsvoller, in ihrer Tragweite bislang kaum erkannter Schlüssel zu seiner Auffassung von Orchesterkomposition anzusehen. Sie erhellen zentrale künstlerische Überzeugungen und Verfahrensprinzipien; in ihnen mischen sich seine jahrzehntelangen Erfahrungen als Musiker, Komponist und Dirigent, aber auch als Hörer. Sie zeugen zuvorderst von der stupenden Metierkenntnis, seinem eminenten technisch-künstlerischen Wissen und Können. Strauss nahm Abstand von einer Darstellungsweise und Formulierungen, die diese Eindrücke auch nur entfernt als Rezepte hätten missverstehen lassen können. Vielmehr drängte es ihn im Laufe seines gesamten künstlerischen Lebens, in durchaus unsystematischer, aber höchst vielgestaltiger Weise anzumerken, was ihm wichtig erschien. Als Leitlinien verkörpern Strauss’ Annotationen zur Instrumentation persönliche Prinzipien, ohne die Musik im Zusammenhang nicht gemacht und erfahren werden kann. In diesem Sinne kennen sie keine Entwicklung, sind zugleich historisch bedingte wie unveränderliche Weisheit. Dies macht sie so aufschlussreich und studierenswert.

102 Ebd., Vorwort, [4].

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Die Idee der Transkription in Ferruccio Busonis ästhetischem Denken Alberto Fassone Das grundsätzliche ästhetische Postulat, mit dem Ferruccio Busoni (1866–1924) die Praxis der Transkription legitimiert, ist die Idee, dass alles in der Musik, angefangen von der Notation, „Transkription“ sei.1 Der italienische Musikwissenschaftler Ugo Duse (1926–1997) hat sich im Jahre 1985 in einem kurzen Essay2 mit Busonis Idee auseinandergesetzt und sie als offensichtlich absurd abgestempelt. Duse, dessen Buch über Gustav Mahler (1973) eine Pioniertat innerhalb der italie­ nisch Musikwissenschaft darstellt, 3 versucht in seinem Essay die vermeintliche Absurdität eines solchen Postulats sowohl ästhetisch als auch logisch zu beweisen und das Ref lexionsniveau des Komponisten zu diskreditieren: Seine nur scheinbar folgerichtige Argumentation, welche ausschließlich Prinzipien der mathematischen Logik bemühen möchte, erscheint uns heute – behutsam formuliert – als revisionsbedürftig. Duse berücksichtigt nämlich weder die philosophischen Traditionen noch die musikalische Praxis (die kompositorische und die aufführungsbezogene Dimension), das heißt er schließt paradoxerweise von seiner argumentativen Beweisführung gerade jene Dimensionen aus, aus denen Busonis Postulat hervorgeht. Überraschenderweise stellt Duse außerdem bei Busoni eine für ihn irritierende Orientierung an der sprachlichen Affektiertheit („dannunzianesimo“) des Décadence-Dichters Gabriele D’Annunzio (1863–1938) 4 fest, die er als Abklatsch „nicht bester, sondern niedrigster Art“5 verspottet. Dies sei Ausdruck einer vermeintlich pseudointellektuellen Attitüde des Komponisten, der den Anspruch erhebe, Philosophie zu betreiben, ohne über die grundlegenden Kenntnisse zu verfügen. Busonis kultureller Horizont war allerdings sehr breit: 1 2

3 4

5

Vgl. u. a. Manfred Hermann Schmid, Notationskunde. Schrift und Komposition 900–1900, Kassel 2012; Silke Leopold, Musikalische Metamorphose. Formen und Geschichte der Bearbeitung, Mainz 2000. Vgl. Ugo Duse, „Insostenibilità logica ed estetica dell’uguaglianza busoniana Notazione = Trascrizione“, in: La trascrizione. Bach e Busoni, in: Atti del Convegno Internazionale, Empoli-Firenze 23.–26. Oktober 1985, hg. von Talia Pekker Berio, Florenz 1988, 205–208. Duse veröffentlichte Bücher und Aufsätze über Bach, Bruckner, Mahler, Busoni und die Musik des 20. Jahrhunderts. Vgl. Ugo Duse, Mahler, Turin 1973. Busoni wollte in Zusammenarbeit mit dem italienischen Vate (,Prophet‘) eine Oper über Leonardo da Vinci schreiben; das Projekt, das der Komponist und der Dichter 1911 in Paris diskutierten, wurde nicht durchgeführt, da D’Annunzio den Einwand erhob, das Sujet entbehre des für ihn unerlässlichen „lyrischen“ Stoffes. „[…] non di primo ma di infimo ordine.“ (Duse, „Insostenibilità logica ed estetica“, 205, übersetzt vom Verfasser.)

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Angesichts seiner Belesenheit (er nannte in Anlehnung an Anatole France seine Hausbibliothek in Berlin „la cité des livres“, ,die Stadt der Bücher‘) 6 erscheint uns Duses Vorwurf vollauf unbegründet. Duses vernichtende Kritik spiegelt einerseits die spezifisch italienische Rezeptionsgeschichte einer der originellsten musikästhetischen Ideen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wider; die Kritik kann andererseits als Kontrastfolie und Ausgangspunkt dazu dienen, die philosophischen Prämissen von Busonis ästhetischem Konzept aufzuzeigen, das alles andere als naiv ist. Der Problemkreis, den Busonis Ref lexionen umfassen, mutet uns überaus komplex an. Die zunächst rätselhaft erscheinende Aussage, alles sei in der Musik dem Wesen dieser Kunst gemäß „Transkription“, bedeutet nämlich primär, dass die Bearbeitung eigener Werke oder von Werken anderer Komponisten für Busoni nicht eine Dimension oder einen bestimmten Bereich der kompositorischen Tätigkeit bildet, was freilich dazu ausreichen würde, sie ästhetisch zu legitimieren (die einzige nötige Unterscheidung beträfe in diesem Fall das Niveau der Transkriptionen selbst). Busoni meint, der kompositorische Akt selbst habe an der universalen, alles übergreifenden und umfassenden Idee der Transkription teil. Die beiden Termini „Transkription“ und „Bearbeitung“ (der Komponist verfasste seine Aufsätze auf Deutsch), die Busoni, wie wir sehen werden, erst in zweiter Instanz differenziert, haben gemeinsam, dass sie ein vorgegebenes Material voraussetzen, von dem der Komponist ausgeht. Kein Wunder, dass der weltberühmte Klaviervirtuose Busoni seine Idee dadurch illustriert, dass er sich auf Franz Liszts äußerst rege Tätigkeit als Bearbeiter beruft. Liszt war bekanntlich für den Pianisten sowie für den Komponisten Busoni – zusammen mit Johann Sebastian Bach7 und Wolfgang Amadeus Mozart8 – eine der 6 7

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Ferruccio Busoni, Brief an seine Frau Gerda, Berlin, 12. September 1920, in: Lettere alla moglie, hg. von Friedrich Schnapp, übersetzt von Luigi Dallapiccola, Mailand 1955, 288. Busoni wollte mit seiner Revision des Wohltemperierten Klaviers (Busoni-Ausgabe, Bd. 1, Leipzig 1894) freilich eine praktische, keine kritische Ausgabe vorlegen; die zahlreichen Vortragsbezeichnungen und interpretatorischen Anweisungen, die er in die Texte einstreute, verwischen allerdings zumeist die Grenze zwischen praktischer Ausgabe und freier Transkription, zwischen den von ihm herausgegebenen Originaltexten und den Bach-Transkriptionen und Bach-Konzertbearbeitungen, die hervorragende Pianisten des 20. Jahrhunderts wie Vladimir Horowitz (1903–1989) und Arturo Benedetti Michelangeli (1920–1995) im Repertoire hatten. Dass Busonis praktische Ausgaben durch ihre wertvollen analytischen Bemerkungen Einblick in die kompositorische Werkstatt gewähren, in der die Werke entstanden, ist ein unbestreitbarer Vorzug, der den hohen didaktischen Wert dieser praktischen Ausgaben, die als eine moderne „Klavierübung“ erscheinen, bestätigt. Vgl. Carl Dahlhaus, „Zur Ideengeschichte musikalischer Editionsprinzipien“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1: Allgemeine Theorie der Musik I, hg. von Hermann Danuser, Laaber 2000, 221–231. Vgl. Giacomo Fornari, „Il ‚Don Giovanni‘ di Mozart secondo Ferruccio Busoni tra ‚junge Klassizität‘ e ‚musica assoluta‘“, in: Ferruccio Busoni: aspetti biografici, estetici e compositivi inediti, hg. von Giuliano Tonini, Lucca 2010, 195–210.

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wichtigsten, ihn zutiefst prägenden Schlüsselfiguren, an denen er sich zeitlebens orientierte. In Liszts Œuvre kann man zwischen Transkriptionen und Paraphrasen unterscheiden: Erstere halten sich weitgehend an den Buchstaben der Originaltexte und dienen primär der Verbreitung der Werke selbst (vgl. etwa die Transkriptionen der Symphonien Beethovens [1837–64] und der Six chants polonais von Frédéric Chopin [1847–60]), während Paraphrasen, Réminiscences, Fantasien usw. für den Konzertsaal bestimmt und daher viel freier gehalten sind (ihnen entsprechen die Konzertbearbeitungen der Orgelfugen, der Tokkaten, der Goldberg-Variationen und der Chaconne von Bach9). In seinen Überlegungen zum Bearbeitungsbegriff in der Musik Liszts führt Busoni die Rhapsodie Espagnole (Folies d’Espagne und Jota aragonesa, 1863) als Beispiel an, ein Werk, von dem er selbst 1894 eine Transkription für Klavier und Orchester anfertigte, die auf heftige Kritik stieß. Busonis ausdrückliche Intention, die dieser und ähnlichen Transkriptionen und Bearbeitungen zugrunde liegt, findet man in dem Aufsatz „Wert der Bearbeitung“, der im November 1910 in Berlin im Druck erschien, exemplarisch dargelegt. Busoni vertritt darin die These, die verschiedenen „Fassungen“ eines Werkes seien nichts anderes als Transkriptionen des „Werkes“ selbst, da sich in ihnen allen offenbare, was an Georg Wilhelm Friedrich Hegels Definition des Schönen in den Vorlesungen zur Ästhetik (1817–29) als „sinnliches Scheinen der Idee“ gemahnt. (Hätte sich Busoni je für die Musik Anton Bruckners interessiert, hätte er sicherlich wertvolle Überlegungen zum „Wandel des Konzepts“ [Manfred Wagner]10 in den Symphonien des österreichischen Komponisten angestellt und zur theoretischen Klärung des Problems der Autorenvarianten beigetragen, deren Rekonstruktion die modernen Philologen unter dem Begriff „Genetik“ subsumieren.11) Die Argumentation, von der Busoni ausgeht, kreist um das Thema des geistigen auktorialen Eigentums der „Motive“ einer Komposition und somit um das jus primi inventi, das Busoni als wirklichkeitsfremdes Phantom entlarvt, da die Künstler immer nur das zu verarbeiten vermögen, was „auf Erden“ (so Busoni buchstäblich) bereits existiert (wir werden sehen, welche Bedeutung diesem Moment in seiner Ästhetik zukommt). Busoni stellt zuerst fest, dass die von Liszt in der Rhapsodie 9

So schreibt Busoni 1894 im Vorwort zu seiner Edition des ersten Teils des Wohltemperierten Klaviers: „Daran anschließend soll des Herausgebers Ausgabe der Bachschen Inventionen (Edition Breitkopf ) als eine Vorschule, sollen seine Konzertbearbeitungen der Orgelfugen, der Toccaten, der Goldberg-Variationen und der Violin-Chaconne desselben Meisters als Abschluß zu dem hier gebotenen Studienwerke dienen.“ 10 Vgl. Manfred Wagner, Der Wandel des Konzepts. Zu den verschiedenen Fassungen von Bruckners Dritter, Vierter und Achter Sinfonie, Wien 1980. 11 Vgl. Gianfranco Contini, La critica degli scartafacci e altre pagine sparse, Pisa 1992; Maria Caraci Vela, La filologia musicale. Istituzioni, storia, strumenti critici, Bd. 1, Lucca 2012, 75–79. Als Beispiel für eine genetische Edition vgl. die moderne zweibändige Ausgabe der Kunst der Fuge in der Neuen BachAusgabe, hg. von Klaus Hofmann, Kassel 1996, sowie die Bände der Schönberg-Ausgabe (Arnold Schönberg, Sämtliche Werke, Mainz, ab 1966).

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Espagnole und in der Spanischen Fantasie verwendeten Motive nicht von ihm stammen: Eines von ihnen, das gleich am Anfang der Fantasie erklingt, kommt nämlich bereits im Fandango aus Le nozze di Figaro vor,12 wobei Mozart es seinerseits – wie Gluck in seinem Ballett Don Juan von 1761 – übernommen hat,13 während in den anderen Abschnitten der Rhapsodie Espagnole Motive verarbeitet werden, die bei Arcangelo Corelli (im Largo-Teil), bei Michail Glinka (im 3/8-Teil) und – so im Fall eines Motivs im dritten Teil der Rhapsodie – in Gustav Mahlers Dritter Symphonie (1892–96) anzutreffen sind. Busoni scheint hier allerdings dem Fehler aufgesessen zu sein, der in der Philosophie Pars-pro-toto-Fehlschluss heißt: Der in sich abgeschlossene Charakter des opus musicum erscheint in seiner Argumentation von der Präexistenz des Materials angetastet (oder geradezu aufgehoben), auf das der Komponist rekurriert. Busoni sieht hierbei von der Verarbeitung des Materials vollauf ab, die mit der instrumentalen Gestaltung (der Instrumentierung) des Werkes selbst einhergeht. Es sei außerdem laut Busoni unmöglich zu entscheiden, welcher der beiden von Liszt angefertigten Fassungen, die beide auktorialen Charakter haben, man den Vorzug geben soll. Busoni setzt somit offensichtlich den Fassungs- mit dem Bearbeitungsbegriff gleich, die dadurch Synonyme werden. Da Busoni nicht der Ansicht ist, die Große Konzertfantasie sei als Transkription der Rhapsodie Espagnole entstanden, ist die ihn leitende Idee, auf die er alle Dimensionen seiner aufführungspraktischen und kompositorischen Tätigkeit zurückführt, dass beide Werke ontologisch bereits „Transkriptionen“ sind, nicht etwa, dass es sich um zwei selbständige Werke handelt (wie ein moderner Philologe denken würde und wie beide Werke im Werkverzeichnis angeführt werden). Man kann nicht umhin, die Frage aufzuwerfen, wovon diese Werke Transkriptionen sein sollen. Die Antwort kann nur lauten: Sie sind Transkriptionen einer transzendenten, platonischen Idee, wovon die Fassungen nur als Abglanz erscheinen. Es handelt sich noch – zur Zeit der Moderne – um eine Ausprägung des romantischen Einfalls, der zu verschiedenen Zeiten immer neue Gestalten annimmt und – so könnte man mit einer gewissen Emphase sagen – „in die Geschichte Einzug hält.“ Die Epiphanie der Idee erfolgt jeweils anders, so wie die universale, übergeschichtliche Zeit in Karl Wilhelm Ferdinand Solgers Erwin. Vier Gespräche über das Schöne und die Kunst (1815)14 durch die historische Zeit jedes (auch musikalischen) Kunstwerks durchschimmert und sich zugleich auf löst (gerade darin besteht für Solger der tragisch-ironische Widerspruch, die tragi12 Vgl. Wolfgang Amadeus Mozart, Le nozze di Figaro, dritter Akt. 13 Laut Hermann Abert (Wolfgang Amadeus Mozart. Eine Biographie, Bd. 2, Leipzig 1921, 288) handelt es sich um eine originale andalusische Fandango-Melodie, die um 1760 in Wien bereits bekannt gewesen sein dürfte, da sie in Glucks Don Juan (Nummer 19, in derselben Tonart a-Moll wie bei Mozart) vorkommt. 14 Karl Wilhelm Ferdinand Solger, Erwin. Vier Gespräche über das Schöne und die Kunst, Florenz 2010; Giovanni Guanti, Estetica musicale. La storia e le fonti, Mailand 1999, 299–300.

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sche Dialektik des Schönen). So verschieden die poetologischen Ansätze beider Komponisten auch sein mögen, die Ähnlichkeit zwischen Busonis Auffassung der „absoluten Melodie“ und Richard Strauss’ Idealisierung der Mozart’schen Melodie, die mit der platonischen Idee gleichgesetzt wird (Strauss bezieht sich auf die beiden Arien der Gräfin in Le nozze di Figaro), drängt sich auf.15 Man wird dabei nicht nur an Solgers Zeit- und Schönheitsauffassung denken, sondern auch an die echt deutsch-romantische Vorstellung von der ewigen Musik des Weltalls, die der Musiker zu erfassen und zum Erklingen zu bringen hat, einen pythagoreischen Gedanken, der Anfang des 19. Jahrhunderts unter anderem von Eichendorff aufgegriffen wurde. In seinem Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst von 1907 (veröffentlicht 1916) zitiert Busoni einen Passus aus E. T. A. Hoffmanns Serapionsbrüdern (1819–21), wo von den „Seraphschwingen“ der Musik die Rede ist, die „den Flug zu dem Jenseits“ gewährleisten sollen.16 In Busonis Musikästhetik scheint demnach die platonische Dialektik zwischen dem Einem und dem Vielfachen, dem εἶδος und den einzelnen Dingen wiederzukehren, in denen die Idee sich als ἀρχή, als ideale Form kundgibt, eine Dialektik zwischen der Welt des Seins und der des Werdens, zwischen Bild und Abbild. Der von Ugo Duse festgestellte logische Kurzschluss hört erst dann auf, als solcher zu erscheinen, wenn man die metaphysisch-platonische Prämisse ernst nimmt, die übrigens auch Duse nicht gänzlich entgangen sein dürfte. Laut Busoni sei jede Notation somit bereits Transkription einer abstrakten Idee (so lautet seine diesbezügliche Formulierung): In dem Moment, in dem die Feder sich die Idee aneignet, büße letztere ihre ursprüngliche Form ein, denn die Intention, die Idee durch die Notenschrift aufs Papier zu bringen, verlange die Auswahl einer Taktart und einer Tonart, was bereits einem Verrat am Vorbild gleichkomme. Das utopische Streben nach der Sprengung des überkommenen Tonsystems durch Einführung von Drittel- und Sechsteltönen und den Bau neuer Instrumente, der für Busoni zu einem zentralen Anliegen werden sollte, ist als Erweiterung des Stoffes der Musik zu sehen, in den sich die abstrakte Idee jeweils einprägt: Busoni traf sich 1923 in Berlin mit dem tschechischen Komponisten Alois Hába (1892–1973), den er ermutigte, seine Experimente im Bereich der Mikrotonalität weiter zu betreiben. Die Notation und das überholte Tonsystem fesseln laut Busoni die Phantasie des Komponisten, sind Vehikel der Gedanken und Hindernis zugleich: Sie lassen 15 Vgl. Stefan Kunze, „Idealität der Melodie. Über Richard Strauss und Mozart“, in: De Musica, hg. von dems., Tutzing 1998, 295–318; Richard Strauss, Betrachtungen und Erinnerungen, hg. von Willi Schuh, Zürich 1957, 106–107: „[…] in den beiden Arien der Gräfin im Figaro stehen Idealgebilde vor uns, die ich nur mit Platos Ideen, den Urbildern der ins sichtbare Leben projizierten Gestalten vergleichen kann.“ 16 Vgl. Walter Wiora, „Die Musik im Weltbild der deutschen Romantik“, in: Historische und systematische Musikwissenschaft, hg. von Hellmut Kühn und Christoph-Hellmut Mahling, Tutzing 1972, 268–313.

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nämlich aus der Form den „Konventionalismus“ hervorgehen, infolgedessen sogar ein echter Dichter wie E. T. A. Hoffmann zum „Philister“ habe werden können, sobald er sich anschickte, seine Visionen in klingende Wirklichkeit umzusetzen (Busonis erste Oper Die Brautwahl [1906–09] basiert auf einer Erzählung aus den Serapionsbrüdern).17 Busoni konzediert allerdings, dass „etwas von dem unzerstörbaren ursprünglichen Charakter der Idee“ übrigbleibe; was „der Tonsetzer notgedrungen von seiner Inspiration durch die Zeichen einbüßt“, solle dann der Interpret „wiederherstellen“. Busonis Argumentation läuft auf die Behauptung hinaus, der Interpret nehme am kompositorischen Prozess selbst teil, vollende ihn gleichsam, indem er das ins Werk hineinbringe, was der Komponist durch seine Inspiration nicht habe erfassen können. Busonis Ref lexionen implizieren somit eine Neubewertung des Verhältnisses zwischen dem Komponisten und dem Interpreten: Die schöpferische Ergänzung durch Letzteren ist aber auf die Einmaligkeit des jeweiligen, unwiederholbaren interpretatorischen Aktes bezogen,18 sodass die proteushafte Natur der Texte und der Werke, die auf ihnen basieren, sich gegen die Fixierung durch die Tonaufnahme sperrt, welche laut Busoni aus der ἐνέργεια ein ἔργον, ein opus, entstehen lässt (wir berufen uns auf die aristotelische Begrifflichkeit, die einen Bestandteil der Sprachtheorie Wilhelm von Humboldts bildet).19 In einem Aufsatz von 198520 über dieses Thema nahm Sergio Sablich (1951– 2005) eine scharfsinnige Unterscheidung vor, indem er hervorhob, dass Busoni in Bezug auf die vom Komponisten durch einen intuitiven Akt erfasste Idee nicht von „Bearbeitung“, sondern von „Transkription“ spricht. Das heißt, dass die reine Idee, die Busoni in einem Brief an seine Frau Gerda (geboren Sjöstrand) vom 22. Juli 1913 als „absolute Melodie“ beschreibt, durch den Akt des Schreibens festgelegt, nicht „bearbeitet“ wird. Der schöpferische Prozess würde somit in zwei unterschiedliche, klar voneinander abgegrenzte Phasen zerfallen, eine ausgesprochen 17 Vgl. Ferruccio Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst [1907], hg. von Martina Weindel, Wilhelmshaven 2001, 58. 18 Richard Strauss, der eine Reihe wichtiger Aufnahmen hinterlassen hat, hegte dasselbe Misstrauen gegen das neue technische Medium wie Busoni: „Die Unveränderlichkeit einer einmal gemachten Aufnahme war eine ästhetische Contradictio in adjecto, und er war der Auffassung, daß die klassischen Meisterwerke mehr Respekt verdienten.“ (Matthew Boyden, Richard Strauss. Die Biographie, München 1999, 466.) 19 Vgl. Donatella Di Cesare, „Die aristotelische Herkunft der Begriffe ἔργον und ἐνέργεια in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie“, in: Energeia und Ergon. Sprachliche Variation, Sprachgeschichte, Sprachtypologie, Bd. 3: Das sprachtheoretische Denken Eugenio Coserius in der Diskussion, hg. von Jörn Albrecht, Jens Lütdke und Harald Thun, Tübingen 1988, 29–46. Die ästhetische Reflexion über das Wesen der Interpretation in der Musik hat im 20. Jahrhundert in Italien ziemlich spät begonnen: Neben Andrea Della Corte, der 1951 ein Buch über dieses Thema veröffentlichte (L’interpretazione musicale e gli interpreti, Turin 1951), kommt vor allem Giorgio Graziosi das Verdienst zu, die Debatte angeregt zu haben (L’interpretazione musicale, Turin 1967). 20 Vgl. Sergio Sablich, „Valore della trascrizione“, in: La trascrizione. Bach e Busoni, 183–189, und Busoni, Turin 1982, 74–108.

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schöpferische, die man durchaus als intuitiv bezeichnen kann, da der Mensch für Busoni nichts hervorzubringen vermag21 (obwohl er andererseits für die Idee einer Schaffung ex nihilo plädiert hat), und eine der Bearbeitung. Letztere gehört in den Bereich der Transkription qua Bearbeitung der Idee, als Umsetzung des ihr innewohnenden Potenzials. Daraus wird aber eine Dichotomie ersichtlich, die sich auf Goethes Idee des Kunstwerks als eines Organismus zurückführen lässt, 22 der sich mit biologischer Gesetzmäßigkeit aus einer Matrix heraus entwickelt, eine Idee, die im 19. Jahrhundert in Adolf Bernhard Marx’ Lehre von der musikalischen Komposition (Leipzig 1837–47) zur philosophischen Grundlage der Formenlehre wurde. Der von Hegels Geschichtsphilosophie beeinf lusste Marx 23 sah im Organismusmodell nichts weniger als die Entfaltung der „Vernunft in der Geschichte“: Diese Vorstellung übte einen starken Einf luss auch auf jene Richtung der musikalischen Philologie aus, die sich mit dem Studium der Skizzen beschäftigte und sich an dem evolutionistischen Paradigma Gustav Nottebohms (1815–1882) orientierte. 24 Ist unsere Rekonstruktion korrekt, so sollte man bei Busoni von einem aporetischen Denken sprechen, das durch die Dichotomie zwischen dem Einfall einerseits und der technischen Ausführung andererseits – der kompositorischen ars – gekennzeichnet ist. Diese Dichotomie, auf die vor allem Carl Dahlhaus in den 1980er Jahren nachdrücklich hingewiesen hat, führte im Jahrhundert der Romantik einen Bruch zwischen der kompositorischen Praxis und der musiktheoretischen Ref lexion herbei, die an das Entwicklungsniveau der verschiedenen Bestandteile der musikalischen Sprache der avanciertesten Musik der Zeit nicht heranreichte. Dass Simon Sechters (1788–1867) an Rameau angelehnte Fundamentalbass-Lehre durch die Entfaltung ihres verborgenen Potenzials für Anton Bruckner zu einem fruchtbringenden Werkzeug werden konnte, sollte über ihre prinzipiell konservative Grundhaltung und den Hiatus zwischen ihr und der avancierten Musik nach 1850 nicht hinwegtäuschen. 25 Nicht von ungefähr beschränkt Busoni die „ursprüngliche Idee“, die der Komponist auf dem Papier fest21 „Es kann der Mensch nicht schaffen, nur verarbeiten, was er auf seiner Erde vorfindet.“ (Busoni, Entwurf, 60.) 22 „Die Gesetze des künstlerischen Aufbaues sind nach Goethe die des Aufbaues der natürlichen Organismen.“ (Wilhelm Waetzoldt, Das Kunstwerk als Organismus. Ein Aesthetisch-Biologischer Versuch [1905], Whitefish 2010, 8–9.) 23 Vgl. Carl Dahlhaus, Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhunderts. Zweiter Teil, in: Gesammelte Schriften, Bd. 4: 19. Jahrhundert I, hg. von Hermann Danuser, Laaber 2002, 413–658, 649. 24 Vgl. Caraci Vela, La filologia musicale, Bd. 1, 115–116. 25 Vgl. Simon Sechter, Die Grundsätze der musikalischen Komposition, 3 Bde., Leipzig 1853–54; Alberto Fassone, Anton Bruckner und seine Zeit, Laaber 2019; Elmar Seidel, „Simon Sechters Lehre von der richtigen Folge der Grundharmonien und Bruckners Harmonik. Erwägungen zur Analyse Brucknerscher Musik“, in: Anton Bruckner. Tradition und Fortschritt in der Kirchenmusik des 19. Jahrhunderts, Sinzig 2001 (= Kirchenmusikalische Studien 7), 307–338; Ulf Thomson, Voraussetzungen und Artungen der österreichischen Generalbasslehre zwischen Albrechtsberger und Sechter, Tutzing 1978.

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hält, auf ein klar abgegrenztes melodisches Konstrukt mit festem rhythmischen Umriss und harmonischen Implikationen. Alles Übrige gehört in den Bereich der „Bearbeitung“, scilicet der Bearbeitung jener Anfangsidee, die der Komponist „transkribiert“ und die den kompositorischen Prozess in Gang gesetzt hat. Richard Strauss stellte seinerseits fest, dass die ihm einfallenden Melodien nur „eine zwei- bis viertaktige melodische Phrase“ umfassten, der „Einfall“ sei somit kurzatmig und erfordere für seine kompositorische Fortsetzung und Ausgestaltung „große Muße“, „längeres Nachdenken“ oder „seelische Erregungen“. 26 Einen Versuch, den „romantischen“ Hiatus zwischen Intuition und Verarbeitung in der philosophischen Ref lexion über den schöpferischen Prozess zu schließen, sollte im 20. Jahrhundert unter anderem ein Denker europäischen Formats wie Luigi Pareyson (1918–1991) in seiner Theorie der „Formativität“ unternehmen. 27 Die „absolute Melodie“ soll für Busoni darüber hinaus einen „Gemütszustand“ ausdrücken (s. u.); sie soll außerdem unabhängig von dem ihr eventuell unterlegten Text sowie von der Begleitung, von der ausgewählten Tonart und vom jeweils verwendeten Instrument sein (ein Vergleich mit Schönbergs 1912 für Kandinskys und Marcs Almanach Der Blaue Reiter geschriebenen Aufsatz „Das Verhältnis zum Text“ 28 wäre in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreich, würde aber den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen). Es ist offenkundig, dass die harmonische Komponente des diastematischen, rhythmisch artikulierten Kerns gleichsam ein Bild mit geringer Auf lösung ergibt, denn Busoni setzt sich über den Unterschied zwischen diatonischen und chromatischen Halbtönen hinweg, deren Identität erst die Notation festlegen kann. Die „ursprüngliche Idee“ erscheint somit seltsam substanzlos und abstrakt, 29 man kann sie jener Ordnungsklasse von Phänomenen zuordnen, die Carl Dahlhaus als „vormusikalisch“ bezeichnete und die als solche streng genommen (noch) nicht aufgezeichnet werden können. Die Notwendigkeit, dass die „absolute Melodie“, die Busoni für einen wesentlichen Bestandteil der „Jungen Klassizität“ 30 erachtete, einen „Gemütszustand“ 26 Richard Strauss, „Vom melodischen Einfall“, in: Betrachtungen und Erinnerungen, 165. 27 Vgl. Luigi Pareyson, Estetica. Teoria della formatività, Mailand 1988. Pareyson vollzieht in seiner Ästhetik die Überwindung des Idealismus Benedetto Croces. 28 Vgl. Peter Anselm Riedl, Kandinsky, Reinbek 62001, 55–76 („Der Blaue Reiter“); Hajo Düchting (Hg.), Der Blaue Reiter, Köln 2016. 29 Die Abstraktion ist nicht von ungefähr ein Attribut der „Idee“, wie sie Busoni vorschwebt. 30 So schreibt Luisa Zanoncelli („Cause prime e cause seconde dell’approdo di Busoni alla Nuova Classicità“, in: Il flusso del tempo. Scritti su Ferruccio Busoni, hg. von Sergio Sablich und Rossana Dalmonte, Mailand 1986, 71): „Della Nuova Classicità sono dichiarati presupposti fondamentali l’idea dell’unità della musica, un rinnovato impiego della melodia e della musica assoluta, cui conseguirà la proclamazione dell’opera (del melodramma) come forma unica e universale dell’avvenire.“ (,Die grundsätzlichen Prämissen der Jungen Klassizität sind die Einheit der Musik, eine erneuerte Verwendung der Melodie und der absoluten Musik, woraus die Erhebung der Oper – des Melodrama – zur einzigen und universalen Form der Zukunft erfolgt.‘)

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wiedergibt, verrät unmissverständlich, dass Busonis Kunstauffassung in der Ausdrucksästhetik des 19. Jahrhunderts wurzelt und somit den Prinzipien einer Ästhetik zuwiderläuft, die zumeist unüberlegt als „antiromantisch“ qualifiziert wird. Das Gefühl der „absoluten Melodie“, das immer „zwei Gefährten“, „Geschmack und Stil“ (hinzu kommt im Entwurf noch die kompositorische „Ökonomie“) fordert, erscheint jedoch als transsubjektiv im Sinne Schopenhauers, für den die Gefühlsregungen, die in der Musik zum Ausdruck gelangen, Wesenheiten sind, die einen Gemütszustand in abstracto wiedergeben. In seiner Schrift „Junge Klassizität“ vom Januar 1921 verlangt Busoni für die Musik den „Weg zur Objektivität“ durch „Entsagung gegenüber dem Subjektivismus“ und „Zurücktreten des Autors gegenüber dem Werke“; Busonis Ideal ist das eines „verborgenen Gefühlsgehaltes“. Signifikant in diesem Zusammenhang mag im Entwurf die scharfe Kritik am „Formalismus“ Eduard Hanslicks (1825–1904) und an der Programmmusik sein, die Busoni für zwei ästhetische Verirrungen hält. Seine Idee der „absoluten Melodie“ distanziert sich nämlich sowohl von Hanslick als auch von Wagner, in dessen Schriften der Terminus für die „absolute“, nicht vom Drama motivierte Arabeske des „reinen“ Musikers Rossini steht. Wie der rumänische Komponist und Musikwissenschaftler Roman Vlad (1919–2013) scharfsinnig angemerkt hat, 31 umfasst Busonis Poetik zwei extreme Bereiche, die „äußerste metaphysische Hingabe“ und das „intellektualistische Divertissement“ – man denke an Arlecchino, oder Die Fenster (1914–16) – und schlägt somit gleichsam einen Bogen um die mittlere Sphäre der „gewöhnlichen“ irdischen Gefühle. Dass gerade das Fehlen dieser mittleren Sphäre in der Rezeptionsgeschichte seiner Werke eine negative Rolle gespielt hat, liegt auf der Hand: Busonis Musik sollte nie populär werden. Die Tatsache, dass Busoni in seinem Entwurf und in anderen Schriften das Fortbestehen einer architektonischen Formauffassung bei Beethoven konstatiert, die sich in den zahlreichen Wiederholungen widerspiegele, die Busoni als Folge einer formalistisch-schulmäßigen Einstellung tadelt, passt gerade in die oben dargestellte begriff liche Dichotomie (er kritisiert sogar das Adagio aus der von ihm souverän gemeisterten Hammerklaviersonate op. 106, deren Fuge er im Anhang zu seiner Ausgabe des Wohltemperierten Klaviers analysiert). Busoni scheint sich tatsächlich über die Dialektik von Formprozess und motivischer Substanz hinwegzusetzen, das heißt über jene Prozessualität der Form, die Beethoven, seitdem er um 1802/03 mit den Klaviervariationen op. 34 und op. 35, den Sonaten op. 31 und der Eroica den „neuen Weg“ einschlug, entwickelte. 32 Busoni bemüht sich 31 Vgl. Roman Vlad, „Busoni, Ferruccio“, in: DEUUM, Le Biografie, Bd. 2, hg. von Alberto Basso, Turin 1985, 8: „[…] l’estremo impegno metafisico è ,il divertissement intellettualistico‘.“ Letzterer Kategorie ist unter anderem auch Busonis Hommage an Johann Strauß von 1920, der Tanzwalzer op. 53, zuzuordnen. 32 Vgl. Carl Dahlhaus, Ludwig van Beethoven und seine Zeit, Laaber 31993, 207–222 .

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hingegen, den metaphysischen Primat der ursprünglichen Idee aufrechtzuerhalten und lässt dadurch die bei Beethoven die Form von innen steuernden Organisationsprinzipien vollauf unberücksichtigt: Er setzt ihnen die romantische Idee der „reinen“, zumeist aphoristischen (poetischen) Intuition entgegen. Letztere ist aber Ausdruck eines einmaligen Erlebnisses und fand in den Jahrzehnten nach Beethovens Tode nicht in der Sonate, sondern im lyrischen Charakterstück ihre ideale Ausprägung (Busoni wusste übrigens nicht, wie komplex der Entstehungsprozess war, aus dem auch Beethovens Klavier-Bagatellen hervorgingen, was die Skizzen hinlänglich dokumentieren 33). Hans Pfitzners (1869–1949) Zerebralismus-Vorwurf in dessen Aufsatz „Futuristengefahr“ (1917), 34 der sich gegen Busoni richtete, der seinerseits mit einem Artikel in der Vossischen Zeitung vom 3. Juni 1917 darauf reagierte, wurzelt letztendlich in derselben romantischen Vorstellung, von der auch Busonis Ästhetik gespeist wird. Dass Busoni gerade jene Klavierwerke von Robert Schumann nicht schätzte, sondern nahezu hasste, die sich wie Papillons, Kreisleriana, Kinderszenen, Carnaval, Davidsbündlertänze usw. aus einer Reihenfolge lyrischer Klavierstücke zusammensetzen, die der Komponist zur höheren formalen und poetischen Einheit eines Zyklus zusammengefasst hatte, hängt vielmehr von seinen persönlichen Vorurteilen gegen die vermeintlich „kleinbürgerliche“, das heißt „nicht kosmopolitische“ Kunst des deutschen Komponisten ab, was nichtsdestoweniger einen der vielen Widersprüche darstellt, die Busonis ästhetisches Denken kennzeichnen. 35 Ist Sablichs Unterscheidung an sich durchaus treffend, so ergibt sich ein weiteres Problem daraus, dass die Notation – also die Transkription – der „absoluten Melodie“ für Busoni eine Entfernung von der reinen Idee und daher, (neo-) platonisch gedacht, eine Verarmung derselben darstellt, die vom Komponisten in dem Augenblick ‚verraten‘ wird, in dem er sie auf dem Papier festhält. Diese Ebene von Busonis Ontologie des Kunstwerks bildet den Gipfel der Pyramide „Komposition/Bearbeitung/Aufführung“ („Auch der Vortrag eines Werkes ist eine Transkription“ 36), die auf der gemeinsamen Grundlage der Transkription beruht. Es handelt sich dabei um das theoretische und praktische Fundament, das dem Komponisten und dem Virtuosen eine reductio ad unum ermöglicht, infolge derer sein theoretisches Gebäude, so widerspruchsvoll es auch erscheinen mag und obwohl es unleugbar durch Brüche und Risse durchzogen ist (wir haben 33 Vgl. dazu Barry Cooper, Beethoven and the Creative Process, Oxford 1990, 263–282. 34 Vgl. Albrecht Riethmüller, „Futurismus der Tonkunst? Zu Ferruccio Busoni und Umberto Boccioni“, in: Der musikalische Futurismus, hg. von Dietrich Kämper, Laaber 1999, 125–147. 35 Alban Bergs Hervorhebung des reflexiven Moments in der Komposition in Busonis Aufsatz von 1920 fand gerade anhand eines lyrischen Klavierstücks Robert Schumanns statt (der berühmten Träumerei aus den Kinderszenen; vgl. „Die musikalische Impotenz der ‚Neuen Ästhetik‘ Hans Pfitzners“, in: Musikblätter des Anbruch 2 [1920], 399–408, hier 406). 36 Busoni, Entwurf, 29.

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eine Aporie zwischen der Idee und deren Ausarbeitung festgestellt), eine außergewöhnliche Kohärenz aufweist. Diese ästhetische Grundlage ist eine unerlässliche Voraussetzung nicht nur für Busonis Tätigkeit als Komponist und Interpret, sondern auch seine äußerst rege Arbeit als Herausgeber: Er legte in der von ihm von 1900 bis 1920 herausgegebenen Ausgabe von Liszts Klavierwerken einen beträchtlichen philologischen Scharfsinn an den Tag und zeigte sich dem modernen wissenschaftlichen Geist gegenüber durchaus offen. Für Busoni besteht übrigens keine Kluft zwischen dem wissenschaftlichen Anspruch der sogenannten „Denkmäler der Tonkunst“, die für das 19. Jahrhundert charakteristisch waren, und den „praktischen Ausgaben“, die der Praxis dienen sollen: Der Transkriptionsbegriff überbrückt die Lücke zwischen beiden Bereichen. 37 Andererseits fertigte Busoni von manchen Werken Studien- und Konzertausgaben an, die viel freier sind und schon zur Zeit ihrer Publikation für ästhetisch fragwürdig erachtet wurden, wie im Grenzfall des Klavierstücks op. 11 Nr. 2 von Schönberg, 38 das unseren Kategorien zufolge eher dem Bereich der freien Bearbeitungen zuzuordnen wäre. Bekanntlich nahm Schönberg von dieser höchst eigensinnigen „Konzertbearbeitung“ seines Klavierstücks entschieden Abstand. Das Werk hatte eine veritable Metamorphose erlebt: Busoni hatte nämlich viel mehr als eine alternative Fassung vorgelegt, da er das Klavierstück den Bedürfnissen der Aufführung im Konzertsaal angepasst und es nach einer Konzeption des Klavierstils umgestaltet hatte, die weit entfernt war von der ursprünglichen Idee des Autors. Man sollte in diesem Zusammenhang die zentrale Rolle nicht vergessen, die in Busonis kompositorischer Tätigkeit dem Prinzip der als „Bearbeitung“ und „Adaption“ aufgefassten Transkription zukommt: Nicht weniger als fünf seiner sieben Elegien für Solo-Klavier von 1907 entstanden als Bearbeitungen von Werken, die entweder schon fertig vorlagen oder an denen Busoni zu jener Zeit arbeitete. 39 Untersucht man die theoretischen Voraussetzungen des bisher analysierten Postulats weiter, so kann man weitere musikalische Traditionen aufdecken, die zur Herausbildung eines solchen Postulats von nicht marginaler Bedeutung sein dürften. Insbesondere Liszts Musiksprache scheint auch diesbezüglich ausschlaggebend gewesen zu sein: Busonis Transkriptionsbegriff erscheint als idealistisch37 Vgl. Schmid, Notationskunde, 283–286. 38 Vgl. Virgilio Bernardoni, „Busoni verso Schönberg: la Sonatina seconda“, in: Ferruccio Busoni e il pianoforte del Novecento. Convegno internazionale di studi, Centro Studi Musicali Ferruccio Busoni, Empoli, Convento degli Agostiniani, 12./14. November 1999, hg. von Marco Vincenzi, Lucca 1995–2001 (= Quaderni Musica/Realtà 50), 239–254. 39 Die Werke, auf die Busoni bei der Komposition der Elegien zurückgriff, sind das Konzert für Klavier, Orchester und Männerchor op. 39 für die Zweite Elegie; das fünfte Stück der Orchestermusik für Turandot für die Vierte Elegie; der Nächtliche Walzer, wieder aus der Turandot-Musik, für die Fünfte Elegie; Die Nächtlichen. Walzer (die Szene der Erscheinung aus der Oper Die Brautwahl) in Erscheinung, Sechste Elegie; sowie die Berceuse élégiaque für die Siebte Elegie.

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metaphysische Überhöhung jener Konzeption eines wandlungsfähigen Materials, die für Liszts Musiksprache überaus kennzeichnend war und auf die Musikhistoriker wie Wolfgang Dömling verwiesen haben: Die Metamorphosen, denen Liszt die eigene Musiksprache unterzog bzw. die Ausführenden freimütig anregte zu unterziehen, seine in manchen Werken klar ausgeprägte Tendenz zum ‚offenen Werk‘ stützen sich auf die Vorstellung eines Opus, das sich jeweils vollkommen (nicht unvollkommen!) in einer Vielfalt von schillernden Klangformen konkretisiert, die gleichberechtigt in Erscheinung treten. Das bringt eine Vielfalt möglicher Ausprägungen des musikalischen Materials und letztendlich auch des Werks selbst hervor: Im 19. Jahrhundert, in einer Epoche, die höchsten Wert legt auf das besondere, das individuelle, unwiederholbare Kunstgebilde, ist ein Oeuvre, das zu einem Großteil aus Mehrfachversionen besteht, ein seltsames Phänomen, das denn auch die Zeitgenossen gehörig irritierte; einer Epoche, die die Anschauung verteidigte, ein Kunstwerk müsse gerade so und könne nicht anders sein, war ein Schaffen, das gerade das Gegenteil zu demonstrieren schien – ein Werk nämlich könne zwar so sein, ebenso gut aber auch anders –, grundsätzlich des Unkünstlerischen verdächtigt.40

Die „Ossia“-Ästhetik – das Wort, das für eine oder mehrere mögliche Alternativen steht, kommt in Liszts Klavierwerken am häufigsten vor – wird von Busoni in einem metaphysischen Elan transzendiert, der sich über all die Unvollkommenheiten jeder Konkretion der Idee hinwegsetzt und die universale Dimension jedes Kunstwerks anerkennt. Laut Busoni bleibt jede gute, große, „universale“ Musik dieselbe, durch welches Instrument auch immer sie zum Erklingen gebracht wird (so schreibt Busoni in seinem Aufsatz über den „Wert der Bearbeitung“). Die Idee glänzt über den Klang hinaus in allen Gestalten, die ein Werk annimmt – obwohl „verschiedene Mittel“, so muss Busoni allerdings konzedieren, „eine verschiedene Sprache haben.“ Auch in diesem Fall fehlen in Busonis Überlegungen nicht auffällige Widersprüche, etwa wenn er in seinem Aufsatz „Qualche appunto sulla strumentazione“ (1905) von einer „absoluten Instrumentation“ spricht, die kein sekundäres Moment darstelle, sondern zusammen mit der Idee selbst zur Erscheinung komme; Busoni sieht übrigens aus einer historisch durchaus korrekten 40 Dass Liszt für die Dante-Symphonie zwei verschiedene Schlüsse konträren Charakters komponierte, sie gleichberechtigt nebeneinanderstellte und die Wahl ad libitum dem Dirigenten überließ, war im 19. Jahrhundert nichts anderes als ein Zeichen von künstlerischer Schwäche: „Die Individualität des Werks ist hiermit, obschon bloß partiell, ausgehöhlt.“ (Wolfgang Dömling, Franz Liszt und seine Zeit, Laaber 1985, 160.) Man sollte die Tatsache nicht vergessen, dass das Arrangement eine zentrale Rolle in der Konzertpraxis der Zeit spielte: „Vom Virtuosen erwartete man, daß er nicht nur reproduzieren, sondern ad hoc eine Variationenfolge, eine Paraphrase erfinden konnte.“ (Ebd., 164.)

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Perspektive heraus in Hector Berlioz’ Orchestermusik den reinsten Ausdruck dieser „absoluten Instrumentation“. All diese Widersprüche und latenten Aporien dürfen jedoch, das können wir aus unseren Überlegungen schließen, die vereinheitlichende Funktion nicht vergessen lassen, die das Prinzip „Transkription“ in Busonis Ästhetik erfüllt.

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Thomas Wozonig

„Es ist daher Unsinn zu glauben, daß ich für alle die Werke, die ich mache, mich einsetze“ Wilhelm Furtwängler als Sibelius-Dirigent Thomas Wozonig Eine Arbeit, die sich der Auseinandersetzung Wilhelm Furtwänglers mit Jean Sibelius annimmt, scheint in dem Leitgedanken „Musik im Zusammenhang“ in besonderem Maße aufzugehen, sahen sich doch beide Musiker bereits zu ihren Lebzeiten damit konfrontiert, dass sich ihr künstlerisches Tun stets in besonderen kulturellen, politischen und musikästhetischen Zusammenhängen entfaltete, die ihre Rezeption jahrzehntelang (und teils bis heute) bestimmte. Im Falle Furtwänglers war dies das zwar keineswegs vorbehaltlose, gleichwohl naiven wie opportunistischen Charakterzügen geschuldete Arrangement mit dem NS-Regime,1 dank dessen Fürsprache er sich als einer der zentralen Musiker des „Reiches“ profilierte. Demgegenüber war Jean Sibelius bereits ein halbes Jahrhundert zuvor, während seiner Studienzeit in Deutschland, vor Augen geführt worden, dass sein Schaffen größtenteils im Zusammenhang mit seiner „nordischen Herkunft“2 rezipiert wurde (wobei er seinen früh erlangten Ruf als „Finland’s voice in the world“3 durchaus für sein Fortkommen auszunützen trachtete4). Die „nordische Herkunft“ war es aber auch, die Sibelius’ Musik in der NS-Zeit vorübergehend zu einem attraktiven Objekt politischer Vereinnahmung werden ließ, wobei diese Vorgänge sowohl ohne übermäßiges Zutun als auch ohne nennenswerten Widerstand des Komponisten vonstattengingen.5 1

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Hierfür sei etwa auf die Arbeiten Fred K. Priebergs (Kraftprobe. Wilhelm Furtwängler im Dritten Reich, Wiesbaden 1986) und jüngst Roger Allens (Wilhelm Furtwängler. Art and the Politics of the Unpolitical, Woodbridge 2018), aber auch auf die lesenswerte Biographie Herbert Haffners verwiesen (Furtwängler, Berlin 2003, bes. 152–207). Bereits Sibelius’ langjähriger Mentor und Freund Ferruccio Busoni rechtfertigte 1890/91 in einem (heute allerdings verschollenen) Empfehlungsschreiben an Johannes Brahms das in seinen Augen hohe Alter seines Schützlings mit der Bemerkung: „Seiner nordischen Herkunft gemäss ist er später entwickelt als wir.“ (Zit. nach Erik Tawaststjerna, Sibelius, übersetzt von Robert Layton, Bd. 1, London 2008, 72.) Robert Layton, Sibelius, London 41992, 35. Dies trifft vor allem auf den Beginn seiner Karriere mit einem Höhepunkt um die Jahrhundertwende zu. Später wurde ihm sein Ruf als Schöpfer „reine[r] Heimatkunst“ (Walter Niemann, Jean Sibelius, Leipzig 1917, 23) überaus unangenehm, zumal er generell eine (eher innerliche denn artikulierte) Skepsis gegenüber den nationalistischen Vorgängen in seinem Heimatland entwickelte (Ruth-Maria Gleißner, Der unpolitische Komponist als Politikum. Die Rezeption von Jean Sibelius im NS-Staat, Frankfurt a. M. 2002, 21–33). Zu Sibelius’ Haltung und Verhalten gegenüber dem NS-Regime vgl. ebd., 33–42.

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Wilhelm Furtwängler als Sibelius-Dirigent

Obgleich es sich bei Wilhelm Furtwängler um den wohl prominentesten deutschen Dirigenten handelt, der in dieser Zeit wiederholt Sibelius’ Werke dirigierte, wird seine Auseinandersetzung mit dem Komponisten selten ernstlich untersucht und erschöpft sich, je nach Perspektive, zumeist in beiläufigen Erwähnungen des jeweils anderen. Zwar scheint es, dass Furtwängler aufgrund seiner anhaltenden Popularität und unstrittigen musikhistorischen Bedeutung in Arbeiten über Sibelius nicht übergangen werden kann6 – umso mehr, als erst mit Herbert von Karajan ein herausragender Dirigent der deutsch-österreichischen Tradition mit ausgeprägter Sibelius-Affinität in der Musikgeschichte in Erscheinung tritt (Felix Weingartner, der sich hierfür ebenfalls anböte, hat bedauerlicherweise keine Sibelius-Einspielungen hinterlassen). Die wenigen verstreuten Bemerkungen vermitteln allerdings auch den Eindruck, dass darüber, wie Furtwänglers Beschäftigung mit Sibelius zu bewerten sei, kein allgemeiner Konsens besteht.7 Die folgenden Überlegungen sollen dazu beitragen, Furtwänglers Auseinandersetzung mit Sibelius’ Musik vor dem Hintergrund der oben skizzierten Zusammenhänge, seiner musikästhetischen Ansichten und dirigentischen Aktivitäten zu differenzieren. Die Argumentationen und Überlegungen, die – das sei hier vorweggenommen – wohl aufrichtige, allerdings oberflächliche Sympathien für den finnländischen8 Komponisten zeigen, stützen sich dabei ausschließlich auf Furtwänglers Konzerttätigkeiten; die drei erhaltenen Mitschnitte von Sibelius-Werken – das Violinkonzert und En Saga von 1943 sowie ein weiteres Mal En Saga von 1950 – 6

7

8

Umgekehrt existieren zahlreiche Furtwängler-Biographien, in denen Sibelius gänzlich unerwähnt bleibt (überraschend etwa Prieberg, Kraftprobe). Auffallend oft wird Sibelius dabei in Aufzählungen ausgespart, die lediglich als (mehr oder weniger) repräsentativer Querschnitt der damals von Furtwängler dirigierten Moderne dienen sollen. Hier zeigt sich eine bis heute spürbare Scheu, Sibelius als „modernen“ Komponisten zu bezeichnen. Symptomatisch ist hierfür etwa eine Passage aus dem Buch der Tochter des Dirigenten, Elisabeth Furtwängler: „Furtwängler führte zudem in seinen philharmonischen Konzerten häufig zeitgenössische, ausländische Komponisten auf, unter anderen Bartók, Ernest Bloch, Casella, Glasunow, Honegger, Kodály und natürlich Strawinsky“ (Über Wilhelm Furtwängler, Wiesbaden 42006, 118, Hervorhebung durch den Autor). Mit Ausnahme von Bartók und Strawinsky spielen die erwähnten Komponisten in Furtwänglers Repertoire nur eine unwesentliche Rolle: Honegger erscheint, über Furtwänglers gesamte Karriere gerechnet, immerhin noch in dreizehn seiner Konzerte, Kodály in fünf, Bloch und Glazunov jeweils in vier, Casella schließlich in lediglich drei Konzerten – alle also wesentlich seltener als Sibelius (siehe unten). Während Tomi Mäkelä Furtwängler beiläufig als einen „auch vom Komponisten sehr geschätzte[n] Sibelius-Dirigent[en]“ ( Jean Sibelius und seine Zeit, 53) und Herbert Haffner Valse triste sogar etwas übermütig als ein „Paradestück“ des jungen Furtwängler bezeichnet (Furtwängler, 55), wird die Rolle Furtwänglers („he occasionally conducted his work“) durch Layton stärker relativiert (Sibelius, 64 – die einzige Erwähnung Furtwänglers in Laytons Monographie). Trotz seiner nach heutigen Grenzen finnischen (Orts-)Herkunft ist es, wie Gleißner mit Blick auf Sibelius’ schwedisch geprägten familiären Hintergrund richtig zu bedenken gibt, höchst problematisch, Sibelius als Finnen zu bezeichnen. Im Folgenden wird daher auf Gleißners (gewiss gewöhnungsbedürftigen) Vorschlag des finnländischen Komponisten zurückgegriffen (Gleißner, Der unpolitische Komponist, 14).

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werden, da reine Nebenprodukte und keinesfalls von Furtwängler in bewusster künstlerischer Absicht auf Tonträgern fixiert, nicht behandelt.9

Furtwängler dirigiert Sich in der hier gebotenen Kürze die vielschichtige, sprunghafte und meist eher politischen und ideologischen denn rein musikalischen Faktoren unterworfene Sibelius-Rezeption der ersten Jahrhunderthälfte, die den Boden für Furtwänglers Wirken darstellte, zu vergegenwärtigen, heißt, auf die Dissertation von RuthMaria Gleißner zu verweisen.10 Wie Gleißner in ihrem unschätzbaren Beitrag zur Rezeptionsgeschichte des Komponisten darlegt, verhält sich Sibelius’ Popularität vor 1918 und nach 1933 zu jener während der Weimarer Republik wie die Ränder eines Tals zu dessen Sohle: Einem kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs erreichten Höhepunkt, der sich vor allem der Begeisterung für die als „exotisch“, „volkstümlich“ und „patriotisch“ wahrgenommenen Facetten seines Schaffens, daneben nicht unwesentlich den politischen Beziehungen Deutschlands und Finnlands verdankte, folgte eine zunehmende Distanziertheit zu seiner Musik in der Weimarer Republik: Die „Heimatkunst“, die sich vermeintlich in Ton- und Stimmungsmalerei und in der Schilderung des Lokalkolorits erschöpfte, hatte [nach 1918] ihre Anziehungskraft verloren, sie konnte den deutschen Vorstellungen von formaler Klarheit, thematischer Prägnanz und stringenter Entwicklung, die gerade der Schönberg-Kreis in seiner Musik und Ästhetik wieder stark in den Vordergrund rückte, nicht genügen.11

Gleichwohl zählte Sibelius in der Weimarer Republik statistisch gesehen zu den am häufigsten gespielten lebenden ausländischen Komponisten. Die Aufführungszahlen seiner Werke (die sich allerdings von Ort zu Ort beziehungsweise Orchester zu Orchester teils deutlich unterscheiden) bewegen sich etwa auf dem Niveau derer Claude Debussys, Ottorino Respighis oder Sergej Prokof ’evs, meist etwas unter denen Maurice Ravels, deutlicher wiederum unter denen des etwa doppelt so häufig gespielten Igor Strawinsky, ohne freilich die Popularität der Deutschen 9

Für nähere Informationen zu den Einspielungen vgl. René Trémine, Wilhelm Furtwängler. A Discography, Groslay 1997, 24–25. Einige Bemerkungen zu Furtwänglers Einspielungen, die sogar am Anfang einer „[Interpretations-]Richtung von sehr langsamen Tempi mit einer Ahnung von Tiefe und Düsterkeit“ in der Sibelius-Rezeption stehen, liefert Risto Vöisänen, „Skizzen zu historischen Aufführungstraditionen der Orchesterwerke von Jean Sibelius“, in: Sibelius und Deutschland. Vorträge des am Finnland-Institut in Deutschland, Berlin, abgehaltenen Symposiums vom 3.–7. März 1998, hg. von Ahti Jäntti, Annemarie Vogt und Marion Holtkamp, Berlin 2000, 117–132, hier 124. Einen Einblick in Furtwänglers Verhältnis zu Musikaufzeichnungen im Allgemeinen liefert Elisabeth Furtwängler, Über Wilhelm Furtwängler, 90–105. 10 Gleißner, Der unpolitische Komponist. 11 Ebd., 67–68.

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Hans Pfitzner, Max Reger und vor allem Richard Strauss zu erreichen. Allerdings nahm die Präsenz seiner Werke im deutschen Musikleben im Laufe der 1920er Jahre stark ab und erreichte zum Zeitpunkt der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten einen „absoluten Tiefpunkt“.12 Erst nach 1933 stiegen die Zahlen wieder und ließen Sibelius in der Statistik zum populärsten ausländischen Zeitgenossen (neben Respighi) aufrücken. Die Liste von Dirigenten, die in den 1930er und -40er Jahren ( jedoch meist nur vereinzelt) Werke von Sibelius aufführten, ist durchaus beachtlich und beinhaltet auch einige aus heutiger Sicht überraschende Namen, so etwa Otto Klemperer, Clemens Krauss, Bruno Walter, Eugen Jochum oder (nach dem Krieg) Hans Knappertsbusch, wobei letzterer jener großen Gruppe von Orchesterleitern angehört, die nur über das ausgesprochen populäre Violinkonzert mit Sibelius’ Musik in Berührung kamen.13 Aber auch im NS-Staat gestaltete sich seine Rezeption als äußerst uneinheitlicher, meist nur von einigen Angehörigen der politischen und kulturellen Führungsschicht forcierter Prozess; wie Gleißner aufzeigt, konnte sich Sibelius auch in der NS-Zeit niemals wirklich fest und dauerhaft im deutschen Musikleben etablieren. […] Sibelius und seine Musik trafen im NS-Staat nicht auf eine breite Interessensbasis, und die Begeisterung für bzw. der Kult um den Komponisten wurde keineswegs von der Mehrheit der deutschen Musikrezipienten getragen.14

Dieser Umstand spiegelt sich in zahlreichen Konzertkritiken aus jener Zeit wieder, die – meist mit Bedauern – konstatieren, dass „diese Kunst des bei uns noch weniger bekannten Symphonikers“15 auf deutschen Konzertbühnen relativ selten gespielt wurde und man „alle Ursache [habe], uns mit den Werken des Altmeisters unter den finnischen Nationalkomponisten bekanntzumachen.“16 Vor diesem Hintergrund entfaltet sich nun Furtwänglers nicht ganz fünf Jahrzehnte (1906–54) umfassende Karriere mit rund 3.200 geleiteten Konzert- und Opernaufführungen.17 In 45 dieser Veranstaltungen (inkl. wiederholter Kon12 Ebd., 213. 13 Nach freundlicher Mitteilung von Verena Alves und Katja Vobiller vom Archiv der Berliner Philharmoniker, denen ich an dieser Stelle sehr herzlich für Ihre Unterstützung bei der Sichtung und Auswertung von Quellenmaterial aus dem Archiv danken möchte. 14 Ebd., 14, 18. 15 Herbert Gerigk, „Meisterkonzert mit Furtwängler“, Ausschnitt aus einer nicht benannten Zeitung, datiert mit 6. Jännner 1940. Archiv der Berliner Philharmoniker. 16 Otto Steinhagen, „Furtwänglers großes Brahmserlebnis“, Ausschnitt aus einer nicht benannten Zeitung, datiert mit 25. November 1935. Archiv der Berliner Philharmoniker. 17 Sofern nicht anders angegeben, entstammen die Zahlen und Daten zu Furtwänglers Konzerttätigkeit der Datenbank der Société Wilhelm Furtwängler (https://furtwangler.fr/en/concert-list/) (28.1.2019).

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zerte) stand mindestens ein Werk von Jean Sibelius am Programm, in zumindest sechs weiteren war eine seiner Kompositionen immerhin geplant:18 Datum

Ort / Orchester

Sibelius-Werk(e)

5. April 1911

Lübeck (Orchester des Vereins der Musikfreunde)

Valse triste

30. Oktober 1912

Lübeck (Orchester des Vereins der Musikfreunde)

Finlandia

19. März 1913

Lübeck (Orchester des Vereins der Musikfreunde)

Valse triste

1. März 1923

Leipzig (Gewandhausorchester)

En Saga

4./5. März 1923

Berlin (Berliner Philharmoniker)

En Saga

1./2. März 1925

Berlin (Berliner Philharmoniker)

Violinkonzert von Sibelius (Holst) geplant, aber letztlich nicht aufgeführt

24./25. Feber 1927

New York (New York Philharmonic)

The Tempest

6./7. März 1927

New York / Philadelphia (New York Philharmonic) The Tempest

8.–10. März 1927

Washington/Baltimore/Harrisburg (New York Philharmonic)

The Tempest

12. März 1927

Pittsburgh (New York Philharmonic)

The Tempest

18.+.19. März 1928

Berlin (Berliner Philharmoniker)

Violinkonzert (von Vecsey)

3. März 1931

Liverpool (Berliner Philharmoniker)

En Saga

5. März 1931

Glasgow (Berliner Philharmoniker)

En Saga

6. März 1931

Dundee (Berliner Philharmoniker)

En Saga

7./8. März 1931

Edinburgh / London (Berliner Philharmoniker)

En Saga

26. Juni 1935 24./25. November 1935 26. November 1935

Lübeck (Berliner Philharmoniker)

7. Sinfonie

Berlin (Berliner Philharmoniker)

7. Sinfonie

Hannover (Berliner Philharmoniker)

7. Sinfonie

30. November 1935

London (Berliner Philharmoniker)

7. Sinfonie

13. Dezember 1935

Hamburg (Berliner Philharmoniker)

7. Sinfonie

5.–8. Jänner 1940

Berlin (Berliner Philharmoniker)

2. Sinfonie

18 Ohne sie hier im Detail diskutieren zu können, sei auf die abweichenden Aufführungszahlen für Sibelius-Werke bei Friedrich Herzfeld, Wilhelm Furtwängler. Weg und Wesen, Leipzig 1941, 147– 150, 155 hingewiesen, der für einzelne Werke höhere, insgesamt jedoch niedrigere Werte angibt. Letzteres erstaunt umso mehr, als Herzfeld in einer einleitenden Passage gerade die Unerreichbarkeit vieler Quellen in Lübeck und Amerika bedauert. Da er sich auch auf „Musikfreunde und Privatsammler“ beruft, ist es zumindest vorstellbar, dass er tatsächlich Kenntnisse von Aktivitäten aus Furtwänglers Anfangsjahren besaß, die der heutigen Forschung verschlossen sind. Selbst dann sind Herzfelds Angaben zu Furtwänglers Sibelius-Dirigaten letztlich aber in kein schlüssiges Verhältnis mit den oben abgebildeten zu bringen, sodass seinen (weitgehend unbelegten) Angaben wohl teilweise schlichtweg Schätzungen zugrunde liegen dürften.

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12.–14. Jänner 1941

Berlin (Berliner Philharmoniker)

Sibelius-Werk geplant, aber letztlich nicht aufgeführt (verm. 2. Sinfonie)19

23. Jänner 1942 14./15. November 1942 2. Dezember 1942

Kopenhagen (Det Kongelige Kapel)

En Saga

Wien (Wiener Philharmoniker)

En Saga

Göteborg (Göteborg Orchestra)

En Saga

7.–10. Feber 1943

Berlin (Berliner Philharmoniker)

En Saga, Violinkonzert (Kulenkampff )

21. August 1943

Zürich (Tonhalle Orchester)

En Saga

11. März 1948

London (London Philharmonic)

En Saga

8. November 1948

Wolverhampton (Berliner Philharmoniker)

En Saga20

25. September 1950

Stockholm (Wiener Philharmoniker)

En Saga

27. September 1950

Helsinki (Wiener Philharmoniker)

En Saga

10. Oktober 1950

Münster (Wiener Philharmoniker)

En Saga

Konzerte Furtwänglers mit Werken von Jean Sibelius. Hellgrau hinterlegt sind vier Konzerttourneen mit dem New York Philharmonic Orchestra (1927), den Berliner Philharmonikern (1931 und 1935) sowie den Wiener Philharmonikern (1950). 19 20

In Lübeck, wo er seine erste Anstellung als Chefdirigent eines deutschen Orchesters innehatte, dirigierte Furtwängler mit den damals populären Valse triste (komp. 1904) und Finlandia (1899/1900) also erstmals Werke von Jean Sibelius in öffentlichen Konzerten. Erst zehn Jahre später – in diese Lücke fiel der Erste Weltkrieg – erschien Sibelius wieder punktuell in Furtwänglers Programmen, wobei er sein Repertoire um En Saga (1892/1902), das Violinkonzert (1903/05) und das Vorspiel zur Schauspielmusik zu William Shakespeares The Tempest (1925/26) erweiterte. Gerade das letztgenannte Werk hebt sich aus dieser Liste ab, handelte es sich doch um eine neue, erst wenige Monate zuvor uraufgeführte Komposition, die Furtwängler offenbar durch den dänischen Schriftsteller Gunnar Hauch nähergebracht worden war. 21 Dementsprechend stellte es, im Gegensatz zu den anderen erwähnten Werken, kein ‚erprobtes‘ oder gar etabliertes Sibelius-Werk dar; dass Furtwängler es nicht in Deutschland dirigieren wollte (oder konnte), erscheint im ersten Moment durchaus nachvollziehbar, wenn man sich die oben skizzierte, 19 Vgl. http://patangel.free.fr/furt/conce_en.htm#top (28.1.2019) 20 Ab dem 3. November 1948 unternahmen die Berliner Philharmoniker unter Wilhelm Furtwängler eine Konzertreise durch Großbritannien (und damit überhaupt die erste Auslandstournee seit Kriegsende). Für einige der letzten Stationen ging dann die musikalische Leitung der Tournee auf Sergiu Celibidache über; vgl. Klaus Lang, Wilhelm Furtwängler im Briefwechsel mit Wieland Wagner, Curt Riess, Walter Legge und Agathe von Tiedemann, Aachen 2013, 176. 21 Vgl. Tawastjerna, Sibelius, Bd. 3, 278. Das von Hauch behauptete Interesse Furtwänglers an Sibelius’ Der Barde op. 64 (vgl. ebd.) scheint dagegen nie zu konkreten Umsetzungen geführt zu haben.

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nicht unumstrittene Stellung des Komponisten in den 1920er Jahren vor Augen führt. 22 Gleichzeitig darf aber nicht übersehen werden, dass Furtwängler zu den vielseitigeren Dirigenten der Weimarer Republik zählte. Aufgrund seiner Bedeutung als Dirigent der deutschen Klassik und Romantik haftet ihm bis heute der Ruf an, nur ein begrenztes und konservatives Repertoire dirigiert zu haben. In den unmittelbaren Zeitzeugen des NS-Regimes musste sich dieser Eindruck fast unweigerlich ob der propagandistischen Überhöhung festsetzen, die Furtwänglers Musizieren als „Wirken des deutschesten Dirigenten und Musikers für die deutschen Meister“ 23 erfahren hatte; heute dagegen ist diese Wahrnehmung, wie Herbert Haffner sicher richtig argumentiert, vor allem der Rezeption Furtwänglers über Tonträger geschuldet. 24 Dementsprechend leicht wird Furtwänglers zwar punktueller, gleichwohl regelmäßiger Kontakt mit der führenden musikalischen Avantgarde der Weimarer Republik übersehen. Beispielsweise zeichnete er für die Uraufführung von Bártoks Erstem Klavierkonzert (unter Mitwirkung des Komponisten am Klavier im Rahmen des sechsten Weltmusiktages der Internationalen Gesellschaft für zeitgenössische Musik [IGNM] in Frankfurt 1927), Schönbergs Variationen op. 31 (Berlin 1928) und mehrerer Werke Paul Hindemiths verantwortlich. Auch Gustav Mahler, Igor Strawinsky oder Sergej Prokof ’ev erschienen häufig auf den Programmen Furtwänglers, der immerhin seit 1925 der deutschen Sektion der IGNM vorstand. 25 Hinzu kommen zahlreiche weitere Erkundungen innerhalb des zeitgenössischen Musikschaffens, die keinen bleibenden Niederschlag in Furtwänglers Repertoire fanden. 26 Aufgrund dieser Aktivitäten regte 22 Auch wenn Furtwängler selbst keine negativen Erfahrungen mit Sibelius-Erst- oder Uraufführungen machte, dürften ihn die regelmäßigen, teils vernichtenden Kritiken an Aufführungen vor allem größerer Sibelius-Werke (etwa der Vierten in Berlin 1916 unter Oskar Fried oder der Fünften im Rahmen des Nordischen Musikfests in Heidelberg 1924; vgl. Gleißner, Der unpolitische Komponist, 61–69) entmutigt haben. Furtwängler selbst wurde noch 1928 für seine Aufführung des Violinkonzerts getadelt: Eine sehr reservierte Kritik stammt von Alfred Einstein (Berliner Tageblatt, 20. März 1928), eine vernichtende von Heinrich Strobel: „Ein völlig mattes Stück, in gestaltloser Monotonie dahinschleichend ohne ein plastisches Thema (auch nicht im relativ bewegten Satz), ohne wirkliche Geigenvirtuosität, langweilende nordische Oede. Unverständlich, daß Furtwängler dieses blutlose Konzert überhaupt herausstellt“ (Berliner Börsen-Courier, 20. März 1928, zit. nach Erkki Salmenhaara, Jean Sibelius. Violin Concerto, Wilhelmshaven 1996, 55–56). 23 Oswald Schrenk, Wilhelm Furtwängler. Eine Studie, Berlin 1940, 11. 24 Vgl. Haffner, Furtwängler, 105. 25 Ebd., 106. Allerdings war Furtwängler auch für seine regelrechte Sucht nach Aufmerksamkeit und öffentlicher Darstellung bekannt, die sich in zahllosen Mitgliedschaften und Vereinstätigkeiten niederschlug und nur gelegentlich auf tatsächlicher Überzeugung für die jeweilige Sache fußte (ebd., 160). 26 Hier sind beispielsweise Franz Schreker (Vorspiel zu Die Gezeichneten, 28. Jänner 1919), Aleksandr Skrjabin (Le Poème de l’éxtase, 19. Oktober 1922 in Leipzig sowie am 22. und 23. Oktober 1922 in Berlin) oder Carl Nielsen (Fünfte Sinfonie, 1. Juli 1927 in Berlin sowie 27. Oktober 1927 in

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sich während seiner Zeit in Leipzig wie auch während seiner frühen Berliner Jahre „gar Protest gegen die allzu vielen Erst- und Uraufführungen“, so beispielsweise jene des Sacre du printemps 1924 in Berlin. 27 So sehr ihm gerade als selbst Schaffendem die Auseinandersetzung mit aktueller Musik also zweifellos ein persönliches Anliegen war, so legte er doch das größte Gewicht auf das zentrale Repertoire der deutschen Klassik und Romantik. Vor allem die Atonalität, zu jener Zeit engstens mit dem Schaffen der Wiener Schule assoziiert, bedeutete ihm eine Grenze, an die er sich mehrfach heranwagte, ohne sie aber letztlich überzeugt zu überschreiten. 28 Die auf den „natürlichen Gesetze[n] aller organischen Formung, [den] Gesetze[n] der Spannung und Entspannung“29 basierende Dur-Moll-Tonalität galt ihm als das oberste Kriterium für ein funktionierendes zeitgenössisches Musikschaffen; er postulierte, dass „[d]ie Tonalität nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft“ 30 sei und verschmähte dementsprechend alternative Kompositionsmethoden wie die Dodekaphonie als „intellektuelle Disziplin, die viel mit Technik, nichts aber mit Landschaft, Nation zu tun hat.“ 31 In der Sonate 32 bzw. der Sinfonie als deren vollkommensten Ausformung sah er den Gipfel dur-moll-tonalen Komponierens: Dieses Zielstrebige, dieser klare und unmißverständliche Zusammenhang des Ganzen kann nur durch reale, in der Natur begründete Gesetze geschaffen werden. Für die Musik ist dieses Gesetz die Tonalität. […] Ohne Tonalität ist eigentliche Sinfonik nicht denkbar. Alle Versuche, mit modern-atonalen oder polytonalen Mitteln (oder mittels tonaler „Inseln“) Sinfonien zu schreiben, sind von vornLeipzig) als prominente Vertreter auf einer langen Liste von Dirigaten zeitgenössischer Musik zu finden, welche zum weitaus größten Teil heute vergessene, vornehmlich deutsche Komponisten umfasst. 27 Haffner, Furtwängler, 109. 28 Außer Opus 31 und zweier Aufführungen der Orchesterstücke op. 16 hat Furtwängler keine weiteren Werke Schönbergs (den er fachlich sehr wohl schätzte) dirigiert, während etwa Werke von Alban Berg und Anton Webern nie in einem seiner Konzerte zur Aufführung kamen. 29 Wilhelm Furtwängler, „Moderne Musik“ [1949], in: Aufzeichnungen. 1924–1954, hg. von Elisabeth Furtwängler und Günter Birkner, Zürich 1996, 302–304, hier 304. Bereits 1937 hält Furtwängler fest: „Die Bedeutung der Tonalität ruht in nichts anderem als in der Möglichkeit zur d u r c h g r e i fe n d e n Form. […] Ohne durchgreifende Form keine wirklich organische und daher keine wirklich verpflichtende, ausdrückende Kunst. Dieser tiefere Sinn der Tonalität muß begriffen werden. Die ‚Sprache der Zeit‘ ist poly- oder atonal. […] Mut, sehr viel Mut – und zwar um so mehr, je exponierter einer heute steht – gehört aber dazu, heute konsequent tonal zu sein, und um eines lebendigen und modernen I n h a l t e s willen den Vorwurf, die ‚Sprache‘ des 19. Jahrhunderts zu sprechen, bewußt auf sich zu nehmen.“ (Ebd., 142.) 30 Wilhelm Furtwängler [1951], in: Aufzeichnungen, 328. 31 Wilhelm Furtwängler, Ton und Wort, Wiesbaden 91966, 210–211. 32 „Jede Musik, die nicht von außen [durch ein Programm] bewegt wird, sondern sich selber bewegt, wird entweder zur Fuge und Variation – wenn monothematisch – oder zur Sonate, wenn polythematisch.“ (Furtwängler [1940], in: Aufzeichnungen, 214–215.)

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Thomas Wozonig herein zum Scheitern verurteilt, da sie mit untauglichen Mitteln unternommen werden. Wirkliche Meister – Reger, Hindemith – haben das auch nie versucht. 33

Furtwängler dirigiert Sibelius Sibelius zählte demnach, wie beispielsweise Hans Pfitzner oder Ottorino Respighi, zu jenen Zeitgenossen, die Furtwänglers konservativen ästhetischen Idealen grundsätzlich zu entsprechen schienen. Obgleich sich Sibelius vor dem Ersten Weltkrieg in Berlin stark mit der damaligen musikalischen Avantgarde auseinandergesetzt hatte, blieben die Neuerungen ihrer führenden Vertreter ohne direkten Einf luss auf seine Musiksprache: Er brachte ihnen sehr wohl Interesse und Verständnis, letztlich aber keine künstlerische Überzeugung entgegen. 34 Seine Werke beruhen auf dem Fundament der Dur-Moll-Tonalität, die er allerdings, etwa durch modale, teils der Volksmusik seines Heimatlandes entlehnte Elemente, in eigener Weise modifiziert. Auch in seinem Gattungsdenken ist Sibelius wie Furtwängler konservativ. 35 Nun sah Furtwängler in der Dur-Moll-Tonalität etwas „Naturgegebenes“, wodurch jene Komponisten, die über sie hinausgehen, eine gemeinsame „natürliche“ Grundlage des Musikmachens aufopfern und sich damit von der eigenen, heimatlichen „Gemeinschaft“ entfremden würden: „[e]xtrem künstlerische Richtungen (Atonalität), zum Beispiel das Ablehnen der Verständlichkeit, sind übertriebener Individualismus, Ablehnen der Gemeinschaft. Die künstliche und die natürliche Gemeinschaft (Christentum).“36 , lautet etwa eine seiner zahllosen diesbezüglichen Bemerkungen. Diese Verbundenheit eines Künstlers mit der eigenen Heimat, für die Furtwängler sich Begriffe wie „Gemeinschaft“, „Landschaft“ und „Nation“ bediente und die er den in seinen Augen ‚überkünstelten‘ Entwicklungen der Avantgarde gegenüberstellte, thematisierte er auch noch in zwei Notizen aus dem Jahr 1950, in dem er nach Längerem wieder Sibelius dirigierte (vgl. die Tabelle oben): In einer Zeit wie heute, in der die künstlerische Weiterentwicklung so vielfach in Frage gestellt ist, ist das Denkmal großen ungebrochenen Menschentums, das Sibelius mit seiner Musik errichtet hat, von um so größerem Wert. Die Welt ge33 Furtwängler, „Sinfonische Musik“ [1946], in: Aufzeichnungen, 267–272, hier 269–270 (Hervorhebung im Original). 34 Tatsächlich plagte Sibelius seit den späteren 1910er Jahren die Angst, von anderen Komponisten „überholt“ zu werden und „vergessen zu sterben“ (Tagebucheintrag Herbst 1943). Hierzu hält Mäkelä fest: „Im Werk dieser beiden Komponisten [Debussy und Schönberg] musste er tatsächlich ein überdurchschnittlich hohes künstlerisches Niveau erleben und zudem eine Ästhetik, die er zwar wohl verstand, aber nicht übernehmen konnte“ („Sibelius und neue Musik“, in: Sibelius und Deutschland, hg. von Jäntti, Vogt und Holtkamp, 90–116, hier 101; 109 der Tagebucheintrag). 35 Ebd., 106. 36 Furtwängler, „Buch“ [1936], in: Aufzeichnungen, 121–123, hier 121.

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Wilhelm Furtwängler als Sibelius-Dirigent denkt mit Bewunderung dieses Mannes, der für sein Land mehr getan hat, als es einem Musiker sonst gemeiniglich vergönnt ist. 37 Sibelius ist der letzte Überlebende aus der Generation der großen Impressionisten, der Strauß, Reger, Debussy, Ravel. Er hat für sein Land, ja für den ganzen Norden, noch einmal die Zunge gelöst, hat die Sprache gesprochen, an der der nordische Mensch sich wiedererkennt – sich wiederfindet. 38

Furtwänglers Überzeugungen, die hier im Verweis auf den „nordischen Menschen“ artikuliert werden, dürfen dabei keinesfalls mit dem Glauben an eine überlegene „nordische“ (meist synonym für „arische“) Rasse gleichgesetzt werden, wie er von deutschen Rassentheoretikern wie Houston Stewart Chamberlain und Hans Friedrich Karl Günther seit dem 19. Jahrhundert proklamiert wurde und von welchem während der NS-Zeit beispielsweise die Anschauungen Alfred Rosenbergs stark geprägt waren. 39 Vielmehr bezeichnen für Furtwängler „Nation“, „Volk“ oder „Land“ eine historisch gewachsene, keine biologisch definierbare Gemeinschaft, deren Zusammengehörigkeit vor allem auf einer gemeinsamen Geschichte, Kultur und geteilten Traditionen beruht.40 Durch Furtwänglers Schriften – im Folgenden eine Notiz aus dem Jahr 1944 – wird Pamela Potters Einschätzung bekräftigt, dass ein solches, damals allgegenwärtiges Vokabular „ein Gefühl der Sehnsucht nach einer idealen einigen deutschen Nation in einer Ära politischen und sozialen [und für die Zeit nach 1933 wäre zu ergänzen: künstlerischen] Zerfalls“41 erweckte: Nationen als Lebensgemeinschaft tragen die Kunst. Sie ist durchaus ein Kind der Liebe. Erst die große umfassende Liebesgemeinschaft der Kirche, dann die Nation - - -. Sollten diese einmal verschwinden, durch etwas abgelöst werden, was keine Seele mehr hat, was Interessengemeinschaft ist und nicht mehr Liebesgemeinschaft, dann allerdings wird die Kunst heimatlos, grundlos, überf lüssig.42

37 Furtwängler [1950], in: ebd., 313–314. 38 Suse Brockhaus (Hg.), Wilhelm Furtwängler. Vermächtnis. Nachgelassene Schriften, Wiesbaden ³1956, 50. 39 Gleißner, Der unpolitische Komponist, 87–89. 40 Demnach spricht Furtwängler keinem „Volk“, auch nicht dem deutschen, eine grundsätzliche Überlegenheit aus rassischen Gründen zu: „Die Kunst der verschiedenen Völker und Zeiten hat insofern Verwandtschaft, ja eine gewisse Einheitlichkeit, als sich dieselben Motive notwendig immer wiederholen, eben weil sie allgemein menschlich sind. Die Natur ist immer und überall irgendwie dieselbe“ (Furtwängler [1937], in: Aufzeichnungen, 142–143); gleichwohl sei jeder Nation, bedingt durch ihre Entwicklung, etwa eine „eigentümliche Art des triebhaft-lebendigen Musizierens“ eigen (Furtwängler [1929], in: ebd., 58–64, hier 61). 41 Pamela Potter, Die deutscheste der Künste. Musikwissenschaft und Gesellschaft von der Weimarer Repu­ blik bis zum Ende des Dritten Reichs, Stuttgart 2000, 224. 42 Furtwängler [1944], in: Aufzeichnungen, 241.

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Ganz offenbar erblickte Furtwängler in Sibelius (und nur wenigen anderen nichtdeutschen Komponisten43) einen solchen ‚gemeinschaftsnahen‘ Künstler. Er geht hierin d’accord mit einem Großteil der Pressestimmen, welche gerade in Furtwänglers Sibelius-Interpretationen einen „Weg zur fremden Volksseele“44 eröffnet und die „mythenbildende Kraft der finnischen Volksseele, die sich hier ihrer selbst bewußt wird, unerschöpf lich und geheimnisreich“45 beschworen sehen. 1943 bezeichnete Alfred Burgartz ein Sibelius-Dirigat Furtwänglers vor dem offenbar selbstverständlichen Hintergrund, „daß der Musiker Wilhelm Furtwängler das engste Verhältnis zu dem großen Nordländer Jan [sic] Sibelius“ habe, gar als ein „persönliches Bekenntnis“ des Dirigenten.46 An konkreteren Aspekten lässt sich diese Sympathie allerdings kaum festmachen. Die weitgehend an traditionellen Prinzipien festhaltende Klangsprache Sibelius’ mag ihren Anteil an ihr haben; ein handwerklicher Aspekt kommt zumindest oberf lächlich in einer dritten, erstaunlich leidenschaftlichen Notiz von 1940 zur Sprache: Sibelius ist neben Tschaikowsky eigentlich der einzige, der von Nicht-Deutschen wirklich sinfonisch arbeitet. Von Deutschen ist es ganz autark nur Haydn, Beethoven, Bruckner, Brahms. Schubert ist halb, Schumann ganz „anerzogen“. Woher nun diese enorme Seltenheit dieser Gabe??? Bei Smetana, Dvořák, César Franck, Pfitzner reicht es nur bis zur Kammermusik. Liszt, Strauss kommen von der anderen Seite, gehen schon von vornherein in „zu weiten Stiefeln“ einher!!47

Eine genaue Auslegung dieser Passage ist aufgrund ihrer Singularität schwer bis unmöglich; jedenfalls scheint Furtwängler dem finnländischen Komponisten aus musikalischen wie ‚sozialen‘ Gründen einige Wertschätzung entgegengebracht zu haben, womit die Voraussetzungen, ihn als einen „Sibelius-Vorkämpfer“48 in die Musikgeschichte eingehen zu lassen, tatsächlich gegeben gewesen zu sein scheinen. Das Gewicht dieser Aussagen gilt es allerdings genau abzuwägen; vor allem die beiden letzten Notizen, die 1950 und damit in jenem Jahr festgehalten wurden, in denen es im Rahmen einer Konzertreise mit den Wiener Philharmonikern auch zur persönlichen Begegnung Furtwänglers mit Sibelius kam, erwecken den 43 Einen dieser Fälle stellt etwa Bedřich Smetana dar: dieser „weicht nicht ins Banale aus wie Dvorak, er ist der wahre Klassiker, der hohe Geist seiner Nation, der freilich den Fluch der Konventionalität nicht immer bannen konnte.“ (Furtwängler [1940], in: ebd., 205–206, hier 205). 44 Gertrud Runge, „Sinfonik dreier Länder. 6. Philharmonisches Konzert“, in: Deutsche Zukunft, 14. Jänner 1940, o. S. Archiv der Berliner Philharmoniker. 45 Heinz Joachim, „Nordischer Klangmythos. Sibelius-Abend unter Furtwängler“, in: Berliner Börsen-Zeitung, 9. Feber 1943, o. S. Archiv der Berliner Philharmoniker. 46 Alfred Burgartz, „Furtwängler-Abend in der Philharmonie“, in: Berliner Illustrierte Nachtausgabe 33, 9. Feber 1943, o. S. Archiv der Berliner Philharmoniker. 47 Furtwängler [1940], in: ebd., 213. 48 So die Überzeugung Gleißners (Der unpolitische Komponist, 138).

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Eindruck momentaner Schwärmereien für diesen „letzten Überlebenden aus der Generation der großen Impressionisten“, befeuert möglicherweise auch dadurch, dass sich Sibelius bei dieser Gelegenheit (höf lich oder aufrichtig?) positiv über Furtwänglers Interpretation von En Saga äußerte, welche er kurz zuvor in einer Rundfunkübertragung gehört hatte.49 Auch die Tatsache, dass dieser mit 45 Konzerten in Furtwänglers Aufführungslisten statistisch häufiger vertreten ist als die meisten anderen nicht-deutschen Komponisten seiner Zeit – der Abstand zu den bevorzugten Debussy (90), Strawinsky (87) und Ravel (70) ist aber deutlich –, ist ein quantitativer Befund, der wenig über die tatsächliche Art der Beschäftigung verrät. Vielmehr ist jede einzelne Veranstaltung kritisch im Hinblick auf Zeit und Ort und somit Motivation zu hinterfragen. So verdeutlicht die Aufführungsliste, dass die Hälfte der Sibelius-Dirigate im Rahmen ausgedehnter Konzerttourneen und kürzerer Auslandsaufenthalte mit den jeweiligen lokalen Orchestern, somit also außerhalb Deutschlands stattfand. Auch das dirigierte Repertoire – das Violinkonzert (trotz seiner nicht unumstrittenen Beurteilung das mit Abstand am häufigsten aufgeführte Sibelius-Werk der ersten Jahrhunderthälfte), die Zweite (1902) und die Siebte Sinfonie (1924), die sinfonischen Dichtungen Finlandia und En Saga, der Konzertwalzer Valse triste 50 sowie die Schauspielmusik zu The Tempest – ist mit Ausnahme der letztgenannten Komposition vor allem durch sein Vertrauen auf etablierte Werke und keinesfalls durch Wagnisse geprägt. Daran änderte sich auch im für Sibelius grundsätzlich günstigeren (kultur-)politischen Klima zwischen 1933 und 1945 nichts. Während sich Furtwängler den wenigen anderen von ihm dirigierten Orchesterwerken von Sibelius nur für jeweils eine Spielzeit zuwandte, stellt die 1892 komponierte und 1902 tiefgreifend überarbeitete sinfonische Dichtung En Saga neben dem Violinkonzert das einzige Werk Sibelius’ dar, mit dem er sich wiederholt beschäftigte. Obgleich mit einer Aufführungsdauer von rund 18 Minuten eine der längsten sinfonischen Dichtungen des Komponisten, steht sie in einer

49 Der damalige Vorstand der Wiener Philharmoniker Rudolf Hanzl hielt das Treffen, bei welcher er ebenfalls zugegen war, in einigen Zeilen fest und notierte hierzu: „Er hatte unsere bisherigen Konzerte über den Rundfunk gehört, lobte den einmaligen Klangzauber des Orchesters und antwortete auf Furtwänglers Frage, ob das Tempo, in welchem die symphonische Dichtung ‚En Saga‘ aufgeführt wurde, den Intentionen des Komponisten entsprochen habe, durchaus bejahend. Wörtlich sagte Sibelius: ‚Das Metronom nützt gar nichts, wenn es sklavisch angewendet wird, der Dirigent muß den Atem der Komposition empfinden, dann wird er stets das richtige Zeitmaß treffen.‘“ (Rudolf Hanzl, „Jan-Sibelius-Feier in Wien. Dem großen finnischen Freunde zur immerwährenden Freundschaft“, in: Wiener Herold 1 [1951], 3, zit. nach Gleißner, Der unpolitische Komponist, 140–141). 50 1907 bemerkte man im Musical Observer zu Valse triste, dass diese „latest Sibelius novelty […] is creating a sensation in Germany, having been put on concert programs in forty-five cities up to date.“ (2. Mai 1907, 25)

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Wilhelm Furtwängler im Gespräch mit dem Komponisten Jean Sibelius (in: Joachim Matzner, Furtwängler. Analyse – Dokument – Protokoll, hg. von Stefan Jaeger, Zürich 1986, 66).

Reihe von Werken wie dem bereits von Gustav Mahler geringgeschätzten 51 Valse triste oder der von ihrem Komponisten selbst als „relativ unsignifikant“ 52 bezeichneten sinfonische Dichtung Finlandia, die bald zu seinen populärsten Kompositionen zählten, ohne tatsächlich repräsentative Zeugnisse des vollen Potentials ihres Komponisten darzustellen. Dass Furtwängler gerade En Saga ganz offensichtlich bevorzugte, ist angesichts der relativen Nachrangigkeit des Stücks im deutschen Konzertbetrieb etwa gegenüber Finlandia oder Der Schwan von Tuonela zwar nicht unmittelbar naheliegend;53 gleichwohl erfuhr auch dieses Werk aus dem Dunstkreis Sibelius’ Kalevala-Rezeption, das David Hurwitz nicht ganz unzutreffend zum „most extreme example of Sibelius’s personal brand of musical primitivism“54 erklärte, von Anfang an eine typische Aufnahme, da es vom deutschen Publikum schon bei der Uraufführung vor allem über sein (nordisches) „Kolorit“ begrif51 Vgl. Layton, Sibelius, 40. 52 Gleißner, Der unpolitische Komponist, 26. 53 Vgl. ebd., 219–222. Gleißner gibt ferner zu bedenken, dass gerade Finlandia als ein „auch für Militärkapellen und Laienorchester geeignete[s] Werk wohl häufig in kleineren Konzerten und bei politischen Veranstaltungen oder Feierstunden zur Aufführung gelangte“ (ebd., 220). Somit ist es noch erstaunlicher, dass Furtwängler dieses Werk, dessen Popularität auf einer wenig komplexen Gestaltung, einer pathetischen Klangfülle und der offenen Zurschaustellung einer patriotischnationalistischen Gesinnung beruht, gerade in der NS-Zeit offensichtlich nie mehr dirigiert hat (bzw. zu dirigieren gebeten wurde). 54 David Hurwitz, Sibelius. The Orchestral Music. An Owner’s Manual, New Jersey 2007, 134.

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fen 55 und – wie Rezensionen wiederholt verdeutlichen – gerade ob dieser Qualitäten stets zu den „führenden Schöpfungen von Sibelius“ gezählt wurde. 56 In Anbetracht des Umstandes, dass En Saga – sieht man von der Erstaufführung der ursprünglichen Fassung durch Sibelius 1902 ab – vor Furtwängler offensichtlich nur einmal in Berlin dirigiert worden war (nämlich am 27. April 1918 durch José Eibenschütz57 ), kann Furtwängler zumindest für den Berliner Raum ein nicht unwesentlicher Anteil an der Popularität des Stücks zugesprochen werden (die Sonderstellung von En Saga innerhalb des Repertoires der Philharmoniker wurde nach dem Krieg durch Sergiu Celibidache vollends gefestigt 58). Den weiter unten noch zu besprechenden Sonderfall The Tempest beiseite lassend, hat Furtwängler sonst nur die Zweite und Siebte Sinfonie dirigiert. Die dazugehörigen Anlässe sind aus musikpolitischer Sicht so selbstverständlich wie letztlich ernüchternd, nämlich der 70. (Siebte, 1935) 59 bzw. 75. Geburtstag (Zweite, 1940) des Komponisten, wie in Besprechungen und Pressetexten zu den jeweiligen Konzerten zum Ausdruck kommt.60 Auch hier bewegte sich Furtwängler mit seiner Auswahl auf 55 So bezeichnete ein Rezensent der Uraufführung in Berlin im November 1902 das Stück als eine „an sich nur durch ihr Kolorit interessirende [sic] Orchesterphantasie“ („Aus den Konzertsälen“, in: Berliner Tageblatt 589, 19. November 1902), während ein anderer Rezensent lediglich darauf hinwies, dass „[d]ie Themen […] offenbar finischen [sic] Volksliedern entnommen oder doch nachempfunden [sind].“ („Theater und Musik“, in: Vossische Zeitung 541, 18. November 1902; beide zit. nach Gleißner, Der unpolitische Komponist, 55). 56 Walter Steinhauer, „Werke nordischer Meister. Furtwängler dirigierte Sibelius und Brahms“, in: Berliner Zeitung am Mittag 34, o. S. Archiv der Berliner Philharmoniker. 57 Freundliche Mitteilung von Katja Vobiller. 58 Gegenüber nur vereinzelten Aufführungen von Valse triste, dem Violinkonzert und der Zweiten Symphonie dirigierte Celibidachte En Saga zwischen 1945 und 1950 über ein Dutzend Mal, wobei sich der größte Teil der Aufführungen ähnlich wie bereits bei Furtwängler auf zwei Englandtourneen 1948 und 1949 verteilt (freundliche Mitteilung von Verena Alves). 59 Auch Klemperer beging dieses Jubiläum durch eine im Rundfunk übertragene Aufführung der Zweiten mit dem New York Philharmonic Orchestra, die auch ihr Komponist im Radio hörte (vgl. http://www.sibelius.fi/deutsch/elamankaari/sib_suosion_huipulla.htm [29.1.2019]). 60 So hält Max Peters in seinem offiziellen Einführungstext zum von der NS-Kulturgemeinde veranstalteten Konzert am 26. November 1935 fest, dass „Jean Sibelius, der Finne, dessen 70. Geburtstag die musikalische Welt am 8. Dezember feiern wird, sich schon jetzt allenthalben durch Aufführungen seiner Werke [geehrt]“ sieht; übereinstimmend ist auf dem Ankündigungsplakat (mit Werken von G. F. Händel, Sibelius, C. M. v. Weber und J. Brahms) Sibelius auch der einzige Komponist, dessen Name mit einem Geburtsdatum versehen ist (Archiv der Berliner Philharmoniker). Im Falle von Furtwänglers Konzertfolge im Jänner 1940 wurde ein solcher Anlass vonseiten der Veranstalter offenbar weniger explizit kommuniziert, ist aber wahrscheinlich, zumal das Jubiläum mehrfach in der Presse thematisiert wurde (vgl. etwa Alfred Burgartz, „In der Philharmonie. Furtwängler und Tibor de Machula“, in: Berliner Illustrierte Nachtausgabe 7, 9. Jänner 1940, o. S. Archiv der Berliner Philharmoniker). Ein offizielles Konzert der Berliner Philharmoniker „Anläßlich des 75. Geburtstages von Jean Sibelius“ fand dagegen an drei aufeinanderfolgenden Abenden (23.–25.) im März 1941 statt, in welchen Clemens Krauss die Berliner Erstaufführung von Tapiola leitete (freundliche Mitteilung von Verena Alves).

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sicherem Grund: Die Zweite war seit ihrer Uraufführung weltweit mit großem Erfolg gespielt worden und stellte zweifellos Sibelius’ beliebteste Sinfonie dar. Auch bei der Siebten handelte es sich um eine mehrfach erprobte und durchaus geschätzte Komposition, mit der Otto Klemperer bereits bei der deutschen Erstaufführung 1926 überwiegend positive Resonanz hervorgerufen hatte;61 später dirigierte beispielsweise Bruno Walter das Werk,62 und 1939 urteilte ein Rezensent, die Siebte sei „in der Betonung der volkstümlich-bodenständigen Note, die für das gesamte Schaffen von Sibelius kennzeichnend ist, bei einer Tonsprache angelangt, die jeden Hörer ohne weiteres einfangen muß.“63 Furtwänglers Aufführung der Siebten kommt allerdings insofern ein besonderer Stellenwert zu, als Sibelius einer der Aufführungen selbst beiwohnte und den Dirigenten brief lich seiner „dankbaren Bewunderung“ versicherte.64

Sympathie und Musikpolitik Es ist ein mühsames und oft wenig sinnvolles Unterfangen, nach der Motivation zu fragen, wieso ein bestimmter Dirigent die Musik eines bestimmten Komponisten aufführt oder eben nicht aufführt. Aufgrund der Treue Furtwänglers gegenüber seinen zentralen künstlerischen Prinzipien lassen sich abschließend aber zumindest einige Mutmaßungen anstellen, die Licht auf seine Sibelius-Rezeption werfen können. Eine dieser Mutmaßungen betrifft Furtwänglers relative Geringschätzung von Programmmusik, die in zahlreichen Notizen zum Ausdruck kommt:65 Sie mag nicht folgenlos für sein Urteil über einen Komponisten geblieben sein, der weit mehr programmgebundene Tondichtungen und Schauspielmusiken als ‚absolute‘ Sinfonien komponierte. Wie gezeigt, stand Furtwängler 61 Gleißner, Der unpolitische Komponist, 69. Klemperer wiederum wurde durch die von Leopold Stokowski geleitete amerikanische Erstaufführung am 3. April 1926 in Philadelphia auf das Stück aufmerksam, welches er eher zurückhaltend positiv beurteilte („Ich habe das Stück gelesen und finde es durchaus interessant. Es ist kein Stück, von dem ich mir eine laute Publikumswirkung verspreche, aber – wenns Erfolg fand, könnte man’s schon machen“ [Brief an Walter Damrosch, 10. Juli 1926, in: „Verzeiht, ich kann nicht hohe Worte machen“. Briefe von Otto Klemperer 1906–1973, hg. von Antony Beaumont, München 2012, 143]). 62 Vgl. Tawastjerna, Sibelius, Bd. 3, 211. 63 [Anonymus], „Die Schallplatte“, in: Die Musik 31/6 (1939), 402–404, hier 402. 64 Vgl. Gleißner, Der unpolitische Komponist, 140. 65 „Die Programmusik stellt schon an sich einen helleren Bewußtseinsstand dar als die absolute. Mit der eigentlichen Programmusik, die schon bei Liszt beginnt, hört die innere Notwendigkeit der Musik überhaupt auf.“ (Furtwängler [1938], in: Aufzeichnungen, 156). Wenig bekannt sind Furtwänglers damit verbundene, durchaus starke Vorbehalte gegenüber dem von ihm viel gespielten Richard Strauss: „R. Strauss offenbarte sein Versagen in dem Moment, wo er von der absoluten Musik abging. Er war ihr nicht ‚gewachsen‘. Wo und wann er nun später Besonderes leistete, war er stets als absoluter Musiker“ (Furtwängler [1939], in: ebd., 165). Hierdurch erklärt sich übrigens wohl auch Furtwänglers Aussage (siehe oben), dass Strauss und Liszt in „zu weiten Stiefeln“ einhergehen würden.

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trotz seiner teils emphatischen Sympathiebekundungen für Sibelius aber gerade dessen Beiträgen zur Gattung Sinfonie besonders reserviert gegenüber, interessierte er sich doch nur in jeweils einer Saison und durch äußere Anlässe geleitet für die beiden dirigierten Werke. Der hierfür naheliegendste, rein pragmatische Erklärungsversuch – dass der Dirigent nämlich eher auf eine kürzere und damit weniger aufwendige sinfonische Dichtung denn eine große, mehrsätzige Sinfonie zurückgriff, um der Sibelius-Affinität und der Erwartungshaltung vor allem im Ausland Genüge zu leisten – geht jedenfalls nicht auf: Furtwängler griff viel mehr immer wieder auf das in seinen Händen rund zwanzigminütige 66 En Saga zurück, während er die bedeutend kürzeren, dabei nicht weniger populären Stücke wie etwa Valse triste und Finlandia später genauso ignorierte wie die verhältnismäßig kurzen Sinfonien Nr. 3 oder Nr. 6;67 einzig für die (wohl selbst bei Furtwängler) kaum je 25 Minuten erreichende Siebte bietet sich dieser Gedanke der Ökonomie an. Einer ernstlichen Auseinandersetzung mit Sibelius’ Sinfonien stand daher wohl viel mehr Furtwänglers Überzeugung im Wege, dass die Sinfonie als „deutsche“ Gattung von Komponisten anderer Nationen gar nicht adäquat behandelt werden konnte. 1929 – sämtliche Sinfonien Sibelius’ waren bereits uraufgeführt, keine allerdings durch Furtwängler dirigiert worden – liest man in seinen Aufzeichnungen etwa: „[…] eine wirkliche Sinfonie ist von Nicht-Deutschen überhaupt nie geschrieben worden. (Halbsinfoniker, wie Berlioz, César Franck, Tschaikowsky, stehen in allem Wesentlichen gänzlich unter deutschem Einf luß.)“68 Ein anderes Indiz dafür, dass Furtwängler den Sinfonien Sibelius’ (und denen anderer Zeitgenossen) keinen allzu hohen Stellenwert im Gattungsbestand beimaß, hat sich aus dem Jahr 1940 erhalten, als sich Furtwängler mindestens bereits die Siebte und ganz aktuell die Zweite erarbeitet hatte: Es hat seine Gründe, wenn heute keine Sinfonien mehr geschrieben werden. Eine Sinfonie zu schreiben hat nur Sinn, wenn, wie es schließlich Bruckner in freier Weise noch tat, die ganze Form noch tonal durchfühlt wird, d. h. alles seinen architektonisch-tonalen Ort hat. Von der modernen Musik ist dies längst aufgegeben, gleichgültig wie sie sich sonst zur Tonalität stellt.69

66 Vgl. Trémine, Wilhelm Furtwängler. A Discography, 24–25. 67 Allerdings müssen diese Optionen dahingehend relativiert werden, dass diese Werke bereits damals in ihrer Popularität nicht an die anderen Sinfonien Sibelius’ heranreichten. Vielmehr stellt es eine ganz besondere Fügung dar, dass Herbert von Karajan im Feber 1938 gerade mit der Sechsten sein erstes Sibelius-Werk dirigierte. Nichtsdestotrotz präsentierte Karajan es nach dieser ersten Aufführung, die in Stockholm für den schwedischen Rundfunk stattfand, auch im September desselben Jahres mit den Berliner Philharmonikern in Berlin ( John Hunt, Philharmonic Autocrat. The Concert Register of Herbert von Karajan, London 2001, 37, 39). 68 Furtwängler [1940], in: Aufzeichnungen, 64. 69 Furtwängler [1940], in: ebd., 212–213.

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Die Gegenfrage – also jene nach der möglichen Motivation Furtwänglers, Sibelius zu dirigieren – lässt sich ebenfalls nur punktuell aus den Quellen beleuchten. Trotz gewisser Sympathien, die er dem Finnländer und seiner Musik zweifellos entgegenbrachte – bisweilen wurde dem Komponisten Furtwängler gar nachgesagt, seine eigene Klangsprache weise Einf lüsse von Sibelius auf 70 –, sind hinter einem großen Teil seiner Sibelius-Aufführungen letztlich vor allem strategische und musikpolitische Gründe zu vermuten, wie sie im Laufe dieses Aufsatzes bereits teilweise zur Sprache kamen. Tatsächlich stellt auch Furtwängler in seinen persönlichen Aufzeichnungen mehrfach fest, dass derartige pragmatische Erwägungen selbstverständlicher Bestandteil seines Berufsdenkens waren. Ausgerechnet 1927, als er mit dem Vorspiel zu The Tempest entgegen seiner üblichen Gepf logenheit eine neue Sibelius-Komposition in sein Repertoire für New York aufnahm und man wenigstens hier eine aktive Pionierleistung hätte vermuten können, findet sich unter seinen Notizen der folgende aufschlussreiche Eintrag: Ja, ich bringe wenige Novitäten mit. Im übrigen scheint es mir, als ob die Forderung der obligaten Novität für jedes Konzert in New York doch allzusehr mit der dortigen Übersättigung zusammenhängt. Sie werden selber bemerkt haben, wie wenig wertvolle Sachen dabei sein können, und was für den Dirigenten wichtiger ist, ist Nach- und Wiederneuschaffen und nicht bloßes Referieren. Das ist nur beim Großen möglich […].71

Auch wenn diese frustrierte Bemerkung kein konkretes Werk benennt, drängt sich The Tempest zweifellos als ein Kandidat für eine jener ungeliebten „obligaten Novität[en]“ auf, die das amerikanische Großstadt-Publikum von Furtwängler erwartete (und keinesfalls nur von ihm: Klemperer machte in Los Angeles, nicht zuletzt auch mit Sibelius’ Musik, ganz ähnliche Erfahrungen72). Mit Blick auf Furtwänglers Aktivitäten innerhalb Deutschlands soll dagegen auf eine aus demselben Jahr stammende Notiz hingewiesen werden, die seine Auseinandersetzung mit moderner Musik insgesamt in ein anderes Licht rückt: Als Leiter der Berliner Philharmonischen Konzerte stehe ich im Leben von heute. Es ist klar, daß das Wirken der Heutigen besondere Rücksicht verdient, so weit, 70 So sprach schon der Rezensent der Welt von der „thematischen Geisterbeschwörung eines bis zu Grieg bagatellisierten Schumanns, eines von Strauß [sic] erotisierten Brahms und einer in Sibelius erstarrten Tschaikowsky-Leidenschaft“, die sich ihm in der Uraufführung von Furtwänglers Zweiter Sinfonie offenbart habe (Hinweis nach Haffner, Furtwängler, 375), während jüngst Roger Allen in Furtwänglers Dritter Sinfonie konkrete Bezüge etwa zu En Saga und Tapiola ausmacht (Wilhelm Furtwängler, 199). 71 Furtwängler [1927], in: ebd., 24–25. 72 So wurden in der Saison 1933/34 die Dirigate von Sibelius’ Erster und Zweiter Sinfonie sowie Der Schwan von Tuonela explizit von ihm verlangt (vgl. Peter Heyworth, Otto Klemperer. His Life and Times, Bd. 2: 1933–1973, Cambridge 1996, 27).

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Wilhelm Furtwängler als Sibelius-Dirigent daß bei der Auswahl von neuen Werken nicht dieselbe Unbedingtheit walten darf wie bei der der Werke der Vergangenheit. Das sind Rücksichten auf die Menschen, die dahinterstehen. Der Typus des Adlers, der nicht f liegen kann, ist leider heute nicht so selten. Er verdient wahrhaftes Mitgefühl, wenn auch gemischt mit dem des Ärgers. Was heimlich noch größer ist angesichts des Spatzen, der nur vorüberf liegen kann, sich wie ein Adler gebärdet. Da sind Rücksichten auf die Allgemeinheit, die so weit gehen, daß es notwendig werden kann, ein Werk nur deshalb zu bringen, um es zur Diskussion zu stellen und zu erweisen, daß es nicht das ist, was aus ihm gemacht wird. Daß das Ad absurdum-führen in dem von mir gemeinten Sinn die denkbar beste Aufführung ebenso verlangt wie das größte Kunstwerk, ist selbstverständlich. Es ist daher Unsinn zu glauben, daß ich für alle die Werke, die ich mache, mich einsetze. Das kann von keinem modernen Dirigenten verlangt werden, das ist auch nicht der Beruf des Verwalters eines modernen Instituts. Deshalb ist seine Persönlichkeit doch nicht genötigt, sich zu verleugnen, zu nivellieren. Im Ganzen seiner Wirksamkeit liegt von selber der richtige Nachdruck. Freilich, wenn er der nervösen Tagespolitik heutiger Großstädte nachgibt - - - .73

Dabei sah sich Furtwängler keinesfalls nur in Berlin oder in Amerika mit einer „nervösen Tagespolitik heutiger Großstädte“ verbunden: Bereits während seiner Leitung der Frankfurter Museumskonzerte (1920–22) lautete eine der Vorgaben der Intendanz, dass „in jeder Veranstaltung eine Ur- oder Erstaufführung unterzubringen war“.74 Angesichts dieser Befunde schrumpft Furtwänglers Rolle als „Sibelius-Vorkämpfer“ auf ein äußerst bescheidenes Maß zusammen; insbesondere die innerdeutschen Aktivitäten mit den Berliner Philharmonikern sind ernüchternd. Gleißner selbst hat in diesem Zusammenhang (und im Widerspruch zu ihrem „Vorkämpfer“-Urteil75) festgestellt, dass die gestiegene Popularität Sibelius’ in Berlin während der NS-Zeit keinesfalls als ein Verdienst Furtwänglers bezeichnet werden kann, somit also „nicht auf die Initiative einer einzelnen Künstlerpersönlichkeit zurück[geht], sondern anscheinend ein Produkt der allgemeinen musikalischen Entwicklung und des veränderten kulturpolitischen Klimas seit der nationalsozialistischen Machtübernahme [war].“ 76 Wie durch die Konzertliste deutlich wird, lässt sich dieses Urteil direkt auf die Zeit vor 1933 ausdehnen, denn auch zu dem Umstand, dass Berlin „schon in den Jahren der Weimarer Republik 73 Furtwängler, „Programm“ [1927], in: Aufzeichnungen, 29–30. 74 Vgl. Berndt W. Wessling, Furtwängler. Eine kritische Biographie, Stuttgart 1985, 141. 75 Gleißner selbst erklärt sich den Widerspruch zwischen der von ihr behaupteten Sibelius-Sympathie Furtwänglers und seiner Zurückhaltung aus der kulturpolitischen Stellung des Komponisten, angesichts derer „selbst Furtwängler Sibelius in dieser Zeit nicht zum Erfolg verhelfen [konnte].“ (Der unpolitische Komponist, 69.) 76 Ebd., 202.

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und in der Kaiserzeit eindeutig das Zentrum der deutschen Sibelius-Pf lege […] bildete“,77 hat Furtwängler durch sein dirigentisches Wirken kaum beigetragen, obgleich er, wie er 1932 in einer häufig zitierten Festrede sicher richtig festhielt, „heute, so paradox das vielleicht manchem erscheinen mag, der einzige oder einer der ganz wenigen [ist], die moderne Werke in ihr Programm aufnehmen können, ohne eine wirtschaftliche Schädigung des Besuches ihrer Konzerte dadurch befürchten zu müssen.“ 78 Ähnliches gilt für seine Sibelius-Dirigate mit den Wiener Philharmonikern – je zwei Aufführungen von En Saga 1942 sowie 1950 –, die für die Reputation Sibelius’ in Österreich belanglos waren: Aufgrund des Umstands, dass – ausgerechnet – Arturo Toscanini bereits 1935 in drei Konzerten Sibelius’ En Saga mit den Wiener Philharmonikern dirigiert hatte, war nicht einmal die Wahl dieser Tondichtung eine Neuerung Furtwänglers.79 Mit den Wiener Symphonikern, mit denen er zwischen 1913 und 1951 rund 120 Konzerte (1927–30 als Chefdirigent) bestritt, hat er dagegen kein einziges Mal Sibelius aufgeführt. 80 Mit ihrem Diktum: Welch großen Anteil der deutsche Dirigent [Furtwängler] an der Verbreitung von Sibelius’ Musik hatte, läßt sich ferner daran ermessen, daß er mit den Berliner Philharmonikern regelmäßig Gastkonzerte in Deutschland wie im Ausland gab und auch mit dem Wiener Philharmonischen Orchester Kompositionen von Sibelius zur Aufführung brachte[,]81

unterläuft Gleißner also ein in der musikalischen Rezeptionsforschung ständig drohender Fehlschluss: Furtwänglers gelegentliche Dirigate wenig gewagter Si77 Ebd., 217. 78 Wilhelm Furtwängler, „Die Klassiker in der Musikkrise. Rede beim Jubiläum der Berliner Philharmonie 1932“, in: Ton und Wort. Aufsätze und Vorträge 1918 bis 1954, Wiesbaden 71956, 60–67, hier 64. 79 An dieser Stelle muss aber festgehalten werden, dass Sibelius bis Kriegsende (und noch darüber hinaus) überhaupt nur sehr selten in den Konzerten der Wiener Philharmoniker auftauchte. 1910 stand mit der Zweiten unter Weingartner erstmals eines seiner Werke am Programm des Orchesters, 1912 ließ er noch Die Dryade (1910) folgen. Erst in den 1930er Jahren fanden, dank Toscanini, unter Karl Krüger (Der Schwan von Tuonela, 1937) sowie unter Carl Schuricht (Violinkonzert, wiederum im Jubiläumsjahr 1940) vereinzelte Sibelius-Aufführung statt. Nach Weingartners Dirigat der Zweiten vergingen schließlich 36 Jahre, ehe Krüger 1946 mit der Ersten wieder eine SibeliusSinfonie ins Programm der Wiener Philharmoniker aufnahm; vgl. https://www.wienerphilharmoniker.at/konzerte/konzertdetail/event-id/2822/from-search/True (3.2.2019). 80 Dies überrascht insofern, als Sibelius – mit Ausnahme einer der Berliner Situation vergleichbaren Lücke zwischen 1922 und 1927 – regelmäßig auf den Programmen der Wiener Symphoniker erscheint. In den 1930er und 1940er Jahren zeichnete vor allem Hans Weisbach dafür verantwortlich, dass es pro Jahr zwei bis drei größere Sibelius-Werke in Wien zu hören gab, teilweise auch selten gespielte wie die Dritte Sinfonie (1940) oder Luonnotar (1942) – letztere bis heute die einzige Aufführung dieses Werkes in Wien. Vgl. https://www.wienersymphoniker.at/de/archiv/ suche sowie https://www.wienerphilharmoniker.at/konzerte/archive (29.1.2019). 81 Gleißner, Der unpolitische Komponist, 139–140.

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belius-Werke sind nicht die Ursache für die Popularität des finnländischen Komponisten, sondern deren Folge. Dies belegen gerade die „regelmäßigen Gastkonzerte im Ausland“, in denen Sibelius gespielt wurde – die Amerika-Tournee mit dem New York Philharmonic Orchestra (1927) (Furtwänglers dritte AmerikaReise nach 1925 und 1926), zwei Großbritannien-Reisen mit den Berlinern (1931 und 1935) und vereinzelte Konzerte im skandinavischen Raum (während der es zur oben erwähnten persönlichen Begegnung der beiden Musiker kam): Sie alle führten in Gegenden, in denen der Komponist jeweils schon seit Jahren große Popularität genoss und Aufführungen seiner Werke vom Publikum dementsprechend goutiert, wenn nicht sogar verlangt wurden. *** Als künstlerisch überzeugte Pioniertaten sind Furtwänglers gelegentliche Sibe­ lius-Dirigate also kaum zu bezeichnen; zu Erst-, geschweige denn Uraufführungen, wie sie während Furtwänglers ‚Regentschaft‘ etwa Otto Klemperer mit der Siebten Sinfonie, Clemens Krauss mit Tapiola (vgl. Anm. 60) oder Herbert von Karajan mit der Sechsten Sinfonie (vgl. Anm. 67) unternahmen, hat sich Furtwängler – sieht man von der niemals in Deutschland aufgeführten Schauspielmusik zu The Tempest ab – nie durchgerungen. Vielmehr hat der überwiegende Teil der entsprechenden Programme musikpolitische, strategische Ursachen, wobei seine Sympathien für die Persönlichkeit des finnländischen Komponisten immerhin ausreichend groß waren, sich verhältnismäßig häufig – letztlich nämlich weitaus häufiger als im Falle der meisten anderen ausländischen zeitgenössischen Komponisten – zu konkreten Aufführungen animieren zu lassen (wodurch etwa Klaus Langs Behauptung, Furtwänglers „erzkonservativer Standpunkt [habe] keinen Halt vor der Deklassierung eines Sibelius [und anderer]“ gemacht, 82 mindestens ebenso von der Hand zu weisen ist). Durch Furtwänglers herausragende Stellung im deutschen und zeitweise internationalen Musikleben kam aber selbst diesen wenigen Aufführungen eine überdurchschnittliche Bedeutung zu; dass Furtwänglers Dirigate seiner Musik zumindest kurzzeitig besondere öffentliche Aufmerksamkeit zuteilwerden ließen, war Sibelius auch selbst bewusst. Eine der wenigen Bemerkungen, die sich von Sibelius über Furtwängler erhalten haben, lautet im Zusammenhang mit der Aufführung des Violinkonzerts 1928 dementsprechend: „My concerto [conducted] by Furtwängler is worth more than ten of my own. He is a conductor of great stature.“ 83

82 Lang, Wilhelm Furtwängler im Briefwechsel, 104. 83 Zit. nach Tawastjerna, Sibelius, Bd. 3, 292. Ergänzung in eckiger Klammer von Tawastjerna.

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Musik der Sphären Der dänische Sinfoniker Rued Langgaard zwischen regionalen Bindungen, „Sendungsbewusstsein“ und der Weltgeschichte der Kunstmusik 1 Tomi Mäkelä „Wem Sphärenmusik tönt, dem nied’re Tonkunst widert.“ Joseph von Eichendorff 2

Zwischen Eskapismus und Sendungsbewusstsein „Eine Lebens- und Todes-Fantasie“ betitelte Rued Langgaard (1893–1952) seine Komposition für großes Orchester, „Fernorchester“, Sopran-Solistin und Chor, besser bekannt als Sfærernes musik (‚Musik der Sphären‘ bzw. ‚Sphärenmusik‘), mit einer Passage, für die ein Gedicht von Ida Lock den Text liefert. 3 Ein Werk mit solchen Namen scheint den Anspruch zu erheben, als ein Beitrag zur „Weltgeschichte der Kunstmusik“ bewertet zu werden. Hinzu kommen – nach und nach im Laufe der Entstehungs- und Aufführungsgeschichte – phantastische Satzbezeichnungen.4 Trotz der universal wirkenden Programmatik, die bei Langgaard nicht selten ist, 5 müssen im Zusammenhang mit der Entstehung, Bedeutung und Rezeption einige biographische sowie kultur- und stilgeschichtliche Fragen diskutiert werden. 1

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Vgl. Tomi Mäkelä, „‚Wem Sphärenmusik tönt, dem nied’re Tonkunst widert‘. Die Wälsungen durchkreuzen Rued Langgaards Seelensphären“, in: Programmheft. Sonderkonzert der Deutschen Oper Berlin zum Musikfest Berlin 2016 [7. September 2016], 2–9. Weiter entwickelt wurde das Thema in einem freien Vortrag im Rahmen des „Studientags Rued Langgaard“ am 14. April 2018 an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Joseph von Eichendorff, Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands, Bd. 2, Paderborn 1857, 824. Komponiert 1916–18, UA 1921 in Karlsruhe, eine weitere zeitgenössische Aufführung 1922 in Berlin vor 1968 (s. u.). Vgl. Bendt Viinholt Nielsen, „Om Sfærernes musik – About The Music of The Spheres“, in: Rued Langgaard: Sfærernes musik (BVN 128). Kritisk Udgavde, hg. von Bendt Viinholt Nielsen, Kopenhagen 2016, 8–16. Vgl. ebd., 9 und passim. Der Untertitel „Eine Lebens- und Todesphantasie“ sowie die meisten Satztitel wurden erst 1921/22 eingefügt. Sie dokumentieren eine Deutung, keine dem Komponieren vorausgegangene Inspiration, wogegen das Gedicht von Ida Lock (geb. Ohlsen, 1882–1951) wohl einige Jahre vor Beginn des Kompositionsprojekts entstanden war. Sie war Klavierschülerin von Rueds Vater am Konservatorium gewesen und lebte seit 1911 in der Psychiatrie (ebd., 9). Vgl. zu Langgaard allgemein Bendt Viinholt Nielsen, Den ekstatiske outsider. Rued Langgaards liv og musik, Kopenhagen 2012; Esben Tange, Hjerterne opad I. Mod lyset. Rued Langgaard, musikken og symbolismen, Ribe 2014.

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Im Bewusstsein der im frühen 20. Jahrhundert noch evidenten „Kunst und Nicht-Kunst“-Debatte 6 ist mit „Weltgeschichte der Kunstmusik“ eine erfolgreiche Orientierung an Entwicklungen und Zuständen der „Kunst“ mit überregionaler Tragweite, Relevanz und Akzeptanz gemeint. Eine allzu offensichtliche, gar primäre Bindung an partikulare oder aktuelle Angelegenheiten und Themen, die zu kommunizieren in der Heimatregion des Künstlers ein Bedürfnis ist, sollte an einem im emphatischen Sinne „weltgeschichtlich“ intendierten Kunstwerk nicht auffallen, schon gar nicht vorrangig oder wertbestimmend. Eine wichtige Ausnahme ist Kunst als eine Funktion des „Sendungsbewusstseins“, wie sie Anna Amalia Abert Richard Wagner zuschrieb.7 (Giuseppe Verdi dagegen ist, mit Nabucco etc., ein Beispiel dafür, wie regionale und aktuelle Bedürfnisse von der Kunst hervorragend befriedigt werden, auch wenn sie nicht vorrangig, manchmal gar nicht, den intendierten Werkcharakter bestimmen.) Wagner demonstriert mit Der Ring des Nibelungen, wie ein regional fundiertes Sendungsbewusstsein und auffallende, das Umfeld sogar irritierende „Besessenheit von seinem Werk“ zur weltgeschichtlichen Überregionalität wachsen, dabei womöglich die vorrangige Regionalität sich als Kulisse enttarnen und zur weltgeschichtlichen Signifikanz verwandeln kann; gleichwohl aber, mit Rienzi, der letzte der Tribunen bei Hitler, wie ein überregional scheinendes Werk regionalen Bedürfnissen, ggf. verspätet in der Wahrnehmung einer späteren Generation oder eines Individuums, das sich mit dem Werk identifiziert, zu entsprechen vermag. Das bestimmt den Wert eines Kunstwerkes nicht, sehr wohl aber den Kontext, in dem das Werk besonders vorteilhaft wirkt. So mögen eine weltgeschichtlich intendierte „Bagatelle“, „Intermezzo“ o. ä. regionalhistorisch betrachtet bedeutungslos wirken. Dadurch werden sie aber nicht wertlos. Dass ein solches „Sendungsbewusstsein“ auch Langgaard eigen war, soll im Folgenden gezeigt werden. Begriffe wie „weltgeschichtlich“, „wertbestimmend“, „Kunstwerk“ und „Sendungsbewusstsein“ werden hier, im vollen Bewusstsein des mit ihnen zusammenhängenden Pathos und des Differenzierungsbedarfs, entsprechend der Verwendung in Langgaards Umfeld eingesetzt. Wenn Kurt Honolka als Herausgeber der Weltgeschichte der Musik 8 auf Einleitung, Vor- und Nachwort verzichtet und Kurt Reinhard stattdessen direkt über „Musik in Urzeiten“, „Anfänge menschlicher Musikübung“ und „Außereuropäische Musik“ referieren lässt, hofft er auf wohlwollende Leser*innen, die eine anspruchsvolle Einleitung à la Jacques Handschin nicht vermissen.9 Völlig wertneutral zu sein, war nicht Honolkas Ziel, denn nur 6 7 8 9

Vgl. Bernd Sponheuer, Musik als Kunst und Nicht-Kunst. Untersuchungen zur Dichotomie zwischen „hoher“ und „niederer“ Musik im musikästhetischen Denken zwischen Kant und Hanslick, Kassel 1987. Anna Amalia Abert, „Verdi und Wagner“, in: Colloquium Verdi Wagner, hg. von Friedrich Lippmann, Köln 1972 (=Analecta Musicologica 11), 1–14, hier 2–3. Kurt Honolka et al., Weltgeschichte der Musik, München 1976. Honolkas Projekt stammt aus der Zeit unmittelbar vor der weltweiten Reaktion auf die methodologische und wissenschaftstheoretische Unreflektiertheit und den „Positivismus“ (vgl. Carl

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eine strenge Auswahl von in seinen Augen relevanten Themen machte sein Buch überhaupt erst möglich. Auch das Gespräch über Langgaard muss nicht wertneutral geführt werden, aber der Komponist verdient es wie alle Künstler*innen, dass die Bemessungs- und Bewertungskriterien kontextualisiert und angepasst werden. Dabei müssen (sofern bekannt) auch solche Kriterien angewendet werden, die der Künstler erfüllen wollte. Sie zu analysieren und richtig zu bewerten ist eine musikwissenschaftliche Herausforderung. Im Falle von Langgaard ist es schwer, seine Entwicklung und seine tragisch wirkende Existenz zu ignorieren, zumal wenn man sein Leben insgesamt und nicht nur bis zur Entstehung der Sfærernes musik betrachtet, sodass es nahe liegt, das Biographische um die „Sphären“ herum zu untersuchen. Für Langgaard ist ein Rezeptionskontext entstanden, in dem seine Werke, explizit oder implizit, als Symptom von Krankheitskomplexen und als ein Forum für Krisenbewältigung verstanden werden. Sehr offen spricht Bendt Viinholt Nielsen diesen Zusammenhang von „Liv og musik“ (‚Leben und Musik‘) in seiner großen und konzeptuell aufgeklärten Langgaard-Biographie von 2012 an.10 Auf diesen Zugang reagiert der vorliegende Essay quasi katalytisch, indem er eben jenen Weg nachvollzieht und ihn auf seine Ergiebigkeit prüft. Begriffe wie „Sphärenmusik“, „Sphärenharmonie“ usw. können auf Himmel und Himmelskörper verweisen – so würde eine semantische Nähe zur zweiten Fassung seiner Fünften Sinfonie Sommersagnsdrama (‚Sommersagendrama‘, 1931, erste Fassung 1917/18) entstehen, die offenbar von Jean Sibelius inspiriert wurde,11 welcher insbesondere in seiner Fünften Sinfonie (1915/19) ,galaktische‘ und überirdische Assoziationen hervorzurufen vermag12 –, doch „Sphären“ können auch Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte, Köln 1977, sowie die neuen Strömungen der „New Musicology“, „Cultural Musicology“, „Critical Musicology“ usw.). Heute ist das kritische Bewusstsein wiederum so ausgeprägt, dass der Zugriff auf Common sense nicht reaktionär wirken sollte. Handschins Musikgeschichte im Überblick, Luzern 1948, ist übrigens nicht weniger „weltgeschichtlich“ als Honolkas Buch, ohne dass der Begriff vom Autor benutzt wird. Friedrich Schiller („Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“, in: Der Teutsche Merkur 4 [1789], 105–135) und Walter Wiora (Die vier Weltalter der Musik. Ein universalhistorischer Entwurf, Stuttgart 1961) stellen weitere Typen des „weltgeschichtlichen“ Ansatzes dar. 10 Viinholt Nielsen, Den ekstatiska outsidern, 20–24. 11 In Langgaards Autograph findet sich dieses Zitat: „‚Nøkken spiller for Stjernerne smaa, / han véd at til Himlen han aldrig vil naa‘ / (Erik Bøgh.)“ (‚Die Nixe [sic!] spielt für die kleinen Sterne, / sie weiß, dass sie nie den Himmel erreichen kann.‘) Zit. nach Bendt Viinholt Nielsen, „Revisionsberetning“, in: Rued Langgaard: Symfoni nr. 5, version 1 (BVN 191). Kritisk udgave, hg. von Bendt Viinholt Nielsen, Kopenhagen 2014, 1–8, hier 1. Für den Sibelius-Hinweis danke ich Viinholt Nielsen (persönliche Auskunft vom 8. Juli 2018); es geht wohl insbesondere um einzelne Motive und die Instrumentation, was bei einer anderen Gelegenheit untersucht werden muss. 12 Donald Francis Tovey etwa verglich das Ende mit dem Himmelsgott Thor mit seinem Hammer (Symphonies and Other Orchestral Works. Selections from Essays in Musical Analysis, London 1981, 501–502).

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nur gedacht oder erträumt sein. Bereits Jean Paul notierte zum inneren MusikHören, dem „Selbst-Ertönen“: „Ach ja wohl hören wir die rechte Sphärenmusik nur in uns.“13 Für eine Jean Paul-Rezeption gibt es bei Langgaard keine spezifischen Hinweise, aber beide Autoren stehen auf derselben ideengeschichtlichen Linie, wenngleich territorial und chronologisch versetzt. Langgaards Satzbezeichnungen artikulieren Natur, Symbolik, Synästhesie und einige verschiedenartige „Sphären“ (‚Bereiche‘ anstelle vom ‚Himmelsgewölben‘) im üppigen Durcheinander, das von Traumdeutung und Symbolismus inspiriert wirkt.14 Der semantische Bogen spannt sich von „Sonnenstrahlen auf einem mit duftenden Blumen bedeckten Sarg“ bis hin zu Stimmungen und Gefühlen wie „Sehnsucht, Verzweif lung und Ekstase“ oder „Ich will…!“, von der „Weltseele“ bis hin zu „Chaos“ und „Christus/Antichristus“.15 In Ida Locks Gedicht, das die Sopran-Solistin singt, kommt wiederum die Idee der geträumten „Sphären“ und der Auto-Affektion, verbunden mit der romantischen Verherrlichung der Einbildungskraft zum Tragen, die auch dem eingangs zitierten Eichendorff ’schen Motto eigen ist: Wenn ich tauch’ meine Seel’ in die Tiefen von Schmerzen und Freud’, in einem Blick, mir scheint es, als höre ich Töne einer fernen verklärten Musik, als ob wiederhallte der Luftkreis von Tönen voll Schmerzen und Qual, wie ein Echo von Seufzer und Klage aus dem irdischen jammernden Tal, wie die duftende klingende Welle, wie die lebende tönende Flut aus dem Lande vom Leid und Freude wo die Seele träumet und ruht.16

Im folgenden Essay wird der Fokus eng auf die Person des Komponisten und seine Familie gerichtet, einschließlich einiger Details, die die dänische Kultur im Allgemeinen betreffen. Gleichzeitig wird der Umstand, dass es sich um eine während des Ersten Weltkriegs entstandene Komposition handelt, mangels Dokumenten, die auf eine diesbezügliche Signifikanz hindeuten, nicht untersucht. Selbstver13 Jean Paul, „Briefe und bevorstehender Lebenslauf “ („Fünfter Brief. An den Korrespondent Fisch. Über das Zeitungslesen. Postskriptum 2: ‚Über das Träumen‘“), in: Jean Paul. Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 4: Kleinere erzählende Schriften 1796–1801, hg. von Norbert Miller, Frankfurt a. M. 2 1996, 971–983, hier 981. 14 Zu Langgaard und Symbolismus vgl. Tine Frank, „Rued Langgaard – A Symbolistic Composer?“, in: Dansk Årbog for Musikforskning 13 (1995), 31–37. 15 Vgl. Satzangaben aus dem Programmheft der Uraufführung in Karlsruhe 1921, zit. nach einer Abbildung in Rued Langgaard: Sfærernes musik, hg. von Viinholt Nielsen, 18–19. 16 Zit. nach ebd., 17. Ein eventuelles dänisches Original ist verschollen, der deutsche Übersetzer unbekannt.

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ständlich wäre gerade auch das gänzliche Fehlen des Weltkriegskontextes, eventuell als Zeichen von „musikalischem Eskapismus“,17 hinterfragungswürdig. Außerdem könnten Langgaards Hinweise auf die Apokalypse, die Auseinandersetzung mit „Chaos“ und „Antichristus“, mit dem Weltkrieg assoziiert werden, obgleich gerade diese Satzbezeichnungen erst für die Uraufführung 1921, nicht während des Komponierens, in der Partitur festgehalten wurden18 und zusammen mit den anderen Satzbezeichnungen keine kriegsnahe Erzählung bilden, sondern eher eine ahistorische Traumwelt.

Kleine Kontroversen um das Programm und um den Einfluss Obwohl Sfærernes musik Zuhörer*innen schon allein klanglich und strukturell viel zumutet, kann es hilfreich sein, die Satzbezeichnungen und den Text des Gedichts mit dem Akt des Hörens zu verbinden, auch wenn die zu verarbeitende Informationsdichte dadurch natürlich noch zunimmt. Langgaards Kunst, von der seine zum Teil kryptischen Werkkommentare nicht ohne weiteres getrennt werden können, vermittelt ohnehin zwischen Denken und Kunst, zwischen „Ästhetik“ und „Anästhetik“.19 Zu einem nicht mehr rekonstruierbaren Anlass, irgendwann in den 1940er Jahren, skizzierte Langgaard zu Sfærernes musik auf einem kleinen Arbeitszettel: I Sfærernes Musik har jeg i Nat og Fortvivlelse fuldstændig opgivet alt hvad der forstaas ved Motiver, Gennemarbeidelse, Form og Sammenhæng. Det er ‚Musik‘ indhyllet i sorte Slør og uigennemtrængelige Dødstaager. Paa denne ‚Musik‘ passer [Karl] Gjellerups Ord: ‚– hvil Verdens Ocean, det store stille, det som bruser dybt i Sfærernes Musik: – Livsmelodien toned salig bort i Evighedens hvilende Akkord.‘ 20

Auch wenn diese Gedanken lange nach dem Kompositionsvorgang schriftlich festgehalten wurden, sind sie authentisch, und es ist nicht einfach zu bestimmen, 17 Vgl. Andreas Dorschel, „Der Welt abhanden kommen. Über musikalischen Eskapismus“, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 66/2 (2012), 135–142. 18 Viinholt Nielsen, „Om Sfærernes musik“, 9. 19 Wolfgang Welsch, Ästhetisches Denken, Stuttgart 1990, 9 und passim. 20 ‚In Sfærernes Musik habe ich in Nacht und Verzweiflung alles, was man unter Motivik, Ausarbeitung, Form oder Kohärenz versteht, vollständig aufgegeben. Das ist ‚Musik‘, die vollständig von einer Art Schleier und undurchdringbarem Todesnebel verhüllt ist. Zu dieser ‚Musik‘ passt [Karl] Gjellerups Wort: ‚– ruhe, Ozean der Welt, der große stille, der tief braust in der Musik der Sphären: – Die Lebensmelodie verklingt selig im ruhenden Akkord der Ewigkeit.‘‘ Original in Det Kongelige Bibliotek in Kopenhagen, Tilg. 554, RLP 2; vgl. Viinholt Nielsen, „Om Sfærernes musik“, 14. Der Ausdruck „Nacht und Verzweiflung“ ist orthografisch eindeutig. Viinholt Nielsen interpretiert ihn als Äquivalent für „Nacht der Verzweiflung“ und nennt ihn „typisch“ für Langgaard (persönliche Mitteilung vom 3. Juli 2018).

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ob sie wirklich nachträgliche Deutungsversuche darstellen oder Bestandteil eines noch nicht endgültig abgeschlossenen Projektes sind und wann sie sich erstmalig als Gedachtes (aber nicht Geschriebenes) artikulierten. Wie das Gjellerup-Zitat zeigt, ordnen sich solche Kommentare nicht nur in die Musikgeschichte ein, sondern sie zählen zur Geschichte des Schreibens über Musik. Aber sie sind trotzdem Früchte einer kreativen Individualität, die sich in der Regel auch im Laufe mehrerer Jahrzehnte nicht radikal verwandelt. So gesehen kann ein zum Kunstwerk zählender, ergänzender Gedanke – ob nun verbal oder in Töne gefasst – dem Künstler auch erst nach dem vorläufigen Abschluss eines Projektes einfallen und als Bestandteil des „Werkes“ im erweiterten Sinne aufgefasst werden; als ein Aspekt des „offenen Kunstwerkes“. 21 Im Falle von Sfærernes musik ist es jedenfalls schwierig, Skizzen wie das Gjellerup-Zitat als programmatisches, erklärendes und das Werkerlebnis erweiterndes Material einerseits zu ignorieren und die erst bei den Aufführungen hinzugefügten Satzbezeichnungen ernst zu nehmen. Auch Langgaards Neigung zu späteren Revisionen seiner Partituren spricht für einen „offenen“ Werkbegriff, nicht nur für Unentschlossenheit. Das Gedicht, das Langgaard zitiert, ist auch ohne ihn musikhistorisch relevant. Die Zeilen sind aus dem langen „Prolog ved mindefesten […] efter OssianOuverturen“ (‚Prolog zum Gedenkfest […] nach der Ossian-Ouvertüre‘ 22) entnommen, vorgetragen am 7. Januar 1891 in Det Kongelige Theater (bis 2005 auch Oper) anlässlich der Trauerfeierlichkeiten zum Tode von Niels W. Gade. Das Gedicht erschien in Gjellerups Sammlung Fra Vaar til Høst (‚Von Frühling bis Herbst‘). 23 Dort steht allerdings „hint Verdens-Ocean“: „Hans Sjæl, de klare Tonebølgers Kilde, fra Larmens Land bort til sin Hjemstavn gik, hint Verdens-Ocean […]“ 24, bei Langgaard in klar lesbarer Handschrift aber „hvil“ (‚ruhe‘). „Hint“ (‚jener‘) ist ein altes, heute ungebräuchliches Pronomen, „hvil“ ein gewöhnliches Verb. 25 Nur wegen des kleinen Versehens kommt es in der Skizze zu der ungelenken Wiederholung: „hvil“ / „hvilende“ (‚ruhe‘ / ,ruhender‘). Außerdem fehlt ein Komma: „det store, stille“. Langgaard scheint auswendig zu zitieren. Das fremdartige Pronomen hat er womöglich unbewusst durch ein ähnlich klingendes Verb ersetzt. 26 21 Vgl. Umberto Eco, Opera aperta, Mailand 1962. 22 Niels W. Gade, Efterklange af Ossian in a-Moll op. 1 von 1840. Karl Gjellerup (1857–1919) war ein Freund von Georg Brandes (1842–1927), dem führenden Modernisten in Dänemark. 23 Karl Gjellerup, Fra Vaar till Høst, Kopenhagen 1910, 69–73, hier 73. 24 „Seine Seele, die Quelle klarer Tonwogen, ging fort aus dem Land des Lärms in seine Heimatstadt, in jenen Ozean der Welt, den großen stillen, der tief in der Musik der Sphären braust […]“. 25 Vgl. „hin“, in: Ordbog over det danska sprog. Historisk ordbog 1700–1950, https://ordnet.dk/ods/ordbog?query=hin, (30.1.2019). 26 Langgaards Unsicherheit macht sich auch dadurch bemerkbar, dass er das Zitat mit der Silbe „Liv“ (wahrscheinlich ‚Lebe!‘) begonnen, sie aber durchgestrichen hat, was übrigens auch den langen, unmotivierten Strich über dem ersten Anführungszeichen zu Beginn des Zitats erklären könnte.

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Die Skizze aus den 1940er Jahren ist auch deshalb faszinierend, weil einige Sätze an György Ligetis Gedanken zu Atmosphères (1961) erinnern: In Atmosphères versuchte ich, das strukturelle kompositorische Denken, das das motivisch-thematische ablöste, zu überwinden und dadurch eine neue Formvorstellung zu verwirklichen. In dieser musikalischen Form gibt es keine Ereignisse, sondern nur Zustände; keine Konturen und Gestalten, sondern nur den unbevölkerten, imaginären musikalischen Raum; und die Klangfarben, die eigentlichen Träger der Form, werden – von den musikalischen Gestalten gelöst – zu Eigenwerten. 27

Ligetis Worte könnten wiederum ohne Einschränkung für Sfærernes musik gelten, obwohl Langgaard Ligeti 1961 gänzlich unbekannt war. Unabhängig davon, ob Ligeti Sfærernes musik kannte, ist sie ein Vorläufer für seine „Meloharmonik“ und „Mikropolyphonie“. Auch Sibelius’ Tapiola (1927) könnte Ligeti beeinf lusst haben, zumal die allgemeine Bekanntheit dieses Komponisten, im Gegensatz zu Langgaard, den Einf luss plausibel und die Vermutung nahezu trivial erscheinen lässt. 28 Aber hätte Sfærernes musik eventuell Sibelius beeinf lussen können? Während der „Nordischen Musiktage“ 1919 gab es für ihn und Langgaard immerhin eine Gelegenheit, sich zu begegnen. Langgaards Fünfte Sinfonie Sommersagnsdrama (in der ersten Fassung von 1917/18) erklang unter Frederik Schnedler-Petersen am 16. Juni, Sibelius dirigierte zwei Tage später seine Zweite Sinfonie (1902), am 21. Juni (im Kopenhagener Tivoli außerhalb des Festivalprogramms) führte er zudem die Tondichtung Finlandia (1900) auf. Dass er am 16. Juni im Publikum saß, ist denkbar, denn neben Langgaards Sinfonie erklangen Orchesterwerke von Erkki Melartin und Leevi Madetoja sowie Ture Rangströms Erste Sinfonie in cisMoll Strindberg in memoriam unter Wilhelm Stenhammar. 29 Die heutige Fokussierung in der Langgaard-Rezeption auf Sfærernes musik, zumal mit Blick auf die Neue Musik, erklärt sich durch die spektakuläre internationale Wiederentdeckung von 1968. In den Jahren zuvor hatte nur noch Launy 27 György Ligeti, „Atmosphères“ [1961], in: Gesammelte Schriften, Bd. 2., hg. von Monika Lichtenfeld, Mainz 2007, 180. 28 Vgl. Erkki Salmenhaara, Tapiola: Sinfoninen runo Tapiola Sibeliuksen myöhäistyylin edustajana, Helsinki 1970. Mit Tapiola ist auch Sphärisches assoziiert worden; vgl. zu einer etwas anderen Deutung Tomi Mäkelä, „Verwandlung und Angstbewältigung. Zu Jean Sibelius’ Tondichtung Tapiola (1926)“, in: Verwandlungsmusik. Über komponierte Transfigurationen, hg. von Andreas Dorschel, Wien 2007 (= Studien zur Wertungsforschung 48), 397–431; Tomi Mäkelä, Jean Sibelius, Woodbridge 2011, 228 und passim; ders., Jean Sibelius und seine Zeit, Laaber 2013, 237–242; zu Langgaard im Kontext der Materialgeschichte siehe etwa Erik Christensen, The Musical Timespace, Aalborg 1996. 29 Vgl. Angaben in John Fellow (Hg.), Carl Nielsen Brevudgaven, Bd. 6: 1918–1920, Kopenhagen 2010, 253–254. Erkki Melartin (1875–1937) und Leevi Madetoja (1887–1947) zählten zum engsten Bekanntenkreis von Sibelius in Helsinki. Auch mit Ture Rangström (1884–1947) und Wilhelm Stenhammar (1871–1927) war Sibelius befreundet. Sie alle verband eine tiefe Zuneigung zum Dramatiker August Strindberg (1849–1912).

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Grøndahl seine Werke programmiert, 30 jedoch ohne überregionale Resonanz. Ligeti wurde eingeladen, das Programm der „Nordischen Musiktage“, gemeinsam mit dem 35-jährigen dänischen Avantgardisten Per Nørgård, zu gestalten. Sfærernes musik wurde als Beispiel für die dänische Moderne ausgewählt. Nørgård kannte die Ähnlichkeiten zwischen Sfærernes musik und Ligetis Stil seit Apparitions (1958/59) und Atmosphères (1961) und hatte Langgaard vorgeschlagen. Obwohl Ligeti 1961–70 als Gastprofessor in Stockholm wirkte und rege Kontakte mit Vertretern des nordeuropäischen Musiklebens pf legte, 31 kannte er Langgaard nicht. Nørgård berichtet, wie Ligeti nach andächtigem Studium der Partitur sagte: „[…] jeg vidste ikke at jeg var Langgaard-epigon!“32 Ein „Epigonos“ war er nur im altgriechischen Sinne: gewiss ein Nachgeborener, aber kein Nachahmer.

Das Wunderkind auf der Flucht Auch wenn Langgaard sich bereits früh von lokalen Stilvorbildern befreite und sich seit seiner Kindheit global behaupten wollte (und sollte; s. u.), entwickelte er sich nicht zum souveränen Weltbürger. Er wurde zwar zum Welteroberer erzogen – seine ambitionierten Eltern hielten ihn für „en Guds gave til menneskeheden“ (‚ein Gottesgeschenk an die Menschheit‘) 33 –, doch endete er 1940 als Organist in Ribe auf Jütland. Obwohl er sich immer wieder um eine feste Position in Kopenhagen bemüht und dabei sogar (stets vergebens) um Carl Nielsens (1865–1931) Unterstützung geworben hatte, hatte er im dänischen Musikleben keine führende Aufgabe gefunden. 34 Zwischen 1926 und 1930 spielte er zwar in der königlichen Schlosskirche in Christiansborg auf einer bescheidenen „Marcussen & Reuter“Orgel von 1829, doch war auch das keine dauerhafte Anstellung. Der Schloss30 Vgl. etwa die Aufführung von Langgaards Orchesterstück Drapa. Ved Edvard Griegs Død (‚Zu Edvard Griegs Tod‘; 1907, rev. 1909–13), https://www.youtube.com/watch?v=ywv6UVlpsvI (30.1.2019). Der Dirigent und Komponist Launy Grøndahl (1886–1960) ist bekannt für seinen Einsatz für dänische Komponisten der Ära Carl Nielsen (s. u.). 31 Die weltweit erste größere Studie zu Ligeti war bezeichnenderweise auch Erkki Salmenhaaras Dissertation Das musikalische Material und seine Behandlung in den Werken Apparitions, Atmosphères, Aventures und Requiem von György Ligeti, Helsinki 1969. Salmenhaara besuchte Ligeti in Stockholm und konsultierte ihn auch als Komponist. 32 (‚[…] ich wusste nicht, dass ich Langgaard-Epigone bin!‘) Zit. nach Per Nørgård, „Rued Lang­ gaards lange kamp – mod de forkorte“ [Rede vom 9. September 1993 zur Eröffnung der Ausstellung in Det kongelige Bibliotek anlässlich des 100. Geburtstages von Langgaard], in: Magasin fra Det Kongelige Bibliotek 8/4 (1994), zit. nach http://langgaard.dk/litt/om/pern.htm (30.1.2019). Vgl. Per Nørgård: Tilbageblik – Undervejs. Artikler 1956–2009, hg. von Ivan Hansen, Kopenhagen 2009. Nørgård zitiert Ligeti auf Dänisch, doch wahrscheinlich sprach dieser Schwedisch. 33 Vgl. Bendt Viinholt Nielsen, „Rued Langgaard – en myte i nyt lys“, in: Nordisk Tidskrift för vetenskap, konst och industri 71/1 (1995), zit. nach http://langgaard.dk/litt/om/nordisk.htm (30.1.2019); ders., „Et vidunderbarn træder frem“, http://langgaard.dk/liv/bio/bio.htm#vidunderbarn (30.1.2019). 34 Vgl. Rued Langgaard, Brief an Carl Nielsen, 23. Februar 1927 (Brief Nr. 482), in: Carl Nielsen Brevudgaven, Bd. 9: 1926–1927, hg. von John Fellow, Kopenhagen 2012, 467–468.

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geistliche Carl Ingvard Linnemann stellte am 8. Februar 1927 ein wohlwollendes Zeugnis für Langgaards Dienste von Januar bis Mai 1926 aus, aber es ist eindeutig von einer längst beendeten Tätigkeit die Rede: „Det virkede i den tid han beklædte Stillingen helt overraskende for os, hvad han var i Stand at faa ud av det gamle Orgel.“ 35 Trotzdem heißt es, dass er in den Jahren 1926 bis 1930 in Christiansborg „fungerede […] som kirkeorganist.“ 36 Die grammatikalische Gleichsetzung bei Viinholt Nielsen legt zwar nahe, dass es sich sowohl bei der Arbeit in der Schlosskirche als auch bei jener in Ribe um eine Festanstellung handelte, aber davon kann wohl kaum die Rede sein. Ribe war 1940, während des Krieges, ein von der Geschichte und Gegenwart enthobener Wirkungsort. Ansgar, der „Apostel des Nordens“ 37, hatte das Heiligtum im Jahr 860 angelegt. Im 12./13. Jahrhundert entstand die fünfschiffige Domkirke, auch Vor Frue Kirke Maria (‚Frauenkirche Maria‘ bzw. ‚Marienkirche‘) genannt, 38 die die überregionale Bedeutung des ehemals wichtigsten Hafens der jütländischen Küste verkörpert. 1940 stand dort eine in den 1840er Jahren gebaute, provinziellen Ansprüchen genügende „Frederik Nielsen“-Orgel aus Århus.39 Die Reize des Ortes erschlossen sich für Langgaard nicht und er fühlte sich von der dänischen Fachwelt verfolgt und verbannt, anstatt zu erkennen, dass sein Charakter – unter anderem als Konsequenz der Erziehung zum „Gottesgeschenk an die Menschheit“ – nicht in die moderne, von mondänen Weltbürgern geprägte Hauptstadt passte und dass er in Ribe eigentlich ideale Bedingungen vorfand: einen Dom, eine andere Kirche (Kloster St. Katharina) als Ausweichstätte, ein schönes Haus, eine spektakuläre Landschaft um den Ort herum und vor allem Unabhängigkeit von Konf likten mit seinen Kollegen in Kopenhagen. Der Konf likt zwischen Langgaard und dem dänischen Establishment scheint in seiner Kindheit angelegt gewesen zu sein. Rueds Eltern waren anspruchsvoll und überregional orientiert. Die Mutter Emma, geborene Foss, war die Enkel35 ‚Es wirkte damals, als er die Stellung innehatte, ganz und gar überraschend für uns, was er in der Lage war, aus der alten Orgel herauszubekommen.‘ Zit. nach Rued Langgaard, Beilage (Abschrift) zum Brief an Carl Nielsen, 23. Februar 1927 (Brief Nr. 482), in: Carl Nielsen Brevudgaven, Bd. 9, 467–468. 36 „Langgaards instrument var orglet og i to perioder fungerede han som kirkeorganist, nemlig dels ved Christiansborg Slotskirke (1926–30), dels ved Ribe Domkirke (1940–52).“ (‚Langgaards Instrument war die Orgel, und in zwei Perioden fungierte er als Kirchenorganist, nämlich zum einen in der Schlosskirche von Christiansborg [1926–30], und zum anderen in der Domkirche von Ribe [1940–52].‘) Zit. nach Bendt Viinholt Nielsen, „Rued Langgaard og kirkemusikken“, in: http:// langgaard.dk/litt/om/kirkem.htm (30.1.2019). 37 Vgl. Thomas Klapbeck, Der heilige Ansgar und die karolingische Nordmission, Hannover 2008. 38 Vgl. Bendt Viinholt Nielsen, „Ribe Domkirke (Vor Frue Kirke)“, in: http://langgaard.dk/liv/ kort/dkkort/r-dom.htm (30.1.2019). 39 Das barocke Prospekt existiert noch. Die neue Orgel wurde 1973 von „Th. Frobenius & Sønner“ gebaut.

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tochter des Klavierfabrikanten Christian Hornung – Gründer der Klavierfabrik „Hornung & Møller“ –, der seit 1842 in Kopenhagen wirkte, ab 1843 als Hof lieferant. Die Familien Hornung und Foss gehörten zu Kopenhagens Elite, wenngleich nicht zum reichsten Segment, aber mit dem Zugang zu diesem und zum Hof. Emma war „Wagnerianerin“ und eine musisch und christlich-sozial engagierte Persönlichkeit – unter anderem war sie im Kristelig Forening for Unge Kvinder (‚Christlichen Verein Junger Frauen‘) tätig. Der Vater Siegfried hatte es bis zu Franz Liszts Meisterklasse in Weimar geschafft, diente als Kammermusiker am Hof und galt ebenfalls als „Wagnerianer“.40 Er hatte sich um 1900/01, von „Sendungsbewusstsein“ berauscht, auf 2140 Manuskriptseiten mit dem skurrilen Titel „Lidt om Tonekunstens Mission“ (‚Ein wenig über der Tonkunst Mission‘) mit musikästhetischen Fragestellungen beschäftigt, unter anderem mit „Kunstarternes Samklang i Verdensharmonien“, also mit ‚dem Einklang der Kunstgattungen in der Weltenharmonie‘.41 Die Mutter übersetzte 1911 Hans von Wolzogens Wagner-Interpretationen ins Dänische 42 und veröffentlichte zu Wagners hundersten Geburtstag (zugleich im Folgejahr der Gründung des dänischen Richard Wagner-Verbandes), unter dem Schutz der aus Mecklenburg stammenden und Klavier spielenden Königin Alexandrine von Dänemark,43 im Geiste Wagners Et lille Mindeord, særligt tilegnet danske Kvinder.44 Das familiäre Milieu scheint also viele fachliche und sonstige Voraussetzungen für die Entwicklung eines Wunderkindes erfüllt zu haben, und später begünstigte das sich selbst zelebrierende, von der eigenen Erkenntniskraft überzeugte Milieu die Entwicklung einer gewissen Selbstgenügsamkeit, mit der jedoch die bedauernswerte Ambition einher ging, in ihrer Überlegenheit von anderen auch anerkannt zu werden – also „Sendungsbewusstsein“. Die Erfüllung blieb jedoch weitestgehend aus. Insbesondere blieben die 2140 Manuskriptseiten des Vaters unveröffentlicht. Die musik- und kulturhistorische Lage war vorerst vielversprechend. Als Rued im Juli 1893 geboren wurde, hatte Carl Nielsen seine Erste Sinfonie g-Moll noch nicht zur Uraufführung bringen können.45 Seinen unauf haltsamen Aufstieg aus der ländlichen Idylle Fünens zum führenden dänischen Komponisten mit Weltgel40 Vgl. Bendt Viinholt Nielsen, „Siegfried Langgaard“, in: http://langgaard.dk/liv/bio/bio1a.htm (30.1.2019). Zum Begriff „Wagnerismus“ siehe etwa Annegret Fauser und Manuela Schwartz (Hg.), Von Wagner zum Wagnérisme, Leipzig 1999. 41 Vgl. Viinholt Nielsen, „Siegfried Langgaard“. 42 Hans von Wolzogen, Richard Wagner og Kristendommen (‚Richard Wagner und das Christentum‘), paa dansk ved E[mma F.] Langgaard, Kopenhagen 1911. 43 Die Richard Wagner Selskabet (‚Gesellschaft‘) wurde 1912 gegründet. Königin Alexandrine von Dänemark war „Protektrice“ des Verbandes; vgl. http://www.richardwagner.dk/index.php/omrichard-wagner-selskabet-kobenhavn/om-richard-wagner-selskabet-kobenhavn (30.1.2019). 44 Emma F. Langgaard, Et lille Mindeord, særligt tilegnet danske Kvinder (‚Ein kleines Gedenkwort, den dänischen Frauen besonders zugeeignet‘), Kopenhagen 1913. 45 Carl Nielsens (1865–1931) Erste Sinfonie entstand 1891/92, wurde aber erst 1894 uraufgeführt.

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tung vermochte man 1893 aufgrund seiner recht bescheidenen Herkunft als Kind eines Volksmusikers und einfachen Malermeisters und einer landwirtschaftlichen Hilfsarbeiterin sowie angesichts seiner ersten Kompositionen nicht zu erwarten.46 Niels W. Gade (1817–1890), mit dem Rued indirekt verwandt war,47 hatte nach seinem Tod zwar kein Vakuum hinterlassen,48 aber wer bereit war zu arbeiten, schien nicht allzu viel Konkurrenz befürchten zu müssen, zumal mit Johan Svendsen von 1883 bis zu dessen Tod 1911 ein Norweger in Kopenhagen die Federn führte und die Funktion des ‚musikalischen Nationalhelden‘ vakant ließ. Svendsen war ein international anerkannter Musiker, agierte in zahlreichen Funktionen, interessierte sich aber primär fürs Dirigieren. Als Komponist*innen hätten sich insbesondere Ludolf Nielsen und die erste dänische Sinfonikerin Nancy Dalberg größere Erfolge gewünscht.49 Dem hervorragenden, zuletzt in Brüssel bei Juliusz Zarębski und Józef Wieniawski ausgebildeten Pianisten Louis Glass, der, Langgaard ähnlich, zunächst nur durch die eigenen Eltern ausgebildet worden war, gelang es, sich anzupassen und diverse wichtige Aufgaben im Musikleben zu übernehmen.50 Auch Victor Bendix, Fini Henriques und Hakon Børresen komponierten,51 aber in erster Linie etablierten auch sie sich als Ausführende und / oder Organisatoren. Bereits mit sieben Jahren meisterte Rued Langgaard Robert Schumanns Davids­ bündlertänze op. 6 (welche, wissen wir nicht) und Chopin-Mazurkas (d. h. anspruchsvolles, auch emotional für das Alter nicht optimal geeignetes Repertoire), mit zehn Jahren lernte er auch Violine und Orgel, auf letzterer fiel er schon ein Jahr später mit Improvisationen auf. Vom zwölften Lebensjahr an erhielt er Tonsatzunterricht.52 Die frühe Förderung fruchtete im totalen Musikertum. Leider scheinen die Eltern die ‚seelische‘ Entwicklung ein wenig vernachlässigt zu haben. Sie selbst spielten gut Klavier und konnten Rued umfassend anregen, aber eine pädagogische Ausbildung hatten sie nicht (eine solche gab es zu jener Zeit noch nicht). Sie wurden jedoch davor gewarnt, Rued nur im familiären Umfeld auszubilden: „For 17. Gang maa vi da beklage, at dette oprindelig store Musiktalent ikke i Tide er blevet underkastet en rationel Skoling og en streng Node-Rationering“, 46 Man denke etwa an die Lille Suite für Streicher a-Moll op. 1. Daneben entstanden kammermusikalische Werke. 47 Rueds Tante Anna Bernhardine Langgaard (1861–1906), die Schwester Siegfried Langgaards, war mit Gades Sohn Axel Gade (1860–1920) verheiratet. 48 Vgl. Claus Røllum-Larsen, „Dänemark. 1890–1950“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, zweite Auflage, hg. von Ludwig Finscher, Sachteil, Bd. 2, Kassel und Stuttgart 1995, Sp. 1073– 1075, hier 1073. Zuletzt wirkte Gade vor allem wegen seiner Ämter dominant, u. a. als Gründer und Leiter von Det Kongelige Danske Musikkonservatorium (seit 1865). 49 Ludolf Nielsen (1876–1939), Nancy Dalberg (1881–1949). 50 Zu Louis Glass (1864–1936) und zu Dänemark vgl. Andersson, Musikgeschichte, 303–304. Zit. wird u. a. Richard Hoves „Nachruf auf Louis Glass“, in: Dansk musiktidskrift von 1936. 51 Victor Bendix (1851–1926), Fini Henriques (1867–1940), Hakon Børresen (1876–1954). 52 Vgl. Viinholt Nielsen, „Musikalske Uddannelse“, http://langgaard.dk/liv/bio/bio1d.htm (30.1.2019).

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schrieb der Musikkritiker Gustav Hetsch 1919.53 Zwei Jahre zuvor hatte Hetsch beim Verfassen der Geschichte des königlichen Konservatoriums über Prinzipien der ‚vernünftigen Schulung‘ nachgedacht.54 Das Buch ist ein Essay von 90 Seiten, mit einem Verzeichnis der Stifter, Lehrer*innen und Schüler*innen (natürlich ohne Rued) mit Kurzbiographien. „Carl A. Nielsen“ wurde 1884 als Schüler Nr. 300 immatrikuliert, Rueds Vater 1874 als Nr. 131, während Rueds Mutter das Institut nicht besucht hat. Womöglich war gerade sie dafür verantwortlich, dass Rued in der familiären Isolation ausgebildet und erzogen wurde, denn sie kannte das Prinzip aus ihrer eigenen Erfahrung, wenngleich auf anderem Niveau.55

„Ein Werk wie dieses …“ Die Eltern waren professionell vernetzt und gut situiert. Ohne ihr Netzwerk wäre es 1913 zu der Berliner Uraufführung der Ersten Sinfonie in h-Moll Klippe­ pastoraler (‚Felsenpastorale‘) nicht gekommen. Als Gastdirigent der Philharmoniker brachte August Max Fiedler das Werk am 10. April 1913 zur Aufführung.56 Zu Beginn des Konzerts, das nur aus seinen Werken bestand, spielte Rued auf der Konzertorgel der Philharmonie die Uraufführung von Præludio pateticos. Danach erklang das sinfonische „Tonbild“ Sphinx, 57 dann die Sinfonie. Die Familie verbrachte mehrere Wochen in Berlin, denn Rued sollte in der Bibliothek Partituren studieren. Dänische Musiker, darunter auch Berliner Philharmoniker, vermittelten den Kontakt zu Arthur Nikisch, der seinem dänischen Konzertmeister Julius Thornberg zufolge über Langgaard sagte: „Er scheint mir eine große Begabung zu sein.“58 Hier öffnet sich bereits eine Kluft zwischen Rezeptionspositionen, zwischen ‚Gottesgeschenk an die Menschheit‘ und „einer großen Begabung“. Das Konzert wurde vom dänischen Fabrikanten Christian Augustinus mitfinanziert, 53 ‚Zum 17. Mal müssen wir beklagen, dass dieses ursprünglich große Musiktalent nicht rechtzeitig einer vernünftigen Schulung und strengen Noten-Rationierung unterworfen wurde.‘ (Zit. nach Bendt Viinholt Nielsen, „Kritikken stemplede…“, in: http://langgaard.dk/liv/bio/bio4a.htm [30.1.2019]). 54 Vgl. Gustav Hetsch (1867–1935), Det kongelige Danske Musikkonservatorium 1867–1917. Med en fortegnelse over samtliga elever, Kopenhagen 1917. 55 Nach dem Tode von Siegfried Langgaard 1914 lebte sie mit Rued bis zu ihrem Tod 1926. 1927 heiratete Rued Valborg Constance Tetens, die zuvor als Haushaltshilfe bei seiner Mutter gearbeitet und dieser versprochen hatte, sich um ihn zu kümmern. Mit Emmas Tod und der Heirat korreliert zeitlich Langgaards Stilwende von der Moderne zur Volkstümlichkeit (s. u.); vgl. Birgitte Ebert, „Var det Langgaard? Jamen, det kunne jeg da godt lide...“, in: Organistbladet 73/3 (2007), zit. nach http://www.doks.dk/organistbladet/207-2007/juli/878-rvar-det-langgaard-jamen-det-kunnejeg-da-godt-lidel (30.1.2019). 56 Vgl. Viinholt Nielsen, Omkring Rued Langgaards første symfoni, Esbjerg 2010, 6. 57 Vgl. ebd., 10. 58 Ebd., 9–10. 1910–14 war Julius Thornberg (1883–1945) Konzertmeister in Berlin, danach ging er nach Kopenhagen und wurde Mitglied (1930 Konzertmeister) von Det Kongelige Kapel (Hoforchester).

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der Langgaard für die Kompositionsarbeit einen Steinway-Flügel in die eigens für die Arbeit angemietete „Villa Pax“ in Charlottenlund bestellt hatte – unweit des Sommersitzes der Königsfamilie bei Kopenhagen. 59 Hier überschritt die Begabtenförderung bei weitem das übliche Maß. Noch vor dem Ersten Weltkrieg konzipierte Langgaard seine Zweite Sinfonie Vaarbrud (‚Frühlingserwachen‘).60 Im Anschluss an die Dritte Sinfonie Ungdomsbrus (‚Jugendrausch‘, 1915/16) begann er die Arbeit an Sfærernes musik. Um 1925 kehrte er der Moderne den Rücken und widmete sich vermehrt der Revision älterer Kompositionen.61 Vor dieser Stilwende, hin zum Volkstümlichen, Neoromantischen und Affirmativ-Idyllischen, spürt man, zumindest in den Orchesterkompositionen, durchgehend den ästhetisch-kulturellen Einf luss des Fin de Siècle und des für die Zeit typischen Sinns fürs Symbolistisch-Monumentale – man denke an Felix Draesekes Christus (1899), Alexander Skrjabins Le Poème de l’Extase (1908), Siegmund von Hauseggers Natursymphonie (1911) und Gustav Holsts The Planets (1918) sowie in Nordeuropa an Ernest Pingouds Mysterium (1919), Le Prophète (1921) und Le Chant de l’espace (1931/38) und Kurt Atterbergs Sinfonia visionaria zu EddaVersen (1955).62 Während einige Nordländer diesen spätromantisch-modernen und symbolistischen Weg noch nach 1945 beschritten, passte sich Langgaard bereits um 1925 an die in Dänemark von den Dichtern Henrik Pontoppidan, Johannes V. Jensen und anderen um 1900 eingeleitete antimodernistisch-volkstümliche, vorerst literarische aber letztlich allgemein kulturelle „folkelig“-Bewegung an.63 Allerdings dominierte Carl Nielsen dieses Feld mit seinen Liedern, die in den meisten dänischen Schulen gesungen wurden (und immer noch werden), sogar noch eindeutiger als die Konzertsäle.64 Noch heute wird Carl Nielsen insbesondere in Dänemark für die volkstümliche Vokalmusik, nicht für die Sinfonik geschätzt. Konkurrenzlos blieb Langgaard als „dänischer Opernkomponist des 20. Jahr­ hunderts“.65 Sein Antikrist (1921–23), eine „modern-expressive Übersteuerung“ 59 Vgl. ebd., 8. 60 Der langsame Satz ist Rueds Vater gewidmet, der im Januar 1914 starb (Bendt Viinholt Nielsen, „Symfoni nr. 2“, in: http://langgaard.dk/liv/bio/bio2d.htm [30.1.2019]). 61 Vgl. Viinholt Nielsen, „Rued Langgaard – en myte“. 62 Felix Draeseke (1835–1913), Siegmund von Hausegger (1872–1948), Gustav Holst (1874–1934), Ernest Pingoud (1887–1942), Kurt Atterberg (1887–1974). 63 Zu Henrik Pontoppidan (1857–1943), Johannes V. Jensen (1873–1950) u. a. vgl. Sven Møller Kristensen, Den store generation, Kopenhagen 1974, der anstelle von „det folkeliga genombrod“ (‚Durchbruch des Volkstümlichen‘) für diese in Dänemark besonders wichtige Bewegung – im Unterschied zur vorausgegangenen „Moderne“ von Brandes und anderen – den Begriff „nynaturalisme“ (‚Neonaturalismus‘) prägte. 64 Vgl. http://www.carlnielsen.dk/bio/ (30.1.2019). 65 Vgl. etwa Røllum-Larsen, „Dänemark“, 1074, und Greger Andersson (Hg.), Musikgeschichte Nordeuropas: Dänemark, Finnland, Island, Norwegen, Schweden, übersetzt von Axel Bruch, Stuttgart 2001, 302–305.

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einer frühneuzeitlich wirkenden Anlage,66 wurde 2002 als erste dänische Oper auf DVD aufgezeichnet und zählt nun zum dänischen „Kulturkanon“.67 Schon allein wegen der verblüffenden Unterschiedlichkeit sind auch seine 16 Sinfonien (1908–51) wichtig, provozieren aber den Vergleich sowohl mit Carl Nielsen und Jean Sibelius als auch mit anderen viel zu wenig beachteten nordeuropäischen Sinfonikern der Zeit wie Leevi Madetoja und Ture Rangström. Dass gerade Sfærernes musik ein im emphatischen Sinne einmaliges und somit weltgeschichtlich relevantes Kunstwerk war – kein Nebenprodukt einer insgesamt lebendigen Musikszene –, kolportierte Emma Langgaard schon vor der Uraufführung. Niemand kann wissen, ob es ihr um Vermarktung oder aufrichtige Berichterstattung ging, als sie am 16. Jänner 1917 dem Kritiker und Musikwissenschaftler Godtfred Skjerne gegenüber diese Bemerkung ihres Sohnes zitierte: Et Værk som det – begriber jeg [Rued] slet ikke hvordan det er blevet til – men – naar jeg nu ser det staa der, forekommer det mig som en Umulighed at gøre. Et saadant Værk kan kun skabes éngang, og aldrig mere. Det Hele er som en Plask­ regn der kom over Hovedet.68

Der Ausdruck „som en Plaskregn […] over Hovedet“ (‚wie ein Platzregen über den Kopf ‘) klingt wie eine dänische Variante von „θεόπνευστος“ („theópneustos“), ‚Gotteshauchen‘.69 Der offen vorgetragene Anspruch auf Einmaligkeit und auf die Anerkennung der Fähigkeit zur Überwindung des Unmöglichen, hat einen kultischen Beigeschmack, der die unvoreingenommene ästhetische Würdigung der Kompositionen in deren Zweckfreiheit erschwert oder sogar unerwünscht erscheinen lässt.

66 Christiane Wiesenfeld, „Überbietungsmusik ohne Atempausen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Juni 2018, 14. 67 Die weit verbreitete Kritik des Kanon-Begriffs ignorierend, legte das Dänische Kultusministerium 2006 den Dänischen Kulturkanon an, der aus jeder Sparte je zwölf für Dänemark repräsentative Werke nennt (https://kum.dk/temaer/temaarkiv/kulturkanon/laes-om-vaerkerne/ [30.1.2019]). 68 ‚Ein Werk wie dieses – ich [Rued] begreife gar nicht, wie es dazu kam – aber – wenn ich es nun da stehen sehe, erscheint es mir wie eine Unmöglichkeit [zu tun]. Ein solches Werk kann nur einmal geschaffen werden, und nie mehr. Das Ganze ist wie ein Regenguss über den Kopf gefallen.‘ (Zit. nach Viinholt Nielsen, „Om Sfærernes musik“, 8.) 69 Vgl. 2 Timotheus 3, 16: ‚von Gott eingegeben‘ in der Übersetzung Luthers und seiner Nachfolger (gleichbleibend seit 1545). „πνευστος“ („Pneustos“) heißt auch „ausatmen“; vgl. Hermann Siebeck, „Die Entwicklung der Lehre vom Geist (Pneuma) in der Wissenschaft des Altertums“, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 12/4 (1880), 361–407, 480 („Nachtrag“).

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Hanns Eisler – Spartakus 1919 Zeitgeschichtliche und andere Kontexte Christian Glanz Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst. Bei Marx tritt sie als die letzte geknechtete, als die rächende Klasse auf, die das Werk der Befreiung im Namen von Generationen Geschlagener zu Ende führt.1

Für „Generationen Geschlagener“ war Spartakus bereits ein naheliegendes Symbol, als Walter Benjamin diesen Satz schrieb, unmittelbar darauf erwähnt er mit dem „Spartakusbund“ auch einen wesentlichen Bestandteil dieses komplexen Kontexts. In der vom konkreten politischen Engagement geprägten Musik von Hanns Eisler (1898–1962) spielen mannigfache Kontextaspekte notwendigerweise eine zentrale Rolle. Wie die politische Intention selbst, so sind auch die einzelnen Zusammenhänge und Verweise, die sich in einem überwiegenden Teil seiner Werke erkennen lassen, stets bewusst gesetzt, sie sollen also unbedingt deutlich sein und müssen erkannt werden. Trotzdem weist das Spektrum dieser Kontexte in vielen Fällen über diese gewollte Unmittelbarkeit hinaus, nicht zuletzt (in einem allgemeinen Sinn) aufgrund der mittlerweile eingetretenen historischen Distanz und, spezieller, aufgrund einiger spezifischer Aspekte, die im kulturellen und politischen Umfeld von Entstehung und Rezeption zu finden sind. Das folgende kleine Beispiel versucht, diesem Umstand Rechnung zu tragen. Wollte man Musik von Hanns Eisler nicht nur hören, sondern auch lesen, so führte lange der erste Weg zu den Bänden der Reihe Lieder und Kantaten. Nur am Rande kann hier darauf hingewiesen werden, dass das Zustandekommen und die sehr spezifische innere Gestaltung dieser Reihe bereits ein Thema für sich darstellt und ein aussagekräftiges Licht auf Eislers schwierige Position innerhalb der kulturpolitischen Rahmenbedingungen der DDR wirft. 2 Bereits im 1956 erschienenen ersten Band der Lieder und Kantaten findet sich das Lied Spartakus 1919. Es umfasst 33 Takte, die Vortragsanweisung lautet „Andante“, es gibt keinen 1 2

Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, in: Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1977, 251–261, hier 257. Vgl. Jürgen Schebera, Hanns Eisler. Eine Biographie in Texten, Bildern und Dokumenten, Mainz 1998, 249; Thomas Ahrend, „Materialien zur Editionsgeschichte der Lieder und Kantaten von Hanns Eisler“, in: Musik in der DDR, Beiträge zu den Musikverhältnissen eines verschwundenen Staates, hg. von Matthias Tischer, Berlin 2005, 238–259.

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Hinweis auf die Textautorschaft. 3 Erst 2012 erfolgte die Publikation einer längeren Fassung des Liedes (47 Takte; vgl. Bsp. 1 am Ende des Aufsatzes), die von einer historischen Kontextualisierung begleitet wurde und auch den Textautor Richard Schulz (1899–1945?) nennt.4 Das Hanns-Eisler-Archiv beinhaltet sowohl die Materialien zu diesen beiden publizierten Fassungen, wie auch eine weitere, „um 1957“ datierte unvollständige Fassung, die Spartakus 1919 mit Es sind die alten Weisen aus den Neuen Deutschen Volksliedern (Text von Johannes R. Becher, 1891–1958) kombinieren sollte und statt der Klavierbegleitung ein Ensemble aus Flöte, Klarinette, Fagott und Streichern vorgesehen hätte. 5 Im Rahmen der Publikation der zweiten Fassung des Liedes wurde das Lied mit 1932 datiert, fertiggestellt in „den ersten Jahren des Exils“.6 Diese zweite, ausführlichere Fassung des Lieds enthüllt auch die enge Verwandtschaft mit dem sogenannten Argonnerwaldlied („Argonnerwald, um Mitternacht“). Als verbreitetes, angeblich bereits um 1900 im Kontext der Intervention europäischer Mächte in China als In Kiau­ tschau um Mitternacht geläufiges Soldatenlied,7 weist das Lied absolut genretypisch zahlreiche die Zeitgeschichte ref lektierende Titel- und Textvarianten bis hin zum SA-Lied SA marschiert auf. 8 Im Hinblick auf die Textstruktur und inhaltliche Motive verweist das Textmodell zurück auf Wilhelm Hauffs mit 1824 datierten Text Steh’ ich in finst’rer Mitternacht.9 Auch als „Pionierlied“ bezeichnet,10 wird die mit 1914/15 datierte Weltkriegs-Textfassung Argonnerwald, um Mitternacht einem Hermann Albert Gordon zugeschrieben.11 Der als Textautor des Eisler-Lieds namhaft gemachte Richard Schulz, seines Zeichens „Berliner Schlossergeselle, der in den 1920er Jahren als Redakteur der kommunistischen Tageszeitung Die rote Fahne tätig gewesen sein soll“,12 ist bei seiner Kontrafaktur des Argonnerwaldlieds somit einer im Genre weit verbreiteten und bewährten Methode gefolgt. Die musikalische Autorschaft all dieser Varianten ist ungeklärt. 3

Die fälschliche Zuschreibung des Texts an Bertolt Brecht findet sich noch bei Schebera, Eisler, 108, 305. 4 Oliver Dahin / Peter Deeg (Hg.), Hanns Eisler, Keenen Sechser in der Tasche. Songs und Balladen, Leipzig 2012, 36–38, 62. 5 Christiane Niklew / Daniela Reinhold / Helgard Rienäcker, „Inventare der Musikautographe im Hanns-Eisler-Archiv“, in: Hanns Eisler, s’müßt dem Himmel Höllenangst werden, hg. von Maren Köster, Hofheim 1998 (= Archive der Musik des 20. Jahrhunderts 3), 201–296, hier 266. 6 Dahin / Deeg (Hg.), Keenen Sechser, 62. Jürgen Schebera hatte den Jänner 1933 angegeben (Eisler, 108). 7 Vgl. https://www.volksliederarchiv.de/lexikon/argonnerwald/ (26.01.2019). Als Liederbuchquelle wird eine Soldatenlieder-Sammlung angegeben (DVA A 107804). 8 Vgl. Zentrum für populäre Kultur und Musik, Universität Freiburg, PPN: 379271850 (26.01.2019). 9 Vgl. Dahin / Deeg (Hg.), Keenen Sechser, 62. 10 Als Marschlied findet sich das „Pionierlied“ beispielsweise noch auf Einspielungen von Chören der „Nationalen Volks Armee“ und der „Volkspolizei“ der DDR. 11 Vgl. https://www.volksliederarchiv.de/lexikon/argonnerwald/ (26.01.2019). 12 Dahin / Deeg (Hg.), Keenen Sechser, 62.

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Inhaltlich bezieht sich das Lied Eislers (wie bereits jenes von Schulz) natürlich auf den sogenannten „Spartakusaufstand“ vom 5. bis 11. Jänner 1919. Für die KPD, deren Gründung am Jahreswechsel 1918/19 bekanntlich zu einem bedeutenden Teil durch die Politik der 1916 aus der SPD-Linken abgespaltenen „Spartakus“-Gruppe beeinf lusst und deren Parteiprogramm zum größten Teil jenes des „Spartakusbunds“ war, wurde dieses Ereignis früh zu einem zentralen Erinnerungsort, man wird sagen dürfen: zum Mythos der „verratenen Revolution“.13 Rosa Luxemburg (1871–1919) hatte in ihrem programmatischen Text „Was will der Spartakusbund?“ diesen als „das sozialistische Gewissen der Revolution“ bezeichnet; er sei der zielbewußteste [sic] Teil des Proletariats, der die ganze breite Masse der Arbeiterschaft bei jedem Schritt auf ihre geschichtlichen Aufgaben hinweist, der in jedem Einzelstadium der Revolution das sozialistische Endziel und in allen nationalen Fragen die Interessen der proletarischen Weltrevolution vertritt.14

Entscheidende Bestandteile des Selbstverständnisses der Partei, darunter die grundsätzliche Gegnerschaft zu den Sozialdemokraten (deren Spitzenrepräsentant Gustav Noske [1868–1946] die „Spartakusrevolte“ durch den Einsatz militärischer und Freikorps-Verbände blutig niedergeschlagen hatte)15 sowie die Erinnerung an die beiden bekanntesten „Spartakisten“ (die unmittelbar nach dem gescheiterten Aufstand von Militärs ermordeten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht [1871– 1919], zu deren physischer Beseitigung zuvor auch die sozialdemokratische Presse zumindest indirekt aufgerufen hatte) prägten die Außendarstellung der KPD sowohl während der Weimarer Republik als auch während des Nationalsozialismus, firmierten aber auch in der DDR an zentraler Stelle. Noch als sich Gregor Gysi 1990 dazu entschloss, „die Partei nicht aufzugeben“ (gemeint ist hier die SED), geschah dies nach eigener Aussage im Bewusstsein der historischen Tradition und explizit unter Berufung auf Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.16 Das neun Strophen umfassende Lied von Richard Schulz wurde bekannt unter dem Titel Büxenstein-Lied und verweist damit auf die gleichnamige Druckerei im Berliner Zeitungsviertel, die einer der wichtigsten Schauplätze der äußerst brutalen Kampf handlungen im Jänner 1919 gewesen war. Ab 1920 scheint das Lied 13 Zur Frage, ob es sich beim Spartakusaufstand um eine Revolution oder doch nur um eine Revolte gehandelt hat, vgl. Furio Jesi, Spartakus, The Symbology of Revolt, hg. von Andrea Cavaletti, übersetzt von Alberto Toscano, London 2014. 14 Rosa Luxemburg, „Was will der Spartakusbund?“ [14. Dezember 1918], in: Der proletarische Massenkampf in Deutschland [Textsammlung e-artnow], o. O. 2018, 147. 15 Vgl. Sebastian Haffner, Die deutsche Revolution 1918/19, Berlin 1979; Ulrich Kluge, Die deutsche Revolution 1918/1919. Staat, Politik und Gesellschaft zwischen Weltkrieg und Kapp-Putsch, Frankfurt a. M. 1985; Volker Ulrich, Die Revolution von 1918/19, München 2009; Wolfgang Niess, Die Revolution von 1918/19. Der wahre Beginn unserer Demokratie, Berlin 2017; Gerhard A. Ritter / Susanne Miller (Hg.), Die deutsche Revolution 1918–1919. Dokumente, Frankfurt a. M. 1983. 16 Gregor Gysi, Ein Leben ist zu wenig. Die Autobiographie, Berlin 2017, 308–309.

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in einigen Liederbüchern der KPD auf, dabei mitunter als „Kampfgesang“ und typisches „proletarisches Freiheitslied“ bezeichnet.17 Als sich Hanns Eisler mit diesem Erinnerungsort beschäftigte, hatte sich die politische Lage bereits wieder extrem zugespitzt. Eisler selbst spielte in der Berliner Öffentlichkeit spätestens seit 1930 eine nachdrücklich präsente Rolle als Komponist, Interpret und Verfasser diverser Texte. Als Komponist war er vor allem durch seine massenwirksamen „Kampf lieder“18 aufgefallen – das möglicherweise verbreitetste davon, das Solidaritätslied, erschien 1932 im Rahmen des heftig umkämpften Films Kuhle Wampe – und erreichte im Duo mit Ernst Busch (1900–1980) als Interpret seiner Lieder und Chansons zeitweilig echte Popularität.19 In der Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht (1898–1956) hatte Eisler mit dem Lehrstück Die Maßnahme (1930) auch parteiintern heftige Diskussionen entfacht und zudem als Autor mehrmals ausführlich und grundsätzlich zu Aufgaben, Möglichkeiten und Zielen konkret politisch engagierter Musik Stellung genommen. 20 Obwohl nicht Parteimitglied, gehörte Eisler zweifellos zu den bekanntesten Gesichtern der Berliner KPD. Dies illustriert exemplarisch eine möglicherweise wenig bekannte Erinnerung von Arthur Koestler: Der liebste unter den prominenten kommunistischen Intellektuellen des Vornazi-Berlin war mir der Komponist Hanns Eisler. Er kümmerte sich nicht im geringsten um politische Intrigen und brachte es fertig, sich von den Erdbeben und Stürmen des Parteilebens so völlig fernzuhalten, daß es fast einem Wunder gleichkam. […] Hanns, ein freundlicher, kahlköpfiger, kleiner Mann mit einem Mondgesicht, war voller Humor und Selbstironie. Ihm zuzuhören, wenn er auf dem Klavier seine revolutionären Lieder trommelte und mit seiner krächzenden Stimme den Text dazu krähte, war eine reine Freude. Diese Lieder […] waren zugleich sentimental, anfeuernd und didaktisch; die einzigen populären Kunstwerke, die die europäische kommunistische Bewegung hervorgebracht hat; die Anfänge einer revolutionären Folklore. 21

Die Erinnerung an Luxemburg, Liebknecht und den „Spartakusaufstand“ hatte zwar, wie bereits erwähnt, eine zentrale Bedeutung für das offizielle Selbstbild 17 Vgl. Dahin / Deeg (Hg.), Keenen Sechser, 62. 18 Vgl. Albrecht Betz, Hanns Eisler, Musik einer Zeit, die sich eben bildet, München 1976, 60–107; Christian Glanz, Hanns Eisler, Werk und Leben, Wien 2008, 69–91; Jürgen Elsner, „Zur melodischen Gestaltung der Kampflieder Hanns Eislers“, in: Sinn und Form, Sonderheft Hanns Eisler 1964, Berlin 1964, 173–194. 19 Für eine Busch-Interpretation des Liedes vgl. etwa https://www.youtube.com/watch?v=G3p11dG AMYg (26.01.2019). 20 Vgl. Tobias Faßhauer / Günter Mayer (Hg.), Hanns Eisler. Gesammelte Schriften 1921–1935, Wiesbaden 2007, bes. 92–170. 21 Arthur Koestler, Als Zeuge der Zeit. Das Abenteuer meines Lebens, übersetzt von Franziska Becker, Heike Curtze und Eduard Thorsch, Frankfurt a. M. 1986, 152.

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der KPD, dennoch gab es heftige innerparteiliche Kontroversen über den Umgang mit und eine eventuelle konkrete Orientierung an dieser Märtyrergeschichte. Dies konnte bis zu einer Infragestellung dieser sonst so bedeutungsvollen historischen Bezüge im Rahmen der seit Mitte der 1920er Jahre immer zerklüfteter erscheinenden innerparteilichen Diskurse führen: Im Zusammenhang mit der Bekämpfung der kommunistischen Oppositionsgruppen begann um die Jahreswende 1931/32 erneut, systematischer als früher, die Verunglimpfung Rosa Luxemburgs, Franz Mehrings, Karl Liebknechts. Damit wollte das Zentralkomitee der KPD die Gruppen besonders treffen, die sich in ihren Schriften und Reden auf diese Vorkämpfer des Sozialismus beriefen. […] Die Anweisung zur Auslöschung des Andenkens an die linken sozialistischen Führer der Vorkriegszeit und des Spartakusbundes der Kriegszeit kam von Stalin. […] Das Zentralkomitee der KPD erreichte mit den Schmähungen Rosa Luxemburgs, Karl Liebknechts, Franz Mehrings nur eine weitere Verwirrung bei den Funktionären. Daß dagegen die einfachen Parteimitglieder von dieser Diskussion kaum berührt wurden, erlebte ich in einigen Mitgliederversammlungen meines Parteibezirks. Als ich hier gegen diese Artikel sprach, gab ich mir unnötige Mühe, niemand hatte die Artikel gelesen. 22

Der Erinnerungsort „Spartakus“ war KP-intern also offensichtlich ein heftig umkämpfter; in der Art der Auseinandersetzung (auch) mit dieser Tradition und der damit verbundenen Symbolik scheint sich die Richtungsproblematik der KPD in der letzten Phase vor der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus einmal mehr deutlich zu spiegeln. Eislers Wiederaufnahme des Büxensteinlieds, das dem Erinnerungsort „Spartakus“ so direkt verbunden ist, könnte daher als eine Standortbestimmung oder Stellungnahme in dieser innerparteilichen Kontroverse verstanden werden. Spartakus 1919 erscheint aus dieser Perspektive also nicht nur im Kontext des Rückverweises auf den historischen Bezugspunkt, sondern genauso als aktuelle Selbstverortung des parteilichen Intellektuellen in einem scharfen internen Diskurs, der sich übrigens in der Emigration und Illegalität fortsetzte. 23 Nun folgt endlich der Blick in die Noten. Die 2012 publizierte Fassung steht dabei im Zentrum, die ältere (kürzere) Fassung dient als Vergleichsobjekt. Das Lied mit der Generalvorzeichnung für F-Dur/d-Moll (tatsächlich bildet dies die harmonischen Verhältnisse nur unzureichend ab) umfasst 47 Takte und ist im Dreivierteltakt notiert, der jedoch nicht durchgängig beibehalten wird. Die Gesamtstruktur erscheint deutlich in vier Abschnitte (Einleitung–A–B–A') gegliedert: Der mit „langsam“ überschriebene erste Abschnitt (hier „Einleitung“, T. 1–14) bringt nach einer kurzen Klavierintonation das neu harmonisierte, somit 22 Karl Retzlaw, Spartacus. Erinnerungen eines Parteiarbeiters, Frankfurt a. M. 1971, 303. 23 Vgl. Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands, Frankfurt a. M. 2005, 1045–1047.

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bearbeitete24 Büxensteinlied, das bemerkenswerterweise mit dessen neunter und letzter, mottoartigen Strophe beginnt („Oh Spree-Athen, oh Spree-Athen / oh wieviel Blut hast du geseh’n! / In deinem Friedrichsfelde ruht / so manches tapfere Spartakusblut“). Die sentimentale Melodie, die eine der verbreitetsten Varianten des Lieds darstellen dürfte, wird offenbar unverändert übernommen. Sie entspricht in ihrem Duktus ganz den weit verbreiteten volkstümlichen Balladen mit zumeist klagendem Inhalt, die im gesamten deutschen Sprachraum ab dem zu Ende gehenden 19. Jahrhundert vor allem auch im urbanen Umfeld verbreitet waren. Der melodische Verlauf (hier im Ambitus einer Dezime) mit einer Entwicklung hin zu einem emphatischen Schluss, der zur Einprägung noch wiederholt wird (dies entspricht den beiden letzten Zeilen im Text), ist genretypisch. Üblicherweise findet diese Melodik Entsprechung in einer in Terzen und Sexten verlaufenden Unterstimme und in einer einfachen Grundstufenharmonik. Eisler greift hier mehrfach irritierend oder besser ‚störend‘ ein: Zunächst wird der Dreivierteltakt an drei Stellen (T. 5, 9/10, 13) von einem Viervierteltakt unterbrochen. Führt dies im ersten Fall zu einer Hervorhebung des Wortes „Blut“ (T. 5 auf die zweite Viertel), so bewirkt das Verfahren in den beiden nächsten Anwendungen eine wiederholte ‚verfremdende‘ Betonung als „Spartákusblut“. Zudem wird die Viervierteltaktstörung in den Takten 9/10 auf zwei Takte ausgeweitet und damit die in Takt 10 mit drei Achteln Auftakt beginnende Wiederholung der beiden letzten Textzeilen hinausgezögert. Darin kann, muss aber nicht nur eine Verfremdung gesehen werden: Zu denken wäre dabei etwa auch an ‚balladenartiges‘, ‚erzählendes‘ Singen, also eine konkrete Milieuverortung und damit eine direkte Bezugnahme auf den Originalkontext und die Entstehungszeit des Lieds. Deutlicher sind Eislers Eingriffe im Bereich der Harmonik: Die grundlegende, sehr einfache Harmoniestruktur des Originals bleibt zwar erkennbar und der vorgezeichnete F-Dur-Charakter insgesamt gewahrt, wird jedoch mit zahlreichen, nicht immer naheliegenden Zwischen- und Vertretungsakkorden angereichert. Auffällig ist dabei vor allem die Gestaltung der Bassgänge, die der simplen Grundstufenstruktur durchgehend widerspricht. Schon die vorangestellte Einleitung – üblicherweise wird dafür ein markanter, kurzer Refrainteil oder eine Schlusswendung herangezogen – bringt im Bass einen der rhetorischen Tradition des passus duriusculus entsprechenden chromatischen Abstieg im Raum einer großen Terz. Damit korrespondiert eine alterierte und querständige Harmonik der Oberstimmen, die zu einem leeren Grundton-Quint-Oktavklang auf C am Ende der Intonation führt, womit das Klaviervorspiel somit zwar genreüblich auf der Dominante endet, gleichzeitig diese aber nur roh andeutet. Im weiteren Verlauf der Klavierintonation setzt der Bass seine markante Charakteristik fort, wobei 24 Niklew, Reinhold und Rienäcker führen daher auch eine Bearbeitung des Büxensteinlieds in ihrer Auflistung an („Inventare der Musikautographe im Hanns-Eisler-Archiv“, 286).

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er auch starke Vorhalte bildet (z. B. in T. 7) und durch längere abwärts gerichtete Tonschritte den generellen Lamento-Charakter des Abschnitts unterstreicht. Schon diese Einleitung beinhaltet daher auffällige und gleichsam ‚didaktische‘ Charakteristika, die eine ausschließlich sentimentale Lesart (und damit auch jegliche undifferenzierte Vereinnahmung) nicht mehr zulassen. Der nächste Teil (Formabschnitt A, T. 15–24) ist nun – wie die ältere, kürzere Version des Lieds – durch die Herausgeber mit „(Andante)“ überschrieben. Zum Text der ersten Strophe des Büxensteinlieds („Im Januar um Mitternacht / ein Spartakist stand auf der Wacht. / Er stand mit Stolz, und der war echt, / er kämpfte für ein neues Recht“), wiederum im Dreivierteltakt, erfolgt nun eine, vom weiterhin beibehaltenen rhythmischen Grundgestus abgesehen, neue musikalische Gestaltung: Trotz des Beginns in f-Moll liegt der harmonische Schwerpunkt nun auf d-Moll, vor allem verdeutlicht durch das zweimalige Hinführen auf die Dominante A, mit der der Abschnitt auch endet (hierin übrigens dem Solidaritätslied 25 vergleichbar). Auffällig sind dabei bevorzugte mediantische Verhältnisse. Die verstärkende Wiederholung wird auch hier angewandt, nun jedoch, lediglich auf die Worte „für ein neues Recht“ bezogen, deutlich verkürzt (T. 22–24). Dieser Abschnitt behält den Dreivierteltakt durchgehend bei, mit Ausnahme des Schlusstakts: Dieser steht im Zweivierteltakt und verkürzt auf diese Weise den Übergang zum folgenden Teil. Besonders auffällig ist in Teil A die starke Verlagerung des Melodieverlaufs nach oben: Der Ambitus dieses Abschnitts wird dabei zur Undezim erweitert, der Gesamtambitus des Lieds umfasst damit durchaus herausfordernd a bis f 2 . Ein auffälliges Detail ist in diesem Teil die zweimalige Verwendung des „Tristanakkords“ 26 jeweils auf der zweiten Zählzeit und zu d-Moll führend in den Takten 15 und 20, einmal auf „Január“, das zweite Mal auf „Stolz“. Der Gestus des Abschnitts ist im Vergleich zur Einleitung deutlich kämpferischer, nachdrücklicher. Der Formabschnitt B umfasst die Takte 25–41, ist mit „Mosso“ überschrieben und verläuft (schon aus dem Schlusstakt von A heraus) im Zweivierteltakt. Harmonisch verbleibt er in d-Moll und ist als fortlaufende Steigerung hin zu einem Höhepunkt angelegt, endend im forte nach einem Crescendo und kurzen Ritardando in den Takten 40/41 mit den Worten „Die Noskehunde27 stürmen 25 Vgl. Glanz, Eisler, 76–79. 26 In der Variante f–gis–h–dis bei enharmonischer Lesung von es. Angesichts eines vorangegangenen f-Moll-Akkords wäre aber bei enharmonischer Lesart von gis auch eine Deutung als f-Moll7 mit verminderter Quint möglich. Als ironisches und verfremdendes Mittel erscheint der Tristanakkord bei Eisler mehrmals, unter anderem wiederholt im Lied der Kupplerin / Kuppellied (1936, enthalten in der Bühnenmusik für Brechts Die Rundköpfe und die Spitzköpfe; vgl. Dahin / Deeg [Hg.], Keenen Sechser, 63). 27 Mit diesem Begriff wurden seitens des Spartakusbundes und dann der KPD die von SPD-Minister Gustav Noske eingesetzten militärischen Einheiten bezeichnet. Noske selbst hat sich in diesem Zusammenhang bekanntlich selbst als „Bluthund“ bezeichnet.

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Büchsenstein!“, Letzteres wieder mediantisch harmonisiert (f-Moll7 nach d-Moll) und bereits wieder im Dreivierteltakt (auch hier wird die Taktart des folgenden Formteils vorweggenommen). Zum Kontrastteil geprägt wird dieser Abschnitt durch den ostinaten Einsatz des bei Eisler sowohl in Kampf liedern und Chansons als auch in Instrumentalmusik 28 viel verwendeten, gleichsam trommelnden Anapäst-Rhythmus aus zwei Sechzehnteln und einer Achtel, ausharmonisiert in der Klavierbegleitung. Auf der Basis dieses einprägsamen, kämpferisch kodierten, möglicherweise aber zu jener Zeit bereits auch schon als „klischeehaft“ 29 rezipierten Rhythmus wird der aussichtslose Kampf des Spartakisten geschildert, melodisch und harmonisch pendelnd, mit deutlichem Schwerpunkt in d-Moll. Die Melodik dieses Kontrastteils ist bestimmt vom kurzatmig dahinhastenden Pendelmotiv und der dramatisch aufsteigenden Schlusssteigerung zum beschriebenen Höhepunkt; der Ambitus weist dabei den oktavüberhöhten Tritonus a–es 2 auf (das es 2 auf „Nóskehunde“). Besonders der Einsatz des ostinaten „Kampf liedrhythmus’“ macht diesen Teil zu einer zweifachen Botschaft, einerseits bezogen auf den historischen Erinnerungsort, andererseits als Symbol für die aktuelle Situation durch den Einsatz eines aktuellen und in der Gegenwart bewährten musikalischen Mittels. Die verkürzte Reprise (Formteil A', T. 42–47, Tempo I) zeigt sich in wichtigen Details erneut verändert: Statt wie im Teil A mit f-Moll beginnt der letzte Abschnitt nun einen Ganzton nach oben transponiert in g-Moll, wobei dies jedoch ausschließlich für den ersten Takt (T. 42) gilt und wodurch natürlich auch der erwähnte erste Tristanakkord transponiert wird. Dieser Takt wirkt somit wie eine Ausweichung vor der Wiederaufnahme des mottoartigen Texts aus dem Büxensteinlied (also des Texts der Einleitung), welches aber nur mehr (wie in Formteil A) verkürzt wiederholt wird („oh wieviel Blut hast du geseh’n!“) und hierdurch gleichermaßen Abrundung und Darstellung der weiterhin gegebenen Gültigkeit des Themas bewirkt. Der für Eisler so typische lapidare Schluss auf d-Moll und einem folgenden isolierten d-Oktavklang bringt noch einmal das Motiv des leeren, rohen Klangs. Erreicht wird diese Wirkung durch eine melodisch deutlich modal gefärbte Kadenzwendung in Takt 46 (e 1–b1–a1–f1), den Schluss bildet. Der Blick auf das gesamte Lied zeigt Eislers äußerst vielschichtiges und differenziertes Arbeiten an Materialien und Kontexten. Die Einleitung lässt zwar 28 Zeitnah etwa im zweiten Satz der Kleinen Sinfonie op. 29, im ersten und vierten Satz der Suite für Orchester Nr. 2 op. 24, im vierten Satz der Suite für Orchester Nr. 3 op. 26, im ersten Satz der Suite für Orchester Nr. 4 op. 30, im vierten Satz der Suite für Orchester Nr. 5 op. 34 (vergrößert notiert, identischer Effekt) sowie im ersten Satz der Suite für Orchester Nr. 6 op. 40. Gehäuft tritt der Rhythmus in Eislers Chansonarrangements auf, etwa Wohltätigkeit oder Ballade vom Nigger Jim. 29 Vgl. Julian Caskel, „Zur ästhetischen Funktion des Rhythmus bei Hanns Eisler“, in: Eisler und die Nachwelt. Symposium zum 50. Todestag Hanns Eislers, Berlin 2012, hg. von Peter Schweinhardt, Wiesbaden 2017, 45–58, hier 50.

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das Original und damit den konkreten historischen Ort unüberhörbar anklingen, ist aber vom ersten Takt an durch verschiedene Maßnahmen der Irritation oder ‚Störung‘ durchzogen, die schon als „innere Widerständigkeit“30 wider jegliche Form von Gleichgültigkeit oder unref lektiertem Sentiment wirken. Die Einleitung kann daher als konkrete Kontextualisierung und eine Art ‚Rückblende‘ verstanden werden, die aber den eigenen aktuellen Standort und die mittlerweile vergangene Zeit beinhaltet. In der darauf folgenden ‚eigentlichen‘ Komposition (im Großen und Ganzen identisch mit der älteren Publikation in der Reihe Lieder und Kantaten) bleibt zwar in den Formteilen A und A' der historische Gestus des Erinnerungsorts Büxensteinlied deutlich erkennbar, der Kontrastteil B bringt aber die bedeutende Gleichzeitigkeit vom historischen Kampf des Spartakisten und der die unmittelbare Gegenwart des Jahres 1932 symbolisierenden Mittel der „Kampfmusik“. Nur am Rande sollen hier kurz die weiteren Unterschiede zwischen beiden Fassungen angesprochen werden: In der älteren, kürzeren Fassung wird in den Formteilen A und A' die Klavierbegleitung deutlich ruhiger gestaltet, es gibt also weniger Bewegung und Übergangsakkorde, am Höhepunkt bleibt das Klavier ohne rhythmische Impulse. Im Teil B wird die ostinate akkordische „Anapäst“-Rhythmik dem gesamten Klaviersatz zugrunde gelegt (in der jüngeren Fassung stützt die rechte Hand des Klaviers acht Takte lang den Gesang), wodurch hier der „Kampfliedcharakter“ eindringlicher ist. Als dynamische Vorgaben werden in der älteren Fassung forte (am Beginn und crescendierend kurz vor Schluss), piano (bei der verkürzten Reprise) und fortissimo (am Höhepunkt) verlangt, in der jüngeren gibt es außer einem forte am Höhepunkt keine weitere dynamische Anweisung. Im A-Teil der älteren Fassung wird jeweils zum Schluss durch eine chromatische Wendung von A-Dur nach a-Moll die modale Charakteristik des B-Teils deutlicher vorbereitet, wohingegen die Gestaltung der letzten Kadenz herkömmlicher ist und auch in einem vollständigen d-Moll-Akkord (ohne folgende Bassoktave) endet. In der älteren Fassung unterbleibt die Ausweichung nach g-Moll zu Beginn der verkürzten Reprise. Außerdem fehlt in der älteren Fassung der Tristanakkord zur Gänze, auf f-Moll folgt hier jeweils as-Moll (T. 1 und 28). Die 2012 publizierte Fassung ist also nicht nur die reichere, sondern auch die im Detail aussagekräftigere. Obwohl nur ein einzelnes, kurzes Lied, steht Spartakus 1919 im Zusammenhang mit Eislers eigenständigem Weg vor dem Hintergrund der zunehmenden, nicht zuletzt auch parteiinternen Polarisierung. Man kann es daher als frühe Etappe auf einem Weg sehen, der über die Kammerkantaten und die Deutsche Sinfonie führt und nicht nur die ununterbrochene Arbeit an der Entwicklung seiner kompositorischen Mittel im nach wie vor zentral positionierten politischen Kontext bezeugt, sondern auch bald zur heftigen theoretischen Auseinandersetzung 30 Ebd., 53.

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mit den offiziellen Positionen des „Sozialistischen Realismus“ in der sogenannten „Expressionismusdebatte“ entscheidend beitragen wird. Das Motiv des Spartakus und seine vielfältigen Kontexte gehörten für Eisler zu einem Symbolrepertoire, das sowohl aktuell und konkret als auch mehrdeutig und mehrfach kodiert verwendet werden konnte. Über die konkreten Berliner Bedingungen hinaus lässt sich das Lied aber auch einreihen in ein eindrucksvolles zeitgenössisches Panorama der Rezeption des Spartakus-Mythos in einem gattungsmäßig wie historisch wesentlich weiteren Kontext: 1933 schreibt der schottische Schriftsteller, Soldat und politische Aktivist James Leslie Mitchell (1901–1935) unter seinem Pseudonym Lewis Grassic Gibbon den historischen Roman Spartacus.31 Mit seiner Romantrilogie A Scots Quair im englischsprachigen Raum bekannt geworden, setzt sich der Mitbegründer der Aktivistengruppe Aberdeener Sowjet in diesem Roman mit Revolution und Revolte, der Berechtigung zur gewalttätigen Aktion und alternativen Gesellschaftsmodellen, letztlich mit der Philosophie der menschlichen Natur auseinander. Der historische Aufstand des Spartacus 32 erscheint dabei deutlich als Parabel auf die Oktoberrevolution. Mitchell lässt konstruierte Nebenfiguren von innen (Parteigänger des Spartacus) und von außen (römische Bürger) die Handlung kommentieren. Das Scheitern des Spartacus erfolgt demnach aus mehreren Gründen: Zunächst bleibt der wirklich massenhafte Übergang der Sklaven auf seine Seite aus, des Weiteren kommt es innerhalb des Aufstands zu einer Fraktionsbildung und letztlich kann Spartacus als Person zwischen realistischer und idealistischer Politik seinen Weg nicht finden. Erst durch die Massierung dieser Gründe kann die römische Übermacht militärisch siegen. Das Fortleben des Spartakusmythos, das Symbol der Hoffnung, wird am Schluss mit der Verbindung des Bildes vom gekreuzigten Sklaven mit der Vision des Erlösers am Kreuz christlich kodiert. Bis auf dieses Schlussbild ist die Parabel auch auf den „Berliner Spartakus“ von 1919 anwendbar. Zwei Jahre später beginnt für den bereits erwähnten Arthur Koestler (1905– 1983) mit der Arbeit an seinem 1939 veröffentlichten Roman Die Gladiatoren die Geschichte seiner sich über mehrere Jahre hinweg vollziehenden Abwendung vom Kommunismus. Erst am 31. Dezember 1931 der KPD beigetreten, 33 bewegt sich Koestler zunächst begeistert und anerkannt in Berliner Parteikreisen, gerät aber bald in Konf likt mit Aspekten der Strategie und einzelnen Funktionären. Distanz und Kritik wachsen bei ihm vor allem durch die Auseinandersetzung mit Vorgängen in und Nachrichten aus der Sowjetunion. Ab 1935 verstärken sich diese 31 Lewis Grassic Gibbon, Spartacus, übersetzt von Rosemarie Nünning, Hamburg 2017. 32 Nach Jesi als „sudden insurrectional explosion“ eine Revolte (Spartakus, 46). 33 Christian Buckard, Arthur Koestler. Ein extremes Leben, München 2004, 111.

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Abkehrtendenzen und führen 1938 zum Parteiaustritt. 34 Im Nachwort zu seiner Romantrilogie beschreibt der Autor seine Auseinandersetzung mit Spartacus in Die Gladiatoren als die „Geschichte einer anderen Revolution, die in die Brüche ging.“ 35 Koestler kommt in seinem mit deutlichen Bezügen auf damalige weltpolitische Ereignisse vollgepackten Roman zu einem ähnlichen Befund wie Mitchell. Das für einen erfolgreichen Abschluss der Revolte, für deren Entwicklung hin zur Revolution erforderliche Klassenbewusstsein sei nicht vorhanden gewesen, sein Spartacus jedoch am Nichtverstehen der Psychologie der Masse gescheitert. Auch Koestler lässt ideentragende Nebenfiguren auftreten, die das ideologische Dilemma personifizieren, auch bei ihm scheitert Spartacus als Revolutionär, siegt aber als Mensch, indem er den beschwerenden Ballast der Idee letztlich abwirft. Am Ende bleibt – ‚nur‘ oder vielleicht ‚immerhin‘ – die Furcht der römischen Gesellschaft vor einer neuen Revolte, es erscheint keine religiös verbrämte Heilsvision. Im Unterschied zu Mitchell verwendet Koestler viel Aufmerksamkeit auf die Gegner des Spartacus: Marcus Licinius Crassus (115–53 v. Chr.) erscheint als der gleichsam personifizierte Kapitalismus, als eine Art Verschnitt aus Rockefeller und Hugenberg mit einer gespenstischen Vorahnung von Donald Trump. In diesem Zusammenhang muss hier auf einen weiteren Roman, den 1951 publizierten Spartacus von Howard Fast (1914–2003), verwiesen werden. Seine Verfilmung (1960) durch Kirk Douglas (geb. 1916, Produzent und Hauptdarsteller) und Stanley Kubrick (1928–1999, Regie) war der entscheidende Schritt zum Ende der „schwarzen Liste“, 36 in der mächtige reaktionäre Kreise in den USA seit 1947 besonders ihre Gegner in der Filmindustrie erfasst hatten. Schon Fasts Roman war von dieser Seite heftig attackiert worden, die Verfilmung und das offene Engagement Dalton Trumbos (1905–1976) als Drehbuchautor des Spartacus sorgten für eine offensichtliche und im Kontext neuartige Aktualität des Stoffes. 37 Wie Hanns Eisler hatte auch Trumbo vor dem Ausschuss des Repräsentantenhauses zur Bekämpfung „unamerikanischer“ Aktivitäten erscheinen müssen. Eisler war danach bekanntlich ausgewiesen worden, während Trumbo inhaftiert worden war und jahrelang unter falschem Namen hatte arbeiten müssen. Erst das Drehbuch zu Spartacus machte es ihm möglich, wieder unter eigenem Namen aufzutreten. Zur selben Zeit als Howard Fasts Spartacus erschien stellte Hanns Eisler das Libretto seiner Oper Johann Faustus fertig. In der „Confessio“, dem gleichnishaften Schlussmonolog im dritten Aufzug, erinnert sich Faust an seinen schuldhaf34 Vgl. ebd., 105–161; Koestler, Zeuge der Zeit, 138–372. 35 Arthur Koestler, Die Gladiatoren, Sonnenfinsternis, Ein Mann springt in die Tiefe, Bern 1960, 693. 36 Martin M. Winkler (Hg.), Spartacus, Film and History, Oxford 2007; Kirk Douglas, I am Spartacus! Making a Film, Breaking the Blacklist, New York 2012. 37 Brent D. Shaw, Spartacus and the Slave Wars. A Brief History with Documents, Boston 2001, 18; Bruce Cook, Trumbo, London 1977, 307–355.

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ten Anteil an einer ebenfalls gescheiterten Revolution: „O Frankenhausen, / Du finster Stadt, / Die soviel Jammer / Gesehn hat. / In deinen Gassen / ist das Blut geronnen; / In deinen Mauern / Hat Deutschlands Schand begonnen.“38 Als ein weiterer Kontext erscheint uns hier Thomas Münzer, womit vom Erinnerungsort 1919 somit auch bei Eisler auf die Protorevolution der „Bauernkriege“ zurückverwiesen wird. 39 Hätte er die Oper komponieren können, wäre jedenfalls für diesen Abschnitt des Monologs geeignetes, vielfache Kontexte berührendes Bezugsmaterial bereit gelegen.

38 Hanns Eisler, Oper Johann Faustus, Leipzig 1996, 130. 39 Ernst Bloch, Thomas Münzer als Theologe der Revolution [1921], Frankfurt a. M. 1969.

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Hanns Eisler, Spartakus 1919 in der Edition Keenen Sechser in der Tasche. Songs und Balladen für Singstimme und Klavier, hg. von Oliver Dahin und Peter Deeg, Leipzig 2012, 36–38. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags Breitkopf & Härtel.

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„… eine neue Art von opera buffa“ Wilhelm Grosz: Achtung Aufnahme! Carmen Ottner Wilhelm Grosz (1894–1939), einer wohlhabenden jüdischen Wiener Juweliers­ familie entstammend, hatte die Möglichkeit, sowohl an der damaligen Akademie für Musik und darstellende Kunst als auch an der Universität seiner Heimatstadt zu studieren. Franz Schreker, von 1912 bis 1920 Professor für Kontrapunkt und Komposition, unterrichtete im Laufe seiner Lehrtätigkeit sehr erfolgreiche Studenten wie etwa Alois Hába, Egon Kornauth, Ernst Krenek, Felix Petyrek, Karol Rathaus, Josef Rosenstock und Franz Salmhofer.1 Einzelne Studenten Schrekers griffen Arnold Schönbergs Dodekaphonie in manchen Kompositionen auf, in einem überwiegenden Teil ihres Œuvres experimentierten sie jedoch mit einer erweiterten Tonalität und prägnanter Rhythmik und integrierten, wie unter anderem im Folgenden gezeigt werden wird, auch außereuropäische (v. a. US-amerikanische) Musikformen: Die ‚Schreker-Schule‘ wurde ebenso wie der Kreis um Schönberg zur damaligen Avantgarde gezählt. Da die ‚Lehrerkataloge‘ der Jahrgänge 1912/13 und 1917/18 im Archiv der gegenwärtigen Universität für Musik und darstellende Kunst Wien fehlen, finden wir Wilhelm Grosz als Student Franz Schrekers erst im Jahrgang 1913/14 verzeichnet, obwohl es natürlich möglich ist, dass er dessen Unterricht von Beginn an besuchen konnte. Im Studienjahr 1918/19 scheint Grosz zum letzten Mal auf. Er zählte zu den Studenten, die von ihrem verehrten Lehrer durchwegs mit „sehr gut“ beurteilt wurden. 2 An der Universität studierte Grosz bei Guido Adler Musikwissenschaft und wurde 1920 mit einer Dissertation zum Thema Die Fugenarbeit in W. A. Mozarts Vokal- und Instrumentalwerken promoviert. Dank der finanziellen Unterstützung seiner Eltern konnte er sich gänzlich seinem Studium und danach der Gestaltung einer Karriere als Komponist, Pianist und Dirigent widmen. Eine erfreuliche Situation, die sich mancher seiner Studienkollegen gewünscht hätte. Als Schreker 1920 Wien verließ, um in Berlin der Berufung als Direktor der Staatlichen Akademischen Hochschule für Musik zu folgen, übersiedelten einzelne Wiener Studenten in die deutsche Hauptstadt, so auch Grosz. 1 2

Rudolf Kolisch, der oftmals als Schüler Schrekers bezeichnet wird, wurde im Studienjahr 1913/14 laut Aktenvermerk „rückversetzt“ und schien in der Folge in den Schülerlisten der Kompositionsklasse Schrekers nicht mehr auf. Vgl. Carmen Ottner, Was damals als unglaubliche Kühnheit erschien. Franz Schrekers Wiener Kompositions­ klasse, Frankfurt a. M. 2000, 25–26.

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Nach in den ersten Jahren nur kürzeren Aufenthalten wählte er Berlin 1926 gemeinsam mit seiner Gattin Elisabeth für einige Jahre als festen Wohnsitz, ohne aber die Wiener Wohnung aufzugeben. Zu diesem Zeitpunkt konnte Grosz bereits auf erfolgreiche Ur- und Erstaufführungen seiner Kompositionen zurückblicken, die überwiegend der sogenannten „ernsten Musik“ zuzurechnen sind, vor allem Orchester-, Klavierwerke und Lieder. Als besonders erwähnenswerte Erfolge seien die Aufführungen der Zwei Phantasiestücke für großes Orchester (Serenade op. 5, Tanz op. 7, beide 1917 entstanden) durch die Wiener Philharmoniker im April 1921 oder die einaktige „opera buffa“ Sganarell op. 14 (1925) genannt. Das Libretto zu dieser Oper wurde von Grosz’ Wiener Jugendfreund Robert Konta „frei nach Moliere“ verfasst. Im Jahr der Entstehung 1925 fand die Uraufführung in Dessau statt, am 4. Dezember 1925 folgte die österreichische Erstaufführung an der Wiener Staatsoper. 3 Davor, 1924, zeigte sich aber in einzelnen Werken bereits Grosz’ Hinwendung zum Jazz bzw. zu den vokalen und instrumentalen Musikformen der schwarzen Bevölkerung der USA, die nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Europa stetig größeres Interesse bei Künstler * innen und Publikum fand. Aber auch die europäische Tanz- und Unterhaltungsmusik fand Eingang in Grosz’ Kompositionen, beginnend mit Jazzband für Violine und Klavier (1923), sich fortsetzend mit dem Tanzspiel Baby in der Bar op. 23 (komp. 1925/26, UA 1928 in Hannover) und der „Tragikomödie“ Achtung Aufnahme! op. 25 (1930 in Frankfurt am Main erstmals aufgeführt) – beide Werke nach Libretti von Béla Balász. In den 1930er Jahren verstärkte sich diese kompositorische Tendenz, nach den Afrika-Songs op. 29 (1930) und Bänkelliedern und Balladen op. 31 (1931) und zwei Vertonungen von Texten Karl Farkas’ (Skandal im Konzerthaus, Jan Korowski, jeweils 1935) folgten Schlagerlieder, Filmmusik und Musik zu Hörspielen im Rundfunk. So begann nach Jazzband für Violine und Klavier, Baby in der Bar und Achtung Aufnahme! eine neue ‚Ära‘ im Schaffen des Komponisten Wilhelm Grosz.4

Achtung Aufnahme!, „Burleske in einem Akt“ – „Tragikomödie in einem Akt“ Entstehung Auf der handschriftlichen Dirigierpartitur, die als Kopie im Archiv der Universal Edition (im Folgenden UE) einsehbar ist, 5 wurde die Komposition als „Burleske“ 3 Susanne Rode-Breymann, Die Wiener Staatsoper in den Zwischenkriegsjahren, Tutzing 1994, 123–124. 4 Ottner, Was damals als unglaubliche Kühnheit erschien, 120–147. 5 Wilhelm Grosz, Achtung Aufnahme!, Dirigierpartitur (Ms.), Universal Edition, Archiv 9967, 6/2004, 298 Seiten.

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Abbildung 1: Programmzettel der Uraufführung von Wilhelm Grosz’ Achtung Aufnahme!, „Tragikomödie“, Frankfurter Opernhaus, 23. März 1930. Nachlass Wilhelm Grosz im Archiv exil.arte, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

bezeichnet, im Textbuch (1929) und im Programm der Uraufführung am 23. März 1930 (Abb. 1) im Frankfurter Opernhaus allerdings als „Tragikomödie“, eine treffendere Charakterisierung. Im Programm der Uraufführung heißt es: „Vorher, zum ersten Mal: / Petrouschka / Burleske Szenen in 4 Bildern von Igor Strawinsky und Alexander Benois.“ „Große Preise: R.M. 1.50 Bis 10.- R.M. (Parkett).“ 505

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In einem Zeitungsartikel in einer Beilage zum Karlsbader Tagblatt vom 24. Juni 1928 mit dem Titel „Das entzückendste Baby der Welt“ und einem Foto von Wilhelm Grosz – „Dies ist der Vater“ – gibt der Komponist einen Hinweis auf seine Vertonung von Achtung Aufnahme!: Grosz befand sich zu dieser Zeit „in Karlsbad zur Kur“ und berichtete zuerst über die äußerst erfolgreiche Premiere des Balletts Baby in der Bar: „Es gab 52 (!!) Hervorrufe.“ Auch in diesem Werk verarbeitete er musikalische Formen wie „Shimmy, Fox, Tango und Blues.“ Rezensenten hätten geschwärmt, dass „auf diesen Gebieten bisher nicht einmal den besten amerikanischen Spezialisten“ Kompositionen dieses Genres so gut „gelungen sind.“ Nun arbeite er „an einer modernen Oper […] eine neue Art von opera buffa“, die in einem „Filmatelier spielt“: Die Handlung ist aus dem modernsten Leben gegriffen und stellt eine lustige Verquickung einer Liebesgeschichte mit dem Um= und Auf eines Aufnahmetags in einem Filmatelier dar. Ich erhoffe mir viel von dieser Oper, zu welcher ebenfalls Béla Balász [damit spielt Grosz auf das davor vertonte Balász-Libretto zu Baby in der Bar an] den Text geschrieben hat. Wann und wo die Premiere sein wird steht noch nicht fest. Vorläufig liegt mir eine andere Uraufführung viel näher. Wilhelm Mengelberg wird im Herbst mein letztes Werk, ein großes Klavierkonzert, herausbringen, ich selbst werde hiebei den Solopart spielen.6

Wilhelm Grosz pflegte – wie seine Studienfreunde, deren Kompositionen die UE verlegte (z. B. Felix Petyrek und Karol Rathaus) – einen regen Briefwechsel mit seinem Verlag, der ein ergiebige Quelle für Forschungen darstellt. Zum Zeitpunkt der Komposition von Achtung Aufnahme! konnte er noch mit dem ihm prinzipiell gewogenen Direktor Emil Hertzka (1869–1932) verhandeln, war aber auch mit der strengen Kritik Hans Heinsheimers, ab 1923 Leiter der Bühnenabteilung, konfrontiert. Der geistreiche Musikpublizist, „Medizinalrat und Frauenarzt“ 7 Rudolf Stefan Hoffmann verfasste zum Geburtstag seines Freundes Wilhelm Grosz am 11. August 1926 ein scherzhaftes Gedicht mit u. a. auch Anspielungen auf dieses Thema: O Grosz, mein teuerster Willi, Heut preist man Dich, ich hoff ’ Von Radkersburg bis Cilli […] Solange Dir Heinsheimer wahrlich Notizen verpatzt und verschleppt Solang Dir Hertzka beharrlich Zu wenig Vorschuss gebt […]. 8 6 7 8

[Anonymus], „Das entzückendste Baby der Welt“, in: Karlsbader Tagblatt, Beilage, 24. Juni 1928; Nachlass Wilhelm Grosz, Archiv exil.arte, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, Mappe „Important Letters“. Diese (offenbar komisch gemeinte) Bemerkung hat Grosz selbst auf das Blatt des Gedichts notiert. Nachlass Wilhelm Grosz, Mappe „Important Letters“.

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Im Rahmen des Briefwechsels mit den Verantwortlichen der UE (einzusehen in der Musikbibliothek der Wienbibliothek Rathaus) zeigt ein Schreiben aus Berlin vom 20. März 1928 erstmals einen Hinweis zu Achtung Aufnahme!: Grosz diskutierte die damalige Situation der Operettentheater in Wien und kündigte an, bald selbst ein Werk dieses Genres verfassen zu wollen: […] das Bürgertheater zählt nicht, das Karltheater [Carltheater] soll angeblich zu einer Volksbühne umgewandelt werden, das Theater an der Wien kommt nicht leicht in Betracht und im Strauss-Theater [ Johann Strauß-Theater] ist auch nicht viel zu holen. Ich glaube, wir werden schon einige Zeit warten müssen, bis sich die Situation für die nächste Saison etwas geklärt hat.

Am 11. Juni 1928 bezeichnet er das Libretto zu Achtung Aufnahme! als „Opernbuch (Balázs).“ Am 13. August 1928 berichtete Grosz: „[…] arbeite fleissig an ‚Achtung Aufnahme!‘“ und „Was sagen Sie zu dem allgemeinen Wehgeschrei über den Tod der Wiener Operette?“ Davor erhielt er nach Karlsbad einen (undatierten) Brief des Verlags mit der Mitteilung, dass Balász „wegen des neuen Opernbuchs und Vertrag geschrieben“ hätte. Obwohl er sich auf Urlaub befinde, würde er „alle Änderungen, die Sie ihm schriftlich angeben sollen, sofort erledigen.“ Am 16. September – wieder in Berlin – meinte Grosz, man könne doch vielleicht den erfolgreichen Einakter Sganarell mit Achtung Aufnahme! gemeinsam an einem Abend aufführen. Ein Brief vom 26. Oktober 1928 von Alfred Kalmus (der nach dem Tod Hertzkas 1932 dessen Position übernahm) informiert uns: „Ich kann begreifen, dass Sie bis jetzt noch nicht mit der Partitur ‚Achtung Aufnahme‘ begonnen haben, aber da es sein muss, bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als fertig zu werden.“ 9

Libretto Personen: Der Regisseur (Bassbariton); die Schauspielerin (Sopran); der Schauspieler (Bariton), der Student (lyrischer Tenor); der Pianist (Buffo-Tenor); drei Schauspieler (der „Graf “, zwei Argentinier; stumme Personen); Morawetz, der Requisiteur, Operateur [ebenfalls stumm]; zwei Friseure, Arbeiter, Operateure, Statisten, Schauspieler und Schauspielerinnen. Szene: ein Filmatelier. Die Handlung wird durch fünf Solist * innen, vier stumme Personen und einen kleinen Chor bestimmt. Die Chorist * innen agieren als Friseure und andere und mischen sich gesanglich erste gegen Ende in das musikalische Geschehen ein.

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Wilhelm Grosz-UE: Briefwechsel in 22 Mappen. 1918–1935, 570 Briefe und Karten, Musiksammlung der Wienbibliothek Rathaus, hier zitiert: VII, 20.3.1928, Nr. 187; VIII, 11.6.1928, Nr. 216; IX, 13.8.1928, Nr. 241, sowie 16.9.1928, Nr. 246; X, 26.10.1928, Nr. 264.

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Die fünf Solist * innen repräsentieren Prototypen, sie haben keine Vor- und Nachnamen, sondern sind mit ihrer Berufsbezeichnung bzw. Funktion innerhalb der Handlung genannt (der Regisseur, die Schauspielerin usw.). Die Schauspielerin und der Schauspieler werden nur während der „Aufnahme“ mit ihren Rollennamen „Rosalinde und Don Alfonso“ aufgerufen. Eine Ausnahme: „Morawetz“, der Requisiteur – verantwortlich für Geräusche und Naturereignisse wie Wind, Regen, Sturm oder Wolkenbruch – wird vom Regisseur aggressiv namentlich an seine Aufgaben erinnert. Die zusätzlichen Titel „Burleske“ und „Tragikomödie“ verweisen auf die turbulenten Ereignisse einer Filmproduktion in den politisch-kulturell-sozial brisanten 1920er Jahren. Béla Balász hatte in diesem Libretto seine Erfahrungen als Filmkritiker (seit 1922 in der Zeitung Der Tag) und Beobachter von Filmproduktionen verarbeitet, die er auch als Autor von Fachpublikationen veröffentlichte, zum Beispiel in der Schriftensammlung Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films (Halle an der Saale 1924), die 1925 in Wien und Leipzig bereits in zweiter Auf lage erschien. In diesen Jahren publizierte der aus einer altösterreichischen jüdischen Familie stammende und 1886 in Szeged geborene gebürtige Ungar ebenso erfolgreich in Berlin Drehbücher. Auf Balász’ abenteuerliches Leben als Mitglied der ungarischen Kommunistischen Partei (seit 1918), als Leiter einer Agitprop-Truppe oder seinen langen Aufenthalt in Moskau (1931–45), wo er als Drehbuchautor, Filmkritiker und Filmtheoretiker arbeitete und auch Kinderbücher verfasste, kann hier nicht näher eingegangen werden. Nach 1945 kehrte er nach Budapest zurück, wo er 1949 starb. Vor seinem Tod erhielt er noch die höchste Auszeichnung des Landes, den Kossuth-Preis. Musikhistorisch ist Balász’ vor allem als Librettist zu Béla Bartóks Ballett Der holzgeschnitzte Prinz und zu dessen Oper Herzog Blaubarts Burg (UA Budapest 1917 bzw. 1918) bekannt.10 Die auffallend groteske Grundhaltung des Textes für Achtung Aufnahme! war Balászs beruf lichen Erfahrungen geschuldet, die von realen Situationen des FilmMilieus wohl nicht allzu weit entfernt waren; dies betrifft vor allem die Oberf lächlichkeit, das Konkurrenzdenken, die Eifersucht der Schauspieler * innen auf den Erfolg der Kolleg * innen oder den oft krassen Unterschied der Honorare der Mitwirkenden in einer wirtschaftlich bedrohlichen Zeit. Die schlichten damaligen technischen Möglichkeiten finden Ausdruck im sparsamen Bühnenbild und den Anweisungen des Regisseurs an seine Requisiteure und Operateure.

10 Bruno Berger / Heinz Rupp, „Balazs, Bela“, in: Deutsches Literatur–Lexikon, Bern 31966, Sp. 143; Simone Barck et al. (Hg.), Lexikon sozialistischer Literatur. Ihre Geschichte in Deutschland bis 1945, Stuttgart 1994, 44–45.

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Inhalt Der Librettist definiert das Bühnenbild und das Geschehen zu Beginn der Handlung: „Ein Filmatelier mit Lampen, Ref lektoren und phantastischem Durcheinander von Kulissen. Links vorne bauen Bühnenarbeiter hastig eine exotisch-südliche Ecke auf. Eine Palme – eine Rasenbank. Grosse Kakteen – einen Felsblock.“11 Der Regisseur bestimmt nachdrücklich das Geschehen – immer wieder darauf hinweisend: „Jede Minute kostet 100 Mark.“ Der Anteil des Pianisten am Gelingen der Produktion ist zwar bedeutend, er wird aber vom Regisseur stets eingeschüchtert, zeitweise aggressiv bedrängt, was der Musiker verzweifelt mit dem Ausspruch erwidert, dass er „für 4 Mark die Stunde“ nicht noch mehr leisten könne. Er ist die tragische Figur des Geschehens und wird auch von den übrigen Protagonisten übersehen und bisweilen schlecht behandelt. Nur die auftretende Schauspielerin kokettiert mit dem schüchternen Mann, was der Schauspieler, offenbar ein verf lossener Liebhaber, mit „Verworfenes Geschöpf. Willst Du den armen Jungen ruinieren?“ kommentiert. Seine weitere Bemerkung „Ein Opfer an einem Tag könnte dir wohl genügen, der Student, der […] zu deinem Auto drang“ weist bereits auf den Höhepunkt der Handlung voraus. Die ehemalige Beziehung der Schauspielerin und des Studenten bestimmt nun die Filmaufnahmen. Während der Schauspieler Don Alvaro in einem angedeutet südamerikanischen Ambiente mit Sombrero und entsprechend folkloristischer Kleidung auftritt und mit simulierter Gitarrenbegleitung ‚frohlockend‘ für die Schauspielerin Rosalinde ein Liebeslied intonieren soll, singt er ihr ins Ohr: „Canaille! … gemeines Luder!“ Beide mimen exaltiert das glückliche Liebespaar, als plötzlich der Student auftritt, anfänglich musikalisch als vermeintlich tragischer Opernheld unheilschwanger interpretiert. Er zielt mit dem Revolver auf die Schauspielerin und erinnert sie melodramatisch an ihre zurückliegende Beziehung, die ihn finanziell und psychisch „verbraucht“ hätte. Der Regisseur hält diesen Auftritt für eine zusätzliche Idee des Drehbuchautors und hört daher anfänglich nicht auf die verzweifelten Versuche der Schauspielerin, ihn über die wahren Tatsachen zu informieren. Trotz ihrer Angst verlangt sie allerdings, „einen Reporter“ kommen zu lassen. Dem Studenten ruft der Regisseur, auch die Warnungen des Pianisten ignorierend, zu: „Sie sind nicht lebensnah […]. Mehr Verzweif lung!“ und dem Liebespaar: „Fünfzig Meter inbrünstige Seele!“ Im entscheidenden Moment lässt der Student jedoch schluchzend den Revolver fallen. Endlich nehmen der Regisseur und seine Mitarbeiter die Warnung des Pianisten „Der Neuengagierte ist gar kein Schauspieler“ zur Kenntnis. Der Regisseur ist allerdings von der Natürlichkeit des Studenten angetan, dies wäre „der Gipfel der Filmkunst“ und engagiert den jungen Mann für „1000 Mark.“ 11 Béla Balász, Achtung Aufnahme! [Libretto], Wien 1929, 5. Im Textbuch sind lediglich die Hauptdarsteller angegeben, in der Partitur auch sämtliche stumme Rollen.

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Dieser empfindet plötzlich großes Selbstvertrauen: „Mit echten Schmerzen kann man viel verdienen“ und verzichtet auf den geplanten Mord an der Schauspielerin und seinen anschließenden Selbstmord. Alle Anwesenden gratulieren begeistert und die Filmaufnahmen werden fortgesetzt: „Es wird gedreht.“

Komposition Orchesterbesetzung: 3 Flöten (3. auch Piccolo), 2 Oboen, 1. Klarinette in B (auch Altsaxophon in Es), 2. Klarinette in B (auch Bassklarinette in B), 2 Fagotte, 1. Altsaxophon in Es (auch Sopran), 2. Altsaxophon in Es (auch Tenor), 3 Hörner in F, 1. Trompete in C (auch Jazztrompete in B), 2. Trompete in C, Posaune (auch Jazzposaune), Pauken, Schlagwerk, Banjo, Klavier, Harfe, Celesta, 1. und 2. Violinen, Viola, Violoncello, Kontrabass, Tamburin, Kastagnetten.12 Prinzipiell muss festgestellt werden, dass Grosz das Werk – wie auch zahlreiche andere Kompositionen – ohne Vorzeichen notierte – mit einer Ausnahme: Auf den Partiturseiten 105 bis 117 ist Es-Dur/g-Moll im Dreivierteltakt – „wieder lebhaftes rhythmisches Zeitmaß“ – vorgeschrieben, folgend dann ein „etwas gemessenes Slow-Tempo“, zur Illustration des vom Regisseur geforderten effektvollen Auftritts der Diva: „Achtung! Rosalinde kommt!“ Die Aufführungsdauer der „Tragikomödie“ beträgt ca. 45 bis 50 Minuten. Das Werk ist durchkomponiert, nur einzelne Sätze werden vom Regisseur und Pianisten ohne Instrumentalbegleitung gesprochen. Die Gesangspartien beinhalten längere melodische Phrasen, arienartige Passagen und kurze Abschnitte, die dem Sprechgesang nahekommen. So sind auch kurze Duette, Terzette und Ensembles eingefügt. Dem Studenten sind vor der überraschenden Wendung seines Schicksals ausgedehntere pathetische, ariose Wendungen vergönnt. Er personifiziert anfangs den tragischen jugendlichen Helden. Das Fundament der gesamten Partitur bilden im Wesentlichen das Klavier und die Streichinstrumente, die übrigen Instrumente werden vor allem in den instrumentalen Zwischenspielen meist polyphon eingesetzt. Tamburin und Kastagnetten dienen in erster Linie zur Illustration des südländischen Ambientes der Filmhandlung. Das Banjo unterstreicht ebenfalls diese Sphäre, wird aber auch zur Charakterisierung von besonders grotesken Situationen verwendet – etwa zur Verstärkung des unheilschwangeren Auftritts des Studenten – und unterstützt entsprechende Situationen mit prägnant-rhythmischer Verve. Grosz nimmt Rücksicht auf die Sänger * innen mit größtenteils zurückgenommener Instrumentierung, wohl auch in dem Wissen, dass dieses Genre oft nicht mit profunden Opernkräften besetzt wird. 12 Angaben nach der Dirigierpartitur; vgl. Anm. 5.

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Bevor die Ouvertüre beginnt, wird „Statt dem Gongzeichen […] durch ein Megaphon in den Zuschauerraum gebrüllt: Achtung!! – Aufnahme!“13 Nach 15 Takten geht „der Vorhang […] hoch“ und das Bühnenbild zeigt sich in folgender Beleuchtung: „Hinter den Kulissenwänden flackern Lichter auf mit phantastischen Schatten. Vorne rechts, hinter der ersten Kulisse, fällt ein starker Reflektorschein auf die Bühne.“ Pauken, Rührtrommel, Tamtam, Triangel, Tamburin, Becken mit Jazzschläger, Banjo, Harfe, Celesta und Klavier initiieren, unterstützt von den Blechbläsern, die „Tragikomödie“ durchgehend im Viervierteltakt, ab Partiturseite 9 im „ShimmyZeitmaß“ („Etwas breiter aber durchaus schwungvolles Shimmy-Zeitmaß“) polyphon mit dem gesamten Orchester. Hier greift Grosz also einen „Modetanz“ aus den USA auf, es folgen dann im Laufe des Geschehens der aus Großbritannien stammende Slow(fox), der aus Buenos Aires nach Europa ‚emigrierte‘ Tango und der in der afroamerikanischen Vokal- und Instrumentalmusik entwickelte Blues. Die Verwendung solcher Modetänze ist eine Usance, die sich bei zahlreichen Zeitgenossen findet, zum Beispiel auch bei Paul Hindemith, Igor Strawinsky oder einigen Studienkollegen von Grosz wie Ernst Krenek, Felix Petyrek, Karol Rathaus u. a. m. Eine weitere prägnante Shimmy-Passage finden wir gegen Ende des Stücks (S. 268), hier „Sehr lebhaft, aber nicht zu rasch“, als der Student das Angebot erhält, für 1000 Mark am Tag als Filmschauspieler zu arbeiten und danach von allen Anwesenden umringt und um ein Autogramm gebeten wird. Grosz verwendet die für diesen Tanz typischen Parameter, nämlich den Viervierteltakt und punktierte (S. 9; Bsp. 1) oder gebundene Achtelmotive (S. 268), um die entsprechenden Schüttelbewegungen zu illustrieren. Wahrscheinlich wollte Grosz damit auch die jähe Schicksalswendung des jungen Mannes ausdrücken, die bereits in der Ouvertüre antizipiert ist: Der Student kann seine triste Existenz ‚abschütteln‘. Formen des „Slow-Slowfox“ werden zum Beispiel als musikalische Begleitung des ironisch-bösartigen Kommentars des Schauspielers während der gefilmten Liebesszene eingesetzt („Willst du den armen Jungen auch ruinieren?“, S. 46). Die Instrumentation ist sparsam (Altsaxophon in Es, Jazzposaune, Jazzschlagzeug, Banjo und Klavier in rein akkordischer Begleitung), chromatische Sekunden bestimmen den melodischen Duktus. Ebenso verhält es sich mit einem bereits erwähnten späteren Auftritt der Schauspielerin (S. 117), zugleich eine Charakterisierung des sich stets betont lässig und lasziv in Szene setzenden Stars. Auch hier hält sich der Komponist an den typischen Viervierteltakt, „sehr gemessen“ bzw. „etwas gemessen“, mit entsprechend langsamer melodisch-rhythmischer Begleitung. Der Tango wird mit dem Auftritt des zuerst die Schauspielerin und dann den Pianisten und Regisseur mit einem Revolver bedrohenden Studenten in die Partitur integriert: „Etwas schweres Tangozeitmass“ (S. 104), „gemessenes Tangozeitmass“ 13 Alle im Folgenden zitierten Texte und Anweisungen, die mit der Musik in Zusammenhang stehen, entstammen der Partitur (Anm. 5)

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Beispiel 1: Wilhelm Grosz, Achtung Aufnahme!, Dirigierpartitur (Ms.), 9 (Archiv der UE). © 1929 Universal Edition A.G., Wien/UE 9896. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

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(S. 137; Bsp. 2) im geforderten Zweivierteltakt und „Quasi Tango“ (S. 249, hier Viervierteltakt), teilweise mit Synkopierungen sowie mit Achtel- SechzehntelMotivpartikeln mit Sechzehntelpausen, die vor allem den Blechbläsern, dem Banjo, dem Tamburin und dem Streicherchor anvertraut werden. Verweise auf den Blues sind an drei Stellen zu finden, nämlich auf den Seiten 159 („Etwas ruhiger [quasi Blues])“, 165 („Ruhiges Blueszeitmaß“) und 254 („Plötzlich gemessenes Blues-Zeitmaß“). Die erste Stelle vertont die Librettopassage „Don Alvaro und Rosalinde kommen umschlungen, zärtlich, verträumt…“ mit Streicherchor in gebundenen Akkorden in Saxophon und Harfe, später treten Fagott und Blechbläser hinzu. Die zweite Stelle bezieht sich auf die ängstliche, nach „dem kleinen Mörder“ schielende Schauspielerin, die versucht, ihrer Rolle trotz ihrer Angst gerecht zu werden. Die dritte Passage untermalt die resignative Verzweif lung des Studenten: „Aus meinem Elend wird da Kunst gemacht.“ Die Passage wird durch monotone Streicherbegleitung „sehr rhythmisch“ in Viertelbewegungen gestaltet und von Altsaxophon, Jazzposaune und Banjo unterstützt. Eine Bezeichnung aus dem historischen Bereich der „klassischen“ Musik fällt auf: „Quasi Serenata“ (S. 71–80; Bsp. 3). Der Regisseur kommandiert: „Don Alvaro kommt jetzt mit der Gitarre“, durch ein kleines Vorspiel von sechs Takten im Dreiachteltakt eingeführt, geprägt durch Blechbläser, Banjo und Tamburin in abgesetzten Achtelnoten und der Harfe, die wohl die Gitarre ersetzen soll. Diese Musik ist im bewussten Gegensatz zum grotesken Text komponiert: „Eine Canaille! So ein gemeines Luder!“ singt Don Alvaro wiederholt. Hektische Taktwechsel werden bei Bekanntwerden der Bedrohung der Schauspielerin durch den Studenten erstmals eingesetzt (S. 81), später vermehrt ab dem Auftritt des Studenten, der eine verständliche Aufregung aller Beteiligten (mit Ausnahme des Regisseurs) auslöst (u. a. S. 92, 132, 133, 207: 5/4, 4/4, 3/4, 2/4). Im Schlussteil kommt der sparsam besetzte Chor abwechselnd mit dem Solistenensemble zum Einsatz, das in abstrus-grotesk-koloraturartigen Phrasen „La la la…“ singt. Eine ‚Generalpause‘ (S. 296) bereitet den lebhaften Schlussteil vor: Nach einem kurzen instrumentalen Zwischenspiel (S. 297, mit vierhändiger Klavierbegleitung, Pauke und Trommel) bestätigen alle: „es wird gedreht“, die Filmaufnahmen gehen hoffentlich störungsfrei weiter. Das Stück endet nach aufsteigenden Sechzehntel- und Zweiundreißigstelpassagen in den Violinen und Bratschen, begleitet von der Harfe mit einem kurzen Schlussakkord: „KL. Tr.Schlag (sofort abgdpf!).“ Aus Grosz’ bereits erwähnten Bemerkungen in entsprechenden Briefen und Interviews entnahmen wir, dass sich der Komponist nicht recht entscheiden konnte, welchem Genre er seinen neuen Einakter zuordnen sollte. Er diskutierte über eine neue „Operette“, eine neue „Oper“ und „opera buffa“; in der Partitur und im Libretto tauchen dann die zusätzlichen Begriffe „Tragikomödie“ und „Burleske“ 513

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Beispiel 2: Wilhelm Grosz, Achtung Aufnahme!, Dirigierpartitur (Ms.), 137 (Archiv der UE). © 1929 Universal Edition A.G., Wien/UE 9896. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

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Beispiel 3: Wilhelm Grosz, Achtung Aufnahme!, Dirigierpartitur (Ms.), 71 (Archiv der UE). © 1929 Universal Edition A.G., Wien/UE 9896. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

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auf. Historisch gesehen reiht sich Achtung Aufnahme! aber auch in ein musikdramatisches Modell ein, das man als „Zeitoper“ bezeichnet(e), ein Begriff, der mit den „Innovationen der musikalischen Sachlichkeit“ verbunden ist und kritische Diskussionen durch Komponist * innen, Wissenschaftler * innen und Journalist * innen auslöste. Das Sujet und die musikalische Ausformung von Achtung Aufnahme! erfüllen alle geforderten Kriterien: das aufstrebende Medium des Films, später durch die Nationalsozialisten für politische Propaganda besonders genützt; die Verwendung von zeitgenössischen Tänzen, Jazzelementen und afroamerikanischer Musik; sowie die Kürze des Werks – zahlreiche Einakter entstanden in diesen Jahren – sind bezeichnend für den Typus einer zeitgemäßen Komposition „von innerer und äußerer Unkompliziertheit“, die für ein breiteres Publikum gedacht war, wie dies auch Kurt Weill postulierte.14 Hier sei auf Grosz’ Studienkollegen Ernst Krenek verwiesen, der 1927 mit Jonny spielt auf einen ungeheuren Erfolg verbuchen konnte, gefolgt von zum Beispiel Ernst Tochs Der Fächer und Paul Hindemiths Neues vom Tage, beide Werke aus dem Jahr 1929. Als Höhepunkt dieser Entwicklung sind die beiden abendfüllenden Kompositionen Weills Die Dreigroschenoper (1928) und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1930) zu nennen. Achtung Aufnahme! zählte zu denjenigen Kompositionen, die Grosz’ weiteren beruf lichen Lebensweg erleichterten. Er erkannte die Zeichen der Zeit und übersiedelte 1934 mit seiner Familie nach London. Seine Erfolge mit Kompositionen der Unterhaltungsmusik bzw. Werken, die einen Übergang von der „E“- zur „U“Musik markierten, ermöglichten es ihm, – neben seinen Auftritten als Pianist und Dirigent und als künstlerischer Leiter der Ultraphon-Grammophongesellschaft –, sich in Großbritannien zu etablieren. Er nannte sich bald „Will“ Grosz und dann „Hugh Williams“, als er 1938 in die USA, nach New York, emigrierte. Dort starb er am 10. Dezember 1939.

14 Nils Grosch, „Zum Musiktheater der neuen Sachlichkeit“, in: Oper im 20. Jahrhundert. Entwicklungstendenzen und Komponisten, hg. von Udo Bermbach, Stuttgart 2000, 133–137, hier 137.

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Claudia Maurer Zenck

„… furchtbar viel zu tun …“ Ernst Kreneks Kasseler Episode 1 Claudia Maurer Zenck Die Lebenswege von Elias Canetti und Ernst Krenek kreuzten sich, wenn auch asynchron, nicht nur einmal – in ihrer Neigung zu Anna Mahler –, sondern ein zweites Mal in der beiden gemeinsamen Erfahrung, aus der geliebten Umgebung herausgerissen zu werden. Canettis Geschichte seiner Jugend Die gerettete Zunge endet damit, dass er 1921 gegen seinen Willen nach Frankfurt, mitten hinein ins unwirtliche Nachkriegsdeutschland, verpf lanzt wurde: „Die einzig vollkommen glücklichen Jahre, das Paradies in Zürich, waren zu Ende.“ 2 Auch Krenek fühlte sich 1924/25 in Zürich heimisch und glücklich: „Die Schweiz war bislang der einzige ‚richtige‘ Ort, an dem ich gelebt habe.“ 3 Auch er wählte in seinen späteren Erinnerungen an diese Zeit einen starken Ausdruck, um den erzwungenen Ortswechsel zu bezeichnen: Er sprach nicht wie Canetti von Vertreibung aus dem Paradies; seine Wortwahl war geprägt durch die Erfahrung, die er – wie auch Canetti – inzwischen hatte machen müssen: Er sprach vom „Exil“, in das er gehen musste.4 Allerdings vertrieben ihn ganz prosaischer Geldmangel und die Gelegenheit, ihn zu beheben: Die Summe, die ihm der Winterthurer Mäzen Werner Reinhart Ende 1923 zur Verfügung gestellt hatte, ging zu Ende, und Paul Bekker, der Intendant des Preußischen Staatstheaters in Kassel geworden war, bot ihm die Zusammenarbeit in der Provinzstadt an. Canetti dagegen wurde von seiner Mutter vertrieben, die es widersinnig fand, dass ihr junger Sohn sich in Zürich zufrieden zur geistigen Ruhe setzen wollte. 5 Aber auch Krenek erfuhr Missbilligung von einem älteren Freund darüber, wie er seine Jahre in Zürich zugebracht hatte: wenn jemand nicht wisse, was er mit seiner Zeit anfangen solle, müsse er dulden, dass andere ihn anwiesen, wie er sie nutzen solle.6 1 2 3 4

5 6

Der Aufsatz basiert auf einem Vortrag während einer Tagung 2001 über Ernst Kreneks Jahre in Kassel, der adaptiert wurde. Elias Canetti, Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend, Frankfurt a. M. 1979, 319. Ernst Krenek, Im Atem der Zeit, München 1999, 653. Ebd., z. B. 628, 652. In den Briefen, die er in dieser Zeit an seine Eltern schrieb, war von „Exil“ noch keine Rede, das Wort taucht nicht vor den 1940er Jahren in seinen schriftlichen Äußerungen auf. Allerdings beweist das nicht unbedingt, dass er es damals nicht so empfunden hätte; vielleicht wollte er die Eltern nicht mit seinen Zweifeln belasten. Ebd., 314. Ebd., 627. Es handelte sich um den Musiktheoretiker Ernst Georg Wolff.

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Er „habe also in Gottes Namen diese Sache mit Bekker in Cassel akzeptiert. Wir werden ja sehen, was da draus wird“, schrieb Krenek zwei Wochen nach Bekkers Angebot an seine Eltern (17. Juni 1925).7 Und nachdem er Ende August in Kassel angekommen war, lassen sich die Folgen der neuen Tätigkeit sogleich an seinen Briefen ablesen: Sie wurden kürzer, der Stil knapp und faktenreich – „furchtbar viel zu tun“ (3. November 1925) –, die Abstände zwischen ihnen größer und die Bitten um Entschuldigung dafür häufiger: „aber ich komme zu gar nichts“ (13. November 1925). Über die Stadt Kassel, über ihre Bewohner findet sich so gut wie nichts, sondern nur knappste Hinweise auf die Lage seiner Wohnungen, auf die Menschen, bei denen er logierte – meist nur mit dem Namen genannt –, gelegentlich auf einen Ausf lug in die Umgebung, der mit einem Satz umschrieben wurde. Bis seine Eltern ihn im Mai 1926 besuchen kamen, konnten sie sich aus seinen Briefen kein rechtes Bild über diese Stadt oder auch nur seinen Alltag machen – ganz im Gegensatz zu den Zeiten seiner detaillierten Schilderungen aus Berlin. Das hing vor allem damit zusammen, dass Krenek von morgens bis abends im Theater war – nicht nur, weil seine Stelle als „musikalischer Beirat am Staatstheater Cassel“ 8 es verlangte. Später meinte er, „bald wurde ich ein wenig theaterverrückt“ 9, aber selbst dies geht aus seinen damaligen Briefen nur indirekt hervor: Die Aufzählung seiner zahlreichen Tätigkeiten wirkt oft atemlos, aber nicht aus Erschöpfung, sondern gleichsam aus begeisterter Hektik. Er wurde durch das Theater zugleich mit einer Lebensart bekannt, die dem durch und durch bürgerlichen jungen Mann, der gerade erst seine emotionelle Retardierung aus der Kindheit und Jugend zu überwinden versucht hatte,10 einiges an Anpassungsleistung abverlangte. Er wurde mit Facetten des Musiker- und Komponistenberufs konfrontiert, mit denen er allenfalls während seines Studiums in Berlin, als er damit Geld verdienen musste, f lüchtig in Berührung gekommen war. Die Kasseler Theatertätigkeit war die Fortsetzung seiner Studienzeit, quasi die Gesellenjahre 7

Am 5. Juni 1925 hatte er die Eltern von Bekkers telegraphischer Einladung in Kenntnis gesetzt. Die im Text in Klammern gesetzten Daten beziehen sich auf Kreneks unveröffentlichte Briefe an seine Eltern; sie liegen in der Handschriftensammlung der Wienbibliothek (im Folgenden: WB): Die beiden Briefe vom Juni 1925 haben die Signatur H.I.N. 115.718 und 719, die im Folgenden zitierten Briefe vom Oktober und November 1925 die Signaturen H.I.N. 116.385–387, die von 1926: H.I.N. 116.392, 116.395 und 116.403; der von 1927: H.I.N. 116.365. 8 Diese Benennung seiner Position findet sich in allen Ankündigungen seiner Rundfunktätigkeiten. Die Stelle war offenbar als Nachfolge des „künstlerischen Beirats“ gedacht, der 1919 eingesetzt worden war – allerdings nicht nur „zur Mitberatung des Spielplans“, was auch Krenek bei Bekker getan haben dürfte, sondern nicht zuletzt „zur Geltendmachung aller Wünsche der Bühnenangehörigen und Angestellten“ (Christiane Engelbrecht, Theater in Kassel. Aus der Geschichte des Staatstheaters Kassel von den Anfängen bis zur Gegenwart, Kassel 1959, 171). 9 Krenek, Im Atem der Zeit, 659. 10 Vgl. „Drittes Resümee“, in: ebd., 628–636.

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nach der Berliner Lehre. Hier lernte er nun das Theaterhandwerk, und zwar von der Pike auf. Vier seiner Arbeitsbereiche seien im Folgenden genauer betrachtet.

Bearbeitungen und Bühnenmusiken Seine erste Verpf lichtung bestand in der Instrumentation eines Terzetts aus Domenico Cimarosas Il matrimonio segreto.11 Kurz danach stellte er ein Pasticcio aus der Ballettmusik Les fêtes de l’Hymen et de l’Amour von Jean-Philippe Rameau zusammen und instrumentierte sie neu; die Premiere war am 25. Oktober 1925. Krenek sah solche Bearbeitungen durchaus nicht als Fron an, sondern als willkommene Herausforderung: als „eine Nötigung, die mir die Inangriffnahme von reproduktiven Leistungen jeder Art überhaupt erst reizvoll macht“12 – also Reproduktion nicht einfach in Form von Aufführung, sondern von schöpferischer Bearbeitung. Dann aber ging es vor allem darum, selbst Musik fürs Theater zu komponieren; daraus resultierte eine lange Reihe von Bühnenmusiken, die er (nicht nur für das Kasseler Theater) zwischen Herbst 1925 und Frühjahr 1928 schrieb13 und deren erste die Musik für Pedro Calderón de la Barcas Das Leben ein Traum war:14 15

Theater

Premiere

Autor

Titel

Opuszahl15

Kassel

19.9.1925

Calderón de la Barca

Das Leben ein Traum

WoO 73

Kassel

28.11.1925 Anton Franz Dietzenschmidt (Uraufführung)

Vom lieben Augustin

40

Kassel

13.1.1926

Die Jungfrau von Orleans

/

Friedrich Schiller

11 Vgl. ebd., 637. Krenek wies die Oper dort irrtümlich Pergolesi zu und erinnerte sich an ein Duett. 12 Ernst Krenek, „Bericht über ein Marionettenspiel, op. 52“ [1929], in: Zur Sprache gebracht, München 1958, 64–71, hier 65; engl. „A Puppet Play“, in: Exploring Music, New York 1966, 11–18, hier 12. 13 Von diesen Schauspielmusiken ist die Hälfte vermutlich im Zweiten Weltkrieg durch Bomben vernichtet worden, die mit dem Bühnenhaus auch die Bibliothek des Kasseler Staatstheaters zerstörten; erhalten blieben insgesamt neun entsprechende Kompositionen: fünf, die Krenek selbst durch eine Opuszahl heraushob und von denen drei auch zu Suiten zusammengefasst und gedruckt wurden; zwei, von denen die eine möglicherweise an ein anderes Theater verliehen wurde (s. u., Anm. 19); sowie die beiden letzten (die eine unvollständig), für Wiesbaden verfassten Schauspielmusiken, die offenbar nach Gebrauch bzw. nach Aufgabe des Projekts (s. u., Anm. 21) an Krenek bzw. seinen Verlag retourniert wurden. 14 Irrtümlich Franz Grillparzer zugeschrieben bei Garrett H. Bowles, Ernst Krenek. A Bio-Bibliography, New York 1989 (= Bio-Bibliographies in Music 22), 116. 15 Die nicht überlieferten Bühnenmusiken sind durch „/“ gekennzeichnet. WoO 119 und 130 waren noch nicht bei Bowles (ebd.) verzeichnet, dessen Erfassung dieser unnummerierten Werke mit W 105 endet.

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Kassel

18.1.192616

Ernst Toller

Die Rache des verhöhnten Liebhabers (Puppenspiel)

41

Kassel

1.4.1926

William Shakespeare

Coriolan

/

Kassel

15.4.1926 Robert Faesi (Uraufführung)

Coriolan

/

Kassel

09.5.1926

Johann Wolfgang von Goethe

Der Triumph der Empfindsamkeit

43

Heidelberg 31.7.1926

William Shakespeare

Ein Sommernachtstraum17

46

Heidelberg 20.8.192618

Knut Hamsun

Munken Vendt

/

Kassel

1.12.1926

Kalidasa (Bearb.: Paul Kornfeld)

Sakuntala

/

Kassel

7.1.1927

Georg Kaiser

Zweimal Oliver

/

Kassel

8.2.1927

Rabindranath Tagore

Der König der dunklen Kammer

/

Kassel

10.4.1927

William Shakespeare

Das Wintermärchen

/

16 17 18

16 Die Aufführung könnte auch erst am 19. Januar gewesen sein; eine Kritik (wti, „Marionettentheater“) erschien jedenfalls in der Morgenausgabe der Neuen Zürcher Zeitung vom 20. Januar 1926 (Nr. 96, Blatt 2). Ich danke Peter Hagmann für die Recherche des Artikels. 17 Das Stück wurde mit Kreneks Musik bis 1929, dem vorerst letzten Festspieljahr, jedes Jahr aufgeführt. Es dirigierten 1926 Hermann Scherchen die Uraufführung, 1927 George Szell, 1928 Josef Krips und 1929 Wilhelm Bachenheimer; vgl. Oliver Fink, Theater auf dem Schloß. Zur Geschichte der Heidelberger Festspiele, Heidelberg 1997, 89–94. Bei der Wiederbelebung als „Reichsfestspiele“ in den Jahren 1934–39 wurde Shakespeares Komödie zweimal gegeben: in der ersten Saison mit der Musik zur Fairy Queen von Henry Purcell und in der letzten Saison mit Musik von Carl Maria von Weber, arrangiert von B. Eichhorn; vgl. Fink, ebd., 96, 106, und Friederike Mühle, „Ernst Kreneks Musik zu Shakespeares Sommernachtstraum“, in: Ernst Krenek – nicht nur Komponist, hg. von Gernot Gruber, Claudia Maurer Zenck und Matthias Schmidt, Schliengen 2018 (= Ernst Krenek Studien 7), 91–112. 18 Für Material über die beiden während der Heidelberger Festspiele 1926 aufgeführten Schauspiele danke ich Diana Weber (Stadtarchiv Heidelberg). Dass Krenek eine Bühnenmusik zu Hamsuns Drama komponierte – wenn auch offenbar wesentlich weniger aufwendig als die zum Sommernachtstraum, bei der Scherchen immerhin ein Kammerorchester dirigierte und die auch ein Altsolo und Chor enthielt –, war bis 2001 in der Krenek-Forschung nicht bekannt (Fink erwähnt sie en passant [Theater auf dem Schloß, 27]); sie scheint nur aus Chören bestanden zu haben; vgl. rkg., „Heidelberger Festspiele“, in: Heidelberger Tageblatt, 23. August 1926. Hamsuns 1902 publiziertes Drama wurde bei dieser Gelegenheit uraufgeführt; nach einer so deklarierten „öffentlichen Generalprobe“ am 20. August, der vier Proben vorausgegangen waren, konnte nur noch eine weitere Aufführung am letzten Tag der Festspiele (22. August) stattfinden.

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Kassel

3.5.1927

Christian Dietrich Grabbe

Don Juan und Faust19

WoO 130

Kassel

11.5.1927

Marcel Achard

Malborough s’en va-t-en guerre 52 (Marionettenspiel)20

Kassel

23.6.1927

Hans J. Rehfisch

Duell am Lido

Wiesbaden 1927/2821

Frank Wedekind

Die Kaiserin von Neufundland WoO 75 (Tanzpantomime)

Wiesbaden 14.05.192822

William Shakespeare

Der Sturm

/

WoO 119

Ernst Kreneks Bühnenmusiken. 19 20 21 22

Wie er die weniger anspruchsvollen Bühnenmusiken gestaltete, beschrieb Krenek viele Jahre später: […] feierliche und dramatische Akzente für Calderon und Schiller, exotisch gemeinte Trommeln und Harfen für Rabindranath Tagore, Jazz zu Georg Kaisers „Zweimal Oliver“, und zu einem Stück, dessen Titel mir entfallen ist, improvisierte ich hinter der Bühne auf dem Klavier Potpourris von damals gangbaren Schlagern.23

Einstudierungen Bei dem Rameau-Ballett-Pasticcio unter dem neuen Namen Der vertauschte Cupido war Krenek aber nicht nur für die Musik verantwortlich: Er wurde auch zu den Beratungen über die Kostüme und die Bühnenbilder herangezogen. Ein halbes 19 Das Datum betrifft auch die Rundfunkübertragung. – Die Bühnenmusik ist nicht verzeichnet bei Hans-Joachim Schäfer, „Ernst Kreneks künstlerische Tätigkeit am Staatstheater Kassel in den Spielzeiten 1925/26 und 1926/27 im Überblick“, in: Ernst Krenek, Erinnerungen an Kassel, Kassel 1985. Eine Abschrift der Partitur wurde im Januar 2015 von Antje Müller (damals Generalsekretärin und Geschäftsführerin der Ernst Krenek Institut Privatstiftung) in der Lippischen Landesbibliothek in Detmold (D-DT) aufgefunden (Sign. GA Ms 526). Möglicherweise wurde die Partitur zur Aufführung des Schauspiels mit Kreneks Bühnenmusik an ein anderes Theater verliehen. 20 Die Schreibweise hing mit der Umdeutung der Figur des Generals John Churchill Marlborough durch die Franzosen zusammen („mal“ = frz.: schlecht). 21 Laut Auskunft von Frau Hack vom Stadtarchiv Wiesbaden, der ich dafür danke, gab Bekker am 7. Februar 1928 durch ein Schreiben bekannt, das Stück werde nicht zur Aufführung gebracht. – Die Partitur im Ernst-Krenek-Archiv der Wienbibliothek (Sign. MH 10472) ist unvollständig. 22 Das Datum übermittelte mir Christopher Hailey, dem ich dafür danke. Die Aufführung gehörte zum Programm der „Wiesbadener Maifestwoche“, auch wenn sie erst nach der eigentlichen Festwoche (6.–13. Mai 1928) stattfand. Den Hinweis auf die Existenz dieser Bühnenmusik (Abschrift), die nicht bei Bowles (A Bio-Bibliography) verzeichnet ist, verdanke ich Matthias Schmidt; sie wurde von der Universal Edition (UE) an Gladys Krenek übergeben und befindet sich im Archiv des Ernst Krenek Instituts (EKI), Krems (Sign. MM 109). 23 Ernst Krenek, „Musik im Schauspiel“, in: Österreichische Musikzeitschrift 20/8 (1965), 415–418, hier 416–417.

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Jahr später, als er Goethes „dramatische Grille“ Der Triumph der Empfindsamkeit zur Aufführung vorschlug, steuerte er ganze Texteinlagen mit Anspielungen auf aktuelle Ereignisse bei. Diese Bühnenmusik war übrigens sehr erfolgreich. 24 Im Ostmarken-Rundfunk (ORAG) wurde am 10. Oktober 1930 das Schauspiel mit Kreneks Musik gesendet, 25 zum 100. Todestag Goethes am 19. März 1932 in Wiesbaden und im Juni desselben Jahres im Akademietheater in Wien dreimal aufgeführt. Teile aus der Schauspielmusik wurden gedruckt und die daraus kompilierte Suite op. 43a sehr oft gespielt; Krenek dirigierte sie noch 1938 unmittelbar vor seiner Exilierung in die USA in Lugano und Helsingfors und kurz danach, Anfang 1939, in Chicago. 26 Das anspruchsvollste Projekt aber realisierte er ein Jahr nach Beginn seiner Kasseler Theaterarbeit, als er sich in den Kopf setzte, ein Marionettenspiel zu inszenieren. Die Uraufführung der Vorlage, Marcel Achards Schauspiel Malborough s’en va-t-en guerre, hatte ihn im Dezember 1924 in Paris begeistert, und da inzwischen auch eine deutsche Übersetzung erschienen war, hätte er es gern auf die Bühne gebracht. Für das preußische Staatstheater kam es anscheinend nicht in Frage. Daher überzeugte er eine Puppenspielertruppe von seinem Projekt, fand einen Bildhauer von der Akademie, der nach seinen Vorstellungen und den technischen Anweisungen des Puppenspielleiters elf Figurinen entwarf und von seinen Studenten schnitzen und ausstaffieren ließ (vier davon als Gruppe); gab den Puppenspielern vor, welche Bewegungen der Puppen sie einstudieren sollten; entwarf einen beweglichen Bühnenprospekt für das Vorspiel; bearbeitete den Text; studierte mit den Schauspielern hinter der Bühne die Dialoge ein; überwachte die Koordination der Bewegungen der Marionetten mit den gesprochenen Texten und schrieb die Begleitmusik für Klavier und Schlagzeug. 27 Das Erstaunlichste daran scheint mir nicht, wie Krenek rückblickend und bescheiden fand, der „ausgeprägte Kooperationsgeist“ aller Beteiligten zu sein, 28 sondern vielmehr zweierlei: erstens, dass er sie für dieses ungewöhnliche Projekt so einnehmen konnte, dass sie tatsächlich begeistert mitwirkten, und zweitens, dass er es von A bis Z tatsächlich verantwortlich durchführte. Beides gibt Aufschluss über Seiten seiner 24 Vgl. dazu auch Antje Tumat, „‚[…] eines der apartesten Stücke der ganzen Theaterliteratur‘ – Ernst Kreneks Musik zu Johann Wolfgang von Goethes Triumph der Empfindsamkeit“, in: Ernst Krenek – nicht nur Komponist, hg. von Gruber, Maurer Zenck und Schmidt, 113–142. 25 Karl Block, der ehemalige Leiter der Sendestelle Kassel des Südwestdeutschen Rundfunks (vgl. 3.) produzierte an der ORAG am 10. März 1931 auch das Schauspiel von Dietzenschmidt. 26 Lugano: 30. April 1938, Helsinki: 26. Mai 1938, Chicago: 26. und 27. Januar 1939. 27 Die Kritik der Uraufführung im Kasseler Tageblatt vom 12. Mai 1927 nennt im Gegensatz zu Kreneks Erinnerungen (Im Atem der Zeit, 714) Karl Scheel als Spieler des Klavierparts. Dass auch Schlagzeug verwendet wurde, worauf bereits im ersten UE-Werkkatalog verwiesen wird, lässt sich keiner Quelle entnehmen; vermutlich kam jedoch eine kleine Trommel zum Einsatz, um den Abmarsch und die Kriegsszenerie zu untermalen. 28 Krenek, Im Atem der Zeit, 713.

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Persönlichkeit, die vermutlich erst wieder in der Unterrichtstätigkeit in den USA bzw. im Auf bau und seinen vielfältigen Beiträgen zur Ortsgruppe der International Society for Contemporary Music (ISCM) in den Twin Cities St. Paul und Minneapolis/Minnesota mit zum Tragen kamen. Auch das Marionettenspiel reizte ihn als terra incognita zur Eroberung. Immerhin ersparte er sich bei diesem Projekt eine umfangreichere Bühnenmusik, die er auch noch hätte leiten müssen. Denn seit seiner ersten umfangreicheren Kasseler Theaterarbeit, der Kompilation des Rameau-Balletts, studierte er die von ihm beigesteuerte Musik auch ein und dirigierte sie in den Vorstellungen – wieder Neuland für den jungen Komponisten. Seinen Eltern schrieb er nach seinem ersten Dirigat nur knapp (3. November 1925): „Letzten Sonntag ging es sehr gut – das Stück hat großen Erfolg gehabt.“ In seinen Erinnerungen dagegen ref lektierte er ausführlich über die Funktion eines Dirigenten und darüber, dass er sich dabei aus mehreren Gründen unwohl fühlte (nicht nur bei der undankbaren und damals auch noch sehr schwierigen Aufgabe, Chöre hinter der Bühne mit der Musik aus dem Orchestergraben zu koordinieren). 29 Dieses Gefühl dürfte ihm damals allerdings erst allmählich bewusst geworden sein, denn er stand in Kassel recht häufig am Pult, 30 und zwar nicht nur bei den anspruchsvolleren Schauspielmusiken, die er im Laufe der beiden Saisons in Kassel schrieb: Bereits am 20. Dezember 1925 dirigierte er den Offenbach-Einakter Nummer 66, am 22. Januar 1926 sein eigenes Concerto grosso op. 25 in einem Abonnementskonzert im Staatstheater, am 14. März die opéra-comique Die Bärenjäger und das Milchmädchen von Duny (Egidio Duni) und am 27. März mit großem Erfolg31 die deutsche Erstaufführung von Alfredo Casellas Pirandello-Vertonung La Giara, am 18. Juni schließlich die Oper La Preziosa von Weber. In der folgenden Saison dirigierte er am 13. Januar 1927 Offenbachs Orpheus in der Unterwelt. Dass er sich letztlich zum Dirigenten nicht berufen fühlte, kann also kaum daran gelegen haben, dass er seine dirigentischen Fähigkeiten nicht mit allmählich wachsenden Aufgaben hätte entwickeln können. Er wurde aber nicht nur im Staatstheater mit dieser Aufgabe betraut. Schon kurz nach Beginn seiner Arbeit in Kassel dirigierte er am 25. Dezember 1925 im Rundfunk ein Flötenkonzert, eine Arie von Friedrich dem Großen und seine eigene Rameau-Bearbeitung. 32 29 Ebd., 648–651, 657–658. 30 Die meisten Bühnenmusiken waren allerdings so unaufwendig, dass dafür auf den Programmen die Rubrik „Musikalische Leitung“ gar nicht angeführt wurde. – Die folgenden Angaben sind durch Programmzettel nachgewiesen (Kopien bei der Autorin). 31 Vgl. dazu Richard Engländers Kritik „Alfredo Casella: ‚La Giara‘ (Der grosse Krug)“, in: Musikblätter des Anbruch 8/5 (1926), 230–231. 32 Detailliert nachgewiesen in der Programmübersicht für den 25. Dezember 1925 in der Südwestdeutschen Rundfunk-Zeitung 12, 20.–26. Dezember 1925, 1866 (Deutsches Rundfunk-Archiv, Frankfurt am Main [DRA]).

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Rundfunktätigkeit Kreneks Arbeit am Kasseler Sender, der erst im Dezember 1924 als Nebenstelle des Südwestdeutschen Rundfunks Frankfurt eingerichtet worden war, erwies sich als folgenreich. Das Dirigieren von Kammerkonzerten war dabei wohl eher eine Nebensache. Wichtiger war, dass er dort von Anfang an Vorträge hielt. Einige davon stellten Einführungen in Konzerte dar, bei denen er auch als Musiker mitwirkte: So leitete er nicht nur das erwähnte Rundfunk-Orchesterkonzert mit einem Vortrag „Friedrich der Große und die Musik seiner Zeit“ ein, sondern auch die Konzert(und Sende-)Reihe „Die Kammermusik vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart“, in der er den Klavierpart übernahm – so am 30. November 1925 (mit einem „Klaviertrio“33 von Dietrich Buxtehude und einem Streichquartett von Johann Christian Bach), dann wieder am 28. Januar 1926 (Triosonaten von Christoph Willibald Gluck und Giovanni Battista Pergolesi) und mindestens noch einmal am 17. Februar 1926 (Trios von Carl Stamitz, Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart). Andere Einführungen hingen mit den kommenden Theaterpremieren zusammen. Er hielt aber auch von Anfang an schon eigenständige Vorträge von größerem Umfang: Bereits am 19. November sprach er eine halbe Stunde über „Programm und Repertoire in Konzertsaal und Oper“ (22. Oktober, 13. und 30. November 1925).34 Das ist in zweierlei Hinsicht erstaunlich: einmal, wenn man bedenkt, dass Krenek bis dahin kaum mehr als Erläuterungen zu eigenen Werken oder Beiträge zu Umfragen verfasst hatte und auch in Kassel zunächst mit Einführungsartikeln für die Programmhefte35 begann; zum zweiten, dass er mit dem bisher einzigen längeren Text, den er gerade erst geschrieben hatte, auch zum ersten Mal als Vortragender vor die Öffentlichkeit getreten war: Am 19. Oktober 1925 hatte er in Karlsruhe bei einem Kongress für Musikästhetik über „Musik in der Gegenwart“ gesprochen (und dabei bekanntlich unbekümmert Dinge gesagt, die zu einer jahrelangen Verstimmung Schönbergs führen sollten). Seinen Eltern gegenüber äußerte er sich darüber sehr allgemein („[…] habe meinen Vortrag gehalten; es war sehr hübsch, man hat sich scheinbar sehr dafür interessiert“, 22. Oktober 1925). Konkreter wurde er rückblickend in seinen Erinnerungen, wo er seine Vortragsweise als nicht sehr wirkungsvoll 33 Es wird sich um eine der Sonaten mit zwei Streichinstrumenten und Basso continuo gehandelt haben. 34 So auch der Programmzettel des Rundfunks (Nachlass Block im Historischen Archiv der ARD im DRA). Die frühere Angabe, er sei erst seit Anfang 1926 mit Vorträgen im Rundfunk hervorgetreten, ist demnach zu modifizieren; vgl. Claudia Maurer Zenck, „Die unaufhörliche Suada. Ernst Kreneks Erfahrungen mit dem Rundfunk 1925–1945“, in: Emigrierte Komponisten in der Medienlandschaft des Exils 1933–1945, hg. von Nils Grosch, Joachim Lucchesi und Jürgen Schebera, Stuttgart 1998 (= Veröffentlichungen der Kurt-Weill-Gesellschaft Dessau 2), 31–46, hier 32–33. 35 Der erste Beitrag, den Krenek am 22. Oktober 1925 schrieb, war dem Thema „Boris Godunoff und die nationale Volksoper“ gewidmet; vgl. Bowles, A Bio-Bibliography, 123 [K 22], dort fälschlicherweise auf 1926 datiert.

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beschrieb – aber er habe viel dabei gelernt.36 Vermutlich zog er aus dieser Erfahrung den Schluss, das Vortragen üben zu müssen, so dass er sie beim Schopfe ergriff, als ihm der Rundfunk die Gelegenheit dazu bot.37 Und das wiederum war eine ganz andere Erfahrung als in einem Kongress: Ins Mikrophon zu sprechen und dabei zu wissen, dass das vor ihm sitzende und zuhörende Publikum im Kasseler Sendesaal (wie das auf dem Kongress in Karlsruhe) von der Zahl der Rundfunkhörer*innen zu Hause an den Empfängern um ein Vielfaches übertroffen wurde, hemmte ihn offenbar nicht. Das brandneue Medium bot aber auch den Vorteil, dass man sich zu aktuellen Problemen äußern konnte. Seinen Part in der Kontroverse mit dem Vorsitzenden der Zentrumspartei in Kassel, Rektor Karl Dietrich, der ihn wegen eines Programmheftartikels angegriffen hatte (15. März 1926), trug der Komponist im Frühjahr 1926 nicht nur in der Zeitung, sondern auch im Rundfunk aus.38 Kreneks Engagement im Radio erschöpfte sich aber nicht in Vorträgen und Konzerten: Er wirkte dort auch als Komponist. Das erste Mal wurde er von Karl Block, dem Leiter des Kasseler Senders, für die Musik zu einem „Weihnachtsspiel“ herangezogen, das von Schauspielern des Theaters gesprochen wurde: Das Gottes-Kind von Emil Alfred Herrmann, eine Zusammenstellung und Bearbeitung von mittelalterlichen Volksspielen und Liedern. 39 36 Krenek, Im Atem der Zeit, 663. Der Vortrag wurde seinerzeit publiziert in Hans Heinsheimer und Paul Stefan (Hg.), 25 Jahre neue Musik. Jahrbuch der Universal-Edition, Wien 1926, 43–59. 37 Tatsächlich scheint beides in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang zu stehen: In seinem Brief an die Eltern vom 22. Oktober 1925 berichtete Krenek zugleich vom Kongress in Mannheim und von seinem demnächst zu haltenden Vortrag im Rundfunk. 38 Die Nachweise in Bowles (A Bio-Bibliography, 124–125, K 28, K 32, K 36) zu dieser Kontroverse sind fehlerhaft. Es handelte sich zunächst um einen (verlorenen) Artikel Kreneks, betitelt „Über Sinn und Zweck des Theaters“, der im Programmheft des Staatstheaters zur Premiere von Schillers Jungfrau von Orleans am 13. Januar 1926 erschien, und um einen Vortrag Kreneks über „Moderne Formen der Parodie“ (als Ms. erhalten), den er am 29. Januar im Rundfunk hielt. Darauf bezog sich und daraus zitierte Karl Dietrich in seiner Entgegnung „‚Ueber Sinn und Zwecks des Theaters‘. (Nach Krenek, Hebbel und Schiller.)“, in: Hessischer Kurier 42, 2. Blatt, 18. Februar 1926. Darauf replizierte Krenek eine Woche später im Casseler Tageblatt (Nr. 94, 25. Februar 1926, Abend-Ausgabe) mit dem Artikel „Ein Ideologe über das Theater“, und er wollte zusätzlich am 2. März in einer Rundfunksendung mit einem Vortrag über „Ideologisches und phänomenologisches Theater“ darauf eingehen. Diese kam jedoch nicht zustande wegen der Übertragung einer Rede des Reichspräsidenten zur angesetzten Zeit, und als Krenek seinen Text am 18. März tatsächlich verlesen konnte, hatte Dietrich inzwischen mit einem Artikel „Ueber Ziel und Zweck des Theaters. (Eine Erwiderung.)“ auf Kreneks Zeitungsartikel reagiert (Hessischer Kurier 55, 2. Blatt, 5. März 1926). Krenek musste daher sein Vortragsmanuskript überarbeiten und den direkten Bezug auf Dietrichs ersten Artikel vom 18. Februar streichen (Manuskripte beider Rundfunk-Vorträge in der WB, Handschriftenabteilung, Teilnachlass Ernst Krenek, Archivbox 1, Sign. 1.5.4 und Archivbox 2, Sign. 1.9.1.13). 39 In der Programmübersicht für den 24. Dezember 1925 in der Südwestdeutschen Rundfunk-Zeitung 12, 20.–26. Dezember 1925, 1864, findet sich für die Zeit 8.05–9.30 [recte: 20.05–21.30] Uhr nur eine nicht näher bezeichnete Übertragung aus Kassel, die jedoch mit der Anzeige vom 22. Dezember 1924 über Das Gottes-Kind zumindest für den Beginn übereinstimmt (DRA). Was danach noch gespielt wurde, ließ sich nicht eruieren; vgl. auch Anm. 42.

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Ernst Kreneks Kasseler Episode

Beispiel 1: Ernst Krenek, Das Gottes Kind op. 42, Titelblatt. Abschrift im Deutschen Rundfunk­ archiv (DRA)/A16. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des DRA.

Zum Karfreitag 1926 steuerte er Musik zur Sendung Passionen bei, und am Ostermontag folgte Das altdeutsche Osterspiel auf einen von Ernst Leopold Stahl bearbeiteten Text. Die beiden „Spiele“ unterschieden sich noch kaum von Bühnenwerken; anders verhielt es sich jedoch zumindest mit den Passionen: Der Spielleiter Karl Block stellte dafür Texte verschiedener Herkunft zusammen: aus dem Ackermann aus Böhmen des Johannes von Saaz, einer anonymen Marienklage aus derselben Zeit sowie aus zwei zeitgenössischen Werken, Ischariot und der Schächer von Rudolf Ehrenberg und dem Würzburger Totentanz von Leo Weismantel. Die Auswahl von Szenen zeigt Blocks Versuch, in diesem „Jahr der Sendespiele“40 eine neue, rundfunkgemäße Dramaturgie zu entwickeln. Mit der Zusammenstellung von Szenen aus dem 14. und dem 20. Jahrhundert verfolgte er die Absicht, Konstanten wie Veränderungen eines Themas über ein halbes Jahrtausend hinweg deutlich zu machen.41 Für Kreneks weiteren kompositorischen Werdegang waren diese Beiträge zur Rundfunkmusik sicherlich nicht bedeutend. Interessant ist aber vielleicht doch, dass er auf Blocks Anregung hin, als dieser im Danziger Sender der ORAG zu Weihnachten 1930 Das Gottes-Kind für die Sendung Christgeburt und am Gründonnerstag 40 Vgl. Elmar Lindemann, Literatur und Rundfunk in Berlin 1923–1932, Bd. 1, Göttingen 1980, 88. 41 Vgl. dazu Ludwig Stoffels, „Frühe Rundfunkmusik von Ernst Krenek“, in: DRA-Informationen 15, 26. September 1990, 3–6.

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Beispiel 2: Ernst Krenek, Marienklage Nr. 1 für die Rundfunksendung Passionen. Abschrift im DRA/A16. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Gladys Krenek (†) und dem DRA.

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Beispiel 3: Ernst Krenek, Ischariot und der Schächer, Einleitung (links) und Nr. 15 (rechts). Abschrift im DRA/A16. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Gladys Krenek (†) und dem DRA.

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1931 die Passion aufs Programm setzte und dafür die beiden entsprechenden Kasseler Sendespiele erweiterte, die dazu nötige zusätzliche Hörfunkmusik beisteuerte.42 Anregend für Kreneks Komponieren könnte aber der Rekurs auf spätmittelalterliche Texte gewirkt haben. Vielleicht wurde er dadurch veranlasst, ein Jahr später immerhin Barockgedichte zu vertonen. Bis dahin hatte er vor allem zeitgenössische Lyrik gewählt (im September 1926 noch Rainer Maria Rilkes O Lacrymosa), die wenigen Ausflüge in die Vergangenheit waren bis zu Friedrich Hölderlin und, vermutlich auch im Zusammenhang mit der Kasseler Arbeit, Goethe zurückgegangen.43

Musikalische Aktivitäten ausserhalb des Kasseler Theaters Kreneks aktive Teilnahme am Kasseler Kulturleben beschränkte sich nicht auf das Theater und den Sender. Das Marionettenspiel Malborough s’en va-t-en guerre, das im Mai 1927 Premiere hatte, wurde, wie bereits erwähnt, nicht im Staatstheater aufgeführt. Es bildete vielmehr den Abschluss einer anspruchsvollen Vortragsreihe der Gesellschaft „Die Kunstfreunde“, deren Gründung Krenek initiiert hatte44 und die er zusammen mit zwei Bekannten, dem kunstinteressierten und begeisterungsfähigen linken Anwalt Erich Lewinski und dem Buchhändler Martin Oppenheim, in der Saison 1926/27 mit einigem Zeitaufwand organisierte;45 dort hatte er auch kurz vor der Uraufführung seiner Oper Orpheus und Eurydike einen umfangreichen Vortrag über die Oper gehalten,46 und dort würde er in der folgenden Saison seine detaillierten 42 Ebd. Nachweise auch unter den Daten 21. Dezember 1930 (hier heißt es „Andeutende Musik von Ernst Krenek“) und 2. April 1931 in Die ORAG-Woche (S. 4–5, 16 bzw. 9, 11; Kopien im DRA, Nachlass Block). Auch die Ergänzungen befinden sich im Block-Archiv des DRA. Interessant ist, dass Block das Konzept der Kasseler Passionen nun auch auf die Christgeburt anwandte: Er begann mit dem Heiland, gefolgt von Das Gottes-Kind, das als Bearbeitung mittelalterlicher Volksspiele und Lieder ausgewiesen wurde, und ergänzte sie mit zwei zeitgenössischen Dichtungen: einem Auszug aus Leo Weismantels Die Geheimnisse der zwölf heiligen Nächte und drei Mysterien von Reinhard Johannes Sorge. (Die kaum kürzere Übertragungszeit der Sendung vom 24. Dezember 1925 aus Kassel [s. o., Anm. 39] deutet allerdings darauf hin, dass schon damals nach dem Krippenspiel noch Passendes gespielt worden war.) 43 4 kleine Männerchöre op. 32 und die a-cappella-Chöre Die Jahreszeiten op. 35 (Hölderlin) bzw. 4 a-cappella-Chöre op. 47 (Goethe). Eine Ausnahme betrifft Klopstocks Ode Die frühen Gräber, die Krenek als Hommage an Schubert bereits 1923 vertont hatte (op. 19 Nr. 5). 44 Im oben zitierten „Bericht über ein Marionettenspiel, op. 52“ (vgl. Anm. 12) gibt Krenek jedenfalls, anders als später in seinen Memoiren (Im Atem der Zeit, 712), sich und nicht Lewinski als Initiator an. 45 Krenek, Im Atem der Zeit, 712. Lewinski vertrat Krenek auch, als dieser in der einschlägigen Zeitung Der Führer in einer Kritik der Erstaufführung von Leben des Orest am Badischen Landestheater in Karlsruhe als „Tscheche und Jude“ verleumdet wurde, und verlangte die Richtigstellung; vgl. zum ganzen Vorgang Ernst Krenek – Briefwechsel mit der Universal Edition (1921–1941) [im Folgenden: Krenek/UE-Bw], 2 Bde., hg. von Claudia Maurer Zenck, Köln 2010, Bd. 2, 723, Anm. 1. 46 Das 30-seitige Manuskript „Orpheus und Eurydike“ im Krenek-Archiv der Wienbibliothek trägt den Vermerk „Cassel, 22. Nov. 1926“ und bezeugt mit seiner tiefschürfenden Deutung des Kokoschka-Dramas den hohen Anspruch der Vortragsreihe. Es wurde erst 1988 gedruckt in Peter

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Überlegungen zu Jonny spielt auf vortragen.47 In seinem ersten Jahr in Kassel existierte diese Vereinigung offenbar noch nicht; das dürfte damit zu tun gehabt haben, dass er damals infolge seiner Theater-Aktivitäten sehr knapp an frei verfügbarer Zeit war. Er schaffte es zwar noch, zu einigen Aufführungen seiner Werke zu reisen (so beispielsweise im Dezember 1925 nach Amsterdam, wo Alma Moodie sein Violinkonzert im Concertgebouw spielte, oder im März 1926 nach Frankfurt, wo unter der Leitung von Ernst Wendel im Saalbau seine Symphonie für Blasorchester op. 34 „leider ganz miserabel“, wie Krenek fand (15. März 1926 an die Eltern), aufgeführt und vom Frankfurter Sender übertragen wurde, aber er kam wenig zum eigenständigen Komponieren. Wie knapp die Zeit dafür war, illustriert die Entstehung der 5 Klavierstücke op. 39 im Herbst 1925 auf der Eisenbahnfahrt zum Kongress in Karlsruhe (Nr. 1), dort nach der Ankunft am 18. Oktober (Nr. 4 und 5), am Tag seines Vortrags (Nr. 2) sowie nach der Rückkehr nach Kassel am 22. Oktober (Nr. 3). Doch auch sie entstanden weniger aus eigenem Antrieb denn aus Anlass einer kulturell-politischen Veranstaltung, zu deren Mitgestaltung Krenek aufgefordert worden war.48 Wozu es ihn seit dem Herbst 1925 aber eigentlich drängte, machte ihm auch ohne den Zeitmangel länger Schwierigkeiten: Er wollte eine neue Oper komponieren; seine letzte, Orpheus und Eurydike auf Kokoschkas gleichnamiges Schauspiel, hatte Paul Bekker im August 1925 zur Uraufführung in Kassel angenommen.49 Aber sie lag bereits seit zwei Jahren abgeschlossen vor. Schon Anfang 1925 hatte Krenek sich daher auf die Suche nach einem passenden Stoff gemacht, den er zunächst ebenso wie ein Operettenlibretto von dem Schriftsteller Karl von Levetzow zu erhalten hoffte.50 Bereits im Mai scheiterte diese Hoffnung, und ein sich anschließender Versuch mit dem Literaten Axel Lübbe, den Krenek zweimal in diesem Sommer in Freiburg aufsuchte51, scheiterte gleichermaßen. Tatsächlich schien Krenek dann ausgerechnet in der Provinzstadt fündig zu werden, in die er so ungern gegangen war. Schon bald schrieb er den Eltern von seiner Hoffnung auf einen Operntext „hier in Cassel“, vier Wochen später teilte er ihnen mit, er habe tatsächlich ein sehr gutes Libretto erhalten und werde bald mit dem Komponieren anfangen (7. Oktober und 3. November 1925). Was ihm der am privaten Kleinen Theater engagierte Schauspieler Willy Kleinau, der auch schriftstellerte, geliefert hatte, ist nicht bekannt, denn Petersen (Hg.), Musiktheater im 20. Jahrhundert, Laaber 1988 (= Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 10), 113–126. 47 „Jonny spielt auf “, Vortrag vom 31. Oktober 1927, wiederholt am 3. Januar 1928 im Kulturbund in Wien, gedruckt in: Ernst Krenek, Im Zweifelsfalle. Aufsätze zur Musik, Wien 1984, 13–32. 48 Krenek, Im Atem der Zeit, 662. Zwar komponierte Krenek, wie auch Paul Hindemith, gern auf Eisenbahnfahrten, doch in diesem Falle spielt die Zeitknappheit sicherlich eine ebenso große Rolle. 49 Vgl. Krenek, Brief an Emil Hertzka vom 11. August 1925, in: Krenek/UE-Bw, Bd. 1, 177–178) und an seine Eltern vom 17. August 1925 (WB, Sign. H.I.N. 116.379). 50 Vgl. Krenek, Brief an Emil Hertzka vom 26. Februar 1926, in: Krenek/UE-Bw, Bd. 1, 156–157. 51 Am 25. Mai und am 27. August 1926.

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Krenek ließ das Projekt nach einigen Monaten wieder fallen, und von etwaigen Kompositionsversuchen ist nichts überliefert. Am 6. Februar 1926 hieß es in einem Brief an seine Eltern, er schreibe einen eigenen Text, der aber noch nicht fertig sei; drei Tage später begann er bereits mit der Komposition. In sie f lossen gleich einige seiner neuen Erfahrungen ein. Anitas Arie mit ihren Sekundvorhalten und dem langsamen Menuettrhythmus wurde bereits als Anspielung auf eine Air aus französischen Opern interpretiert;52 man kann hinzufügen, dass nicht nur der Kasseler Spielplan, sondern auch die dortige Theaterbibliothek voll von französischen Opern des 18. Jahrhunderts war. Überdies findet sich Kreneks Rundfunktätigkeit gespiegelt: Als Realitätsfragment, wie es traditionell auch eine Bühnenmusik war, kommt in Jonny spielt auf eine Übertragung im Radio vor: Zuerst erklingt Anitas Arie aus Max’ neuer Oper – damit antizipierte Krenek etwas, was er erst Ende dieses Jahres 1926 selbst erleben sollte (s. u.) –, und es ist für das Verständnis ihrer Wirkung auf Max heute wichtig zu rekapitulieren, dass es sich um eine damals übliche Direktübertragung handelt.53 Gleich im Anschluss an sie erklingt Jonnys Jazzband, und auch diese bunte Folge ist gleichsam ein Realitätsfragment, denn sie war typisch für die damalige bunte Programmgestaltung. Die Übertragung von Jonnys Jazzband demonstriert die Lebendigkeit und Aktualität der neuen Tanzmusik.54 Krenek hatte kurz vor Kompositionsbeginn, am Silvesterabend 1925 in Frankfurt, fasziniert die Revue The Chocolate Kiddies mit Sam Wooding’s Orchestra gesehen, und es ist gut möglich, wie John L. Stewart vermutet,55 dass Krenek dadurch den letzten Anstoß zu seiner Figur des schwarzen Jazzbandmusikers Jonny bekam. Dass die neuen Tanzlieder der Revuen, des Kabaretts und der Unterhaltungsmusik eine prominente Rolle in der Oper spielen sollten, hängt zum einen sicherlich mit Kreneks seit 1920 dokumentierter, beruf licher wie privater Vorliebe für Tanzmusik, vor allem Foxtrotts, zusammen. Bereits am 27. Juni 1924 hatte die Hauskapelle des Frankfurter Rundfunks in der Sendung Lustiges einen (seither verschollenen) Radio-Blues von Krenek uraufgeführt.56 Seit 52 Nils Grosch, Die Musik der Neuen Sachlichkeit, Stuttgart 1999, 118–121. Auch ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass Anita mit einem Banjo als Bühnenrequisit versehen ist; sie braucht es für die Rolle, sagt sie, und es lässt sich vorstellen, dass sie damit ihre Arie wie mit einem Cembalo, also quasi mit einem modernen Generalbassinstrument, (fingiert) selbst begleiten sollte. 53 Aufzeichnungen waren in dieser frühen Zeit des Rundfunks noch nicht möglich. 54 Die Besetzung eines Tanzmusikensembles, wie sie sich z. B. aus dem SWR-Programm vom 1. Februar 1926 ersehen lässt (Vl., Altsax., Trp., Pos., Schlzg., Kl.) und für die damalige Zeit typisch war, nahm offenbar auch Einfluss auf die Besetzung von Kreneks Hans Arp-Vertonung O du titulierter Kronen- und Wappentattersall (WoO 74 für Bariton und Vl., Sax., Trp., Schlzg., Kl.), deren Entstehungsanlass am 16. Januar 1926 bis heute nicht bekannt ist. Vermutlich war er für eine ähnliche Gelegenheit gedacht wie Für Rosalinde (s. u.). 55 John L. Stewart, Ernst Krenek. The Man and His Music, Berkeley 1991, 81. 56 Vgl. die Zusammenstellung „Uraufführungen Musik im Programm des Frankfurter Rundfunks (1. April 1924–3. April 1926)“, DRA.

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er in Kassel lebte, war sein Leben geselliger geworden, und just am 7. Februar 1926 wirkte er beim Mitternachtskabarett Die Wellenschaukel des Rundfunk-Maskenballs mit, indem er mitten in einer Folge von gesungenen Foxtrotts und Shimmys eine neu komponierte Groteske Tanzstudie spielte (Erika Axmann vom Theaterballett tanzte sie).57 Sechs Tage danach begleitete er die schon im Wellenschaukel-Kabarett und auch sonst in einschlägigen Rundfunkveranstaltungen und -sendungen aktive Sängerin Mary Keysell beim Kostümfest der Kunstakademie im Schlosshotel Wilhelmshöhe bei einem Couplet, das er zum Motto des Festes beisteuerte: Für Rosalinde op. 45a. Es entsprach ebenso wie die Radio-Kabarettnummern dem gängigen Schlager der zwanziger Jahre mit seiner Kombination „Lied und Shimmy“ oder „Lied und Foxtrot“, hatte allerdings einen satirisch auf die aktuelle Kunstströmung der Neuen Sachlichkeit bezogenen Text aus Kreneks Feder: Ach wie ich mich doch schinde, daß ich was Rechtes finde, als kleines Angebinde für unsre Rosalinde: Sie ist die neue Verbindlichkeit da machen wir also in Kindlichkeit. Soll ihr das neue Werk gefallen, darf ich’s nicht mehr chaotisch ballen, ach wie hab ich’s schwer!

Nun keine Revolutionen ’s gibt neue Konventionen, man will die Nerven schonen vor lauter Expressionen. Man sucht die neue Verständlichkeit wie sich da der Spießer endlich freut! Es stirbt der letzte Expressioniste über seinem gesteilten Miste, und er lallt nur mehr:

Doch für Rosalinde bin ich zu allem bereit, für Rosalinde mach’ ich sogar „neue Sachlichkeit“, deshalb komm’, Rosalinde, gib daß ich endlich dich finde und wenn ich dann die neue Sache mit dir zusammen mache, dann ist die neue Sachlichkeit (du wirst schon sehn, es wird schon gehn) genau dieselbe Chose, wie in der guten alten Zeit.

Doch für Rosalinde…

57 Vgl. dazu den Programmzettel vom 7. Februar 1926 (Nachlass Karl Block, DRA). Krenek hatte am Vortag seinen Eltern angekündigt: „[…] morgen ist Radio-Maskenball, dazu habe ich auch etwas geschrieben, einen Tanz, den jemand von unserem Ballett ausführt“ (WB, H.I.N. 116.392); es handelt sich also bei dieser Groteske nicht um op. 1b, das 1922 im Grotesken-Album der UE erschienen war, sondern um ein bisher unbekanntes und offenbar verschollenes Stück.

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Dass dann umgekehrt aus einigen Teilen seines Jonny spielt auf Bandmusik werden sollte, passt durchaus in den Zusammenhang. Übrigens lässt sich die enge Verbindung zwischen Oper und Tanzliedern der zwanziger Jahre auch durch ein ikonographisches Kuriosum vor Augen führen, das die Wirkung in umgekehrter Richtung zeigt: von der Oper auf die Tanzmusik nämlich. 1926 waren die im Berliner Verlag Roehr erscheinenden Schlager-Einzelnummern mit einer Rückseite ausgestattet, wie sie beispielsweise Willi Kollos „Foxtrot-Lied“ Sonntag geh’n wir tanzen, Schatz, hatte (Abb. 1). 1927 wurde das Layout der Rückseiten verändert, und so profitierte die Nr. 935 der Reihe, das „Foxtrot-Lied“ Jeder hat einen Schatz, nur ich hab’ keinen von Fritz Rotter/Austin Egen, bereits von der Popularität des schwarzen Bandleaders und nicht nur Geigers, sondern auch Saxophonisten Jonny (Abb. 2). 58 Im selben Jahr reagierte auch der Wiener Sirius-Verlag auf den Opernerfolg und gestaltete das Titelblatt des Wienerliedes (!) von Robert Krenn/ Alexander Peter Wo die Tischerln mit Blüten bedeckt mit einem schwarzen Saxophonisten, dem ein kleiner Pan erstaunt beim Spielen zuschaut (Abb. 3). Tatsächlich gab es auch schon 1926 im Wiener Phönix Verlag einen schwarzen Musiker auf der Rückseite eines Wienerliedes – z. B. bei Setz’ Di’ auf mei’ Pupperlhutsch’n von Rudi und Fritz Trauner (Abb. 4) – oder eines „Lied und Foxtrot“ und war sicher auch bei weiteren Schlager-Nummern zu sehen. Er saß am Schlagzeug, sang in ein Megaphon (und trug notabene hochhackige Schuhe) und entsprach den anderen ebenfalls karikierenden Zeichnungen auf der Seite – und übrigens auch dem Berliner Plakat der 1925/26 durch Europa tourenden Chocolate Kiddies: Es mischte stilisierte mit karikierender Darstellung. 59 (Der Präsentation des schwarzen Saxophonisten bei den Ausgaben der Edition Roehr lässt sich entnehmen, dass die berüchtigte Überzeichnung des Jonny auf dem Umschlag von Hans Severus Zieglers Begleitheft zur Ausstellung Entartete Musik 1938 nicht ein neues Klischee entwarf, sondern sich eines bereits seit Jahren bekannten bediente und es doppelt rassistisch auf lud: zum jüdischen Schwarzen.)

58 Diese Gestaltung der Rückseite konnte bis zur Nr. 960 von 1927 verfolgt werden. – Solche Schlager-Editionen wurden unter dem Aspekt des Grotesken bereits einmal von der Verfasserin betrachtet, in: „Cakewalk, Ragtime, Foxtrott. Vom verzerrten zum befreiten Körper“, in: Puppen / Huren / Roboter. Körper der Moderne in der Musik zwischen 1900 und 1930, hg. von Sabine Meine und Katharina Hottmann, Schliengen 2005, 118–135, bes. 125–127. 59 Pliable, „On an Overgrown Path: Multicultural, multimedia, and banned“ [19. Februar 2007], in: https://www.overgrownpath.com/2007/02/multicultural-multimedia-and-banned.html (23.6.2018).

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Abbildung 1: Willi Kollo / Bruno Hardt-Warden (Text), Willi Kollo (Musik): Sonntag geh’n wir tanzen, Schatz, Rückseite. Verlag Roehr, Berlin 1926, „Edition Roehr“, Nr. 911.

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Abbildung 2: Fritz Rotter (Text), Austin Egen (Musik): Jeder hat einen Schatz, nur ich hab’ keinen, Rückseite. Verlag Roehr, Berlin 1927, „Edition Roehr“, Nr. 935.

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Abbildung 3: Robert Krenn (Text), Alexander Peter (Musik): Wo die Tischerln mit Blüten bedeckt, Titelseite. Sirius-Verlag, Wien 1927.

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Abbildung 4: Rudi Trauner (Text), Fritz Trauner (Musik): Setz’ Di’ auf mei’ Pupperlhutsch’n, Rückseite. Phönix Verlag, Wien 1927, Nr. 0032.

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Jonny aus Kassel Am 30. März 1926 teilte Krenek seinem Verleger mit, er brüte „über einem großen Opernwerk mit eigenem Text, welches ich ganz leicht und zweckmäßig anlege, unter Benutzung hiesiger Erfahrungen. Das sollen nun wirklich alle fertig kriegen, sogar Cassler Sänger, wenn’s sein muß!“ (Ob das allerdings in Erfüllung ging, ist fraglich, zumindest war Krenek später über die Kasseler Aufführung unter Ernst Legal nicht erbaut.) 60 Nach gut vier Monaten hatte er, trotz der laufenden Arbeiten am und für das Theater, am 19. Juni Jonny spielt auf beendet. Es war noch nicht abzusehen, dass diese überaus theaterwirksame Oper seine praktische Arbeit am Theater schließlich beenden würde – wenn dies auch nicht mehr das Kasseler, sondern das Wiesbadener Staatstheater betraf –, umso weniger, als Krenek gerade erleben musste, dass der Hamburger Intendant Leopold Sachse, der die Oper schon angenommen hatte, als sie noch gar nicht fertig war, einen Rückzieher machte.61 Auch wenn sich nur sechs Wochen später der Leipziger Intendant Gustav Brecher stark interessiert zeigte, so war die Uraufführung der neuen Oper doch noch Zukunftsmusik. Viel konkreter war dagegen die Uraufführung von Orpheus und Eurydike im kommenden Herbst 1926, als Krenek sich nach einem Urlaub in Südfrankreich und der Schweiz höchst widerwillig in der ungeliebten Provinz wiederfand: „Es ist gräßlich, wenn man hieher zurückkommt“, schrieb er den Eltern am 18. August 1926.62 Die Briefe vom Herbst 1926 sind voll von Nachrichten über die Proben zu Orpheus. Tatsächlich machte er sich von seiner sonstigen Tätigkeit offenbar weitgehend frei, denn weder verfasste er in diesen Monaten bis zur Uraufführung am 27. November Programmheftartikel noch Bühnenmusiken63 oder Rundfunkvorträge,64 und auch vom Proben und Dirigieren anderer Werke ist nicht die Rede – nur über seine Oper Orpheus und Eurydike referierte und schrieb er.65 Dass er bei ihrer Einstudierung intensiv beteiligt war, versteht sich 60 Krenek/UE-Bw, Bd. 1, 205–206, hier 205. Die Premiere in Kassel von Jonny spielt auf fand am 3. November 1927 statt, als Krenek bereits nach Wiesbaden umgezogen war. Er war schon von den Proben nicht angetan, wie er seinen Eltern gestand (3. November 1927, WB, Sign. H.I.N. 116.368), und meinte rückblickend: „je weniger Worte man darüber verliert, desto besser.“ (Krenek, Im Atem der Zeit, 740.) 61 Krenek, Brief an die UE, 3. Juli 1926, in: Krenek/UE-Bw, Bd. 1, 219–221. 62 Dass er kurz darauf jedoch die Rilke-Gedichte O Lacrymosa vertonte, vertonen konnte, geht sicher auf den Impuls zurück, den ihm die gerade beendete Reise durch Frankreich und die Schweiz gegeben hatte; möglicherweise war er sogar wieder in Sierre gewesen (vgl. Krenek, Im Atem der Zeit, 704). 63 Vgl. die Tabelle oben. Einmal improvisierte er Musik zu Filmsequenzen, die die Pausen eines Stückes überbrückten (vgl. Krenek, Im Atem der Zeit, 718). 64 Das mag auch damit zusammenhängen, dass Karl Block bereits Mitte Mai 1926 den Kasseler Sender verlassen hatte und nach Berlin zur Funkstunde gegangen war. 65 Vgl. den in Anm. 46 erwähnten Vortrag Kreneks. Für das Programmheft der Uraufführung am 27. November 1926 schrieb er dann noch „Zur Uraufführung der Oper Orpheus und Eurydike“.

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von selbst; in den ersten Novembertagen begannen die Bühnen- und Orchesterproben, schrieb er am 19. Oktober an seinen Verlag, und er dürfe keine einzige versäumen. Die Anwesenheit des Komponisten war wohl auch deshalb sehr notwendig, weil Paul Bekkers ehrgeizigstes Kasseler Projekt die Möglichkeiten seines Hauses eigentlich überstieg, denn für alle Ensemblemitglieder bedeutete es die erste Begegnung mit einer atonalen Oper. Krenek beurteilte ihre Leistung später jedoch als ausgezeichnet und den Erfolg des Werkes als würdig.66 Übrigens war auch Oskar Kokoschka zur Premiere angereist, und der Kasseler Sender ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, die zweite Aufführung der Oper am 4. Dezember zu übertragen – eine damals noch rare Praxis, die auf das wachsende Renommee des jungen Komponisten schließen lässt.67 „Ich werde von Tag zu Tag berühmter wie man mir allseits versichert, sehe aber […] nicht womit“, hatte Krenek schon Anfang des Jahres an seinen Verleger geschrieben.68 Bald nach diesem Ereignis, nämlich Anfang des Jahres 1927, wurde offenbar, dass Bekker in der nächsten Spielzeit als Intendant ans Preußisches Staatstheater Wiesbaden wechseln und Krenek mitnehmen würde. Dass damit nicht nur dessen Zeit in Kassel, die noch monatelang sehr intensiv mit theatralen Projekten angefüllt war – unter anderem mit der Vorbereitung und Realisierung des Marionettenspiels Malborough s’en va-t-en guerre –, sondern seine Theaterarbeit überhaupt ihrem Ende zugehen würde, war noch nicht abzusehen. Es war der zunehmende und schließlich überwältigende Erfolg von Jonny spielt auf nach der Uraufführung am 10. Februar 1927 in Leipzig, der das beruf liche Verhältnis zwischen Bekker und Krenek allmählich aus dem Lot brachte: „[…] diese Art Beschäftigung, wie ich sie in Kassel am Theater hatte, paßt jetzt nun nicht mehr für mich“, schrieb der erfolgreiche Komponist seinen Eltern von seiner neuen Wirkungsstätte (25. November 1927); beider private Rivalität gab letztlich nur noch den Anlass zu Kreneks Kündigung. In Wiesbaden konnte er sich nicht mehr so akklimatisieren wie in Kassel. Dorthin kehrte er im Herbst 1927 mehrmals und nun offenbar sehr gern zurück – nicht nur wegen seiner Liaison mit der Schauspielerin Berta Herrmann, sondern auch wegen des Kreises von kunstliebenden Bewohnern Kassels, mit denen er sich in dem zwei Jahre währenden Intermezzo angefreundet hatte. Und was das Theater betrifft, so kehrte er vermutlich auch mit einiger Wehmut in die Stadt zurück. Es scheint, dass er seine ehemalige Wirkungsstätte erst richtig schätzen lernte, als er nach Wiesbaden kam, in diese im Gegensatz zu Kassel zwar geographisch zentral 66 Krenek, Im Atem der Zeit, 709. 67 Die erste Opernübertragung aus dem Kasseler Theater hatte am 21. Mai 1926 stattgefunden (Mozarts Entführung aus dem Serail); in der Spielzeit 1926/27 wurden dann außer Kreneks Opus noch neun der insgesamt 73 aufgeführten Opern übertragen. 68 Krenek, Brief an Hertzka, 21. Januar 1926, in: Krenek/UE-Bw, Bd. 1, 200–201, hier 200.

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gelegene Stadt mit internationalem Flair, deren Opernhaus allerdings weder in seiner Baulichkeit noch in seiner Ausstattung dem prächtigen und mit modernster Technik versehenen Kasseler Theater das Wasser reichen konnte. Dessen technische Möglichkeiten hatte er vermutlich auch im Blick gehabt, als er die spektakulären Bühneneffekte des Jonny entwarf; die erste Szene, die er komponierte, war die des Max im Polizeiauto,69 das sich um 90° drehen und das Publikum mit Riesenscheinwerfern blenden soll. Dass mit der Uraufführung von Orpheus und Eurydike in Kassel eine frühe Kompositionsphase abgeschlossen wurde, war vermutlich nicht erst eine spätere Erkenntnis Kreneks.70 Während der letzten Probenphase des Orpheus liefen immerhin bereits die Vorbereitungen zur Uraufführung seiner nächsten Oper Jonny spielt auf, und er hatte sogar bereits ein neues Opernprojekt begonnen: Der erste der geplanten drei Einakter war bereits im vorangegangenen Sommer entstanden (zwischen Abschluss des Jonny und Beginn des Diktators lagen nur vierzehn Tage), und zehn Tage nach der Orpheus-Premiere fing er mit dem zweiten an (den er eine Woche nach der Jonny-Uraufführung beendete). Nicht nur der stilistischen Unterschiede war sich Krenek bewusst, sondern vor allem auch der damit verfolgten Ziele. Im Januar 1923, ein Vierteljahr vor dem Beginn der Vertonung von Kokoschkas Schauspiel und vermutlich noch am Anfang der Arbeit an der komischen Oper Der Sprung über den Schatten op. 17, sandte Krenek seinen ersten ( jedenfalls den ersten erhaltenen) Brief an Alban Berg; den Anlass bot der jüngst erschienene Klavierauszug des Wozzeck, den er gerade durch seine Schwiegermutter in spe, Alma Mahler, erhalten hatte. Krenek schrieb, er freue sich darüber, dass Berg rein musikalische Prinzipien auf die Oper, ein scheinbar von außermusikalischen Gesetzen beherrschtes Gebiet, anwende, denn er erkenne darin die Einsicht, Musik sei nur um der Musik willen da. Er selbst sehe die notwendige Beziehung der Musik zum Text allein darin, dass sie eine annähernd passende Grundfarbe habe und ihre Intensitäts- oder Bewegungskurve genau parallel zu der des Textes verlaufe: Ich gehe soweit – dieses aber ist graue Theorie –, daß man eine Oper nicht nur ohne Text, nämlich mit passenden Instrumenten an Stelle der Singstimmen, aufführen können muß, sondern daß man ihr theoretisch auch einen ganz anderen Text unterlegen kann, wenn er mit dem ersten bloß die Höhe-, Tief- und Wendepunkte gemeinsam hat und ganz ungefähr in den Stimmungen ähnlich ist. Das Stoff liche darf sich in der Musik auf keine Weise spiegeln. Das ist aber bei Gott nur cum grano salis zu nehmen! Fürchten Sie nicht, daß ich ‚Wozzeck‘ einen neuen Text unterlegen will!71 69 Krenek, Im Atem der Zeit, 661. 70 Ebd., 704. 71 Krenek, Brief an Alban Berg, 20. Januar 1923 (ÖNB, Nachlass Berg, Sign. F21.Berg.974/1–22).

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Diese für die neue Musik der beginnenden zwanziger Jahre typische Ästhetik72 verfocht der junge Opernkomponist allerdings nur bis zu Orpheus und Eurydike. Drei Jahre später verkündete er seinen Abfall von der reinen Lehre: Noch vor nicht langer Zeit hat man die Eigengesetzlichkeit der Musik gegen ihre Untertanenschaft in der Oper ausgespielt […] Zum Teil war es wohl eine Reaktion gegen die formauf lösenden Unübersichtlichkeiten der Wagnerschen Faktur, zum Teil eine gewisse Ängstlichkeit der neue Wege gehenden Musik, die ihren Formenschatz erst suchte und von einer außermusikalischen Beziehung eine Trübung ihrer Bestrebungen fürchten mochte – alles in allem war es eine Lebensfremdheit […, die] sich unter anderem zunächst darin äußerte, in der Oper ein primär-musikalisches Gebilde zu sehen und dann in diesem die aus einer, wenn auch stellenweise begreif lichen Überschätzung der Methode gewonnenen Gesetze geltend zu machen. Das Theater hat mit solchen ewigen Gesetzen nichts zu tun. Es ist direkte Gestaltung des lebendigen Lebens, sein Sinn und Zweck nichts anderes als, ganz banal gesprochen, einen Abend von hundert Mitwirkenden und tausend Zuschauern zu füllen, zu gestalten, zu einem Erlebnis zu machen. […] Die Tätigkeit des Opernautors ist eine zum größten Teil arrangierende. Er hat die Bedingtheiten und Gegebenheiten einer so gut wie unwandelbaren Institution zu benützen […] das Wesentliche ist, in jedem Augenblick die Rolle dieser Musik in der jeweiligen Situation zu bedenken.73

Krenek berief sich im weiteren Verlauf des Aufsatzes, wie auch später immer wieder, auf seine inzwischen außerhalb von Deutschland und Österreich gesammelten Erfahrungen mit zeitgenössischer westeuropäischer Musik und Bühnenkunst. Doch der ganze Tenor dieses Aufsatzes zeigt den Einf luss der praktischen Theatererfahrung auf sein Denken. Wenn er auf die Berücksichtigung der „Materialbestimmtheit“ der Oper pochte und als Zeugen die „lateinische“ Musik- und Theaterkunst des 18. Jahrhunderts aufrief, so erinnert man sich daran, dass er ihr in Gestalt der Werke von Cimarosa, Rameau, Gluck, Niccolò Piccinni, Pergolesi, Duny und André Ernest Modeste Grétry im Kasseler Staatstheater begegnet war. Im Begleitbrief zu diesem Aufsatz an die UE wurde ihm am 2. Januar 1927 plötzlich klar, dass sich die Provinz nicht mehr in Kassel manifestierte: Im ganzen haben diese Werke [Wozzeck und Cardillac] eben für mich doch die Tendenz, die Musik gegen das Theater auszuspielen. Alle diese gekränkten 72 Sie gründete sich auf Busonis Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, der für die um 1900 geborenen jungen Komponisten die angestrebte Abkehr von der Spätromantik fundierte. 73 Ernst Krenek, „‚Materialbestimmtheit‘ der Oper“ [1927], in: Zur Sprache gebracht, München 1958, 25–30.

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Claudia Maurer Zenck Leute74 sind im Grunde am meisten darüber gekränkt, daß man ihnen klar macht, wie sie langsam zu Provinzbewohnern im Geiste werden. Die Welt ist eben doch größer als der doppelte Kontrapunkt oder der Krebskanon, und das Theater braucht eine kräftigere Kost als die kleinen handwerklichen Arbeiten und Nippessachen erleuchteter Geister.

Wenn Canetti über den Schock von 1921 ref lektierte: Vielleicht wäre ich glücklich geblieben, hätte sie [die Mutter] mich nicht fortgerissen. Es ist aber wahr, daß ich andere Dinge erfuhr als die, die ich im Paradies kannte. Es ist wahr, daß ich, wie der früheste Mensch, durch die Vertreibung aus dem Paradies erst entstand,75

so lässt sich Ähnliches über Krenek sagen: Er wäre nicht zu Krenek geworden ohne den Stoß aus dem warmen Schweizer Nest in die Ödnis der scheinbaren Provinz, die ihm zwei an Erfahrungen überreiche Jahre bescherte.

74 Vermutlich spielte Krenek auf den Konflikt mit Schönberg an, den sein Vortrag von 1925 heraufbeschworen und der zu Schönbergs Erwiderung in einer der Satiren op. 28 geführt hatte (siehe oben, 524). 75 Canetti, Die gerettete Zunge, 319.

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Egon Wellesz: Lieder aus Wien auf „wienerisch“ und „cockney“ * Hartmut Krones Hätte Anfang März 1938 in Österreich eine Umfrage stattgefunden, wer zu den bedeutendsten lebenden Komponisten unseres Landes zu zählen sei, wäre allenthalben sehr schnell der Name Egon Wellesz gefallen. Soeben, am 19. Februar, hatten die Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Bruno Walter seine Symphonische Suite Prosperos Beschwörungen op. 53 zur Uraufführung gebracht, und weitere Aufführungen des Werkes standen (wieder unter Walter) durch das Amsterdamer Concertgebouworkest bevor, und zwar am 13. März in Amsterdam sowie am 16. März in Rotterdam. Bruno Walter hatte den Prospero in Holland anstelle eines Werkes (Tod und Verklärung) des ehemaligen Präsidenten der nationalsozialistischen Reichsmusikkammer Richard Strauss auf das Programm gesetzt.1 Zwei Jahre vorher, am 7. und 8. März 1936, hatten die Wiener Philharmoniker (unter Felix Weingartner) Wellesz’ (1921 in Bochum uraufgeführtes) „symphonisches Stimmungsbild“ Vorfrühling in ihr Programm aufgenommen, und 1931 (UA 20. Juni) sowie 1932 ging seine Oper Die Bakchantinnen nach Euripides sogar in der Wiener Staatsoper unter der Leitung von Direktor Clemens Krauss über die Bühne. 2 Schließlich waren 1934 und 1935 im Anbruch, einer der wichtigsten europäischen Zeitschriften für den Bereich der modernen Musik, zwei große Artikel über den Komponisten erschienen, in denen er ein geradezu überschwengliches Lob als „Musiker […], der diese ganzen Jahre hindurch der Verantwortung des schöpferischen Künstlers in hohem Maße bewußt gewesen ist“, erfahren hatte sowie als Meister, in dessen Œuvre „die Grundelemente der Musik neu erlebt und neu in Zusammenhang zueinander gebracht [werden]: Melodie, Harmonie und Rhythmus“. 3 In dem Artikel zu seinem 50. Geburtstag attestierte der Autor dem Komponisten zudem, daß „sein Werk für die künstlerische Gegenwart aktueller *



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Da der Artikel eine äußerst große Anzahl von Zitaten aufweist, die in der alten Rechtschreibung abgefaßt sind, bedient sich auch der Autor der alten Rechtschreibung, um bei unmittelbarem Nebeneinander von Zitat und Eigentext nicht zu verwirren. Emmy Wellesz, „Die späten Jahre – zumeist in Wien“, in: Egon und Emmy Wellesz, Egon Wellesz. Leben und Werk, hg. von Franz Endler, Wien und Hamburg 1981, 217–248, hier 246. 1931 waren es drei Aufführungen (20. Juni, 29. Juni, 21. Oktober), 1932 (am 17. Juni) noch eine, und zwar als „Festvorstellung“ im Rahmen des zehnten Internationalen Musikfestes der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (Das Kleine Blatt 6/165, 15. Juni 1932). Otto Fritz Beer, „Egon Wellesz“, in: Anbruch XVI/8 (1934), 174–177, hier 174.

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ist denn je“ und den Beweis erbringe, „daß Jugend keine Altersstufe ist, sondern eine Charaktereigenschaft“.4 1938 erinnerte man sich in Wien zudem noch ganz genau, daß Wellesz bis vor wenigen Jahren auch in Deutschland einer der meistgespielten zeitgenössischen Komponisten gewesen war – bis der allgemeine Gesinnungsterror auch der Freiheit der Kunst endgültig ein Ende bereitet hatte. Die Oper Die Prinzessin Girnara gelangte am 14. Mai 1921 in Frankfurt am Main sowie in Hannover gleichsam zu einer „Doppel-Uraufführung“ und wurde am 2. September 1928 (in einer zweiten Fassung) noch in Mannheim realisiert, die Oper Alkestis war nach ihrer Mannheimer Premiere vom 20. März 1924 noch in Gera, Bremen, Köln, Darmstadt, Dessau, Stuttgart, Coburg sowie Berlin über die Bühne gegangen (und 1932 in der Wiener Radio Verkehrs AG [RAVAG] konzertant erklungen), und den Einakter Scherz, List und Rache konnte man in Stuttgart (1. März 1928), Magdeburg, Mannheim, Dortmund, Lübeck sowie Görlitz sehen (aber 1930 auch konzertant in der Wiener RAVAG hören). Doch auch das Arnold Schönberg gewidmete Persische Ballett sowie die Ballette Das Wunder der Diana, Achilles auf Skyros, Die Nächtlichen und Die Opferung des Gefangenen waren 1924 bzw. 1926 in Deutschland aus der Taufe gehoben worden. 5 Noch am 15. November 1932 hatte Hermann Abendroth in Köln die Kantate Mitte des Lebens op. 45 auf das Programm gesetzt, die von Wellesz der Universität Oxford zum Dank für das soeben erhaltene Ehrendoktorat zugeeignet worden war:6 „Hoc opus Universitati Oxoniensi d.[edicationem] d.[edidi] Egon Wellesz, Oxford 10. V. 1932“ 7. Ein Jahr später war in Deutschland aus dem gefeierten Komponisten ein verfemter bzw. „entarteter“ geworden. Im März 1938 erlitt Egon Wellesz dieses Schicksal nun auch noch ganz persönlich – in Österreich. Er kehrte (nach den Prospero-Aufführungen) von den Niederlanden wohlweislich nicht mehr nach Österreich zurück und konnte bereits eine Woche später eine Einladung nach London annehmen, die zunächst dem Wissen4 5

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Otto Fritz Beer, „Egon Wellesz. Ein Bild seiner Persönlichkeit zum 50. Geburtstag“, in: Anbruch XVII/9 (1935), 241–244, hier 241. Persisches Ballett: UA in Donaueschingen am 20. Juli 1924, weitere Aufführungen in Münster, Hannover, Mannheim, Gera, Darmstadt, Stuttgart, Saarbrücken, Plauen, Düsseldorf, Dresden und Mainz sowie in Brünn; Das Wunder der Diana: UA in Mannheim am 20. März 1924; Achilles auf Skyros: UA in Stuttgart am 4. März 1926, danach in Dessau, Chemnitz und Barmen; Die Nächtlichen: UA in Berlin am 20. November 1924, weitere Aufführungen 1928 in Erfurt; Die Opferung des Gefangenen: UA in Köln am 10. April 1926, dann in Magdeburg und Berlin. Die Daten und Orte der Aufführungen sind entnommen aus Knut Eckhardt und Hannes Heher (Hg.), Egon Wellesz. Kompositionen, Göttingen 21997, aus dem Archiv der Universal Edition sowie aus Hinweisen in der Musikzeitschrift Musikblätter des Anbruch (1924–28) bzw. Anbruch (1929–34). Siehe W. Jacobs, „Köln: Kantate von Wellesz“, in: Anbruch XIV/IX–X (1932), 214. Egon Wellesz. Komponist. Byzantinist. Musikwissenschaftler. Ausstellung 30. März bis 5. Mai 2000 […] [Ausstellungskatalog], hg. von der Österreichische Akademie der Wissenschaften und dem EgonWellesz-Fonds bei der Gesellschaft der Musikfreunde, Wien 2000, 63.

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schaftler galt und ihm schließlich eine Berufung an die Universität Oxford eintrug. 8 Nachdem seine Familie (Gattin Emmy, eine bedeutende Kunsthistorikerin, sowie die Töchter Magda und Elisabeth) im Juli 1938 „nachemigriert“ war und sich Wellesz schließlich in Oxford akklimatisiert hatte, begann er nach fünfjähriger Pause, 1943, auch wieder zu komponieren.9 Dennoch: Der politisch bedingte Bruch seiner schöpferischen Lauf bahn sollte nie wieder vollständig überwunden werden. Seine Bühnenwerke fanden nach 1945 kaum mehr Aufnahme in die Spielpläne, und selbst die Instrumentalmusik war vielen Konservativen nach wie vor zu modern; die neue Avantgarde hingegen verwarf sie als „gestrig“ und befand sie für unakzeptabel.10 Das führte letzten Endes so weit, daß der Mitbegründer der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik 30 Jahre nach seiner epochalen Tat auf den Festivals seines Schmerzenskindes nicht mehr gespielt wurde.11 Der tiefe Bruch in Wellesz’ Weg als Komponist dokumentiert sich auch in der Wahl der Gattungen und Sujets. Hatte Wellesz bis 1938 vor allem zeitlos gültige Stoffe aus der griechischen Antike in Bühnenwerke einf ließen lassen und aus der Auseinandersetzung mit diesen Themen humanistisch-weltanschauliche Aussagen von musiksprachlicher Schlagkraft gewonnen, so verstummte der Theaterkomponist Egon Wellesz bald für immer (wenn man von der Oper Incognita von 1951 einmal absieht). An seine Stelle trat der Schöpfer von Symphonien sowie von Kammermusik, aber auch von Liedern und geistlicher Musik, als wenn an die Stelle der extrovertierten Bühne das Refugium von ‚absoluter‘ sowie von intimer, zutiefst persönlicher Musik treten sollte. Und dieser Wandel war zugleich eine Rückkehr zu den Wurzeln der Wellesz’schen Musiksprache und daher zum Idiom der österreichischen Tradition, zu welchem sich der Komponist gerade in seiner englischen Zeit immer wieder vehement bekannte. 8

Wellesz, „der zunächst intendierte, nach Österreich zurückzukehren“, reiste dann aber doch am 24. März nach London, „um auf Einladung des befreundeten Musikhistorikers Henry Colles an der 4. Auflage von ,Groves Dictionary of Music‘ mitzuarbeiten“ (Peter Revers, „Egon Wellesz“, in: Österreichische Musikzeitschrift 43 (1988), 197–200, hier 198 [= 50 Jahre danach, in: ebd., 171–205]). Vgl. auch Peter Revers, „‚Es war nicht leicht, sich in die völlig veränderten Verhältnisse einzugewöhnen‘. Egon Wellesz’ Emigrationsjahre in Oxford“, in: Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930–1940, hg. von Friedrich Stadler, Münster 2004 (= Emigration – Exil – Kontinuität. Schriften zur zeitgeschichtlichen Kultur- und Wissenschaftsforschung 2), 616–620. 9 Wellesz begann „im Frühjahr 1943 […], nach fünfjähriger Pause ein Streichquartett zu komponieren; in einer düsteren Zeit entstanden, sollte es ein Abschied vom früheren Leben und den Freunden meiner Jugend- und Mannesjahre sein. Das besagt die Widmung ,In Memoriam‘. […] Die Komposition dieses 5. Streichquartettes machte mir die Bahn für künftiges Schaffen frei.“ (Zit. nach Eckhardt / Heher (Hg.), Egon Wellesz, 32.) 10 Siehe Nina-Maria Wanek, Egon Wellesz in Selbstzeugnissen. Der Briefnachlaß in der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien 2010, insbes. 104–116, 150–194. 11 Vgl. Hartmut Krones, „Rudolf Réti, Egon Wellesz und die Gründung der IGNM“, in: Österreichische Musikzeitschrift 37 (1982), 606–623; Anton Häfeli, IGNM. Die Internationale Gesellschaft für Neue Musik. Ihre Geschichte von 1922 bis zur Gegenwart, Zürich 1982, passim.

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Denn Wellesz, der am 21. Oktober 1885 in Wien geboren wurde, stand stilistisch zunächst noch vornehmlich im Banne von Anton Bruckner und Gustav Mahler, ehe er unter dem Einf luß seines Kompositionslehrers Arnold Schönberg die Tonalität verließ und sich einer expressiv-gestischen Tonsprache zuwandte, die aber nie jenen „Sprachcharakter“ aufgab, den etwa Schönberg oder Webern immer (speziell auch unter semantischen Aspekten) in emphatischer Weise einforderten.12 Dabei ging es ihm, der sich auch wissenschaftlich speziell mit dem Problem der Oper und ihren Aussage-Möglichkeiten beschäftigt hatte, nach eigener Aussage vornehmlich um die „Darstellung des Gefühlhaften“, ja des „Triebhaften der Empfindung“,13 und dies in möglichst allgemein gültiger und allgemein verständlicher Weise. Und das führte in seinem Falle, der er überzeugter und wissender Vertreter der damals noch allenthalben hochgehaltenen humanistischen Bildung war, geradezu zwangsläufig dazu, daß er Sujets aus der griechischen Antike auf die Bühne stellte. Als Wellesz in der englischen Emigration wieder zu seinem Schaffen fand, spürte er, nicht zuletzt aus naheliegenden autobiographischen Gründen, in immer stärkerem Maße der Ausdruckswelt der europäischen und speziell der österreichischen Musikgeschichte nach, und dies in Übereinstimmung mit SyntheseTendenzen der internationalen „klassischen Moderne“, wenn man nur an Igor Strawinsky, Paul Hindemith, Darius Milhaud oder selbst an Schönberg denkt, der ebenfalls zu den traditionellen Formen von Oper, Konzert und Variation fand und lediglich die Symphonie aussparte (wenngleich es von ihm durchaus weitgehende Vorarbeiten zu einer solchen gibt). Wellesz hingegen verschrieb sich dieser Gattung in besonderem Maße, da ihm, der er laut eigener Aussage des Jahres 1945 „in der österreichischen Musiktradition aufgewachsen“ war, „die Symphonie immer als das höchste Medium der musikalischen Aussprache erschien.“ So wurde ihm die 1945 geschriebene Erste Symphonie op. 62 vor allem „die geistige Rückkehr zu meinen großen Ahnen“,14 die Vierte Symphonie erhielt vollends den bekennerischen Beinamen Austriaca, und bis zu seiner Neunten Symphonie setzte sich Wellesz Stück für Stück mit Facetten der symphonischen Tradition auseinander, immer zu neuen, persönlichen Antworten und Lösungen findend. Daß dabei, in der latent vorhandenen Auseinandersetzung mit der Dodekaphonie, „immer wieder […] die Tendenz zur chromatischen Totale durch[bricht], so etwa in den eigenartig dissonierenden Reibungen zwischen zugrundeliegender Akkordik und 12 Vgl. Hartmut Krones, Arnold Schönberg. Werk und Leben, Wien 2005, insbes. 17–26, und Anton Webern, Der Weg zur Neuen Musik, hg. von Willi Reich, Wien 1960, insbes. 17–18. 13 Egon Wellesz anläßlich der Mannheimer Aufführung der Prinzessin Girnara im Mannheimer Stadtanzeiger, 1. September 1928, zit. nach Robert Schollum, egon wellesz, Wien o. J. [1963] (= Österreichische Komponisten des XX. Jahrhunderts 2), 21. 14 Ebd., 51.

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melodischer Linie“, hat nicht zuletzt Peter Revers insbesondere am Beispiel der Fünften Symphonie herausgearbeitet.15 Ähnliches gilt für den Bereich der Kammermusik ebenso wie für das Lied, für die Kirchenmusik ebenso wie für die Chormusik, und als der Komponist am 9. November 1974 in seinem englischen Exil starb, war den Wissenden klar, daß nicht nur einer der ganz Großen sowohl der Musik als auch der Musikwissenschaft des 20. Jahrhunderts seinen Abschied genommen hatte, sondern vor allem auch ein – trotz seines 36-jährigen Exils – großer Österreicher. Ein besonders „österreichisches“, speziell „wienerisches“ Werk begegnet uns in der Oktober bis Dezember 1959 verfaßten Sammlung Lieder aus Wien op. 82, fünf Liedern für Bariton und Klavier nach Texten von H. C. Artmann (1921–2000), und zwar aus dessen Erfolgsbuch par excellence „med ana schwoazzn dintn“. Die Uraufführung der Komposition fand am 15. Mai 1964 in Wien im Musiksalon des Verlages Doblinger durch Robin Fairhurst und Roman Ortner statt. Fairhurst realisierte dann im Nachklang dieser Aufführung am 14. Juli 1964 in Oxford zusammen mit dem Pianisten Antony Lindsay eine englische Version, und zwar in „cockney“, also im schwärzesten englischen Dialekt. Neben der Klavierfassung hat Wellesz auch eine Einrichtung für Bariton und Gitarre (op. 82a) erstellt, die dann fast 20 Jahre auf ihre Uraufführung warten mußte. Diese fand dafür in Graz statt, und zwar am 21. Juni 1985 im Florentinersaal der damaligen Hochschule für Musik und darstellende Kunst durch Peter Thunhart und Leo Witoszynskyj, der das Werk im Vorfeld „revidiert und eingerichtet“ hatte.16 Diese Grazer Uraufführung besitzt eine Vorgeschichte von nahezu zwei Jahrzehnten, über die angesichts des ‚Grazer Anlasses‘ dieser Festschrift berichtet werden soll: Mit Datum 7. Juni 1967 wurde Egon Wellesz zum Ehrenmitglied der damaligen Akademie für Musik und darstellende Kunst ernannt, aus welchem Anlaß zunächst der „Kammermusikkreis Walter Klasinc“ am 7. November 1967 einen „Kompositionsabend Egon Wellesz“ veranstaltete, bei dem neben Kammermusik auch die Lieder aus Wien zur Aufführung gelangten.17 Über Ersuchen von 15 Peter Revers, „Die Schönberg-Rezeption in den frühen Symphonien von Egon Wellesz“, in: Miscellanea Musicae. Rudolf Flotzinger zum 60. Geburtstag, hg. von Werner Jauk, Wien 1999 (= Musicologica Austriaca 18), 257–267, hier 261. 16 Egon Wellesz, Lieder aus Wien, op. 82a, eingerichtet von Leo Witoszynskyj. Der Verlag Doblinger versendet auf Nachfrage eine Kopie der in eine Autograph-Kopie eingetragenen und mit einem Vorwort versehenen Einrichtung. 17 Dieser „Abend zeitgenössischer Musik“ fand interessanterweise „gemeinsam mit dem Studio für Probleme zeitlich naher Musik“ (!) statt. Einer Zeitungskritik aus der Südost-Tagespost, für deren Aushebung und Zusendung ich Wolfgang Madl vom Archiv der Kunstuniversität Graz herzlich danke, kann das Programm des Abends (teilweise?) entnommen werden: Zwei Stücke für Klarinette und Klavier op. 34, Lieder aus Wien, Lieder aus der Fremde op. 15, sowie das Sechste Streichquartett

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Klasinc (Brief vom 23. Oktober)18 hatte Wellesz, der die Einladung zum persönlichen Erscheinen bei dem Konzert nicht annehmen konnte, selbst „Zeilen für das Konzertprogramm“ beigesteuert, für die sich Klasinc dann am 12. November19 im Zuge seines Berichtes über den Abend herzlich bedankte. Der Präsident der Akademie, Erich Marckhl, hatte dem Komponisten seinerseits am 10. November einen Mitschnitt des „von der Kammermusikklasse Walter Klasincs und der Sologesangsklasse von Dino Halpern durchgeführten“ Konzertes gesandt und seiner Freude Ausdruck gegeben, daß der Abend gut besucht und ein großer Erfolg gewesen war. Gleichzeitig bat er Wellesz, zu einem ihm genehmen Termin nach Graz zu kommen, weil man ihm die Urkunde der Ehrenmitgliedschaft gerne persönlich überreichen würde. 20 – Über den Mitschnitt des Konzertes und insbesondere der Lieder aus Wien äußerte sich Wellesz am 29. November dem Leiter des Verlages Doblinger, Herbert Vogg, gegenüber in überaus lobender Weise: Ich habe vom Präsidenten der Grazer Musikakademie das Band des Kompositionsabends am 7. XI. mit meiner Kammermusik erhalten, das uns hier sehr gefallen hat. Die ,Lieder aus Wien‘ habe ich noch nie so eindrucksvoll gehört. Das VI. Quartett und die Viola Rhapsodie waren sehr gut, ebenso die 5 Miniaturen f. Viol. & Klavier. 21

Die Verleihung der Ehrenmitgliedschaft der Akademie durch Erich Marckhl fand dann am 27. März 1968 im Rahmen eines Festaktes im damaligen Hauptgebäude in der Nikolaigasse 2 statt (Abb. 1). Am selben Abend hielt Wellesz im Institut für Werkpraxis in Verbindung mit der Johann Joseph Fux-Gesellschaft, die ihm bereits 1961 die Johann-Joseph-Fux-Medaille „Pro Musica Austriaca“ verliehen hatte, im Palais Saurau (Sporgasse 25) einen Vortrag: „Johann Joseph Fux – Eine Würdigung“. – Und nun lassen wir Leo Witoszynskyj (1941–2008), den langjährigen Lehrer bzw. Professor für Gitarre an der Grazer Akademie, Hochschule und

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op. 64 (Dr. A. Szateasny, „Akademie: Egon-Wellesz-Konzert“, in: Südost-Tagespost, 11. November 1967). Da der Österreichische Rundfunk (Lokalprogramm Steiermark) am 1. Dezember Teile des Konzerts gesendet hat und das Programm dieser Sendung im Archiv der KUG Graz erhalten ist, ist anzunehmen, daß die gesendete Rhapsodie für Viola solo (op. 87) ebenfalls am 7. November gespielt wurde. Die Lieder aus Wien wurden von Reinhold Möser gesungen und von Emmi Schmidt begleitet. – Des weiteren danke ich der Archiv-Leiterin Susanne Kogler für die Möglichkeit der unbürokratischen ‚Fern-Benützung‘ der Bestände. Walter Klasinc, Brief an Egon Wellesz, 23. Oktober 1967, in: „Fonds Wellesz“, Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, Sig. F13.Wellesz.1335 MUS MAG. Walter Klasinc, Brief an Egon Wellesz, 12. November 1967, in: ebd., Sig. F13.Wellesz.1335 MUS MAG. Erich Marckhl, Brief an Egon Wellesz, 10. November 1967, in: ebd., Sig. F13.Wellesz.1047 MUS MAG. Zit. nach Herbert Vogg (Hg.), Am Beispiel Egon Wellesz. Sein Briefwechsel mit Doblinger als Zeugnis der Partnerschaft zwischen Komponist und Verlag, Wien 1996, 91.

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Kunstuniversität sowie „Geburtshelfer“ der Gitarrenfassung der Lieder aus Wien weiterberichten: Am Vorabend dieses Festaktes besuchte der Ehrengast ein Konzert, in dem ich als Gitarrist mitwirkte. Damals erfuhr ich von ihm, daß er von seinen ,Liedern aus Wien‘, op. 82, auch eine autonome Fassung mit Gitarre angefertigt habe. Als ich zehn Jahre später im Auktionskatalog eines Wiener Antiquariats das Autograph des Liedes ,wos unguaz‘ angekündigt fand, erinnerte ich mich dieses Hinweises und sicherte mir die Besitzrechte. Bald darauf erfuhr ich von Frau Elisabeth Kessler, daß es sich bei diesem Autograph um eine Einzelabschrift ihres Vaters handle und der vollständige Liederzyklus nunmehr in die Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek eingegliedert sei. Mit freundlicher Genehmigung von Frau Kessler habe ich aus den Autographen die vorliegende Ausgabe erstellt, wobei Skizzen der beiden ersten Lieder sowie die im gleichen Verlag erschienene Fassung mit Klavier ihre Berücksichtigung fanden. Naturgemäß hat Wellesz den Begleitpart der Gitarre sparsamer gehalten, behandelt aber auch die Gesangstimme unterschiedlich zur Klavierfassung. Wie sensibel er auf die individuellen Ausdrucksmöglichkeiten der Begleitinstrumente eingegangen ist, lassen die voneinander abweichenden Tempoangaben, dynamischen Bezeichnungen und Artikulationen erkennen. 22 Aus der Datierung der beiden Fassungen geht hervor, daß sie zur gleichen Zeit entstanden sind: Oktober bis Dezember 1959. 23

Graz hat sich übrigens auch weiterhin des Ehrenmitgliedes seiner Akademie angenommen: Ihm zu Ehren veranstaltete das damalige Institut für Wertungsforschung 1982 (unter seinem Leiter Otto Kolleritsch) im Rahmen des „Steirischen Herbst“ ein Symposion „Egon Wellesz“, 24 und noch zu Lebzeiten des Komponisten war am 25. Oktober 1969 in Gleisdorf sein über Auftrag des ORF für das Musikprotokoll des Steirischen Herbstes geschriebenes Canticum sapientiae op. 104 für Bariton, gemischten Chor und Orchester zur Uraufführung gelangt. Die Lieder aus Wien sind nicht nur ein spezifisch „österreichisches“ Werk, sondern stehen auch am Beginn der ersten ‚Quasi-Rückholung‘ des Komponisten. 1963 hatte Robert Schollum seine Studie über Egon Wellesz in der Reihe Öster­reichische Komponisten des XX. Jahrhunderts vollendet, und 1962 im Zuge von deren Vorbereitung mit dem Verlagsleiter von Doblinger, Herbert Vogg, über 22 Die Tempobezeichnungen sind folgende (in Klammer die jeweilige Bezeichnung der Fassung op. 82a): 1. 6/8, „Sehr ruhige punktierte Viertel“ („Ruhig“); 2. 6/8, „Leicht bewegte Achtel“ („Leicht bewegte Achtel“); 3. 3/4, „Ruhig fließend „(2/4, „Ruhig“); 4. 3/4, „Bewegt“ („Etwas bewegt“); 5. 2/4, „Gehende Viertel“ („Gehende Viertel“). 23 Leo Witoszynskyj, „Vorwort“, in: Egon Wellesz, Lieder aus Wien, op. 82a. 24 Der Symposionsbericht erschien 1986: Otto Kolleritsch (Hg.), Egon Wellesz, Wien 1986 (= Studien zur Wertungsforschung 17).

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Abbildung 1: Veranstaltungen der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Graz, März/ April 1968. Archiv der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz, Sig. UAKUG_AK_ PLS_081. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

die Möglichkeit gesprochen, Werke des Emigranten in Wien zu verlegen. Nach den ersten, über Schollum vonstattengegangenen Vorbereitungen schrieb dann am 31. Juli 1962 der Verlags-Inhaber Christian Wolff unter anderem an Egon Wellesz: Gestern war Herr Prof. Schollum in unserem Haus und überbrachte Herrn Dr. Vogg die Manuskripte Ihrer beiden Klavierwerke op. 6 und op. 29. Ich möchte Ihnen umgehend für das ehrenvolle Angebot danken, das Sie uns mit der Überlassung dieser Kompositionen machen; ich weiß diese Ehre wohl zu schätzen und würde mich freuen, wenn die Drucklegung dieser kleinen, aber hochinteressanten und schönen Klavierstücke den Beginn einer gedeihlichen Zusammenarbeit zwischen Ihnen und unserem Verlag bezeichnen würde. […] Herr Prof. Schollum versprach auch, uns das Manuskript Ihrer ,5 Lieder aus Wien‘ nach ArtmannTexten zu übergeben. Ich könnte mir denken, daß diese Lieder ebenfalls sehr gut in den Rahmen unserer Verlagsproduktion passen. 25

Und in Wellesz’ Antwort vom 5. August 1962 lesen wir: 25 Christian Wolff, Brief an Egon Wellesz, 31. Juli 1962, zit. nach Herbert Vogg (Hg.), Am Beispiel Egon Wellesz, 1.

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Hartmut Krones Ich freue mich, daß Ihnen die von Prof. Schollum überbrachten Klavierstücke für Ihren Verlag passen; sie gehören nach Wien, wo sie entstanden sind. So ist es auch mit den ,Liedern aus Wien‘, deren Atmosphäre zuerst einmal in Wien aufgenommen werden muß. 26

1963 schlossen der Verlag Doblinger und Egon Wellesz den Vertrag über die Lieder aus Wien ab, die dann 1964, rechtzeitig für die Wiener Uraufführung vom 15. Mai, in Druck gingen. – Über die englische Erstaufführung („in cockney“) lesen wir dann in einem Brief des Komponisten vom 18. Juli 1964 an Herbert Vogg folgendes: Dienstag (14. Juli) sang Robin Fairhurst meine Lieder aus Wien in der Wigmore Hall. Saal voll, excellente Aufführung und starker Beifall. Kritik in der Times großartig für Sänger, schwach für mich (kein Wunder: ich hatte den Kritiker in Cambridge durchfallen lassen aber das unter uns […]). Er findet ,effective setting‘ aber ,perhaps not enough variety‘. Ich glaube, richtig vorgetragen, ist genug Abwechslung zwischen den 5 Liedern. […] Ja, die ,Lieder aus Wien‘ hat Fairhurst mit einem englischen Cockney-Text gedruckt, sehr geschickt, so dass das Publikum wusste um was es geht. Ich habe den Text in ein Exemplar mit Tinte eingetragen. 27

Am 5. November 1967 ist in einem Brief an Herbert Vogg erstmals von der Gitarrenfassung die Rede: „Ich werde Ihnen die Lieder aus Wien mit Guitarrebegleitung schicken und Sie bitten, die Begleitung Prof. Karl Scheit vorzulegen.“ 28 Karl Scheit hat sich dann offensichtlich nicht für das Werk interessiert, wie auch der von mir befragte Herbert Vogg annimmt, und es an Leo Witoszynskyj weitergegeben. Die Lieder aus Wien dokumentieren in berührender Weise das Heimweh des (laut Robert Schollum in der Schottengasse 10) im 1. Wiener Bezirk geborenen 29 emigrierten Wiener Komponisten, der hier – ähnlich wie in seinen bewußt „österreichischen“ Symphonien – seine Wurzeln in Musik gießt, diesmal aber um die Ebene des Wiener Dialekts erweitert. Bereits Robert Schollum hat dies, auf der Basis von Gesprächen mit Wellesz und den Dichter H. C. Artmann mit einbeziehend, unmißverständlich formuliert: Artmann legt in seinen Gedichten die tieftraurige melancholische, um nicht zu sagen: am Dasein verzweifelte Seite der so vielgestaltigen Wiener Eigenart an den Tag. Gerade dieser Aspekt, der voll Heimweh nach einem erahnten, aber als unerreichbar erkannten Paradies ist und aus dem Meditieren darüber nicht 26 27 28 29

Egon Wellesz, Brief an Christian Wolff, 5. August 1962, zit. nach ebd. Egon Wellesz, Brief an Herbert Vogg, 18. Juli 1964, zit. nach ebd., 15. Egon Wellesz, Brief an Herbert Vogg, 5. November 1967, zit. nach ebd., 90. Lehmann’s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger nebst Handels= und Gewerbe=Adreßbuch für […] Wien und Umgebung (1885, 1067) gibt die Adresse des Vaters Samuel hingegen mit „Schottenbastei 11“ an. Freundlicher Hinweis von Hannes Heher.

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Lieder aus Wien auf „wienerisch“ und „cockney“ herauskommt, zog Wellesz, den immer öfter in Wien zu Besuch Weilenden, geradezu magisch an. […] In ihrer tieftraurigen Skurrilität sind diese Gedichte sehr entfernt etwa als wienerische Gegenstücke zum ,Pierrot lunaire‘ zu definieren. Wellesz gestaltet aus ihnen Monologe, die das Hintergründige ihrer Stimmungen endgültig und mit aller Schärfe fixieren. 30

Diesen Anklang bzw. diese Parallele erwähnte, wie mir seinerzeit auch mein Lehrer Robert Schollum mitgeteilt hat, Egon Wellesz (zum Teil) übrigens selbst, der die Lieder in dem Grazer Programm vom 7. November 1967 folgendermaßen charakterisierte: Es sind Gedichte in einem Wiener Vorstadt-Dialekt, aber von eigenartiger Schönheit, und manche recht unheimlich und traurig. Als ich den Band erhielt, war ich sehr ergriffen und setzte fünf daraus in Musik, sehr bedacht, den Tonfall der Worte im Gesang beizubehalten. 31

Die Faktur der Lieder unterstreicht diese Aussage sowie die von Schollum erwähnte Verwandtschaft zu Schönbergs Pierrot lunaire durch ihre grundsätzliche Parlando-Haltung sowie durch die meist sparsame, bisweilen aber auch mit plasti­ schen ‚Nachzeichnungen‘ arbeitende Klavierbegleitung überaus deutlich. Ihre Verwurzelung in jener mit (immer noch) zahlreichen tonalen Reminiszenzen arbeitenden Atonalität, besser Atonikalität, wie sie ja auch für Schönbergs Pierrot lunaire 32 so typisch ist, betont diese Verwandtschaft zusätzlich. Bevor wir in die Faktur der Lieder blicken, seien die Titel der Lieder aufgeli­ stet (die Gitarrenfassung des zweiten Liedes ist ‚doppelt‘ überschrieben): 1. gima dei haund 2. hosd as ned kead – gedicht fiar d’moni (hosd as ned kead) 3. en an schbedn heabst 4. frog me ned 5. wos unguaz. Gleich das erste Lied (Bsp. 1), gima dei haund, 33 ist nicht nur ein (für den Dichter wie für den Komponisten) tief poetisches Liebesbekenntnis zu einer nicht genann30 Robert Schollum, Egon Wellesz, 63. 31 Zit. nach Szateasny, „Akademie: Egon-Wellesz-Konzert“. 32 Vgl. Hartmut Krones, „Traditionelle Symbolik in ‚Pierrot lunaire‘“, in: Arnold Schönberg in Berlin. Bericht zum Symposium 28.–30. September 2000, Wien 2001 (= Journal of the Arnold Schönberg Center 3), 161–176; ders., „Pierrot lunaire op. 21“, in: Arnold Schönberg. Interpretationen seiner Werke, Bd. 1, hg. von Gerold Gruber, Laaber 2002, 296–320. 33 Egon Wellesz, Lieder aus Wien (H.C. Artmann) op. 82 für Bariton und Klavier, Wien 1964 (Verlag Ludwig Doblinger, D.11.083). Auf diese Klavier-Fassung beziehen sich die hier folgenden Analysen.

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ten Geliebten, sondern – bei Wellesz darüber hinaus – wohl auch zur Heimatstadt Wien und wahrscheinlich zur Gattin Emmy, geb. Stross, die er am 23. August 1908 im böhmischen Ort Weißwasser (Belá pod Bezdenem) nach jüdischem Ritus 34 und kurz danach später in Wien standesamtlich geheiratet hatte. Der Text lautet folgendermaßen: gima dei haund das e glaub i hoed a glans woedfogal en da mein[’] a nochtegoe… gima dein odn das e [’]s ned fagis jetzt en winta[,] wia de luft is en schbedn abrü… gima dein mund das e [’]s gschbia wia [’]s am is[,] waun am a rosn unta d[’] aung foed oes s a blinda … 35

Die Gesangsstimme ist zunächst, und dies umso deutlicher, wenn man den Beginn der Begleitung ansieht, in einem fallweise nach g-Moll ausweichenden G-Dur gehalten, 36 und diese Verwurzelung wird insgesamt lediglich dreimal durch den Ton cis erweitert, der wohl vor allem als kurzes Ansprechen der Wechseldominante und somit als Bestärkung der Dominante D-Dur zu sehen ist. Diese tonale Verwurzelung des Vokalparts wird dadurch konterkariert, daß im Klavierpart keine einzige Konsonanz erklingt, wenngleich auch hier bei einstimmiger Führung oft eine Art G-Dur-Moll auszumachen ist. 37 Insgesamt arbeitet Wellesz jedenfalls mit einem zehntönigen Klangfeld 38 und spart die Töne f und as bis zum Takt 23 (dem ersten Takt im letzten System) aus; sie erklingen (das as als gis) aber nur dieses eine Mal. 39 34 Wellesz trat dann bereits am 7. Oktober 1908 aus der Israelitischen Religionsgemeinschaft aus und wechselte in der Folge zum Katholizismus, vgl. Hartmut Krones, „Wellesz, Egon“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, zweite Auflage, hg. von Ludwig Finscher, Personenteil, Bd. 17, Kassel und Stuttgart 2007, Sp. 747–756. 35 Eine „hochdeutsche“ Übersetzung des an sich unübersetzbaren Textes lautet (gemäß „der freundlichen und verständnisvollen Einwilligung H. C. Artmanns“) folgendermaßen: „Gib mir deine Hand, damit ich glaube, ich halte einen kleinen Wasservogel in der meinen, eine Nachtigall. Gib mir deinen Atem, damit ich nicht vergesse, jetzt im Winter, wie die Luft ist im späten April. Gib mir deinen Mund, damit ich spüre, wie einem ist, wenn einem Blinden eine Rose unter die Augen fällt.“ (Archiv des Verlages Doblinger.) 36 Zur frühen latenten Bitonalität bei Wellesz siehe Hartmut Krones, „Gustav Mahler – Arnold Schönberg – Egon Wellesz. Zur Entwicklung der Harmonik im frühen 20. Jahrhundert“, in: Nachrichten zur Mahler-Forschung 43 (2000), 12–22. 37 Dieses „merkwürdige Nebeneinander von völlig tonalen und harmonisch freien Stellen“ prägt vor allem auch die Dritte sowie die Fünfte Symphonie des Komponisten (Hannes Heher, „Musik als Heimat-Ersatz. Die Symphonien des Egon Wellesz“, in: Die österreichische Symphonie im 20. Jahrhundert, hg. von Hartmut Krones, Wien 2005 (= Wiener Schriften zur Stilkunde und Aufführungspraxis, Sonderband 5), 101–118, hier 109, 111. 38 Auch in seinen Symphonien arbeitet Wellesz häufig mit „nicht-zwölftönigen“, aber dissonant eingesetzten vieltönigen Klangfeldern (Revers, „Die Schönberg-Rezeption in den frühen Symphonien von Egon Wellesz“, 261–266). 39 „Der Zug hin zur chromatischen Totale“ war Wellesz allerdings bereits seit 1909/10 „ein Anliegen“ (Hannes Heher, Kompositorische „Ästhetiken“ bei Schülern Arnold Schönbergs, insbesondere bei Egon Wellesz, Dissertation, Wien 2017, 96).

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Beispiel 1: Egon Wellesz, Lieder aus Wien, Nr. 1: gima dei haund. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages Doblinger.

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Lieder aus Wien auf „wienerisch“ und „cockney“

Melodisches Hauptmotiv ist die deklamatorisch entwickelte bzw. erfundene Linie h–e–d–a für „gima dei haund“, also Quint-Sprung abwärts, Sekund abwärts, Quintsprung aufwärts, welches Motiv bei jeder erneuten Bitte um etwas (noch weitergehend) Persönliches gesteigert wird. Bei „gima [dein odn]“ wird der Sprung abwärts zur Sext c1–es, wobei der Zielton erneut das (durch einen Quintsprung aufwärts erreichte) a ist, bei „gima dein mund“ hingegen ist der Sprung beide Male eine (zunächst große, dann kleine) Septim, der Zielton erklingt als c1 und somit wesentlich erhöht. Blicken wir nun auf die (sprachlichen) „Zieltöne“, und zwar auf alle: „haund“ – a, „hoed“ – c1, „woed[-fogal]“ – e 1, „mein“ – fis, „[noch-]tegoe“ – b, „odn“ – a, „ned“ – des1, „[fa-]gis“ – b, „winta“ – g, „luft“ – h, „[a-]brü“ – B, „mund“ – c1, „is“ – a, „rosn“ – es1, „aung“ – a, „blinda“ – g. Hochton ist zusätzlich zweimal das cis1 (für „is“ und „e [’]s“). Auch hier verwendet Wellesz nur die schon genannten Töne der (‚gekoppelten‘) G-Dur-Moll-Skala sowie noch das wechseldominantische cis; lediglich das Wort „ned“ (‚nicht‘) sprengt, als des1, zumindest ‚orthographisch‘ das Gefüge. Und dieses „ned“, das einzige ‚negative‘ Wort, ist eine Andeutung, daß etwas Negatives eintreten könnte: „das e [’]s ned fagis“, daß der Atem der Angebeteten etwas ungemein Positives ist. Dazu kommt, daß das des1 bei „ned“ durch den Sprung der verminderten Quint erreicht wird, also durch die alte quinta deficiens, die schon in früheren Zeiten für den Hinweis auf etwas „Fehlendes“, nicht Vorhandenes stand.40 Und auch die beiden übrigen verminderten Quinten deuten darauf hin, daß Wellesz dieses Intervall ganz bewußt in dem erwähnten Sinn einsetzte: gleich danach als b–e bei „[fa-]gis jetzt [en winta]“ noch für dieselbe Aussage und dann bei „[waun am] a rosn [unta d aung foed oes s a blinda]“ – die Rose, die der Blinde nicht sieht, weil ihm das Augenlicht fehlt. Erwähnt seien noch die kurzen Vorschläge im Klavier (T. 7 und 9), die wohl der dazwischen angesprochenen Nachtigall zu verdanken sind, wobei das Geschehen der umliegenden Takte sowohl im Klavier als auch in der Stimme pures g-Moll ist, wenn man von dem zum dominantischen d (von „a [nochtegoe]“) leitenden cis in Takt 8 einmal absieht. Und der Tritonus es1–a1 im Klavier (T. 10/11), der im Schlußakkord des Liedes (wie schon im vorletzten Takt) wie ein Vorhalt zum ‚gedachten‘ g-Moll-Dreiklang wirkt, erklingt hier als dissonanter IntervallSprung und stellt somit einen diabolus in musica dar, der ansonsten nur mehr in der 40 So etwa (u. a.) bei Mozart, Beethoven sowie dem „Zeitgenossen“ Hanns Eisler; vgl. Hartmut Krones, „Traditionen der musikalischen Rhetorik“, in: Mozarts Kirchenmusik, Lieder und Chormusik, hg. von Thomas Hochradner und Günther Massenkeil, Laaber 2006 (= Mozart-Handbuch 4), 353–365, hier 362; Ludwig van Beethoven. Sein Werk – sein Leben, Wien 1999, 47, 83–86; „Immer noch ‚auf der Flucht‘ (aus Wien). Zu Liedern von Hanns Eisler und Marcel Rubin“, in: Musik im sozialen Raum. Festschrift für Peter Schleuning zum 70. Geburtstag, hg. von Freia Hoffmann, Markus Gärtner und Axel Weidenfeld, München 2011 (= Beiträge zur Kulturgeschichte der Musik 3), 161–187, hier 174–175.

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Beispiel 2: Lieder aus Wien, Nr. 2: hosd as ned keat, T. 1–3. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages Doblinger.

Beispiel 3: Lieder aus Wien, Nr. 2: hosd as ned keat, T. 21–23. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages Doblinger.

dritten Strophe erklingt: im Klavier in Takt 17 (cis1–g) im Übergang zur dritten Strophe, in der derselbe Tritonus cis1–g bei „gschbia“ jene Verzweif lung versinnbildlichen soll, die den Blinden befällt, der die Rose nicht sehen, sondern bestenfalls riechen oder spüren kann.41 Von Interesse erscheint schließlich noch, daß das einzige chromatische Nebeneinander der tongeschlechts-bildenden Töne h und b1 (im Klavier) unmittelbar nach der Nennung des Blinden erklingt, ehe sich in den letzten beiden Takten der deutlich ‚angedachte‘ g-Moll-Dreiklang nicht und nicht einstellt und sich dann auch am Beginn des zweiten, ebenfalls g-Moll anpeilenden Liedes hosd as ned kead (‚hast Du es nicht gehört‘) nie ‚ungestört‘ durchsetzt.42 41 Angesichts der kompositorischen Funktion sowie der (wahrscheinlichen) Semantik des Tritonus es1–a als Chiffre für „Schönberg Arnold“ im zweiten Lied sowie in der Reihe des vierten Liedes könnte natürlich auch seine Dissonanz-Funktion in diesem Lied von zusätzlichem Interesse sein. 42 Die „hochdeutsche“ Übersetzung des Liedtextes (vgl. Anm. 35) lautet: „Hast du sie nicht gehört, meine Stimme in der Nacht, meine Stimme aus den Bäumen, aus den Laternen, aus den Blättern, aus den Drähten, aus dem Gras? Hast du sie nicht gehört, meine Stimme in der Nacht, wie sie wie ein Steinchen an dein Fenster schlägt? Meine Stimme in der Nacht, wenn du gerade geschlossen hast? Hast du sie nicht gehört, meine Stimme in der Nacht, wie sie wie eine Biene über deinem Bett summt? Meine Stimme in der Nacht, wenn du gerade offen hast? Hast du noch nie in der Nacht meine Stimme gehört, wie sie immer und immer ohne aufzuhören deinen Namen sagt?“

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Lieder aus Wien auf „wienerisch“ und „cockney“

Und dort (Bsp. 2) weist das Intervall es–a wohl erst recht auf Arnold Schönberg: Es erklingt gleich zu Beginn zu den Worten „ned kead“ („hosd as ned kead mei stimm“) und könnte durchaus auf Wellesz’ „Nicht-Übernahme“ der strengen Ausformung der Schönberg’schen Dodekaphonie weisen (vgl. auch die Kommentare zum vierten Lied). Zudem leitet dieses Intervall auch das kurze Klavier-Zwischenspiel (T. 7) zum zweiten „hosd as ned kead“ ein und erscheint dann in den Takten 18/19 am Beginn der „dritten Strophe“ – wieder zu „ned kead“ – sogar als Krebs, also als a–es für „Arnold Schönberg“. Und besonders ‚inhaltlich‘ erscheint der ‚normalerweise‘ eine quinta deficiens darstellende Sprung a–es1 im Takt 22 aufgeladen (Bsp. 3), der das Wort „mei [schdimm]“ nach dem Vergleich „wia s wia r a binan iwa dein bet sumd?“ trotz der gleichzeitig oder knapp davor erklingenden Töne As und b 2 als dis1 erklingen läßt und somit zum Tritonus ‚schärft‘ – „Schönberg“ (es) wird „enharmonisch (zum dis) verwechselt“ und begründet anstelle der quinta deficiens einen diabolus in musica (!). Kann das eine rein kompositionstechnisch-orthographische Maßnahme ohne ‚inhaltlichen‘ Hintergedanken sein?43 Ein weiterer Blick sei in das vierte Lied, frog me ned (Bsp. 4), gerichtet, zunächst wieder auf den Text: frog me ned[,] wos fia r a numara da dod hod i was nua das a r a grins kapö auf hod und zwa r aung wia r a grod[,] aung wia a grod[,] und a grins kapö und a numara[.] de numar is owa scho soo schwoazz das e s ned lesn kau waun e a woit! gib liawa dei frogarei auf sunzt dales e s aum end no wiaklech…44

Wohl angesichts des besonders ‚schwarzen‘ Textes gibt es hier kaum mehr tonale Bezüge, gewisse ‚inhaltliche‘ Bausteine werden aber in durchaus ähnlicher bzw. gleicher Art eingesetzt. So stehen im Klavier zwar gleich zu Beginn übermäßige Quart (c–fis) und verminderte Quint (cis–g) nebeneinander (und bilden dann am Beginn vom Takt 2 als ‚Summe‘ den Akkord G–cis–fis), die quinta deficiens wird in der Singstimme dann aber just bei „me ned“ (c1–fis) sowie bei „wos fia“ (cis–g) und „a nu[-mara]“ (es1–a) eingesetzt, also bei „nicht“ sowie bei zwei weiteren Worten, die etwas Verneinendes oder Negatives aussagen bzw. vorbereiten, während der Tritonus bei „da [dod]“ und bei „[i] was nua“ erklingt, also bei zwei dem Tod eine bejahende Aussage beigebenden Worten. Die beschreibenden und somit eher neutralen Worte „a grins [kapö]“ (T. 8), „auf hod“ (T. 9) und „[zwa r] aung“ (T. 10) 43 Zur Entfremdung zwischen Schönberg (bzw. seinem engeren Umfeld) und Wellesz siehe Heher, Kompositorische „Ästhetiken“, 49–84. 44 Die „hochdeutsche“ Übersetzung (vgl. Anm. 35) lautet: „Frag mich nicht, was für eine Nummer der Tod hat. Ich weiß nur, daß er eine grüne Kappe aufhat und zwei Augen wie eine Kröte. Augen wie eine Kröte und eine grüne Kappe und eine Nummer. Die Nummer ist aber schon so schwarz, daß ich sie nicht lesen kann, wenn ich auch wollte! Gib lieber dein Fragen auf, sonst lese ich sie am Ende noch wirklich.“

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Hartmut Krones

Beispiel 4: Lieder aus Wien, Nr. 4: frog me ned, T. 1–12. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages Doblinger.

erhalten wieder die verminderte Quint, die zwar auch negativ ist, aber doch nicht so direkt ‚gefährlich‘ wie die Nennung des Todes selbst. Daß die am Beginn des Liedes in der Klavier-Linie und danach in der Singstimme auftauchende einzige Zwölfton-Reihe des Zyklus (e–c–fis–cis–g–es–a–f–gis–d– h–b), die zudem sofort anschließend (wenngleich im Klavier etwas umgestellt) in ihrer Krebsform erklingt,45 eine versteckte Botschaft an den toten einstigen Leh45 Auch im ersten Satz von Wellesz’ (1955/56 entstandener) Fünfter Symphonie erklingt eine (aus siebentönigem Themenbeginn weiterentwickelte) Reihe, der sofort ihre Krebsform folgt, ohne daß im weiteren Verlauf die Dodekaphonie streng gehandhabt wird (Heher, „Musik als Heimat-Ersatz“, 111).

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Lieder aus Wien auf „wienerisch“ und „cockney“

Beispiel 5: Egon Wellesz, Lieder aus Wien, Nr. 5: wos unguaz, T. 1–11. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages Doblinger.

rer Arnold Schönberg darstellt, kann nur vermutet werden.46 Dafür spricht aber, daß die an den Nahtstellen der beiden Hexachorde in der Mitte der Reihe zusammentreffenden Töne es und a die von Schönberg oft verwendete „persönliche Initialen-Chiffre“ es–a (für „Schönberg Arnold“) darstellt. Auffallend ist zudem, daß diese einzige Reihe just vor dem Text „frog me ned wos fia r a numara da dod hod“ erklingt; bekanntlich hat es Schönberg seinem einstigen Schüler ja durchaus übelgenommen, daß er seinen prononcierten (zwölftönigen) Modernismus nicht mitgetragen hat. Abgesehen von diesem vielleicht persönlichen Hinweis arbeitet Wellesz in diesem Lied vor allem auch mit rhythmischen Figuren, die die Furcht vor dem Tod deutlich unterstreichen: es sind dies vor allem punktierte Rhythmen (wie gleich zu Beginn) sowie trommelnde bzw. pochende Tonwiederholungen wie in Takt 3 oder insbesondere in den Takten 10/11, wobei der dort erklingende Akkord G–cis–fis erneut den das frühe Reihen-Geschehen zusammenfassenden Akkord von Takt 2 einbringt und somit auch den Tritonus eingebaut hat.

46 Vgl. David Symons, Egon Wellesz. Composer, Wilhelmshaven 1996, 172, sowie Heher, Kompositorische „Ästhetiken“, 198–199. Im übrigen hat Wellesz in die Fassung für Gitarre deutlich mehr dodekaphone Strukturelemente eingebaut.

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Hartmut Krones

Quartenakkorde und pochende Tonwiederholungen prägen auch das eine stattgehabte Ermordung kommentierende fünfte Lied, wos unguaz (Bsp. 5). Der Text lautet: hosd nix bemeagt? des messa do hod se alanech gaunz fon söwa griad… fon kölla bis zun doch ka mendsch ka kozz ka maus en haus und des farf luachte messa hod se gaunz fon söwa griad… do schdimmd wos ned! do is wos zwischn uns! do is wos unguaz zwischn dia r und mia… ar messa kaun se do ned so alanech gaunz fon söwa rian! mia ged [’]s baakoed duach [’]s bluad… si frogd en ana dua hosd nix bemeagt…? hosd as ned xeng…?47

„Wie eine Gitarre“ erklingen im Vorspiel die (Quarten-)Akkorde, die aus den Tönen der vier tiefen leeren Saiten (E–A–d–g) der Gitarre zusammengesetzt sind, samt jenen Tonwiederholungen, die auch im weiteren Verlauf des Liedes ein furchtsames Zittern versinnbildlichen, ehe sich sowohl im Klavier als auch in der Singstimme aus der melodischen Terzwiederholung g–b (T. 3–5 und 7–10) das gleichsam ‚fragende‘ cis1 (T. 6 und 11) erhebt und zusammen mit dem latenten E im Baß und den vorher mehrfach erklingenden Tönen g1 und b1 an den traditionell ähnlich fragenden bzw. zweifelnden verminderten Septakkord gemahnt (der ja bekanntlich noch um 1800 dubitatio genannt wurde).48 Die Frage der Singstimme („hosd nix bemeagt?“) bringt dann Takt 11 das cis1 zum Text „des [messa do]“ ein, ehe der Sänger eine wieder nach g-Moll klingende Melodielinie intoniert, die schließlich Takt 32/33 nach der verminderten Oktave es1–e im Klavier zu „[un-] guaz“ den verminderten Dreiklang e–g–b einbezieht (Bsp. 6). Doch auch hier vollendet sich das im Klavier ab Takt 33 den g-Moll-Dreiklang ausmusizierende Geschehen mit einem dort erklingenden cis (T. 34), wodurch (auch durch das E im Baß) erneut der verminderte Septakkord angesprochen erscheint. 47 Die „hochdeutsche“ Übersetzung (vgl. Anm. 35) lautet: „Etwas Ungutes | Hast du nichts bemerkt? Das Messer da hat sich ganz von selbst gerührt. Vom Keller bis zum Dach kein Mensch, keine Katze, keine Maus im Haus, und das verfluchte Messer hat sich ganz von selbst gerührt. Da stimmt etwas nicht! Da ist etwas zwischen uns! Da ist etwas Ungutes zwischen dir und mir. Ein Messer kann sich doch nicht so ganz von selbst rühren! Mir geht es beinkalt durchs Blut. Sie frägt in einem fort: Hast du nichts bemerkt? Hast du es nicht gesehen?“ 48 Als solche und somit als Ausdruck des Zweifels wird er vor allem in Friedrich August Kannes Mozart-Analysen angesprochen, die 1821 als Aufsatzserie in der Wiener Allgemeinen Musikalischen Zeitung erschien. Friedrich August Kanne, „Versuch einer Analyse der Mozartischen Clavierwerke mit einigen Bemerkungen über den Vortrag derselben“, in: Allgemeine musikalische Zeitung mit besonderer Rücksicht auf den österreichischen Kaiserstaat 5 (1821), hier Sp. 153; vgl. Hartmut Krones, „Rhetorik und rhetorische Symbolik in der Musik um 1800. Vom Weiterleben eines Prinzips“, in: Musiktheorie 3 (1988), 117–140, hier 129. Arnold Schönberg, der den verminderten Septakkord zu den „vagierenden Akkorden“ zählte, sah ihn vor allem als Symbol für Negatives, insbesondere für „Heimatlosigkeit“ (Arnold Schönberg, Harmonielehre, Leipzig und Wien 1911, 217–218, 284, 430–431).

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Lieder aus Wien auf „wienerisch“ und „cockney“

Beispiel 6: Egon Wellesz, Lieder aus Wien, Nr. 5: wos unguaz, T. 24–35. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages Doblinger.

Insbesondere die Singstimme, aber auch das Klavier bewegen sich in diesem Lied wieder weitestgehend in g-Moll, ergänzt durch den Leitton zur Dominante, das cis; auch der Unisono-Schluß im Klavier (Bsp. 7) betont deutlich diese Tonart: b– a–g. Das e, das natürlich auch als mögliche sechste Stufe von melodischem g-Moll aufgefaßt werden könnte, ist dies aber angesichts seines ‚melodischen‘ Auftretens keineswegs. Vielmehr sprengt es (in der Singstimme) den ansonsten tonal wirkenden Verlauf dreimal bei außerordentlich negativen Aussagen: zweimal (Bsp. 6) als Ziel eines verminderten Oktav-Sprungs, wenn sich das Messer „[gaunz] fon sö[-wa griad]“ hat (T. 24) und wenn „wos un[-guaz]“ zwischen dir und mir ist (T. 32), sowie einmal (T. 45/46) im Verband des zerlegten verminderten Septakkords b–g–cis1–e (Bsp. 7), und zwar im Zuge der Erwähnung ihrer Frage „[si] frogd en ana dua“, wodurch erneut ein dubitatio-Charakter gegeben erscheint. Im Rahmen dieses Akkordes erklingt in der Singstimme zudem (T. 45/46) zum ersten Mal ein (aufwärts gerichteter) Tritonus-Sprung ( g–cis1), der sich dann sowohl im Klavier (T. 48–49) als auch zu den letzten Worten („ned xeng…?“) der Singstimme

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Hartmut Krones

Beispiel 7: Egon Wellesz, Lieder aus Wien, Nr. 5: wos unguaz, Takt 44–Schluß. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages Doblinger.

(T. 51–52) umkehrt (cis1–g). Als diabolus in musica rundet er – abwärts gerichtet – die grausame Szene ab, deren ‚Bewußtwerdung‘ er (T. 27/28 im Klavier vor den Worten „do schdimmd wos ned“) auch einleitete. Eine weitere, allerdings ganz kurze Sprengung der tonalen Grund-Sphäre findet sich ansonsten nur mehr im Takt 18, wo das Klavier nach den Worten „[fon köla] bis zun doch“ auf dem letzten Ton der Singstimme, dem a, zweimal – Takte 18 und 19 – wie am Anfang des Liedes ‚pocht‘ und dazwischen den Quartsprung dis1–gis1 einschiebt; wahrscheinlich ‚sprengt‘ das hohe Dach („doch“) auch den ‚tonalen Rahmen‘.

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Lieder aus Wien auf „wienerisch“ und „cockney“ ***

Anhang Jetzt mögen noch die „Cockney-Fassungen“ der fünf Lieder folgen; sie sind weder gedruckt noch gibt es Aufnahmen von ihr.49 Und auch für den Text „ain’ tya seen nuffink…?“ ist der Tritonus sicher der richtige semantische Baustein. 1. Gimme yer ’and

2. Ain’ tya ’eard

3. In late autumn

gimme yer ’and that I fink i ’ad a little woodbird in mine – a nightingale… gimme yer breaf so i don’t ferget now in winter ’ow the air is in late april… gimme yer mouf so i feel ’ow it is when a rose falls before the eyes of a blindman…

ain’ tya [!] ’eard my voice in the night my voice from the trees from the lamps from the leaves from the wires from the grass…? ain’ tya ’eard my voice in the night like as if it was a pebble bashin’ on yer winder? my voice in the night when ya just shut it? ain’ tya ’eard my voice in the night like a bee buzzin’ over yer bed? my voice in the night when ya just opened it? ain’t ya never in the night ’eard my voice goin’ on & on wivaht lettin’ up sayin’ your name…?

out of door it rains [it’s raining in front of the door] and in me its raining [and it’s raining inside me] a’ the autumn is in me [the autumn is in me] just like outside the crow’s singin’ now over summer’s grave and the sky is so dull that i’m scared… and the wind stirrin’ round alone ain’t dumb and it cuts me through marrow and bone [to the marrow] but the birds are silent the buds and leaves are gone and me ’eart weighs like a stone…

49 Es gibt im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde eine von Egon Wellesz maschinschriftlich niedergeschriebene Version des Cockney-Textes mit folgenden Bemerkungen: „Five Songs in the Viennese dialect | A translation into mild cockney, since the original is unintelligible even to fluent German-speakers, unless they are Viennese.“ In ein im Verlag Doblinger aufbewahrtes Exemplar der Notenausgabe hat er (vgl. den Brief an Herbert Vogg vom 18. Juli 1964) diesen Text großteils handschriftlich eingetragen, aber in leicht variierter Form, um die Worte exakter der Melodielinie anzupassen. Diese handschriftliche Version wird hier wiedergegeben, maschinschriftliche Verszeilen, die Abweichungen aufweisen, folgen jeweils danach in eckiger Klammer.

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Hartmut Krones 4. Don’t ask me

5. Somethin’ not good

don’t ask me wot fer a number death ’as i only know ’e’s got a green cap up [’e’s got a green cap] and two eyes like a toad eyes like a toad a green cap and a number but the number is already so black that i kan’t read it [that i can’t read it] even if i wanted to! give over wif [wiv] yer askin’ or else i’ll end up readin’ it i mean it… [i really mean it…] that don’t make sense! there’s somefing between us! there’s somefing not good between you and me… a knife can’t move like that all on its tod! me blood’s run all cold… she keeps on askin’ again an’ again: ain’t ya noticed it…? ain’t ya seen nuffink…?

ain’t ya [!] noticed that knife there ’as alone all by itself moved… from the cellar to the roof nobody no cat no mouse in the ’ouse and that bloody knife all by itself moved…

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Lieder aus Wien auf „wienerisch“ und „cockney“

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Jean-Jacques Van Vlasselaer

Music in the Nazi Concentration Camps Jean-Jacques Van Vlasselaer “For beauty is nothing but the beginning of terror which we are barely able to endure.” Rainer Maria Rilke, Duino Elegies1 “Surely, all art is the result of one’s having been in danger, of having gone through an experience all the way to the end, where no one can go any further.” Rainer Maria Rilke, Letter on Cézanne 2

In Theresienstadt a string orchestra of 17 instruments, conducted by a young musician who will survive the Shoah, Karel Ančerl (1908–1973), later one of the world’s major conductors, presents its last concert on September 13, 1944. The program consists of works by Josef Suk, Antonín Dvořák, and of a world premiere, a Study for Strings by Pavel Haas who will be sent to Birkenau to be killed on October 18. In the concentration camp of Buchenwald close to Weimar, once Germany’s cultural heart, not too far from Goethe’s residence, SS officers assemble a choir of inmates to cover the sound of the mass shooting of Soviet prisoners. In his last days of captivity, Austrian composer Viktor Ullmann draws on one of the high points in German poetry, Rainer Maria Rilke’s The Love and Death of Cornet Christoph Rilke, to compose a melodrama for voice and piano, even conceiving, for an eventual future, an orchestral version. Two months later, on October 16, 1944, Ullmann, while working on the orchestration, is put on the Birkenau convoy and dies in the gas chambers.

Beauty, Harmony, and Violence Is harmony really born at the edge of violence? Would it exist at the border where violence is tamed? Is it the virtualization of violence or its taming? Does music—as a decoder of difference—suppose violence before proposing harmony and before recording the simultaneity of order and conf lict in its form of combined rigor and never resolved balance? Isn’t music’s supposition of violence in the act of offering harmony the reason why, in the end, music “restores mastery over the order of the world to a subject, restores a form of sublimation of the total illusion 1 2

Rainer Maria Rilke, „First Elegy“, in: Duino Elegies [1922], translated by David Young, New York 2006. Rainer Maria Rilke, Letter on Cézanne [1907], edited by Clara Rilke, translated by Joël Âgée, San Francisco 2002.

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of the world”?3 Isn’t this the reason why music does not only ref lect history retrospectively, but acts upon past origins and projects far beyond defined futures? Consequently, music tells us that collective as well as individual history is possible. As a relational art, built on the relation of intervals, music is the nonspace of duality (and of its anchor: dualism); it is the hearing space of utmost complexity, the locus of questions at the heart of time. Born of the body and the scream, the pace of walking, and the beat of the heart, resonance of object-time in the subject-space, music is both a continuous projection of past and present and an anticipation of the future. If music embodies these numerous relations, it is because it knows how to simulate ‘rules’, revealing buried connections. Music in fact imitates violence to unmask these very rules. As an ultimate paradox of prospective memory, music was not only an in-depth witness but also an instrument revealing the inferno of the Nazi concentration camps between 1933 and 1945.

The Triumph of Murder At the Prado Museum in Madrid, two paintings face each other in a small room, united by the uncertainties of historical flow and conservation. On one side resides Hieronymus Bosch’s triptych The Garden of Earthly Delights (c. 1490–1500), the right panel of which is also known as “The Musician’s Hell”. In this painting, noise dominates harmony. Music normally channels and formats noise, thus ritualizing violence, but in “The Musicians Hell” it cannot domesticate nor crystallize it. Facing Bosch’s triptych hangs a small painting of c. 1562 by Pieter Brueghel the elder, straightforwardly called The Triumph of Death. On the right side of this painting, masses of naked bodies, anguished men, women, living dead pile up and are swallowed up in an immense caisson-coffin. One senses a prospective exterminating enclosure, locked by a sinister cleaver-gate resembling an immense mouse-trap. The walking dead are surrounded by an army of skeletons, deadly soldiers blocking all escape routes. Perched on this mortal chamber, a skeletontimpanist beats enthusiastically the entrance-march to hell. Brueghel’s iconic painting was a reaction to Count Alva’s “Spanish Fury” and the religious war in the Low Countries, alluding to Hans Holbein’s Simulacra of Death of his Icones mortis. Brueghel was also inspired by the Flemish “Ommeganck”, a profane narrative procession, a kind of theater on chariots, a visual commentary on society – a theater without words which in the painting turns into a long visual cry. Brueghel painted the Triumph of Death 365 years before the first Nazi concentration camp was established, a prelude to the Shoah. Did he, did Bosch, imagine the possibility of this ontological terror in the country of Goethe, a great admirer of Spinoza? 3

Jean Baudrillard, The Perfect Crime, London 2002, 80.

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In his Fugue of Death (1952), Paul Celan ties the Shoah to German cultural icons. In his fusional counterpoint poem he binds the killings at an industrial scale with sublime artistic Germanic creation, with its music during the Shoah and its ‘effective’ Nazi camp organization. All that happened during a period when Richard Strauss composed the Olympic Hymn (1936) and Celebration Music for Japan for the 2000th anniversary of its empire but also defended Stefan Zweig’s name on the occasion of the launching of his Schweigsame Frau. A period when Werner Egk and Carl Orff were triumphant while many other composers ended up on the list of “Entartete Musik”. Amongst the gagged composers were those of the Second Viennese School and many of their adherents, musicians of Jewish origin, proponents of ideas close to Marxism, and modernists. From Felix Mendelssohn Bartholdy to Gustav Mahler, from Arnold Schoenberg to Paul Hindemith and from Erich Wolfgang Korngold to Paul Dessau, Hanns Eisler, Ernst Krenek, Kurt Weill to Pavel Haas, Hans Krása, Gideon Klein, and Viktor Ullmann: the attacks were not limited to vicious criticism in the ideologically biased press but rather opened the gates of the camps, the horizon of barbed wire, the perspective of “final solution” for those who were recipients of such a ‘criticism’. But then, inside the camps, music was created and produced, in its elemental forms – voice, chant, and choirs – as well as in the instrumental medium. The initiatives came from both sides: from the jailors and from the jailed, evidently with different goals in mind. Music in the camps covered a broad musical spectrum: from rudimentary marches and mushy Schlagers to the repertoire of “rejected music”; from working class songs to operatic arias; from jazz to contemporary music; from individual chants to revolutionary choirs; from march rhythms to Krása’s orchestration of Brundibar, a children’s opera about the battle between good and evil. In these places of inhumanity, music took a particular and central place, be it for natural, theatrical, or imposed reasons; be it for true or cynical purposes. Music surged from this unacceptable situation to create a way of existing, of being, to express a message that would mark the prisoners’ inner life and be a virtual message to the outer world.

History and Social Memory With the exception of memoirs of a few musicians who did survive the Shoah and a very limited number of scholarly contributions between 1945 and 1989, the history of music in the concentration camps – including musical performance and musical creativity – has run the risk of being erased from public memory. Fortunately, since 1989 scholars have taken advantage of increased access to archives and have begun to correct the record. For example, composer, conductor, and pianist Viktor Ullmann (1898–1944), whose name had appeared in Guido Adler’s 571

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first edition of Handbook on Music History as soon as 1924 as well as in in Hugo Riemann’s Musik-Lexikon of 1929,4 disappeared from music encyclopedias until 1976 when a new edition of Riemann’s Musik-Lexikon devoted a couple of lines to this former Schoenberg student. And while during all these years musicologists continued analyzing Johann Sebastian Bach’s fugues, until the 1990s nobody considered analyzing the remarkable fugue in the last movement of Ullmann’s Piano Sonata no. 7 which was composed during the summer of 1944 in Theresienstadt. This sonata is based on a Hussite and a Zionist song, from which Ullmann builds, through variations and a bright fugue, three chorales by Bach, one of his most admired composers. Amongst the memoirs published by survivors is Musiques d’un autre monde (1948) in which Simon (Szymon) Laks and René Coudy tell the story of the Au­ schwitz-Birkenau orchestra. 5 A second edition of this book was published posthumously in 1991 under the title Mélodies d’Auschwitz, in which Laks contemplates “the true and grave question […] of art, music, in this place of death.”6 At the forefront of symbolic properties, music represented, for those that practiced it in the camps, essentially a ‘survival-capital’, but it also became a trace of f leeting humanity, of a transitory existence “against the backdrop of murder, through music”,7 as historian Pierre Vidal-Naquet writes in his introductory notes to the book. In 1961 Mi ha salvato la voce by Emilio Jani appeared; in 1976 the very successful Sursis pour l’orchestre by Fania Fénelon; in 1989 Dick Walden published the recollections of trumpeter Lex van Weren as Trompettist in Auschwitz, and in 1989 Jacques Stroumsa, longtime violin player in the Auschwitz orchestra, presented his memoirs in Tu choisiras la vie. 8 Beside these books of remembrances by direct witnesses, 26 articles written by Viktor Ullmann9 about the concerts organized by the Freizeitgestaltung of the Theresienstadt camp provide insight into some of the major musical activities in the “model-ghetto”. 4 5 6 7 8

9

Guido Adler, Handbuch der Musikgeschichte, Frankfurt 1924; Hugo Riemann, Musik-Lexikon, edit­ ed by Alfred Einstein, Berlin 111929, 1896. Szymon Laks, Musiques d’un autre monde, Paris 1948; English translation: Music of Another World, translated by Chester A. Kisiel, Evanston, IL 1989. Szymon Laks, Mélodies d’Auschwitz, Paris 1991 (translation by the author). Pierre Vidal-Naquet in ibid. (translation by the author). Emilio Jani, Mi ha salvato la voce, Milano 1961, English edition: My Voice Saved Me, translated by Timothy Paterson, Milan 1961; Fania Fénelon, Sursis pour l’orchestre, Paris 1976, English edition: The Musicians of Auschwitz, translated by Judith Landry, London 1977; Dick Walden, Trompettist in Auschwitz. Herinneringen van Lex van Weren, Amsterdam 1989; Jacques Stroumsa, Tu choisiras la vie: Violiniste à Auschwitz, Paris 1998, English edition: Violinist in Auschwitz: From Salonica to Jerusalem 1913–1967, edited by Erhard R. Wiehn, translated by James S. Brice, Konstanz 1996. Viktor Ullmann, 26 Kritiken über musikalische Veranstaltungen in Theresienstadt, edited by Ingo Schultz, Neumünster ²2011 (= Verdrängte Musik 3).

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Songs and singing were frontline activities. Soon after the war, publications appeared both in East-Germany and in the United States. Anthologies of songs were published, such as Lider fun di getos un lagern by Szmerke Kaczerginski, a survivor of the Wilnau (Vilnius) ghetto,10 or by two surviving singers, Jin (Lin) Jaldati and Shoshana Kalisch.11 As soon as 1949, Inge Lammel, responsible for the “workers’ song archives” started an in-depth research at the Academy of Arts in East-Berlin on “The Song as Symbol of Resistance in the Continuity of Proletarian and Humanist Tradition”.12 Her publications, though marked by an ambivalent ideology, were solidly documented and appeared between 1959 and 1998.13 Songs from the camps were preserved and recorded by Alexander Kulisiewicz, survivor of Sachsenhau­ sen, since the 1960s.14 Since 1989, the fall of the Berlin Wall has not only opened archives but has also liberated the concentration camps’ social memory. Important work has been done by musicologists, art historians, and specialized workgroups especially in Germany, the United States, and Israel. Amongst others are Josza Kara, Milan Kuna, Ingo Schultz, Hans-Günther Klein, Lubomir Peduzzi, Coco Schumann, more recently Guido Fackler, Albrecht Dümling, and Shiri Gilbert. A lot of work in the field was done at the Institute of Musicology of Charles University in Prague, by the work group “Exilmusik” at the Institute of Musicology at the University of Hamburg, and by “musica reanimata” in Berlin as well as by individuals like Herbert Gantschacher.15

Songs and Singing Instruments were not readily available in the camps and if they were, they were often in poor condition. Before summer 1942 in some places, Theresienstadt included, possessing a music instrument could mean a death sentence. Thus, singing and songs were the major vehicles and often an integral part of camp existence. 10 Szmerke Kaczerginski, Lider fun di getos un lagern, New York 1948. 11 Lin Jaldati / Eberhard Rebling (eds.), Es brennt, Brüder, es brennt. Jiddische Lieder, Berlin 1966; Shoshana Kalisch, Yes, We Sang! Songs of the Ghettos and Concentration Camps, New York 1985. 12 The results of the research were first published in Inge Lammel, Lieder gegen Faschismus und Krieg, Leipzig 1958. See also Inge Lammel / Günter Hofmeyer (Hg.), Lieder aus den faschistischen Konzentrationslagern, Leipzig 1962 (= Das Lied – im Kampf geboren 7). 13 Inge Lammel, Arbeiterlied – Arbeitergesang. Aufsätze und Vorträge aus 40 Jahren, 1959–1998, Berlin 2002. 14 Kulisiewicz composed 54 Songs of Suffering and recorded 130 poems by fellow inmates. His published recordings include Canti dei Lager, di esilio e di prigiona, I Dischi dei Solo, 1966 (LP); Chants de la déportation, Le chant du monde LDX74552, 1975 (LP); Songs from the Depths of Hell, Folkway Records FSS37700, 1979 (LP); Lieder aus der Hölle, Da Camera Song 1981 (LP), SM 96011. 15 Herbert Gantschacher, Victor Ullmann – Zeuge und Opfer der Apokalypse / Victor Ullmann – Witness and Victim of the Apocalypse, Klagenfurt 2015.

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Moments of solidarity between inmates were revealed through singing. Sachsenhausen, Dachau, and Mauthausen, due to the quantity of preserved documents, seem to have been musically very active places, but songs appeared almost everywhere. David Beigelman of Łódź composed a Tsigaynerlied. The Russian prisoners who practiced group singing out of habit did not leave any documents. Nevertheless their contribution must have existed. In 1958 a small red notebook containing 40 Russian poems was found on a field which was part of Sachsenhausen. The author of these poems writes about “a chant which he just heard and which touched his heart because it is a chant of his country”.16 Little is known about the Sinti, Gypsy, and Roma contributions, essentially because their musical traditions are preserved orally, although Claudia Maurer Zenck’s recent study offers a first important contribution to this area.17 From 1933 on, in one of the first camps filled predominantely with political opponents, the KZ Börgermoor, the communist worker Johann Essler wrote a poem of six stanzas. Rudi Goguel, a journalist, composed a four-voiced composition for men’s choir on the poem. The song, later known as Moorsoldatenlied, was a song of resistance, of protest, and of endurance. In 1935, the exiled composer Hanns Eisler learned about the song in London and transcribed it; Ernst Busch sang it during the war in Spain. When the bass Paul Robeson took it into his repertory, it became a universal resistance chant. The second stanza and the refrain read like this:18 Hier in dieser öden Heide ist das Lager aufgebaut, wo wir fern von jeder Freude hinter Stacheldraht verstaut.

Here in this bleak heath The camp was built, Far from any joy We lie hidden away behind barbed wire.

Wir sind die Moorsoldaten und ziehen mit dem Spaten ins Moor!

We are the peat bog soldiers And travel spade in hand Into the moor!

In 1938, Hermann Leopoldi composed the Buchenwaldlied based on a text by Fritz Löhner-Beda. Leopoldi also composed the music for the Treblinkalied. The Sachsenhausenlied, created by Karl Wloch, Bernhard Bästlein, and Karl Fischer, is about courage and hope. This is its first stanza:19

16 Transcribed by the author from a BBC radio program. Unfortunately it was not possible to determine the exact broadcast. 17 See Claudia Maurer Zenck, Verfolgungsgrund: “Zigeuner”: Unbekannte Musiker und ihr Schicksal im “Dritten Reich”, Vienna 2016 (= Antifaschistische Literatur und Exilliteratur – Studien und Texte 25). 18 http://holocaustmusic.ort.org/places/camps/music-early-camps/moorsoldatenlied (15 Feb 2019). 19 http://holocaustmusic.ort.org/places/camps/central-europe/sachsenhausen/sachsenhausenlied (15 Feb 2019).

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Jean-Jacques Van Vlasselaer Wir schreiten fest im gleichen Schritt, wir trotzen Not und Sorgen, denn in uns zieht die Hoffnung mit auf Freiheit und das Morgen.

We tread on, locked in step, we mock our needs and cares, For hope moves with us, hope for freedom and tomorrow.

The exhausted, regimented, often tortured bodies had the desire to sing and their repertoire consisted not only of resistance songs, but also of religious hymns, agitprop songs, melancholic mélopées, folklore, cabaret songs, and other genres. On the other hand, the inmates were often ordered to sing. Chant exercises were “to develop discipline” and therefore often associated with punishment: singing too loud (or not loud enough), not ‘musically’ enough, forgetting a word, a line, were all reasons to submit the inmate to abuse. The imposed songs would also serve as a form of humiliation: the inmates were asked to sing German folklore, SS Schlagers, or texts that were insulting to the Jewish prisoners. Primo Levi speaks about those imposed folkloric German songs: “They lie engraven on our minds and will be the last thing in Lager that we shall forget.”20 Hoch auf dem gelben Wagen and Auf dem Berg so hoch da droben, da steht ein Schloß were indeed part of punishment as was the self-insulting tone of The Song of the Jews: 21 Jahrhunderte haben wir das Volk betrogen, kein Schwindel war uns je zu groß und zu stark. Wir haben geschoben nur, gelogen und betrogen, sei es mit der Krone oder Mark. […]

For centuries we betrayed the people No fraud was ever too big or strong We only have lied and cheated Be it with kronen or marks […]

Instrumental Music A few rows of benches have been installed for the musicians of the crematory camp. There are no music stands; we will have to play from memory […]. We play for people who very soon will be burned, but by whom? It is a mystery. Perhaps by us? The authorities have the musicians do so much work that has nothing to do with music […]. The concert lasts about two hours. We play, amongst others, a few Jewish melodies. 22

20 Primo Levi, Se questo è un uomo, Torino 1947, English edition: If This is a Man, transl. by Stuart Woolf, New York 1959, 52. 21 David Hackett (ed.), The Buchenwald Report, Munich 2002, 456. 22 Laks, Mélodies d’Auschwitz, 135 (translation by the author).

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This is how Simon Laks describes the concert of the Auschwitz orchestra during its very last visit to Birkenau where it also played in front of the Sonderkommando, the team of prisoners designated to accomplish the sordid task of emptying the gas chambers of their corpses and transporting them to the cremation ovens before having to disperse the ashes wherever possible, be it surrounding grounds or nearby rivers. The concert Laks describes most likely took place on October 5, 1944. Clearly and face to face, the orchestra and the Sonderkommando team members knew the meaning of the event. “We shall entertain and distract those that gas the others.”23 Realizing how the war would be turning out, the camp commander had decided to condemn the crematoria as well as their slaves, these 600 ultimate witnesses that made up the Sonderkommando. Two days later, on October 7, one of the few large revolts in the killer camps broke out at the initiative of Sonderkommando teams I and III. Crematory III was damaged by an explosion initiated by the prisoners. It was during the final period of the Birkenau gassing activity that about 16,000 inmates arrived from Theresienstadt (September 28 to November 2, 1944), amongst which there were many musicians, composers, and conductors, who until then had succeeded to survive in their “Potemkin” village. Camp orchestras, Lagerkapellen, had been in existence since the early camps in 1933. Camp ensembles had very different functions: keep inmates in step; escort the departure and arrival of the slave-driven inmates; produce the background music for punishments and executions; serve chosen ceremonial occasions; play open-air concerts; and serve as decoy atmosphere accompanying the train arrivals with its immediate selection process as a kind of counterchant to the barking dogs. Sometimes specific folkloristic music was chosen to match the nationality of the arriving victims. But music was not only cynical counterpoint, such as in the case of a string quartet playing next to the line-ups in front of the gas chambers, or an inmate orchestra celebrating the Führer’s (and another, local potentate’s) birthday. Making music in groups was “a consumption article par excellence, and as much, subject to the art of organization”, 24 thus fitting into the order of the economic exchange. In these particular circumstances, it was also a means of survival that had a spiritual dimension for some participants. By 1942, most of the camps had their musical group, some already from the early 1930s onwards. Willi Stein was able to direct an ensemble of 16 musicians at KZ Esterwegen in salon music and adapted light classics because the camp commander was an aficionado of that repertoire. It also served to fool the official Red Cross inspection of October 1935. Theresienstadt also saw the same decoy usage in the 23 Ibid., 108. 24 Ibid.

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summer of 1944 when the orchestra of Karel Ančerl rehearsed and performed Haas and Dvořák for the visiting members of the Red Cross delegation. The Esterwegen orchestra later was moved to Sachsenhausen when the concentration camp system was expanded. At that time the larger camps had their official orchestras, most of them of medium sizes, except for Auschwitz, where an eighty-strong symphony orchestra existed next to the later famous woman’s orchestra. Between 1943 and 1944, Theresienstadt temporarily had three to four smaller orchestras, conducted by Raphael Schachter and Viktor Ullmann. The largest of these was the Ančerl orchestra with 17 musicians mentioned above. It is also known that a string quartet existed in Buchenwald as well as a trio consisting of a mandolin, a violin, and a wind instrument in Treblinka, and a duo of violin and piano in Flossenbürg. Such ‘official’, ‘ad-hoc’, or ‘clandestine’ ensembles were always dependent on the presence of instruments and the arbitrary decisions of the jailers.

Theresienstadt: Where Life Was Not a Rehearsal The “model ghetto” in Theresienstadt was established as a pre-concentration camp self-managed by a Jewish council under the direction of the Nazi military. Its Freizeitgestaltung officially functioned from February 1942 until the massive Osttransporte in September and October 1944. For the first couple of months Erich Weiner led the program, then until the end the remarkable engineer Otto Zucker took over. With theater, study groups, conference cycles, a large library organization, choirs, jazz ensembles, cabaret, opera, recitals, chamber music, and up to four orchestras, the Theresienstadt camp was to represent the ultimate illusion of a ‘normal’ life. A “university over the abyss”, 25 it was also a hub of musical performances and creativity for most of the 28 months of its “free-time activities”. According to Thomas Mandel, a young violin player from Brno who was confined to Theresienstadt from April 1942 to September 1944, possessing a music instrument “amounted to a death sentence” during the preparation of the garrison city in the “ghetto” for “privileged” inmates between November 1941 and the summer of 1942. 26 While the first concerts were organized in secret, in the following months they were condoned by the authorities, who cynically used the Freizeitgestaltung activities as an ultimate propaganda tool, culminating in the locally produced film Theresienstadt, oder Der Führer schenkt den Juden eine Stadt (1945). Musical and cultural life was the antidote, the anchor, often the last buoy for many in this waiting room for Auschwitz. Indeed, of the 139,061 persons that passed through this “Potemkin village”, 86,934 were transported to extermination camps and 33,430 died or were murdered on the spot. Exhaustion, malnutri25 Elena Makarova / Serge Makarova / Victor Kuperman, University over the Abyss, Jerusalem 2000, 472. 26 Interview by the author with Thomas Mandel, Miami in 1998.

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tion, inhuman daily circumstances, subsequent illnesses: Theresienstadt’s percentage of death compared to the number of inmates was higher than in most other camps. The “ghetto” was a killer space. Nevertheless, the Freizeitgestaltung pursued its task as much as possible with professional care. Its music section, lead by composer Pavel Haas, organized a large number of concerts, including Schubert and Chopin recitals among others, of which some were repeated up to forty times. They covered a large range of repertoire, from renaissance to contemporary music. A “Studio of Contemporary Music” was founded by composer Viktor Ullmann who organized at least two known concerts for the Studio. He also acted as a makeshift but highly objective music critic of concerts given in Theresienstadt. Twenty-six articles have survived the war, covering 33 different concerts and a total of 77 different works. 27 Some musicians would pass from one orchestra to another, from opera to chamber ensembles, from the ‘classical world’ to the jazz of the “Ghetto swingers”, and from there to the “Kaffeehaus” and its melancholic atmosphere of “the world of yesterday” and its entertainment music. Choir concerts and opera were also part of the Theresienstadt repertory: Bedřich Smetana’s Bartered Bride, Domenico Cimarosa’s Il matrimonio segreto, Johann Strauss’ Fledermaus were presented with an accompaniment of two pianos. Hans Krása re-wrote his children’s opera Brundibar for several highly successful Theresienstadt performances, crystallizing the battle of good and evil through the voices of children. Also well-known is the tragic episode of the presentations of the Verdi Requiem. At the request of the Nazi jailers, and after lengthy discussions amongst the inmates about the relevance and the need to sing a “catholic mass”, conductor Raphael Schachter assembled a choir of 150, which the day after its performance – most probably September 6, 1943 – was sent in its entirety to death in Auschwitz. Within three weeks, Schachter convened a new slightly smaller choir which, after its performance, was also eliminated. With his third choir of sixty singers, Schachter and his soloists performed the Requiem 15 times. As mentioned, the Freizeitgestaltung opened up to opera performances. Viktor Ullmann composed the only original “opera” within the camps, called The Emperor of Atlantis, or Death goes on Strike, based on a libretto by poet and painter Peter Kien and himself. Composed between the end of June 1943 and early March 1944, it is set for seven characters and an ensemble of 13 instruments. Its rehearsals probably took place between September 12 and 18, 1944, but it was never publicly performed as the transports to Auschwitz were increasing during that period. The world premiere of this humanistic outcry on war and murder took place in a truncated, incomplete form on December 16, 1975, conducted by Kerry Woodward 27 Viktor Ullmann, 26 Kritiken über musikalische Veranstaltungen in Theresienstadt.

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at the Nederlandse Opera. Thanks, essentially, to the musicological work of Ingo Schultz and the historical background study by Herbert Gantschacher, more authentic versions have been performed in Europe and North America since 1987. Performances in Terezin itself and in Mauthausen have attracted specific attention. 28 A remarkable version was undertaken by two members of the survivors’ generation: conducted by Georg Tintner and directed by Tibor Egervari at the occasion of Ullmann’s centenary in 1998 in Halifax, the Viennese musical tone of the score as well as the fascinating humanity of the text were revealed. 29 Theresienstadt was not the only place where works were composed, but elsewhere compositions were generally restricted to marches or songs. Ondrey Volrab in Buchenwald composed eight marches; the head of a Lagerkapelle, Franz Nierychio, created the outstanding march Arbeit macht frei. On Christmas Day 1944 Frantisek Burian created the song Lied von der Kühle for ensemble and voice at the KZ Neuengamme. And wasn’t Erwin Schulhoff working on an Eight Symphony when he died in 1942 in the camp of Wülzburg? In different circumstances, at the prisoners of war camp of Goerlitz, did Olivier Messiaen not create his remarkable Quartet for the End of Time? Despite these notable examples, the extraordinary compositional creativity in Theresienstadt astonishes. Some composers were well-known (Krása, Haas, Ull­ mann), but there were also some very gifted younger composers (Gideon Klein, Zikmund Schul) as well as occasional composers (the baritone Karel Berman, the musicians Viktor Kohn, Egon Ledec, Carlo Taube, the poet Ilse Weber and others). Krása composed five works (if one counts the re-writing of Brundibar), Haas three, Klein six and two arrangements, Shul a total of eight amongst which several remained unfinished, all others at least one work. Nevertheless, when one thinks about the extraordinary compositional creativity in these very strained, unpredictable, and hazardous situations, one name stands out: Viktor Ullmann. Student of Schoenberg and of Alois Hába, assistant of Alexander Zemlinsky, friend of Alban Berg, admirer of Bach and Mahler, Ull­ mann composed 26 works during his forced “residence” in Theresienstadt (September 9, 1942–October 16, 1944) of which 23 survived the Shoah, hidden in the camp library. These works encompass all genres: three piano sonatas, his third string quartet, and small parts of a fourth which he embedded in his Cornet (knowing he had no time to finish it after the massive Osttransporte were announced some time mid-September), as well as a moving trio with voice. He explicitly claims the 28 The Terezin performance by “Arbos” on May 23, 1995 was directed by Herbert Gantschacher; a Mauthausen performance by an ad-hoc group was presented in the summer of 2000 (Gantschacher, Victor Ullmann). 29 The performances in Halifax on November 11, 12, and 14, 1998 were followed by a tour to Wolfville (Nov 13), Fredericton (Nov 16), Charlottetown (Nov 17), and Antigonish (Nov 18).

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Music in the Nazi Concentration Camps

cultural heritage of German-language poetry in his songs and song cycles, setting words by Conrad F. Meyer, Frank Wedekind, Georg Trakl, and Rilke, but he also opens the borders to French and Chinese-inspired texts and returns to his roots with Yiddish and Hebrew songs. In 1943 he composed Three Chinese Songs and in 1944 incidental music for a poetry evening devoted to the French poet François Villon (its score is lost except for one theme remembered by Herbert Mandel, violinist in the ad hoc ensemble); in summer 1944, Ullmann created a melodrama based on twelve excerpts of Rilke’s The Love and Death of Cornet Christoph Rilke for narrator and piano (partially orchestrated by him). Finally, he conceived the complete text for an opera devoted to Joan of Arc and, together with Peter Kien, completed his “kind of opera” (Ullmann) The Emperor of Atlantis, or Death goes on Strike. This work is rich in metaphors and allusions, both external and internal, textual and musical, incorporating references to music such as Bach’s cantata Ein feste Burg ist unser Gott and Mahler’s Lied von der Erde, as well as to pieces by Suk, Dvořák, Brahms, and Haydn. The opera was inspired by Ullmann’s experience during World War I at the Isonzo front and aims to show the failure of all ‘emperors’, all potentates, to respect nature – a last grand aria with Spinozian reverberations. Its final sound disappears gradually, building on Bach’s chant of protection, telling us that death is our friend in a world of murder and terror. Ullmann composed for the future. His piano sonata no. 7 is an extraordinary and moving work with a fugue of resilience, resistance, and hope in the last movement.

Last Notes From simple songs of hope and revolt to marches accompanying hangings or pacing the marches of slave workers; from compositions based in popular culture and nostalgia to spiritual resistance in the form of a sonata; from an unfinished duo for violin and alto to a full-scale opera which symbolizes the “ontological nastiness”30 of the concentration camps, musical performances and compositions have answered or reacted to the unexplainable, to the incomprehensible, to Primo Levi’s “Why?”: “Hier ist kein Warum.” Sounds that are openings to the ever unfinished examination of, and inroads into, our conscience.

30 Vladimir Jankélévitch, Le Pardon, Paris 1967.

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Mathias Hansen

Sinfonie 1 von Friedrich Goldmann Mathias Hansen Um einem Stück wie Friedrich Goldmanns Sinfonie 1 näher zu kommen, bedarf es nicht allein musikhistorischer und musiktheoretischer Kenntnisse, sondern auch Kenntnisse des zeitgeschichtlichen Umfeldes von Politik und Kulturpolitik. Das wäre nun, wenn man den Satz so stehen ließe, eine überf lüssige Feststellung, denn wo und wann sind solche Kenntnisse nicht gefordert? Es gibt allerdings in unserem Fall einige Besonderheiten des geschichtlichen Augenblicks, seiner Voraussetzungen und seiner Folgen, die nicht nur wissenswert, sondern auch unabdingbar sind, um Eigenarten und Intentionen des hier Komponierten auf die Spur zu kommen.

Erinnerung Es war irgendwann und irgendwo in Berlin anfangs der 1970er Jahre, als Friedrich Goldmann (1941–2009)1 in einem kleinen Kreis von Freunden unvermittelt davon sprach, dass er vorhabe, eine Sinfonie zu schreiben. Er sagte das auch ganz beiläufig und begleitete die wenigen Worte mit einer seiner unendlich variablen, in dem Falle leisen Lachgesten. Wir waren verblüfft und auch etwas irritiert, denn das, was unser ehemaliger Kommilitone Frieder – er hatte anfangs der sechziger Jahre auch Musikwissenschaft mit Diplomabschluss studiert – bislang komponiert hatte, war zwar überwiegend Instrumentalmusik, doch in Gattungen, die das Orches­trale eher mieden bzw. dann mit den Essays für Orchester dem landläufigen Verständnis von Sinfonie geradezu programmatisch opponierten. 2 Keine anderen als solche 1

2

Zu Leben und Schaffen Goldmanns vgl. etwa: „Probleme der Kompositionstechnik. Gespräch Friedrich Goldmanns mit Frank Schneider“, in: Komponieren zur Zeit. Gespräche mit Komponisten der DDR, hg. von Mathias Hansen, Leipzig 1988, 67–108; Clemens Nachtmann, „Friedrich Goldmann“, in: Komponisten der Gegenwart, hg. von Hanns-Werner Heister und Walter-Wolfgang Sparrer, München 1996; Dörte Schmidt, Lenz im zeitgenössischen Musiktheater. Literaturoper als kompositorisches Projekt bei Bernd Alois Zimmermann, Friedrich Goldmann, Wolfgang Rihm und Michèle Reverdy, Stuttgart 1997; Armin Köhler, „Interview mit Friedrich Goldmann“, in: Erlebte Geschichte. Aufbrüche, Rückblicke, Zeitläufe – Sendungen und Texte, DVD, hg. von Armin Köhler und Rolf W. Stoll, Mainz 2005. Zu Goldmanns Sinfonien vgl. Frank Schneider, „Neubau mit Einsturzgefahr: Analytische Reflexionen zur Sinfonie 3 von Friedrich Goldmann“, in: Melos 50/2 (1988), 2–32; Evelyn Hansen, „Friedrich Goldmann: 4. Sinfonie“, in: Positionen 4 (1989), 16–17; Corinna Ruth Hesse, Musikalischer Raum und Utopie in Instrumentalwerken Friedrich Goldmanns aus den späten achtziger Jahren, Magisterarbeit, Hamburg 1995; Albrecht von Massow, „Autonomieästhetik im Sozialistischen Realismus“, in: Zwischen Macht und Freiheit. Neue Musik in der DDR, hg. von Michael Berg, Albrecht von Massow und Nina Noeske, Köln 2004, 157–164; Nina Noeske, Musikalische Dekonstruktion. Neue Instrumentalmusik in der DDR, Köln 2007; Hartmut Lück: „‚Singbarer Rest‘ – Friedrich Goldmanns ‚Fünfte‘: quasi una sinfonia“, in: Neue Zeitschrift für Musik 171/1 (2010), 50–53.

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„Symphonien“ (mit pompöser klingendem „y“ und „ph“), die unberührt blieben von Adornos Kritik am redundanten und nicht zuletzt deshalb auch affirmativen Charakter der Gattung zumal „nach Mahler“ – eine Kritik, die Goldmann teilte und seine Freunde mit ihm –, schienen uns damals komponierbar zu sein. Und nur noch durch Partei und Staat dekorierte Komponistenverbandsgrößen wie Ottmar Gerster, Leo Spies, Siegfried Köhler oder Dieter Nowka schrieben Derartiges in der kulturpolitisch beglaubigten Vorstellung, an die große sinfonische Tradition seit der Klassik anzuknüpfen und deren Geist weiterzuführen.

Kulturpolitik in der DDR bis in die 1970er Jahre Goldmanns Sinfonie, komponiert zwischen März 1972 und Januar 1973, wurde im Juni 1973 in Leipzig vom dortigen Rundfunksinfonieorchester unter der Leitung Herbert Kegels uraufgeführt. Bald danach wurde eine Tonbandkopie im Berliner Bezirksverband vorgestellt und diskutiert. Welchen Eindruck das Vorspiel hinterließ, vermittelt vielleicht am besten die Reaktion von Günter Kochan, einem der zwar ‚offiziellen‘, politisch wie künstlerisch anerkannten, aber dennoch stets integren, dem eigenen Anspruch und Vermögen folgenden DDR-Komponisten: nach dem Vorspiel und noch ehe die Diskussion begann, erhob Kochan sich und verließ den Raum durch die Umstehenden hindurch mit den gef lüsterten, aber verständlichen Worten: „Ich schreibe keine Sinfonie mehr.“ Was hatte Friedrich Goldmann mit seiner Sinfonie, die er wohl nicht absichtslos ohne „y“ und „ph“ betitelte und nur mit der nachgestellten, wie ein Diminutiv wirkenden arabischen Ziffer 1 versah – was hatte er ausgelöst? Um dies zu verstehen, muss man eben etwas zurückschauen in der kulturpolitischen Entwicklung der DDR. 3 Mit Gründung der DDR 1949 war nicht nur deren politische Führung, sondern auch ein Großteil insbesondere der Kulturschaffenden davon überzeugt, erstmals in der deutschen Geschichte die Chance zu haben, das Ideal der Klassik – die Vereinigung von Politik und Kultur im Zeichen von Humanismus und Fortschritt – zu verwirklichen. Die Methode, dies zu erreichen, erhielt in der Kunst den Namen „sozialistischer Realismus“, ein Begriff, der in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Stalins Sowjetunion geprägt und nach dem „Großen Krieg“ in deren Satellitenstaaten vorbehaltlos übernommen worden ist. Es galt, die bürgerlich-humanistischen Traditionen – die vom Naziregime verfemten wie die von ihm missbrauchten – aufzunehmen, weiterzuentwickeln und als Teil der Lebenswirklichkeit einer von Ausbeutung und Unterdrückung 3

Vgl. hierzu weiterführend etwa Frank Schneider, Momentaufnahme – Notate zu Musik und Musikern in der DDR, Leipzig 1979; Daniel Zur Weihen, Komponieren in der DDR. Institutionen, Organisationen und die erste Komponistengeneration bis 1961, Köln 1999.

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befreiten Gesellschaft zu gestalten. Da allerdings solche Lebenswirklichkeit bekanntlich noch nicht auf der ganzen Welt bestand, der Klassenkampf also weiter geführt werden musste, hatte die ‚Methode sozialistischer Realismus‘ eben auch klassenkämpferische Aufgaben zu erfüllen: ihr erklärter Gegner war die bürgerlich-dekadente Kultur, die sich in Abwendung von den Traditionen des klassischen Humanismus und unter Stichworten wie „Abstraktion“, „L’art pour l’art“, in der Musik als „Atonalität“, „Dodekaphonie“, „Serialismus“, dann „Aleatorik“, „Minimal art“ usw. ausbreitete und mit dem Schlagwort „Formalismus“ zusammengefasst wurde. Zunächst ging dieses Konzept zumindest nach außen hin auch einigermaßen auf. Abweichungen, Konf likte usw. konnten durch ermahnende Diskussionen aufgefangen (siehe die sogenannten Debatten um Hanns Eislers Faustus oder Paul Dessaus Lukullus) oder, wenn das nicht reichte, als von außen gesteuerte ‚Provokationen‘ gekennzeichnet und dementsprechend bekämpft werden. Der Bau der Mauer 1961 bewirkte aber auch in dieser Hinsicht einen bald spürbaren Einschnitt. Abgesehen vom scheinheilig-verlogenen Propagandagerede vom „antifaschistischen Schutzwall“, durch den der Weltfriede gesichert worden sei, gab es zunächst durchaus die Hoffnung, dass mit der Erhöhung der inneren Sicherheit und der nun erwarteten wirtschaftlichen Stabilisierung ein gefestigtes staatsbürgerliches Bewusstsein und damit auch ein gestärktes Selbstbewusstsein der Bürger und Bürgerinnen sich entwickeln könne, ja müsste. Und dass dies auch einer konf liktbewussteren, die Lebenswirklichkeit erreichenden und mitgestaltenden Kultur und Kunst Raum geben würde. Dem war nicht so, zumindest nicht auf offizieller Ebene. Ab Mitte der sechziger Jahre wurden auf diversen Parteiveranstaltungen wiederum fast alle Versuche nicht nur kritisiert, sondern verurteilt und verboten, die – um bekannte Formeln zu zitieren – den „real existierenden Sozialismus“ zu unterwandern und damit das „Kräfteverhältnis zugunsten des imperialistischen Gegners“ zu verschieben suchten. Dennoch begannen sich selbst in diesen verhärteten Jahren die Verhältnisse langsam und gewissermaßen unterschwellig zu ändern.

Neue Töne seit den siebziger Jahren In der Musik löste zum Beispiel Günter Mayer Mitte der sechziger Jahre anhand seiner Aufarbeitung der Beziehungen zwischen Hanns Eisler und Theodor W. Adorno eine Diskussion um die „Dialektik des musikalischen Materials“ aus, die auf eine Art „Rehabilitierung“ von bis dahin als „formalistisch“ verketzerten Kompositionen und Kompositionsverfahren abzielte. Und dann trat wenig später, gegen Ende der sechziger Jahre, eine neue Komponistengeneration an die Öffentlichkeit, die nicht mehr von Faschismus, Krieg und Nachkrieg geprägt war, 583

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sondern vorrangig von unmittelbaren Konf likten in der Gegenwart und von in der Regel medial vermittelten Erfahrungen aus der ganzen Welt erfasst wurde, die persönliche Stellungnahmen geradezu erzwangen. Die jungen Komponisten – ich nenne neben Friedrich Goldmann nur Paul-Heinz Dittrich, Friedrich Schenker, Georg Katzer – trugen ihr Anliegen in einer musikalischen Sprache vor, die an internationalen Entwicklungen orientiert war und einen individuellen, subjektiven Ton anstrebte. Die Auseinandersetzung mit aktuellen Gestaltungsweisen (Serialismus, Aleatorik, Elektronik, aber auch mit linken bzw. linksradikalen Tendenzen aus den zwanziger Jahren wie auch der Grenzen übergreifenden „68er-Bewegung“) trug gegen allen restriktiven Widerstand dazu bei, neue und oftmals auch provokative Ausdrucksbereiche zu erschließen. Die eigentliche Wendephase aber fiel in die siebziger Jahre – so erscheint es zumindest aus heutiger, rückschauender Sicht, und zwar verblüffend synchron auf den politischen wie kulturellen Ebenen. Der damals trotz anhaltender militärischer Konf likte von westlicher Seite eingeleitete Entspannungsprozess (Stichwort: 1972 Abschluss des sogenannten Grundlagenvertrages zwischen der DDR und der BRD mit gegenseitiger völkerrechtlicher Anerkennung) betraf insbesondere zunächst das deutsch-deutsche Verhältnis und das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zu den Ländern Ost-Europas. Die Bedrohung, die in der westlichen Entspannungsformel „Wandel durch Annäherung“ zum Ausdruck kam, wurde zwar auf östlicher Seite klar erkannt, konnte aber von deren als bewährt geltender ‚Gegenformel‘ „ökonomische Kooperation bei strikter Wahrung ideologischer Konfrontation“ nicht mehr auf Dauer abgewendet werden. Was noch bis zum Herbst 1989 – auch und gerade auf kultureller Ebene – als „Prinzipien­t reue“ eingefordert wurde, zeigte nichts anderes an als die wachsende Einsicht, dass mit dem heraufziehenden wirtschaftlichen Desaster auch die ideologischen Sicherungen durchbrennen würden. Man wählte die ‚Flucht nach vorn‘, einerseits durch erhöhte Repression, wie im Fall der Ausbürgerung Wolf Biermanns, die eine Drohgebärde, ein Einschüchterungsversuch gegenüber der gesamten Intelligenz war, andererseits und wo man es riskieren zu können glaubte, durch partielle ‚Freizügigkeit‘. So ergab sich denn auch insbesondere für die Neue Musik einiger Freiraum, der den Umgang mit ihr im Lande (so z. B. durch Verlage, durch Auftragserteilung, durch die Programmgestaltung des Rundfunks, der Musik-Biennale oder der „DDR-Musiktage“ in Berlin) wie in den internationalen Beziehungen spürbar veränderte. Solche ‚Freizügigkeit‘, über deren erzwungenen Charakter nichts hinwegtäuschen konnte, bestärkte nicht zuletzt auch die – freilich ebenso aufgenötigte – Anerkennung jüngerer und junger Komponisten, die bislang als non-konform galten. Goldmann, Katzer, Schenker, Dittrich, um bei den genannten zu bleiben, erhielten staatliche Auszeichnungen in Form von Preisen und Mitgliedschaften 584

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sowie prominente Aufführungs- und Veröffentlichungsmöglichkeiten, auch im westlichen Ausland. Doch diese ‚Freizügigkeit‘ blieb immer in der Zangengewalt von Partei und Staat – wobei es innerhalb der „Ostblock“-Staaten durchaus Unterschiede gab, die nicht übersehen werden sollten. Besonders aufschlussreich sind hier die Unterschiede zwischen der Volksrepublik Polen und der DDR, die genau im gegebenen Zeitraum, den siebziger Jahren, in wachsendem Maß zutage traten – offen und konzentriert etwa auf dem alljährlich stattfindenden Musikfestival Warschauer Herbst.

Neue Impulse aus Polen mit unterschiedlicher Resonanz Die jungen DDR-deutschen Komponisten richteten ihr Interesse vornehmlich auf die Wiener Schule Arnold Schönbergs und auf die von ihr ausgehenden Tendenzen der Darmstädter Ferienkurse mit allen ihren Folgeerscheinungen ab den sechziger Jahren, wie sie von so unterschiedlichen Komponisten wie Karlheinz Stockhausen, Luigi Nono oder Bernd Alois Zimmermann ausgingen. Das Mekka zumal der führenden polnischen Komponisten aber bildete Paris, das noch nicht das Paris von Pierre Boulez und seinem 1977 eröffneten Kompositions- und Forschungsinstitut IRCAM war, sondern kompositorisch-ästhetisch seit den dreißiger Jahren und noch immer von Nadja Boulanger und ihrem Kreis geprägt wurde und damit vom Neoklassizismus in allen seinen schillernden Varianten. Die deutschen Komponisten sahen hierin einen Mangel an strukturierter Konstruktivität, der einer grassierenden, mehr oder weniger ‚kontrollierten‘, ‚begrenzten‘ Aleatorik Raum gab, durch die der „Werk“-Charakter durch beliebig oder arrangiert wirkender „Klang“-Charaktere vernachlässigt würde. Sie beharrten dagegen auf einer „Genauigkeit“, um ein häufig verwendetes Wort zu benutzen, die vor allem eben aus dem „konstruktiven“ Charakter des Tonsatzes erwachse, der dadurch, etwa bei Stockhausen, durchaus etwas von wissenschaftlicher Berechenbarkeit annehmen sollte. Vom Neoklassizismus suchten sich die DDR-deutschen Komponisten zudem umso entschiedener zu distanzieren, als er in vielem dem glich, was in der offiziellen Ästhetik für „sozialistischen Realismus“ ausgegeben wurde. Und die Irritationen und Missverständnisse verstärkten sich dann noch, als ab Mitte der siebziger Jahre diese Tendenzen mit lyrisch-pathetischen Tonlagen verschmolzen, die, seit dem Expressionismus vertraut und mithin auch bereits verschlissen, der buntschillernden Internationale von Neo- oder Polystilistik zuf lossen. Repräsentativ waren hier etwa die pastosen Espressivo-Stücke von Henryk Mikołaj Górecki oder Krzysztof Penderecki (der seine Erste Sinfonie fast parallel zu Goldmanns Sinfonie 1 schrieb), aber auch die virtuose Noblesse Witold Lutosławskis blieb davon nicht unberührt. 585

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In der Haltung der deutschen Komponisten kommt noch etwas zum Ausdruck, das sich nicht so leicht erfassen lässt. Es berührt einen Punkt, der über das Musikalisch-Künstlerische hinaus mit der Sozialisation der Komponisten in beiden Ländern zu tun hat. Die Aufführungen von Pendereckis Magnificat oder seines Polnischen Requiem, von Andrzej Panufniks Sinfonia sacra oder von Góreckis Dritter Sinfonie („Sinfonie der Klagelieder“), allesamt in den siebziger Jahren entstanden, waren unmittelbar ins Politische gewendete künstlerische Demons­ trationen, für die es in der DDR kaum etwas Vergleichbares gab – zumindest nicht in der sogenannten „Ernsten“ Musik und bei den ernst zu nehmenden Komponisten. Diese Aufführungen vermittelten eine Identifikation der Komponisten und ihres Publikums mit der polnischen Nation und seiner tragenden geistigen Kraft, dem Katholizismus, die keinen Zweifel daran auf kommen ließ, wer ihr einziger Gegner war: der real-sozialistische Staat als Machtinstrument der Parteiführung. Das heißt, ein Bekenntnis zur Nation war immer auch, wenn nicht sogar vor allem eine Absage an das Politikum „Staat“. Dies aber ermöglichte einen Ton von Affirmation, der unter anderen Bedingungen problematisch erscheinen konnte und – musste. Eine andere Situation bestand in der DDR. Die Trennung von Nation und Staat war hier ebenso schwierig wie der Versuch, eine allgemein akzeptierte geistige Kraft erkennen und ihr gemäß handeln zu wollen. Die religiösen Kräfte, selbst der zahlenmäßig dominierende Protestantismus, waren zumindest bis Mitte der achtziger Jahre, bis zum Beginn von Glasnost und Perestroika in der Führungsmacht Sowjetunion, vorrangig auf Ausgleichsbemühungen mit dem Staat bedacht – womit individueller Widerstand und der von einzelnen Gruppen und Zentren keineswegs unterschätzt werden sollen. Die vorherrschende Tendenz zum Ausgleich, zur Beschwichtigung hatte ihre konkreten Gründe, nicht zuletzt jedoch den, dass die religiösen Bindungen auch nicht annähernd so tief in breitere Schichten des Volkes griffen wie dies in Polen der Fall war.

Entfremdungen Kaum weniger zwiespältig war in der DDR das Verhältnis zwischen Nation und Staat. Der Staat behauptete, seit den späteren fünfziger Jahren und mit aller ihm zur Verfügung stehenden Macht nach dem Mauerbau, die Einheit beider, die sich in der sozialistischen „Staats-Nation“ vollende. Für eine Mehrheit der Menschen jedoch blieb die „Nation“ aus bekannten Gründen stets eine gespaltene, und der „Staat“ eine feindliche, zumindest aber fremde Macht, die eine „Teil-Nation“ zu unterwerfen trachtete, indem sie sie zur „Voll-Nation“ erklärte – zum „Staatsvolk der DDR“. Das hatte nun zur Folge, dass sich diese Mehrheit nicht nur dem Staat, sondern auch ihrem nationalen Selbstverständnis entfremdete. Die eine „Teil-Nation“ 586

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befand sich im unerreichbaren Westen, die andere war von einer ungeliebten sozialistischen Staatsdoktrin okkupiert. Es entstand hier eine Art öffentliches Vakuum, das dazu zwang, nach anderen Identifikationsmöglichkeiten Ausschau zu halten. Welche aber nun in der Kunst auch immer gefunden oder gewählt wurden: sie mussten sich geradezu gegen den Staat richten, allein schon deshalb, weil dieser jede öffentliche Bekundung, die nicht der Parteidoktrin folgte und hierzu individuell gewählte Mittel verwendete, mit Misstrauen beobachtete und letztlich, wenn eine Gefährdung des Bestehenden vorzuliegen schien, mit Verboten belegte. Indem nicht nur der Staat, sondern auch die Nation und – wenn auch aus anders gelagerten Gründen – die Religion als Identifikationsmöglichkeiten ausschieden, erhielt das Subjektive oder um es etwas pathetisch zu sagen: das subjektive Verantwortungsbewusstsein einen umso größeren Stellenwert. Und das war keineswegs neu und gehörte, in der Musik vor allem durch die Schriften Adornos, zum Bild, das man sich von Ludwig van Beethoven, Richard Wagner, Gustav Mahler oder Arnold Schönberg – wenn auch mit stets anderer Akzentuierung – machte. Es war dies nun zugleich die leitende Traditionslinie, an der sich eine Reihe von DDR-Komponisten orientierte. Dieses Erbe bedeutete für sie nichts Geringeres als ein gesellschaftlich wie künstlerisch fortschrittliches Verhalten, das zu dem der parolendurchtränkten, von politischen Behauptungen lebenden Führungsschicht zwangsläufig querstehen musste. Die in Musik gefassten Gedanken dieser Komponisten schlugen direkt in die Sphäre des Staates durch, von keiner ‚nationalen‘ oder ‚religiösen‘ Affirmation gemildert, abgelenkt oder aufgehalten. Diese Komponisten hatten gegenüber dem Staat keine Alternative außer – der Kunst. Alles Affirmative war suspekt. Mit dem Generationenwechsel um 1970 war sofort ein kritischer Ton zu vernehmen, der so mancher Aufführung eine heute nur noch begrenzt nachzuempfindende Gespanntheit, ja Explosivität verlieh. Dass dieser Ton von den Parteiwächtern nicht so scharf kontrolliert wurde wie andere kritische Äußerungen, lag anfangs wohl daran, dass er sich eben vornehmlich im Klanglichen, im NonVerbalen äußerte. Später, seit den achtziger Jahren, zwangen schwerer wiegende, voran wirtschaftliche Konf likte dazu, auf künstlerische „Kontrolle“ fast vollständig zu verzichten. Das hat, nebenbei gesagt, dann auch wieder zu krisenhaften Erscheinungen im Schaffen der Komponisten zumindest beigetragen: der gehasste, aber künstlerisch produktiv machende ‚Gegner‘ ging als hoffnungslos geschwächt verloren, eine Erfahrung, die dann nach 1989 unter geeinten bundesrepublikanischen Bedingungen erneut, freilich aus etwas anderen Gründen, doch mit nicht minder lähmenden Folgen, zu machen war. Und dies nicht zuletzt von Friedrich Goldmann.

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Sinfonie 1 – Individualität und Traditionsbindung als Sprengkräfte Zugleich aber tritt aus dieser Perspektive die historische und ästhetische Positionierung eines Werkes wie dessen Sinfonie 1 umso deutlicher hervor. Sie entstand zu einem Zeitpunkt, als die kulturpolitischen Maßgaben der Herrschenden zwar formal und durchaus auch repressiv noch immer geltend gemacht wurden, jedoch angesichts der politischen Großwetterlage allmählich vollends an Glaubwürdigkeit und somit an Wirkungskraft verloren. Der betagte Paul Dessau, dem trotz einiger künstlerischer Widerborstigkeit kaum kritische Distanz zu seinen führenden Genossen nachgesagt werden kann, hat um die Mitte der siebziger Jahre in einer Veranstaltung des Komponistenverbandes auf die wieder einmal auftauchende Frage nach „Wesen und Erscheinung des sozialistischen Realismus“ mit einem Gleichnis sinngemäß geantwortet: Jeder weiß, dass auch die Anophelesmücke einen Penis besitzt, doch niemand hat ihn bislang gesehen. Hier könnte Friedrich Goldmann angesetzt haben: die Sinfonie macht wahrnehmbar, wie eine stets nur gebetsmühlenhaft geforderte Anknüpfung, Aneignung und Weiterführung klassischer Vorbilder – im Grunde das, was bislang unter sozialistischen Vorzeichen nur eine Schimäre gewesen war – reale, zeitrelevante, also „realistische“ Gestalt annehmen kann und in der Tat annimmt. Das Werk weist äußerlich kaum besondere Auffälligkeiten oder gar Exzentrizitäten auf: Drei Sätze in der vertrauten Folge schnell-langsam-schnell, deren Formen nicht weniger klar zu vernehmen sind: Durchführungspartien und Reprisen in den Ecksätzen verweisen auf die Sonatenform, der mittlere auf die mehrteilige Liedform. Es gibt motivisch-thematisch geprägte Abschnitte, in denen und mit denen gearbeitet, also ‚entwickelt‘ wird und zwischen denen sogar dualistische Beziehungen entstehen; die Orchesterbesetzung verweist mit Ausnahme des erweiterten Schlagzeugapparats auf die des frühen bis mittleren 19. Jahrhunderts, verzichtet also fast ganz auf die Standards des ‚großen Orchesters‘, die sich von Berlioz und Wagner zu Strauss, Mahler, Aleksandr Skrjabin oder dem frühen Schönberg entwickelt hatten. Damit aber wird bei Goldmann auch nicht deren sinfonischer Typus zum Orientierungspunkt, sondern eher der der Haydn-Mozart-Zeit mit jener Fortsetzung durch Beethoven, die zumal in dessen Achter Sinfonie bereits auf eine Art kritischer Ref lexion der Gattung Sinfonie abzielte. Ausgeschlossen blieb für Goldmann auch jede Spielart des Neoklassizismus – er hasste diesen geradezu. Dem widersprechen keineswegs partielle Anklänge etwa an die beiden Sinfonien Igor Strawinskys aus den vierziger Jahren, insbesondere an die Sinfonie in drei Sätzen. Doch diese Nähe ergibt sich aus der Tatsache, dass in Strawinskys exponierten Werken ab den zwanziger Jahren das neoklassizistische Moment in die eigene, eigenständige musikalische Gestaltungs- und Ausdrucksweise transformiert wird, die von Pulcinella bis zu den Requiem canticles –

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entgegen noch immer verbreiteter Klischeevorstellungen – eine weitgehend einheitliche Entwicklung umfasst. Ob auch Friedrich Goldmann eine solche Kontinuität, zumal ab den späteren achtziger Jahren, zu wahren vermochte, ist eine naheliegende, hier aber nicht zum Thema gehörende Frage. Selbst die Gestaltungselemente, die Goldmann aus näherer Vergangenheit und der Gegenwart aufgreift wie Aleatorik, Clusterklänge oder Geräuscheffekte, bleiben einigermaßen unauffällig, da stets bestimmten, kontextgebundenen Ausdrucksabsichten untergeordnet. Oder sie scheinen, im Gegenteil, die Aufmerksamkeit geradezu demonstrativ auf sich zu ziehen wie im Fall der ZwölftonMethode, nach der das gesamte Stück gearbeitet ist. Goldmann verwendet im Wesentlichen nur eine einzige Reihe, nur im dritten Satz erscheinen an markanten Punkten abweichende Tonfolgen, die aber keine weiteren Auswirkungen haben. Die Konstruktion der Grundreihe wirkt merkwürdig vordergründig, obwohl die Reihe selbst so gut wie keine thematische Gestalt annimmt. Sie ist eben ein Materialfundus, aus dem nach dem Baukastenprinzip die Teile entnommen und in ständig wechselnden Konstellationen verwendet werden. Zudem erinnert diese Materialanordnung an bekannte Reihenformungen bei Anton Webern, etwa in dessen Konzert für 9 Instrumente op. 24 oder im Streichquartett op. 28. 1. Satz, ab Takt 1: d–e–cis–es b–a–c–h ges–f–g–as 3. Satz, ab Takt 1: a–c–h b–g–as f–ges–es d–cis–e Es handelt sich um das allbekannte B-A-C-H-Motiv, das in seinen jeweiligen Umformungen der Viertongruppen ohne Einbeziehung weiterer Transpositionsstufen erscheint (hier ist also Weberns Quartett das Vorbild). Für den dritten Satz erfolgt eine Aufteilung in vier Dreitongruppen (ähnlich Weberns Opus 24), die alternativ auch zu zwei Sechstongruppen zusammengezogen werden. Die vordergründige Verwendung der ebenso berühmten wie berüchtigten Zwölftontechnik, dazu noch verbunden mit dem längst auch zu plakativen Zwecken abgesunkenen B-A-C-H-Motiv, kann kein Zufall sein und ist es auch nicht. Auszuschließen ist bei Goldmann allerdings jeder ‚Hommage à‘-Effekt und unwahrscheinlich ebenfalls, dass er den ‚Formalismus-Schnüff lern‘ einmal zeigen wollte, dass selbst mit dieser Technik nicht nur ‚verkopfte‘, sondern auch ‚anhörbare‘ Musik komponiert werden könne. Das ist nicht selten geschehen und durchaus nicht nur in parodistischer Absicht. Denkbar wäre wohl eher, dass Goldmann einen konkreten Traditionsbezug schaffen wollte zu einer der Grundüberzeugungen Schönbergs, der zufolge es nicht darauf ankomme, wie etwas gemacht ist, sondern darauf, was es ist. Dies wäre zugleich auch ein Halt gebender Grund für die bereits angesprochene Tatsache, dass der Komponist – im Allgemeinen wie besonders in dieser Sinfonie – wenig Interesse an den technischen Aspekten von Modernität zeigt, etwa 589

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Sinfonie 1 von Friedrich Goldmann

durch forcierte Erweiterungen in den Bereichen von Spieltechnik, Klangerzeugern, Aufführungs- und Klangdispositionen usw. In diesem Punkt vertritt Goldmann durchaus so etwas wie eine Gegenposition zu seinem Kompositionsfreund Friedrich Schenker oder auch zu Christfried Schmidt, die aggressiv im Lauten wie im Leisen und zuweilen auch mit verstörenden Klangexzessen ihren Protest gegen eine immer lebensfeindlicher werdende Welt und ihre Utopien von einer besseren Klang werden lassen. Schenker knüpfte dabei bewusst auch an die Traditionen proletarisch-revolutionärer Kunst der zwanziger Jahre insbesondere in der Sowjetunion an – die für Goldmanns musikalisches Denken, ungeachtet aller Wertschätzung als historische Ereignisse wie der von ihnen beeinf lussten künstlerischen Leistungen in der Gegenwart, kaum eine Rolle gespielt haben dürften. Kernstück von Goldmanns Sinfonie 1 ist zweifellos der langsame Mittelsatz, eine Art ‚Nachtmusik‘, die mit einem äußerst verhaltenen Wechselspiel variierender Bläserklänge und raunender, rhythmisch verzahnter Streicherfiguren beginnt. Dabei gewinnen die gehaltenen Klangbänder der Bläser immer mehr Gewicht, sodass sie den schwankenden Bewegungen der Streicher gegenüber wie eine ‚stehende Musik‘ wirken, zu der sich dann auch für einen Augenblick beide Instrumentengruppen zu verbinden scheinen. Doch der erweist sich sogleich als Auslöser für eine aleatorisch gestaltete Passage, deren Abschnitte von Pausen markiert sind und wiederum eine geheimnisvolle Atmosphäre verbreiten – Robert Schumanns „Waldstimmungen“ klingen zunächst von fern an, wie das Ganze dann auch durch hinzutretende Einwürfe von Bläsern und Schlaginstrumenten an eine surreale Transformation der „Szene am Bach“ aus Beethovens Pastorale erinnert. Doch die stimmungsvolle Atmosphäre währt nicht lange, hereinbrechende Blechbläserstöße wirken wie Einhalt fordernde Memento-Rufe, die dann auch den Kulminationspunkt des Satzes und seinen wie ein Zusammenbruch erscheinenden, verlöschenden Ausklang auslösen. Der „senza vibrato“ und pp zu spielende Schlusston der Piccolof löte über einem kaum mehr wahrzunehmenden Geräuschklang der anzukratzenden Subkontra-A-Saite des Klaviers könnte eine Erinnerung an das ganz ähnlich auskomponierte Verlöschen des ersten Satzes von Gustav Mahlers Neunter Sinfonie sein (Piccolof löte über Flageoletts von Harfe und Celli) – ein Werk, das Goldmann seit seiner Studienzeit fasziniert hat. Wie Schalen umfassen die Ecksätze diesen Mittelsatz. Beide haben sie eine sonatenhafte Grundstruktur, die im ersten Satz, wie bereits erwähnt, eine im traditionellen Sinn durchaus ernsthaft wirkende Durchführungsbewegung einschließt. Ausgangspunkt sind dualistisch angelegte, klanglich-motivische Gebilde, die sich im Lauf des Satzes immer mehr durchdringen und in eine auftrumpfende Reprise münden. Doch dieser Triumph wirkt wie hohler Lärm und ist dies auch – wie bereits zuvor sich aufreckende Gesten immer wieder kläglich abstürzen oder durch hakenschlagende Wendungen ins Fratzenhafte abgleiten. Dieses Verwirr590

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Mathias Hansen

spiel setzt sich im dritten Satz fort, verstärkt noch durch parodistisch wirkende Effekte, die vernehmbar auf den letzten der Sinfonie in drei Sätzen von Strawinsky verweisen. Am Ende kommt es noch einmal zu einer dynamischen Aufgipfelung, zu einer zerklüfteten, alle Bande von Form und Struktur niederzureißen scheinenden Schlusssteigerung, die aber – nicht anders als jeder zuvor unternommene Versuch des Durchbruchs, des Triumphs, der Affirmation – ins Leere mündet. Es erinnert dies wiederum an den späteren Mahler, neben der Neunten Sinfonie vor allem an Das Lied von der Erde, erinnert aber auch an Thomas Manns Komponistengestalt Adrian Leverkühn, der die Neunte Sinfonie (hier konnte es allerdings nur DIE EINE geben) zurücknehmen wollte – Beethovens Utopie des Humanen angesichts dessen, was nunmehr die Realität war. Friedrich Goldmann hat ähnlich gedacht. Ihm waren Hoffnung und Zuversicht problematisch geworden, um es vorsichtig zu formulieren. Zugleich aber trieb ihn eine nicht nachlassende Sehnsucht an, das Unmögliche dennoch irgendwie erfahrbar zu machen. Also kein blanker Verzicht oder gar eine Pose wohlfeiler Absage, die in der Regel in belanglosem Dilettantismus endet. Stattdessen das risikovolle Einlassen auf die Tradition, das musikalische Erbe nicht preiszugeben und es immer wieder in ihrem Geist zu versuchen. Vielleicht war Friedrich Goldmann der Komponist seiner Generation, der diese Tradition, die von Mahler über Schönberg, Stockhausen, Bernd Alois Zimmermann, György Ligeti oder Nono führt, am deutlichsten, nachhaltigsten und damit aber auch am risikovollsten aufgenommen hat. Und das dürften verständigere, ehrlichere, weniger opportunistisch eingestellte ältere Komponisten von Sinfonien wie der erwähnte Günter Kochan, aber auch Johann Cilenšek oder Fritz Geißler wahrgenommen haben. Und dieses Verständnis hat dann auch die parteiamtliche Kritik beeinf lusst, hat sie gezügelt und den Kunstwächtern so etwas wie schweigende Zustimmung abgerungen. Es gibt ein Foto, aufgenommen in den späteren siebziger oder frühen achtziger Jahren auf einer Komponistenverbandstagung, das Friedrich Goldmann an einem Tisch sitzend mit dem nun zum Mitglied des Zentralkomitees der SED aufgestiegenen Ernst Hermann Meyer zeigt – ein Generationenwechsel: Meyer schülerhaft gesenkten Haupts, ihm gegenüber mit belehrend ausgestreckten Zigarettenhaltefingern jemand, gegen den er (nicht mehr) ankommt, dem er aber aus seinem Selbstverständnis wie aus seinem Parteitreueverständnis heraus auch nicht offen zustimmen kann. Deshalb bleibt ihm nur das Schweigen, das dann eben in der Kulturpolitik der DDR bis zu ihrem klanglosen Ende zur allgemein verbindlichen Haltung gegenüber Friedrich Goldmann geworden ist – ein Schweigen, das dann auch gleichsam stillschweigend verliehene Auszeichnungen wie Kunst- und Nationalpreis der DDR einschloss. Goldmann hat dies alles – zumindest äußerlich – gelassen hinnehmen können. Schließlich wurde mit Werken wie der Sinfonie 1 das westliche Ausland auf ihn 591

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aufmerksam und bereitete ihm wie auch einigen anderen seiner Komponistenkollegen willkommene Aufführungs- und Publikationsmöglichkeiten – allerdings auch hier zumindest für Goldmann, wie gesagt, mit zwiespältigen Folgen. Die Segnungen der Anerkennung seit den siebziger und achtziger Jahren (nach dem Motto „Im Osten komponieren und im Westen dinieren“, was bei nicht wenigen ‚West-Komponisten‘ durchaus Neidgefühle geweckt hat) nahmen mit Auslaufen dieses ‚DDR-Bonus‘ in den neunziger Jahren deutlich ab und versiegten in bestimmten Fällen auch völlig – zumindest derzeit. Aber es sind ja in der Geschichte so manche Wiedererweckungen geschehen – darunter auch solche, von denen man nicht geglaubt hätte, dass sie jemals geschehen könnten.

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Oliver Korte

Klanggestalten und Klanggesten bei Luigi Nono Oliver Korte Als zentrale Figur der deutschen Nachkriegs-Avantgarde leistete Luigi Nono maßgebliche Beiträge zur Entwicklung und Ausdifferenzierung der seriellen Musik. Entsprechend intensiv wurden seine seriellen Techniken in den Forschungsfokus genommen. Andere wichtige Aspekte seines Stils wurden demgegenüber weniger intensiv behandelt. In diesem Beitrag soll darum die Perspektive verändert werden, indem zwei Werke Nonos als Klang feldkompositionen analysiert werden. Es soll die Art und Weise untersucht werden, wie sich in diesen Kompositionen Einzeltöne zu Gruppen und Schwärmen mit jeweils spezifischen Eigenschaften zusammenschließen. Die punktuelle Kompositionsweise war Nono von Anfang an suspekt. Diese Ablehnung hatte für ihn sogar gesellschaftliche Gründe: Also punktuell habe ich nie komponiert; das ist eine Erfindung der Kritiker. Ein musikalisches Konzept, in dem jeder Tonpunkt in sich hermetisch geschlossen ist, entspricht einem Denken, das mir völlig fremd ist. Das würde ja, auf den Alltag übertragen, bedeuten, daß jeder Mensch sich selbst genug sei und nur darauf ausgehen müsse, in sich selbst sich zu realisieren. Für mich stand aber immer schon fest, daß ein Mensch sich ausschließlich in seinen Beziehungen zu den Mitmenschen und zur Gesellschaft realisieren kann.1

Zurückübertragen auf die Musik bedeutet das, dass der Sinn jedes Einzeltones sich nur aus dessen Umfeld erschließt, dem engeren und weiteren. Nono spricht von einem „Netz, das sich in allen Richtungen spannt.“ 2 Tatsächlich dringt er mit Il canto sospeso (1955/56) und besonders mit Cori di Didone (1958) weit vor in den Bereich der erst ab 1959 in Mode kommenden Klangfeldkomposition. So erkennt Erika Schaller in beiden Werken morphologische Prozesse, wie die „allmähliche Ambituserweiterung und/oder -verengung eines enggeschichteten Klangfeldes“ und rückt diese in die Nähe der bekannten Klangfeldkompositionen Threnos (1959/61) von Krzysztof Penderecki und Volumina (1961/62) von György Ligeti. In jenen seien allerdings die Klangprozesse „durchweg klarer, da das kompositorische Augenmerk“ dort „in erster Linie auf den Verlauf der Hüllkurven sowie deren klangfarbliche Ausfüllung gerichtet“ 3 sei. Schaller weist zu Recht darauf 1

Luigi Nono, „Gespräch mit Hansjörg Pauli“ [1969], in: Luigi Nono. Texte – Studien zu seiner Musik, hg. von Jürg Stenzl, Zürich 1975, 198–209, hier 200. 2 Ebd. 3 Erika Schaller, Klang und Zahl. Luigi Nono. Serielles Komponieren zwischen 1955 und 1959, Saarbrücken 1997, 136–137.

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Klanggestalten und Klanggesten bei Luigi Nono

hin, dass die in den erwähnten Werken Pendereckis und Ligetis genutzte grafische Notation bei Nono aufgrund der hohen seriellen Binnendifferenzierung der Klangfelder „undenkbar wäre.“4 Eine Grundannahme dieses Beitrages ist nun, dass die Übertragung eines konventionell notierten Notentextes in eine grafische analytische Repräsentation solche Klangprozesse in besonderer Weise sichtbar machen kann. Für den im Folgenden angestellten Versuch, Teile des Canto und der Cori grafisch zu analysieren, befinde ich mich in einer komfortablen Ausgangslage, denn es liegen bereits ausgezeichnete Arbeiten zu beiden Werken von Wolfgang Motz5 und Erika Schaller 6 vor. Deren Schwerpunkt ist die serielle Analyse – und in dieser Hinsicht sei generell auf ihre Untersuchungen verwiesen. Auch die klangliche Seite der Kompositionen kommt bei Motz und Schaller ausgiebig zur Sprache, allerdings nicht in vergleichbarer systematischer Tiefe. Im vorliegenden Beitrag soll also ein ergänzendes Mittel der spezifisch klanglichen Analyse vorgeschlagen werden. Um die Klangfelder und deren Metamorphosen sichtbar zu machen – und vermittels der Visualisierung auch klarer hörbar –, werden alle Töne in ein Koordinatensystem übertragen, dessen horizontale Achse die Zeit und vertikale Achse die Tonhöhe repräsentiert. Diese Methode wurde in verschiedenen Varianten für die Untersuchung von Klangfeldkompositionen angewandt, beispielsweise von György Ligeti. Dabei ist zu beachten, dass es sich bei musikanalytischen Grafiken oftmals weniger um Analysemittel, als um vereinfachte grafische Repräsentationen musikalischer Verläufe handelt. Beispielsweise haben die „schematischen Darstellungen“ in Helmut Lachenmanns bekanntem Artikel „Klangtypen der Neuen Musik“ 7 den Zweck einer vereinfachenden Generalisierung. In der vorliegenden Untersuchung verhält es sich anders. Die Tonhöhen und Dauern sämtlicher Einzelereignisse wurden vollständig nach Tonhöhe und Tondauer abgebildet.8 Das entstehende Bild ist also nicht das Ergebnis einer bewertenden Analyse, sondern erst deren Grundlage, es ermöglicht eine Untersuchung tonräumlicher Prozesse oberhalb oder jenseits der seriellen Faktur. Solche Prozesse bezeichne ich in Folge als „Klanggestalten“, die zeitlich knapperen, in Analogie zu rascheren Körperbewegungen begreif baren aber als „Klanggesten“. 4 Ebd. 5 Wolfgang Motz, Konstruktion und Ausdruck. Analytische Betrachtungen zu „Il Canto sospeso“ (1955/56) von Luigi Nono, Saarbrücken 1996. 6 Schaller, Klang und Zahl. 7 Helmut Lachenmann, „Klangtypen der Neuen Musik“ [1970], in: Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1966–1995, hg. von Josef Häusler, Wiesbaden 22004, 1–20. 8 Allerdings kann in dieser Darstellungsweise der Parameter der Dynamik nicht in gleicher Präzision wiedergegeben werden und ebenso wenig Spieltechniken und Details der Textbehandlung. Darin liegt eine Vergröberung. Sie musste zugunsten der umso klareren Abbildung der anderen Parameter in Kauf genommen werden.

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Oliver Korte

Die Reihe Weiter oben wurde Erika Schallers Feststellung zitiert, dass sowohl im Canto als auch in den Cori die „allmähliche Ambituserweiterung und/oder -verengung eines enggeschichteten Klangfeldes“ eine wichtige Rolle spiele. Dies steht in unmittelbarer Verbindung mit der beiden Werken zugrundeliegenden Tonreihe: a.

b.

c.

d.

Beispiel 1: Luigi Nono, Grundreihe zu Il canto sospeso (dort auf a) und Cori di Didone.

Es handelt sich um eine symmetrische Zwölftonallintervallreihe und damit um eine besonders strenge Konstruktion;9 dies ist aber von untergeordneter Bedeutung im Vergleich zu ihrer ausgeprägten Gestalthaftigkeit, welche sie einzigartig unter allen symmetrischen Zwölftonallintervallreihen macht. Genau diese Gestalthaftigkeit nutzt Nono in seinen Werken. Je nachdem, in welcher Oktavlage man die Töne der Reihe anordnet, ergibt sich ein Tonraum, der sich chromatisch ausdehnt oder zusammenzieht (Bsp. 1a und 1b). Dies hat ihr – neben dem Namen „Nonoreihe“ – auch den Namen „Spreizreihe“ eingetragen. Die Oktavlagen lassen sich auch so anordnen, dass sich die Reihe bis zur Mitte hin spreizt und danach wieder zusammenzieht (Bsp. 1c) und umgekehrt (Bsp. 1d). Bei den beiden letzten Versionen wird die Eigenschaft der Symmetrie besonders augenfällig. Nun ist die Reihe selbst noch präkompositorisches Material. Ihre Gestalthaftigkeit wird erst dann auch musikalisch relevant, wenn der Komponist sie im Werk in nachvollziehbarer Weise ref lektiert. Dies trifft bereits auf mehrere Abschnitte des Canto zu; in differenziertester Form erscheinen ihre Gestaltvarianten 9

Eine Zwölfton-Allintervallreihe enthält alle zwölf Töne der chromatischen Skala und zugleich zwischen den Reihentönen alle elf Intervalle von der kleinen Sekunde bis zur großen Septime. Die zusätzliche Eigenschaft der Symmetrie ist erfüllt, wenn ihr zweiter Hexachord der tritonustransponierte Krebs des ersten ist. Es existieren nur 176 solche Reihen. Die AllintervallEigenschaft der Nono-Reihe offenbart sich, wenn alle Intervalle aufwärts gelesen werden. Die Intervallfolge der Reihe, gezählt in Halbtonschritten, lautet: 1–10–3–8–5–6–7–4–9–2–11.

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aber in den Cori. Sie sind in verschiedenen Größenordnungen und Klarheitsgraden in die Kompositionen hineinprojiziert. Hier sei die Hypothese geäußert, dass Nonos kompositorischer Ausgangspunkt vielleicht gar nicht die Reihe war, sondern dass er sie umgekehrt erst im Hinblick auf die gewünschten Klanggestalten auswählte. Jedenfalls ist die besondere Gestalt der Reihe sicher ein Hauptgrund dafür, warum er sie in nicht weniger als sechs Kompositionen nutzt.10

Il canto sospeso Nonos Werk Il canto sospeso (1955/56) für Soli, Chor und Orchester liegen Abschiedsbriefe zum Tode verurteilter Widerstandskämpfer gegen den Faschismus zugrunde.11 Nono schreibt darüber: Die Botschaft dieser Briefe der zum Tod verurteilten Menschen ist in mein Herz eingemeißelt wie in die Herzen aller derjenigen, die diese Briefe verstehen als Zeugnisse von Liebe, bewußter Entscheidung und Verantwortung gegenüber dem Leben und als Vorbild einer Opferbereitschaft und des Widerstandes gegen den Nazismus, dieses Monstrum des Irrationalismus, welches die Zerstörung der Vernunft versuchte. […] Das Vermächtnis dieser Briefe wurde zum Ausdruck meiner Komposition.12

Zuerst sei der rein instrumentale vierte Satz des Werkes unter dem Aspekt der Klanggestaltung betrachtet (Abb. 1).13 10 Die Reihe erscheint in folgenden Werken Nonos: Canti per 13 (1955), Il canto sospeso (1955/56), Varianti (1957), La terra e la compagna (1957), Cori di Didone (1958) und Diario polacco ’58 (1958/59). Bernd Alois Zimmermann legt sie 1970 als auf Nono verweisendes „Materialzitat“ seiner Ekklesiastischen Aktion zugrunde; vgl. Oliver Korte, Die Ekklesiastische Aktion von Bernd Alois Zimmermann, Sinzig 2003, 48–51, 153–157. 11 Il canto sospeso für Soli, Chor und Orchester ist eine Auftragskomposition für die Darmstädter Ferienkurse 1956. Das Werk wurde aber nicht rechtzeitig fertig, sodass die Uraufführung erst am 24. Oktober 1956 in Köln unter der Leitung von Hermann Scherchen erfolgte. Nonos Textquelle war das Buch Lettere di condannati a morte della Resistenza Europea, hg. von Piero Malvezzi und Giovanni Pirelli, Turin 1954. Bereits 1960 publizierte Karlheinz Stockhausen eine Analyse des zweiten Satzes aus Il canto sospeso („Musik und Sprache“ [1960], in: Texte zur Musik, Bd. 2: Aufsätze 1952–1962 zur musikalischen Praxis, hg. von Dieter Schnebel, Köln 1964, 157–166). Stockhausen kritisiert insbesondere Nonos Textbehandlung. Seine serielle Analyse des Satzes wurde bedeutend vertieft und teilweise korrigiert in Motz, Konstruktion und Ausdruck. 12 Luigi Nono, „Text – Musik – Gesang“, in: Luigi Nono, hg. von Stenzl, 41–60, hier 60. 13 Derzeit liegen vier Aufnahmen von Il canto sospeso auf kommerziellen Tonträgern vor: 1. Ilse Hollweg (Sopran), Eva Bornemann (Alt) und Friedrich Lanz (Tenor), Kölner Rundfunkchor und Rundfunk-Sinfonieorchester Köln, Leitung Bruno Maderna, Venedig, 17. September 1960, CD: La nuova musica, Volume 1, Stradivarius, STR 10008 (1988); 2. Ilse Hollweg (Sopran), Sophia van Sante (Alt), Friedrich Lanz (Tenor), Groot Omroepkoor, Koninklijk Concertgebouworkest, Leitung Pierre Boulez, Amsterdam, 17. Januar 1965, CD: Anthology of the Royal Concertgebouw Orchestra, Volume 3, RNW, RCO 05001 (2002); 3. Barbara Bonney (Sopran), Susanne Otto (Alt), Marek

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Oliver Korte Luigi Nono, Il canto sospeso, Beginn des 4. Satzes 10ˈˈ

Zeit Takt 240

241

242

243

20 ˈˈ 244

245

c3

Vib

c2

Hr

Tp

Fl Kl

246

247

Tp Pos Xyl Kl 2 Tp

Glck

248

249

250

Bkl Tp Xyl

251

Vib Bck

a1 Tp

Mar

Fl Xyl

c1

c

Mar Tp Bkl

Pos

Tp

Mar

Tp

Glck

Hr Xyl 2 Kl Pos

 = tiefe Solostreicher flageolett = hohe Solostreicher ordinario

Impulse

2

2

3

1

3

1

3

3

1

3

2

3

2 2

3

2

2

3

Stimmenzahl

1

234

5

6

7

8

9

6

7

8

6

Abbildung 1: Luigi Nono, Il canto sospeso, vierter Satz, Beginn (T. 240–251), grafische Übertragung.

Der Beginn zeigt eine perfekte, sich aufspreizende Fächergestalt bei gleichzeitig anwachsender Stimmenzahl. Dieser sich ausdehnende chromatische Cluster ist ohne weiteres vergleichbar mit Klangprozessen in später entstandenen Werken György Ligetis, beispielsweise seinem Chorstück Lux aeterna oder seinem Cellokonzert (beide 1966). Dort sind derartige Gestalten frei komponiert, bei Nono verdankt sich die Fächergestalt einem Reihendurchlauf vom ersten zum zwölften Ton, wobei die Oktavlagen gemäß Gestaltvariante a der Reihe angeordnet sind (vgl. Bsp. 1). Nachdem der Ambitus von e 1 –es 2 erreicht ist, bleibt er für den weiteren Satzverlauf auf genau diese große Septime (bzw. verminderte Oktave) beschränkt (der Satz ist insgesamt 45 Takte lang). Die Einzeltöne der Blas- und gestimmten Schlaginstrumente ergeben zusammengenommen eine ununterbrochene Linie, sodass die schlichte Fächergestalt des Beginns zugleich als komplexe Klangfarben-Folge realisiert wird (Bsp. 2). Dabei treten der siebte, neunte und zwölfte Reihenton nicht allein ein, sondern in Verbindung mit einem oder zwei Torzewski (Tenor), Rundfunkchor Berlin, Berliner Philharmoniker, Leitung Claudio Abbado, Berlin, 9.–11. Dezember 1992, CD: Sony, SK 53 360 (1993); 4. Claudia Barainsky (Sopran), Sonja Leutwyler (Alt), Hubert Mayer (Tenor), Wiener Kammerchor, Radio Symphonie Orchester Wien, Leitung Cornelius Meister, Wien, 24. Oktober 2013, CD: My RSO II, ORF, CD 3201 (2016).

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weiteren, bereits dagewesenen Tönen.14 Da diese Töne aber stets innerhalb des auf eine große Septime beschränkten Ambitus liegen, stören sie nicht die Klarheit der sich aufspreizenden Klanggestalt. In einem Gespräch mit Hansjörg Pauli beschreibt Nono seine allgemeinere kompositorische Zielsetzung folgendermaßen: Ich wollte eine horizontale melodische Konstruktion, […] eine Linie, die manchmal aus der Abfolge von Einzel-Tönen oder Einzel-Tonhöhen entsteht und manchmal sich verdickt zu Klängen.15

11

2

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Beispiel 2: Nono, Il canto sospeso, vierter Satz, Beginn (T. 240–245), die ‚latente Melodie‘, darüber ist die zwölfgliederige Rhythmusreihe verzeichnet (Grundwert: Triolenachtel).

Der vierte Satz als ganzer ist ein einziger großer Klangprozess. Zur Satzmitte hin komponiert Nono eine sukzessive Intensivierung durch Erhöhung der Impulsdichte. Diese erzeugt er, indem er bei jedem Durchlauf der zwölfgliedrigen Rhythmusreihe (Bsp. 2) den jeweiligen rhythmischen Grundwert verkürzt: erst Achteltriolen, sodann Sechzehntel, Sechzehntelquintolen und schließlich Sechzehntelseptolen.16 Auf diese Weise wird also jeder Durchlauf gegenüber dem vorherigen verkürzt. Übertragen auf gleichlange Zeitintervalle steigt die durchschnittliche Impulsdichte im Satzverlauf im Verhältnis 3:4:5:7. Mit dem Ende des vierten Durchlaufes ist die Mitte17 erreicht, anschließend läuft der Prozess umgekehrt. Es ergibt sich also im Hinblick auf die Impulsdichte ein Bogen der Spannung und Entspannung. Unterstrichen wird er durch ein intern ausdifferenziertes, global aber unzweideutiges Crescendo vom ppp ins fff, welches ab der Satzmitte ins ppp zurückkehrt. Die Klanggestalt des vierten Satzes ist also im Hinblick auf Impulsdichte und Dynamik symmetrisch, mit einem Höhepunkt in der Mitte, ganz in Analogie zur sich öffnenden und wieder schließenden Gestalt c der Zwölftonreihe (vgl. Bsp. 1). 14 Das „Positionsreihen“ nutzende Verfahren der Tonverteilung im vierten Satz hat Motz beschrieben (Konstruktion und Ausdruck, 165–170). 15 Luigi Nono, „Gespräch mit Hansjörg Pauli“, 201. 16 Über den gesamten Satz hin läuft die Rhythmusreihe achteinhalbmal durch, zwei mal vier Durchläufe im Hauptteil und ein weiterer halber in einem kurzen Anhang. Beispiel 2 gibt die ersten beiden Durchläufe wieder. Stets erscheint die Reihe in einer anderen Rotation, also von einem anderen Startwert aus. Der zweite Durchlauf beginnt beispielsweise mit den Werten: 5, 11, 2, 1, 9 etc.; Genaueres findet sich bei Motz, Konstruktion und Ausdruck, 74–76. 17 Es handelt sich um die Mitte, wenn der Anhang nicht eingerechnet wird (vgl. Anm. 16).

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Die Bläser- und Schlagzeugklänge im vierten Satz des Canto werden zusätzlich artikuliert, indem jeder neu eintretende Ton einen Streicherschatten nach sich zieht, zuerst Flageoletts der tiefen Solo-Streicher, später (ab T. 246), ordinario gespielte Töne der hohen Solo-Streicher und schließlich (ab T. 253; nicht mehr in der Grafik) der hohen Tutti-Streicher. Diese klangliche ‚Konkretisierung‘ zur Satzmitte hin kehrt sich anschließend ebenfalls symmetrisch um. Der Klangschatten der Streicher erreicht dabei nie die Zwölftönigkeit, weil jeder Streicherton immer nur so lange erklingt, bis derselbe in der Bläser- und Schlagzeuggruppe wiedererscheint. Anders gesagt: Jeder Ton der Bläser- und Schlagzeuggruppe schaltet mit seinem Erscheinen und Wiedererscheinen seinen Streicherschatten alternierend an und wieder aus. Insgesamt also kommt im vierten Satz der klanglichen Entwicklung die zentrale Bedeutung zu. Wolfgang Motz beschreibt den Satz treffend als ein „sich dauernd umfärbendes, f luktuierendes Klangband“. Die Art seiner feinen Ausdifferenzierung gemahnt an Arnold Schönbergs Vision einer „Klangfarbenmelodie“18: Ist es nun möglich, aus Klangfarben, die sich der Höhe nach unterscheiden, Gebilde entstehen zu lassen, die wir Melodien nennen, Folgen, deren Zusammenhang eine gedankenähnliche Wirkung hervorruft, dann muß es auch möglich sein, aus den Klangfarben der anderen Dimension, aus dem, was wir schlechtweg Klangfarbe nennen, solche Folgen herzustellen, deren Beziehung untereinander mit einer Art Logik wirkt, ganz äquivalent jener Logik, die uns bei der Melodie der Klanghöhen genügt. […] Klangfarbenmelodien! Welche feinen Sinne, die hier unterscheiden, welcher hochentwickelte Geist, der an so subtilen Dingen Vergnügen finden mag!19

So deutlich Nono im vierten Satz des Canto die sich aufspreizende Variante der Reihe hervorkehrt, so offenkundig meidet er jede Ref lexion der Reihengestalt im ersten Klangfeld des zweiten Satzes. Es handelt sich um einen achtstimmigen Chorsatz (SS-AA-TT-BB). Der Text stammt aus einem Brief des 26-jährigen bulgarischen Lehrers und Journalisten Anton Popow: … muoio per un mondo che splenderà con luce tanto forte con tale bellezza che il mio stesso sacrificio non è nulla. Per esso sono morti milioni di uomini

… ich sterbe für eine Welt, die strahlen wird von so kräftigem Licht, von solcher Schönheit, dass mein Opfer nichts ist. Millionen von Menschen sind für sie gestorben

18 Der Begriff „Klangfarbenmelodie“ in Bezug auf Nono erscheint auch bei Armando Gentilucci, „Luigi Nonos Chortechnik“, in: Luigi Nono, hg. von Stenzl, 394–408, hier 402. 19 Arnold Schönberg, Harmonielehre, Wien ³1922, zit. nach der Jubiläumsausgabe Wien 2001, 503– 504.

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Klanggestalten und Klanggesten bei Luigi Nono sulle barricate e in guerra. Muoio per la giustizia. Le nostre idee vinceranno …

auf den Barrikaden und im Krieg. Ich sterbe für die Gerechtigkeit. Unsere Ideen werden siegen…20

Abbildung 2 zeigt eine Übertragung der ersten sechzehn Takte des Klangfeldes. Insgesamt ist es 34,5 Takte lang, das hier Gezeigte trifft aber im Prinzip auch auf den nicht abgebildeten Teil zu. Luigi Nono, Il canto sospeso, Beginn des 2. Satzes 10ˈˈ

Zeit Takt 108

109

110

111

c3 b2 as2

112

20 ˈˈ 113

114

115

116

117

30 ˈˈ 118

119

120

121

122

123

c3

a2

c2 1 h a1

c1

c F

Muoio

per und mondo

che

con

luce

tanto forte

con tale bellezza che il mio sacrificio non è nulla.

Impulse 4

2

pro Takt:

5

2

2

2

7

3

7

2

3

8

2

6

2

3

7

4

2

6

5

7

2

2

Stimmenzahl 4

3(!)

4

Abbildung 2: Nono, Il canto sospeso, zweiter Satz, Beginn (T. 108–123), grafische Übertragung.

Wiederum erscheinen alle Töne im Koordinatensystem als Balken, zusätzlich markieren nun dünne, senkrechte Linien direkte melodische Intervalle innerhalb einer Stimme. In allen in diesem Aufsatz zu diskutierenden Beispielen dominieren Einzeltöne, darum ist bereits ein einziges sukzessives Intervall bedeutsam. Dunkler gefärbte Balken bezeichnen Momente, in denen zwei Solostimmen ein und denselben Ton singen. In den Takten 108/109 und 110–112 handelt es sich um einfache Stimmverdopplungen, im Takt 115/116 aber bewirkt die serielle Faktur, dass zweimal derselbe Ton erklingt. Genauer: Laut serieller Rhythmusordnung ist das im Takt 113 einsetzende g noch nicht zu Ende, wenn im Takt 115 bereits das g aus dem nächsten Reihendurchlauf einsetzen muss. Nono kaschiert dies, indem er beiden Tönen die gleiche Oktavlage zuweist ( g1). Dadurch aber wird der eigentlich konsequent vierstimmig konzipierte Satz kurz dreistimmig (dies lässt sich auch auf der zweiten Zeile unter dem Koordinatensystem zur „Stimmenzahl“ ablesen). 20 Übersetzung: Sarah Perisi und Oliver Korte.

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Direkt unter dem Koordinatensystem ist kursorisch der Text angegeben. Nono zergliedert den Text bis hinab auf die Ebene einzelner Phoneme, welche er auf die Chorstimmen verteilt. Auf diese ohne Zweifel wichtige klangliche Eigenschaft des Satzes kann im vorliegenden Beitrag leider nicht genauer eingegangen werden. Auf der ersten unter dem Koordinatensystem befindlichen Zeile sind alle Impulse, also die Einsatzpunkte aller Töne zusammengefasst. Kleine Zahlen über den senkrechten Strichlein geben die Fälle an, in denen mehrere Töne gleichzeitig einsetzen. Die größeren Zahlen unter der Zeile bezeichnen die Impulsanzahl pro Takt. Es ist gut zu erkennen, wie Nono hier ein Muster periodischer Verdichtungen und Entspannungen generiert – übrigens mittels serieller Verfahren. 21 Zugleich platziert er die wenigen melodisch zusammenhängenden Zwei- und Dreitongruppen bevorzugt an den Verdichtungspunkten; er schafft auf diese Weise eine elastische, ,atmende‘ Klanggestalt mit periodisch etwa alle vier Sekunden wiederkehrender, vermehrter melodisch-rhythmischer Aktivität. Diese wechselnde ,Körnung‘ der Textur lässt sich bei angemessener Aufführung hörend sehr gut nachvollziehen. Die Grundreihe läuft über den gesamten Satz 19-mal unverändert auf der Transpositionsstufe a ab, 15-mal im ersten und viermal im zweiten Abschnitt. Ihre Fächergestalt lässt Nono dabei im ersten Klangfeld des Satzes, wie gesagt, nicht in Erscheinung treten. Die Grafik zeigt eine gleichmäßige Streuung über fast den gesamten singbaren Tonraum von gut dreieinhalb Oktaven. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig festzuhalten, dass die Oktavlagen der jeweiligen Töne als maßgebliches Mittel zur Gestaltung von Klangfeldern weder im Canto noch in den Cori seriell gesteuert sind. In dieser Hinsicht nimmt sich Nono also ganz gezielt die volle gestalterische Freiheit. So komponiert er Anfang des zweiten Satzes eine sehr wirkungsvolle Klanggeste: Das Wort „muoio“ (‚ich sterbe‘) versinnbildlicht er mit einer abstürzenden Figur aller Stimmen, gefolgt von einem steilen Anstieg auf den Worten „per un mondo“ (‚für eine Welt‘). Wolfgang Motz schreibt hierzu: Die gerichtete Bewegung der Musik im Tonraum, vom hohen Randbereich […] zum tiefsten Ton […] und wieder in die extreme Höhe […] steht in direkter Beziehung zum Text und ist Ausdruck der extremen inneren Spannung dessen, der diese Worte im Angesicht des Todes niederschrieb. 22

Anders als das längere erste Klangfeld ref lektiert das kürzere zweite (mit dem der Satz auch schließt) sehr deutlich die Gestalt der Reihe (Abb. 3), und zwar deren Variante c (vgl. Bsp. 1). Sie erscheint in einer tonräumlich gestreuten Form. Die 21 Zur seriellen Rhythmusordnung des zweiten Satzes vgl. Motz, Konstruktion und Ausdruck, 44–47. 22 Ebd., 52.

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Oktavlagen dieser Klanggestalt sind so gewählt, dass sich über vier Reihendurchläufe hinweg eine öffnende und wieder schließende Fächergestalt ergibt (zur Verdeutlichung ist in Abbildung 3 die Hüllkurve eingezeichnet). Der Ambitus weitet sich vom ersten Reihenton a1 (T. 142) um zwei Oktaven und eine kleine Terz Fis (T. 147) und eine Oktave aufwärts zum a 2 (dreimal hintereinander in T. 149–151). Anschließend zieht er sich wieder zusammen bis in den Einzelton es1, dem letzten Reihenton des vierten Durchlaufes. Luigi Nono, Il canto sospeso, Ende des 2. Satzes Zeit Takt 142

20 ˈˈ

10 ˈˈ 143

144

145

146

147

148

c3

149

150

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30 ˈˈ 152

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155

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157

0

0

0

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Muoio

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Impulse (pro Takt) 1

0

la idee 2

0

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14

4

4

1

1

Stimmenzahl 5

1

2

3

4

3

2

1

Abbildung 3: Nono, Il canto sospeso, zweiter Satz, Schluss (T. 142–157), grafische Übertragung.

Hinsichtlich der Impulsdichte und der Stimmenzahl gestaltet Nono ebenfalls einen Bogen aus Verdichtung und Entspannung und unterstreicht so die Ambitusentwicklung. Rhythmisch besteht der zweite Abschnitt des zweiten Satzes aus vier Schichten. In jeder läuft dieselbe zwölfgliedrige Rhythmusreihe ab, basierend auf sechs Fibonacci-Zahlen, die symmetrisch ab- und wieder zunehmen: 13–8–5–3–2–1–1–2–3–5–8–13. Jeder Schicht ist dabei ein anderer rhythmischer Grundwert zugewiesen: Achtel, Triolenachtel, Sechzehntel und Quintolensechzehntel. Die in Achteln umgesetzte Schicht ist also die längste. Die Symmetrieachse aller vier Schichten liegt, nur marginal gegeneinander verschoben, in Takt 150. 23 So beginnt der Abschnitt einstimmig mit dem ersten Ton der längsten 23 Nono verschiebt die Symmetrieachsen wohl deshalb gegeneinander, um zu vermeiden, dass in der Abschnittsmitte gleichzeitig in allen vier Schichten ein Ton eintritt. Die Mitte der Achtelund der Sechzehntelschicht liegen genau auf dem Taktstrich zwischen 149 und 150, während die Mitte der Quintolensechzehntelschicht um zwei Sechzehntelquintolen und diejenige der Achteltriolen um zwei Triolenachtel nach hinten verschoben ist.

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Schicht und endet einstimmig mit deren letztem Ton. 24 Wolfgang Motz merkt dabei zum Beginn an, dass die abstürzende kleine None a1-gis im Alt 2 auf dem Wort „muoio“ direkt zurückverweise auf die Sturzgeste vom Satzbeginn auf demselben Wort. 25 Nach der Achtelschicht treten hintereinander die Triolenachtel-, Sechzehntel- und Quintolen-Schicht ein. Zugleich mit der anwachsenden Stimmenzahl verkürzen sich gemäß der Rhythmusreihe zur Mitte hin die Notenwerte in jeder Stimme, sodass sich die Impulsdichte vom Beginn bis zur Mitte des Abschnitts hin beträchtlich steigert. Anschließend kehrt sich auch hier der Prozess um. Über den zweiten Abschnitt des zweiten Satzes hin vollzieht sich also wiederum ein symmetrischer Prozess des Anwachsens und Verminderns, und zwar nicht allein hinsichtlich des Ambitus, sondern auch des Rhythmus und der Stimmenzahl. Karlheinz Stockhausen hat darauf hingewiesen, dass Nono den Text, in dem es um den Sieg humanistischer Ideale geht, direkt ausdeuten könne, indem „er mit dem Wort ,vinceranno‘ die vielen kurzen Toneinsätze und großen Sprünge verbinden kann.“ 26

Cori di Didone Die diskutierten gestaltbildenden Mittel sind in Cori di Didone für Chor und Schlagzeug (1958) 27 im Vergleich zum Canto in potenzierter und ausdifferenzierter Form eingesetzt. Dem Werk liegen Auszüge aus Giuseppe Ungarettis Zyklus Cori descrittivi di stati d’animo di Didone zugrunde, in dem der Dichter die wechselnden Gemüts­ lagen der karthagischen Königin Dido vor ihrem Selbstmord beschreibt. Um 1964 schreibt Nono hierzu: Die besondere historische Bedeutung – die Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau – des Mythos (oder die Wahrheit) über Dido ist hier erweitert auf die zwischenmenschlichen Beziehungen, was auch von tragischer Zeitgemäßheit ist: die Spannung eines Lebens, das mit heftigster Intensität menschlich schöpferisch empfindet und plötzlich tragisch explodiert oder zur Explosion neigt: Selbstmord oder Mord der Gesellschaft – um mit Camus zu sprechen? 24 Auf dem ersten Schlag von Takt 142 überlappt sich der erste Abschnitt des Satzes, welcher (fast) konsequent vierstimmig ist, mit dem zweiten. Dadurch kommt es hier zu einem kurzen Maximum der Stimmenzahl von fünf synchron erklingenden Stimmen. 25 Motz, Konstruktion und Ausdruck, 53. 26 Stockhausen „Musik und Sprache“, 52. Dort gibt Stockhausen auch bereits die in diesem Beitrag in Abbildung 3 verzeichnete Verteilung der Impulse pro Takt als Zahlenwerte an. 27 Cori di Didone für gemischten Chor und Schlagzeug entstand 1958 als Auftragskomposition für die Stadt Darmstadt. Die Uraufführung erfolgte im Rahmen der Darmstädter Ferienkurse am 7. September 1958 durch den WDR Rundfunkchor Köln und Schlagzeuger des WDR Sinfonieorchesters Köln unter der Leitung von Bernhard Zimmermann.

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Klanggestalten und Klanggesten bei Luigi Nono Bei den Chören habe ich besonders das Bild von Majakowski vor Augen, von Toller, Arshile Gorki, Pavese und de Staël. Nach ,Il canto sospeso‘ und ,La terra e la compagna‘ entwickelte sich hier meine Technik im Hinblick auf eine neue Expressivität im Gesang, bei gleichzeitigem Bezug auf die beiden formenden Kräfte eines Textes: Phonetik und Semantik. 28

Die angesprochene Expressivität realisiert Nono, wie erwähnt, kaum melodisch, sondern vielmehr im Klang. Der erste Satz sei hierfür genauer betrachtet. Dessen Text (bei Ungaretti handelt es sich um das zweite Gedicht des Zyklus) folgt hier im italienischen Original und deutsch von Paul Celan. 29 La sera si prolunga Per un sospeso fuoco E un fremito nell’erbe a poco a poco Pare infinito a sorte ricongiunga.

Der Abend, ein Schwebefeuer, dehnt sich hin, es geht und geht ein Beben durchs Gras, als tät es das Endlose neu zum Geschick.

Lunare allora inavvertita nacque Eco, e si fuse al brivido dell’acque.

Mondhaft, unbemerkt ward nun geboren Echo – und ward eins mit den Schauern der Wasser.

Non so chi fu piú vivo, Il sussurrio sino all’ebbro rivo O l’attenta che tenera si tacque.

Ich weiß nicht, wer reger war, das Sich-zum-trunkenen-Bach-hin-Murmeln oder die Hellhörige, Zartschweigende.

Der Satz ist besetzt mit 32-stimmigem Chor (8S-8A-8T-8B). Abbildungen 4 bis 6 zeigen seinen gesamten Verlauf. Unmittelbar fallen die höchst unterschiedlichen Texturen ins Auge, aus welchen der Satz gefügt ist. Sie wurden zur Orientierung mit den Buchstaben A bis D versehen. Die verschiedenen Klangfelder sind zudem durch Generalpausen voneinander abgesetzt; bereits in dieser Hinsicht verhält sich der erste Satz der Cori ganz anders als die beiden oben diskutierten Sätze 2 und 4 des Canto, welche beide pausenlos durchlaufen, ersterer, weil seine Abschnitte einander überlappen, letzterer weil er einen einzigen großen, bogenförmigen Prozess darstellt. Die A-Klangfelder zeichnen sich durch kompakte Clusterstrukturen aus (Abb. 4 und 5), B, C und D sind ‚luftiger‘ und lockerer gefügt (Abb. 4, 5 und 6). Die zarten Naturbilder vom „Beben durchs Gras“ (B), „Schauern der Wasser“ (C) und „Sich-zum-trunkenen-Bach-hin-Murmeln“ (D) sind zurückhaltend und fragil umgesetzt, während die initiale Dehnung bis zum Schlüsselwort „fuoco“ ebenso kompakt und kraftvoll vertont ist, wie die ,großen Begriffe‘ des Unendlichen und des Geschicks. Nonos kompositorische Reaktion auf den jeweiligen Text ist alles andere als abstrakt zu nennen. 28 Luigi Nono: „‚Cori di Didone‘ (1958)“, in: Luigi Nono, hg. von Stenzl, 122. 29 Giuseppe Ungaretti, Das verheißene Land. Merkbuch des Alten, zweisprachige Ausgabe, Deutsch von Paul Celan, Frankfurt a. M. 1968, 14–15.

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Abbildung 4: Nono, Cori di Didone, erster Satz, Beginn (T. 1–14), grafische Übertragung.

Zuerst seien die Cluster-Felder A1–A3 genauer betrachtet. A1 ist ein gerichteter Klangprozess. Vergleichbar dem vierten Satz des Canto vollzieht sich, der Grundreihe folgend, eine chromatische Auffächerung vom Ton c1 bis zum Umfang einer großen Septime. Dabei werden am Anfang und Ende die Töne angefärbt mit dem Rauschklang „s“, welcher aus den Worten „sera“ am Beginn und „sospeso“ am Ende ausgekoppelt ist. Der erste Hexachord der Allintervallreihe (c1 –cis1 –h–d1 –b–es1) entfaltet sich bruchlos zu einem sechstönigen chromatischen Cluster, dann aber ereignet sich eine Diskontinuität: Der Tonbestand kippt in den zweiten Hexachord, welcher einen ,Rahmen‘ zum ersten Hexachord bildet, nämlich e1 –f1 –fis1 darüber, und a–as–g darunter. Die Rahmenwirkung des zweiten Hexachordes wird noch verstärkt durch die Tatsache, dass er anschließend zu seinen Rändern hin abgebaut wird. So klingen in Takt 6.3 vom bis dahin erschlossenen Tonraum nur noch die Ecktöne g und fis1, um dann nacheinander zu verstummen. Jeder Ton des Abschnittes ist mit einer eigenen Lautstärkenbezeichnung versehen, doch ist die Dynamik­ ordnung nur vordergründig punktuell. Tatsächlich unterstreicht Nono den Aufund Abbau des Klangfeldes durch eine dynamische Kurve vom ppp ins f und zurück. In Takt 8 tritt das kompakteste Klangfeld des Satzes ein (A2). Von der Mitte her wird in schneller Folge das zwölftönige Total in Gestalt eines vollständigen chromatischen Clusters aufgebaut. Dabei ist zu beachten, dass die drei ersten notierten 605

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Töne h–c1–cis1 im Tenor 1–3 eigentlich gar nicht als exakte Tonhöhen erklingen, sondern wiederum nur als Rauschklang, hier das „f “ aus dem Wort „fuoco“. 30 So treten also eigentlich gleich sechs Töne des ,Kern‘-Hexachordes gemeinsam ein. Kurz danach füllt der zwölftönige Cluster schlagartig den bisher erschlossenen Tonraum. Die dreistufige Klanggeste ist als komprimierte Wiederholung der gedehnteren Entwicklung der Takte 1–7 zu verstehen. Dies wird durch die Dynamik bestätigt. Die Geste beginnt, wie zuvor A1, im ppp mit den erwähnten Rauschklängen und wird dann kurz sechstönig, doch entfällt die fein abgestufte Entwicklung zugunsten einer Art ‚Rechteckschwingung‘. Der zentrale, zwölftönige Cluster setzt unvermittelt im f ein. Mit diesem kraftvollen Klangereignis hebt Nono das Wort „fuoco“ wirkungsvoll hervor. Der Zwölftonakkord erklingt in unveränderlichem f, kurz angefärbt von einem leiseren Gruppeneinsatz derselben zwölf Töne, und wird gefolgt von einem nur ganz kurzen sechstönigen Klangschatten (dem ,Rahmen‘-Hexachord), wiederum im ppp. Das dritte Cluster-Feld (A3) findet sich in Takt 15 mit Auftakt bis 17.3 (Abb. 5). Hier entwickelt Nono die in A1 vorgestellte und auch in den kurzen ppp-Momenten am Anfang und Ende von A2 angedeutete Idee des ,Kern‘- und ,Rahmen‘Clusters weiter. Im Vergleich zum Satzanfang ist die Reihenfolge der Ereignisse allerdings umgekehrt: Zuerst tritt der ,Rahmen‘-Cluster ein, welcher nicht wie zuvor nach außen hin abgebaut wird, sondern nach innen wächst. Der klanglich gewichtigste Unterschied gegenüber seinem ersten Erscheinen ist, dass er um eine Oktave heruntertransponiert ist, gesungen nur von Männerstimmen. Der Rahmen-Cluster und der anschließende, vergleichsweise ,ausgefranste‘ Cluster sind also klangräumlich voneinander separiert. Ein zentrales Charakteristikum aller A-Klangfelder ist noch zu erwähnen: Die Kompaktheit der Cluster wird zusätzlich unterstrichen, indem im Auf bauprozess nicht allein die jeweils neuen Töne einsetzen, wie es beispielsweise weitestgehend im vierten Satz des Canto der Fall ist (s. oben), sondern mit ihnen zusammen alle oder fast alle bereits erklingenden Töne. Und auch in den Abbauphasen der Cluster setzen wiederholt die verbleibenden Töne blockweise ein. Auf der „Impulse“-Zeile unter dem Koordinatensystem (Abb. 4) lässt sich ablesen, dass etwa im Abschnitt A1 nur ganz am Anfang und am Ende Einzeltöne eintreten, sonst immer Klangblöcke. Auch in den Koordinatensystemen selbst sind die 30 Im Falle des tonlosen Rauschklanges „s“ hat Nono dies mit dem Zeichen „+“ extra gekennzeichnet (vgl. zum Beispiel Tenor 1 und 2 und Bass 1 in Takt 1 sowie Alt 1–3 in Takt 3). Das „+“ fehlt allerdings beim Phonem „f “, obwohl es bei präziser Aussprache auch tonlos sein müsste. Aufgrund dieser Inkonsequenz gehen die Ensembles der beiden derzeit erhältlichen kommerziellen CD-Einspielungen unterschiedlich mit dem „f “ in Takt 8.1 um. Das SWR Vokalensemble Stuttgart unter Rupert Huber nimmt es tonlos (CD: Luigi Nono, Choral Works, Hänssler CD 93.022), der WDR Rundfunkchor Köln unter der Leitung von Bernhard Zimmermann in der Aufnahme der Uraufführung klingend, jedoch hört es sich dadurch eher wie ein „w“ an (CD: Musik in Deutschland 1950–2000. Rundfunkchöre 1950–1975, RCA Red Seal 88697 25235 2).

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Block-Einsätze zu erkennen, und zwar daran, dass sich die jeweiligen Tonbalken synchron dunkler färben. Je nach Abdunkelung eines Balkens singen ein, zwei, oder sogar kurzzeitig drei Solostimmen zugleich denselben Ton. Linearität tritt in den fraglichen Abschnitten also komplett zurück zugunsten einer durch interne Impulse dynamisierten Clusterharmonik. 31 Dabei wird deutlich, dass in den Cori die Anzahl der gleichzeitig erklingenden Stimmen zu einem ganz entscheidenden dramaturgischen Gestaltungsmittel geworden ist. Man vergleiche die f lexiblen und zum Teil extremen Schwankungen der Stimmenzahl mit dem zweiten Satz des Canto, in dem Nono mit der durchgängigen Vierstimmigkeit (mit der einen erwähnten Ausnahme in T. 115, vgl. Abb. 2) noch recht formalistisch verfährt. Auf das zarte poetische Motiv „E un fremito nell’erbe a poco a poco“ (‚es geht und geht ein Beben durchs Gras‘; Klangfeld B) komponiert Nono eine gegenüber dem vorhergehenden Feld A2 vollkommen veränderte Textur. Hinsichtlich der durchschnittlichen Zahl gleichzeitig erklingender Stimmen ist dieser Teil etwa dem zweiten Satz des Canto vergleichbar, doch ist die Dichte im Detail sehr f lexibel gehandhabt. Der Abschnitt ist durch drei Generalpausen in vier durchschnittlich drei- bis vierstimmige Kurzphrasen gegliedert, deren Dichte zum Phrasenende hin meist stufenweise sinkt. Auch dynamisch sind die Stimmen weniger eng aneinander gekoppelt, als zuvor in den Feldern A1 und A2. Sie können mit mf, p oder ppp bezeichnet sein und weisen teilweise zusätzliche individuelle Diminuendi und Crescendi auf, wobei das mf gehäuft am Beginn des Abschnittes und dann ab Takt 13 gar nicht mehr erscheint. Es vollzieht sich also tendenziell ein Diminuendo zum Ende hin; das Feld endet folgerichtig im ppp. Der Ambitus ist gegenüber A1 und A2 verdreifacht auf dem Raum vom F bis zum f 2 . Entsprechend locker verteilt sind die Töne: unter den Zusammenklängen findet sich nur noch eine einzige kleine Sekunde. 32 Weiterhin erklingt kein einziger melodischer Ansatz, vielmehr fügen sich Scharen von Einzeltönen zu einer wolkenartigen Textur. Klangfeld C (T. 17.2+ bis 26.1) beginnt mit einem besonderen Ereignis (Abb. 5): Endlich erklingt auf den ersten beiden Silben des Wortes „Lunare“ (‚Mondhaft‘) im Sopran 1 das erste melodische Intervall im Verlaufe des Satzes, nämlich der Sprung c1 –b1. 33 Zweifellos hat diese zarte melodische Geste in ihrem nur aus Einzeltönen bestehenden Umfeld eine herausgehobene, poetische Ausdruckqualität. 31 Nonos System der „Kettenbildung“ bei der Rhythmisierung der Tonwiederholungen hat Erika Schaller detailliert aufgearbeitet (Klang und Zahl, 148–161). 32 T. 13, es1 im Sopran 1 gegen e1 im Tenor 3. 33 Insgesamt sind nur dreizehn direkte melodische Intervalle im gesamten Satz zu singen: 1. Sopran 1, T. 17–18; 2. Sopran 2, T. 21; 3. Sopran 2 T. 22–23; 4./5. Sopran 2 und dessen Echo im Alt 2, T. 23–24 (Toneinsatz ungleichzeitig, Tonwechsel bereits gleichzeitig); 6./7. Sopran 3 und dessen Echo im Alt 3, T. 23–24 (Toneinsatz ungleichzeitig, Tonwechsel bereits gleichzeitig); 8. Sopran 4, T. 28; 9. Alt 1, T. 34–35; 10. Bass 1, T. 35; 11. Alt 2, T. 36–37; 12. Alt 3, T. 36–37 sowie ganz kurz vor Schluss 13. Tenor 3, T. 37–38.

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Abbildung 5: Nono, Cori di Didone, erster Satz, T. 15–26, grafische Übertragung.

Das Feld C unterscheidet sich klanglich von den anderen dadurch, dass hier nur die Frauenstimmen beteiligt sind. Der Ambitus liegt entsprechend eher in der oberen Hälfte des singbaren Tonraums, zwischen b und as 2 . Die Impulsdichte des Feldes C ist recht hoch, dafür treten nur fünfmal zwei Töne gleichzeitig ein, ansonsten nur Einzeltöne. Hier lohnt ein Vergleich mit Klangfeld B, in welchem die Impulsdichte nur rund halb so hoch ist, dafür aber je achtmal zwei und drei unterschiedliche Töne synchron eintreten. Der taktweise Tonumsatz ist in beiden Abschnitten ungefähr gleichhoch, nämlich etwa zehn Töne pro Takt, allerdings ist Feld C im Vergleich zu Feld B ,feinkörniger‘. Bereits in mehreren Untersuchungen 34 wurde angemerkt, dass Nono im Feld C das Wort „Eco“ (‚Echo‘) durchaus illustrativ umsetzt. Fast jeder Sopranton wird etwas versetzt von einer Altstimme nachgesungen, 35 und zwar echoartig 34 Z. B. Schaller, Klang und Zahl, 200–201. 35 Zu folgenden zwei Soprantönen findet sich kein Echo: Sopran 1: c1 in Takt 17, Sopran 2: h1 in Takt

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Abbildung 6: Nono, Cori di Didone, erster Satz, T. 26–39, grafische Übertragung.

um eine dynamische Stufe hinabgesetzt. Darüber hinaus simuliert der Komponist eine sukzessive Annäherung der Schallquelle an die Ref lexionsf läche, indem er im Verlaufe des Klangfeldes die Abstände zwischen den Soprantönen und ihren Alt-Echos verkürzt. Ab Takt 23 überlappen sie einander bereits, in Takt 24 ist Synchronität und zugleich auch identische Dynamik erreicht. 36 Nono komponiert also nicht allein das Echo, sondern zugleich auch dessen von Ungaretti besungenes Einswerden „mit den Schauern der Wasser.“ Der letzte Abschnitt des Satzes, D (T. 26–39, Abb. 6), ist wiederum geprägt von Klangfeldern aus locker gestreuten Tonschwärmen. Die Takte 26–29 und 29–33 sind gerichtete Gestalten. Sie steigen von den untersten Tönen der Bässe (im ersten Falle B, im zweiten Gis) bis zum Spitzenton c 3 der Soprane. Im Falle der nur fünfeinhalb Sekunden langen ersten Klanggestalt (D1) ist dieses Sich-Erheben besonders deutlich – sie steht in ihrer Knappheit an der Grenze zur Klanggeste. Die zweite Gestalt (D2) ist gut doppelt so lang gestreckt (ca. elfeinhalb Sekunden); sie berührt den Spitzenton gleich dreimal. Der Ambitus 22. Der Ton e 2 im Sopran 6 in den Takten 18/19 findet erst spät ein Echo, und zwar, statt in einer Altstimme, im Sopran 2 in Takt 21. Der Ton as2 im Sopran 7 in den Takten 18/19 wird seiner hohen Lage wegen nicht in einer Altstimme, sondern im Sopran 8 nachgesungen. Erwähnt sei noch die Besonderheit, dass, während alle anderen Stimmen solistisch geführt sind, Sopran 7 und 8 in den Takten 20–23 drei Töne (d2 , es1, a1) unisono singen und entsprechend auch die Echos unisono in Alt 7 und 8 in den Takten 20–24 erscheinen. 36 Die Synchronität wird in Takt 24 nacheinander in folgenden Stimmpaaren erreicht: Sopran und Alt 5: 1. Zählzeit, 4. Quintolensechzehntel; Sopran und Alt 2: 1. Zählzeit, 4. Sechzehntel; Sopran und Alt 1: 2. Zählzeit., 2. Quintolensechzehntel; Sopran und Alt 3: 2. Zählzeit, 2. Sechzehntel; Sopran und Alt 4: 3. Zählzeit, 2. Triolenachtel; sowie Sopran und Alt 6: 3. Zählzeit, 2 Achtel.

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der Schlussgestalt (D3), welche ab Takt 34 ohne Zäsur aus D2 herauswächst, greift noch einmal nach unten aus (wiederum bis zum Ton B), um sich sodann über die Dauer von etwa 15 Sekunden in Ref lexion der Gestaltvariante b der Zwölftonreihe (vgl. Bsp. 1) in die Lage des Beginns zusammenzuziehen. Der Satz endet auf einem solistischen cis1, nur einen Halbton über seinem Beginn. So ref lektiert also auch der Satz als Ganzes die Zwölftonreihe in deren Gestaltvariante c (vgl. Bsp. 1): er wächst aus einem Einzelton heraus, dehnt sich aus, blüht aus und erschließt den gesamten singbaren Tonraum, um sich am Ende, beruhigend, wieder in einen Einzelton zurückzuziehen: Die Gestalt der Grundreihe ist wirksam in allen Dimensionen des Satzes, vom lokalen Klangfeld bis hinauf zum Gesamtverlauf.

Schluss In diesem Beitrag wurden grafische Analysemethoden auf Luigi Nonos Schaffen ab 1956 angewandt. Die getreue Übertragung aller Töne in Koordinatensysteme offenbarte differenzierte Techniken der Klangraumorganisation, mit denen der Komponist Entwicklungen der ab 1959 auf kommenden ausdrücklichen Klangfeldkomposition vorwegnimmt – und zwar wohlgemerkt aus dem Seriellen heraus. Die vorgeschlagene grafische Analysemethode mag dazu dienlich sein, analytische Details aus einer auf großräumigere Prozesse gerichteten Perspektive heraus ins Verhältnis zu setzen. Das Maß, in dem Nono bereits ab 1956 systematisch Möglichkeiten auslotet, Klangfelder zu komponieren, zeigt, dass der Paradigmenwechsel von der seriellen Musik zur Klangfeldkomposition keineswegs scharf kantig war. Grundlegende Strategien der Klangkomposition wurden bereits innerhalb des Seriellen entwickelt. Vor diesem Hintergrund wäre beispielsweise neu zu fragen, welchen Gegebenheiten György Ligetis Orchesterwerk Atmosphères seine musikhistorische Schlüsselposition verdankt. Unstrittig sind die Originalität, die kompositorische Qualität und die Finesse des Werkes, einen Teil seiner singulären historischen Position verdankt es aber sicher auch Ligetis Werkkommentar im Programmheft der Donaueschinger Uraufführung 1961. In diesem Text erteilte Ligeti dem seriellen Strukturfetisch ebenso wie der Aleatorik eine klare Absage. 37 Seine ostentative Hinwendung zum Parameter des Klanges fiel zur richtigen Zeit und am richti37 György Ligeti, Atmosphères [1961], in: Gesammelte Schriften, hg. von Monika Lichtenfeld, Mainz 2007, Bd. 2, 180. Ligeti eröffnet seinen Werkkommentar zu Atmosphères mit folgendem Statement: „Strenge serielle Organisation einerseits und aufgelockerte, variable oder aleatorische Formen andererseits gelten gewöhnlich als die beiden möglichen Extreme des heutigen Komponierens, zwischen denen man alle übrigen Erscheinungen einordnet. Mir scheint indessen, daß diese Auffassung überholt ist und daß – wie so oft auf dem Gebiet des Ideologischen – die beiden Extreme in vieler Hinsicht übereinstimmen. Die Möglichkeiten für neue Arten der Komposition liegen nicht zwischen diesen Antipoden, sondern in anderen Bereichen.“

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gen Ort auf fruchtbaren Boden. Ganz neu war sein Ansatz der Komposition in Klanggestalten und Klangfarben als „eigentlichen Träger[n] der musikalischen Form“ 38 aber nicht, nur trugen Nonos Klangfeldkompositionen noch ein anderes Etikett. 39 Nono vertrat nie das für eine Weile bestimmende Darmstädter Ideal der Abstraktion, vielmehr macht die unmittelbare akustische Gestalthaftigkeit und Expressivität seiner Musik ihn zum Protagonisten einer ‚seriellen seconda prattica‘.

38 Ebd. 39 Neben Nono wären selbstverständlich noch weitere Vorreiter der Klangkomposition zu nennen, allen voran Iannis Xenakis. Und auch nach dem Erstarken der Strömung der Klangfeldkomposition war das Forschen am Klang aus dem Seriellen heraus noch nicht obsolet, wie beispielsweise Bernd Alois Zimmermanns Concerto pour violoncelle et orchestre en forme de pas de trois von 1965/66 zeigt; vgl. Oliver Korte, „‚Eine äußerst komplexe Strukturierung der Klangfarbe‘. Kompositorische Strategien in Bernd Alois Zimmermanns ‚pas de trois‘“, in: Bernd Alois Zimmermann, hg. von Ulrich Tadday, München 2005 (= Musik-Konzepte Sonderband), 51–64.

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Susanne Kogler

Gedächtnis und Erinnerung im Œuvre Gösta Neuwirths Anmerkungen zu Literatur und Musik nach 1945 Susanne Kogler Schon der Werkkatalog zeigt die Vielfalt der Autorinnen und Autoren, mit denen sich Gösta Neuwirth künstlerisch auseinandergesetzt hat: Georg Trakl, Philipp Jochen Bernauer, Adolf Wölf li, Federico Garcia Lorca, Hans Christian Andersen, Eugene O’Neill, Euripides, Pier Paolo Pasolini, Hanns Weissenborn, Ernst Jandl, Marcel Proust, Miguel Zamacois, James Joyce, Christian Morgenstern, Hugo von Hofmannsthal, Rudolf List, Charlotte Neubrand-Bentz, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Georg Heym, Karl Kraus, H. C. Artmann, Sylvia Plath, Paul Celan, indische und indianische Texte und Texte von Gösta Neuwirth selbst. Dazu kommen Werkkommentare literarischer Qualität des Komponisten.1 Und diese Liste ist keineswegs vollständig, wie Skizzenmaterial und weitere Kompositionen zeigen, wie etwa das Streichquartett (1976), das sich auf Samuel Beckett bezieht. 2 Betrachtet man Gösta Neuwirths Schaffen in Hinblick auf die Beziehung zur Literatur generell, so sind zwei wichtige Bezugspunkte zu ergänzen: Jorge Luis Borges (1899–1986) und Heimito von Doderer (1896–1966). Erzählungen von Borges liegen dem letzten der sieben Stücken für Streichquartett und dem gleichnamigen Ensemblestück L’oubli bouilli zugrunde, Doderer spielte in der persönlichen Entwicklung Neuwirths eine entscheidende Rolle. Zwei dieser literarischen Bezüge werden im Folgenden näher in den Blick genommen: zu Marcel Proust und Jorge Luis Borges. Ziel ist die Beantwortung der Frage, wie sich für Gösta Neuwirth Lebensthemen wie Gedächtnis und Erinnerung mit der künstlerischen Arbeit der Komposition zu verbinden. Dabei werden auch die Spuren, die Gösta Neuwirth mit Graz verbinden, und die Impulse, um die er die hiesige Kunstszene bereichert hat, in Erinnerung gerufen. Der Beitrag will Anknüpfungspunkte für eine dringend notwendige ausführlichere Beschäftigung mit dem Komponisten, dessen Bedeutung hier nur andeutungsweise angesprochen werden kann, aufzeigen. Methodisch dienen autobiographische Aspekte als Ausgangs1 2

Einen Überblick bietet „Inventar der Musikalien im Gösta Neuwirth-Archiv. Zusammengestellt von Werner Grünzweig und Christine Niklew“, in: Gösta Neuwirth, hg. von Werner Grünzweig, Hofheim 1997 (= Archive zur Musik des 20. Jahrhunderts 1), 72–85. Vgl. Gösta Neuwirth, „Streichquartett 1976“, in: Booklet zu Gösta Neuwirth, Streichquartett 1976, Sieben Stücke für Streichquartett, L’oubli bouilli, Donatienne Michel-Dansac, Klangforum Wien, Etienne Siebens, CD: Kairos 0012972KAI (2009), 9.

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punkte, um das Thema Gedächtnis und Erinnerung bei Proust und Borges jeweils in Hinblick auf mögliche Bezugspunkte zu Neuwirths Musik in den Blick zu nehmen.

Biographische Grundlagen: Sprachauffassung, Identität, Geschichte und Politik Gösta Neuwirths Beziehungen zu Graz reichen bis in seine Jugendzeit zurück. In dem handschriftlichen Lebenslauf, der im Universitätsarchiv der Grazer Kunstuniversität verwahrt wird, berichtet er von einem in Graz verbrachten Jahr 1953/54, in dem er als 16-Jähriger Unterricht in Violine und Musiktheorie am Landeskonservatorium erhielt. Auch eine Tätigkeit als Musikkritiker für die Neue Zeit in Graz wird erwähnt. 3 Mehrfach hat Gösta Neuwirth seine Kindheit und seinen Weg zur Musik beschrieben, sodass der Eindruck entsteht, seine Jugend habe sein gesamtes künstlerisches Leben entscheidend geprägt. Unter dem Titel Aus der merowingischen Chronik beschreibt er seine ersten musikalischen Erfahrungen mit dem Notenschrank des Vaters, zuhause beim Musizieren mit Vater und Bruder, im vom Hausarzt geleiteten Orchester als Geiger und seine ersten Lektüren, zu denen Karl May wie auch Texte Richard Wagners gehörten. Ähnlich wie Thomas Bernhard betont Neuwirth, dass sich nach dem Krieg an der grundsätzlichen kulturellen Haltung nicht viel geändert habe.4 Das Gefühl des Fremdseins wird für ihn zu einem wichtigen Lebensgefühl. Nachdem „die Kindheit aufgezehrt und die Welt der Väter eingestürzt“ war, suchte er sich in der künstlerischen Generationenfolge seinen Platz. Angesichts dessen, „daß die ganze Vätergeneration […] kompromittiert war“, sah er sich vor die Alternative gestellt, sich der „allgemeinen Wiederauf baumentalität“ anzupassen, oder einen zu ihm passenden „Begriff von Geschichte und politischem Denken zu finden“: Was ich vorfand, war das gut braun Getönte, etwas schwarz oder rot Übertünchte, in dem die Nicht-Kompromittierten eine ganz geringe Ausnahme darstellten und isoliert waren: Als ich 1954 nach Wien kam und die Schüler der Wiener Schule kennenlernte, durften sich Erwin Ratz, Friedrich Wildgans und Josef Polnauer, die keinerlei Positionen im Musikleben hatten, in Hinterzimmern treffen, während die Großen aus der Zeit von 1933–1945 noch immer in ihren unberührten Machtstellungen saßen. Unter dem Einf luß Schönbergs fand ich meine eigentlichen Autoritäten in der verschwundenen und vernichteten Welt des deutschsprachigen Judentums. 5 3 4 5

Vgl. Personalakt Gösta Neuwirth, UAKUG/AP_015. Vgl. Gösta Neuwirth, „Aus der merowingischen Chronik“, in: Gösta Neuwirth, hg. von Grün­ zweig, 23–26, hier 26. „Meinl Kaffeel, Gösta Neuwirth im Gespräch mit Werner Grünzweig und Mathis Huber“, in: ebd., 27–33, hier 32.

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Vor diesem Hintergrund setzte sich Neuwirth auch von der damaligen Avantgarde ab: „Dem ästhetischen Avantgarde-Begriff der Wiener Gruppe, die gerade eine Generation älter ist, habe ich damals versucht, einen Begriff des Neuen entgegenzusetzen, der das politische Denken miteinschließt.“6 Für Neuwirth war es selbstverständlich, ästhetisches und politisches Denken zu verbinden. Das ließ er auch in seinen Unterricht einf ließen.7 Wichtig sind dabei das Denken über die Genre-Grenzen hinaus und der Versuch, neue Kommunikationsformen zu finden. Bereits in seiner Studienzeit in Wien war für Neuwirth diesbezüglich das Theater ein Brennpunkt. 8 Grundlegende Sprachvorstellungen prägen Neuwirths Musik- und Kunstverständnis: Zunächst ist die Lust an konstruktiven, sinnverwirrenden und subversiv neu generierenden Sprachspielen zu nennen. Wie Politik für ihn „herrschaftsfreie Kommunikation“ 9 ist, so schwebt ihm ein von Heimito von Doderer beeinf lusstes Ausdrucksideal vor, das weniger durch stilistische Komplexität und Argumentation überzeugen als Verständnisangebote machen will: „dem Leser die Möglichkeit geben, von sich aus einen Schritt zu machen.“10 Doderer bot ihm hierin die Möglichkeit, sich von Adornos Einf luss zu befreien.11 Diese Haltung korrespondiert mit der oft erwähnten Verschwiegenheit bezüglich konkreter Bedeutung seiner Kompositionen. Verständnis-Angebote verbergen sich in Titeln, Werkkommentaren und reichen von Bezügen zu konkreter Literatur bis hin zu formalen Prinzipien. Als ein zentraler Aspekt seines Schaffens erscheint seine in den autobiographischen Texten angesprochene Haltung: die eigenen Wurzeln in der Generation seiner Großväter zu finden. Diese prägt auch sein Œuvre, wobei Musik und Musikwissenschaft nicht voneinander zu trennen sind. Als Musiker und als Musikwissenschaftler hat sich Gösta Neuwirth bekanntlich mit dem Fin de siècle befasst. Die Aufarbeitung der Vergangenheit schließt dabei – in noch heute vorbildlicher Weise – den kulturellen Kontext und einen weit gefassten historischen Rahmen ein.12 Bei Franz Schreker fand Neuwirth eine ästhetische Haltung, die sowohl von den Nationalsozialisten als auch von der vorhergehenden bürgerlichen Generation aus ideologischen Gründen abgelehnt und verdrängt worden war. Die 6 Ebd. 7 Vgl. ebd., 33. 8 Vgl. Helmut Satzinger, „Alle Kunst ist Zahl. Gösta Neuwirth und die Gematriya“, in: Gösta Neuwirth, hg. von Grünzweig, 34–40, hier 34–35. 9 „Meinl Kaffeel“, 33. 10 Ebd., 30. 11 Dies erläuterte der Komponist bei einem Telefonat mit der Autorin im Oktober 2017. 12 Vgl. dazu neben den bahnbrechenden Publikationen zu Franz Schreker z. B. Gösta Neuwirth, „Musik um 1900. Jugendstil und Musik: Wagner und Debussy – Zemlinsky, Schönberg, Schreker: Ein Vergleich der frühen Lieder – Stichworte zu Schrekers ‚Gezeichneten‘“, in: Art nouveau. Jugendstil und Musik, hg. von Jürg Stenzl, Zürich 1980, 89–133.

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kompromisslos provokative Darstellung der Sexualität in Schrekers Opern nennt er als naheliegenden und bisher kaum ausreichend diskutierten Grund dafür.13 Die Hinwendung zur Vorvergangenheit geht mit einer genauen zeitlichen Werkplanung einher, die Jürg Stenzl mit Doderers literarischen Bauplänen verglich.14 Erinnerung als Basis kreativen Schaffens verweist auf Neuwirths Affinität zu Marcel Proust.

Marcel Proust (1871–1922) – Erinnerung, Subjektivität, Kunst und Musik: Hören als Welt- und Lebensverständnis Prousts Œuvre steht bekanntlich für eine spezifische Zeitauffassung, die mit der Bedeutung der Erinnerung für die Gegenwart verbunden ist. „Memoire involontaire“ ist dabei ein zentraler Begriff.15 Darüber hinaus ist Prousts Roman À la recherche du temps perdu (‚Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‘, 7 Bde., 1913–27) allerdings auch ein Roman der Musik, welche in vielschichtiger und komplexer Weise thematisiert wird. Der fiktiven Musik des Komponisten Vintueil sind Elemente der zeitgenössischen französischen Musik inkorporiert, unterschiedliche philosophische Hörmodelle vom 19. bis ins 20. Jahrhundert werden diskutiert, wobei Proust sich als ernstzunehmender Musikkritiker erweist.16 Einige Aspekte dieser Musikalität Prousts können für das Verständnis der Vielschichtigkeit und der Möglichkeiten der Annäherung an Gösta Neuwirths Schaffen fruchtbar gemacht werden.

À la recherche du temps perdu Hat Neuwirth die Bedeutung von Doderer für seine Distanznahme zu Adorno betont, so kann auch die Lektüre von Proust in dieser Hinsicht verstanden werden, wobei ein zentrales Thema in den Vordergrund rückt: das der adäquaten Rezeption von Musik. Während Hören bei Adorno häufig nach wie vor verfälschend einseitig als strukturelles und analytisches Umgehen mit dem Notentext rezipiert wird,17 findet sich bei Proust ein gänzlich anderes Rezeptionsmodell. Wie Joseph Acquisto darlegte, sind Musik und Sinngeneration bei Proust eng verbunden, sodass À la recherche du temps perdu auch als Roman des Musikhörens gelesen werden kann. 13 Vgl. „Meinl Kaffeel“, 30. 14 Vgl. Jürg Stenzl, „Entweder / Oder“, in: Gösta Neuwirth, hg. von Grünzweig, 51–61, hier 45. 15 Vgl. auch Christine Mast, „Ohne Titel (…mit geteiltem Blick auf Hier et Demain)“, in: Gösta Neuwirth, hg. von Grünzweig, 51–61, sowie die Skizzen des Komponisten zu Hier et Demain im Archiv der Akademie der Künste Berlin: Neuwirth 83, 85, 86, 105, 106, 111. 16 Vgl. Cécil Leblanc, Proust. Ecrivain de la musique, Turnhout 2017. 17 Vgl. auch Claus-Henning Bachmann, „Einleitung. Die Abweichung von der Regel“, in: Gösta Neuwirth, hg. von Grünzweig, 11–22, hier 14; Stenzl, „Entweder / Oder“.

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Im Wien des Fin de siècle stand die Frage nach Stellenwert und Bedeutung von Subjektivität im Zentrum vieler Werke, unter anderem der Opern Alexander Zemlinskys, Schrekers und Alban Bergs. Sie thematisieren die Beziehungen von Selbstbild, Identität, Leben und Kunst, wobei Liebesbeziehungen im Zentrum stehen.18 Auch Proust geht diesen Themen nach, wobei dem Hören eine entscheidende Bedeutung für das Verständnis von Subjektivität und des eigenen Ichs zukommt. Bemerkenswert ist, dass sich die Proust’sche Auffassung des Hörens mit aktuellen philosophischen Positionen deckt, die dem Hören als Haltung zur Welt eine wichtige ethische Bedeutung zumessen. Mit Jean-Luc Nancy kann bekanntlich zwischen Hören und Zuhören unterschieden werden, wobei Zuhören sich von Hören im Sinne von Verstehen absetzt. Musik wird insofern zum Modell, als Zuhören als Haltung ein spezifisches Weltverständnis befördert. Entscheidend ist, dass sich nichts wiederholt, insofern als jeder gegenwärtige Augenblick immer neu erlebt und erfahren wird. Daher steht es auch zu analytischen Erkenntnissen quer.19 In Prousts Roman begegnen wir unterschiedlichen Dimensionen des Hörens. Während die sinnlichkörperliche Ebene mit sinnlichem Begehren verbunden wird, werden komplexere musikalische Wahrnehmungen mit einer komplexeren Erkenntnis der Welt und der menschlichen Beziehungen verbunden. Das zeigt sich im Unterschied der Musikrezeption von Swann und dem Erzähler. Charles Swann identifiziert das Thema der Sonate des fiktiven Komponisten Vinteuil mit Odette und geht ganz in seinem Verlangen auf. Der Erzähler hingegen geht darüber hinaus und kommt zu einer tiefergehenden Selbstreflexion. Er wird, wie Acquisto darlegt, zum Hörenden, der sich nicht nur bewusst ist, dass die Musik mit seiner Sehnsucht nach Albertine verschmelzen kann, sondern sich auch wieder von dieser Erfahrung zu distanzieren imstande ist. Die Erinnerung, die mit der Musik verbunden ist, eröffnet nicht nur Bezüge zur Vergangenheit und Kindheit, sondern schließt auch eine Reflexion der Zukunft mit ein. Der Sinn, der sich einstellt, beruht auf dem Entstehen einer subjektiven Relation zwischen Gegenwart und Vergangenheit. 20 Er unterliegt einem paradoxen Zeitgefühl: immer in der Zukunft liegend, ist er doch nur retrospektiv zu erfahren. 21 Acquisto folgert daraus für das Verständnis von musikalischem Sinn, dass dieser sich immer wieder neu in der Gegenwart konstituieren müsse: There is meaning in the music, not because it is there waiting to be discovered, but rather because it is constituted and reconstituted each time by the listening 18 Vgl. etwa Sherry D. Lee, „‚… deinen Wuchs wie Musik‘: Portraits, Identities, and the Dynamics of Seeing in Berg’s Operatic Sphere“, in: Alban Berg and his World, hg. von Christopher Hailey, Princeton 2010, 163–194, hier 170–172. 19 Vgl. u. a. Joseph Acquisto, Proust, Music and Meaning. Theories and Practices of Listening in the Recherche, Burlington 2017, 4–6. 20 Vgl. Acquisto, Proust, Music and Meaning, 32. 21 Vgl. ebd., 43.

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Gedächtnis und Erinnerung im Œuvre Gösta Neuwirths subject […] Such a perspective on meaning renders it fragile: it is available to us only in privileged moments and is constantly slipping away from itself in order to re-form itself in an echo that wreaks havoc on the notion of linear time by which we live most of our lives. 22

Die hier beschriebene, dem musikalischen Sinn zugrundeliegende Zeitauffassung erinnert deutlich an Gösta Neuwirths Vorliebe für die paradoxe Zeit des „Noch“ und „Schon“, wie er zu L’oubli Bouilli schreibt: „NOCH-SCHON das ist die kleinste Differenz, fast nichts; vor und (ungenau) zurück, und in der Mitte der einzelne Buchstabe; das Zeichen S, das vor und zurück weist.“ 23 Für Proust schließt die Hörerfahrung, wie er sie unter anderem in Bezug auf die Rezeption von Stücken Vinteuils beschreibt, alle anderen sinnlichen Erfahrungen mit ein.24 Die Überlegungen gehen dabei über das rein Musikalische hinaus. Aufgrund seiner Offenheit kann Zuhören als Erfahrung schlechthin im Gegensatz zu Verstehen und Hören verstanden werden. Prousts Darstellung des Hörens zeigt, wie künstlerischer Sinn generell generiert wird. Dieses Modell der Sinngenese kann auch als Modell für Sinngenerierung in Gösta Neuwirths Œuvre stehen, dessen über die Musik hinausgehende politische Bedeutung dadurch an Kontur gewinnt. Entscheidend ist, dass erkannter Sinn nie als letztgültig verstanden, sondern einer konstanten Revision unterzogen wird.25 Sinn ergibt sich immer retrospektiv und mit jedem erneuten Erklingen der Musik wieder neu. Für die Leser- und Hörerschaft folgt daraus, dass sie zu Mitschöpfern und Mitschöpferinnen des Werkes werden. Dabei bringen sie auch ihre eigenen Erfahrungen ein und tragen zur eigenen Identitätsfindung bei. 26 Cécile Leblanc wies darauf hin, dass die Recherche auch ein Kultur- und Künst­ lerroman ist. 27 Neuwirths Bezugnahme auf Proust kann in diesem Lichte als wichtiger Bezugspunkt für das Verständnis seines eigenen Künstlertums und seiner Auffassung der adäquaten Rezeption von Musik gesehen werden. Ein Aspekt der Recherche als Roman der Kreativität ist, dass er Erinnern und Trauer als psychologische und überindividuell ethische Reaktionen darstellt. Nicht nur die vielfach geschilderte Erfahrung des Verlusts, sondern auch der unvollendete Status der Recherche selbst unterstreichen diese Deutungsmöglichkeit. Die schmerzliche Trauererfahrung bedingt die Entscheidung des Erzählers zum Niederschreiben des Romans. Trauer ist als nicht abschließbarer Prozess gedacht. 28 Identität wird auch durch das Beziehungsgefüge des Ichs zu den bereits Verstorbenen – zur Väter22 Ebd., 42–43. 23 Gösta Neuwirth, „L’oubli bouilli – Vanish“, in: Booklet zu Gösta Neuwirth, Streichquartett 1976, 11–12, hier 11. 24 Vgl. Acquisto, Proust, Music and Meaning, 10. 25 Vgl. ebd., 14. 26 Vgl. ebd., 17. 27 Leblanc, Proust, 14. 28 Vgl. Anna Magdalena Elsner, Mourning and Creativity in Proust, New York 2017, 8.

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und Vorväter-Generation – konstituiert. Als kreative Reaktion auf einen Verlust impliziert Trauer nicht nur Verzweif lung, sondern alle Gefühle, die zwischen lebenden Menschen existieren können. 29

Zu Gösta Neuwirths Kompositionen mit Proust-Bezug Gösta Neuwirths Musik fordert ein spezifisches Hören und eröffnet eine spezifische Zeiterfahrung. Das bereits erwähnte ungenaue Anagramm NOCH-SCHON oder auch der Titel des Proust-Zyklus Hier et demain können als exemplarisch für seine Zeitauffassung angesehen werden. Durch die Gliederung in fragmentarische Abschnitte und die Vermeidung von nachvollziehbarer Wiederholung entsteht ein Ereignischarakter, der eine gespannte Aufmerksamkeit von Seiten der Zuhörenden erfordert. Die Stille, der besondere Bedeutung zukommt, lässt Nachklingen und Vorahnung zum bestimmenden emotionalen Grund der Klangereignisse werden. Allerdings kommt auch ein gestisches Moment hinzu, das für die Wirkung wesentlich ist. Bezüglich der dramatischen Kraft der musikalischen Figuren hat Neuwirth selbst von „Figurentheater“ gesprochen. 30 Die Verwendung der Sprache ist auf das Schaffen von Bezügen angelegt, welche in den Titeln anklingen. Palindrome – die an Alban Bergs Affinität zu rückläufigen Strukturen erinnern – und formale Muster generieren Sinn und Doppelsinn, welche den Gedanken einer zielgerichteten Zeit auf heben und Sinn als dynamischen Prozess zu verstehen nahelegen. Die Bezugnahme auf den Text erfolgt in subjektiver Aneignung, wie das Schandbuch der gewarnten Liebe für Violine (1984–89) 31 exemplarisch zeigt: Im Zentrum steht die Eifersucht, wie sie der in Albertine verliebte Erzähler im fünften Buch der Recherche empfindet. Das Solostück ist in ein Szenario gesetzt, das Abwesenheit sinnfällig macht. Der Text, den der Komponist zu Beginn vorträgt, um die szenischen Vorgänge hörbar zu machen, unterstreicht diese Bedeutungsebene. Die dreiteilige Komposition beginnt mit unterschiedlichen Formen des Anfangens, wobei die Reihenfolge einzelner Phrasen vom Spieler oder der Spielerin frei zu gestalten ist. Der dritte Teil ist als „Fête du zen“ gestaltet. Was einerseits Sprachspiel ist – Gleichklang von „Fetzen“ und „Fête du zen“ –, rekurriert andererseits auf eine visuelle Vorstellung, die aus einer Passage der Proust’schen Recherche stammt. Ich hatte gelebt wie ein Maler, der einen Weg erklimmt, unter dem ein See sich breitet, dessen Anblick ihm ein Vorhang aus Felsen und Bäumen verbirgt. Durch 29 Vgl. ebd., 14. 30 Vgl. Lothar Knessl, „Gösta Neuwirths Kopfwelten“, in: Booklet zu Gösta Neuwirth, Streichquartett 1976, 4–9, hier 5. 31 Vgl. auch den Eintrag „Gösta Neuwirth“, in: mica – music austria, http://db.musicaustria.at/ node/106954 (28.1.2019).

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Gedächtnis und Erinnerung im Œuvre Gösta Neuwirths eine Lücke in dieser vorgelagerten Landschaft sieht er ihn ganz und gar vor sich liegen und greift zum Pinsel. Aber da kommt auch schon die Nacht, in der er nicht mehr malen kann und hinter der kein Tag sich wieder erhebt. 32

Diese Lektüre, die von der Unfassbarkeit der Wahrnehmung, ausgespannt zwischen „noch“ und „schon“, handelt, ist selbst Erinnerung: vor 20 Jahren, so der Komponist, auf einem Zettel notiert. Den zehnteiligen Kammermusikzyklus Hier et demain hat Christine Mast als Sprachsuche charakterisiert, als „Fragmente einer Sprache, die eigene Geschichte fassen soll, im Auswendigen formend.“ 33 Die Skizzen des Gesamtprojekts, das in Graz seinen Anfang nahm, erlauben Einblicke in den künstlerischen Kosmos Neuwirths und zugleich in das kreative Klima der 1970er Jahre. Das gemeinsam mit dem bildenden Künstler Klaus Ziegler für die Eröffnung des Kongresszentrums 1979 geplante Projekt mit dem Titel Traum und Zeit34 will, so Neuwirth, „ein musikalisches und bildnerisches Konzept miteinander verbinden, in Widerspruch zueinander bringen: auf der Ebene eines gemeinsamen Themas treffen sich die verschiedenen Wege der Wahrnehmung“ – durchaus im Sinne von Prousts Auffassung von künstlerischer Erfahrung. Neuwirth geht es um grundsätzliche Dynamisierung oder auch Musikalisierung des Erlebens: „ein Drama, das nicht vorgespielt, sondern von den Zuschauern selbst verwirklicht wird“, 35 sollte entstehen. Wiederkehrende Themen, Zitate, Wörter, Klänge markieren Eckpunkte in einem Universum, dessen labyrinthischer Grundriss einer Suche nach der verlorenen Zeit zu ähneln scheint. Einprägsame Wegmarken tauchen immer wieder auf, ohne ihren Sinn einfach zu erkennen zu geben. Dieser erschließt sich nur dem Zuhörenden im Proust’schen Verständnis, Sinngenese und -transformation kommen nie an ein Ende. Die Themen Tod, Vergänglichkeit und Erinnerung sind präsent. Die Musik sollte sich „als musikalisches Drama vom vegetativen Klang bis zur reinen Form“ entwickeln und „als Verschwindende in der Zeit“ entfalten. Wichtig war Neuwirth auch, dass der Zuhörer oder die Zuhörerin „den Erfahrungs- und Konzeptionshintergrund der Musik unmittelbar“ wahrnehmen könnte, sodass ein „Bewußtmachungsprozeß“ in Gang gesetzt wird: „Zwischen Hörern und Sehern wird unsere eigene Geschichte gespielt, als Drama zwischen Abend und Mitternacht; die Hörenden und Sehenden, Komponist und Bildner, wir alle sind Akteure im Drama unseres Bewußtseins.“ 36 32 Marcel Proust, zit. nach Gösta Neuwirth, „Schandbuch der gewarnten Liebe“, in: Booklet zu Momente Neuer Musik (= Klangschnitte 3), CD: LC 6185 GE 08, ORF Steiermark (1996). 33 Mast, „Ohne Titel“, 51. 34 Vgl. die Skizzen im Gösta Neuwirth Archiv an der Akademie der Künste Berlin: Traum und Zeit, ein Proustprojekt oder ein Spiel für Hörer und Seher (1979). Entwurf für die szenische Aufführung einer Vorstufe zum Proust-Projekt, zusammen mit Klaus Ziegler (Plastik): Autogr. u. Ms. in Vervielf., 20 fol [83,2]. 35 Neuwirth, Traum und Zeit, 2. 36 Ebd.

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Das „Vorspiel“ sollte einen Keramikbrennofen vor dem Grazer Kongress in Szene setzen, umgeben von Jahrmarktbuden, die, in Fragmente zerteilt, die Schriftzüge eines Palindroms tragen: „ingi rum imus nocte et consum imur igni“, gedacht als Anspielung auf Dantes Göttliche Komödie. Der „Übergang“ ist als Weg vom Konzept zu dessen Zerstörung gedacht: Papierrollen führen die Treppen hin­auf zu einem Reißwolf, wobei die Aufnahme auf Video den Zerstörungsprozess zugleich auf heben sollte. In den einzelnen Räumen sind die vier Elemente Themen, es beginnt mit der Erde im Großen Saal. Die Musik ist dementsprechend in vier Blöcken konzipiert: Auf Proust wird in der „Musik I“ Bezug genommen, auf den Beginn des ersten Romans „mit der Zeit zwischen Nacht und Tag; dem Halbschlaf (oder HalbTraum) des Erwachens“. 37 Weitere Bezüge sind die Odyssee oder William Shake­ speare (Macbeth), Symbole und zentrale Themen sind beispielsweise Asche und der Abstieg in die Unterwelt. „Musik II“ ist als Trauermusik für Alfred Holzinger, Literaturchef von Radio Graz, 38 gedacht. Zum zweiten Satz sind Zitate Walter Benjamins notiert sowie ein Gedicht von Paul Celan. Der dritte Satz „Lob der schlechten Musik“ parodiert „Musik der Proust-Zeit“: Valses chantées des gebürtigen Wieners Rodolphe Berger (1864–1916), der als Komponist in Frankreich vor allem mit Walzern und Märschen Karriere machte. 39 Neuwirth zufolge sind sie „komponiert als vergangene Zeit; das Vergilbte als kompositorische Kategorie.“40 Prousts Text „Lob der schlechten Musik“ aus seinem ersten Buch Les plaisir et les jours (1892, dt. ‚Tage der Freuden‘, 1926) entstand zur selben Zeit wie Bergers Musik. Die Musik eines anderen Komponisten wieder lebendig werden zu lassen, wie in der 1992 schließlich realisierten Valse chantée des Proust-Zyklus, schließt Auf hebung der Zeit und ein Sich-in-Beziehung-Setzen zum Abwesenden ein. „Annäherung ans Vergangene nicht durch Ironie, Distanz, sondern durch Näherung“, schreibt Neuwirth. Der vierte Satz, Im Schatten, greift den Titel des zweiten Bandes der Recherche auf: Im Schatten der jungen Mädchen. Der fünfte, Intermittierender Nachhall für Viola, Klavier und Tonband, ist eine „Rekapitulation eines Liedes von Berger“. Das Thema „Tod“ ist mehrfach präsent: „Das Pochen des 1. Satzes verwandelt sich in ein japanisches Totenritual“, notierte Neuwirth. „Zitate brechen die musikalische Sprache auf “, ist des Weiteren in den Skizzen zu lesen, worauf ein Proust-Zitat folgt, 37 Ebd., 7. 38 Vgl. Kulturportal Steiermark, http://www.kultur.steiermark.at/cms/beitrag/11903923/25711218 (28.1.2019). Holzinger wird als Förderer von Matthias Mander in folgendem Online-Beitrag erwähnt: „Der lange Atem. Die unlängst abgeschlossene ‚Garanas‘-Trilogie des mittlerweile 80-jährigen Autors Matthias Mander harrt noch einer umfassenden Würdigung.“ 39 Informationen zu Rodolphe Berger finden sich in der Online-Datenbank der französischen Natio­nalbibliothek: http://data.bnf.fr/14835816/rodolphe_berger (29.1.2019). 40 Neuwirth, Traum und Zeit, 9.

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in dem Musik evoziert wird, die als Inspiration für musikalische Vorstellungen prädestiniert erscheint: Wenn die Instrumente schwiegen und Fluthöhe war, dann hörte man den Sturz einer Welle, welche das Streichen der Geige in ihre kristallenen Voluten zu schließen schien und ihren Schaum unter den intermittierenden Nachhall einer unterseeischen Musik schien aufschlagen zu lassen.41

Während die „Musik III“ ins 16. Jahrhundert führen sollte, bezieht sich „Musik IV“ auf „Sodom und Gomorrha“, den vierten Roman der Recherche. Homosexualität und das universale Geschwätz sind Themen. Méandres ténébreux für Violine, Klavier und Tonband (1974) versucht, „die musikalische Zeit und die Zeit in der Unterwelt übereinanderzuschichten“. „In der Mitte gibt es eine Wendestelle“, schreibt Neuwirth, in Korrespondenz zu der Stelle, in der Marcels Traum bei Proust endet. Die zentrale Bedeutung dieser Konzeption für Gösta Neuwirths Werk zeigt sich im Wiederkehren einzelner Teile und Elemente in anderem Zusammenhang. Hier ist nicht nur der Kammermusikzyklus zu nennen, sondern beispielsweise auch Josquins Chanson Incessament,42 welches in die Stücke Adagio für Flöte und Gitarre bzw. Vihuela und Differencias sobre „Incessament“ für Gitarre solo (1980) Eingang fand, die sich im Nachlass des Grazer Gitarrenprofessors Leo Witoszynsky befinden. Der dritte Teil des Adagios trägt den Titel „Tombeau de Josquin“.43

Jorge Luis Borges (1899–1986): „Ich hinterlasse den verschiedenen Zukünften (nicht allen) meinen Garten der Pfade, die sich verzweigen…“44 Der Pariser Kultur des Fin de siècle verbunden, wurde Proust auch von den deutschsprachigen Raum prägenden Autoren wie Walter Benjamin und Theodor W. Adorno rezipiert. Bei Jorge Luis Borges findet sich ebenfalls ein Bezugspunkt zur vielleicht wichtigsten Thematik, die das Fin de siècle prägte: der Problematik von Subjektivität und Individualität. Philosophische Überlegungen bringen seine Literatur in Verbindung mit postanalytischen Strömungen. Das bezieht sich im Wesentlichen darauf, dass sich die Auffassung des Verhältnisses von Sprache und Realität gewandelt hat. Anstatt an einer formalen Sprache festzuhalten, die 41 Ebd. 42 Vgl. dazu auch Stenzl, „Entweder / Oder“, 44–47. 43 Vgl. Gösta Neuwirth, Adagio für Flöte und Gitarre (UAKUG/NLW_005, 16), sowie Differencias Sobre „Incessament für Gitarre solo“ (UAKUG/NLW_005, 15). 44 Jorge Luis Borges, „Der Garten der Pfade, die sich verzweigen“, in: Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph, hg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, übersetzt von Karl August Horst, Wolfgang Luchting und Gisbert Haefs, München 2000 (= Gesammelte Werke 5/1), 161–173, hier 169.

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der Wahrheit der faktischen Welt durch Klarheit gerecht werden könne, werden Sprache und Faktizität vom postanalytischen Denken als komplex miteinander verbunden betrachtet. Zentral ist die Überzeugung, dass kein Satz aus dem sprachlichen Kontext gelöst und für sich alleine betrachtet werden kann. Borges kann als Vorläufer eines solchen auf Beziehungen basierenden SpracheWelt-Verständnisses angesehen werden. In diesen Kontext gestellt, steht Borges auch in Verbindung mit der österreichischen bzw. zentraleuropäischen Kulturgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.45 Auch mit seiner Bezugnahme auf Borges knüpft Gösta Neuwirth somit an eine österreichische Tradition an, die durch den Nationalsozialismus unterbrochen worden ist. Wieder sind Bezüge zu Graz gegeben: Borges kannte die Theorien des Grazer Philosophen und Psychologen Alexius Meinong (1853–1920), der in seiner Gegenstandstheorie existierende wie nicht existierende Objekte gleichermaßen systematisch erfasste, also Fiktion als ebenso wichtig wie Realität betrachtete. Ebenso waren Borges die Theorien des österreichischen Philosophen und Schriftstellers Fritz Mauthner (1849–1923) bekannt, der Sprache als Gesellschaftsspiel verstand und mit seiner Sprachkritik als Vorläufer Ludwig Wittgensteins gilt.46 Neuwirth rekurriert auf zwei Erzählungen von Borges: 1) auf Funes the Memorious. In diesem Text treffen, wie auch bei Proust, die Fragen nach Gedächtnis, Individualität und der Bedeutung des Augenblicks zusammen. Erinnerung ist der Ausgangspunkt der Erzählung, die mit einer Personenbeschreibung von Ireneo Funes einsetzt.47 Um Gedächtnis und die Möglichkeit, Erinnertes zu bewahren, geht es auch bei einem der Treffen mit Funes, über die der Erzähler berichtet: Das Buch, das der Erzähler Funes geborgt hat, ist die Naturgeschichte des älteren Plinius, aus deren 24. Kapitel des siebenten Buches Funes die letzten Worte des ersten Absatzes zitiert: „ut nihil non iisdem verbis redderetur auditum“48 (‚dass nichts Gehörtes mit denselben Worten wiedergegeben werden soll‘). Funes’ Fähigkeit, sich an alles im kleinsten Detail zu erinnern, macht die Wahrnehmungsdefizite der gewöhnlichen Menschen deutlich. Funes’ Gedächtnis ist auch umfassend im multisensorischen Sinn, Individuelles wird in seiner Fülle dem Vergessen enthoben, abstrakte Ref lexion bleibt ihm fremd. Funes ist auf der Suche nach einer Sprache, die dem Individuellen, das er wahrnimmt, gerecht wird,49 einer Sprache der Namen, wie sie auch Benjamin und Adorno mithilfe der Musik zu erreichen intendierten. Funes versucht, seine 45 Vgl. Silvia G. Dapia, Jorge Luis Borges, Post Analytic Philosophy, and Representation, New York 2016, 3. 46 Vgl. ebd., 7; Johann Marek, „Alexius Meinong“, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy, https://plato.stanford.edu/entries/meinong (28.1.2019); [Anonymus], „Mauthner, Fritz“, in: Austria Forum, https://austria-forum.org/af/Biographien/Mauthner%2C_Fritz (28.1.2019). 47 Jorge Luis Borges, „Funes the Memorious“, in: Continental Short Stories. The Modern Tradition, hg. von Edward Bell Mitchell und Rainer Schulte, New York 1968, 148–154, hier 148. 48 Ebd., 151. 49 Ebd., 153.

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Erinnerungen zu klassifizieren und verzweifelt an der Aufgabe, weil sie unendlich ist. Die Kindheit ist bereits so reich an Erinnerungen, dass er sie bis zu seinem Tod nicht bewahren zu können vermeint. Dass er für sprachliche Verallgemeinerung und abstrakte Ideen nicht zugänglich ist, beruht darauf, dass die zeitliche Komponente der Wahrnehmung für ihn eine entscheidende Rolle spielt. Funes ist nicht nur immer imstande zu sagen, wie spät es genau ist, ohne die Uhr zu befragen, sondern er nimmt auch das Vergehen der Zeit und die Vergänglichkeit der Welt beständig wahr. Seine Fremdheit basiert auf diesem wahrnehmungsbedingten Einblick in die Problematik der Sprache, die Individualität der Welt und deren dynamischen Charakter, die auch als das genuine Problem des Künstlers betrachtet werden kann. Abstrakte Ref lexion wird dieser Erfahrungswelt gegenübergestellt, insofern als sie auf Differenzierung vergisst. 50 Gösta Neuwirth setzt diese Gedanken zu L’oubli bouilli – Vanish in Beziehung. In seinem siebenteiligen Text zum Stück für 22 Instrumente und Gesang, geschrieben 2008 für das Klangforum Wien, spricht er im sechsten Teil von der Erzählung mit dem deutschen Titel „Das unerbittliche Gedächtnis“.51 Auch hierbei findet sich ein Bezug zu Graz, geht doch das Stück auf eine Auftragskomposition aus dem Jahr 1974/75 zurück, geschrieben für die in Wien lebende amerikanische Sängerin Jane Gartner, die am Institut für Werkpraxis und an der Expositur Oberschützen der Grazer Musikhochschule tätig war:52 ein Stück für Tonband und Gesang mit dem Titel Vanish, basierend auf Gedichten von H. C. Artmann.53 Vanish bildet den zweiten Teil des dreiteiligen L’oubli bouilli. Der Text ist eine Montage des Komponisten, der Tonband-Teil wurde am Grazer Institut für elektronische Musik aufgenommen. Dieser und der Part des hohen Soprans sind voneinander unabhängig gedacht, die Sängerin kann das Tonband auch unterbrechen, kann solo singen, die Tonbandmusik muss jedoch vollständig erklingen. Die der Solostimme inhärente Bedeutung weist auf den Proust-Zyklus zurück, verkörpert Einsamkeit und Fremdsein. Borges Erzählung wird in einen sehr persönlichen Kontext gestellt, dessen autobiographische Kernpunkte die Texte des Komponisten zur Komposition umreißen. Sein erster der sieben Kurztexte zum Stück lautet: – VERGEBLICH. Die Wörter des (fehlerhaften) Anagramms L’oubli boulli und die ersten Noten eines Stückes mit diesem Titel – Memento-Motto der österreichischen Geschichte vom gekochten Vergessen, welche die meine geworden war – schrieb ich gegen Ende des Jahres 1988, bevor ich, an den Rand des Lebens geraten, alles liegen lassen musste. 54 50 51 52 53 54

Vgl. ebd., 154. Vgl. Neuwirth, „L’oubli bouilli – Vanish“, 12. Vgl. UAKUG/AP_021. Vgl. Stenzl, „Entweder / Oder“, 47. Neuwirth, „L’oubli bouilli – Vanish“, 11.

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Des Weiteren wird eine Kindheitserinnerung an erste Kompositionsversuche in der Einsamkeit der Natur angesprochen. Hören stellt sich hier als Teil des Kompositionsprozesses dar, eine musikalische Grundidee klingt an: „Nichts war zu hören außer dem ununterbrochenen hohen Ton, der in der Luft stand“, lautet der letzte Satz des vierten Textes. 55 Der fünfte, mit „Sorge“ betitelt, knüpft an erste Erfahrungen von ambivalenten Beziehungen an und ref lektiert die den Tönen beigesellte emotionale Tradition. Elias Canetti ist als ein weiterer literarischer Bezugspunkt genannt. Der siebte und letzte Text greift mit dem Titel „Rand“ wieder einen Bruch in Neuwirths Biographie auf: einen absoluten Neubeginn, Ungewissheit, aber auch kreativen Anfang. Erinnerung reicht wieder zurück bis in die Kindheit, die Erfahrung des Hörens ist zentral: Was dort ist, im Ohr, aber keinen Namen hat, ich will es suchen. Weil es keine Gewißheiten mehr gibt; keine Ideen, die einmal Töne und Zeichen als Natur und Geschichte miteinander zu verbinden schienen; weil das vorbei ist (wie die Väterwelt auseinanderfiel, alle Fragen ohne Antwort blieben, Recht gegen das gekochte Vergessen, Befehl und Niedertracht sich ohnmächtig erwies), horcht mein Ohr auf das zurück, was nicht mehr ist – und wartet doch: JETZT HÖRE ICH, was eben noch nicht da war und im Augenblick schon fort ist. 56

L’oubli bouilli war auch der Titel einer zwölf Jahre zuvor für das Festival „Hörgänge“ 1997 geplanten, nicht fertiggestellten und dann „vergessenen“ (Neuwirth) Komposition. 57 Es ist auch der Titel des siebten der Sieben Stücke für Streichquartett, die im selben Jahr wie das Auftragswerk für das Klangforum entstanden. Die anderen Titel benennen in poetisch-prosaischer Form Prinzipien, die für die Ästhetik des Komponisten Neuwirth eine wesentliche Rolle spielen. 58 Wörter oder Satzfragmente wie „pensif “, „Schatten“ oder „à trois“ verbinden das Stück assoziativ mit anderen Werken Neuwirths, wie die bereits erwähnten Gitarrenstücke, die Skizzen zum Proust-Projekt oder den Beginn des Schandbuchs. Die Wendung „Silben des Namens“ erinnert an Funes’ Versuch, eine Namenssprache zu finden. Zwischen die sieben Abschnitte sind sechs unhörbare Mottos gestellt, indische Gedanken, von Ernst Steinkeller aus dem Sanskrit transkribiert: Sie ref lektieren die Vergänglichkeit des Lebens und lassen ihrerseits wieder Verbindungen zum Proust-Zyklus erkennen, wo von „Fête du zen“ oder einem japanisches Toten­ ritual die Rede war. Der musikalische Augenblick steht im Vordergrund als einer der Unsicherheit, der jedoch gerade als solcher neue Möglichkeiten eröffnet.

55 Ebd. 56 Ebd., 12. 57 Vgl. „Gösta Neuwirth“, in: mica – music austria, http://db.musicaustria.at/node/60894 (28.1.2019). 58 Vgl. auch Bachmann, „Einleitung“.

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Die zweite Erzählung von Borges, auf die sich Gösta Neuwirth bezieht, trägt den Titel „Der Garten der Pfade, die sich verzweigen“. Wie bereits daraus ersichtlich, steht eine Formvorstellung im Zentrum, die mit einer spezifischen Auffassung vom musikalischen Augenblick korrespondiert. Die Erzählung handelt von Ts’ui Pên, einem Gelehrten und Vorfahren des Erzählers, der sein Lebenswerk darin sieht, ein Labyrinth und ein Buch zu erschaffen. Die Musik ist ein bestimmendes Thema in diesem Text, Klangvorstellungen werden evoziert, wenn beispielsweise von „chinesischer“ oder „perlender“ Musik die Rede ist. 59 Wie der Gelehrte, mit dem sich der Erzähler über das Werk Ts’ui Pêns unterhält, erklärt, liegt das Geheimnis darin, dass Buch und Labyrinth eins sind, handelt es sich doch um „ein Labyrinth aus Symbolen“, „ein unsichtbares Labyrinth aus Zeit“.60 Es gibt eine spezifische Sicht der Welt wieder: Der Garten der Pfade, die sich verzweigen, ist ein zwar unvollständiges, aber kein falsches Bild des Universums, so wie Ts’ui Pên es auffaßte. Im Unterschied zu Newton und Schopenhauer hat Ihr Ahne nicht an eine gleichförmige, absolute Zeit geglaubt. Er glaubte an unendliche Zeitreihen, an ein wachsendes, schwindelerregendes Netz auseinander- und zueinanderstrebender und paralleler Zeiten. Dieses Webmuster aus Zeiten, die sich einander nähern, sich verzweigen, sich scheiden oder einander jahrhundertlang ignorieren, umfaßt alle Möglichkeiten. In der Mehrzahl dieser Zeiten existieren wir nicht […].61

Neuwirths Stück Der Garten der Pfade, die sich verzweigen für zwei Klaviere und Renaissanceinstrumente ad libitum entstand als Auftragskomposition des ORFStudios Steiermark für den steirischen herbst 1975. Die Formidee des Stückes knüpft direkt an die Erzählung von Borges an. Die beiden Pianisten können sich den Weg durch ihren Part frei wählen. Jeder Part besteht aus mehreren verschiedenlangen Gruppen, deren Gesamtdauer dieselbe ist. Der Mittelteil führt beide zusammen: ein strenger Satz über einem cantus firmus „fuga quatuor vocum ex unica in honorem Josquin Desprez“ wird von alten Instrumenten begleitet. Der Titel dieses Mittelteils „temps des astres“ greift die Evokation von Musik in der Erzählung von Borges auf. Ich dachte an ein Labyrinth aus Labyrinthen, an ein gewunden wucherndes Labyrinth, das die Vergangenheit umfaßte und die Zukunft, und das auch die Sterne irgendwie mit einbezog. In diese illusorischen Bilder verloren, vergaß ich mein gehetztes Schicksal. Für unbestimmte Zeit empfand ich mich als abstrakten Wahrnehmer der Welt.62 59 60 61 62

Borges, „Der Garten der Pfade, die sich verzweigen“, 166. Ebd., 168. Ebd., 172. Ebd., 165–166.

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Gösta Neuwirth, Adagio für Flöte und Gitarre (UAKUG/NLW_005), 1.

Neuwirth betrachtet Borges Geschichte als Entwurf, den er musikalisch zu verwirklichen suchte: In den verschiedenen Möglichkeiten der Aufführung entstehen vielleicht Bilder und Spiegelbilder, die einander ergänzen oder andere, die sich verdecken oder zerstören: Namen, in die Luft geschrieben, Grabmäler, Zeichen, Figuren: erkennbar oder unsichtbar, hörbar oder stumm.63

Aleatorische Formen prägen mehrfach Werke Neuwirths wie beispielsweise auch Vanish für Sopran und Tonband, Vieux Songe für Flöte und Oboe (1990–92) aus dem Proust-Zyklus 64 oder die erwähnten Gitarren-Stücke. Die aleatorische Form steht der strengen seriellen Konzeption der Details gegenüber. Die Überlagerung unterschiedlicher Zeitschichten, wie das Miteinander frei gestalteter senza misura63 Das Zitat von Gösta Neuwirth findet sich Schallplattencover der LP Musikprotokoll 1975 (Unverkäufliche Dokumentationsplatte des ORF), Graz 1975. 64 Vgl. Vieux Songe für Flöte (Alt-Flöte) und Oboe (Englischhorn) 1992. Partitur: Autogr., 10 fol., Gösta Neuwirth Archiv an der Akademie der Künste Berlin, 86.

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Gedächtnis und Erinnerung im Œuvre Gösta Neuwirths

Passagen und einer auf Sekunden genau festgelegten Zeitleiste, rekurrieren auf den Gedanken der simultanen Existenz vielfacher Zeiten und deren paradoxer Übereinstimmung, die Widerspruch nicht ausschließt.

Conclusio Wichtige Charakteristika von Gösta Neuwirths Musikdenken können in Zusammenhang mit seiner Rezeption von Literatur gebracht werden: sein Künstlerbild, seine Auffassung des Zusammenhangs von Kunst und Leben und der Bedeutung des Hörens sowie sein strukturelles Denken in Schichten und Netzen und die damit verbundene Zeitauffassung. Ein labyrinthisches Netzwerk persönlicher Erinnerungen ist über sein Werk gespannt, wobei Ideen, mitunter auch Kompositionen wiederholt aufgegriffen werden. Die immer wiederkehrenden Bezüge, Zitate und Symbole konstituieren verschlungene Pfade, die Erinnerung und Vorahnung, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft auf assoziative Weise verbinden und damit subjektiven und zugleich weiterreichenden Sinn kreieren, sodass letztlich Neuwirths Œuvre selbst als Labyrinth angesehen werden kann: eines, das es vielfach noch zu erkunden gilt, wissenschaftlich wie künstlerisch. Eine wichtige Dimension ist dabei die österreichische Geschichte. Gedächtnis und Erinnerung in der Musik sind nicht zuletzt gegen Vergessen und Verdrängen der Verbrechen des Nationalsozialismus gerichtet und zielen damit in ähnlicher Weise auf Wiedergutmachung, wie nach 1945 entstandene literarische Werke beispielsweise von Thomas Bernhard oder Ingeborg Bachmann. Für zukünftige Forschungen besteht hier ein Desiderat. Was Adorno über Proust schrieb, ließe sich auch von Neuwirth sagen: Die Erfahrung seiner Musik verspricht Entscheidendes, nicht im Sinne der Nachahmung, sondern in dem des Maßstabes. […]. Wer an seiner Forderung, die gewohnten Oberf lächenzusammenhänge zu durchbrechen, die genauesten Namen für die Phänomene zu finden, sich nicht mißt, sollte […] ein schlechtes Gewissen vor sich selber bekommen.65

Neuwirths Œuvre bietet die Möglichkeit, Erfahrungen zu machen in dem Sinne, dass man Weisheit nicht erhalten, sondern nur selbst entdecken kann: ist sie doch ein besonderer Blick auf und eine Haltung zur Welt.66 65 Theodor W. Adorno, „Zu Proust“, in: Noten zur Literatur, Frankfurt a. M. 1974 (= Gesammelte Schriften 11), 669–675, hier 669. 66 Vgl. Marcel Proust, À la recherche du temps perdu, Bd. 5, Paris 1919, 122: „On ne reçoit pas la sagesse, il faut la découvrir soi-même après un trajet que personne ne peut faire pour nous, ne peut nous épargner, car elle est un point de vue sur les choses.“ (‚Weisheit gibt einem keiner, man muss sie selbst entdecken, und es bedarf dazu einer Reise, die niemand an unserer statt übernehmen, uns keiner ersparen kann, denn sie ist ein Art und Weise, die Dinge zu betrachten.‘ Übersetzung: Walter Benjamin und Franz Hessel, http://gutenberg.spiegel.de/buch/-7813/4 [26. 1.2018]).

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Transformation und Polyphonie in Klaus Hubers Die Seele muss vom Reittier steigen Petra Zidarić Györek Die Seele muss vom Reittier steigen für Violoncello, Baryton, Contratenor und 37 Instrumentalisten aus dem Jahr 2002 stellt das wichtigste Werk aus Klaus Hubers Schaffensperiode ab 1990 dar. Hubers Auseinandersetzung mit arabischer Musik erreichte mit diesem Werk ihren Höhepunkt. Es zeichnet sich durch eine hochkomplexe Kompositionsweise aus, die unterschiedliche kompositorische Verfahren zusammenführt. Im Jahr 1994 hatte Huber in seiner „Assemblage“ Die Erde bewegt sich auf den Hörnern eines Stiers noch montageartig traditionelle arabische und europäische Musik verbunden. Claus-Steffen Mahnkopf führt aus, Huber habe darauf hin versucht, „seine Haut als europäischer Komponist zu retten.“1 So werden in Hubers Die Seele muss vom Reittier steigen wieder stärker ‚westliche‘ Kompositionstechniken sichtbar, wobei zwei Bereiche im Vordergrund stehen, zum einen Transformationen des Tonhöhenmaterials durch Bezugnahme auf die arabischen Modi maqāmāt, zum anderen eine polyphone Kompositionsweise, die auf polyphone Satztechniken des Mittelalters und der Renaissance zurückverweist. Ziel der folgenden Studie ist es, diese zwei Strategien anhand ausgewählter Beispiele analytisch darzulegen und ihre wechselseitige Beziehung hervorzuheben. Abschließend soll Hubers Rezeption und Adaption der arabischen Musik kritisch eingeordnet werden.

Die Seele muss vom R eittier steigen: Hintergrund und kompositionstechnische Grundlagen Jörn Peter Hiekel fasst insgesamt sechs Aspekte zusammen, die in Hubers Schaffen Transformationen unterliegen. 2 Drei dieser Aspekte sind von großer Bedeutung für die folgende Analyse: (1) die Erweiterung des harmonischen Raums durch 1 2

Claus-Steffen Mahnkopf, „Polykulturalität als Polyphonietypus. Zum Alterswerk Klaus Hubers“, in: Klaus Huber, hg. von Ulrich Tadday, München 2007 (= Musik-Konzepte 137/138), 155–169, hier 162. Vgl. Jörn Peter Hiekel, „Transformationen. Zu einigen Facetten des Komponierens von Klaus Huber“, in: Transformationen. Zum Werk von Klaus Huber, hg. von dems. und Patrick Müller, Mainz 2013, 9–18. Hiekel beschreibt die drei im Folgenden genannten Aspekte unter den Überschriften „Andere harmonische Räume“, „Elemente anderer Kulturen“ und „Reflexionen älterer Musik“; die weiteren drei von Hiekel angeführten Aspekte, die hier nicht behandelt werden, sind „Selbstbearbeitung“, „spirituelle Dimensionen“ und „Selbstbeschreibungen“.

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Einbeziehung unterschiedlicher Tonsysteme, hier vor allem durch die arabischen Modi maqāmāt; (2) interkulturelle Verknüpfungen: Huber verbindet arabische und europäische Musik, um eine neue Klangqualität zu schaffen, wobei hier auch sein politisches Engagement eine Rolle spielt; (3) Ref lexionen älterer Musik: Während Huber erst nach 1991 begann, sich mit arabischer Musik und Musiktheorie zu befassen, stellen überlieferte Techniken der Polyphonie, entwickelt aus seriellen Prinzipien heraus, ein für Hubers gesamtes Schaffen zentrales tektonisches Prinzip dar. Wenn wir Polyphonie als Zusammenführung von Differenzen verstehen, so Mahnkopf, kann man einen Zusammenhang von Polyphonie und Polykulturalität erkennen. Mahnkopf definiert Polykulturalität als eine „veritable, mithin durchgearbeitete, verbindlich gemachte Polyphonie zweier einander heterogener kultureller Kontexte.“ 3 Die Seele muss vom Reittier steigen entstand nach Hubers langjähriger Auseinandersetzung mit arabischer Musiktheorie. Hubers Interesse an der arabischen Musiktradition hat seine Ursprünge in den politischen Turbulenzen im Nahen Osten zu Anfang der 1990er Jahre, insbesondere im Ersten Golfkrieg. Huber akzentuierte in der Folge die Notwendigkeit, die islamische Kultur näher zu erforschen, die seit dieser Zeit in der westlichen Welt oftmals pauschal abwertend betrachtet wurde. Als Hauptquelle für die Annäherung an die arabische Musik nutzte Huber die umfangreiche sechsbändige Studie La musique arabe von Rodolphe d’Erlanger, die im Zeitraum von 1930 bis 1959 entstand und durch die er das arabische Tonsystem seit dem 9. Jahrhundert bis hin zu neueren Theorien kennenlernte.4 Hubers Die Seele muss vom Reittier steigen ist als Kammerkonzert für 37 Instrumentalist*innen und drei Solisten – Contratenor, Violoncello und Baryton – konzipiert und wurde von Huber zwei Mal auch für kleinere Besetzungen (von Huber als „Reduktionen“ bezeichnet) eingerichtet.5 Als Text wählte Huber Fragmente des Gedichtes Etat de siège (Belagerungszustand) des zeitgenössischen palästinensischen Dichters Mahmoud Darwish (1941–2008), das 2002 in einer französischen Übersetzung von Hassan Chami in Le Monde Diplomatique erschienen war. Darwish war einer der prominentesten palästinensischen Dichter und sprach mit einer gegenwartsbezogenen, oft politischen Stimme. Der Contratenor singt den Text abwechselnd auf Arabisch und Deutsch oder Französisch. Die deutschen Textpassagen wurden von Huber selbst aus dem Französischen übersetzt.6 In dem vertonten Gedicht ref lektiert Darwish 3 4 5

6

Mahnkopf, „Polykulturalität als Polyphonietypus“, 163. Vgl. Rodolphe d’Erlanger, La musique arabe, 6 Bde., Paris 1930–59. À l’ame de marcher sur ses pieds de soie, Kammerkonzert für Violoncello, Baryton, Kontratenor und neun Instrumentalisten (2002/2004, erste Reduktion), À l’ame de déscendre de sa monture et marcher sur ses pieds de soie, Kammerkonzert für Violoncello, Baryton, Altstimme und drei Instrumentalisten (2002/2004, zweite Reduktion). Der Wortlaut von Hubers deutscher Übersetzung findet sich in Mahmoud Darwish, „Belagerungszustand (Fragmente)“, in: Unterbrochene Zeichen. Klaus Huber an der Hochschule für Musik der

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die Situation in Palästina während der Belagerung durch die israelische Armee im Jahr 2002.7 Die sufistischen Motive des Gedichts in Kombination mit den Traumata des palästinensischen Volkes weckten Hubers Interesse. Das Kammerorchester in diesem Werk kombiniert ein zeitgenössisches und ein barockes Ensemble. Neben die polykulturelle tritt so eine historische Perspektive: Ein ‚historischer‘ und ein zeitgenössischer Klangkörper stehen sich gegenüber. Dem entspricht die Gegenüberstellung zweier Tonsysteme. Im Hintergrund von Hubers kompositorischen Ansätzen steht seit den 1960er Jahren eine Skepsis gegenüber der konventionellen Aufteilung der Oktave in zwölf gleichstufige Intervalle. Über die Welt der Mikro- bzw. Makrointervalle gelangte er zu den Dreivierteltönen der arabischen Musiktradition, die in einigen maqāmāt eine tragende Rolle spielen. Ein Dreiviertelton teilt eine kleine Terz in zwei gleich große Intervalle, deren genaue Intonation in der arabischen Musikpraxis variieren kann. Diesem ‚arabischen‘ modalen System steht die Dritteltönigkeit gegenüber, mit der sich Huber auf experimentelle Stimmungssysteme der Renaissance bezieht, insbesondere auf eine durch Guillaume Costeley ca. 1557 beschriebene 19-tönige Oktavteilung. 8 Auch auf dem Gebiet der Tonhöhenorganisation sind also interkulturelle und historische Bezüge gemischt.

Analytische Aspekte Transformation von Tonhöhensystemen Tabelle 1 stellt eine Gesamtübersicht der Komposition dar. Der gesamte Verlauf lässt sich also in 25 Abschnitte unterteilen; in sieben dieser Abschnitte (grau unterlegt) integriert Huber Dreivierteltöne und verknüpft dabei Techniken der Transformation von arabischen Tonhöhensystemen mit Polyphonie. Diese sieben Abschnitte sind auf den Anfang (Einleitung), die Mitte (vier Abschnitte im Anschluss an das Baryton-Solo) und das Ende (die zwei letzten Abschnitte vor der abschließenden Motus-Folge) verteilt. Die Tabelle veranschaulicht den Wechsel der zugrunde liegenden Tonsysteme: Huber wechselt also mehrfach zwischen dritteltöniger und dreivierteltöniger Harmonik. Die Gegenüberstellung zweier Tonsysteme sieht Till Knipper als zentrales Mittel, mit denen Huber den europäischen und arabischen Kulturraum verbindet.9

7 8 9

Musik-Akademie der Stadt Basel. Schriften, Gespräche, Dokumente, hg. von Michael Kunkel, Saarbrücken 2005, 14–15. Vgl. Mahmoud Darwish, State of Siege, New York 2010. Vgl. Till Knipper, „Tonsysteme im kompositorischen Schaffen von Klaus Huber“, in: Transformationen, hg. von Hiekel und Müller, 167–200, hier 181. Vgl. ebd., 187.

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Klaus Hubers Die Seele muss vom Reittier steigen

ABSCHNITT

TAKT

TONSYSTEM

1.

Motto

a–b

--

2.

Einleitung

1–13

¾

3.

Motus 1

14



4.

Vc. solo

15–24



5.

Motus 2

25



6.

Vc. solo

26–32



7.

Motus 2a

33



8.

Baryton solo

34–41



9.

Motus 3

42



10. Baryton + Vc.

43–49



11. Motus 4

50



12. Bicinium

51–61



13. Motus 5

62



14. Baryton Solo

63–76

¾

15. Motus 6

77

¾

16. Tricinium

78–94

¾

17. Quadruplum (Motus 7)

95–115

¾

18. Baryton + Vc.

116–123



19. Motus 8

123a



20. Baryton + Vc.

124–136



21. Motus 8a

137



22. Die Seele… (Tutti)

138–168



23. Vc. + Contratenor

162–205

¾

24. Contratenor + Orchester

206–230a

¾-⅓

25. Motus 9–15a

231–237a



Tabelle 1: Klaus Huber, Die Seele muss vom Reittier steigen, Übersicht über den formalen Verlauf und die verwendeten Tonsysteme (Abschnitte mit Dreivierteltönen grau hervorgehoben).

Wie in Tabelle 1 verdeutlicht ist, erscheinen regelmäßig Abschnitte, die Huber „Motus“ nennt. Dabei handelt es sich um Flächen ohne Taktvorzeichnung, die aus Pulsen unterschiedlicher Geschwindigkeit bestehen und grundsätzlich durch Dritteltönigkeit gekennzeichnet sind. Jeder Motus enthält eine Reminiszenz an den vorherigen, bringt aber auch neue Elemente ein, was zu einer allmählichen Transformation des Materials führt. Diese Klangflächen unterscheiden sich voneinander durch Instrumentation und Klangfarbe. Insgesamt erscheinen 15 Motus-Abschnitte, die beim Hören klar zu erkennen sind und somit das Stück ritornellartig gliedern. 632

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Das Werk wird von einem perkussiven zweitaktigen Motto eröffnet, das abrupt von einem aggressiven, lauten und dynamischen Tutti-Klang abgelöst wird. Die 13 Takte der instrumentalen Einleitung präsentieren eine äußerlich statische, aber innerlich bewegte Struktur, die man nach Helmut Lachenmanns Typologie als „Texturklang“ bezeichnen könnte.10 Die Reduktion des Tonsatzes auf das Tonmaterial zeigt, dass in der Einleitung ein transformativer Prozess beginnt, der allmählich von der zwölftönigen Chromatik wegführt: Huber erweitert diese durch die Integration von insgesamt drei ‚Dreivierteltönen‘: es-Dreiviertelton, f-Dreiviertelton und b-Dreiviertelton.11 Die Einleitung basiert somit auf einer 15-tönigen Skala, die als Resultat von drei Transpositionen des maqām sabā auf d, a und e erscheint (Bsp. 1).12

bœ & œ #œ bœ bœ nœ nœ nœ #œ bœ nœ #œ bœ nœ #œ bœ bœ nœ œ #œ bœ & nœ bœ œ bœ œ bœ œ sabā (d)

3/4

&

3/4

1/2

1 1/2

1/2

1

1/2

sabā (a)

œ œ bœ œ b œ œ bœ œ

bœ & œ nœ œ bœ œ œ œ sabā (e)

Beispiel 1: Klaus Huber, Die Seele muss vom Reittier steigen, Einleitung, 15-tönige Skala als Resultat von drei Transpositionen des maqām sabā auf d, a und e.

Die Klangstruktur der Holz- und Blechbläser in der Einleitung resultiert aus Vertikalisierungen der Tonvorräte dieser drei Transpositionen (Bsp. 2). In den tiefen Holzbläsern und den Blechbläsern (T. 1) erscheint zunächst der untere Pentachord des maqām sabā auf d (d1–es1+1/4 –f1–ges1–a1), dessen unterer Tetrachord die Intervallstruktur 3/4–3/4–1/2 aufweist (vgl. Bsp. 1). Der oberste Ton dieses Pentachords (a1) wird nun zugleich zum Anfangston einer Transposition des maqām sabā auf a. Der untere Tetrachord des transponierten sabā auf a (a1–b1+1/4 –c 2 –des 2) erscheint in 10 Vgl. Gunnar Hindrichs, „Anmerkungen zur Zeitgestaltung in Klaus Hubers Kammerkonzert ‚Die Seele muss vom Reittier steigen…‘“, in: Unterbrochene Zeichen, hg. von Kunkel, 194–208, hier 196. 11 Als „es-Dreiviertelton“ wird hier eine Tonhöhe bezeichnet, die einen Viertelton über dem Ton es liegt, somit also einen Dreiviertelton über dem Ton d. Analog dazu werden die anderen „Dreivierteltöne“ bezeichnet. 12 In den insgesamt sieben Abschnitten des Werkes, in denen Dreivierteltöne erscheinen, erweitert Huber allmählich die Chromatik bis hin zu einer vollständigen 24-tönigen Skala, in der enharmonische Äquivalenz gilt.

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Klaus Hubers Die Seele muss vom Reittier steigen

Beispiel 2: Klaus Huber, Die Seele muss vom Reittier steigen, Einleitung, T. 1–2: Vertikalisierungen von Tonvorräten des maqām sabā in drei verschiedenen Transpositionen. © Bühnen- und Musikverlag G. Ricordi & Co., München. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

den hohen Holzbläsern, wobei das a1 in der Trompete als Verbindung zwischen den beiden Transpositionen dient (T. 1). Darauf hin führt Huber noch eine dritte Transposition des maqām sabā auf e ein (T. 1.5), die nun wieder in Blechbläsern und Kontrafagott erscheint. Die Erweiterung der Chromatik, verknüpft mit der Technik der Vertikalisierung transponierter maqāmāt, findet innerhalb einer feldartigen polyphonen Struktur statt. Obwohl die Komposition Die Seele muss vom Reittier steigen Hubers erstes Werk ist, in dem er Transpositionen eines maqām anwendet, hat die Technik der Vertikalisierungen von Tonvorräten aus maqām-Skalen ihren Ursprung in Hubers Orchesterwerk Lamentationes de fine vicesimi saeculi aus dem Jahr 1994. Huber arbeitete hier mit einer Transkription der arabischen Melodie tawših aus d’Erlangers Studie.13 Eine Skizze vom 12. August 1992 zeigt, wie Huber diese Melodie in diastematische Kleingruppen aufteilte. Die so erstellten Tongruppen (von Huber als „mögliche Fokussierungen in ‚enger Lage‘“ bezeichnet) positioniert Huber verti13 Vgl. Klaus Huber, Von Zeit zu Zeit. Das Gesamtschaffen. Gespräche mit Claus-Steffen Mahnkopf, Hofheim 2009, 239.

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Beispiel 3: Klaus Huber, Skizze zu Lamentationes de fine vicesimi saeculi, 12.8.1992 (Klaus Huber, Von Zeit zu Zeit. Das Gesamtschaffen. Gespräche mit Claus-Steffen Mahnkopf, Hof heim 2009, 239).

Beispiel 4: Klaus Huber, Lamentationes de fine vicesimi saeculi, T. 1–4: maqām sabā als Tonmaterial im vertikalen Klangraum. © Bühnen- und Musikverlag G. Ricordi & Co., München. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

kal im Klangraum, wie man anhand der Partitur gleich zu Beginn nachvollziehen kann (Bsp. 4). Die erste Tongruppe f1–ges1–es1+1/4 ist auf Violinen und Violen aufgeteilt.14 Die zweite Tongruppe es1+1/4 –f1–d1–ges1 beginnt im Bassetthorn und wird 14 Vgl. ebd.

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Beispiel 5: Klaus Huber, Die Seele muss vom Reittier steigen, T. 1–3, Streichersatz. © Bühnen- und Musikverlag G. Ricordi & Co., München. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

von den Flöten fortgeführt. Dieses Prinzip setzt Huber im gesamten ersten Teil der Komposition konsequent um. Mit der vertikalen Positionierung der Tetrachorde innerhalb eines Klangfelds distanziert sich Huber in Die Seele muss vom Reittier steigen von der traditionellen melodischen Behandlung der Modi in der arabischen Musik. Diese Distanz ist in den Streichern noch deutlicher erkennbar, da hier in der Einleitung eine blockartige akkordische Textur dominiert (Bsp. 5). Die maqāmāt werden in Hubers Werken insgesamt vorwiegend als reiner Tonvorrat, losgelöst von melodisch-rhythmischen Modellen eingesetzt, was Till Knipper wie folgt kommentiert: „Nicht die nachahmende traditionell-arabische Klanglichkeit liegt in Hubers Interesse, sondern die kreative Inspiration aus dieser Tradition heraus zur Entwicklung neuer Klänge.“15 Huber selbst betont im Gespräch mit Mahnkopf: Aber ich wollte ja nicht im geringsten eine arabische Musik schreiben. Es ging mir um ein europäisches Stück, allerdings mit der unbescheidenen Ambition, dass es anders klingt als sonst. Das ist mir gelungen. Und zwar durch die Aufteilung und die Art und Weise, wie die Intervallik entwickelt ist […]. Ich suchte (und fand) eine ganz eigene Harmonik (und auch eine andere als eine arabische).16

15 Vgl. Knipper, Tonsysteme im kompositorischen Schaffen von Klaus Huber, 187. 16 Huber, Von Zeit zu Zeit, 240.

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Polyphone Techniken Hubers Annäherung an die Polyphonie des Mittelalters und der Renaissance wird vor allem in jenen Abschnitten von Die Seele muss vom Reittier steigen deutlich, die polyphone Gattungsbezeichnungen tragen, wie z. B. Bicinium, Tricinium und Quadruplum. Im Tricinium rückt Huber mithilfe kanonischer Techniken erstmals alle drei Soloparts in den Vordergrund (Bsp. 6).

Beispiel 6: Klaus Huber, Die Seele muss vom Reittier steigen, Tricinium, T. 78–81 (Kjell Keller, „Impulse aus dem Orient“, in: Klaus Huber, hg. von Ulrich Tadday, München 2007 [= Musik-Konzepte 137/138], 119–134, hier 129.)

Im Unterschied zur Einleitung verwendet Huber hier die maqām-Skalen zunächst linear-melodisch. Die kanonische Einsatzfolge ist Baryton – Contratenor – Violoncello, die Beziehung zwischen den Anfangsintervallen die im ‚klassischen‘ Kontrapunkt übliche Quint b–f1–b. Das Baryton führt ein zweistimmiges Segment durch, dessen Tonvorrat auf sabā auf g basiert. Der Contratenor singt in sabā auf d einen Klagegesang zu einem Abschnitt aus Darwischs Gedicht, hier in arabischer Sprache; die Übersetzung lautet: „Eine Frau sprach zur Wolke, bedecke du meinen Geliebten, denn meine Kleider sind durchnässt mit seinem Blut.“17 Die 17 Vgl. Darwish, „Belagerungszustand (Fragmente)“.

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Melodik ist vorwiegend linear und stufenweise gestaltet, Sprünge sind aber nicht ausgeschlossen. Huber bewegt sich somit im Tricinium zwischen europäischen und arabischen Prinzipien: Ich schreibe nun einen linearen Kontrapunkt, dem man vielleicht Antiquiertheit vorwerfen könnte, wäre es nicht so, dass die von mir verwendeten Maqamat eine Polyphonie dieser Art, mithin eine Dreistimmigkeit, gar nicht kennen.18

Es ist wichtig zu betonen, dass in der arabischen Tradition ein maqām mit dem Ausdruck bestimmter emotionaler Zustände verbunden ist. So stellt sabā einen Modus dar, der mit Leid und Schmerz assoziiert wird.19 Huber hat nicht zuletzt deshalb in Bezug auf das zugrundeliegende Gedicht dieses maqām in seinem Kammerkonzert vorrangig verwendet und es auch in früheren Werken bereits in diesem Sinn eingesetzt: […] ich habe [das maqām sabā] schon in den LAMENTATIONES SACRAE ET PROFANAE und mehr noch in den LAMENTATIONES DE FINE VICESIMI SAECULI komponiert, letzteres mit der Folge, dass arabische Hörer es fast als unerträglich bezeichneten, wie lange ich auf diesem Sabā-Modus verharre, es würde einen so unglaublich traurig machen. 20

Problematisch in diesem Zusammenhang ist der Umstand, dass Affektcharakteristika eines maqām in der arabischen musikalischen Praxis, wie etwa Habib Hassan Touma betont, erst durch charakteristische melodische Modelle relevant werden: Every maqam presentation possesses its own emotional content, which is deter­ mined primarily by the structure of its nucleus but also by the tones of the maqam row. First, however, the tone levels and phases characteristic of the maqam must be worked out. 21

Es ist also fraglich, ob in komplexen mehrstimmigen Flächen ein solcher Ausdrucksgehalt noch erkennbar ist.

Diskussion Wie die erwähnten analytischen Beispiele zeigen, macht Huber die maqāmāt häufig zur Grundlage polyphoner Flächen, wodurch die melodische Funktion dieser Modi weitgehend verloren geht; diese melodische Funktion ist aber für die arabische Musikpraxis entscheidend. Abschließend sollen daher zwei kritische Stim18 Huber, Von Zeit zu Zeit, 296. 19 Habib Hassan Touma, The Music of the Arabs, Portland 1996, 43–45. 20 Huber, Von Zeit zu Zeit, 296. 21 Touma, The Music of the Arabs, 43.

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men zu Hubers Rezeption arabischer Musik beleuchtet werden. In seiner Studie zu Hubers Rezeption arabischer Musik betont Günter Kleinen, dass ohne intensive Hörerfahrung mit arabischer Musik die ‚arabische Substanz‘ in Hubers Musik bei Hörer*innen lediglich „Irritationen“, aber keinen Eindruck polykultureller Erweiterung auslösen könne: „Auf jeden Fall bleibt das temperierte System als das wesentliche Beziehungsnetz erhalten. Das arabische Ferment erneuert und bereichert die herkömmlichen Strukturen, verursacht allerdings auch Irritationen.“ 22 Als klangliches Resultat von Hubers Werken erscheint eine komplexe mehrstimmige Struktur, die trotz Dreivierteltönigkeit und ihrer technischen Bezüge zu den arabischen Skalen sehr starke bzw. dominierende westliche Bezugspunkte aufweist (polyphone Techniken, Schichtenbildung). In dem Nebeneinander der Bezüge werden die kulturellen ‚Farben‘ der Materialien neutralisiert, eine Erfahrung von Polykulturalität kann sich beim Hören kaum einstellen. Günter Kleinen ist auch darin zuzustimmen, dass trotz der mikro- bzw. makrotonalen Erweiterungen das temperierte chromatische System für Hörer*innen und Ausführende als wesentliches Bezugssystem erhalten bleibt. Eine sehr scharfe Polemik gegenüber Hubers Rezeption der arabischen Musik äußerte der jordanische Komponist Saed Haddad in seinem unveröffentlichten Essay Pendulum between Ignorance and Cultural Imperialism aus dem Jahr 2008, 23 der auf seine Dissertation aus dem Jahr 2005 zurückgeht. 24 Haddad wirft Huber eine Ignoranz der arabischen Ästhetik und der Maqām-Praxis sowie eine falsche Verwendung arabischer Modi vor. Er bemängelt zudem die Konstruktion des Arabischen als des „Anderen“, was seiner Meinung nach auch im Klang von Hubers Musik evident ist. Haddads Standpunkt zufolge führt jedes Ignorieren essenzieller ästhetischer Elemente der arabischen Tradition zu deren Unterschätzung und Entstellung; durch Hubers Abweichungen von ästhetischen Prinzipien der arabischen Musik werde der entstehenden Klanglichkeit von Hubers Werken jeglicher Bezug zur arabischen Musiktradition genommen. Hubers Rezeption arabischer Musik ist im Kontext der Nachkriegsmoderne seit 1945 zu sehen. Die neue Musik verfolgte Wahrnehmungskonzepte, die durch strukturelle Vorordnungen neue Hörerfahrungen auslösen und motivieren wollte. In diesem Zusammenhang könnte Hubers Umwandlung der maqāmāt in polyphone und quasi postserielle Strukturen durchaus auch als Ausdruck von Respekt gegenüber der arabischen Musiktradition gesehen werden: Die Begegnung mit 22 Günter Kleinen, „Ausweitung harmonischer Räume durch arabische Tonarten. Lösung aus historischer Umklammerung oder neue Zumutungen?”, in: Klaus Huber, hg. von Tadday, 135– 153, hier 151. 23 Vgl. Christian Utz, „Morphologie und Bedeutung der Klänge in Klaus Hubers Miserere Hominibus“, in: Transformationen, hg. von Hiekel und Müller, 129–165, hier 163–164. 24 Saed Haddad, The Abstraction of Arabic Musical Vocabulary, Spirtual and Cultural Values into Contemporary Western Music, PhD thesis in musical composition, London 2005.

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dem arabischen Tonsystem provoziert eine neue, ‚ungehörte‘ Musik, die weder im europäischen noch im arabischen ‚System‘ eindeutig verortet werden kann. Somit zeigt Huber mit seinem Kammerkonzert die notwendige Erweiterung eines kulturell oder rezeptionsästhetisch begrenzenden musikalischen Denkens auf und weist auf die unerfüllten Potenziale der neuen Musik in Bezug auf die Kontakte zwischen unterschiedlichen Kulturen hin.

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Mit den Ohren sehen, mit den Augen hören Annäherung an Klaus Langs Musiktheater Margarethe Maierhofer-Lischka

Klaus Langs Schaffen am Schnittpunkt verschiedener Formate und Genres Es ist April 2015, wir befinden uns in der Kremser Minoritenkirche während des Osterfestivals „imago dei“. Der Raum ist in gedämpftes Licht getaucht. Das Publikum sitzt im Mittelschiff der Kirche aufgereiht in den Bänken, umgeben von sechs Perkussionisten und einem Chor, die sich in den Seitenschiffen ringsum befinden. Ein leiser geräuschhafter Klangteppich erhebt sich, der immer wieder von einzelnen Impulsen und unregelmäßigen Rhythmen überlagert wird. Der Chor geht in den Seitenschiffen langsam um das Publikum herum, es erklingen einzelne Silben, Fragmente lateinischer Texte; vereinzelte konsonante Intervalle werden intoniert. Im Dämmerlicht erblickt man mehrere weiße Papierbahnen, die im Mittelschiff oberhalb der Säulenbögen wie ein großes Segel quer durch den Hauptraum der Kirche gespannt sind und teilweise durch Lichtspots erleuchtet werden, die helle Streifen darauf werfen. Die hier beschriebene Aufführungssituation lässt verschiedene Assoziationen zu: Handelt es sich um eine Kunstinstallation mit Liveperformance-Anteil? Ein sakrales Konzert, ein meditatives Ritual? Was hier stattfand, war die Uraufführung von das brot des todes und das brot des lebens von Klaus Lang (Komposition) und Claudia Doderer (Raumgestaltung). Der Komponist bezeichnet sein Werk als „Klangraumkomposition mit partiellen Übermalungen“ von Giovanni Pierluigi da Palestrinas Lamentationum Hieremiae prophetae (1588). Ausschnitte der Lamentationen erscheinen innerhalb des Gesamtverlaufs und bilden eine Art roter Faden durch die gesamte Performance. Abgeleitet aus Palestrinas Werk ist ein ganzer Komplex an ineinander verwobenen Strukturen und Elementen, die Lang als Ausgangsmaterial für seine Komposition verwendet. Sie bilden ein symbolisches Bezugssystem, das die zentrale Thematik – die Frage nach der Bedeutung von Leben und Tod – umkreist.1 Mit seinen Werken 2 königin ök (1999/2000), der handschuh des immanuel (2000), kirschblüten.ohr (2001), die perser (2002), architektur des regens (2007), BUCH ASCHE 1 2

Vgl. Rainer Lepuschitz, „Klaus Lang: das brot des todes und das brot des lebens“, in: Abendprogramm Osterfestival „imago dei“, Krems 2015, 4–6. Da in der Theaterwissenschaft der Begriff des Werkes lediglich den geschriebenen Theatertext bezeichnet und demzufolge erst die Aufführung das eigentliche Wesen des Theaters ausmacht,

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(2009), der einfluss des menschen auf den mond (2010) sowie der verschwundene hochzeiter (2018) hat Lang ein umfangreiches Schaffen im Bereich des Musiktheaters vorzuweisen. Die Liste ließe sich noch um zahlreiche Kompositionen erweitern, denn die Grenzen zwischen plurimedialen 3 und konzertanten Werken verläuft in Langs Œuvre f ließend. Während seine musikalische Sprache über die Grenzen aller Genres hinweg sehr einheitlich ausgeprägt ist – die Musik bewegt sich in Bereichen des oft kaum Hörbaren und spielt mit musikhistorischen Anleihen, der Überlagerung unterschiedlicher Tonsysteme sowie mit minimalen Farb- und Strukturveränderungen, die sich langsam über große Zeiträume entfalten – verschränkt Lang in vielen seiner Werke klangliches, visuelles, räumliches und dramaturgisches Handeln. Texte bzw. Libretti treten in den Hintergrund, Sichtbares und Hörbares vereinen sich zu installativen Settings. Die enge Zusammenarbeit mit Bühnenbildner*innen oder Akteur*innen aus der bildenden Kunst wie Claudia Doderer und Sabine Maier ist dabei charakteristisch.4 Der Komponist betont, im Zentrum seiner Ästhetik stehe die Erfahrung von Musik als sinnlichem Moment:5 Als Künstler teilt man in seiner Arbeit gefundene andere Sichtweisen und es geht nicht darum, sich selbst und seine inneren phantastischen und eskapistischen Vorstellungen und utopischen Konstruktionen zu kommunizieren. Eine Funktion von Kunst kann diese Veränderung unserer Sicht sein […]. Musik und Kunst können uns in diesen Zustand des Erlebens einer selbstvergessenen Zeitlosigkeit versetzen.6

Das Betonen des Erfahrungsmoments sowie der Faktoren Raum und Zeit weist darauf hin, dass sich Langs Musiktheaterästhetik nicht mit visuell-musikalischer Darstellung von dramatisch-narrativen Vorgängen befasst, sondern vielmehr ver 3 4 5

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wohingegen in der Musikwissenschaft der Werkbegriff zumeist im Vordergrund steht, soll hier im Folgenden der Begriff „Werk“ verwendet werden, wobei sowohl der Werktext (Partitur) als auch die spezifische Aufführungssituation gemeint sind. Hier sei verwiesen auf den Beitrag Jörg Rothkamms in dieser Festschrift, der sich mit dem von Peter Petersen geprägten Begriff des Plurimedialen auseinandersetzt. Vgl. Peter Petersen, Alban Berg. Wozzeck, München 1985 (= Musik-Konzepte Sonderband), 283. Angesichts der Verquickung von szenischem und musikalischem Konzept ist bei solchen Arbeitssituationen durchaus auch die Rolle des Komponisten im Gesamtkontext neu zu formulieren, da sich Komponieren hier nicht allein als Klanggestaltung versteht. „Ich sehe Kunst auch nicht als Rätselaufgabe[,] in der man mit rationalen Mitteln versucht Botschaften zu dechiffrieren[,] die Künstler im Prozeß der Arbeit chiffriert haben, sondern ich sehe Kunst als eine Chance in eine andere Zeit, in einen anderen Raum einzutreten, in einen Raum intensiver Zeiterfahrung und großer sinnlicher Fülle, in dem der intuitiven Wahrnehmung das Primat gebührt. Was mich als Komponist interessiert[,] ist das Schaffen von multidimensionalen sinnlichen Erfahrungsräumen, in denen man sich in einem Zustand des intensiven Wahrnehmens dem Erlebnis von Zeit, Klang, Raum, Licht und Bewegung öffnen kann.“ (Klaus Lang, „der einfluß des menschen auf den mond. [hören und sehen.]“ [2011], https://klang.mur.at/?page_id=411 [4.2.2019].) Klaus Lang, „Die Mühen des Suchens“, in: Abendprogramm Osterfestival „imago dei“, 9–10, hier 9.

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wandt ist mit Spielformen des installativen oder postdramatischen Theaters, mit Inszenierungspraktiken zwischen Musiktheater und bildender Kunst sowie mit ortsspezifischen Kunstpraktiken wie der landscape art bzw. dem landscape theatre.7 Diese Kunstformen vereint, dass sie den vorhandenen Raum als aktiven Mitspieler des künstlerischen Geschehens einbeziehen. Dadurch ergibt sich eine Fülle an konkurrierenden, teils geplanten, teils situationsbedingt entstehenden Wahrnehmungs­ angeboten. Solch eine (Über-)Forderung widersetzt sich einer einheitlichen Deutung mithilfe wirkungsästhetischer oder hermeneutischer Theorien. Stattdessen wird die Sinneserfahrung zum Ausgangspunkt der Sinnstiftung. Ausgehend von der eingangs beschriebenen Aufführungssituation von das brot des todes und das brot des lebens möchte ich Elemente aufzeigen, die charakteristisch für Klaus Langs Arbeiten im Zwischenbereich von Musik und Szene sind. Mit Bezug auf konzeptuell verwandte Werke Langs – speziell das Hörtheater der handschuh des immanuel (2000) – werden Verschränkungen der Wahrnehmung auf musikalischer, szenischer und audiovisueller Ebene aufgezeigt. Als Ausgangspunkt möchte ich den vom Komponisten in Bezug auf das brot des todes verwendeten Begriff der „Übermalung“ aufgreifen und im erweiterten Sinne als Überlagerung verschiedener Sinn- und Sinnesebenen interpretieren, wobei die Raumsituation als gleichwertiger Teil einzubeziehen ist.

Überlagerungen in Partitur und Performance Der Begriff der „Übermalung“ impliziert den Vorgang des Malens als eines performativen Prozesses. 8 Zudem wird die Idee vermittelt, dass mehrere Schichten vorhanden sind, die als solche erkennbar bleiben können. Konkreten Bezug auf malerische Techniken in der zeitgenössischen Kunst nimmt Klaus Lang im Ein7

8

Da sich Musikalisches und Szenisches in Langs Denken durchdringen, wird im Folgenden der Begriff des Musiktheaters gebraucht, auch wenn es sich um Werke handelt, die sich im Zwischenraum zwischen verschiedenen Formaten bewegen. Zum Begriff der Installation sei verwiesen auf Sabine Flach, „Installation“, in: Metzler Lexikon Avantgarde, hg. von Hubert van den Berg und Walter Fähnders, Stuttgart 2009, 145–146. Der Begriff des „Postdramatischen Theaters“ wurde von Hans-Thies Lehmann geprägt und bezeichnet Theaterformen, in denen performative Prozesse und die Wahrnehmungsqualität von Medien vor deren semiotischer (Be-)Deutung als Theaterzeichen stehen (vgl. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Berlin 1999). Als Schnittpunkt von Theater und Installation im Kontext des Landschaftlichen lässt sich das von Gertrude Stein begründete Landschaftstheater bezeichnen, vgl. Elinor Fuchs / Una Chaudhuri (Hg.), Land/Scape/Theater, Ann Arbor 2002; Juliane Rebentisch, „Der Zeitraum des Landschaftstheaters“, in: Ästhetik der Installation, Frankfurt a. M. 2005, 151–162; Gertrude Stein, Writings 1932–1946, New York 1998, 80. Praktiken bildender Kunst haben in den letzten Jahren Eingang in die Inszenierungspraxis auch klassischer Opern gefunden, wie es Felicia Rappe anhand der Inszenierungen von Richard Wagners Tristan und Isolde durch Bill Viola sowie von Hans Werner Henzes Phaidra durch Olafur Eliasson beschreibt (vgl. Felicia Rappe, Gegenwartskunst und Oper. Beitrag zu einer Erfahrungsästhetik, Paderborn 2016). Den Begriff des Performativen, der sich in Theater- und Musikwissenschaft in den letzten Jahrzehnten etabliert hat, formulierte Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004.

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Raumaufstellung / Instrumentation und Raumbewegungsablauf von das brot des todes und das brot des lebens mit Grundriss der Minoritenkirche Krems.

führungstext zu seinem Hörtheater der handschuh des immanuel, das als Raumkomposition für den Aachener Dom in enger konzeptioneller Verwandtschaft zu das brot des todes steht.9 Übermalungen erscheinen in das brot des todes und das brot des lebens sowohl auf der konzeptuellen Ebene der Musik und des Raums als auch in der Wahrnehmung der Performance. Die Partitur deutet vom Satz und der Besetzung her auf der Makro­ ebene eine klare Trennung in zwei Schichten, nämlich Vokal- und Instrumentalparts, an. Diese findet sich räumlich in der Aufstellung der Performer*innen wieder (Abb.). Die beiden Schichten des Chors und der Perkussion sind darüber hinaus durch unterschiedliche Formen des musikalischen Materials gekennzeichnet (Tab. 1). Schicht

Elemente

Chor

Palestrina-Zitate

Chor

Lateinisches Alphabet, als Melismen gesungen

Chor

Hebräisches Alphabet, als Melismen gesungen

Perkussion-Stimmen

Hebräisches Alphabet

Perkussion

Rauschflächen

Perkussion

Cluster mit sich verdichtenden Tonrepetitionen

Perkussion

Rhythmische Muster

Klaus Lang, das brot des todes und das brot des lebens, Formen des musikalischen Materials, geordnet nach Instrumental- bzw. Vokalgruppen. 9

Klaus Lang, „sehen ohne augen – zum hörtheater der handschuh des immanuel“ [2000], https:// klang.mur.at/?page_id=43 (4.2.2019).

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Übermalungen finden sowohl innerhalb der Chor- und der Perkussionsschicht als auch über beide hinweg statt. Becken, Tamtam und Pauken werden nicht als typische Schlaginstrumente in rhythmischer Funktion eingesetzt, sondern erzeugen vielmehr durch stetige leise Wirbel einen Klangteppich, der das gesamte Stück durchzieht und dabei stellenweise die Tonhöhenstrukturen mit Rauschklängen überschreibt bzw. maskiert.10 Neben diesen Rauschklängen setzt Lang tonhöhengebundene Schlaginstrumente wie Crotales ein, die aufgrund der sinusartigen Schwingungsqualität ihres Klangs akustisch schwer im Raum lokalisierbar sind.11 Die extrem leise Grunddynamik verstärkt diesen Effekt.12 Dadurch wird zusätzlich zur Raumaufstellung die Aufmerksamkeit von den einzelnen Spieler*innen als Klangquellen abgelenkt, sodass ein atmosphärischer Wahrnehmungseindruck entsteht, der sich als f ließend und immersiv beschreiben lässt. Umgekehrt werden im Chor die Palestrina-Abschnitte, die anfangs durch Fermaten deutlich getrennt von den restlichen Partien erscheinen, mehr und mehr mit glissandierenden Klangf lächen und Melismen verschmolzen, in denen zerdehnte Phoneme des hebräischen und lateinischen Alphabets erklingen. Die hebräischen Buchstaben wiederum werden auch von den Perkussionist*innen als rhythmisches Material intoniert. Das Moment der Übermalung zelebriert Lang also nicht als eine Überdeckung, sondern als Übergang, Transparenz und Transformation von mehreren Sphären.13 Ein ähnliches kompositorisches und inszenatorisches Verfahren erscheint bereits in der handschuh des immanuel, wo zwei mobile Solostimmen vom räumlich verteilten Orchester (hier mit Bläser- und Streicherklängen) überschrieben werden. Im Einführungstext zur Partitur nimmt Lang dabei Bezug auf eine Maltechnik des amerikanischen Malers James McNeill Whistler: Auf Wasserdarstellungen von Whistler hat man mit dem Mikroskop kleine Spuren von Grün gefunden, die mit dem freien Auge nicht sichtbar sind. Wesentlich sind diejenigen Dinge, die man nicht sieht und die nicht notierbar sind.14 10 Hans Lazarus et al. (Hg.), Akustische Grundlagen sprachlicher Kommunikation, Berlin 2007, 21–22. 11 Michael Dickreiter, Handbuch der Tonstudiotechnik: Raumakustik, Schallquellen, Schallwahrnehmung, Schallwandler, Beschallungstechnik, Aufnahmetechnik, Klanggestaltung, München 1987, 119. 12 Christoph Reuter, Der Einschwingvorgang nichtperkussiver Musikinstrumente: Auswertung physikalischer und psychoakustischer Messungen, Berlin 1996, 221. 13 Die Qualitäten von Farben und die Bedeutung monochromer Flächen in Bildern aus dem Abstrakten Expressionismus und der Minimal Art werden auch innerhalb der Kunsttheorie im Sinne eines Durchscheinen-Lassens von möglichen anderen Schichten und Qualitäten interpretiert, was vor allem hinsichtlich der monochromen Bilder von Kasimir Malewitsch und Yves Klein zu unterschiedlichen Deutungen geführt hat. Die Verschränkung von visueller und akustischer ‚Stille‘ in solchen Bildern und in der zeitgenössischen Musik vor allem John Cages erläutert beispielhaft Craig Dworkin, dessen Thesen sich in ihrer intermedialen Verschränkung von Musik und Minimal Art auch auf Klaus Langs Werke übertragen lassen (Craig Dworkin, No Medium, Cambridge 2013). 14 Klaus Lang, der handschuh des immanuel, Partitur, Wien 2000, [3].

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Was sich zunächst scheinbar nur auf die Tonqualität der leisen Klangflächen bezieht, wird im audiovisuellen Kontext der Performance als ein Hinweis darauf lesbar, dass Lang – ähnlich wie Whistler, der sich als Kunsttheoretiker intensiv mit Musik und Klangfarbenwahrnehmung beschäftigte,15 – bewusst mit intermodalen Mechanismen der Wahrnehmung arbeitet. Die langsam fließenden Klangflächen überfordern das Kurzzeitgedächtnis und erzeugen eine verändertes Raumzeitgefühl,16 was sich auf die audiovisuelle Gesamtwahrnehmung der Performance auswirkt.

Zwischen Installation und Aufführung: Audiovisuelle Überlagerungen in Raum und Zeit Im menschlichen Gehirn sind visuelle und auditive Wahrnehmung, speziell in Bezug auf die Raumwahrnehmung, gekoppelt. Dabei findet räumliche Orientierung anhand der vom Raum zurückgeworfenen Schallwellen statt, die uns einen Eindruck von Größe und Beschaffenheit unserer Umgebung vermitteln, der durch das Sehen unterstützt wird. In der Gesamtkonzeption von das brot des todes und das brot des lebens verschmelzen Hören und Sehen; der klar strukturierte, als ‚Standbild‘ den visuellen Rahmen der Aufführung bestimmende Kirchenraum wird durch Licht und Klang gleichsam in Schwingung versetzt. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die Rauminstallation von Claudia Doderer, deren „Lichtpartitur“ von der Künstlerin auf Basis der erklingenden musikalischen Strukturen gestaltet wurde.17 Nicht nur erschwert der flächige, richtungslose Klang die akustische Orientierung im Raum; auch im Seheindruck findet diese Wahrnehmungsverschiebung statt: Im Gegensatz zum wuchtigen Eindruck der romanischen Kirche wirken die Papiersegel leicht und schwerelos; die langsam wechselnde Beleuchtung verstärkt die Illusion einer unmerklich fließenden Bewegung, die durch die Musik suggeriert wird. Die Lichtspots werfen Lichtstreifen auf die Segel, die an ihren Rändern durch die Lichtbrechung prismenhaft-chromatische Farbveränderungen aufweisen. Durch diese subtile Unschärfe wird auch das Licht als Gestaltungselement quasi in Bewegung versetzt und dynamisiert den Raum. Während aber die Aktivität auf der Klangebene deutlich merklich ist, laufen die Lichtwechsel so langsam ab, dass diese Aktivität an 15 Melvina Cameron, Colour-Music. Musical Modelling in James McNeill Whistler’s Art, Dissertation, University of Tasmania, 2006, https://eprints.utas.edu.au/22186/1/whole_Teniswood-HarveyArabellaMelvinaCameron2006_thesis.pdf (4.2.2019). 16 Dieser Wahrnehmungseindruck bestätigt sich anhand von Aufführungsrezensionen, wie etwa zur Aufführung von der handschuh des immanuel im Semperdepot Wien (Christian Henn, Hörtheater der tropfenden Zeit, in: Der Standard, 18. April 2005, https://derstandard.at/2019511/Hoertheaterder-tropfenden-Zeit [4.2.2019]). 17 Claudia Doderer, „Raum- und Lichtgestaltung“, in: Abendprogramm Osterfestival „imago dei“, 3. Es handelte sich um einen Doppelabend, an dem Klaus Langs Werk neben Iannis Xenakis’ Persephassa erklang, wobei die Gestaltung der Licht-Rauminstallation beide Werke konzeptuell in einer „Lichtpartitur“ (Doderer) vereint.

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der Wahrnehmungsschwelle stattfindet.18 So wird das Moment der Zeitdehnung im Hören und Sehen umgesetzt. Die Installation fungiert als visueller Magnet für die Klangaktion und übersetzt das Moment der Raumzeitdehnung in eine visuelle Ebene. Gleichzeitig bietet sie auf symbolischer Ebene eine Ergänzung der vorhandenen (musikalisch-räumlichen) Zeichen an und trägt damit zu einer erweiterten Semantisierung19 des sinnlich wahrnehmbaren Raums in der Aufführung bei. Dieser Prozess erzeugt eine Verschiebung der Wahrnehmung weg von einem ‚reinen Hören‘ hin zum atmosphärischen Spüren eines „gestimmten Raumes“20 oder einer „Szenosphäre“.21 Solch eine Wahrnehmungshaltung, die räumliche und affektive Qualitäten vor rationalen und emotionalen Aspekten betont, stellt sich auch beim Eintauchen in Installationen, beim Betrachten von bildender Kunst oder in installativen Theateraufführungen ein. Ein Beispiel aus der Installationskunst, anhand dessen sich Vorgänge in Klaus Langs das brot des todes und das brot des lebens erklären lassen, ist die Videoinstallation Martyrs (Earth, Air, Fire, Water) (2014) des amerikanischen Künstlers Bill Viola. 22 Viola gilt als einer der Pioniere der Videokunst und inszeniert in seinem Werk Vorgänge des Übergangs und der Transformation in großformatigen Slow-motion-Aufnahmen und archetypischen Bildern, in denen sich kunsthistorische, zeitgenössische, philosophische, religiöse und theatral inszenierte Elemente vereinen. Viola befasst sich ebenso wie Lang mit Phänomenen der Wahrnehmung. Die stark verlangsamten Bilder setzen die Zeitwahrnehmung außer Kraft und erzeugen durch ihre Größe einen sinnlichen Sog, sodass statt des vorhandenen Mediums (Bildschirm bzw. Leinwand) und des Dargestellten die Seh­ erfahrung selbst als symbolisch mitvollziehender Akt in den Vordergrund tritt. 23 Durch die Darstellung hindurch wird so ein Transformationsprozess vermittelt, wobei das Sehen als spiritueller Akt erlebt wird. 24 Dieses Moment wurde von 18 Das Phänomen, dass das menschliche Sehen Veränderungen nicht bzw. erst mit Verspätung registriert, wenn diese sehr subtil oder in einem Umfeld mit verschiedenen sinnlichen Stimuli ablaufen, bezeichnet man als „Veränderungsblindheit“ (vgl. Hans Otto Karnath / Peter Thier, Kognitive Neurowissenschaften, Berlin 32012, 318). 19 Vgl. Dieter Mersch, Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2002, 41. 20 Vgl. Gernot Böhme, Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001, 58–59. 21 Gernot Böhme definierte den Begriff der Atmosphäre als einen „gestimmten Raum“, woran Ruth Prangens Konzept der Szenosphäre anknüpft; vgl. Böhme, Aisthetik, 58–59; Ruth Prangen, Szenosphäre und Szenotopie. Künstlerische Forschungen zur Raumwahrnehmung und -struktur der Szenotopie, Bielefeld 2016, 114. 22 Bill Viola, Martyrs (Earth, Air, Fire, Water), Videoinstallation, St. Paul’s Cathedral, London 2014, http://billviolaatstpauls.com/martyrs (4.2.2019). 23 Diese für Violas Arbeiten charakteristische Wirkung beschreibt Felicia Rappe anhand von Violas Inszenierung von Richard Wagners Tristan und Isolde (Rappe, Gegenwartskunst und Oper, 97). 24 Timothy Scott Baker, Time and the Digital: Connecting Technology, Aesthetics, and a Process Philosophy of Time, Dartmouth 2012, 86.

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Ronald R. Bernier auch als „visuelle Theologie“25 bezeichnet, wobei man jedoch das Eigentümliche beim Erleben von Violas Installation nicht als rein religiöses Moment bezeichnen kann. Vielmehr wird der/die Betrachtende von Martyrs durch die Konfrontation einer zeitgenössischen medialen Kunstsprache mit einem religiösen Ort in einen Zwischenraum geführt: Die Bedeutung der Installation resultiert aus dem Schwebezustand zwischen einer primär sinnlichen Erfahrung und einer theologisch-spirituell konnotierten, hermeneutischen Lesart. Letzere wird stimuliert durch die religiöse Symbolik, die durch den Kirchenraum und Violas Videos als darauf bezugnehmende Schicht gegeben ist. Ähnliches beschreibt Felicia Rappe auch für Violas Inszenierung von Richard Wagners Tristan und Isolde, in welcher der „Mangel an eindeutiger Codierung“ der Videobilder eine intensive „Aufmerksamkeit auf das Erleben der Präsenz der Körper“ hervorruft. 26 Die Wahrnehmungsweise, die sich beim Miterleben von Klaus Langs Werken einstellt, ähnelt derjenigen in Bezug auf Bill Violas Installation, jedoch erweitert um die musikalisch-performative Ebene. Die Kirche wird zum Träger multipler Bedeutungen, der bereits in sich szenisch-klangliche Qualitäten hat. Der Komponist bemerkt dazu, daß in „der handschuh des immanuel“ […] das was eigentlich am stärksten dem optischen Bereich zugeordnet wird, nämlich der Raum, der zentrale Punkt dieses Hörtheaters ist. „der handschuh des immanuel“ will keine szenische Musik sein, sondern musikalische Szene. 27

Wie in der Installationskunst wird der (Aufführungs-)Raum nicht als „white cube“ 28 künstlerisch überhöht, sondern als aktives sinnliches und sinnstiftendes Moment in die Wahrnehmung einbezogen. Aus kultureller Sicht ist eine Kirche ein „Raum der Repräsentation“, der durch seine Gestaltung denjenigen, die ihn betreten, ein bestimmtes Verhalten und bestimmte Hörweisen abverlangt. 29 So kann das Leer-Lassen des Altarraums im Aufführungssetting von das brot des lebens in religiöser Sicht ein Hinweis auf die Nicht-Darstellbarkeit Gottes bedeuten, die sich im Musikalischen beispielsweise in der Schicht der gesprochenen Buchstaben wiederfindet, wo es ebenso Leerstellen gibt. 30 Auf der theatralen Ebene hingegen er25 Vgl. Ronald R. Bernier, The Unspeakable Art of Bill Viola: A Visual Theology, Eugene 2014. 26 Rappe, Gegenwartskunst und Oper, 100–101. 27 Klaus Lang, „sehen ohne augen – zum hörtheater der handschuh des immanuel“, https://klang. mur.at/?page_id=43 (4.2.2019). 28 Brian O’Doherty, Inside The White Cube. The Ideology of the Gallery Space, Berkeley 1976. 29 Henri Lefebvre, La production de l’espace, Paris 1974, 52. Zum Begriff des „Raumes der Repräsentation“ vgl. Christian Schmidt, Stadt, Raum und Gesellschaft. Henri Lefebvre und die Theorie der Produktion des Raumes, Stuttgart 2005, 222–225. 30 Das Verweben des hebräischen Alphabets in Texten und Kompositionen ist verknüpft mit der religiösen Bedeutung des Alphabets und seiner einzelnen Buchstaben in der kabbalistischen Tradition (die sich in der christlichen Lehre fortschreibt), da Sprache und das Alphabet in dieser

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Margarethe Maierhofer-Lischka

scheint der leere Altarraum als leere ‚Bühne‘, als Hinweis auf die Bedeutung der individuellen Wahrnehmung. Das langsame Gehen des Chors rund um das Publikum inszeniert das Auftauchen und Verschwinden der Sänger*innen als einen Vorgang zwischen (natürlichem) Prozess und Prozession. Es erscheint als Teil des audiovisuellen Gesamtrhythmus statt als spektakuläre Geste hinsichtlich eines Deutens oder Hervor-Zeigens wahrgenommen zu werden. Palestrinas Lamentationen, die a cappella erklingen, werden durch Einschübe von Chor und Perkussion klanglich und textlich so weit gedehnt, dass die Wortbedeutung neben dem Klangeindruck in den Hintergrund tritt. Die Zentraltöne der Palestrina-Abschnitte werden in den Zwischenteilen ineinander überblendet. Wenn sich die Chor-Glissandi langsam zum neuen Zentralton stabilisieren und die Rauschklänge der Perkussion den tonalen Chorklang freigeben, entsteht in der Wahrnehmung ein Moment des Schwebens und der Stasis, der sich – ähnlich der visuellen Erfahrung beim Betrachten der Installation Violas – als ein Verweilen in einem liminalen Raum „betwixt and between“ als räumlich-zeitlich ausgedehnter Zustand entfaltet. 31 Der Widerspruch zwischen den Momenten ‚Kunstperformance‘ und ‚Kirchenmusik‘ mit ihren verschiedenen Bedeutungsebenen erzeugt eine kognitive Dissonanz zwischen Hörerwartungen und Seherwartungen an die Aufführung, den Hör- und Verhaltensgewohnheiten im Kirchenraum und der tatsächlich erlebten Realität. Indem die Performance einerseits religiöse Symbolik bedient, andererseits aber auch rein ästhetische Erfahrungsräume öffnet, entsteht ein Zustand der „multistabilen Wahrnehmung“, 32 ein „Nichtverstehen im Verstehen“. 33 Das entstehende Gef lecht aus Erwartungen und Ereignissen öffnet einen Spielraum, Sicht Teil des Schöpfungs- und Weltbegründungsmythos sind; vgl. hierzu Karl Erich Grözinger, Jüdisches Denken. Theologie – Philosophie – Mystik, Bd. 2, Frankfurt 2005, 315–316, und Hans T. David, „Hebrew Letters in Polyphonic Settings by Christian Composers“, in: Bach Journal of the Riemenschneider Bach Institute 2 (1971), 6–17. 31 Den Begriff des Liminalen hat Viktor Turner in die Performancetheorie eingeführt („Are there Universals in Myth, Ritual and Drama?“, in: By Means of Performance. Intercultural Studies of Theatre and Ritual, hg. von Richard Schechner und Willa Appel, Cambridge 1990, 7–18). Aus der Hörperspektive ist diese Erfahrung mit dem Fokus auf Grundtönigkeit zu erklären, die sich nicht nur in Hörerwartungen bei klassischen Kadenzen, sondern auch beim Hören spektraler Musik in Bezug auf den Fundamentalton äußern kann; vgl. Juan G. Roederer, The Physics and Psychophysics of Music. An Introduction, New York 2008, 153–154, 184. 32 Als multistabile Wahrnehmungen gelten Phänomene, die unterschiedliche Potentiale zur Deutung beinhalten und sich daher wie „Kippbilder“ verhalten; vgl. Don Ihde, Experimental Phenomenology. Multistabilities, New York 2012. Zur Anwendung dieses Begriffs in der Performancetheorie vgl. Erika Fischer-Lichte, „Perzeptive Multistabilität und ästhetische Wahrnehmung“, in: Wege der Wahrnehmung. Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater, hg. von ders., Barbara Gronau, Sabine Schouten und Christel Weiler, Berlin 2006, 129–139. 33 Dieter Mersch, „Nichtverstehen. Zu einem zentralen ‚posthermeneutischen‘ Motiv“, in: Erzeugen und Nachvollziehen von Sinn. Rationale, performative und mimetische Verstehensbegriffe in den Kulturwissenschaften, hg. von Martin Zenck und Markus Jüngling, München 2011, 59–72, hier 59.

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innerhalb dessen sich die Performance als Erlebnis entfaltet, das die Erfahrung von Entstehung und Vergehen, von zyklischen Prozessen als medialem Geschehen inszeniert.

Musiktheater zwischen Hören, Sehen und Raumerlebnis Indem Lang in seinen musikalisch-szenischen Werken wie das brot des todes und das brot des lebens und der handschuh des immanuel sowohl auf Textebene als auch auf der musikalischen und räumlich-inszenatorischen Ebene klar identifizierbare Bilder und lineare Narrative vermeidet, stimuliert er einen atmosphärischen Wahrnehmungsprozess, der das Publikum in der Schwebe inmitten verschiedener Inhalts- und Sinnesebenen hält und dabei auf Wahrnehmungsmechanismen von bildender Kunst und Installationskunst zurückgreift. In diesem Sinne erweist sich Langs das brot des todes und das brot des lebens als Beispiel eines „Theaters der Wahrnehmbarkeit“, 34 das gerade im Spagat zwischen aktuellen und historischen Anleihen die eigenständige Kraft einer künstlerischen Utopie gewinnt: „Die Utopie des Hörraumes besteht darin zu sein ohne zu repräsentieren, denn der Wert alles Existierenden liegt in seiner Existenz und nicht in seiner Funktion.“ 35 In der Auseinandersetzung mit einem konkreten Raum als Aufführungsort lässt sich Langs Musiktheater nicht nur ästhetisch der Installationskunst oder dem zeitgenössischen Theater zuordnen. Gerade der Kirchenraum als inszenierter Hör-Ort forderte stets zu besonders intensiver Auseinandersetzung mit musiktheatralen Formaten heraus, angefangen mit Luigi Nonos Hörtragödie Prometeo (1984) bis hin zur Raum-Musik-Performance ppt von Makiko Nishikaze (2016). 36 In diesem Sinne schreibt Lang mit seinen Werken eine interdisziplinäre musikalisch-szenisch-installative Praxis fort, die als „Hörmusiktheater“ 37 eine eigenständige Spielart des zeitgenössischen Musiktheaters bildet.

34 „In einem löchrig gewordenen Rahmen von Bedeutung tritt hervor die konkrete, sinnlich intensivierte Wahrnehmbarkeit. [...] Während Mimesis im Sinne von Aristoteles die Lust am Wieder­ erkennen erzeugt und so gleichsam immer zu einem Resultat gelangt, bleiben die Sinnesdaten hier stets auf noch ausstehende Antworten bezogen, bleibt, was man sieht und hört, potentiell, seine Aneignung aufgeschoben. In diesem Sinne geht es um ein Theater der Wahrnehmbarkeit.“ (Lehmann, Postdramatisches Theater, 169) 35 Lang, „sehen ohne augen – zum hörtheater der handschuh des immanuel“. 36 Vgl. Matthias R. Entreß, Raummusik – Musiktheater – musikalische Aktion. „ppt“ von Makiko Nishi­ kaze, http://www.makiko-nishikaze.de/images/ppt_Matthias_R._Entress.pdf (4.2.2019). 37 Zum Begriff vgl. Christian Utz, „Musiktheater“, in: Lexikon Neue Musik, hg. von Jörn Peter Hiekel und Christian Utz, Stuttgart und Kassel 2016, 407–417, hier 414.

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Lars E. Laubhold

Arthur Friedheims Einspielung von Ludwig van Beethovens Diabelli-Variationen für das Philipps-Klavierrollensystem Duca Eine interpretationsanalytische Studie anhand der Variation III Lars E. Laubhold In seiner 2016 veröffentlichten Übersichtsdarstellung zur Rezeptions- und Interpretationsgeschichte von Ludwig van Beethovens 33 Veränderungen über einen Walzer von Anton Diabelli op. 120 erwähnt Jürg Stenzl als eine der beiden frühesten greif baren ‚Klangaufzeichnungen‘ des Werkes eine auf drei Reproduktionsklavierrollen veröffentlichte Aufnahme von Arthur Friedheim, von der bisher nur die erste Rolle mit dem Thema und den Variationen I–X bekannt geworden ist.1 Der YouTube-User RollaArtis hatte am 17. Jänner 2011 diese Einspielung in einer privaten Überspielung gepostet. 2 Auf meine Nachfrage gab RollaArtis an, es handle sich um eine Aufnahme, die Friedheim vor dem Ersten Weltkrieg für die Philipps AG in Frankfurt am Main, sehr wahrscheinlich für das Reproduktionssystem Duca eingespielt habe. Die Länge des Gesamtwerkes machte eine Einspielung auf drei Notenrollen erforderlich, die in der Folge auch separat und in umgestanzter 88-Ton-Standardbreite vertrieben wurden, bei der allerdings laut RollaArtis die Dynamikkodierung verloren gehe. Eine solche auf die Standardbreite adaptierte Notenrolle wurde für die YouTube-Aufnahme verwendet. 3 Andere Überspielungen dieser Notenrolle oder der Rollen, welche die übrigen Variationen XI–XXIII enthalten, sind bisher nicht öffentlich bekannt geworden. Ein konkretes Aufnahmedatum ist der überlieferten Rolle nicht zu entnehmen. Auch die Rollenkataloge geben dazu keine Hinweise. Hans-W. Schmitz war es jedoch in den 1980er Jahren gelungen einen Aufnahmef lügel der Firma Philipps 1

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Jürg Stenzl, „‚das Heiligste mit dem Harlequino vereint…‘? Auf der Suche nach einer Rezeptions- und Interpretationsgeschichte von Beethovens Veränderungen über einen Walzer von Anton Diabelli, op. 120“, in: Ludwig van Beethoven. „Diabelli-Variationen“, hg. von Ulrich Tadday, München 2016 (= Musik-Konzepte 171), 48−95, hier 49. https://www.youtube.com/watch?v=-ZFSiusgmDU (4.2.2019). Freundliche Mitteilung von RollaArtis (20.5.2015): „Friedheim recorded his rolls of the Diabelli Var. in the 1900’s for Philips AG, presumably intended for their DUCA reproducing piano. In three rolls, they were later issued in a standard 88 note format (that is, the same roll but without the ‚expression‘ coding). I have only the first one (88N) which you see here. I don’t expect to find the other rolls any time soon as they are extremely rare, and there is even less chance of finding the DUCA version.“

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zu identifizieren,4 der auf der Flügelplatte zahlreiche, großteils datierte Signaturen berühmter Pianisten trägt – unter anderem auch jenen Arthur Friedheims. 5 Durch eine Konkordanzliste der im Nummernverzeichnis des Philipps-Kataloges geführten Pianisten und der auf dem Aufnahmef lügel befindlichen Signaturen konnte er eine Chronologie der Aufnahmesitzungen von 1908 bis 1922 erstellen, deren Referenzdaten den Datierungen auf dem Aufnahmef lügel entnommen sind. Während für eine Reihe von Pianisten mehrfache Aufnahmesitzungen nachzuweisen sind, spielte Arthur Friedheim offenbar lediglich einmal, im Herbst 1911, für Philipps ein. Das bei der Signatur auf der Rahmenplatte angebrachte Datum „14?.10?.11“6 ist nicht zweifelsfrei zu lesen, wird aber durch die chronologisch benachbarten Signaturen gestützt, sodass wir sagen können, dass Friedheim seine Aufnahmen zwischen Juli und November 1911, wahrscheinlich Mitte Oktober vornahm. Das gesamte Set umfasst die Rollen 918−920.7 Philipps war nach Welte (1904) und Hupfeld (1906) die dritte und letzte deutsche Firma, die mit dem Duca-System 1909 ein hochwertiges Reproduktionsklavier auf den Markt gebracht hatte.8 Gemeinsam mit einigen großen amerikanischen und britischen Firmen konkurrierte man in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auf einem boomenden Markt für Selbstspielklaviere, deren Produktion zeitweise jene herkömmlicher Handspielklaviere überstieg und als deren Qualitätssegment die echten Reproduktionsklaviere etwa 5–7 % ausmachten.9 Während der Großteil der in den Notenrollenkatalogen angebotenen Titel „gezeichnet“ (d. h. in rhythmisch-geometrischer Konstruktion auf die Rollen übertragen) oder von wenig bekannten und in der Vermarktung der Rollen mitunter auch verschwiegenen Pianisten eingespielt wurden, fungierten die vergleichsweise wenigen Aufnahmen berühmter Pianisten auch als Aushängeschild für das Renommee einer Firma, das auch für die Produkte des Massenmarktes verkaufsfördernd wirken sollte. Arthur Friedheim, der von 1880 bis zu Franz Liszts Tod 1886 4

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Hans-W. Schmitz, „Der Philipps-Aufnahmeflügel und die Duca-Aufnahmen“, in: Das mechanische Musikinstrument 10/40 (1986), 16–22. Es handelt sich um „das ‚Mod. 30, Mignonflügel schwarz 7 1/4 Oktaven‘ mit der Fabrikationsnummer 26087“ der Firma Richard Lipp & Sohn in Stuttgart, dessen Auslieferung an die Firma Philipps im Herbst 1906 durch ein Lieferverzeichnis der Firma Lipp bestätigt wird (ebd., 16–17). Nach einer Zeitzeugenaussage „verfügte Philipps über mehrere Einspielflügel, die alle mit Elektrokontakten ausgestattet waren. Die verschiedenen Instrumente waren notwendig, da Konzertpianisten sich weigerten, auf einem anderen als ihrem gewohnten Herstellermodell zu spielen.“ (Thomas Richter, „Philipps Duca − Technik und Daten“, in: Das mechanische Musikinstrument 33/100 [2007], 20–28, hier 27.) Ebd., 20. Larry Sitsky, The Classical Reproducing Piano Roll. A Catalogue-Index, 2 Bde., New York 1990 (= Music Reference Collection 23), Bd. 1, 48, Bd. 2, 800. Richter, „Philipps Duca“, 22. Jürgen Hocker, Faszination Player Piano. Das selbstspielende Klavier von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bergkirchen 2009, 168.

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dessen Schüler, Sekretär und Assistent war und einer der gefragtesten Pianisten in dessen direkter Nachfolge wurde, gehörte zu diesen ‚Testimonials‘. Friedheim10 (1859–1932) hatte zunächst in St. Petersburg bei Carl Siecke und Anton Rubinstein studiert, war früh auch als Theaterdirigent tätig und wurde 1880 nach mehrmaligem Vorspiel (erstmals 1878) von Franz Liszt als Schüler angenommen, zu dem er in der Folge als Assistent, Sekretär und Reisebegleiter ein besonderes Naheverhältnis auf baute. Laut Ferruccio Busoni neigte der junge Pianist 1883 zur „Pose“ und machte während Spielpausen in Konzerten „Mätzchen“,11 er entwickelte sich aber rasch zu einem namhaften Pianisten, der auch als Konzertund Operndirigent zu Ansehen gelangen sollte. Er komponierte unter anderem zwei Klavierkonzerte, auch zwei Opern aus seiner Feder wurden 1897 bzw. 1904 aufgeführt, weitere Opern blieben unaufgeführt oder Fragment. Ab den 1890er Jahren war er vorrangig in den USA tätig, die ihm angetragene Nachfolge Hans von Bülows als Leiter der Berliner Philharmoniker (1894) lehnte er ab. 1897 ging er nach England, wo er auch als Lehrer gefragt war. Als hauptamtlicher Dirigent wirkte er 1908−11 in München, zwei Angebote die Leitung des New York Philharmonic Orchestra zu übernehmen – erstmals 1898 sowie 1911 als Nachfolger Gustav Mahlers − schlug er jedoch aus. Nach seinem Münchner Engagement übersiedelte er endgültig nach New York, wo er 1932 verstarb. Er war einer der gefragtesten Pianisten seiner Zeit und galt besonders als „Lisztspieler“.12 Liszt selbst soll Friedheims Aufführung seiner Klaviersonate in h-Moll beim Weimarer Musikfest 1884 als seinem Werk vollkommen entsprechend gelobt haben.13 Unter den Schülern Liszts machte er die größte Zahl an Einspielungen. Als Aufnahmekünstler spielte er für Welte und Hupfeld14 ebenso wie für Philipps oder in den USA für die Aeolian-Company, mit dem Auf kommen der Schallplatte auch für 10 Vgl. zum Folgenden Ingo Harden / Gregor Willmes, Pianisten Profile. 600 Interpreten: ihre Biographie, ihr Stil, ihre Aufnahmen, Kassel 2008, 219–202. Vgl. auch Runolfur Thordarson, „Recordings of Works of Liszt Played by his Pupils – A Discography and Evaluation“, in: Journal of the American Liszt Society 47 (2000), 7–67, bes. 18–20; Arthur Friedheim, Life and Liszt. The Recollections of a Concert Pianist, hg. von Theodore L. Bullock, New York 1961. Auf Friedheims Memoiren dürfte ein Großteil des heute bekannten Wissens über seine Biographie zurückgehen. 11 Zit. nach Harold C. Schonberg, Die großen Pianisten. Eine Geschichte des Klaviers und der berühmtesten Interpreten von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bern 1965, 300. 12 [Anonymus], „Friedheim, Arthur“, in: Hugo Riemann, Musik-Lexikon, hg. von Alfred Einstein, Berlin 91919, 351. 13 Emil Sauer, der unter den Zuhörern in der Nähe Listzs saß, teilte Liszts Ausspruch am folgenden Tag Hugo Mansfeldt mit, der ihn erst 1930 brieflich an Friedheim übermittelte, durch dessen Memoiren er öffentlich bekannt wurde: „That is the way I thought the composition when I wrote it.“ (Friedheim, Life and Liszt, 141 [Hervorhebung original].) 14 Seine 1905 bei Hupfeld entstandene Aufnahme von Liszts Klaviersonate in h-Moll wurde vor wenigen Jahren ‚entdeckt‘ (Gerard Carter / Martin Adler, Arthur Friedheim’s Recently Discovered Roll Recording, Ashfield 2011) und kursiert heute in diversen Überspielungen auf YouTube.

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Columbia. Dass er als „ein ‚authentischer‘ Liszt-Schüler und -Nachfolger“15 gilt, stellt die Aufnahme der Diabelli-Variationen in den Kontext der Frage nach Liszts spezifischer, insbesondere im Einf lussbereich der Neudeutschen Schule prägender Aufführungsästhetik, die einer verbreiteten Hoffnung zufolge in den Aufnahmen seiner Schüler gleichsam wie in „Sedimenten“16 abgelagert sein mag. Im Zuge weiterer Recherchen zu Friedheims Aufnahme konnte nun ein vollständiges Set des gesamten Variationen-Zyklus in der Sammlung der GoetheUniversität in Frankfurt am Main lokalisiert werden,17 wo sich unter den 955 erfassten Philipps-Klavierrollen auch 13 mit Einspielungen Arthur Friedheims erhalten haben.18 Bisher unverständlich ist der Umstand, dass für die erste der drei dort auf bewahrten Klavierrollen sowohl auf der Rollenhülle als auch auf der Rolle selbst ein Etikett angebracht ist, auf dem nicht Arthur Friedheim, sondern August Schmid-Lindner als Pianist genannt ist,19 während die Rollenkataloge Arthur Friedheim angeben. August Schmid-Lindner (1870−1959) studierte an der Akademie der Tonkunst in München unter anderem bei Josef Rheinberger sowie „nach Gewinnung des Berliner Mendelssohnpreises (1889)“ bei der Liszt-Schülerin Sophie Mentner. Er galt als „hochangesehener Lehrer […] und ausgezeichneter Pianist und Kammermusikspieler in München“, der sich als „Vorkämpfer der Regerschen Kunst wie überhaupt der zeitgenössischen Klaviermusik“ ebenso wie als Herausgeber der Klaviermusik Johann Sebastian Bachs und Franz Liszts verdient machte. 20 Tatsächlich war auch Schmid-Lindner als Pianist für Philipps tätig, und zwar augenscheinlich lediglich einmal, ebenfalls im Frühherbst 1911, 21 als er die Rollen 871−895 einspielte. 22 15 Stenzl, „‚das Heiligste mit dem Harlequino vereint…‘?“, 67; vgl. in diesem Sinne – allerdings explizit auf Friedheims Interpretation von Liszts Klaviersonate bezogen − auch Carter / Adler, Friedheim’s Recently Discovered Roll Recording, 57. 16 Hans-Joachim Hinrichsen, „Kann Interpretation eine Geschichte haben? Überlegungen zu einer Historik der Interpretationsforschung“, in: Gemessene Interpretation. Computergestützte Aufführungsanalyse im Kreuzverhör der Disziplinen, hg. von Heinz von Loesch und Stefan Weinzierl, Mainz 2011 (= Klang und Begriff 4), 27−37, hier 31. 17 http://sammlungen.uni-frankfurt.de/sammlung/15/klavierrollensammlung-a-institut-f-r-musikwissenschaft (4.2.2019). Für den Hinweis auf diese Sammlung bin ich Rex Lawson zu Dank verpflichtet. 18 Für diesbezügliche Auskünfte danke ich Marion Saxer und ihren Mitarbeiterinnen Kerstin Helf­ richt und Britta Schulmeyer vom Institut für Musikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt sehr herzlich. 19 Identischer Aufdruck auf Rollenhülle und Rolle: „No. 918 / 33 Variationen über einen / Walzer von Diabelli / op. 120 / a) Variationen 1 bis 10 / von L. van Beethoven. / Gespielt von / SchmidLindner“. 20 [Anonymus], „Schmid-Lindner, August“, in: Hugo Riemann, Musiklexikon, hg. von Alfred Einstein, Berlin 111929, 1630. Schmid-Lindners Todesjahr laut „+ Schmid-Lindner, August“, in: Ergänzungsband zur zwölften Auflage, Personenteil L−Z, hg. von Carl Dahlhaus, Mainz 1975, 582. 21 Schmitz, „Der Philipps-Aufnahmeflügel“, 20. 22 Sitsky, The Classical Reproducing Piano Roll, Bd. 2, 1227. 14 dieser 25 Rollen sind auch in der

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Inwiefern Schmid-Lindner tatsächlich an der sonst einhellig Friedheim zugeschriebenen Philipps-Aufnahme der Diabelli-Variationen beteiligt war, muss momentan offen bleiben. Trotz dieser Unsicherheit der Überlieferung stellt das in Frankfurt auf bewahrte Set derzeit die primäre Quelle zur gesuchten Aufnahme dar, die jedoch als klingendes Zeugnis vorerst nicht zur Verfügung steht: Die Katalogisierung der Frankfurter Sammlung wurde vor kurzem abgeschlossen, die Digitalisierung ausgewählter Rollen ist für die Zukunft vorgesehen, kann aber momentan noch nicht geleistet werden. Damit bleibt die von RollaArtis auf YouTube gepostete Aufnahme die derzeit einzige öffentlich zugängliche ‚klingende Kopie‘ der ältesten Einspielung der Diabelli-Variationen, die trotz ihres fragmentarischen Charakters und ungeachtet verbesserungswürdiger Reproduktionsbedingungen eine erste Beurteilung erlaubt.

Dynamik Während die Tonhöhen- und Tondauernaufzeichnung bei allen Firmen im Wesentlichen gleich zuverlässig gewährleistet war – das Philipps-Duca entsprach diesbezüglich weitgehend dem System von Welte –, 23 stellte für alle Firmen die Dynamikaufzeichnung den Schwachpunkt des Aufnahmeprinzips dar. Mit der Möglichkeit zur Einzelnotenbetonung, durch die bei gleichbleibender Grundlautstärke einzelne Töne dynamisch hervorgehoben werden konnten, war das Duca dem Welte-Mignon als Abspielsystem möglicherweise sogar überlegen, 24 die ‚Aufnahme‘ der Dynamik erfolgte jedoch wie bei den anderen Reproduktionssystemen nachträglich und indirekt: Bei der Einspielung befanden sich bis zu 8 „Konzertmeister“ im Raum, jeder mit der Partitur in der Hand. Sie hatten die Aufgabe, auf bestimmte Eigenheiten des dynamischen Spiels zu achten. Nach der Aufnahme der Tasten- und Pedalbewegungen durch den Schreibapparat wurden mittels der handschriftlichen Aufzeichnungen der „Konzertmeister“ die Kodierungen für die Dynamik eingezeichnet und mitgestanzt. Bei bis zu drei Redaktionssitzungen in der Fabrik wurden den Pianisten die Masterrollen vorgespielt und die Möglichkeit zu Korrekturen gegeben. Erst danach wurden die Noten vervielfältigt und veröffentlicht. 25 Frankfurter Sammlung vorhanden, Nr. 895 wird bei Sitsky als „Harmonies poétiques et religieuses No 3“, in der Frankfurter Sammlung hingegen als „Bénédiction de Dieu dans la Solitude“, beide von Franz Liszt, angegeben. Für Rolle 886 fehlt momentan jeder Nachweis. 23 Richter, „Philipps Duca“, 23. 24 Ebd., 24. 25 Ebd., 27. Zu einer Zusammenschau der Aufzeichnungsverfahren bei den wichtigsten Firmen vgl. Hocker, Faszination Player Piano, 130–149. Kai Köpp verdanke ich den Hinweis, dass das

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Die Dynamikcodierung fällt mithin in eine grundsätzlich andere Zeichenkategorie als die Codierung der Tonhöhen und Tondauern; letztere stellt eine ‚Spur‘ der Tastenbewegungen dar, die im Regelfall in einer ungebrochenen Kette technischer Reproduktion auf uns gekommen ist; erstere ist über eine Reihe (im Einzelfall unkalkulierbarer) editorischer Maßnahmen vermittelt, die in der Wahrnehmung des ursprünglichen Klavierspiels durch meist mehrere Editoren ihren Ausgang nahm, letztlich aber – im Idealfall einer konstruktiven Zusammenarbeit von Pianist und Aufnahmefirma – eine Annäherung an die Intentionen des Künstlers (und nicht notwendigerweise die bei der Einspielung tatsächlich realisierte Dynamik) unter den gegebenen technischen Beschränkungen darstellt. 26 Glaubhaften Urteilen zufolge müssen mit gut edierten Rollen auf exquisit justierten Instrumenten beeindruckende Ergebnisse erzielt worden sein, die die Reproduktionsklaviere den frühen phonographischen Aufzeichnungen deutlich überlegen machten. Doch blieb selbst (oder gerade) bei vorzüglich edierten Rollen die Dynamikwiedergabe stets das schwächste Glied in der Reproduktionskette, die in höchstem Maße vom genauesten Zusammenspiel von Codierung, Reproduktionssystem und Klaviermechanik abhängig war, das letztlich auch alle Kompatibilitätsbestrebungen der führenden Anbieter untereinander untergrub. 27 Nachdem sich führende Selbstspielklavierproduzenten auf eine standardisierte Loch­skala geeinigt hatten und viele Titel auf sogenannte „88er Weltnoten“ umgestanzt worden waren, konnten diese zwar auf Instrumenten verschiedener Hersteller wiedergegeben werden, die originale Dynamikkodierung ging dabei jedoch verloren. Sie wurde durch eine Dynamiklinie/Betonungslinie auf der Rolle ersetzt, welcher der Spieler beim Abspielen der Rolle mit den Dynamikhebeln folgen konnte. Bei Philipps versuchte man das Kompatibilitätsproblem dadurch zu lösen, dass die hochpreisigen Reproduktionsinstrumente „Ducaliszt“ und „Ducartist“ mit einem versetzbaren Skalenblock mit zwei Lochreihen ausgestattet wurden. Dadurch können sowohl Ducartist-Reproduktionsnoten als auch 88er Weltnoten abgespielt werden. Als Abspielmöglichkeiten sind vorgesehen:28 Codierungsverfahren bei Philipps weniger stark an jenes von Welte angelehnt war als dies durch Hockers Darstellung nahegelegt wird, was jedoch für die vorliegende Untersuchung ohne Belang bleibt. 26 Beispielhaft zur Konzeption dieses Aufnahmeprozesses als „eine neue, wunderbare Art der musik­ alischen Schöpfung“ vgl. Harold Bauers Statement in einem Konzertprogramm, zit. nach Hocker, Faszination Player Piano, 146. 27 Das betraf selbst Instrumente der gleichen Firma, je nachdem, ob sie in Europa oder den USA hergestellt und/oder gewartet wurden. Dazu nochmals Harold Bauer: „Ich hörte die beiden Rollen (desselben Stückes) und meiner Meinung nach steht es außer Frage, dass, mag auch die New Yorker Version vielleicht in New York besser klingen, das Londoner Original zweifelsfrei in London besser klingt.“ (Harold Bauer, Brief an den New Yorker Aufnahmeleiter der Aeolian-Company W. Creary Woodls, 16. Juni 1922, zit. nach Hocker, Faszination Player Piano, 147.) 28 Richter, „Philipps Duca“, 23.

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Ducartistnoten mit automatischer Betonung und Elektroantrieb Ducartistnoten mit Handbetonung und Elektroantrieb Ducartistnoten mit Handbetonung und Pedalantrieb 88er mit Handbetonung und Elektroantrieb 88er mit Handbetonung und Pedalantrieb.

Die von RollaArtis hergestellte Aufnahme entspricht einem der letztgenannten Abspielverfahren.29 Die Dynamik dieser Aufnahme stellt daher eine mehr oder weniger gelungene Umsetzung der auf der Rolle gemachten Vorgaben dar; als Quelle für Friedheims Klavierspiel fällt sie hingegen aus. Anders sollte es sich mit den Tonhöhen und Tondauern verhalten. Im konkreten Einzelfall ist zwar derzeit noch keine Vergleichsmöglichkeit mit anderen Übertragungen des Stückes gegeben, anhand derer sich die Zuverlässigkeit des Wiedergabesystems beurteilen ließe, im Allgemeinen gilt aber die Reproduktion der Tonhöhen- und Dauernwerte auch bei Umstanzungen als hinreichend verlässlich, um ein weitgehend authentisches Abbild pianistischer Zeitgestaltung inklusive Phrasierung und Artikulation zu gewährleisten. Da in absehbarer Zeit das Frankfurter Rollenset der wissenschaftlichen Forschung und damit für Vergleichszwecke zur Verfügung stehen wird, versteht sich die nachfolgende Analyse der derzeit vorliegenden Übertragung der Aufnahme auch als erster Teil einer quasi experimentellen Ref lexion über die Zuverlässigkeit unserer Forschungsmethoden im Hinblick auf Quellen unterschiedlicher Qualität.

Versuch einer Analyse Jürg Stenzl hat in seiner Übersichtsdarstellung zur Interpretationsgeschichte von Beethovens Opus 120 ein vergleichendes Urteil über die Aufnahme Friedheims gegeben: Unverkennbar ist Friedheims sehr ‚freie‘ Spielweise mit ungewöhnlich schnellen Tempi. Ein einmal gewähltes Tempo wird kaum je durchgehend beibehalten und Tempomodifikationen sind kaum als Phrasierungsmittel erkennbar. Auffallend starke Ritardandi am Ende der beiden Teile […]. Die Tempi sind, mit Ausnahme der sehr langsamen, sentimentalisierten Variation 3, schnell, besonders für die Variationen 7, 8 und der [sic] Variation 9, wo Friedheim – wie in Variation 10 – einen Extremwert erreicht. 30

Stenzl, der die Totale der auf Tonträger dokumentierten Interpretationsgeschichte dieses Werks im Blick hat, nähert sich seinem Gegenstand zunächst über umfangreiche Vergleiche der Dauern der einzelnen Variationen und trifft seine Feststellungen 29 Vgl. Anm. 3. 30 Stenzl, „‚das Heiligste mit dem Harlequino vereint…‘?“, 67–68.

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über dieses Dokument daher zurecht vorbehaltlich der Frage, „ob die Abspielgeschwindigkeit verlässlich ist“.31 Unabhängig von deren ausstehender Beantwortung ist aber die in Relation zu den übrigen Variationen herausfallende Tempowahl der „sentimentalisierten Variation 3“ bemerkenswert. Die absoluten Dauern32 der einzelnen Variationen liegen großteils innerhalb des in Stenzls Studie anhand von 31 Aufnahmen33 ermittelten Spektrums, wenn sie auch in Summe vergleichsweise kurz (die Tempi also hoch) sind. Lediglich die Variationen VII und IX dauern in der vorliegenden Überspielung um vier bzw. sieben Sekunden kürzer als die jeweils schnellste Fassung aus Stenzls Sample; Variation X ist um zwei Sekunden kürzer als in der Fassung Friedrich Guldas von 1957, Variation VIII ist um eine Sekunde kürzer als Swjatoslaw Richters Aufnahme von 1954. Für alle anderen Variationen finden sich gleich schnell oder schneller gespielte Fassungen in der Tonträgergeschichte. Während also nicht zu belegen ist, dass in der vorliegenden Überspielung Friedheims Tempi richtig wiedergegeben sind, bieten die gemessenen Dauern auch keinen zwingenden Grund, ihre Richtigkeit zu bezweifeln: Sie erweisen sich im langjährigen Vergleich zwar als tendenziell kurz, aber keinesfalls als unwahrscheinlich oder gar ‚unmöglich‘. Immerhin scheint aber klar, dass die Rolle – wenn überhaupt − eher zu schnell abgespielt oder werkseitig zu schnell kalibriert wurde als zu langsam. Umso auffallender ist die auch in absoluten Zahlen im langjährigen Vergleich ungewöhnlich lange Dauer von Variation III, wenngleich auch sie innerhalb des von Stenzl dokumentierten Bereichs liegt. 34 Aus der Dauer von etwa 45 Sekunden für diese Variation (ohne Wiederholungen) lässt sich für Friedheims Interpretation ein durchschnittliches Tempo von 43 Schlägen pro Minute (im Folgenden M. M.) für die punktierte Halbenote errechnen. 35 Wie zuverlässig diese Zahl als absoluter Wert auch immer zu bewerten sein mag, als rechnerisches Grundtempo bildet sie den Referenzwert für die folgende Untersuchung, die im Sinne einer „relationalen Zeitgestaltungsanalyse“ 36 absolute Zahlen lediglich als Ausgangs31 Ebd., 67. 32 Dauern in Friedheims Aufnahme laut der vorliegenden Überspielung (rechnerische Dauern durch Verdoppelung der ungerundeten Zahlen bei den ohne Wiederholung eingespielten Variationen in eckigen Klammern ergänzt): Thema: 00:46; Var. I: 00:49 [01:37]; Var. II: 00:26 [00:39]; Var. III: 00:45 [01:34]; Var. IV: 00:28 [00:55]; Var. V: 00:29 [00:57]; Var. VI: 00:45 [01:31]; Var. VII: 00:24 [00:47]; Var. VIII: 00:26 [00:51]; Var. IX: 00:33 [01:06]; Var. X: 00:30. 33 Vgl. die Anhänge bei Stenzl, „‚das Heiligste mit dem Harlequino vereint…‘?“, 89–90, 95. 34 Bei Konstantin Scherbakow (1997) dauert die Variation exakt gleich lang, Valery Afanasjew (1998) benötigt nochmals zwölf Sekunden mehr Zeit. 35 Das Durchschnittstempo punktierte Halbe = ca. 43 ergibt sich aus der Dauer des Stückes gemessen vom dritten Schlag des Auftaktes zu Takt 1 bis zum letzten Schlag (zweiter Schlag in Takt 32): 45,2 (Sekunden) ÷ 32 (Takte) = 1,4125 → 60/1,4125 = 42,48. 36 Zum Konzept der „relationalen Zeitgestaltungsanalyse“ vgl. Lars E. Laubhold, Von Nikisch bis Norrington. Beethovens 5. Sinfonie auf Tonträger. Ein Beitrag zur Geschichte der musikalischen Interpretation im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, München 2014, bes. 67−90.

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punkte für die eigentlich interessierenden Verhältnisse innerhalb des Tempoverlaufs versteht. Die aus der relationalen Fixierung gegenüber den anderen Variationen auf der gleichen Notenrolle unzweifelhaft abzuleitende, im historischen Vergleich auffällig lange Dauer von Variation III hat ihre Ursache im exzessiven Rubatospiel. Für diese Variation ganz besonders gilt Stenzls Feststellung zu Friedheims „freie[r]“ Spielweise. Ein auch nur für kurze Zeit stabiles Tempo bildet sich hier kaum aus. Eher lässt sich der Verlauf als permanentes Gleiten mit lokalen Oberund Untergrenzen an markanten Punkten beschreiben. Eine Tempoverlaufsmessung37 auf Basis der kleinsten metrischen Einheit (Achtelnote) enthüllt (umgerechnet auf den Wert für die punktierte Halbenote) Schwankungen zwischen M. M. 15 und 70 (Videobsp. 1). Freilich sind die Extremwerte nur in einem technischen Sinn noch als ‚Tempo‘ zu beschreiben, dort etwa, wo Zäsuren den eigentlichen metrischen Fortgang kurzzeitig auf heben. Inwiefern Tempomodifikationen über die „starke[n] Ritardandi am Ende der beiden Teile“ hinausgehend eventuell doch als „Phrasierungsmittel“ zu erkennen sind, soll Gegenstand der folgenden eingehenden Analyse sein. http://phaidra.kug.ac.at/o:77609 Videobeispiel 1: Ludwig van Beethoven, 33 Veränderungen über einen Walzer von Diabelli op. 120, Variation III, Arthur Friedheim [1911?], Tempoverlaufskurve.

Zunächst lassen sich eine Reihe relativer Tempominima lokalisieren, die Werte von deutlich unter M. M. 30 erreichen. Diese liegen in den Takten 4, 8, 16, 20 und 24 jeweils in der Taktmitte und etablieren für beide Teile der Variation die ganz klare Gliederung von jeweils 4+4+8 Takten, die in evidentem Zusammenhang mit der periodischen Struktur des Stückes steht. Diese kann man sich am besten anhand des Themas vergegenwärtigen, bei dem jeder Teil aus zwei achttaktigen Phrasen mit zunehmender Beschleunigung des harmonischen Ablaufs besteht. Dabei wird die jeweils erste Phrase durch lediglich einen Harmoniewechsel in 4+4 Takte gegliedert. In der zweiten Phrase finden die Harmoniewechsel zunächst taktweise statt, was bei wörtlicher Wiederholung jedes Harmoniewechsels in einer Gliederung von 2+2 Takten resultiert. Es folgen zwei Takte äußerster harmonischer Beschleunigung (Harmoniewechsel auf jedem Schlag), die erst in der abschließenden Kadenz wieder zur Ruhe kommt. Dieses Grundmodell ist in Variation III stärker als in vielen anderen Variationen harmonisch angereichert, bleibt

37 Für die Datenerhebung wurde das am Centre for Digital Music der Queen Mary University London entwickelte Programm Sonic Visualiser verwendet (www.sonicvisualiser.org, 31.1.2019).

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aber als die wichtigste „Invariante“ 38 des gesamten Zyklus auch hier bindend und erkennbar. Friedheim vollzieht demnach die jeweils erste Phrase beider Teile (4+4) agogisch nach, während die kleinteilige Struktur der jeweils zweiten Phrase keine direkte Parallele in der Zeitgestaltung Friedheims findet. 39 Die agogische Gliederung steht aber – nicht überraschend – in evidentem Zusammenhang mit der periodischen Struktur des Stückes. Ungewöhnlich daran ist allenfalls das Ausmaß der Tempomodifikationen und vor allem die Konsequenz, mit der Friedheim eine Hierarchie der Gliederungsebenen realisiert: Die Zäsur zwischen den beiden Hauptteilen fällt stärker aus als jene zwischen den beiden Phrasen jedes Teils, welche wiederum deutlicher ist als zwischen den beiden Hälften der jeweils ersten Phrase beider Teile. Von der einfachen Grundstruktur einer phrasierenden Sinngliederung ausgehend ist die Zeitgestaltung im Detail äußerst komplex (Abb. 1). Schon der Beginn von Variation III erweist sich bei näherer Betrachtung als ein Kleinod expressiver Pianistik. Allein in den ersten beiden Takten wird ein Spektrum zwischen M. M. 29 und 60 durchlaufen,40 wobei die empirisch fassbaren Extremwerte nur in einem technischen Sinn als lokale Temposchwankungen anzusprechen sind. Bereits der erste Schlag des ersten Takts wird durch mehrere Finessen der Zeitgestaltung gegenüber der vorherigen Achtelauftaktfigur akzentuiert und gleichsam als Ereignis in Szene gesetzt. Diese Eins erhält eine Markierung zunächst dadurch, dass die synchron notierten Noten C im Bass und g1 im Diskant merklich asynchron41 – konkret im Abstand von zwei Zehntelsekunden – angeschlagen werden. Dass eine so massive Unregelmäßigkeit noch während der einleitenden Geste musikalisch funktioniert, ohne das metrische Gefüge nachhaltig zu stören, dürfte unter anderem darin begründet sein, dass die drei Auftaktachtel (nach menschlichem Maß) ganz strikt ‚im Tempo‘ genommen werden, sodass sich überhaupt erst einmal ein metrisches Empfinden ausbilden kann, innerhalb dessen unser Ohr die separierten Töne kategorial als ein Ereignis ‚zusammenhören‘, gleichsam nachsynchronisieren kann. Damit setzt der Pianist eine Schwerpunktmarkierung der Eins unabhängig von einer eventuellen dynamischen Akzentsetzung, über die aus den genannten 38 Arnold Münster, Studien zu Beethovens Diabelli Variationen, München 1982 (= Schriften zur Beet­ hovenforschung 8), 39. 39 Eine Ausnahme hierzu, der ich aber keine sonderliche strukturelle Bedeutung beimesse, bildet eine Zäsur in Takt 26, die die beiden Zweitaktgruppen der zweiten Phrase im zweiten Teil voneinander trennt. 40 Diese Werte basieren auf einer ungemittelten Messung von Achtelwerten; bei einer Glättung der Messergebnisse über je drei benachbarte Einzelwerte, die m. E. helfen kann, den Einfluss eventueller Messungenauigkeiten abzuschätzen, reicht das Spektrum von M. M. 33 bis 58. 41 Bezogen auf den aufgrund der Auftaktachtel zu erwartenden ‚korrekten‘ Moment für die Eins des ersten Taktes kommt der Bass um etwa eine Zehntelsekunde zu früh und der Diskant um etwa dieselbe Zeitspanne zu spät. Die Mitte zwischen diesen beiden Manifestationen des Schlages Eins weicht vom theoretisch erwarteten Ort nur minimal ab.

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Abbildung 1: Beethoven, Diabelli-Variationen, Var. III, T. 1–4; Tempoverlaufsdiagramm von Arthur Friedheims Klavierrollenaufnahme.

Gründen hier keine Aussage getroffen werden kann. Tatsächlich ist in der vorliegenden Überspielung ein Akzent auf die Takt-Eins weder zu hören noch zu messen, vielmehr zeigt das Dynamikspektrum eine leichte Zunahme über die Achtelfigur, während der (verfrühte) Basston geringfügig leiser und der verspätete Diskantton etwa in der Lautstärke der Auftaktachtel (und keinesfalls darüber) erscheint. Durch die asynchrone Platzierung der beiden Töne bekommt der Anschlag der Zählzeit mehr Zeit, Gewicht und Signifikanz eingeräumt, ohne dynamisch hervorgehoben zu sein.42 Darüber hinaus wendet Friedheim die heute besonders im Cembalospiel gebräuchliche Technik der agogischen Schwerpunktsetzung durch Ausdehnung der takthierarchisch schweren Zeit an. Die Eins wird merklich länger gehalten als sie bei gleichmäßiger Aufteilung der Schläge sein würde. Hatten die ersten vier Schläge ein stabiles Anfangstempo von 41 Schlägen pro Minute etabliert,43 so bringt die Dehnung der Takt-Eins eine Absenkung auf 29 Schläge, der aber unmittelbar ein kompensierendes Accelerando folgt, mit dem das Tempo noch innerhalb des ersten Taktes auf die lokale Tempospitze von 58 Schlägen getrieben 42 Gerard Carter und Martin Adler diskutieren verwandte Spieltechniken unter den Begriffen „melody-delaying“, „melody-anticipation“ und „arpeggiata“, die sie als Rubatoelemente der Liszt-Tradition zuweisen: „their use results in the Liszt rubato – ‚the momentary halting of the time by a slight pause here or there on some significant note‘ as described by Liszt pupil Carl Lachmund (1853–1928).“ (Carter / Adler, Friedheim’s Recently Discovered Roll Recording, 25 [Hervorhebung vom Autor].) 43 Nimmt man die Achtelnoten als kleinste Einheit der Messung, und akzeptiert man als ‚eigentlichen‘ Ort für den Schlag Eins die Mitte zwischen (verfrühtem) Basston und (verspätetem) Diskantton, so ergibt sich über die ersten vier Achtelanschläge die gemessene Reihe von 42–41–40.

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wird. Diese Spitze findet sich im Bereich des ersten Schlages des zweiten Taktes. War demnach die Schwere des ersten Taktes als Länge von Schlag Eins zelebriert worden, so spiegelt sich nach der gleichen Logik die Leichtigkeit des zweiten Taktes in der Kürze von dessen Eins. Analog dazu − wenn auch im Umfang viel bescheidener − findet sich im dritten Takt wieder eine leichte Dehnung mit anschließender Kompensation. Der erste Viertakter bildet demnach einen Tempobogen aus, der von agogischen Auslenkungen überlagert wird. Zudem ist dieser Bogen im vorliegenden Fall auf markante Weise nicht symmetrisch. Vielmehr wird – nach vorbereitender Aufstauung − der Tempohöhepunkt in einem kraftvollen Bewegungsimpuls schnell erreicht und danach die Energie langsam abgebaut. Das Bild einer Schleuderbewegung mag sinnfällig machen, dass im vorliegenden Fall die lokale Tempospitze nicht mit energetischer Verdichtung konvergiert, sondern mit der Empfindung des befreiten Ausf ließens einer zuvor induzierten Ladung einhergeht. Die Brüche innerhalb dieses Energiezyklus sind als Markierungen der Schwerpunkte innerhalb der periodischen Struktur aufzufassen. Dass die beschleunigende und retardierende Bewegung überdies auf je eines der beiden in dieser Variation vorkommenden dominierenden motivischen Elemente fallen (in den Abbildungen 1, 2 und 4 schwarz bzw. grau umrahmt), mag momentan noch als Zufall erscheinen, wird im weiteren Verlauf aber noch plausibler werden. Die zweite viertaktige Phrase folgt einem ähnlichen Muster (Abb. 2). Freilich ‚fehlt‘ hier die extreme Schwerpunktmarkierung, die den ersten Takt gekennzeichnet hatte, sodass nun bereits in der Hinführung der drei Achtel Auftakt zum ersten Taktschwerpunkt des zweiten Viertakters das lokale Tempomaximum erreicht und von da an (mit Brüchen) abgebaut wird. Im Auslauf des ersten Phrasierungsbogens erfolgt eine abrundende Dehnung, die aber sofort abgefangen und in den Vorwärtsdrang der imitierenden Auftaktachtel der Oberstimme umgeleitet wird. Für den lokalen mikrostrukturellen Zusammenhang lässt sich also feststellen, dass Friedheim in beiden Viertaktern die Imitation des Sechstonmotivs durch zweimaliges Zusammenraffen der Achtelbewegung phrasierend verdeutlicht. Was mechanisch-technisch als Tempospitze (hier M. M. fast 60) erscheint, ist konzeptionell eben kein eigentliches Element des Tempos sondern der Phrasierung,44 das sich im technischen Nachvollzug des zeitlichen Ablaufs als Kurvenausschlag abbildet. 44 Konrad Wolff, ein Schüler Artur Schnabels, beschreibt anhand einer Passage des Finalsatzes aus dem Ersten Klavierkonzert von Johannes Brahms eine vergleichbare „Methode“, die Schnabel gern angewendet habe, „wenn dadurch die Struktur verdeutlicht wurde“: „Der Charakter dieser Passage [Brahms, Erstes Klavierkonzert, dritter Satz, ab Takt 226] wird spielerischer, wenn der Pianist, wie Schnabel es tat, jede Gruppe ein klein wenig zu rasch spielt – allerdings ohne Anfangsakzente und dann eine ‚Luftpause‘ vor der nächsten Gruppe.“ (Konrad Wolff, Interpretation auf dem Klavier. Unterricht bei Artur Schabel. [Mit einer] Einführung von Alfred Brendel, München 21987, 82.)

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Abbildung 2: Beethoven, Diabelli-Variationen, Var. III, T. 5–8; Tempoverlaufsdiagramm von Arthur Friedheims Klavierrollenaufnahme.

Der anschließende Auftakt zu Takt 7 kommt gegenüber dem Vorangehenden deutlich ‚zu spät‘ und initiiert damit die Neusetzung eines mittleren Tempo­ bereichs (knapp über M. M. 40, also wie der Beginn), der bis zum Ende der Phrase nicht mehr überschritten wird. Die zwei letzten Takte dieser Phrase artikulieren in absteigender Folge zweimal eine auftaktige Dreitongruppe ( g 2 –g 2 –f 2 und im Taktabstand e 2 –e 2 –d 2), die von Arnold Münster als „Motivvariante 3‘“ als ein essenzieller Baustein für die Konstruktion des gesamten Variationszyklus identifiziert wurde. Dazu ist hier einzufügen, dass Münster in Diabellis Walzer lediglich drei an Materialknappheit kaum zu überbietende Motive nennt, die seiner Darstellung zufolge „notwendig, aber auch hinreichend sind, um die motivische Struktur aller Variationen zu erklären.“45 Neben diversen Motivvarianten führt Münster als Ableitung von Motiv 3 (auftaktige Dreitonfolge, im Walzer ertmals als e 1–f1–a1 in Takt 8/9) einen kleinen Sekundschritt an, „der im zweiten Teil [des Walzers] den Baß zu Motiv 3 bildet“ und in den Variationen „häufig selbständig behandelt [wird] in dem Sinne, daß er Motiv 3 vertritt“ und den er daher als „Motiv 3‘“ bezeichnet.46 Für Variation III ist es nun aufschlussreich zu sehen, dass das gesamte Stück ausschließlich aus Varianten der Motive 3 und 3‘ konst45 Münster, Studien zu Beethovens Diabelli Variationen, 46. 46 „Das Thema enthält drei Motive in dem oben definierten Sinne, und zwar […] das Wechselnotenmotiv des ersten Auftakts (Motiv 1) [erstmals Beginn bis T. 1.1] die fallende Quart mit den folgenden repetierten Noten (Motiv 2) [erstmals T. 1.1 bis 4.2] das Motiv der aufsteigenden Sequenzen in T. 9–12 und 25–28 (Motiv 3) [erstmals T. 8.3 bis 9.2]. Der kleine Sekundschritt, der im zweiten Teil den Baß zu Motiv 3 bildet [erstmals T. 24.3 bis 25.2], leitet sich, wie erwähnt, aus diesem ab. Er wird aber in den Variationen häufig selbständig behandelt in dem Sinne, daß er Motiv 3 vertritt. Wir bezeichnen ihn daher als Motiv 3‘.“ (Ebd., 35).

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ruiert ist, wobei jeweils der Beginn der ersten und zweiten viertaktigen Phrase aus Motiv 3 (genauer: der Spiegelung zweier Teilinversionen desselben) und der Abschluss aus einer Variante von Motiv 3‘ – der schon erwähnten Dreitonfolge – gebildet ist.47 Besonders bedeutsam ist nun, dass der Abschluss von Motivbereich 3 mit dem Beginn von Motivbereich 3‘ zusammenfällt, wodurch hier also eine „Überlappung“48 vorliegt. Die Brüche im metrischen Verlauf bei Schlag Drei des fünften und sechsten Taktes – der Auslöser für meine Abschweifung ins Satzanalytische – fallen nun exakt auf die beschriebene Überlappung der beiden Motivsphären. Das ‚Zuspät‘-Einsetzen des dritten Schlages muss als subtiles Gliederungsmittel eine abphrasierende Kürzung des vorangehenden a 2 ersetzen, das sich aufgrund des Phrasierungsbogens – der den Motivbereich 3 zusammenfasst – verbietet. Im Gedankenexperiment ist von hier aus auch zu erkennen, wieso die im zweiten Viertakter vergleichsweise deutlich artikulierte Zweiteilung im ersten Viertakter so nicht anzuwenden war: Durch die Imitation im Motivbereich 3 ist dieser im zweiten Viertakter doppelt so lang wie im ersten und die Beantwortung durch den Motivbereich 3‘ entsprechend verkürzt. Im ersten Viertakter besteht der Motivbereich 3 aus lediglich eineinhalb Takten und der Pianist bringt wie schon beschrieben das Kunststück fertig, in den 2,2 Sekunden ausgehend von seinem Anfangstempo um M. M. 40 nahezu die Tempoextreme seiner Interpretation nach beiden Richtungen auszuloten. Für die gesamte erste Phrase lässt sich die Beobachtung formulieren, dass der Motivbereich 3 spannungsgenerierend, der Motivbereich 3‘ dagegen spannungsabbauend gestaltet wird. In der Gegenüberstellung der beiden ersten Viertakter lässt sich nun auch mit Bestimmtheit sagen, dass das von Hermann Gottschewski49 formulierte Prinzip des Tempobogens als Resultat der Gestaltung innerer Zusammenhänge der Komposition entsteht und von Friedheim hier keinesfalls mechanisch in Anwendung gebracht wurde. In der zweiten achttaktigen Phrase des ersten Teils fehlt der Beschleunigungsimpuls, der in der ersten Phrase offenbar von den Auftaktachteln ausgeht (Abb. 3). Zunächst artikuliert Friedheim zwei gleiche Ein-Takt-Gruppen, indem er die Auftakte (zu Takt 9 und 10) früh und lang nimmt und diese Verzögerungen anschließend durch Verkürzung der Schläge Eins und Zwei kompensiert. Die langen Auftakte behält er danach bei, nimmt aber in Takt 11 nur mehr eine minimale Kompensation vor und führt die Auftaktdehnung in der Folge analog zu den zunehmend dominanter werdenden Überbindungen als Stauung der Zeit weiter. 47 Ebd., 75. 48 Ebd. 49 Vgl. Hermann Gottschewski, Die Interpretation als Kunstwerk. Musikalische Zeitgestaltung und ihre Analyse am Beispiel von Welte-Mignon-Klavieraufnahmen aus dem Jahre 1905, Laaber 1996 (= Freiburger Beiträge zur Musikwissenschaft 5), 182–185.

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Stauung

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Abbildung 3: Beethoven, Diabelli-Variationen, Var. III, T. 9–16; Tempoverlaufsdiagramm von Arthur Friedheims Klavierrollenaufnahme.

Ich spreche hier bewusst nicht von Ritardando, um die Assoziation nachlassender Energie zu vermeiden. Tatsächlich wird nämlich hier das Muster der viertaktigen Phrase aufgebrochen, das G-Dur über einen latenten Dominantseptakkord (T. 12.3) in einen verminderten Septakkord (T. 13.1) umgeleitet, der sich erst auf Schlag Zwei des fünften Phrasentaktes (T. 13.2) auf löst. Man sieht nun, dass Beethoven den Punkt der größten harmonischen und rhythmischen Verunsicherung im verminderten Septakkord auch zum Ziel eines dynamischen Steigerungsverlaufs gemacht hat, den Friedheim offenbar durch fortgesetzte Stauung des Tempos umsetzt. Diese Stauung entspricht dem Crescendo (das wir nicht hören können) und die anschließende Binnenspitze im Tempoverlauf erweist sich – parallel zur Decrescendogabel – als Moment des Druckabbaus innerhalb des weitgefassten Spannungsbogens. Nach anschließender Zäsur bringt ein kleiner fallender Tempobogen den ersten Teil zum Abschluss. Die oben gemachten Beobachtungen zur Gestaltung der beiden Motivbereiche lassen sich an der ersten Viertaktgruppe des zweiten Teils überprüfen, wo nochmals beide Motive zusammentreffen (Abb. 4). Motiv 3 ist nun in dreimaliger Imitation bestimmend für die ganze Phrase. Die zu erwartende Beschleunigung wird auf eine weitere Distanz gestreckt, indem sie im Wesentlichen auf den ersten und dritten Takt beschränkt bleibt, während der zweite Takt metrisch entspannt abläuft. Auch hier ist also eine takthierarchische Schichtung zu erkennen. Die Dehnung von Schlag Drei im dritten Takt leitet das Ritardando ein, mit dem der Pianist am Ende der Phrase – eben dort, wo das Motiv 3‘ als kurzes Anhängsel im Diskant erscheint – sein Tempo wieder abbauen muss. Somit bestätigt sich auch in diesen Takten der demnach 665

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Abbildung 4: Beethoven, Diabelli-Variationen, Var. III, T. 17–20; Tempoverlaufsdiagramm von Arthur Friedheims Klavierrollenaufnahme

anscheinend wirklich intendierte Zusammenhang von Motivbereich und Bewegungsduktus. Die zweite Viertaktgruppe des zweiten Teils bildet die siebenfache Wiederholung des Achtel-Auftaktmotivs im Bass unter einem liegenden Akkord (Abb. 5). So radikal diese vier Takte das Motiv der Tonrepetition aus Diabellis Walzer aufnehmen und ins Prinzip des bewegten Stillstands übersetzen, so radikal stellt es Friedheim durch einen völlig eigenen Tempobereich heraus. Dabei spielt aber Friedheim mit der Doppelsinnigkeit der Passage, die einerseits aus wörtlicher Wiederholung der auftaktigen Dreitonfigur gebildet ist, taktintern aber in eine 3x2-Gruppierung aufgelöst sein müsste (Abb. 5a); eine solche Brechung der wiederholten Dreitonfolge ist dem Tondkument nicht zu entnehmen, kann aber unter Umständen vom Expertenhörer – die Diabelli-Variationen sind Musik für Musiker*innen – ‚hineingehört‘ werden. In dieser Gruppierung läge in den betreffenden vier Takten das rahmensprengende mittlere Tempo von M. M. 66 vor. Ausgehend von der motivischen Gestalt des Auftaktes (und begünstigt durch das viel ‚zu hohe‘ Tempo) könnte ein unbefangener Hörer die Passage aber auch triolisch auffassen (Abb. 5b). Der Gedanke erscheint zunächst aus verschiedenen Gründen abwegig;50 doch nimmt man probeweise eine dreitönige Gruppierung 50 Bei einfacher Forstschreibung der auftaktigen Achteln in Dreiergruppierung würde der musikalische Verlauf durch die Verwandlung der Passage in einen Zweivierteltakt gestört. Durch die Triolierung bleibt der Dreivierteltakt erhalten, was jedoch im Verlust eines Taktes resultiert – wir hätten uns damit aber eines Variationsmittels bedient, das Beethoven selbst in diesem Zyklus gelegentlich anwendet.

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Abbildung 5: Beethoven, Diabelli-Variationen, Var. III, T. 21–24; Tempoverlaufsdiagramm von Arthur Friedheims Klavierrollenaufnahme.

zur Grundlage für die Impulsbestimmung, so ergibt sich tatsächlich statt unbegreif licher M. M. 66 ein mittlerer Tempobereich bei ca. M. M. 44. So konstruiert diese Erklärung der Passage scheinen mag, gibt es doch Indizien, dass sich hier das Interpretationsprinzip manifestiert, über einen virtuell beständigen Puls jenen metrischen Zusammenhang zu stiften, der dem exzessiven Rubatogebrauch erst die Grundlage bietet. So ist die oben beschriebene Gestaltung des Crescendo-Abschnitts (T. 9–13) als ein planvolles Pendeln um genau diesen Tempobereich zu verstehen. Gleichermaßen scheint die ausladende Eröffnungsgeste, wie beschrieben, nur dadurch möglich, dass im Auftakt ein Tempo fixiert wird, das kaum zufällig dem virtuellen Puls der zuletzt beschriebenen Stellen sehr nahekommt. Und schließlich sei nochmals daran erinnert, dass die Umrechnung der Dauer dieser Variation einen Tempodurchschnitt von M. M. 43 ergibt. Die starken Phrasierungsrubati verschleiern diesen Zusammenhang; insbesondere in der Weiterführung nach der triolisch aufgefassten Passage lässt sich aber bei entsprechender Sensibilisierung der ‚im Prinzip‘ durchgehende Puls auch hörend nachvollziehen. Das für die Takte 25/26 weitgehend stabile Grundtempo bildet den Ausgangspunkt für ein Accelerando, das den größten Teil der letzten Periode überspannt und weitgehend mit der Crescendo-Vorschrift korrespondiert. 51 Im groben Ge51 Allerdings ist dieser Verlauf durch zwei auffallende Brüche belebt, die auf mich – jedenfalls in

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samtablauf bildet die letzte Phrase eine Art gespiegeltes Pendant zur analogen Passage im ersten Teil. Dort war eine wirkungsvolle Steigerung im zunehmenden Spannungsauf bau durch Dehnung erfolgt, quasi ein Zurückhalten des Ablaufs, das parallel zur Decrescendo-Anweisung seine Lösung durch ‚Laufenlassen‘ (technisch: einen Tempoanstieg) erfuhr. Nun, am Ende der Variation, geschieht das Gegenteil: Das Crescendo/Accelerando ist eine konventionelle Darstellungsform, die in Bezug auf den zu erwartenden Tempobogen in gewisser Weise redundant (also wenig ‚wirkungsvoll‘) ist und damit der Funktion einer abschließenden Periode gut entspricht. Die enge Bindung der Zeitgestaltung an die Partitur zeigt sich ein letztes Mal unzweifelhaft in der massiven Temporücknahme exakt im Bereich der Decrescendo-Anweisung.

Fazit Pianistische Zeitgestaltung erweist sich als hochgradig ausdifferenzierter Komplex gestalterischer Maßnahmen, die nur zum Teil sinnvoll in der Kategorie „Tempo“ zu beschreiben sind. Im vorliegenden Fall scheint es denkbar, dass der Konzeption tatsächlich ein bestimmter Puls (hier punktierte Halbe = ca. M. M. 43) zugrunde liegt, der zwar kaum je manifest wird, aber als eine Art Spannungsnulllinie eine ständige Referenz bildet. 52 Dieses Grundtempo erscheint an neuralgischen Punkten: zu Beginn (Auftakt zu Takt 1), jeweils zu Beginn der Crescendo-Vorschrift im ersten und zweiten Teil, als Puls bei triolischer Auffassung der Bassfigur in den Takten 21–24, und es entspricht dem rechnerischen Mittelwert, errechnet auf Basis der Gesamtdauer der Variation. Die fast permanenten Abweichungen von diesem Puls dienen gliedernder Phrasierung, takthierarchischer Akzentuierung oder dem Spannungsauf bau, der sowohl beschleunigend als auch verlangsamend geschehend kann, wobei die Spannungslösung mit einer Rückbewegung (auf oder ab) zum Ausgangstempo verbunden ist. In der Überlagerung dieser vielfältigen der vorliegenden dynamisch farblosen Überspielung – musikalisch seltsam unrund wirken, und deren gestalterischer Sinn sich mir nicht restlos überzeugend erschließt. Schlüssig scheint, dass eine Art Luftpause in Takt 26 einen Gliederungseinschnitt bildet, der – weil das übergreifende Accelerando dadurch nicht gestört werden darf – durch den hastigen Fortgang der nächsten Phrase (Raffung der Schläge 3–1) kompensiert wird. Gleichermaßen auffällig gerafft sind die Schläge 1–2 in Takt 29. Auch sie müssen offenbar am Höhepunkt des Accelerandos eine Verzögerung kompensieren, die in der gesamten Passage durch konventionelle Dehnung der Auftakte verursacht wird. Gut möglich, dass hier im subtilen Zusammenspiel von Rhythmik und Dynamik eine Spielkonvention ausgeprägt ist, an deren überzeugender Reproduktion die Player-Piano-Technik scheitert. 52 Anders scheint es auch kaum erklärlich, dass in den instruktiven Ausgaben des 19. Jahrhunderts – naheliegendes Beispiel die Diabelli-Variationen in der Ausgabe Hans von Bülows, dessen Klavierspiel wohl als ähnlich dem Friedheims angenommen werden muss – globale Metronomvorschriften für musikalische Abschnitte gegeben werden, deren Zeitgestaltung in der Praxis zweifellos differenzierter gehandhabt wurde.

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Elemente entsteht eine Art Interferenzmuster, dessen Beschreibung als „Tempoverlaufskurve“ einer terminologisch differenzierenden Interpretation bedarf, wie sie hier versucht wurde.

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Arthur Friedheims Einspielung von Ludwig van Beethovens Diabelli-Variationen

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Wolfgang Hattinger

The Music in the Body – the Body in Music Vom Körperausdruck des Dirigenten Wolfgang Hattinger Vom Dirigenten wird gesagt, dass er eigentlich stumm sei, selbst keinen Klang produziere und deshalb eines Instruments bedürfe – eben des Orchesters –, das die musikalischen Vorstellungen des Dirigenten hörbar mache. Diese oft gehörte klischeehafte Behauptung ist jedoch bestenfalls halb wahr. Tatsächlich realisiert kein Orchester bloß die Klangvorstellungen eines Dirigenten, sondern immer auch seine eigenen. Denn: Kreative Menschen unterwerfen sich nicht freiwillig zur Gänze dem Willen eines anderen, sondern wollen mit ihren eigenen Fähigkeiten wahrgenommen werden und ebenfalls gestalten. Das Orchester ist demnach eher ein Mitarbeiter an einer gemeinsamen Idee als ein instrumentalisiertes Ausführungsorgan. Um allerdings an dieser gemeinsamen Idee mitgestalten zu können, erwartet sich das Orchester eine klare verbale und nonverbale Vermittlung dieser Idee. Und hier kommt das eigentliche Instrument des Dirigenten ins Spiel: sein Körper. Mit diesem kommuniziert er, dieser wird zum Mittler zwischen seinen Vorstellungen und dem Orchester und – nicht zuletzt – dem Publikum. Auch das Publikum ‚liest‘ den dirigierenden Körper und ‚hört‘ seine Bewegungen, indem es die optischen Aus- und Andeutungen der gerade entstehenden Musik (intuitiv) miterlebt. Wie aber liest man einen dirigierenden Körper? Wodurch wird, trotz stark voneinander abweichender individueller Gestik verschiedener Dirigenten, das Entstehen einer Art gemeinsamen Fühlens und Verstehens von derart vielen Beteiligten – Musikern und Publikum – begünstigt? Die folgende Skizzierung zweier konträrer Zugänge zum Dirigieren versucht darauf Antworten zu geben. Zu zeigen, dass die vordergründig sichtbare Gebärde noch nicht das entscheidende Element ist, wodurch ein Körper für einen anderen Körper sprechend wird, ist ein zentrales Anliegen dieses Aufsatzes.

Historisches In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kristallisiert sich allmählich und von viel kontroverser Diskussion begleitet die Figur des Dirigenten als Leiter eines Orchesters heraus. Der Weg dahin verlief alles andere als geradlinig. Verschiedenste Varianten der Leitung wurden erfunden, von anderen Versionen wiederum abgelöst, oder auch gleichzeitig nebeneinander eingesetzt. So etwa die Direktion vom Konzertmeisterpult aus; die Doppeldirektion für Orchester und Bühne; der Kom671

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ponist am Klavier sitzend, der nur dann mitspielt, wenn es droht, auseinander zu gehen; der Dirigent entweder mit feinem Stäbchen oder schwerem Holzknüppel oder auch ganz ohne Taktstock; das laute Taktieren mit dem Fuß bzw. einer Papierrolle; das dirigentenlose Spiel; das Dirigat mit Hinwendung zum Orchester oder umgekehrt mit Blick zum Publikum. All diese heute teilweise kurios anmutenden Versuche führten letztlich doch zur allgemeinen Akzeptanz des Einzelnen mit Taktstock vor dem Orchester. Seine ursprüngliche Existenzberechtigung lag in der Koordination durch klares Taktschlagen. Doch kaum stand die Orchesterdirektion weitgehend außer Frage, betrat in den 1840er Jahren mit Franz Liszt ein Dirigent die Bühne, der mit der bisherigen Erwartung an taktschlagende Musikerorganisation radikal brach. Sein pantomimisches Nachzeichnen der musikalischen Phrasen und Bewegungen bedurfte einer derart unkonventionellen Körpersprache, dass ihm heftigste Kritik entgegenschlug. Etwa 40 Jahre später repräsentierte Arturo Toscanini (1867–1957) die Liszt diametral entgegengesetzte Auffassung von der Funktion eines Dirigenten. In einer Art historischem Rückgriff erhob Toscanini eine bis dahin nicht gekannte Perfektion schlagtechnischer Organisation zum Ideal. Diese widersprüchlichen Standpunkte drückten sich in ebensolch grundverschiedenen Körpersprachen aus, deren Musterhaftes bis heute nachwirkt. Dass die abweichenden Gebärden dabei nicht einfach unterschiedlichen Begabungen oder Temperamenten geschuldet, sondern Konsequenz einer andersartigen ‚Musikalisierung‘ des Körpers durch abweichende Denkweisen über Partitur und Klang sind, zeigt sich durch nähere Betrachtung der Zugänge von Liszt und Toscanini. Liszts Dirigierstil spaltete die Zuhörer- und Zuschauerschaft seiner Zeit. Einerseits warf man ihm vor, er wäre überhaupt nicht in der Lage, ein Orchester taktierend zusammenzuhalten, andererseits konzedierte man seinem Dirigieren, den Geist der Musik nicht nur zu verkörpern, sondern unmittelbar zu vermitteln, diesen also gleichsam auf den Zuhörer zu übertragen. Was Liszts Dirigierstil so umstritten machte, war seine Weigerung, die Musik mit Taktschlägen zu ordnen. Im Vorwort der Partitur seiner Symphonischen Dichtung Nr. 1 (Ce qu’on entend sur la montagne [„Bergsinfonie“], 1857) gibt Liszt einige Anhaltspunkte für sein Verständnis adäquater Gestaltung: Gleichzeitig sei mir gestattet zu bemerken, dass ich das mechanische, taktmäßige, zerschnittene Auf- und Abspielen, wie es an manchen Orten noch üblich ist, möglichst beseitigt wünsche, und nur den periodischen Vortrag, mit dem Hervortreten der besonderen Accente und der Abrundung der melodischen und rhythmischen Nuancierung, als sachgemäß anerkennen kann.1 1

Franz Liszt, „Vorwort“, in: Symphonische Dichtung Nr. 1 (Ce qu’on entend sur la montagne), Leipzig [1857] (Hervorhebung im Original).

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Abbildung 1: Franz Liszt als Dirigent © akg-images. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

Liszt verlangt hier ein Dirigieren, das den Fluss der Musik mitvollzieht anstatt den sichtbaren Taktordnungen verhaftet zu bleiben. Er verschiebt den Fokus vom Optischen der Takte hin zum antizipierten akustischen Ergebnis. Nicht, was vom Musiker getan werden muss, habe der Dirigent zu zeigen, sondern, wie es klingen soll. Die körpersprachlichen Ergebnisse dieser Überzeugung schildert ein Augenzeuge: Weit entfernt vom gleichmäßigen Schwingen seines Tactstocks, deutet er in Geberden und Gesten auf einzige Art den Geist des Tonwerkes an. […] bei Motiven von sangbarem Charakter schwebt die feine weiße Hand in langen und langsamen Linien durch die Luft, saust aber plötzlich, zur Faust geballt, nieder, wenn ein einschneidender Accord einfällt. […] Geht es zum Schlusse in sich steigernden, breiten Accorden, so erhebt er beide Arme und breitet die Hände weit aus; tritt ein Piano ein, so scheint die ganze Gestalt zusammenzusinken, während sie umgekehrt riesig wächst, wenn ein Crescendo eintreten soll; Liszt erhebt sich dann oft auf die Zehen so hoch er kann und reckt die Arme über den Kopf. 2

Die folgende Karikatur zeigt zwar Liszt als Pianisten, die dargestellte Drastik der Bewegungen lässt sich aber wohl auch auf seinen Dirigierstil übertragen. Im2

Zit. nach Hermann Uhde, Weimars künstlerische Glanztage. 26.–29. Mai und 19.–29. Juni 1870, Ein Erinnerungsblatt, Leipzig 1870, 18–19.

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Abbildung 2: Janos Janko, Verschiedene Haltungen Liszts, des Königs des Klaviers […], in: Borsszem Janko, 6. April 1873. © akg-images. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

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merhin handelt es sich um dieselbe Person mit demselben Verständnis, Musik zu ‚verkörpern‘. Liszts Biografin Lina Ramann schreibt, dass Liszt dem Orchester „mehr zu folgen als zu befehlen schien.“ 3 Dass ein solches Dirigieren, das aufs Ordnen weitgehend verzichtet, seinen Preis hatte, ist etwa dokumentiert durch Kritiken des Karlsruher Musikfestes 1858, wo Liszt im vierten Satz von Beethovens Neunter Symphonie abbrechen und neu beginnen musste, weil das Orchester völlig auseinander geraten war.4 Das Gegenteil zu Liszts Aufgabe von Kontrolle zugunsten eines Ausdrucksdirigierens repräsentiert Arturo Toscanini. „Come scritto“ – ‚wie es geschrieben steht‘ – war seine Maxime, die er immer wieder auch brüllend vom Orchester einforderte. Um die herrschenden Unzulänglichkeiten und Schlampereien der italienischen Orchester seiner Zeit in den Griff zu bekommen, etablierte er ein diszipliniertes und disziplinierendes Musizieren, in dem akkurat durchgehaltene Tempi, präzisestes Zusammenspiel, durchorganisierte Abläufe und eben notengetreues Spielen die Ästhetik bestimmten. 5 Kurioserweise war auch Toscanini mit seinem konträren Ansatz zu jenem Liszts herber Kritik ausgesetzt. Seine Forderungen wurden als Bruch mit einer etablierten Spielweise empfunden. Italienische Orchester spielten zwar schlampig, aber frei. Giulio Ricordi, der Verleger unter anderem Giuseppe Verdis und Zeitungskritiker, verlieh seiner Irritation in der Besprechung einer von Toscanini dirigierten Falstaff-Aufführung folgendermaßen Ausdruck: Der Eindruck, den wir davongetragen haben ist genau der einer (das Wort sei erlaubt) metallischen Wiedergabe: so, als seien die Partiturseiten Stahlfolien und der Dirigentenstab eine scharf geschliffene Klinge, die Verdis Partitur in feine, gleichmäßige, perfekte und glatte Scheiben schneidet. Es war, alles in allem, das erbarmungslose Perpendikel der spanischen Inquisition […], das die Musik des Falstaff den ganzen Abend lang auf Eisenplatten gepresst hat. (…) Das Orchester, sehr exakt, verfügte nicht über jene delikaten Einfärbungen, jene Sanftheit des Klangs, jene Elastizität der Zeitmaße, welche allesamt zu den essenziellen Qualitäten italienischer Orchester zu rechnen sind.6 3 4 5

6

Lina Ramann, Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Bd. 2/2, Leipzig 1894, 93. [Anonymus], „Das grosse Musikfest in Carlsruhe am 3. und 5. Oktober“, in: Süddeutsche MusikZeitung 2/43 (1853), 170–171. Dass Toscanini, der sich als Wächter der unantastbaren Notenschrift stilisierte, selbst immer wieder exzessiv in den Notentext eingriff, habe ich ausführlich dargestellt. Für die exemplarische Darstellung seines kontrollierenden Dirigierstils sind seine wiederholten Partiturretuschen jedoch ohne Belang (vgl. Wolfgang Hattinger, Der Dirigent. Mythos, Macht, Merkwürdigkeiten, Kassel 2013, 204–206). Giulio Ricordi, in: Gazetta musicale di Milano, 16. März 1899, zit. nach Martin Fischer-Dieskau, Dirigieren im 19. Jahrhundert. Der italienische Sonderweg, Mainz 2016, 359.

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Toscanini blieb von solcher Kritik unbeeindruckt, setzte seine Ästhetik martialisch durch und wurde zum berühmtesten Dirigenten seiner Zeit. Das bis dahin nicht gekannte Niveau von Präzision im Orchesterspiel wurde zum Vorbild und Anspruch so mancher Dirigenten (Hans Knappertsbusch, Otto Klemperer, Joseph Keilberth, Erich Kleiber, Kirill Kondraschin, Clemens Krauss u. a.), inklusive der Methoden, diese Präzision zu erreichen. Dass sich Toscaninis angestrebtes Ideal in einer anderen Körpersprache manifestierte, liegt auf der Hand. Der Körper folgt der Intention, und diese lautete für Toscanini: kompromisslose Exaktheit. Orchestermusiker, die mit Toscanini zusammenarbeiteten, beschrieben sein Dirigat denn auch als äußerst präzise: From a purely technical viewpoint he had the clearest beat of any; but it wasn’t the beat of a specialist in virtuoso conducting; it was the beat of a musician who had a stick and could show whatever he wished with it. And he never did more than was needed.7

An einer Videoaufnahme von Toscaninis Dirigat der Ouvertüre zu Verdis La Forza del Destino von 1944 mit dem NBC Symphony Orchestra lassen sich einige körpersprachliche Resultate seiner Dirigierauffassung beobachten. 8 Nach den drei Solo-Einwürfen von Klarinette, Oboe und Flöte (2:50, Studierziffer F) dirigiert Toscanini das folgende Allegro brillante (3:16, G, 4/4-Takt) in Vier, statt der Musik entsprechend in Zwei. Angesichts des nach vorne strebenden Tempos und des sich einstellenden Alla-breve-Gefühls wirkt dies befremdlich und beengend. Besondere Beachtung verdient der Auftakt bei Studierziffer G (3:16), der von Toscanini in Zwei gegeben wird. Offenbar lässt ihn die antizipiert vorgestellte Musik schlüssigerweise in Zwei denken, was er jedoch sofort korrigiert und auf Verdis vorgeschriebene 4/4 („come scritto“) wechselt. Möglicherweise gibt Toscanini hier aber auch dem Bedürfnis nach Kontrolle (in Vier hat er das Orchester besser ‚in der Hand‘) nach. Dem f ließenden Vorwärtsdrängen der Musik, ihrer Phrasengestaltung, würde ein Dirigat in Zwei viel besser entsprechen. Das Orchester erhielte mehr ‚elastischen‘ Raum zur Gestaltung, die Optik der Bewegung würde die Musik freier atmend erscheinen lassen. Toscaninis Lösung vermittelt den Eindruck, als triebe er das Tempo an und stünde zur selben Zeit auf der Bremse. Diese Beobachtung behielte ihre Gültigkeit auch dann, wenn es sich hierbei um ein nachträgliches Playback-Dirigieren zu einer bereits existierenden Tonaufnahme handeln sollte. Toscanini dirigierte für die Filmaufnahme natürlich so, wie er auch live dirigierte. Die Entscheidung für die Schlagbilder bliebe dieselbe. 7 8

Bernard H. Haggin, The Toscanini Musicians Knew, New York 1980, zit. nach Elliott W. Galkin, A History of Orchestral Conducting in Theory and Practice, New York 21988, 655. https://www.youtube.com/watch?v=9JQvyg3kJ54, 2:50 (29.1.2019).

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Einzuräumen wäre höchstens, dass die vielen Stellen, wo er hinter der Musik herschlägt 9 – also mit dem Orchester mitdirigiert anstatt es zu führen –, der Playback-Situation geschuldet sein könnte. Wäre dem nicht so, und Toscanini schlüge permanent hinter der live gespielten Musik nach, wäre dies erst recht ein Argument für ein Dirigat in Zwei. Stellt man die beiden Dirigierstile gegenüber, so erscheint Liszts Dirigierstil als Geste, die begleitet, unterstützt und dezent lenkt. Ein solches Dirigieren entsteht durch Überantwortung des Körpers an die musikalische Vorstellung: Der Körper folgt einer inneren Repräsentanz – ich nenne solches Dirigieren ein mimetisches Dirigieren. Toscanini hingegen kontrolliert den Moment, indem er beständig die Zügel in der Hand hält und unentwegt ordnet: Der Körper macht vor, was die Musiker nachzumachen haben – ich nenne das ein organisierendes Dirigieren. Übertrüge man dies in Sprache, so ‚sagte‘ Liszt: „Nehmen Sie sich die Freiheit für Ihre Gestaltung, ich begleite Sie“, wohingegen Toscanini ‚fordert‘: „Bleiben Sie bei mir, ich führe Sie durchs Werk.“ In die Zukunft projiziert, ist mit dem mimetischen versus dem organisierenden Dirigieren der Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen sich Dirigieren bis heute bewegt. Bei den meisten heutigen Dirigenten und Dirigentinnen finden beide Varianten in unterschiedlichen Graden vermischt statt. Insbesondere suchte eine junge Dirigenten-Generation nach dem Zweiten Weltkrieg nach einer Verbindung von Präzision und romantischer Elastizität. Körpersprachlich erfordert die Vermischung beider Elemente eine verstärkt differenzierende Ausdrucksweise. Mimetisch und organisierend zugleich zu dirigieren erfordert ein umfangreiches und fein nuanciertes Repertoire an Bewegungen, um damit f lexibel auf die jeweiligen Notwendigkeiten von Werk, Orchester, Akustik und gerade entstehender Musik eingehen zu können. Eine Gegenüberstellung des Dirigats desselben Stücks von zwei Mitgliedern derselben Familie – Vater und Sohn – veranschaulicht beispielhaft zwei historische Stationen mit ihrer jeweiligen Ausrichtung auf die beiden beschriebenen Pole hin. Erich (1890–1956) und Carlos Kleiber (1930–2004) dirigieren An der schönen blauen Donau von Johann Strauss Sohn. Ähnlich wie Toscanini dirigiert Erich Kleiber10 mit wenig Körperdifferenzierung, meist reduziert auf die rechte Hand. Die Grundhaltung ist dominierendsteif. Ähnlich wie Toscanini entscheidet er sich fürs kleingliedrige Anzeigen und schlägt die drei Auftakt-Achtel des Themas in der Einleitung konsequent aus. Auch dort, wo die linke Hand ein Subito-Piano anzeigt (0:26) und wohl so etwas 9

Die Synchronisation von Bild und Ton ist durchaus gegeben, wie sich an anderen Stellen beobachten lässt. 10 Erich Kleiber, Berliner Philharmoniker, 1932, https://www.youtube.com/watch?v=sODAEBjpHbI (29.1.2019).

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wie ein spontan-lebendiges Musizieren suggerieren soll, bleibt der Eindruck der perfekt vorbereiteten und durchchoreographierten Musik, die in der Aufführung genauso abgespult wird, wie es in den Proben akribisch vorbereitet wurde. Man beachte den unterwürfig aufschauenden Kamerablick auf Kleiber, den Zepter-ähnlich langen und ‚stilgerecht‘ umfassten Dirigierstab sowie Kleibers gebieterischen Gesichtsausdruck (ab 2:58). All dies zeigt Körperposen, wie sie 1932 zeitgeistig dem Bild des kommandierend-organisierenden Dirigenten entsprachen. Die Einleitung zum Walzer Nr. 4 bei 4:48 demonstriert nochmals das immer wieder kontrollierende Eingreifen an heiklen Stellen. Auch hier wird dem Orchester keine Verantwortung überlassen, beständig hat lediglich einer das Sagen. Das musikalische Resultat ähnelt denn auch durchaus folgerichtig an vielen Stellen mehr einem Marsch als einem Walzer. Im Vergleich dazu das Dirigat derselben Stellen von Carlos Kleiber.11 Obwohl der Vater einen geradezu erdrückenden Einf luss auf Carlos Kleiber ausübte, spielte der Sohn sich vor dem Hintergrund seiner hochgradig sensitiven Überlassung an die Musik auch körpersprachlich gänzlich vom Vater frei. Nicht der leiseste Anklang einer Kopie des Vaters wird in Carlos Kleibers Körpersprache erkennbar. Im Gegensatz zum Vater überlässt er dem Orchester beinahe die Alleinverantwortung fürs Gelingen der Einleitung (ab 1:13:30). Da er kaum taktiert, sind die ersten Akkordeinwürfe denn auch alles andere als zusammen. Obwohl er natürlich zu präzisen Einsätzen fähig wäre, verzichtet er zugunsten einer den Energief luss gestaltenden Pantomime auf die ihm nachrangig scheinende Präzision. Die Musik erscheint in großer Freiheit im Moment zu entstehen, das Orchester ist feinnervigst in jedem Moment gestaltend aktiv. Wo der Vater jedes Detail dirigierte, dirigiert der Sohn kein einziges. Das Orchester hat längst die Verantwortung für seine Binnenkoordination übernommen, weshalb auch heiklere Übergänge problemlos funktionieren. Carlos Kleiber ‚tanzt‘, befreit von der Notwendigkeit zu technischen Hilfestellungen, dem Orchester die Musik vor und nach. Wer hier führt, lässt sich nicht mehr sagen – es ist irrelevant geworden. Die Funktion des Dirigenten im herkömmlichen Sinn erscheint aufgehoben. Orchester und Dirigent sind gleichberechtigt aktiv und überlassen sich gleichzeitig in gegenseitigem Vertrauen passiv dem, was gerade entsteht. Abgesehen vom ‚körperlichen Erscheinungsbild‘ der Musik ist auch das akustische Resultat zu jenem des Vaters ein so grundsätzlich anderes, dass man zwar noch vom selben Stück, aber nicht mehr von derselben Musik sprechen kann.

11 Carlos Kleiber: An der schönen blauen Donau, 1992, https://www.youtube.com/watch?v=R7Hn0doxKE (29.1.2019), 1:13:30.

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Systematisches Was oben an Liszt und Toscanini schematisch dargestellt wurde, repräsentiert zwei Archetypen des Dirigenten. Historisch-ästhetisch ließe sich das Verhältnis auch als eine Kollision des Kunstverständnisses der „Neudeutschen Schule“ in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der auf kommenden Ästhetik der „Neuen Sachlichkeit“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschreiben. Die körpersprachlichen Unterschiede sind also nicht einfach mit Temperament oder Charakter zu erklären, sondern folgen der jeweiligen ästhetischen Auffassung von Musik und ihrer Interpretation. Ein entscheidender Unterschied zeigt sich darin, dass der Liszt-Typus das Dirigieren mitschaffend begreift, wohingegen sich der Toscanini-Typus ausschließlich als Nachschöpfer versteht. Damit sind zwei konträre Perspektiven auf die Partitur markiert, mit unterschiedlichen Antworten darauf, was ein Text festzuhalten imstande ist, in welchem Verhältnis er zur klingenden Musik steht, und wie mit ihm folglich zu verfahren ist. Bildlich gesprochen: Der eine – Liszt – versteht die Partitur als aufgezeichnetes Kraftfeld erlebter Musik, auf das er sich einfühlend einlässt, der andere – Toscanini – steht ihr gegenüber. Liszt sucht die poetischen und expressiven Dimensionen in und hinter den Codes der Notenschrift; für Toscanini ist die Notenschrift die letztgültige Instanz. Im Falle Liszts nistet sich der geistige Gehalt der Komposition zwischen den Zeichen ein; im Falle Toscaninis werden die Zeichen selbst zum unmittelbaren Bedeutungsträger der Komposition. Als Konsequenz versteht der Liszt-Typus eine Partitur als eine Art eingefrorenes, vom Komponisten ursprünglich körperlich-emotional Durchlebtes, das durch den körperlichen Mitvollzug des Interpreten wieder zu erwecken sei. Die Partitur erscheint beim Liszt-Typus als ein Skript psychosomatischer Gebärden, beim Toscanini-Typus als ein Kompendium von Spielvorschriften. Diese polaren Zugänge zur Partitur münden unmittelbar in eine abweichende Funktion des Körpers und seiner Bewegungen. Für den Liszt-Typus übersetzt sich die eingravierte Körperlichkeit in der Partitur wiederum zurück in den Körper des Dirigenten. Eine vom Körper losgesagte Musik ist für den Liszt-Typus schlicht unvorstellbar und unsinnig, im Sinne von nicht-sinnlich. Der Toscanini-Typus hingegen versteht die Partitur als ein präskriptives Gegenüber, ein Kompendium an Aufträgen, was zu tun ist, in der Annahme, dass bei exakter Ausführung der Komponistenwille gültig eingelöst sei. Der Körper steht hier im Dienste einer Kontrolle, die diese Vorschriften entsprechend kommuniziert und einlöst. An einem einfachen musikalischen Element, der Bezeichnung piano, seien die sich daraus ergebenden künstlerischen Konsequenzen veranschaulicht. Das Zeichen selbst, p, sieht gedruckt immer gleich aus. Es gibt keine schriftlichen Differenzierungen, die etwa ein ängstliches piano von einem souverän leise vortra-

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genden, einem verklingenden, einem kraftsammelnden, einem ratlosen, einem erlösenden, einem geheimnis-f lüsternden, einem verlogen intrigierenden, einem versterbenden oder einem sprachlos gewordenen piano unterscheidet. Präskriptiv bleibt das p immer nur: piano. Für dieses p gibt es eine codierte dirigentische Bewegung der linken Hand, die weltweit von jedem Orchester verstanden wird. Für den Toscanini-Typus ist die Sache eindeutig und er kennt die zugehörige körpersprachliche Lösung. Der Liszt-Typus hingegen muss für all die möglichen Bedeutungen von piano erst einen – und zwar: seinen – Körperausdruck finden bzw. erfinden. Toscanini selbst brachte den Unterschied in einem Kommentar zu Beethovens Eroica auf den Punkt: „Viele behaupten, dass hier Napoleon dargestellt sei, andere sprechen von Hitler, wieder andere von Mussolini. Für mich ist es einfach Allegro con brio.“12 Das Piano-Beispiel zeigt, dass es eben nicht die Dirigierbewegungen an sich sind, welche Bedeutung vermitteln: Entscheidend ist, wodurch eine Geste bedingt ist und welcher Impuls gerade zu dieser bestimmten Geste veranlasst und sie schlüssig begründet. Bei gesprochener Sprache sind Tonfall, Betonung, Lautstärke, begleitende Mimik als Bedeutungsträger für die Einschätzung des Gesagten weitaus wirksamer als die Vokabeln selbst. Ähnlich schließen wir über den Körperausdruck auf die zugrundeliegende Intention des Gesagten und bemühen uns als soziale Kommunikatoren um dessen adäquates Verstehen. So ist auch die Dirigiergeste lediglich der Signifikant für eine erst zu interpretierende Bedeutung. Daraus ergibt sich, dass dem mimetischen bzw. ordnenden Typus keine bestimmten Gesten zuzurechnen sind. Es gibt kein Bewegungsvokabular, das nur der einen oder anderen Seite zukommen würde. Liszt dirigiert nicht mimetisch, weil er exzentrisch gestikuliert und Toscanini nicht ordnend, weil er sich reduziert bewegt und dabei streng blickt. Das unterscheidende Kriterium ist vielmehr, ob sich im Körper ein Erleben spiegelt und die Bewegung damit zur mimetischen wird, oder ob es sich um einen körpervermittelten Befehl handelt, d. h. um eine Geste mit einer einzigen direktiven Information („leise spielen!“), die es lediglich entsprechend auszuführen gilt. Wenn wir Körperverhalten beobachten, schließen wir also auf die damit einhergehende psychische Verfasstheit der Person. Wenn jemand sehr rasch geht, sich hektisch umdreht, die Faust ballt, vermuten wir etwas Dahinterliegendes, woraus sich dieses Verhalten begründen lässt. Wir unterstellen, dass sich in der geballten Faust Zorn ausdrückt. Der Körper erscheint als Instrument der Emotion. Jedoch: er erscheint nur so. Um tatsächliches mimetisches Verhalten von einem instrumentalisierten Als-Ob – das vordergründig vielleicht sogar identisch aussieht – zu unterscheiden, bedarf es einer weiteren Klärung. 12 Zit. nach Frits Zwart (Hg.), Willem Mengelberg. 1871–1951. Aus dem Leben und Werk eines gefeierten und umstrittenen Dirigenten und Komponisten, Münster 2006, 56.

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Philosophen wie Bernhard Waldenfels, Luc Nancy und Maurice MerleauPonty, die den Körper zu ihrem Thema machten, konnten überzeugend zeigen, dass die Trennung in ein inneres Gefühl einerseits und den Körper, der dieses Gefühl ausdrückt andererseits, nicht haltbar ist. Man hat nicht einen Zorn und benützt dann den Körper, um diesen auszudrücken. Der Körper ist der Zorn: „Zorn ist Zornesverhalten. Angst ist Angstverhalten und das Verhalten selbst ist nicht gewissermaßen die Außenseite, eine Kulisse, hinter der irgendetwas anderes steckt.“13 Dies bedeutet, dass sich der Körper der Emotion nicht bloß zur Verfügung stellt, sondern diese Emotion ist. Man sieht das Verhalten und damit sieht man, was der andere erlebt. Der Körper tritt in Aktion „als der, der von sich aus spricht.“14 Wir haben also keinen eigentlichen Ausdruck von Zorn vor uns. „Der Zorn ist […] eine Form der Realisierung von Sinn und nicht die äußere Darstellung eines Sinngehaltes […]. Man kann den Zorn natürlich […] schauspielern, aber gespielter und echter Zorn sind nicht dasselbe.“15 Auf Dirigenten lassen sich diese Beobachtungen sinnbildlich übertragen. Die Entscheidung, wie sehr sich Musik-Darsteller auf die körperliche Identifikation mit ihren Gefühlen einlassen, bzw. ob sie die Gefühle schauspielern, ist individuell verschieden. Dirigenten wie Klaus Tennstedt, Carlos Kleiber, Carlo Maria Giulini, Wilhelm Furtwängler – um einige wenige zu nennen – gingen hierbei bis an die Grenzen ihrer und der Orchester psychischen Belastbarkeit, Mariss Jansons überlebte einen Herzinfarkt während eines Dirigats nur knapp.16 Andere, wie Joseph Keilberth, Felix Mottl oder Giuseppe Sinopoli, starben sogar im Orchestergraben. Identifikation zeigt sich als riskante Haltung, bei deren Abwesenheit es jedoch zumindest für die oben erwähnten Dirigenten keine große Kunst gäbe.

Pädagogisches Schauspielern und Schauspielerinnen muss bekannt vorkommen, wovon hier die Rede ist – es ist Thema ihrer Ausbildung. Nicht so für Dirigenten und Dirigentinnen. International betrachtet legt der Dirigierunterricht an Hochschulen und Universitäten den Fokus vorrangig auf das Erlernen einer makellosen Schlagtechnik, welche für eine reibungslose Arbeit mit dem Orchester auch tatsächlich von eminenter Bedeutung ist. Sie bildet die Voraussetzung dafür, jegliches Koordinationsproblem mittels Handbewegungen lösen zu können, und jedes Orchester wird sich dies als die Minimal-Fertigkeiten von Dirigent bzw. Dirigentin auch erwarten. Eine Körpersprache darüber hinaus zu entwickeln, einen individua13 Bernhard Waldenfels, Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt a. M. 6 2016, 217. 14 Ebd., 223. 15 Ebd., 226. 16 Vgl. Hattinger, Der Dirigent, 228.

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lisierten Körperausdruck im Dienste des erfassten musikalischen Sinns zu erlernen, erscheint hingegen nicht als gleichwertiges Ausbildungsziel. Die Dirigierlehrbücher schweigen dazu ebenfalls, die Studierenden bleiben sich im Erkunden ihres körperlichen Sprachvermögens weitgehend selbst überlassen. ‚Natürliche Begabung‘ trennt hier folglich die Spreu vom Weizen, wird schlagend und augenscheinlich. Das müsste so nicht sein. Dirigierstudierende staunen immer wieder, wie sehr berühmte Dirigenten und Dirigentinnen anders dirigieren, als man selbst im Unterricht vermittelt bekam, und das Dirigieren dennoch ‚funktioniert‘. Die Orchester scheinen dennoch mühelos zu verstehen und das meiste vom Dirigenten vorab akribisch Geübte und Erlernte gar nicht zu benötigen. Mehr noch: Gerade die Abweichung von und der Verzicht auf Konventionen scheinen besondere Qualität überhaupt erst zu befördern. Bei bedeutenden Dirigenten und Dirigentinnen gehen die besonderen Interpretationen oftmals mit hochgradig individualisierten Körpersprachen Hand in Hand. Hier könnte eine Dirigierpädagogik ansetzen. Es besteht nämlich ein maßgeblicher Unterschied, ob man lernt, wie man etwas zeigt, oder welche Möglichkeiten bestehen, um etwas zu zeigen. Eine Anzahl von Situationen, die in der Musik immer wiederkehren (Auftakte, Fermaten, Dynamiken, Artikulationen etc.) lassen sich mit wenigen, weitgehend standardisierten Gesten kommunizieren, welche von den meisten Dirigierenden sehr ähnlich ausgeführt werden – sie funktionieren als codierte Konvention. Dieses ordnende Gebärden-Vokabular ist relativ leicht erlernbar. Den Körper darüber hinaus zu musikalisieren, ihn musikalisch sprechend werden zu lassen, gehört jedoch einer anderen Kategorie von Lernen an. Wem da nicht geholfen wird, der f lüchtet sich in meist nachgemachte Posen, um dem als unangenehm empfundenen, lediglich leeren Taktieren zu entkommen. Mimetisches Dirigieren ist aber gerade nicht Schablone. Das Nachmachen der Pose steht dem mimetischen Mitvollziehen als größtmöglicher Gegensatz gegenüber. Im bloßen Nachmachen entsteht dasselbe nochmal, im Mitvollzug entsteht Eigenes aus Fremdem.17 Mimesis inkludiert ja die Fähigkeit, sich einem Gegenstand ähnlich zu machen, oder – nach einem Goethe-Wort – „sich ihm innigst identisch zu machen.“18 Im Gegensatz zur Pose zeigt der Körper das, was in ihm vor-geht. Körperausdruck ist dann verkörperter Sinn. Mimetisches Dirigieren bedingt das Erlernen eines anderen BewegungsSystems. Im Unterschied zum Üben von Einzelgesten für Fermaten, Crescendi, 17 Paraphrase von Bernhard Waldenfels’ Aussage: „Im bloßen Nachmachen entsteht dasselbe nochmal, im Mitmachen entsteht Eigenes aus Fremdem.“ (Bernhard Waldenfels, Sinne und Künste im Wechselspiel, Modi ästhetischer Erfahrung, Berlin 22015, 216.) 18 Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen, hg. von Helmut Koopmann, München 2006, 68.

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Akzente oder Auftakte, wie es fürs ordnende Dirigieren benötigt wird, erfordert mimetisches Dirigieren das Erlernen einer neuen Bewegungsweise statt eines Bewegungsrepertoires. Mimetisches Dirigieren versucht nicht, das in Proben Antrainierte im Konzert wieder abzurufen, es ist nicht auf ein festzuhaltendes Ergebnis hin angelegt. Wer mimetisch dirigiert, benötigt das Vertrauen und die Sensibilität, ein Konzert als ergebnisoffenes Ereignis zu ‚ertragen‘, und er bedarf einer anderen Übe- und Probentechnik als das ständig wiederholende ErgebnisÜben. Ein Unterricht in diese Richtung hätte auf die Verbindung zwischen inneren Bildern und ihrer Verkörperung abzuzielen. Zwangsläufig bleibt mimetische Bewegung deshalb immer individuell, wodurch – nebenbei erwähnt – überhaupt erst von einem Kunstunterricht gerechtfertigt die Rede sein kann. Das Publikum profitiert von solchen Dirigenten und Dirigentinnen. Nicht deshalb, weil diese eine bessere ‚Show‘ böten – das vielleicht auch –, sondern weil durch den psychisch-körperlichen Mitvollzug des Dirigierens den hörenden Zuschauern und zusehenden Hörern die Musik näherkommt. Emotionale Ansteckung stellt sich nur durch jene Interpreten und Interpretinnen ein, die selbst infiziert sind. Die Resonanz, die sich ereignet, ist jene zwischen Körpern, welche bei Gelingen die gesamte Person erreicht. In Bernhard Waldenfels’ Worten: „Zur Körpersprache gehört auch ein Körpergespräch.“19

19 Waldenfels, Das leibliche Selbst, 240.

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Christian Utz

Form und Sinn in Gustav Mahlers Abschied Konkurrierende Deutungen in der Geschichte der Mahler-Interpretation 1 Christian Utz

1. Gustav Mahlers Abschied als Herausforderung der Interpretation Die komplexe und verschlungene Makroform von Gustav Mahlers Lied von der Erde ist nicht nur Resultat eines formalen Hybridisierungsvorgangs aus Liedund Symphonieformen, die Mahlers gesamtes Œuvre durchzieht und in dieser späten „Symphonie für eine Tenor- und eine Alt[-] oder Baryton-Stimme und Orchester“, 2 so der von Mahler gewählte Untertitel, einen Höhepunkt der Verdichtung erreicht. Vielmehr ist sie auch exemplarisch für eine das Spätwerk Mahlers besonders auffällig prägende, aber bereits in früheren Werken bemerkbare Tendenz, die teleologischen Formdramaturgien des 19. Jahrhunderts infrage zu stellen und einer „Logik des Zerfalls“ zu folgen. 3 Dabei ist der von Theodor W. Adorno besonders in den Vordergrund gerückte und als Signum von Mahlers Modernität aufgefasste Dissoziationscharakter vieler Großformen Mahlers zu differenzieren von der verwandten Entwicklung hin zu ‚verklärenden‘ Schlüssen in der Orchestermusik des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die sich in ihrer Schlussgestaltung vorrangig am Topos von Richard Wagners „Liebestod“ in Tristan und Isolde orientierten.4 Zum einen hat die 1

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Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag beim Zweiten Internationalen Gustav Mahler Workshop, Toblach, 3.–4. Juli 2018; die Forschung wurde im Rahmen des vom Autor geleiteten Forschungsprojekts Performing, Experiencing and Theorizing Augmented Listening (PETAL) (gefördert durch den Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF, P 30058-G26, 1.9.2017–31.8.2020) durchgeführt. Vgl. Stephen E. Hefling, „Das Lied von der Erde“, in: Gustav Mahler. Interpretationen seiner Werke, Bd. 2, hg. von Peter Revers und Oliver Korte, Laaber 2011, 205–293, hier 227–228. Vgl. Bernd Sponheuer, Logik des Zerfalls. Untersuchungen zum Finalproblem in den Symphonien Gustav Mahlers, Tutzing 1978. Vgl. Hermann Danuser, „Musikalische Manifestationen des Endes bei Wagner und in der nachwagnerschen Weltanschauungsmusik“, in: Das Ende. Figuren einer Denkform, hg. von Karlheinz Stierle und Rainer Warning, München 1996, 95–122; Camilla Bork, „‚Tod und Verklärung‘. Isoldes Liebestod als Modell künstlerischer Schlußgestaltung“, in: Zukunftsbilder. Richard Wagners Revolution und ihre Folgen in Kunst und Politik, hg. von Hermann Danuser und Herfried Münkler, Schliengen 2002, 161–178; Wolfram Steinbeck, „‚Das eine nur will ich noch – das Ende‘. Prolegomena zu einer Kompositionsgeschichte des Schließens“, in: Archiv für Musikwissenschaft 69/3 (2012), 274–290; Stefan Keym, „Ausklang oder offenes Ende? Dramaturgien der Schlussgestaltung in den Tondichtungen von Richard

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Schlussbildung in Mahlers Werk durchaus Teil an dieser breiteren Tendenz einer Abkehr vom konventionellen „Ad-Astra“-Schluss und ist vor diesem Hintergrund oft mit ästhetischen Topoi der Kunstreligion und Transzendenz in Zusammenhang gebracht worden: „Die Wahrnehmung eines Vergehens und Fortschreitens von Zeit verliert sich in jener transzendenten, durch die Imagination der ewigen, lichten Ferne symbolhaft aufgeladenen Seinserfahrung.“ 5 Und doch evoziert das Ende des Abschied noch weitere Dimensionen der Deutung: Die tonale Offenheit der ausgebreiteten Klangf läche c–(d)–e–g–a und das Verweben von melodischen und harmonischen Prinzipien weisen über das Ende des Erklingenden hinaus, sodass der Abschied zusammen mit dem Ende der Neunten Symphonie ein exemplarisches Modell des offenen Schlusses darstellt, das direkt auf Werke wie Arnold Schönbergs Zweites Streichquartett op. 10 (1908) und seine Sechs kleinen Klavierstücke op. 19 (1911), Alexander Zemlinskys Lyrische Symphonie (1922/23) und Alban Bergs Wozzeck (1917–22) und Lyrische Suite (1925/26) wirkte 6 und dabei über eine Ästhetik der Unabschließbarkeit selbstreferentiell auf das für die Moderne fundamentale Problem ästhetischer Differenz zwischen Kunst und Lebenswelt verwies: Der offene Schluss problematisiert diese Differenz, indem er die ‚Ränder‘ des Kunstwerkes diffus und verschiebbar werden lässt. Der Abschied ist als Schlusssatz dieser späten Lied-Symphonie also gewiss besonders repräsentativ für die dissoziative Tendenz in Mahlers Spätwerk. Sowohl in sich als auch als Schlusselement einer ungewöhnlichen sechssätzigen Folge von symphonisch geweiteten Orchestergesängen steht er für das Prinzip eines Ganzen, „das ohne Rücksicht auf a priori übergeordnete Schemata aus sinnvoll aufeinander folgenden Einzelereignissen zusammenwächst.“ 7 Die Vereinzelung der Strauss und ihr historischer Kontext“, in: Richard Strauss – der Komponist und sein Werk. Überlieferung, Interpretation, Rezeption, hg. von Sebastian Bolz, Adrian Kech und Hartmut Schick, München 2017, 167–189; Arne Stollberg, „Pflaumenweiche Enden? Die Metaphysik leiser Schlüsse in Symphonien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts“, in: Schließen – Enden – Aufhören. Musikalische Schlussgestaltung als Problem in der Musikgeschichte, hg. von Florian Kraemer und Sascha Wegner, München, Druck i. V. 5 Peter Revers, „Das Lied von der Erde“, in: Mahler-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Bernd Sponheuer und Wolfram Steinbeck, Kassel und Stuttgart 2010, 343–361, hier 360. 6 „Das Lied von der Erde rebelliert gegen die reinen Formen. Es ist ein Zwischentyp. Ihm hat später Alexander Zemlinsky in einem eigenen Werk den Namen ‚Lyrische Symphonie‘ gegeben; er wirkte bis in Bergs ebenfalls sechssätzige Lyrische Suite hinein weiter.“ (Theodor W. Adorno, Mahler. Eine musikalische Physiognomik [1960], in: Die musikalischen Monographien, Frankfurt a. M. 1997 [= Gesammelte Schriften 13], 149–319, hier 294.) „Was Mahlers später Blick mit umschloß, war auch dies: das Ende der Welt Musik selbst als der Versicherung der Transzendenz; ihrem Entschwinden galt das ‚Persönlichste‘ seines letzten panischen Schreckens. Zuletzt dem des ästhetischen Subjekts überhaupt? Alle Musik seither ist das Erfüllungsfeld seiner Diagnose; keine bedeutende Form seither, die nicht Mahlers ‚Abschied‘ als Schock-Prämisse in sich trüge, ihn gleichsam fortschallend aufzuhalten suchte.“ (Hans Wollschläger, „Der Abschied des Liedes von der Erde. Zu Mahlers Spätwerk“, in: Musik & Ästhetik 1/3 (1997), 5–19, hier 19) 7 Adorno, Mahler, 294.

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Ereignisse im Abschied korrespondiert mit einer ‚Losigkeit‘ zusammenhangstiftender Mittel und führt zum Feldcharakter der Musik. Die einzelnen Felder des Abschied verglich Theodor W. Adorno mit den Blätter[n] eines Tagebuchs; jedes gespannt in sich, manche in die Höhe fahrend, keines aber verspannt mit dem anderen, wie Seiten sich umblätternd in der bloßen Zeit, deren Trauer die Musik nachbildet. Kaum sonstwo dissoziiert Mahlers Musik sich so vorbehaltlos; die Naturlaute mischen sich in anarchischen Gruppen, potenzieren Mahlers altes „Ohne Rücksicht auf das Tempo“. Häufig wird die Musik ihrer selbst müde und klafft auseinander: dann trägt der innere Fluß über das Versiegen des äußeren hinweg, das Leere wird selber Musik. […] Das Kontrastmittel des Rezitativs steckt das durchweg karg gewobene Ganze an; die Instrumente laufen auseinander, als wollte ein jegliches ungehört vor sich hinreden.8

Peter Revers hat in seiner 1985 publizierten Dissertation den Zerfallscharakter dieses Satzes besonders herausgestellt, wobei er die „permanente Stagnation des melodischen Duktus“ sowie die „lange[n] Pausen zwischen den einzelnen Motiven bzw. Motivvarianten“ hervorhob9 und auf die Tendenz abstrahierter Naturlaute hinwies, harmonische ‚Felder‘ zu bilden, oft mittels einer weit entwickelten Polyphonie,10 einem „Aufgehen melodischer Strukturen in Klangkomposition“,11 das am Schluss des Satzes besonders konsequent verwirklicht ist. In diesem berühmten Schluss ist die „Zerdehnung“12 des pentatonischen Motivs zur feldartigen Textur konstitutiv für die ‚Offenheit‘ der Schlussbildung; diese Öffnung erscheint dabei als Allegorie der vertonten Worte „ewig, ewig“13 und weist über den gegenwärtigen Moment hinaus: Lied von der Erde und Neunte Symphonie weichen mit großartigem Instinkt aus, indem sie so wenig Homöostase usurpieren, wie einen konf liktlos positiven Ausgang spielen, sondern fragend ins Ungewisse blicken. Ende ist hier, daß kein Ende mehr möglich sei, daß Musik nicht als Einheit gegenwärtigen Sinns hypostasiert werde.14

Gerade der lose scheinende Zusammenhang der musikalischen Felder, der die „weitgehende Offenheit und Unvorhersehbarkeit“15 des Formverlaufs prägt, macht diesen Satz zur besonderen Herausforderung für die musikalische Inter8 Ebd., 295 9 Peter Revers, Gustav Mahler. Untersuchungen zu den späten Sinfonien, Hamburg 1985, 68. 10 Ebd., 62, 69–70. 11 Ebd., 77. 12 Ebd. 13 Danuser, „Musikalische Manifestationen des Endes“, 122. 14 Adorno, Mahler, 282. 15 Hermann Danuser, Gustav Mahler: Das Lied von der Erde, München 1986, 86.

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pretation und Aufführungspraxis. Er lässt das In-Beziehung-Setzen, das wechselseitige Verweisen und Verknüpfen musikalischer Elemente und Charaktere – kurz, ein Kohärenzprinzip, wie es vielleicht als kleinster gemeinsamer Nenner ansonsten divergierender Interpretationsschulen und -stile vorausgesetzt werden kann, als Konzept für die aufführungspraktische Interpretation dieses Werkes fragwürdig erscheinen. In der Tat bemängelten Kritiker wie Adorno oder Hans Wollschläger in den Interpretationen der ‚großen‘ Star-Dirigenten der 1960er Jahre generell einen Mangel an Sensibilität gegenüber den Rissen und Brüchen der Mahler’schen Musik, die sie als untrügliches Zeichen ihrer Modernität wahrnahmen, die aber in den effektvoll für ein breites Publikum zubereiteten ‚philharmonischen‘ Deutungen verloren zu gehen drohten.16 Für die aufführungspraktische Interpretation des Abschied scheint ein Kommunizieren solcher Risse wesentlich. Damit ist ein Topos in der Kontroverse über Mahler-Interpretation berührt, deutlich etwa an der scharfen Kritik Michael Gielens an Leonard Bernsteins Mahler-Deutungen: Der Klang der 7. Symphonie weist viel mehr auf die spätere Moderne, also auf die gleichzeitigen Kompositionen von Schönberg und Berg hin, als man bei Bernstein, der gerade die regressiven Elemente Mahlers unterstreicht, annehmen würde. Deshalb auch Bernsteins großer Erfolg, würde ich sagen. Dass bei Mahler die Inhalte des 20. Jahrhunderts, also die Zerrissenheit des Menschen und die Zerrissenheit der Gesellschaft, Hauptinhalte sind, daran dirigiert Bernstein, den ich wegen anderer Sachen bewundere, glatt vorbei – und nicht nur er.17

Vergleichbare Kritik wurde etwa an Herbert von Karajans Mahler-Deutungen geübt.18 Nun ist die Frage, durch welche Mittel der Interpretation die ästhetische Erfahrung von ‚Kohärenz‘ einerseits, von ‚Brüchigkeit‘ oder ‚Zerrissenheit‘ andererseits in einer musikalischen Aufführung bewirkt werden kann, kaum allgemein zu beantworten. Insbesondere die Schönberg-Schule hat auf dem Gebiet der Interpretation eine auf Zusammenhang und formale Kohärenz zielen16 Hans Wollschläger, „Notizen aus Toblach zu Gustav Mahlers Spätwerk (ab 1980)“, in: Der Andere Stoff. Fragmente zu Gustav Mahler, hg. von Monika Wollschläger und Gabriele Wolff, Göttingen 2010, 336–346, hier 337; vgl. auch Theodor W. Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, Frankfurt a. M. 2001, 191; Hans Wollschläger, „Die Schlamperei der Tradition oder Wie authentisch sind die heutigen Mahler-Aufführungen“ [1991], in: Der Andere Stoff, hg. von Wollschläger und Wolff, 27–71. 17 Michael Gielen in: Wolfgang Schaufler (Hg.), Gustav Mahler. Dirigenten im Gespräch, Wien 2013, 103. 18 Vgl. Gerhard R. Koch, „Lieber die Schönheit als die Wahrheit. Eine vorübergehende Affäre: Karajans Auseinandersetzung mit Mahler“, in: Herbert von Karajan (1908–1989). Der Dirigent im Lichte einer Geschichte der musikalischen Interpretation, hg. von Jürg Stenzl und Lars E. Laubhold, Salzburg 2008, 85–88; Peter Revers, „‚I think there ist a great tragedy in Mahler, and a great tragic sense!‘. Herbert von Karajan direttore mahleriano“, in: L’arte di Karajan. Un percorso nella storia dell’interpretazione, hg. von Alberto Fassone, Lucca 2018, 349–364.

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de Ästhetik verfolgt, bei der für den Parameter Tempo eine Schlüsselrolle in Bezug auf die Artikulation der Form vorgesehen war19 – ein Prinzip, das ganz zweifellos auch auf Mahlers eigene dirigentische Praxis rückführbar ist. 20 Kaum anzuzweifeln dürfte zunächst sein, dass der Parameter Tempo einen grundlegenden Einf luss auf solche ästhetischen Erfahrungen haben kann: Über Korrespondenzen des Tempos können satztechnisch angelegte Korrespondenzen der Form gestärkt werden, durch gezielte Tempo-Abweichungen können sie verunklart, dissoziiert werden. Das absolute Tempo und dessen Stabilität bzw. Instabilität können darüber hinaus solche Rezeptionserfahrungen wesentlich prägen, zumal innerhalb eines so komplexen Formprozesses wie jenem des Abschied: Brüche und starke Schwankungen im Tempo können den Eindruck von Zerfall und ‚Zusammenhanglosigkeit‘ stärken, aber auch Kontrastelemente der komponierten Formstruktur hervorheben und damit indirekt doch wieder großformale Kohärenz bewirken. Die vielleicht wichtigste Äußerung Mahlers zur Tempofrage weist auf einen Zusammenhang von Tempo und musikalischen Sinneinheiten hin, wie sie die Schönberg-Schule aufgriff: „Ein Tempo ist richtig, wenn alles noch klingen kann. Wenn eine Figur nicht mehr erfasst werden kann, weil die Töne ineinander gleiten, dann ist das Tempo zu schnell. Bei einem Presto ist die äußerste Distinctgrenze das richtige Tempo; darüber hinaus verliert es die Wirkung.“ Mahler sagte, wenn ihm ein Adagio wirkungslos auf das Publikum erscheine, so verlangsame er das Tempo und beschleunige es nicht, wie es gemeiniglich gemacht wird. 21

An der Frage, inwieweit ein gewähltes Tempo über längere Strecken eines musikalischen Werkes hinweg beibehalten werden solle, scheiden sich insgesamt die Prinzipien im Spannungsfeld ‚expressiver‘ und ‚(neu-)sachlicher‘ Interpretationskonzepte, die sich in der ‚Aufführungslehre‘ der Wiener Schule vielfältig überlagern. Mahlers Position dazu war unzweideutig: Deshalb ist ja auch das Metronomisieren unzulänglich und fast wertlos, weil schon nach dem zweiten Takte das Tempo ein anderes geworden sein muß, wenn das Werk nicht drehorgelmäßig, niederträchtig, heruntergespielt wird. Weit 19 Vgl. Helmut Haack, „Was ist musikalische Zeit? Tempolehre und Tempopraxis (in der zweiten Wiener Schule) im Lichte vergleichender Forschungen an historischen Tondokumenten“, in: Die Lehre von der musikalischen Aufführung in der Wiener Schule, hg. von Reinhard Kapp und Markus Grassl, Wien 2002, 223–255. 20 Vgl. Christian Utz, „Multivalent Form in Gustav Mahler’s Lied von der Erde from the Perspective of Its Performance History“, in: Musicologica Austriaca (2018), http://musau.org/parts/neue-article-page/view/37 (4.2.2019), [2.]. 21 Alma Mahler, Erinnerungen an Gustav Mahler, Frankfurt a. M. 1971, 78.

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Form und Sinn in Gustav Mahlers Abschied mehr als auf die Anfangsgeschwindigkeit kommt es daher auf das richtige Verhältnis aller Teile untereinander an. 22

Prägnant wird eine damit vergleichbare Position in einer Notiz Adornos zusammengefasst: Grundregel fürs Tempo: durchwegs vertritt das Tempo die Totale, selbst den Oberbegriff, gegen das Einzelne, das Detail, so wie dieses von Klang und Charakterisierung gegen das Ganze in der Dialektik der Interpretation vertreten wird. Das Tempo ist als Einheit des Satzes so weit durchzuhalten wie es ohne Verletzung des musikalischen Sinnes möglich ist (Schnabels Tempomodifikationen in der Beethovenausgabe ein zu plumpes Mittel der Artikulation[)]. Dazu aber wichtige Einschränkung von Rudi [Kolisch]: das durchzuhaltende Hauptzeitmaß ist eine Idee, d. h. es braucht im ganzen Satz nicht eine einzige Zeiteinheit der metronomischen zu entsprechen und diese kann doch, als Resultante, herauskommen. – Meine eigene These geht sehr weit: es werden in thematischer Musik bei sinnvoller Darstellung niemals auch nur 2 Schläge einander chronometrisch gleich sein. Die Identität des Tempos hat ihre Grenze am musikalischen Sinn, d. h. der Bedeutung des Einzelnen. Es ist leicht das Tempo in abstracto durchzuhalten, fast prohibitiv schwer im durchgehaltenen zumal raschen Tempo zu differenzieren. Die Forderung der raschen Tempi hängt wesentlich mit der Einheit zusammen. Je rascher das Tempo, um so eher läßt ein Satz als Ganzer, als Einheit sich auffassen. Aber eben darin bereits wieder die Gefahr des Mechanischen, zumal diese Forderung vom positivistischen Musizieren falsch übernommen wurde. 23

Vor dem aktuellen Forschungsstand der Interpretations- und Performanceforschung kann die Diskussion solcher Fragen jedenfalls kaum ohne einen konkreten Rekurs auf vorliegende Tondokumente erfolgen, deren Gewicht als historische Quellen eigenen Rechts kaum mehr angezweifelt werden dürfte, freilich mit einer medienspezifischen Quellenkritik einhergehen muss. Gerade zu Mahler liegen mit wenigen Ausnahmen noch kaum analytische Korpus-Studien zu den Tonaufnahmen vor und dies obgleich offensichtlich ist, dass die unterschiedlichen Interpretationstraditionen und -ästhetiken grundlegenden Einf luss darauf haben, wie Mahlers Werke rezipiert und (hör-)analytisch verstanden werden können. 24 So spricht Erling E. Guldbrandsen zurecht von dem 22 Natalie Bauer-Lechner, Gustav Mahler in den Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner, hg. von Herbert Killian, Hamburg 1984, 42. 23 Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, 133. 24 Grundlegende Beiträge zu Fragen der Mahler-Interpretation bieten vor allem Rudolf Stephan (Hg.), Gustav Mahler, Werk und Interpretation: Autographe – Partituren – Dokumente. Ausstellungskatalog Düsseldorf 1980, Köln 1979; ders. (Hg.), Mahler-Interpretation. Aspekte zum Werk und Wirken von Gustav Mahler, Mainz 1985; Knud Martner, Gustav Mahler im Konzertsaal. Eine Dokumentation seiner Konzerttätigkeit 1870–1911, Kopenhagen 1985 [erweiterte englische Übersetzung: Mahler’s

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Christian Utz somewhat puzzling fact that in current textbooks and analyses of Mahler’s music, actual performances and interpretations are rarely taken into account, nor even named. Mahler’s music is generally analysed as if diverging performances do not make a difference as to the question of how the musical figures and processes are to be understood. However, in the history of recordings there are obvious and striking differences in musical understanding and expression, interpretation and style, tempo and balance, phrasing and articulation. Arguably, these differences are not merely of a secondary and accidential [sic] nature, which leaves the ‚work‘, as such, unaffected. Rather, musical performances and their history may be regarded as constitutive as to what the musical work actually is. 25

Insgesamt 152 Gesamteinspielungen des Lied von der Erde (Stand 2018) durch 98 verschiedene Dirigenten im Zeitraum 1936 bis 2016 erlauben einen äußerst differenzierten Blick auf die Interpretationsgeschichte dieses Werkes. Die Aufnahmehistorie setzt also nur 25 Jahre nach der Uraufführung (und mit einer Einspielung des Dirigenten dieser Uraufführung Bruno Walter) ein und umfasst de facto sämtliche namhafte Mahler-Dirigenten und Gesangssolist*innen. In diesem Beitrag kann dieser umfangreiche Quellenbestand freilich nicht erschöpfend behandelt werden. Anknüpfend an die bereits in einem vorangegangenen Aufsatz erfolgte Auseinandersetzung mit der Interpretationsgeschichte des Lied von der Erde 26 liegt der folgenden Diskussion die Auswertung von insgesamt 96 Aufnahmen des Werkes (Zeitraum 1936–2016, 3a.) zugrunde, von denen 52 eingehender in Bezug auf die Interpretation der Form des Finalsatzes betrachtet werden (3b.). Die Aufnahmen werden ausgehend von einer synoptischen Darstellung der Form des Abschied (2.) zunächst im Sinne eines ‚distant listening‘ in Hinblick auf die Stellung des Finalsatzes innerhalb des Gesamtzyklus interpretiert. Die daraus abgeleiteten Modelle zyklischer Gesamtdramaturgie werden dann in einem zweiten Schritt in einer genaueren Betrachtung der ‚interpretierten Form‘ des Schlusssatzes vertieft, wobei auch hier ein vergleichender Blick auf den analysierten Korpus, also ein ‚distant listening‘ im Vordergrund steht; abschließend deuten ausgewählte Aspekte das Potenzial eines ‚close listening‘ für die Deutung des Concerts, New York 2010]; Wollschläger, „Die Schlamperei der Tradition“; Christoph Metzger, Mahler-Rezeption. Perspektiven der Rezeption Gustav Mahlers, Wilhelmshaven 2000; David Pickett, „Mahler on Record: The Spirit or the Letter?“, in: Perspectives on Gustav Mahler, hg. von Jeremy Barham, Aldershot 2005, 345–377; Henry Louis de La Grange, Gustav Mahler, Bd. 4: A New Life Cut Short (1907–1911), New York 22008, 1619–1635, 1657–1669 [Ko-Autorin: Sybille Werner]; Hartmut Hein, „Mahler-Interpretation(en): Zur Aufführungsgeschichte und Diskologie“, in: Mahler-Handbuch, hg. von Sponheuer und Steinbeck, 453–471; Lena-Lisa Wüstendörfer (Hg.), Mahler-Interpretation heute. Perspektiven der Rezeption zu Beginn des 21. Jahrhunderts, München 2015. 25 Erling E. Guldbrandsen, „Innspillinger av Mahlers 2. symfoni gjennom 85 år: Del I“, in: Studia Musicologica Norvegica 36/1 (2010), 95–120, Abstract, https://www.idunn.no/smn/2010/01/art08 (4.2.2019). 26 Utz, „Multivalent Form in Gustav Mahler’s Lied von der Erde“.

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‚Sinns‘ des Abschied an. 27 Keineswegs sind die folgenden auf Zeitgestaltung und -relationen fokussierenden Ausführungen also als eine vollständige oder auch nur methodisch hinreichende Diskussion des behandelten Korpus aufzufassen.

2. Rotation und Narrativität in der Form des Abschied Bevor wir uns der Auswertung der Aufnahmen zuwenden, wird in Tabelle 1 ein synoptischer Überblick über die Form des Abschied geboten, der sich an einem in der Literatur durchgehend erörterten strophischen Grundmodell orientiert. Dieses geht davon aus, dass der Gesamtform des Satzes zwei Großabschnitte oder ‚Rotationen‘ eines dreistrophigen Verlaufs (Strophen 1a, 2a, 3a; 1b, 2b, 3b) zugrunde liegen, wobei die zweite Rotation gegenüber der ersten eingehenden Variationen und Transformationen unterworfen ist. 28 Zu verstehen ist der Begriff der ‚Rotation‘ hier also nicht im Sinne einer schlichten Analogie oder gar Identität von 27 Die Begriffe ‚distant listening‘ und ‚close listening‘ wurden von Nicholas Cook in Analogie zu den Methoden des ‚close reading‘ und ‚distant reading‘ in den Literaturwissenschaften geprägt (Beyond the Score: Music as Performance, New York 2013, Kap. 5 und 6). Cooks grundlegende Forderung ist es, die Vorteile von Korpusstudien musikalischer Tonaufnahmen (‚distant listening‘) – so die Vermeidung tautologischer Forschungsergebnisse, in denen nur das herausgehoben wird, was Forscher*innen in Aufnahmen ‚hineinhören‘ – mit dem in der Musikwissenschaft über Analysemethoden von jeher angelegten ‚close listening‘ zu verbinden, sodass mikro- und makroskopische Perspektiven auf Tonaufnahmen (und damit auf die interpretierten Werke) sich fortgesetzt wechselseitig kommentieren und korrigieren können. Im vorliegenden Rahmen kann diese Forderung nicht vollständig eingelöst werden. Die Konzentration auf das ‚distant listening‘ ergibt sich aus der Größe und Komplexität des untersuchten Korpus und kann als Versuch verstanden werden, eine Rahmung für künftige Erkundungen des ‚close listening‘ zu entwickeln. 28 Mit dem Konzept der „Rotation“ großformaler Abschnitte wird Bezug genommen auf das Konzept der rotational form, das in James Hepokoskis und Warren Darcys Elements of Sonata Theory entwickelt wurde und für die aus der Synthese von Lied und Symphonie erwachsende variierte strophische Großform in Mahlers Werken besonders adäquat erscheint (James Hepokoski/Warren Darcy, Elements of Sonata Theory. Norms, Types, and Deformations in the Late Eighteenth-Century Sonata, New York 2006, 611–614). Analysen Mahler’scher Symphoniesätze mit Bezug auf das Konzept der rotational form finden sich u. a. bei Warren Darcy, „Rotational Form, Teleological Genesis, and Fantasy-Projection in the Slow Movement of Mahler’s Sixth Symphony”, in: 19th-Century Music 25/1 (2001), 49–74; William Marvin, „Mahler’s Third Symphony and the Dismantling of Sonata Form“, in: Keys to the Drama: Nine Perspectives on Sonata Forms, hg. von Gordon Sly, Burlington 2009, 53–71, und insbesondere in Seth Monahan, Mahler’s Symphonic Sonatas, New York 2015, 76–78. Es liegt allerdings meines Wissens noch keine Analyse des Abschied mit Bezug auf das Konzept der rotational form vor. Zur Form dieses Satzes allgemein vgl. insbesondere Zoltan Roman, „Structure as a Factor of Genesis in Mahler’s Songs“, in: Music Review 31/2 (1974), 157–166, hier 164–165 [Wiederabdruck in Gustav Mahler, hg. von Hermann Danuser, Darmstadt 1992, 82–95]; Donald Mitchell, Gustav Mahler. Songs and Symphonies of Life and Death, London 1985, 327–432; Constantin Floros, Gustav Mahler, Bd. 3: Die Symphonien, Wiesbaden 1985, 259–260; Revers, Gustav Mahler. Untersuchungen zu den späten Sinfonien, 63–65; Danuser, Gustav Mahler: Das Lied von der Erde, 83–110; Stephen E. Hefling, „Das Lied von der Erde: Mahler’s Symphony for Voices and Orchestra – or Piano“, in: The Journal of Musicology 10/3 (1992), 293–341, hier 328–337; ders., Mahler: Das Lied von der Erde, Cambridge 2000, 104–108; Revers, „Das Lied von der Erde“, 359–360; Hefling, „Das Lied von der Erde”, 257–260.

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Abschnitten, sondern als „assertion of parallelisms between spans of music that are actually quite different at the acoustic surface.“ 29 Die sechs strophischen Abschnitte der zwei Rotationen werden von zwei Trauermarschepisoden eingeleitet, von insgesamt drei Rezitativen unterbrochen und von einer Überleitung bzw. Coda abgeschlossen, sodass insgesamt 13 formale Abschnitte entstehen ([1]–[13]), die im Folgenden durch eckige Klammern markiert sind und sich in insgesamt 26 Unterabschnitte weiter untergliedern lassen (z. B. [4.1], [4.2] etc.). Tabelle 1 enthält eine Auf listung sämtlicher Tempoangaben und -modifikationen (dritte Zeile), der metrischen und harmonischen Organisation (vierte und sechste Zeile) sowie eine Wiedergabe des gesamten Gesangstextes und der Instrumentalsoli mit Markierung der formalen Unterabschnitte (siebte Zeile). Die beiden Teile der Tabelle sind so platziert, dass die korrespondierenden Formabschnitte untereinanderstehen. Natürlich kann eine Tabelle nicht alle Mehrdeutigkeiten und Deutungsoptionen der Form wiedergeben. So könnte es gewiss auch plausibel erscheinen, das Suspensionsfeld der Takte 288 bis 302 (Abschnitt [7]) als Beginn einer zweiten großformalen Rotation und nicht als das Ende der ersten zu begreifen. In Bezug auf die Taktanzahl würde so eine auffallende Balance zwischen den beiden Rotationen erreicht (T. 1–287; 288–572; 287:285 Takte). Allerdings sind die Parallelen zwischen dem erneuten Einsetzen des Trauermarschduktus in Takt 303 und dem Beginn des Satzes sehr auffällig, zumal erst hier die Grundtonart c-Moll wieder erreicht ist und beide Stellen durch das „Grabgeläute“, den tiefen Tam-tam-Schlag,30 markiert werden, sodass es sinnfälliger ist, hier die großformale Zäsur zwischen den beiden Rotationen anzusetzen. Die Tabelle macht dabei auch sichtbar, wie in der zweiten Rotation die durchführungsartige Erweiterung des Trauermarschs (72 Takte in [8] gegenüber 18 Takten in [1]) kompensiert wird durch eine Verkürzung der Strophe 2 (30 Takte in Strophe 2b [11] gegenüber 96 Takten in Strophe 2a [4]) sowie durch ein Auslassen des zweiten Rezitativs [5], das in der zweiten Rotation keine Entsprechung besitzt. Die Tabelle zeigt zudem, dass der Eindruck von Diskontinuität und Dissoziation insbesondere durch drei Faktoren entsteht: (1) die Unterbrechung der Tempostruktur durch Fermaten und Generalpausen, ggf. gekoppelt an Tempomodifikationen wie ritardando und morendo, (2) die metrische Destabilisierung durch häufige Taktwechsel (insbesondere in den Rezitativen) und metrische Überlagerungen 31 (insbesondere in den Strophen 2 und 3) sowie (3) den häufigen Einsatz solistischer Instrumente, die als gleichberechtigte personae neben die Alt-/Baritonstimme tre29 Monahan, Mahler’s Symphonic Sonatas, 76. 30 Mahler schrieb das Wort „Grabgeläute“ ins Particell neben Takt 307 (Gustav Mahler, Das Lied von der Erde, ‚Clavierauszug‘, Faksimile hg. von der Gustav Mahler Stichting Nederland, Den Haag 2017). Vgl. Hefling, „Das Lied von der Erde“, 256. 31 Hierzu kann die von Bruno Walter überlieferte Aussage Mahlers angeführt werden: „Dann wies er auf die rhythmischen Schwierigkeiten und fragte scherzend: ‚Haben Sie eine Ahnung, wie man das dirigieren soll? Ich nicht!‘“ (Bruno Walter, Gustav Mahler, Wilhelmshaven 1985, 52.)

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4.1 (55) instr. Solo Ob. (57–67)  4.2 (69) instr. Solo Fl. (71–82)  (71mA) Der Bach singt voller Wohllaut  durch das Dunkel.  (77) Die Blumen blassen im  Dämmerschein. (81) instr.  4.3 (98) instr. Solo Ob. (101–107)  (102) Die Erde atmet voll von Ruh’ und  Schlaf.  (107) Alle Sehnsucht will nun träumen.  4.4 (118) Die müden Menschen geh'n  heimwärts,  Um im Schlaf vergess'nes Glück  Und Jugend neu zu lernen!  (129) instr.  4.5 (138) instr.  (140mA) Die Vögel hocken still in ihren  Zweigen. (145) instr.  (147) Die Welt schläft ein!  (150) instr. 

2.1 (20mA) Die Sonne  scheidet hinter dem  Gebirge.  (22mA) In alle Täler  steigt der Abend nieder  (24) Mit seinen  Schatten, die voll  Kühlung sind.    Solo Fl. (20–26) 

1.1 instr.  Solo Ob. (3–17) /   Fl. (15–17)  3.1 (27) instr.  (32mA) O sieh!  Wie  eine Silberbarke  schwebt der Mond   (37mA) am blauen  Himmelssee herauf.  (40) instr.  3.2 (43mA) Ich spüre  eines feinen Windes  Weh’n  (47mA) hinter den  dunklen Fichten!  (50) instr.    Solo Ob. (41–43) /  Klar. (45–47) /  Fl. (47–54) /  Kfag. (48–53) 

c  (32) C  (39) c  a‐c (57) F  (77) d  (95) c   (101) F  (118) cis  (137) a 

 



 C [2/2]; 3/2 (122;127); 6/4 (150)

(55) Sehr mäßig (h wie vorher q)  (81) Etwas bewegter   (87) Etwas drängend   (92) Pesante   (106) Poco rit.   (107) a tempo   (112) Fließend   (116) Poco rit.   (117) A tempo   (121) Nicht eilen   (147) Langsam   (149) Ferm.  

96 (14‐12‐17‐20‐19‐14) 

55–150 

 

  166–287 

5.1 (151) instr.  [Auflösungsfeld 1]  5.2 (159mA) Es wehet kühl im  Schatten meiner Fichten.  (161mA) Ich stehe hier und  harre meines Freundes.  (163mA) Ich harre sein zum  letzten Lebewohl.    Solo Fl. (159–165)   



Rezitativ 2 

 

                137 Takte 

(166) Fließend  (172) Allmählich zu ganzen Takten übergehend   (199) Sehr ruhige ganze Takte   (206) Nicht schleppen   (213) Fließend  (214) Sanft drängend   (220) Pesante  (221) a tempo   (228) Poco rit.   (229) a tempo, sehr fließend   (235) Sich beruhigend   (245) Wieder sehr ruhig   (257) Nicht eilen   (265) Nicht eilen   (287) veloce 

122 (33‐30‐36‐23) 

6.1 (166) instr.  6.2 (199mA) Ich sehne mich, o Freund, an deiner  Seite  (207) instr.  (210mA) die Schönheit dieses Abends zu  geniessen.  (219) instr.  (223mA) Wo bleibst du? du lässt mich lang allein!  6.3 (229) instr.  (237mA) Ich wandle auf und nieder mit meiner  Laute   (249mA) auf Wegen, die vom weichen Grase  schwellen.  (257) instr.  6.4 (265mA) O [port.] Schönheit!  (268mA) O ewigen Liebens, Lebens trunk’ne Welt!  (277) instr. 

d pent.  B 

Strophe 3a  (Arie) 

4/4;5/4;4/4;5/4;6/4;4/4;3/4;5/4  3/4 

(151) Langsam  (158) Sehr gleichmäßig Nicht  eilen   (162) Ferm.   (164) Ferm.   (165) Rit.  

15 (7‐8) 

151–165 

                              111 Takte 

Strophe 1a  Strophe 2a  (Trauermarsch)   (Lied) 

4/4;7/4;5/4 – 18/4+1/8  4/4 

4/4 

 

 Einleitung  Rezitativ 1   (Trauermarsch)   

(27) Tempo I  (41) Poco accel.   (43) a tempo   (54) Ferm. (lange)  morendo 

(19) Fließend | Im Takt  (19) in erzählendem Ton,  ohne Ausdruck (Alt)  (26) Ferm. morendo 

(1) Schwer  (15) veloce   (19) Ferm.  

27–54 

  28 (5+11‐12) 

19–26 

54 Takte   

26 (18‐8) 

1–18 

  288–302 

7.1 instr.  [Auflösungsfeld 2]  Solo Engl.H. (289–301)  [u.a. Bläser]  Solo Vc. (292–297) 

a‐c  g‐b 

Überleitung 



(288) Mäßig 

15 

Form und Sinn in Gustav Mahlers Abschied

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9.1 (374) instr.  (376mA) Er stieg vom  Pferd und reichte ihm  den Trunk des  Abschieds dar.  (378) Er fragte ihn,  wohin er führe und  auch warum, warum es  müßte sein.  (381) instr.  Solo Ob. (382–393)  (390mA) Er sprach,  seine Stimme war  umflort:   

8.1 (303) instr. 1  Solo Engl. H. (307– 17)  Solo Vc. (320–22)  8.2 (323.2mA) instr.  2  8.3 (343mA) instr. 3  8.4 (361) instr. 4      11.1 (430) instr.  Solo Engl. H. (429–431)  Solo Fl. (434–441)  (433mA) Ich wandle nach der Heimat,  meiner Stätte.  (443mA) Ich werde niemals in die Ferne  schweifen.  (447mA) Still ist mein Herz und harret  seiner Stunde!  (450) instr.   

F  Gesü 

Strophe 2b  (Lied) 

(430) Sehr mäßig  (451) Rit.  (454–459) Riten. molto….  (459) Ferm. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

                113 Takte 

12.1 (460mA) Die liebe Erde allüberall  (468) blüht auf im Lenz und grünt aufs neu!  (477) allüberall und [port.] ewig, ewig blauen licht  die Fernen,  (501) instr.   

C (pent.)  

Strophe 3b  (Arie) 

3/4 

(460) Langsam! ppp! Ohne Steigerung  NB. Anmerkung für den Dirigenten: Ganze Takte  sehr langsam schlagen  (476) Fließend  (488) Pesante  (490) a tempo 

49 (17‐32) 

460–508 

 

 

Tabelle 1: Mahler, Das Lied von der Erde, VI. Der Abschied, Synopsis der Formanlage (http://phaidra.kug.ac.at/o:77565).

 

c  C  c 



c  10.1 (394) instr.  (398) Du, mein Freund,  (401mA) mir war auf  dieser Welt das Glück  nicht hold!  (406) instr.  10.2 (411mA) Wohin ich  geh'?  (413mA) Ich geh’, ich  wand’re in die Berge.  (416mA) Ich [port.]  suche Ruhe für mein  einsam Herz.  (420) instr.  Solo Klar. (419–428) 

Strophe 1b  (Trauermarsch) 

4/4;6/4;7/4;5/4;8/4;4/4  4/4; 6/4(3/2) (410;418)  C [2/2] 

4/4 

Einleitung –  Rezitativ 3  erweitert/  Durchführung  (Trauermarsch) 

(398) sehr weich und  ausdrucksvoll [Alt]  (412) Rit.  (413) Langsam  (413) sehr ausdrucksvoll  [Alt]  (429) Ferm. 

(375) (erzählend und  ohne Espressivo) [Alt]  (376) Nicht eilen  (381) A tempo  (389) immer tonlos [Alt]  (394) Ferm. 

(303) Schwer (h = q)  (309) NB. Pausen  lang halten, die  Figuren fließend  (316.3) GP/Ferm.  (kurz)  (318.1–3) GP  (321) Molto rit.  (322.4) GP  (323) A tempo  subito  (370) morendo     

                              30 Takte  430–459  30 

394–429 

 

36 (17‐19) 

 

]374–393 

127 Takte   

72 (20‐20‐18‐14)  20 (7‐9‐4) 

303–374[ 

  509–572 

13.1 (509) ewig, ewig,   (515) instr.  (521) ewig, ewig,  (527) instr.   (540) ewig, ewig.  (552) instr.  (563) ewig  (567) instr. 

 

Coda 

 

(559) Ritenuto bis zum  Schluß  (567) Gänzlich  ersterbend 

64 (12‐20‐33) 

Christian Utz

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Form und Sinn in Gustav Mahlers Abschied

ten und durch ihr oft in ‚musikalische Prosa‘ ausgreifendes ‚Sprechen‘ die Phrasenstruktur tendenziell destabilisieren. 32 Nun sind die meisten dieser Faktoren in den Strophen 3a und 3b mit Coda gerade nicht auszumachen, sodass beide Rotationen gewissermaßen als Prozesse von einem zögerlichen, stockenden Beginn hin zu f ließender, ‚symphonischer‘ Kontinuität aufgefasst werden können, die sich am Ende über den offenen Schluss des Erklingenden hinaus zum ‚ewigen‘ Zeit-Raum öffnet. Gestützt wird die Umsetzung solcher Kontinuität durch das häufige Auftreten der Angabe „Fließend“ (T. 166, 213, 229 bzw. 476), die Tendenz der Strophen 3a und 3b zum größeren Orchestersatz ohne solistische Individualisierung sowie das ‚arienhafte‘ Auf blühen der Gesangsstimme, die zugleich eng mit dem Gewebe und dem Klangprozess des Orchesters verschmilzt. Im Kleinen wird dieser Prozess vom Stocken zur Kontinuität bereits im entwicklungsartig erweiterten Trauermarsch zu Beginn beider Rotationen angedeutet bzw. vorweggenommen sowie im Fortwirken des Trauermarschrhythmus in den Strophen 1a und 1b. Die in der ersten Trauermarschepisode der zweiten Rotation (T. 303–323.1 [8.1]) noch hervortretenden Soloinstrumente (Englischhorn T. 307–317; Violoncello T. 320–322) und die wiederholten Unterbrechungen durch Pausen und Generalpausen (T. 316, 318, 322) entfallen ab der zweiten Trauermarschepisode (T. 323.2–342 [8.2]) und machen einer melodisch und harmonisch zwar eng begrenzten, durch die vorangegangenen Auf lösungsprozesse (insbesondere auch in der Überleitung, T. 288–302 [7]) aber umso einprägsameren f ließenden Kontinuität Platz. Diese Kontinuität wird zu zwei zum Tragischen neigenden Kulminationspunkten geführt (T. 361/365), auf die hin die Musik wieder ausgeblendet und zum rezitativischen Erzählton zurückgeleitet wird. Der durch diesen Erzählton der Rezitative 33 [2] („ohne Ausdruck“; T. 19) und [9] („ohne Espressivo“, T. 375) gesetzte Rahmen affiziert grundlegend die davor, dazwischen und danach gehörte Musik. Sie erscheint als musikalisch-narrativer Gehalt einer in den Rezitativen eingeleiteten ‚Erzählung‘, erkennbar nicht zuletzt an den Wechseln der Erzählperspektive im Gesangstext: Während in Rezitativ 1 [2] lediglich ein Naturbild beschrieben ist („Die Sonne scheidet…“) und in Rezitativ 3 [9] eine Handlung von außen beschrieben wird („Er stieg vom Pferd…“), wendet sich das lyrische/symphonische Ich in den Strophen 1a und 1b direkt an 32 Das Konzept der „musikalischen Prosa“ wurde von Arnold Schönberg u. a. auch an der Oboenmelodie der Takte 57–67 des Abschied ([4.1]) erläutert und in der Literatur davon ausgehend intensiv diskutiert; vgl. dazu Arnold Schönberg, „Brahms, der Fortschrittliche“, in: Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, hg. von Ivan Vojtěch, Frankfurt a. M. 1976, 35–71, hier 59; Adorno, Mahler, 293; Carl Dahlhaus, „Musikalische Prosa“ [1964], in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, hg. von Hermann Danuser, Laaber 2005, 361–374; Hermann Danuser, Musikalische Prosa, Regensburg 1975, 131; Revers, Gustav Mahler. Untersuchungen zu den späten Sinfonien, 71–72. 33 Vgl. Siegfried Mauser, „Die Rezitative im ‚Abschied‘“, in: Gustav Mahler, hg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1989 (= Musik-Konzepte Sonderband), 188–197; Peter

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ein Gegenüber („O sieh!…“, T. 32; „Du, mein Freund…“, T. 398); im Rezitativ 2 [5.2] hingegen, das sich auch sonst in vieler Hinsicht von den beiden anderen Rezitativen abhebt, bleibt die Ich-Perspektive gewahrt („Es wehet kühl im Schatten meiner Fichten…“, T. 159). 34 Gibt es für eine solche ‚Rahmenerzählung‘ prominente Beispiele aus der Musikgeschichte, so etwa in Felix Mendelssohn Bartholdys Dritter Symphonie und Franz Liszts Klaviersonate in h-Moll, 35 so ist die Verdichtung, mit der Mahler ‚Rahmen‘ und ‚Subjekt(e)‘ seiner symphonischen Narration ineinander verwebt, wohl ohne Vorbild. Eine Schlüsselfunktion dabei erfüllen Mahlers prosaartige Erweiterungen von Hans Bethges Nachdichtungen chinesischer Lyrik ebenso wie die ‚Personifizierung‘ der Solo-Instrumente, die den eminent dialogischen Charakter des Werkes (im Sinne eines Dialogs der Singstimme mit der Natur und den sie vertretenden Instrumentalstimmen) konstituieren. Dass die beiden großformalen Rotationen durch den Text an die inhaltlichen Topoi „Erwartung“ und „Abschied“ und damit die beiden zugrundeliegenden Gedichte von Meng Haoran und Wang Wei gebunden sind, stärkt den Eindruck einer Korrespondenz zwischen den formal ‚dialogisierenden‘ Abschnitten mit dem zentralen Trauermarsch als krisenhaftem ‚Zenit‘ des Formprozesses.

3. Dramaturgien in der Interpretationsgeschichte des Abschied 3a. Die Stellung des Abschied im Gesamtzyklus Für die Interpretation bieten die hier überblicksartig zusammengefassten Dimensionen und Deutungsmodelle der Form des Abschied vielfältige Möglichkeiten und Anknüpfungspunkte der Gestaltung einer großformalen Dramaturgie, die im Folgenden nur in Ansätzen erfasst werden können. Diese Dramaturgien werden anhand ausgewählter Einspielungen vom Generellen ausgehend ins Besondere vertieft. Zusätzlich zu den hier abgebildeten Tabellen und Diagrammen finden sich weitere hierzu herangezogene visuelle Materialien auf einem eigens eingerichteten Online-Repositorium. 36

Revers, „Musik und Lyrik in Das Lied von der Erde“, in: Gustav Mahler: Lieder, hg. von Ulrich Tadday, München 2007 (= Musik-Konzepte 136), 85–112, hier 109. 34 Vgl. Arthur B. Wenk, „The Composer as Poet in ‚Das Lied von der Erde‘“, in: 19th-Century Music 1/1 (1977), 33–47; Lawrence Kramer, „‚As If a Voice Were in Them‘: Music, Narrative, and Deconstruction“, in: Music as Cultural Practice, 1800–1900, Berkeley 1990, 176–213, hier 202; Julian Johnson, Mahler’s Voices. Expression and Irony in the Songs and Symphonies, New York 2009, 14–17. 35 Vgl. Stefan Keym, „Mendelssohn und der langsame Schluss in der Instrumentalmusik des 19. Jahrhunderts“, in: Musiktheorie 24/1 (2009), 3–22, hier 5, 18–19; Siegfried Oechsle, Symphonik nach Beethoven. Studien zu Schubert, Schumann, Mendelssohn und Gade, Kassel 1992, 269–284; Thomas S. Grey, „‚Tableaux vivants‘: Landscape, History Painting, and the Visual Imagination in Mendelssohn’s Orchestral Music“, in: 19th-Century Music 21/1 (1997), 38–76, hier 55–57. 36 Die Materialien zu diesem Artikel umfassen Tabellen und Diagramme. Auf die Bereitstellung von Musikdateien und Sonic-Visualiser-Dateien wurde verzichtet. Die meisten der hier bespro-

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Von den 152 Gesamteinspielungen 37 (Tab. 2E) wurden im Anschluss an meine vorangehende Studie für insgesamt 96 Einspielungen (also für etwa zwei Drittel) die Spieldauern der sechs Sätze verglichen und in Diagrammen und Tabellen zusammengeführt, 38 für eine genauere Analyse der Makroform des Abschied wurden für 52 Einspielungen (also für etwa ein Drittel) auch die Dauern aller 26 Unterabschnitte des Satzes erhoben sowie für zwölf ausgewählte Aufnahmen Tempomessungen durchgeführt (vgl. 3b). 39 (Die Verteilung der analysierten Aufnahmen ist in chronologischer Hinsicht nicht ganz ausgeglichen, insbesondere wurde von jüngeren Aufnahmen nach 2000 nur eine kleinere Auswahl für die Detailanalyse herangezogen, vgl. Tab. 3.) chenen Aufnahmen sind über YouTube oder andere Online-Archive verfügbar. Nur eine Auswahl der Abbildungen wurde in die Druckausgabe aufgenommen. Für alle in elektronischer Form bereitgestellten Abbildungen werden die direkten Links angegeben. Die Materialien sind in einer Collection des Phaidra-Repositoriums der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz zusammengestellt und können unter http://phaidra.kug.ac.at/o:77612 (4.2.2019) sowohl einzeln als auch als Gesamtdatei (http://phaidra.kug.ac.at/o:77638) aufgerufen und heruntergeladen werden. Hier finden sich auch die in die Druckausgabe aufgenommenen Tabellen und Diagramme, zum Teil mit farblich hervorgehobenen Elementen. Abbildungen, die ausschließlich in diesem Online-Repositorium zu finden sind, werden im Folgenden mit dem Kürzel „E“ gekennzeichnet (z. B. Tabelle 2E). Das Studium der Tabellen und Diagramme am Bildschirm mit Hilfe der Zoom-Funktion wird empfohlen, da viele Details erst so erfassbar werden. Einige Tabellen und Diagramme sind für den Farbausdruck im A3-Format optimiert. 37 Grundlage der diskographischen Erhebung waren die vorliegenden Diskographien von Vincent Mouret, Gustav Mahler. A Complete Discography, http://gustavmahler.net.free.fr/daslied.html (28.1.2019), und Peter Fülöp, Mahler Discography, Toronto 2010, 222–236, 540–541. Fülöps Diskographie enthält auch die Dauern jedes einzelnen Satzes und die Gesamtdauer für jede Einspielung für die meisten Aufnahmen bis ins Jahr 2010. Für einzelne Sätze wurden Fülöps Messungen auf Grundlage meiner eigenen Messungen geringfügig angepasst. Fülöp aktualisierte die Diskographie im Katalog des Gustav Mahler Sound Archive (Budapest Music Center), http://info.bmc.hu/container/ download/MAHLER_WORK_CATALOGUE_RED_15_01.pdf (28.1.2019), 46–48, wobei hier für die nun zusätzlich erfassten Aufnahmen (inklusive jener seit 2010) keine Spieldauern erfasst wurden. Berücksichtigt wurden für die gegenwärtige Studie nur Gesamteinspielungen der originalen Orchesterfassung (darunter eine in tschechischer und eine in chinesischer Sprache), jedoch keine Einspielungen der Klavierfassung, der Kammerorchesterfassung oder einzelner Sätze. Eine Übersicht der 152 Gesamteinspielungen bietet Tabelle 2E (vgl. 3.1.). Es handelt sich hier um eine pragmatische Übersicht, nicht um eine kritische Diskographie, für die viele der Angaben von Mouret und Fülöp zu überprüfen wären. Insbesondere scheint der erweiterte Budapester Katalog Fülöps zahlreiche nicht veröffentlichte bzw. nicht kommerziell vertriebene Aufnahmen zu enthalten. 38 Es handelt sich hierbei lediglich um einen geringfügig erweiterten Korpus gegenüber dem im vierten Abschnitt von Utz, „Multivalent Form in Gustav Mahler’s Lied von der Erde“ zugrunde gelegten von 92 Aufnahmen (vgl. dort Diagramme 5 und 6). Die Darstellung der Diagramme 5 und 6 aus dem vorangehenden Artikel findet sich in den Diagrammen 3E/3E_2 und 4E erweitert zu 96 Aufnahmen auf dem Online-Repositorium (vgl. Anm. 36). 39 Für die Erhebung der Dauern wurde die in der Interpretationsforschung mittlerweile weit verbreitete Software Sonic Visualiser benutzt (vgl. https://www.sonicvisualiser.org [28.1.2019]). Zur Messung der Tempowerte vgl. Anmerkung 55.

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Tabelle 2E: Mahler, Das Lied von der Erde, 152 Gesamtaufnahmen 1936–2016.

Tabelle 2E_2: Mahler, Das Lied von der Erde, 152 Gesamtaufnahmen 1936–2016; Übersicht über die Anzahl der Aufnahmen pro Dirigenten (152 erfasste Aufnahmen) und pro Gesangssolist*in (117 erfasste Aufnahmen).40

40

Von besonderem Interesse sind dabei zunächst die absoluten Spieldauern des Abschied als auch das Verhältnis dieser Spieldauern zu den Dauern aller sechs Sätze in den jeweiligen Einspielungen. Diese Werte lassen eine erste grundsätzliche Einschätzung der zyklischen Dramaturgien zu. Beide Werte sind in den Diagrammen 1 und 2 und den Tabellen 3 und 4E kombiniert: Die schwarzen Punkte in Diagramm 1 geben die absolute Dauer des Abschied in einer Einspielung an (primäre Achse, links, Skala zwischen 22 und 35 Minuten), die grauen Quadrate die relative Dauer des Abschied innerhalb der Gesamtdauer der jeweiligen Einspielung (sekundäre Achse, rechts, Skala zwischen 43 und 51 %). Dabei wurden die beiden Werte im Diagramm so skaliert, dass sie sich bei den Extremwerten (Klemperer 1951 und Davis 1981) jeweils entsprechen (schwarzer Punkt und graues Quadrat liegen hier fast genau übereinander). Diagramm 1 und Tabelle 3 zeigen insgesamt zunächst eine erwartbare Tendenz zu langsameren Tempi im Verlauf der Interpretationsgeschichte. Nur fünf von insgesamt 34 gemessenen Aufnahmen (14,7 %) vor 1970 erreichen im Abschied eine Spieldauer von über 30 Minuten, während es nach 1970 27 von 62 gemessenen Aufnahmen sind (43,5 %). Die Tendenz ist auch an den Mittelwerten ablesbar (Tab. 3). Diagramm 2 bietet eine vereinfachte Kurvendarstellung der absoluten Dauern des Abschied und des gesamten Zyklus in chronologischer Folge. Das Diagramm 1 ermöglicht eine Kontextualisierung von Aufnahmen, in denen die absolute Dauer des Abschied und die Proportion dieses Satzes innerhalb der 40 Die ergänzende Tabelle 2E_2 bietet statistische Erhebungen der Anzahl der Einspielungen pro Dirigenten (152 erfasste Aufnahmen) und pro Gesangssolist*innen (117 erfasste Aufnahmen). Unter den Dirigenten (98 unterschiedliche Dirigenten) dominiert Bruno Walter (acht Aufnahmen) vor Lorin Maazel und Simon Rattle (je fünf Aufnahmen) sowie Leonard Bernstein, Carlo Maria Giulini und Herbert von Karajan (je vier Aufnahmen). Bei den Gesamteinspielungen (67 unterschiedliche Altsolistinnen bzw. Baritonsolisten und 70 unterschiedliche Tenorsolisten) dominieren Christa Ludwig (zehn Aufnahmen) vor Janet Baker, Kathleen Ferrier und Dietrich Fischer-Dieskau (je fünf Aufnahmen) sowie Richard Lewis (acht Aufnahmen) vor Siegfried Jerusalem, René Kollo und John Mitchinson (je fünf Aufnahmen). Die Statistik ist freilich nicht in jeder Hinsicht signifikant, da zum einen nicht für alle Aufnahmen die Solist*innen erfasst sind, zum anderen viele der von Fülöp verzeichneten Aufnahmen entweder gar nicht öffentlich vertrieben wurden (vgl. Anm. 37) oder (in mehreren Fällen) äußerst schwer zugänglich sind und somit als wenig relevant für die Interpretationsgeschichte eingestuft werden können (dies gilt etwa auch für drei der vier erfassten Karajan-Aufnahmen, unter ihnen fand nur die von 1974 eine relevante Verbreitung). Nichtsdestotrotz könnten gerade aus dem Vergleich der verschiedenen Deutungen des-/derselben Interpret*in faszinierende Studien zur Entwicklung einer Deutung, zum Teil über Jahrzehnte hinweg, konzipiert werden.

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S1972

H1972

B1966% B1972b% R1955% W1960b% J1963% K1966% S1977% N1971% G1974 S1958 M1960 O1966% Sw1958 S1969% G1974% O1966 J1963 K1967% R1958% J1973

B1956

K1954% B1956%

W1952b%

1950

K1948%

W1948

W1952a W1952b

R1959

Re1958

Sw1958%

R1958% W1960a%

R1959% K1959% R1955 Ro1958

W1953%

W1952c

W1952a%

W1948%

W1952c%

B1952 B1952%

Ka1970

S1967

S1967% Kei1964%

S1972% Ka1970%

W1991

S1992% L1992%

R1995%

R1995 S1992

A1984%

S1983%

N1983

B2001

B2001%

TT2007

TT2007%

Gr2002% S2005%

S2005

FD1996 M2000 Gi2002 B2003 B1999%

S1996

1990

N1990%

A1995

A1995%

H1994

G1992 N1990

I1988%

Ba1991

Be1991%

D1988%

W1991%

T1991

O1999

Gr2002

B2003%

A2011%

J2002

J2002%

2000

S1999%

Sim2006

2010

NBSy2016%

Sie2006% A2011 G1987 Gi2002% A2005% G1984% S1996% M2000% N2009% H1995 R2002% O1999% Be1991 T1984% A2005 FD1996% N2009 G1987% NWPh2016% S1983 Sim2006% A1984 B1999 I1988 G1992% R2002 NWPh2016 H1995% NBSy2016 H1994% N1983% S1999 Sie2006

G1984

T1984

L1992

Ba1991%

T1991%

D1988

R2008 R2008%

44

45

46

47

48

49

50

51

43 2020

Diagramm 1: Mahler, Das Lied von der Erde, Gesamtdauern des Abschied (linke Vertikalachse, Werte 22–35 Minuten, schwarze Punkte) und deren Proportion zur Gesamtdauer aller sechs Sätze (rechte Vertikalachse, Werte 43–51 %, graue Quadrate) in 96 Aufnahmen 1936–2016. [Verzeichnis der Kürzel in Tabelle 2E.] (http://phaidra.kug.ac.at/o:77617)

22:00 1930

24:00

26:00

28:00

30:00

32:00

34:00

D1981

D1981%

Form und Sinn in Gustav Mahlers Abschied

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22:53 22:38

0:50:20 Klemperer 1948/52

24:14

0:56:25 Swarowsky 1958 0:54:26 0:52:12 Šejna 1960

25:45

31:53

25:13

31:42

31:09

0:56:16 0:55:31 Raab 1973 Neumann 1971

34:52 31:21

32:57

Tennstedt 1984

32:11

Levine 1992 1:06:32

31:34

32:39

Gröhs 2002 Oue 1999 1:07:19 1:06:33

34:06

1:07:47

Runnicles 2008

Diagramm 2: Mahler, Das Lied von der Erde, Gesamtdauern aller sechs Sätze (oben) und Gesamtdauern des Abschied (unten) in 96 Aufnahmen 1936–2016, Kurvendiagramm; Mittelwerte gestrichelt. (http://phaidra.kug.ac.at/o:77618)

1936 1941 1946 1950 1952 1957 1959 1960 1964 1967 1970 1972 1973 1976 1979 1983 1986 1990 1992 1995 1997 2000 2002 2006 2010 2015

0:29:07

Dauer Abschied

1:01:32

Dauer Lied von der Erde gesamt

Davis 1981/88 Horenstein 1972 1:08:10 1:07:57 Kegel 1977 1:08:35 Karajan  1974 1:06:41 1:06:28 1:05:33

Christian Utz

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Max. (96)  über 1:00:00 (96)  (%)  0:59:17  0  0,0  0:58:24  0  0,0  1:03:49  9  60,0  1:06:15  8  57,1  1:07:57  16  84,2  1:08:35  8  88,9  1:06:33  14  82,4  1:07:47  9  64,3  1:02:28  3  100,0  1:08:35  67  69,8  1:03:49  9  45,0  1:06:15  17  50,0  1:08:35  50  80,6 

Tabelle 3: Mahler, Das Lied von der Erde, Gesamtdauern des Abschied und Gesamtdauer aller sechs Sätze in 96 Aufnahmen 1936–2016; Mittel-, Minimalund Maximalwerte pro Jahrzehnt; Anzahl und Proportion der erhobenen Dauernwerte für den Gesamtzyklus (gesamt 96) und den Abschied (gesamt 52) pro Jahrzehnt. (http://phaidra.kug.ac.at/o:77619)

Jahrzehnte  gesamt  Dauern  (%)  Analyse  (%)  Mittelwert Abschied (96)  Min. (96)  Max. (96)  über 30:00 (96)  (%)  Mittelwert gesamt (96)  Min. (96)  1930  2  2  100,0  2  100,0  27:46  26:52  28:41  0  0,0  0:58:11  0:57:05  1940  4  3  75,0  3  75,0  25:32  22:53  27:29  0  0,0  0:55:18  0:50:20  1950  18  15  83,3  8  44,4  28:14  22:38  30:47  2  13,3  1:00:00  0:52:12  1960  17  14  82,4  8  47,1  28:19  24:14  31:41  3  21,4  1:00:23  0:54:26  1970  28  19  67,9  9  32,1  29:46  25:13  32:07  10  52,6  1:02:54  0:55:31  1980  16  9  56,3  7  43,8  30:12  27:17  34:52  4  44,4  1:03:45  0:58:17  1990  25  17  68,0  8  32,0  29:31  27:18  32:11  8  47,1  1:02:16  0:58:33  2000  27  14  52,9  4  14,8  29:49  25:58  34:06  5  35,7  1:02:06  0:57:23  2010  15  3  20,0  3  20,0  28:51  28:15  29:52  0  0,0  1:01:14  1:00:33  gesamt  152  96  63,2  52  34,2  29:07  22:38  34:52  32  33,3  1:01:32  0:50:20  1936–59  24  20  83,3  13  54,2  27:47  22:38  30:47  2  10,0  0:59:07  0:50:20  1936–69  41  34  82,9  21  52,2  28:00  22:38  31:41  5  14,7  0:59:38  0:50:20  1970–2016  111  62  55,9  31  27,9  29:44  25:13  34:52  27  43,5  1:02:35  0:55:31 

Form und Sinn in Gustav Mahlers Abschied

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Gesamtdauer in besonders auffälliger Weise divergieren. Dort, wo die Proportion (graues Quadrat) im Diagramm deutlich oberhalb der absoluten Dauer (schwarzer Punkt) angeordnet ist, weist dies darauf hin, dass einige der anderen fünf Sätze überdurchschnittlich rasch genommen werden und somit die Kontrastwirkung zum Schlusssatz erhöht ist. Liegt umgekehrt das graue Quadrat deutlich unterhalb des korrespondierenden schwarzen Punkts, kann davon ausgegangen werden, dass einige der vorangehenden Sätze deutlich überdurchschnittliche Proportionen aufweisen. Hierzu kann auch Tabelle 4E herangezogen werden, in der die Dauern und Proportionen für jeden Satz in allen 96 Einspielungen verzeichnet sind (dabei sind die Werte nach einer Drei-Farben-Skala abgestuft und somit leicht einzuordnen), sowie die Diagramme 3E/3E_2 und 4E, die Dauern und Proportionen in sortierten Balkendiagrammen darstellen. http://phaidra.kug.ac.at/o:77620

http://phaidra.kug.ac.at/o:77621

Tabelle 4E: Mahler, Das Lied von der Erde, Dauern und Proportionen aller sechs Sätze in 96 Aufnahmen 1936–2016 (geringe Werte sind grün, mittlere Werte gelb, hohe Werte rot unterlegt).

Diagramm 3E: Mahler, Das Lied von der Erde, Dauern aller sechs Sätze in 96 Aufnahmen 1936– 2016 als sortiertes Balkendiagramm (sortiert nach Länge des sechsten Satzes).

http://phaidra.kug.ac.at/o:77622

http://phaidra.kug.ac.at/o:77623

Diagramm 3E_2: Mahler, Das Lied von der Erde, Dauern aller sechs Sätze in 96 Aufnahmen 1936–2016 als sortiertes Balkendiagramm (sortiert nach Länge des Gesamtzyklus).

Diagramm 4E: Mahler, Das Lied von der Erde, Proportionen aller sechs Sätze in 96 Aufnahmen 1936–2016 als sortiertes Balkendiagramm (sortiert nach Proportion des sechsten Satzes).

In der Zusammenschau dieser Darstellungen lässt sich die im vorangehenden Aufsatz getroffene Kategorisierung großformaler Interpretationskonzepte für den Zyklus der sechs Sätze des Lied von der Erde41 verfeinern: 1. Einer ‚klassischen‘ Finaldramaturgie scheinen jene Interpreten zu folgen, in deren Deutung der Abschied annähernd die Hälfte der Gesamtdauer oder mehr einnimmt (dies trifft zu für Szell 1967, Karajan 1970, Solti 1972 und Barenboim 1991 [über 49 %] sowie auf Davis 1981, Bertini 2003 und Runnicles 2008 [über 50 %]; auch Proportionen über 48 % [22 weitere Aufnahmen] sprechen im weiteren Sinn für diese Tendenz; Mittelwert 47,3 %). Diese starke Gewichtung des Finales kann nun vor allem durch zwei Faktoren profiliert werden: a. Finalform: Das Gewicht des Finales wird durch eine deutliche Kontrastdramaturgie zusätzlich betont, bei der, wie angedeutet, einige der vorangehenden 41 Vgl. Utz, „Multivalent Form in Gustav Mahler’s Lied von der Erde“, [4.].

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Sätze, insbesondere der unmittelbar dem Abschied vorangehende fünfte Satz (Der Trunkene im Frühling) deutlich verknappt werden; eine markante Kürze in der Proportion dieses fünften Satzes (7 % oder weniger; Mittelwert 7,1 %) bei einem korrespondierenden hohen Wert des sechsten Satzes (über 49 %) findet sich bei Szell 1967, Karajan 1970, Solti 1972, Davis 1981, Barenboim 1991, Bertini 2003 und Runnicles 2008. Alle Genannten zeigen auch im dritten Satz eine sehr niedrige Proportion (4,8 % oder weniger; Davis erreicht hier den Minimalwert von 3,9 %; Mittelwert 5,1 %), ebenso im vierten Satz (11,6 % oder weniger; Mittelwert 11,2 %). Die Aufnahmen Szell 1967, Davis 1981, Barenboim 1991 und Runnicles 2008 reduzieren dabei zusätzlich auch das Gewicht des ersten Satzes in auffälliger Weise (11 % bei Davis, auch hier der Minimalwert unter allen 96 Aufnahmen, 12,6 % bei den drei anderen Dirigenten; Mittelwert 13,7 %). b. Rahmenform: Das Finale wird durch eine relativ starke Gewichtung des langsamen zweiten Satzes oder durch eine als ‚doppelte Eröffnung‘ konzipierte starke Gewichtung beider Kopfsätze in einen großformalen Rahmen eingebunden. Davis 1981 kombiniert diese Strategie (in Bezug auf den zweiten Satz) mit der unter a. besprochenen Verkürzung des Kopfsatzes und der Binnensätze: Mit 16,3 % für den zweiten Satz liegt er relativ deutlich über dem Mittelwert von 15,5 % (die Dauer von 11:11 zählt dabei zu den langsamsten Aufnahmen). Unter den Aufnahmen, bei denen das Finale 48 % oder mehr aufweist, folgen noch Reiner 1958 und Haitink 1975 einer ähnlichen Dramaturgie. Die Variante mit ‚doppeltem Eröffnungssatz‘ ist am prononciertesten ausgeprägt bei Keilberth 1964, Karajan 1974, Tsutsumi 1991, Levine 1992 und Solti 1992 (hier liegen die ersten beiden Sätze bei insgesamt 28,6 % oder mehr [Mittelwert 29,3 %], das Finale bei 48,4 % oder mehr, vgl. Tab. 4E). 2. Besonders viele frühe Aufnahmen scheinen hingegen die Gewichtung des Finales bewusst vermeiden zu wollen, vermutlich nicht zuletzt motiviert durch eine neusachliche, ‚anti-sentimentalisierende‘ Absicht.42 Unter 45,5 % liegt die Proportion des Finales bei Rodzinski 1944, Klemperer 1951, Šejna 1960, Sebastian 1969, Raab 1973, Jiraček 1973, Asahina 1984, Nanut 1990, Asahina 1995 und Jordan 2002. In vielen Fällen korrespondiert damit ein sehr rasches absolutes Tempo (bzw. eine kurze Dauer); in den Aufnahmen von Rodzinski 1944, Klemperer 1951, Šejna 1960, Sebastian 1969, Raab 1973 und Jordan 2002 dauert der Abschied weniger als 26:30.43 Ebenso deutlich ist eine zum finalistischen Modell komplementäre stärkere Gewichtung von Sätzen der ersten Abteilung: Besonders gilt dies für den fünften Satz, der bei Rodzinski 1944, Klemperer 1951, Šejna 1960, 42 Vgl. ebd., [4.], Endnote 58. 43 Ebenfalls unter 27 Minuten bleiben Walter 1936, Klemperer 1948, Jochum 1963, Ormandy 1966, Kleiber 1967 und Neumann 1971, bei ihnen liegt die Proportion des Abschied dabei aber bei 45,5 % oder mehr, was auf ein insgesamt erhöhtes Tempo in den anderen Sätzen hinweist.

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Sebastian 1969, Jiraček 1973, Asahina 1984 und 1995 eine Proportion von 7,7 % oder mehr erreicht (Mittelwert 7,1 %). Bei nahezu allen Aufnahmen dieser Gruppe hat der vierte Satz eine auffallend kurze, unterdurchschnittliche Dauer (6:45 oder kürzer, bei einem Mittelwert von 6:55; Ausnahme ist Asahina 1995 mit 6:57). Eine Knappheit der Kopfsätze fällt vor allem in den beiden frühen KlempererAufnahmen auf (1948, 1951), 1948 erreicht Klemperer in derselben Aufnahme für beide Sätze die Minimaldauern unter allen 96 Aufnahmen (6:40 und 7:34), 1951 hingegen führt die Dauer von 9:00 im zweiten Satz (Mittelwert 9:34) – bedingt durch die Knappheit aller anderen Sätze – zu einer sehr hohen Proportion (17,2 %; identischer Wert bei Rosbaud 1958 und Bernstein 1966; Maximalwert 17,4 % bei Gröhs 2002). In beiden Klemperer-Aufnahmen sind die hohen Proportionen der Binnensätze 3 bis 5 auffallend. Im Fall von Klemperer 1951 liegt mithin die am explizitesten formulierte ‚anti-finalistische‘ Dramaturgie vor: In Bezug auf die Proportionen kontrastiert der unter allen Aufnahmen niedrigste Wert des Finales (43,4 %) mit einem der höchsten Werte für den zweiten Satz (17,2 %) und ebenfalls überdurchschnittlichen Werten für die Sätze 3 bis 5 (6,2/5,1 %, 12,2/11,2 % und 7,7/7,1 % 44). Die absoluten Dauern sind hingegen mit Ausnahme des zweiten und dritten Satzes (9:00/9:34 und 3:13/3:07) alle von auffallender Kürze, der Wert des Finales hat den niedrigsten Wert unter allen Aufnahmen (22:38/29:07). 3. Neben diesen betont finalistischen und anti-finalistischen Dramaturgien ergibt sich ein breites und wenig übersichtliches Zwischenfeld mit einer Tendenz zu standardisierten Werten. Klemperers Dramaturgie in der späten Aufnahme aus dem Jahr 1964/66 etwa spiegelt diese gegenüber seinen frühen Aufnahmen besonders auffallende Tendenz. Die berühmte Einspielung mit Christa Ludwig und Fritz Wunderlich lässt nur noch ganz leichte Anzeichen einer Straffung von Kopfsatz und Finale erkennen, was sich hier vor allem in der stärkeren Gewichtung der Sätze 3 und 4 niederschlägt (Proportionswerte: I: 12,8/13,7, II: 15,8/15,5, III: 5,7/5,1, IV: 12,0/11,2, V: 7,2/7,1, VI: 46,5/47,3, gesamt 63:23/61:32; im dritten Satz erreicht Klemperer den langsamsten Dauernwert aller Aufnahmen: 3:38). Vergleichbar im weitesten Sinn sind die Dramaturgien anderer berühmter Dirigenten wie Leonard Bernstein (1966: I: 12,7/13,7, II: 17,2/15,5, III: 4,6/5,1, IV: 12,3/11,2, V: 6,8/7,1, VI: 46,5/47,3; gesamt 66:15/61:32), Herbert von Karajan (1974: I: 13,4/13,7, II: 15,4/15,5, III: 5,1/5,1, IV: 11,1/11,2, V: 6,6/7,1, VI: 48,4/47,3; gesamt 65:33/61:32) oder Georg Solti (1992: I: 13,2/13,7, II: 15,6/15,5, III: 4,8/5,1, IV: 11,0/11,2, V: 7,1/7,1, VI: 48,4/47,3; gesamt 62:10/61:32). Deutlich wird dabei auch, neben der Vorbildwirkung, die solchen Aufnahmen zweifellos zukam, dass die bereits konstatierte allgemeine Tendenz der Verlangsamung seit den 1970er Jahren auch neue Möglichkeiten der Dramaturgie schaffte. 44 Hier und im Folgenden bezeichnen die Werte nach dem Querstrich die jeweiligen Mittelwerte.

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Festschrift Revers LAYOUT.indd 706 1  74,0  79,1  76,8  72,3  70,7  68,5  90,9  73,7  70,5  80,1  78,5  81,9  80,2  79,3  87,0  81,7  84,6  77,9  81,9  85,7  69,1  80,5  79,4  85,7  81,3  81,1  82,4  97,1  85,8  78,6  95,2  80,7  78,2  86,4  84,4  76,1  80,1  77,2  80,8  89,3  84,1  81,9  83,4  86,4  85,1  86,1  91,2  82,1  84,6  87,7  80,4  79,4  81,5  68,5  97,1  7,3 

%  4,6  4,6  4,9  4,4  5,1  5,0  4,9  4,3  4,1  4,7  4,3  4,8  4,5  4,5  5,3  4,6  4,6  4,9  4,4  4,8  4,4  4,5  4,5  4,5  4,5  4,3  4,6  5,1  4,6  4,2  4,6  4,7  4,8  4,8  4,5  4,5  4,7  4,3  4,6  4,6  4,7  4,7  4,6  4,7  4,9  4,8  5,1  4,5  4,9  4,9  4,7  4,7  4,6  4,1  5,3   

2  56,2  79,2  61,0  59,2  54,7  60,9  68,3  60,6  65,6  77,4  82,6  78,1  76,2  63,7  76,5  74,8  76,5  67,3  75,6  75,1  67,8  74,6  81,3  73,6  73,3  79,2  83,1  79,6  84,7  79,5  85,6  74,6  74,2  72,3  76,8  70,5  73,9  76,3  80,8  80,1  74,2  79,9  75,5  86,6  77,9  79,5  82,0  80,5  83,4  78,3  72,6  74,7  74,5  54,7  86,6  10,1 

%  3,5  4,6  3,9  3,6  4,0  4,5  3,7  3,6  3,8  4,6  4,5  4,5  4,3  3,6  4,7  4,2  4,2  4,2  4,1  4,2  4,3  4,1  4,6  3,8  4,1  4,2  4,7  4,2  4,5  4,3  4,1  4,4  4,5  4,0  4,1  4,1  4,3  4,3  4,6  4,2  4,1  4,6  4,2  4,8  4,5  4,5  4,6  4,4  4,8  4,4  4,3  4,4  4,2  3,5  4,8   

3  108,3  135,5  113,5  112,8  103,9  109,7  142,4  114,0  123,6  111,5  125,4  128,2  126,3  121,5  117,0  126,4  127,2  110,1  131,5  133,7  110,0  134,5  131,4  140,1  126,4  131,8  115,9  131,7  125,2  130,5  145,6  116,0  114,0  140,2  137,3  118,8  121,7  118,6  123,5  138,8  124,5  124,0  126,2  144,8  125,3  123,5  135,3  123,6  124,7  125,3  121,7  122,8  124,9  103,9  145,6  7,9 

%  6,7  7,9  7,2  6,8  7,6  8,1  7,7  6,7  7,2  6,6  6,9  7,5  7,1  7,0  7,1  7,1  7,0  6,9  7,1  7,6  6,9  7,4  7,4  7,3  7,0  6,9  6,5  6,9  6,7  7,0  7,0  6,8  7,0  7,7  7,3  7,0  7,1  6,7  7,0  7,2  6,9  7,1  7,0  7,9  7,3  6,9  7,5  6,8  7,2  7,0  7,2  7,2  7,1  6,5  8,1   

4  246,1  247,5  228,9  250,8  202,1  198,3  265,1  262,6  256,2  258,4  249,7  264,0  248,3  268,1  233,7  247,0  256,7  234,3  262,9  275,5  242,1  245,4  236,5  271,9  266,8  301,1  253,6  272,1  271,9  275,6  284,2  256,7  241,5  264,1  306,2  235,7  246,1  256,9  246,9  271,8  278,4  247,9  257,4  258,8  253,8  266,1  264,0  257,9  233,4  258,1  247,8  243,9  255,2  198,3  306,2  7,6 

%  15,3  14,4  14,5  15,2  14,7  14,6  14,4  15,5  14,9  15,3  13,7  15,3  14,0  15,3  14,2  13,8  14,1  14,6  14,2  15,6  15,3  13,6  13,4  14,2  14,8  15,8  14,2  14,3  14,5  14,8  13,6  15,0  14,8  14,5  16,3  13,8  14,4  14,4  14,0  14,1  15,4  14,1  14,2  14,2  14,7  14,9  14,7  14,2  13,4  14,4  14,6  14,3  14,5  13,4  16,3   

5  84,7  104,3  93,0  88,1  84,8  84,2  101,8  87,4  105,7  105,2  116,2  105,8  116,1  91,3  106,8  107,6  111,5  95,0  112,5  109,4  97,7  108,6  117,6  112,0  107,4  126,8  111,0  115,6  121,8  113,0  133,2  116,3  102,5  110,9  106,2  108,0  113,8  130,4  129,0  124,6  109,7  113,7  113,7  123,2  117,3  126,4  126,1  120,7  121,2  112,0  114,0  114,4  110,2  84,2  133,2  11,0 

%  5,3  6,1  5,9  5,3  6,2  6,2  5,5  5,2  6,1  6,2  6,4  6,1  6,5  5,2  6,5  6,0  6,1  5,9  6,1  6,2  6,2  6,0  6,7  5,9  6,0  6,7  6,2  6,1  6,5  6,1  6,4  6,8  6,3  6,1  5,6  6,3  6,6  7,3  7,3  6,5  6,1  6,5  6,3  6,8  6,8  7,1  7,0  6,6  7,0  6,2  6,7  6,7  6,3  5,2  7,3   

6  188,8  173,4  180,3  195,3  134,8  149,8  192,6  206,2  202,6  194,6  204,3  183,2  191,1  207,0  157,7  204,2  206,1  189,5  193,6  185,5  172,6  185,0  192,3  209,0  195,0  206,0  192,1  205,3  205,1  207,3  214,2  180,4  181,6  195,2  219,6  180,3  178,3  197,9  187,5  199,7  201,1  183,1  197,9  189,8  182,2  177,9  169,6  193,9  190,4  201,8  182,3  182,4  190,3  134,8  219,6  8,2 

%  11,7  10,1  11,5  11,8  9,8  11,0  10,4  12,1  11,8  11,5  11,2  10,6  10,8  11,8  9,6  11,4  11,3  11,8  10,5  10,5  10,9  10,2  10,9  10,9  10,8  10,8  10,8  10,8  11,0  11,1  10,2  10,5  11,1  10,7  11,7  10,6  10,4  11,1  10,7  10,3  11,1  10,4  10,9  10,4  10,6  10,0  9,4  10,6  10,9  11,3  10,8  10,7  10,8  9,4  12,1   

7  32,8  41,2  30,7  31,8  32,8  28,2  39,5  34,2  35,2  34,2  38,8  37,4  41,6  34,3  38,7  41,2  41,8  34,6  38,6  44,9  33,7  44,0  32,3  41,2  40,7  42,9  42,6  43,9  33,3  40,4  40,3  35,4  30,1  38,6  39,4  36,8  32,7  37,7  34,2  39,2  36,7  35,1  40,0  48,1  36,3  39,3  40,2  39,0  39,2  37,2  35,0  36,3  37,6  28,2  48,1  11,0 

%  2,0  2,4  2,0  1,9  2,4  2,1  2,1  2,0  2,0  2,0  2,1  2,2  2,3  2,0  2,4  2,3  2,3  2,2  2,1  2,5  2,1  2,4  1,8  2,2  2,3  2,3  2,4  2,3  1,8  2,2  1,9  2,1  1,8  2,1  2,1  2,2  1,9  2,1  1,9  2,0  2,0  2,0  2,2  2,6  2,1  2,2  2,2  2,1  2,3  2,1  2,1  2,1  2,1  1,8  2,6   

8  303,9  334,8  290,4  296,8  244,4  227,6  361,4  311,4  278,9  283,5  314,5  296,9  323,8  325,0  304,7  323,4  300,3  297,3  326,2  313,7  273,3  352,1  325,2  365,8  307,2  316,5  333,7  360,8  321,8  309,2  393,6  317,8  275,9  332,1  326,1  309,5  295,6  298,3  311,5  344,7  305,2  311,4  343,9  331,9  299,2  338,4  338,6  332,9  322,1  311,6  299,0  291,4  314,5  227,6  393,6  9,1 

%  18,9  19,5  18,5  18,0  17,8  16,8  19,6  18,3  16,2  16,8  17,3  17,3  18,2  18,6  18,5  18,1  16,5  18,5  17,6  17,7  17,2  19,5  18,4  19,1  17,0  16,6  18,8  19,0  17,2  16,6  18,8  18,6  16,9  18,3  17,3  18,1  17,2  16,8  17,7  17,9  16,9  17,8  19,0  18,2  17,3  19,0  18,8  18,3  18,5  17,4  17,6  17,1  17,9  16,2  19,6   

9  88,8  101,3  92,4  86,4  86,6  84,8  109,0  92,6  89,1  108,0  109,4  91,5  105,9  89,5  114,6  108,5  108,0  93,7  107,0  104,0  94,3  115,8  110,7  114,9  105,0  113,1  109,7  113,9  113,6  118,5  132,4  100,9  100,2  104,5  109,9  113,7  105,1  107,4  105,8  122,7  106,7  109,6  108,4  108,2  99,1  108,9  110,3  113,7  106,4  108,1  106,9  106,4  105,3  84,8  132,4  9,3 

%  5,5  5,9  5,9  5,2  6,3  6,2  5,9  5,5  5,2  6,4  6,0  5,3  6,0  5,1  7,0  6,1  5,9  5,8  5,8  5,9  5,9  6,4  6,3  6,0  5,8  5,9  6,2  6,0  6,1  6,4  6,3  5,9  6,1  5,7  5,8  6,7  6,1  6,0  6,0  6,4  5,9  6,2  6,0  5,9  5,7  6,1  6,1  6,2  6,1  6,0  6,3  6,2  6,0  5,1  7,0   

10  168,2  180,8  159,8  171,0  150,0  144,3  197,7  167,9  170,7  162,7  191,8  203,5  184,8  178,4  179,3  204,7  202,9  158,6  213,0  188,7  165,9  191,1  189,9  217,5  205,6  193,9  185,9  205,3  203,2  211,5  234,4  172,2  180,7  202,1  199,0  190,7  185,7  184,9  185,4  217,8  183,2  196,7  185,1  195,8  178,2  181,2  194,4  181,6  182,7  186,2  182,6  190,3  187,3  144,3  234,4  9,4 

%  10,4  10,5  10,2  10,4  10,9  10,6  10,7  9,9  9,9  9,6  10,5  11,8  10,4  10,2  10,9  11,5  11,1  9,9  11,5  10,7  10,5  10,6  10,7  11,4  11,4  10,2  10,4  10,8  10,9  11,3  11,2  10,1  11,0  11,1  10,6  11,2  10,8  10,4  10,5  11,3  10,2  11,2  10,2  10,7  10,3  10,2  10,8  10,0  10,5  10,4  10,8  11,2  10,7  9,6  11,8   

11  73,2  74,0  74,6  84,1  67,2  64,3  79,3  80,4  84,5  78,0  92,5  77,2  81,6  80,8  71,2  80,2  86,0  69,2  86,7  82,5  74,4  80,4  72,0  86,0  87,8  101,2  81,0  87,4  91,5  91,8  94,4  76,4  81,4  81,1  86,3  78,6  81,2  88,1  78,6  84,6  92,3  78,8  86,4  90,8  76,0  77,0  81,9  76,3  72,1  78,5  77,2  78,7  81,1  64,3  101,2  9,0 

%  4,5  4,3  4,7  5,1  4,9  4,7  4,3  4,7  4,9  4,6  5,1  4,5  4,6  4,6  4,3  4,5  4,7  4,3  4,7  4,7  4,7  4,4  4,1  4,5  4,9  5,3  4,6  4,6  4,9  4,9  4,5  4,5  5,0  4,5  4,6  4,6  4,7  5,0  4,5  4,4  5,1  4,5  4,8  5,0  4,4  4,3  4,6  4,2  4,1  4,4  4,6  4,6  4,6  4,1  5,3   

12  83,2  73,9  72,9  86,9  58,8  60,8  81,7  92,6  94,1  81,1  85,7  75,5  81,9  91,5  67,2  76,6  93,4  77,9  85,4  72,3  77,1  82,2  83,1  90,2  80,9  83,1  84,2  81,4  90,5  88,0  95,3  75,7  73,6  71,6  79,8  68,8  72,7  84,7  75,6  89,1  85,3  77,5  83,0  83,4  79,9  77,8  69,5  87,6  76,4  84,6  74,5  79,1  80,4  58,8  95,3  9,9 

%  5,2  4,3  4,6  5,3  4,3  4,5  4,4  5,5  5,5  4,8  4,7  4,4  4,6  5,2  4,1  4,3  5,1  4,9  4,6  4,1  4,9  4,5  4,7  4,7  4,5  4,4  4,7  4,3  4,8  4,7  4,6  4,4  4,5  3,9  4,2  4,0  4,2  4,8  4,3  4,6  4,7  4,4  4,6  4,6  4,6  4,4  3,9  4,8  4,4  4,7  4,4  4,6  4,6  3,9  5,5   

13  103,6  96,5  99,5  113,8  82,5  76,3  117,2  113,9  147,5  114,7  129,9  97,0  119,3  116,9  90,9  108,8  128,1  98,7  134,9  97,9  107,7  113,5  115,8  105,0  125,2  125,3  104,4  108,3  120,4  121,9  143,7  109,4  103,0  120,1  110,1  117,9  126,9  120,4  119,9  128,1  122,8  113,4  112,9  74,3  116,2  101,5  94,7  132,5  103,4  122,2  100,9  106,8  112,2  74,3  147,5  13,3 

%  6,4  5,6  6,3  6,9  6,0  5,6  6,3  6,7  8,6  6,8  7,1  5,6  6,7  6,7  5,5  6,1  7,0  6,2  7,3  5,5  6,8  6,3  6,6  5,5  6,9  6,6  5,9  5,7  6,4  6,5  6,9  6,4  6,3  6,6  5,9  6,9  7,4  6,8  6,8  6,6  6,8  6,5  6,2  4,1  6,7  5,7  5,3  7,3  5,9  6,8  6,0  6,3  6,4  4,1  8,6   

gesamt  26:52  28:41  26:14  27:29  22:53  22:38  30:47  28:18  28:44  28:10  30:19  28:40  29:37  29:07  27:25  29:45  30:23  26:44  30:50  29:29  26:26  30:08  29:27  31:53  30:03  31:42  29:39  31:42  31:09  31:06  34:52  28:32  27:17  30:19  31:21  28:25  28:34  29:39  29:19  32:11  30:04  29:13  30:14  30:22  28:46  29:44  29:58  30:22  29:00  29:52  28:15  28:26  29:15  22:38  34:52                                                                                                                 

1–7  13:11  14:20  13:04  13:30  11:24  11:40  15:01  13:59  14:19  14:22  14:55  14:38  14:40  14:25  13:37  14:43  15:04  13:29  14:57  15:10  13:13  14:33  14:31  15:34  14:51  16:09  14:41  15:45  15:28  15:25  16:38  14:20  13:42  15:08  16:10  13:46  14:07  14:55  14:43  15:44  15:09  14:26  14:54  15:38  14:38  14:59  15:08  14:58  14:37  15:00  14:14  14:14  14:34  11:24  16:38 

%  49,1  50,0  49,8  49,1  49,8  51,5  48,8  49,4  49,8  51,0  49,2  51,1  49,5  49,5  49,7  49,5  49,6  50,4  48,5  51,4  50,0  48,3  49,3  48,8  49,4  50,9  49,5  49,7  49,6  49,6  47,7  50,2  50,2  49,9  51,6  48,4  49,4  50,3  50,2  48,9  50,4  49,4  49,3  51,5  50,8  50,4  50,5  49,3  50,4  50,3  50,4  50,0  49,8  47,7  51,6 

8–13  13:41  14:21  13:10  13:59  11:30  10:58  15:46  14:19  14:25  13:48  15:24  14:02  14:57  14:42  13:48  15:02  15:19  13:15  15:53  14:19  13:13  15:35  14:57  16:19  15:12  15:33  14:59  15:57  15:41  15:41  18:14  14:12  13:35  15:12  15:11  14:39  14:27  14:44  14:37  16:27  14:55  14:47  15:20  14:44  14:09  14:45  14:49  15:25  14:23  14:51  14:01  14:13  14:41  10:58  18:14 

%  50,9  50,0  50,2  50,9  50,2  48,5  51,2  50,6  50,2  49,0  50,8  48,9  50,5  50,5  50,3  50,5  50,4  49,6  51,5  48,6  50,0  51,7  50,7  51,2  50,6  49,1  50,5  50,3  50,4  50,4  52,3  49,8  49,8  50,1  48,4  51,6  50,6  49,7  49,8  51,1  49,6  50,6  50,7  48,5  49,2  49,6  49,5  50,7  49,6  49,7  49,6  50,0  50,2  48,4  52,3 

Tabelle 5: Mahler, Das Lied von der Erde, VI. Der Abschied, Dauern und Proportionen der großformalen Abschnitte [1]–[13] in 52 Aufnahmen 1936–2016 (im Druck sind geringe Werte weiß/hellgrau, hohe Werte dunkelgrau unterlegt; in der elektronischen Fassung kommt dieselbe Grün-Gelb-Rot-Skala wie in Tabelle 4E zur Anwendung; dasselbe Prinzip wird für alle folgenden Tabellen beibehalten, die abgestufte Werte enthalten). (http://phaidra.kug.ac.at/o:77624)

 

Walter 1936  Schuricht 1939  Rodzinsky 1944  Walter 1948  Klemperer 1948  Klemperer 1951  Barbirolli 1952  Walter 1952a  Rosbaud 1955  Beinum 1956  Reiner 1958  Kletzki 1959  Reiner 1959  Walter 1960b  Maazel 1960  Keilberth 1964  Krips 1964  Ormandy 1966  Bernstein 1966  Klemperer 1966  Kleiber 1967  Szell 1970  Kubelik 1970  Horenstein 1972  Bernstein 1972a  Solti 1972  Karajan 1972  Karajan 1974  Haitink 1975  Leppard 1977  Davis 1981  Sanderling 1983  Neumann 1983  Giulini 1984  Tennstedt 1984  Asahina 1984  Inbal 1988  Barenboim 1991  Bertini 1991  Levine 1992  Solti 1992  Haitink 1995  Rattle 1995  Sinopoli 1996  Boulez 1999  Maazel 2000  Gielen 2002  Tilson‐Thomas 2007  Nagano 2009  Abbado 2011  Nott BambSym 2016  Nott WPhil 2016  Mittelwert  Minimum  Maximum  Standardabw. (%) 

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Unter den 14 Aufnahmen, die insgesamt länger als 65 Minuten dauern,45 fällt dabei zunächst Horenstein 1972 auf, insofern er in allen sechs Sätzen deutlich überdurchschnittliche absolute Dauernwerte erreicht, die Dehnung des Tempos also ein allgemeines Grundkonzept seiner Interpretationsästhetik ist (das von Adorno und Wollschläger positiv hervorgehoben wurde 46), ohne dass damit ein finalistischer oder anti-finalistischer Impuls verbunden wäre: Die Proportionen bleiben weitgehend in einem mittleren Bereich; auffallend ist allein die extrem langsame Deutung des fünften Satzes (mit 5:08 [7,6 %] die langsamste aller untersuchten Aufnahmen). Die Dehnung der Gesamtdauer kommt daneben in fast allen der 14 Aufnahmen durch die oben unter 1b besprochene Rahmung der langsamen Sätze 2 und 6 zustande (in diesen Aufnahmen dauert der Abschied 31:09/29:07 oder länger, der zweite Satz 9:56/9:34 oder länger). Man kann also im Herausstellen des „Adagio-Charakters“ der Sätze 2 und 6 auch ein prägendes übergreifendes Charakteristikum der Mahler-Interpretation seit den 1970er Jahren erkennen. 3b. Divergenzen und Konvergenzen in Interpretationen des Abschied Wenn nun der Blick genauer auf den Korpus von 52 Aufnahmen des Abschied gerichtet wird, so sollen dabei vor allem zwei Aspekte im Vordergrund stehen: zum einen die Frage in welch unterschiedlicher Weise das bei aller Analogie der beiden formalen Rotationen doch kaleidoskopartig wirkende Formprinzip dieses Satzes durch die Interpretation formal gedeutet und gewichtet werden kann, zum anderen die Frage nach einer ‚Übersetzung‘ der eingangs beschriebenen Tendenz des Abschied zu Zerfall, Fragment und einer aus radikalisierter Polyphonie resultierenden Klangtextur. Lassen sich vor dem Hintergrund dieser beiden Aspekte konkretere Kriterien einer ‚gelungenen‘ Interpretation von Mahlers Spätwerk eingrenzen? Beginnen wir auch hier zunächst aus der Vogelperspektive mittels der aus den Dauernmessungen gewonnenen Tabellen und Diagramme. Die Tabellen 5 und 6E bieten einen Überblick über die Dauern und Proportionen (in Bezug auf die Gesamtdauer des Satzes) der Formabschnitte in den 52 Aufnahmen; diese sind auch als Kurvendiagramme in den Diagrammen 5E/5E_2 (Dauern) und 6E/6E_2 (Proportionen) erfasst. Tabelle 5 und Diagramme 5E und 6E umfassen dabei die großformalen Abschnitte [1]–[13], die Tabelle 6E und Diagramme 5E_2 und 6E_2 sämtliche 26 Unterabschnitte. Tabelle 7 fasst für jede Aufnahme die gesamten Proportionen der 45 Bernstein 1966; Karajan 1970; Horenstein 1972; Karajan 1974; Kempe 1975; Kegel 1977; Davis 1981; Tennstedt 1984; Davis 1988; Levine 1992; Oue 1999; Gröhs 2002; Shui 2005; Runnicles 2008. 46 „In einer Probe 1960 in Wien ließ Jascha Horenstein die zweite Durchführung [des ersten Satzes der Neunten Symphonie] von den Symphonikern einmal in Zeitlupe spielen, um das Geflecht der sich dissoziierenden Streicherstimmen technisch zu kontrollieren –: im gleichen Augenblick hatten Adorno und ich dabei die Vorstellung: daß es so klingen müßte, wenn es so noch klingen könnte.“ (Wollschläger, „Die Schlamperei der Tradition“, 69–70.) Vgl. Utz, „Multivalent Form in Gustav Mahler’s Lied von der Erde“, [1.].

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Trauermarsch  Rezitative  Lied  Arie  [1],[3],[7],[8],[10]  [2],[5],[9]   [4],[11]  [6],[12],[13]  Walter 1936  40,6  14,2  19,8  25,3  Schuricht 1939  42,4  16,5  18,7  22,4  Rodzinsky 1944  40,7  15,7  19,3  24,4  Walter 1948  39,6  14,2  20,3  25,9  Klemperer 1948  41,4  16,5  19,6  22,5  Klemperer 1951  40,5  16,9  19,3  23,2  Barbirolli 1952  42,9  15,1  18,6  23,3  Walter 1952a  39,3  14,2  20,2  26,3  Rosbaud 1955  37,3  15,1  19,8  27,8  Beinum 1956  37,8  17,2  19,9  25,1  Reiner 1958  39,0  16,9  18,8  25,2  Kletzki 1959  41,3  16,0  19,8  22,8  Reiner 1959  40,2  16,8  18,6  24,4  Walter 1960b  40,3  14,0  20,0  25,7  Maazel 1960  41,8  18,1  18,5  21,5  Keilberth 1964  41,2  16,3  18,3  24,1  Krips 1964  39,2  16,2  18,8  25,7  Ormandy 1966  40,1  16,0  18,9  25,0  Bernstein 1966  40,7  15,9  18,9  24,5  Klemperer 1966  40,8  16,3  20,2  22,6  Kleiber 1967  39,0  16,4  20,0  24,7  Szell 1970  41,9  16,5  18,0  23,5  Kubelik 1970  41,1  17,5  17,5  24,0  Horenstein 1972  42,3  15,7  18,7  23,3  Bernstein 1972a  40,0  15,9  19,7  24,5  Solti 1972  38,0  16,8  21,2  24,0  Karajan 1972  40,3  17,1  18,8  23,8  Karajan 1974  41,8  16,3  18,9  23,1  Haitink 1975  39,4  17,1  19,4  24,0  Leppard 1977  39,1  16,7  19,7  24,5  Davis 1981  41,5  16,8  18,1  23,6  Sanderling 1983  40,1  17,0  19,5  23,4  Neumann 1983  39,6  16,9  19,7  23,7  Giulini 1984  41,8  15,8  19,0  23,4  Tennstedt 1984  39,7  15,6  20,9  23,9  Asahina 1984  40,8  17,1  18,4  23,7  Inbal 1988  39,8  17,1  19,1  24,0  Barenboim 1991  38,2  17,7  19,4  24,8  Bertini 2001  39,9  17,9  18,5  23,7  Gielen 1992  42,2  17,7  19,2  20,8  Solti 1992  38,6  16,1  20,5  24,7  Levine 1992  41,0  17,0  18,5  23,6  Haitink 1995  40,7  17,3  18,6  23,3  Rattle 1995  40,7  16,4  19,0  23,9  Sinopoli 1996  41,7  17,5  19,2  21,7  Boulez 1999  39,8  17,0  19,1  24,0  Maazel 2000  40,9  17,7  19,2  22,2  Tilson‐Thomas 2007  39,5  17,3  18,3  24,9  Nagano 2009  41,0  17,9  17,6  23,5  Abbado 2011  39,7  16,7  18,8  24,9  Nott WPhil 2016  40,1  17,3  18,9  23,7  Nott BambSym 2016  40,3  17,3  19,2  23,2  Mittelwert  40,3  16,5  19,2  24,0  Minimum  37,3  14,0  17,5  20,8  Maximum  42,9  18,1  21,2  27,8  Standardabw. (%)  3,0  5,9  4,0  5,1 

Tabelle 7: Mahler, Das Lied von der Erde, VI. Der Abschied, Proportionen der vier Form-Charaktere Trauermarsch (Abschnitte [1],[3],[7],[8],[10]), Rezitativ ([2],[5],[9]), Lied ([4],[11]) und ‚Arie‘ ([6],[12],[13]). (http://phaidra.kug.ac.at/o:77630)

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vier grundlegenden Form-Charaktere Trauermarsch (Abschnitte [1],[3],[7],[8],[10]), Rezitativ ([2],[5],[9]), Lied ([4],[11]) und ‚Arie‘ ([6],[12],[13]) zusammen.

http://phaidra.kug.ac.at/o:77625 Tabelle 6E: Mahler, Das Lied von der Erde, VI. Der Abschied, Dauern und Proportionen der 26 Unterabschnitte in 52 Aufnahmen 1936–2016.

http://phaidra.kug.ac.at/o:77626

http://phaidra.kug.ac.at/o:77627

Diagramm 5E: Mahler, Das Lied von der Erde, VI. Der Abschied, Dauern der 13 Abschnitte in 52 Aufnahmen 1936–2016 als Kurvendiagramm (Mittelwert schwarz gestrichelt) (vgl. Tabelle 5).

Diagramm 5E_2: Mahler, Das Lied von der Erde, VI. Der Abschied, Dauern der 26 Unterabschnitte in 52 Aufnahmen 1936–2016 als Kurvendiagramm (Mittelwert schwarz gestrichelt) (vgl. Tabelle 6E).

http://phaidra.kug.ac.at/o:77628

http://phaidra.kug.ac.at/o:77629

Diagramm 6E: Mahler, Das Lied von der Erde, VI. Der Abschied, Proportionen der 13 Abschnitte in 52 Aufnahmen 1936–2016 als Kurvendiagramm (Mittelwert schwarz gestrichelt) (vgl. Tabelle 5).

Diagramm 6E_2: Mahler, Das Lied von der Erde, VI. Der Abschied, Proportionen der 26 Unterabschnitte in 52 Aufnahmen 1936–2016 als Kurvendiagramm (Mittelwert schwarz gestrichelt) (vgl. Tabelle 6E).

„Die Rezitative im letzten Satz so expressiv wie die Hauptthemen – dadurch die ganze Form verfehlt.“47 Mit dieser gegen Bruno Walters Aufnahme des Lied von der Erde aus dem Jahr 1952 gerichteten Notiz aus dem Umfeld seiner Reproduktionstheorie bezieht sich Adorno indirekt auch auf die bereits oben (vgl. 2.) angesprochene gegen Walter gerichtete These, eine dem ‚Sinn‘ musikalischer Notation adäquate Interpretation müsse ein äußerst f lexibles Tempo aufweisen, in dem „niemals auch nur 2 Schläge einander chronometrisch gleich sein“ sollen. Gerade in Bezug auf die Form des Abschied scheint es legitim, daraus auch die Forderung nach einer auf das Tempo bezogenen Differenzierung der dominierenden formalen Charaktere Trauermarsch und Rezitativ abzuleiten, auch wenn unklar ist, welches Tempo der in den Rezitativen [2] und [9] geforderte nicht-expressive, ‚narrative‘ Charakter tatsächlich erfordert (ein dem Sprechen angenähertes zügiges Tempo scheint diesem Charakter zunächst durchaus adäquat). Als ‚Achsen‘ des formalen Verlaufs im Abschied können insgesamt die Trauermarschabschnitte zu Beginn beider Rotationen [1]/[3] und [8]/[10] gelten, jeweils unterbrochen von einem ‚narrativen‘ Rezitativ [2]/[9], sowie die entwicklungsartige Tendenz 47 Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, 191.

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[2]  11,1  5,6  10,2  4,6  12,0  7,4  5,9  8,9  5,0  1,7  5,0  6,7  5,1  6,2  8,5  5,3  8,1  ‐0,9  2,0  3,8  1,7  1,9  0,9  0,1  0,1  0,2  2,9  2,2  1,0  ‐4,1  ‐0,6  ‐2,0  ‐0,3  0,0  3,4  ‐2,3  ‐1,2  0,6  ‐0,4  4,7  3,6  ‐6,2  ‐6,8  ‐7,2  ‐9,0  ‐10,8  ‐13,5  ‐13,9  ‐15,3  ‐18,4  ‐13,6  ‐19,9 

[5.2]  14,7  8,8  11,8  13,8  9,3  11,7  8,3  11,6  12,4  16,6  1,0  4,8  3,1  9,9  3,5  5,2  2,4  1,5  ‐2,3  0,9  4,7  2,3  3,0  5,7  ‐5,2  0,8  ‐1,9  ‐4,1  ‐0,3  ‐2,0  1,6  0,7  ‐0,9  3,8  2,0  0,8  ‐3,0  ‐4,5  ‐3,6  ‐11,5  ‐0,9  ‐9,9  ‐3,6  ‐9,3  ‐3,7  ‐11,4  ‐12,7  ‐14,9  ‐15,6  ‐17,1  ‐18,0  ‐20,2 

[9]  Summe  Standardabw.        27,1  52,9  8,4     Sinopoli 1996  17,4  31,8  6,1     Davis 1981  8,3  30,3  1,8     Haitink 1975  7,7  26,2  4,7     Nagano 2009  2,9  24,3  4,7     Karajan 1972  5,0  24,2  3,4     Reiner 1958  8,4  22,6  1,4     Gielen 2002  1,1  21,6  5,4     Kubelik 1970  3,6  21,0  4,7     Bertini 1991  2,1  20,5  8,5     Tilson‐Thomas 2007  13,2  19,2  6,2     Levine 1992  5,4  16,9  1,0     Haitink 1995  8,6  16,8  2,8     Karajan 1974  0,5  16,7  4,7     Maazel 2000  4,4  16,4  2,7     Leppard 1977  4,2  14,7  0,6     Schuricht 1939  4,1  14,5  2,9     Solti 1972  9,6  10,2  5,5     Abbado 2011  9,3  9,0  5,8     Kletzki 1959  2,8  7,6  1,5     Boulez 1999  0,6  7,0  2,1     Beinum 1956  2,7  7,0  0,4     Tennstedt 1984  3,1  6,9  1,2     Maazel 1960  1,1  6,9  3,0     Krips 1964  10,5  5,4  8,0     Barenboim 1991  3,2  4,3  1,6     Reiner 1959  2,7  3,7  2,7     Bernstein 1966  4,6  2,8  4,5     Rattle 1995  1,7  2,4  1,0     Klemperer 1966  8,4  2,3  6,7     Keilberth 1964  ‐0,2  0,8  1,2     Nott WPhil 2016  1,5  0,3  1,8     Szell 1970  1,4  0,1  1,2     Sanderling 1983  ‐4,4  ‐0,6  4,1     Solti 1992  ‐6,2  ‐0,8  5,2     Neumann 1983  ‐0,9  ‐2,3  1,5     Inbal 1988  ‐0,3  ‐4,5  1,4     Horenstein 1972  ‐1,3  ‐5,2  2,6     Bernstein 1972a  ‐5,1  ‐9,0  2,4     Nott BambSym 2016  ‐4,0  ‐10,9  8,1     Giulini 1984  ‐13,8  ‐11,2  9,0     Asahina 1984  3,7  ‐12,4  7,0     Barbirolli 1952  ‐11,0  ‐21,4  3,7     Kleiber 1967  ‐11,6  ‐28,2  2,2     Ormandy 1966  ‐16,2  ‐28,9  6,3     Rosbaud 1955  ‐15,8  ‐38,1  2,7     Walter 1960b  ‐12,9  ‐39,1  0,4     Rodzinsky 1944  ‐12,7  ‐41,5  1,1     Klemperer 1951  ‐18,9  ‐49,8  2,0     Walter 1952a  ‐16,5  ‐52,1  0,9     Walter 1948  ‐20,5  ‐52,2  3,5     Walter 1936  ‐18,8  ‐58,8  0,7     Klemperer 1948 

[2]  12,0  11,1  10,2  8,9  8,5  8,1  7,4  6,7  6,2  5,9  5,6  5,3  5,1  5,0  5,0  4,7  4,6  3,8  3,6  3,4  2,9  2,2  2,0  1,9  1,7  1,7  1,0  0,9  0,6  0,2  0,1  0,1  0,0  ‐0,3  ‐0,4  ‐0,6  ‐0,9  ‐1,2  ‐2,0  ‐2,3  ‐4,1  ‐6,2  ‐6,8  ‐7,2  ‐9,0  ‐10,8  ‐13,5  ‐13,6  ‐13,9  ‐15,3  ‐18,4  ‐19,9 

[5.2]  9,3  14,7  11,8  11,6  3,5  2,4  11,7  4,8  9,9  8,3  8,8  5,2  3,1  12,4  1,0  ‐11,5  13,8  0,9  ‐0,9  2,0  ‐1,9  ‐4,1  ‐2,3  2,3  16,6  4,7  ‐0,3  3,0  ‐4,5  0,8  5,7  ‐5,2  3,8  ‐0,9  ‐3,6  1,6  1,5  ‐3,0  0,7  0,8  ‐2,0  ‐9,9  ‐3,6  ‐9,3  ‐3,7  ‐11,4  ‐12,7  ‐18,0  ‐14,9  ‐15,6  ‐17,1  ‐20,2 

[9]  Summe        2,9  24,3     Barenboim 1991  27,1  52,9     Davis 1981  8,3  30,3     Solti 1972  1,1  21,6     Maazel 2000  4,4  16,4     Haitink 1975  4,1  14,5     Gielen 2002  5,0  24,2     Nagano 2009  5,4  16,9     Bertini 1991  0,5  16,7     Sinopoli 1996  8,4  22,6     Levine 1992  17,4  31,8     Tilson‐Thomas 2007  4,2  14,7     Nott WPhil 2016  8,6  16,8     Haitink 1995  3,6  21,0     Kubelik 1970  13,2  19,2     Reiner 1959  ‐4,0  ‐10,9     Sanderling 1983  7,7  26,2     Karajan 1972  2,8  7,6     Karajan 1974  ‐13,8  ‐11,2     Rattle 1995  ‐6,2  ‐0,8     Reiner 1958  2,7  3,7     Krips 1964  4,6  2,8     Boulez 1999  9,3  9,0     Inbal 1988  2,7  7,0     Horenstein 1972  2,1  20,5     Leppard 1977  0,6  7,0     Abbado 2011  1,7  2,4     Keilberth 1964  3,1  6,9     Giulini 1984  ‐1,3  ‐5,2     Nott BambSym 2016  3,2  4,3     Bernstein 1966  1,1  6,9     Solti 1992  10,5  5,4     Kletzki 1959  ‐4,4  ‐0,6     Beinum 1956  1,4  0,1     Asahina 1984  ‐5,1  ‐9,0     Maazel 1960  ‐0,2  0,8     Bernstein 1972a  9,6  10,2     Neumann 1983  ‐0,3  ‐4,5     Kleiber 1967  1,5  0,3     Rosbaud 1955  ‐0,9  ‐2,3     Tennstedt 1984  8,4  2,3     Klemperer 1966  3,7  ‐12,4     Szell 1970  ‐11,0  ‐21,4     Ormandy 1966  ‐11,6  ‐28,2     Barbirolli 1952  ‐16,2  ‐28,9     Walter 1960b  ‐15,8  ‐38,1     Schuricht 1939  ‐12,9  ‐39,1     Rodzinsky 1944  ‐20,5  ‐52,2     Walter 1952a  ‐12,7  ‐41,5     Walter 1948  ‐18,9  ‐49,8     Walter 1936  ‐16,5  ‐52,1     Klemperer 1951  ‐18,8  ‐58,8     Klemperer 1948 

[2]  1,7  11,1  4,6  5,0  10,2  7,4  8,9  6,2  12,0  5,6  5,9  0,1  5,3  6,7  1,7  0,0  8,5  5,1  0,9  8,1  1,9  3,4  ‐0,6  ‐0,9  5,0  3,8  0,2  ‐2,3  ‐2,0  1,0  ‐0,3  3,6  2,9  ‐4,1  2,0  ‐1,2  ‐0,4  ‐6,8  ‐9,0  2,2  0,6  0,1  ‐7,2  ‐6,2  ‐10,8  4,7  ‐13,5  ‐13,9  ‐15,3  ‐18,4  ‐13,6  ‐19,9 

[5.2]  16,6  14,7  13,8  12,4  11,8  11,7  11,6  9,9  9,3  8,8  8,3  5,7  5,2  4,8  4,7  3,8  3,5  3,1  3,0  2,4  2,3  2,0  1,6  1,5  1,0  0,9  0,8  0,8  0,7  ‐0,3  ‐0,9  ‐0,9  ‐1,9  ‐2,0  ‐2,3  ‐3,0  ‐3,6  ‐3,6  ‐3,7  ‐4,1  ‐4,5  ‐5,2  ‐9,3  ‐9,9  ‐11,4  ‐11,5  ‐12,7  ‐14,9  ‐15,6  ‐17,1  ‐18,0  ‐20,2 

[9]  Summe        2,1  20,5     Davis 1981  27,1  52,9     Levine 1992  7,7  26,2     Leppard 1977  3,6  21,0     Szell 1970  8,3  30,3     Horenstein 1972  5,0  24,2     Maazel 1960  1,1  21,6     Karajan 1974  0,5  16,7     Tilson‐Thomas 2007  2,9  24,3     Asahina 1984  17,4  31,8     Haitink 1975  8,4  22,6     Solti 1972  1,1  6,9     Kubelik 1970  4,2  14,7     Gielen 2002  5,4  16,9     Tennstedt 1984  0,6  7,0     Karajan 1972  ‐4,4  ‐0,6     Haitink 1995  4,4  16,4     Reiner 1958  8,6  16,8     Barbirolli 1952  3,1  6,9     Maazel 2000  4,1  14,5     Keilberth 1964  2,7  7,0     Rattle 1995  ‐6,2  ‐0,8     Sinopoli 1996  ‐0,2  0,8     Abbado 2011  9,6  10,2     Beinum 1956  13,2  19,2     Krips 1964  2,8  7,6     Barenboim 1991  3,2  4,3     Bernstein 1966  ‐0,9  ‐2,3     Nott BambSym 2016  1,5  0,3     Solti 1992  1,7  2,4     Nagano 2009  1,4  0,1     Nott WPhil 2016  ‐13,8  ‐11,2     Reiner 1959  2,7  3,7     Bertini 1991  8,4  2,3     Inbal 1988  9,3  9,0     Bernstein 1972a  ‐0,3  ‐4,5     Giulini 1984  ‐5,1  ‐9,0     Klemperer 1966  ‐11,0  ‐21,4     Schuricht 1939  ‐16,2  ‐28,9     Sanderling 1983  4,6  2,8     Neumann 1983  ‐1,3  ‐5,2     Boulez 1999  10,5  5,4     Kleiber 1967  ‐11,6  ‐28,2     Ormandy 1966  3,7  ‐12,4     Walter 1952a  ‐15,8  ‐38,1     Rodzinsky 1944  ‐4,0  ‐10,9     Kletzki 1959  ‐12,9  ‐39,1     Walter 1960b  ‐12,7  ‐41,5     Rosbaud 1955  ‐18,9  ‐49,8     Walter 1936  ‐16,5  ‐52,1     Klemperer 1948  ‐20,5  ‐52,2     Walter 1948  ‐18,8  ‐58,8     Klemperer 1951 

[2]  11,1  5,6  5,0  0,1  ‐0,9  2,0  5,1  5,9  ‐4,1  10,2  4,6  6,7  7,4  2,2  8,5  5,3  8,1  ‐6,2  5,0  0,2  0,9  12,0  3,8  2,9  1,9  1,7  1,0  ‐2,0  ‐0,3  8,9  0,1  1,7  6,2  ‐0,6  ‐1,2  ‐2,3  0,6  4,7  0,0  ‐0,4  3,4  ‐6,8  ‐7,2  ‐13,9  ‐13,5  3,6  ‐10,8  ‐9,0  ‐18,4  ‐19,9  ‐15,3  ‐13,6 

[5.2]  14,7  8,8  1,0  ‐5,2  1,5  ‐2,3  3,1  8,3  ‐2,0  11,8  13,8  4,8  11,7  ‐4,1  3,5  5,2  2,4  ‐9,9  12,4  0,8  3,0  9,3  0,9  ‐1,9  2,3  16,6  ‐0,3  0,7  ‐0,9  11,6  5,7  4,7  9,9  1,6  ‐3,0  0,8  ‐4,5  ‐11,5  3,8  ‐3,6  2,0  ‐3,6  ‐9,3  ‐14,9  ‐12,7  ‐0,9  ‐11,4  ‐3,7  ‐17,1  ‐20,2  ‐15,6  ‐18,0 

[9]  Summe  27,1  52,9  17,4  31,8  13,2  19,2  10,5  5,4  9,6  10,2  9,3  9,0  8,6  16,8  8,4  22,6  8,4  2,3  8,3  30,3  7,7  26,2  5,4  16,9  5,0  24,2  4,6  2,8  4,4  16,4  4,2  14,7  4,1  14,5  3,7  ‐12,4  3,6  21,0  3,2  4,3  3,1  6,9  2,9  24,3  2,8  7,6  2,7  3,7  2,7  7,0  2,1  20,5  1,7  2,4  1,5  0,3  1,4  0,1  1,1  21,6  1,1  6,9  0,6  7,0  0,5  16,7  ‐0,2  0,8  ‐0,3  ‐4,5  ‐0,9  ‐2,3  ‐1,3  ‐5,2  ‐4,0  ‐10,9  ‐4,4  ‐0,6  ‐5,1  ‐9,0  ‐6,2  ‐0,8  ‐11,0  ‐21,4  ‐11,6  ‐28,2  ‐12,7  ‐41,5  ‐12,9  ‐39,1  ‐13,8  ‐11,2  ‐15,8  ‐38,1  ‐16,2  ‐28,9  ‐16,5  ‐52,1  ‐18,8  ‐58,8  ‐18,9  ‐49,8  ‐20,5  ‐52,2 

Tabelle 8: Mahler, Das Lied von der Erde, VI. Der Abschied, Abweichungen der absoluten Dauern vom Mittelwert für alle drei Rezitative ([2], [5.2], [9]) und für jedes der drei Rezitative einzeln in graduellen Reihungen. (http://phaidra.kug.ac.at/o:77631)

   Davis 1981  Levine 1992  Haitink 1975  Solti 1972  Sinopoli 1996  Gielen 2002  Tilson‐Thomas 2007  Nagano 2009  Maazel 2000  Barenboim 1991  Leppard 1977  Kubelik 1970  Karajan 1974  Bertini 1991  Karajan 1972  Haitink 1995  Reiner 1958  Horenstein 1972  Maazel 1960  Abbado 2011  Reiner 1959  Krips 1964  Rattle 1995  Nott WPhil 2016  Szell 1970  Keilberth 1964  Beinum 1956  Tennstedt 1984  Bernstein 1966  Asahina 1984  Inbal 1988  Nott BambSym 2016  Solti 1992  Sanderling 1983  Boulez 1999  Giulini 1984  Bernstein 1972a  Klemperer 1966  Neumann 1983  Schuricht 1939  Kletzki 1959  Barbirolli 1952  Kleiber 1967  Ormandy 1966  Rosbaud 1955  Walter 1960b  Rodzinsky 1944  Walter 1952a  Walter 1948  Walter 1936  Klemperer 1951  Klemperer 1948 

Form und Sinn in Gustav Mahlers Abschied

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Christian Utz

der Strophen 3a und 3b [6]/[12], die am Schluss zur „Ewig“-Coda [13] hinführt. In der ersten Rotation nimmt zudem das ‚subjektive‘ Rezitativ [5] eine Achsenfunktion zwischen zweiter und dritter Strophe ein. Tabelle 7 bietet einen raschen Überblick über die divergierenden Gewichtungen dieser Formcharaktere. In der Tat liegen für die Rezitative alle vier berücksichtigten Walter-Aufnahmen bei einem Mittelwert von 16,5 % an der Untergrenze des Spektrums (Walter 1936, 1948, 1952a, 1960b: 14,2, 14,2, 14,2 und 14,0 %, der letzte Wert entspricht dem Minimalwert). Walter nimmt die Rezitative also stets ausgesprochen zügig, wobei dies, wie Tabellen 5 und 6E zeigen (Häufung der hellgrau bzw. grün eingefärbten Felder in den Abschnitten [2], [5] und [9] vor 1960), für die Aufnahmen bis 1960 keineswegs ungewöhnlich ist. In der vorangehenden Studie habe ich gezeigt, dass Walter 1952a das Tempo im Rezitativ [9] gegenüber dem Haupttempo des vorangehenden Trauermarsches zwar noch etwas steigert, grundsätzlich aber die von Adorno geforderte Differenzierung zwischen Trauermarsch und Rezitativ weder in Bezug auf das Tempo noch in Bezug auf den Charakter erkennbar ist. Die Aufnahme Maazel 1960 markiert hingegen für die Rezitative den Maximalwert von 18,1 %, der zwar vor allem durch die überdurchschnittlich hohen Tempi in vielen der anderen Abschnitte bedingt ist, aber doch als Signal einer neuen Dramaturgie verstanden werden kann, in der die Rezitative stärkeres Gewicht erhalten (vgl. auch Tab. 9 unten). Werte von 17,5 % oder mehr erreichen auch Kubelik 1970, Barenboim 1991, Bertini 1991, Maazel 2000, Gielen 2002 und Nagano 2009. In Bezug auf hohe absolute Dauern in den Rezitativen sind insbesondere Davis 1981 und Levine 1992 herauszuheben, die beide Jessye Norman als Solistin begleiten und den Rezitativen dabei besonders viel Raum geben.48 Da die Rezitative mithin gewissermaßen als „Achsen“ der Gesamtform betrachtet werden können, lohnt es sich, einen Moment bei dieser Dimension zu verweilen und von hier ausgehend einige Aspekte genauer zu betrachten. Bleiben wir zunächst bei den absoluten Dauern der drei Rezitative (Abschnitte [2], [5.2], [9], vgl. Tab. 6E und 8): Die Mittelwerte liegen bei 74,5, 73,8 und 105,3 Sekunden, die Standardabweichungen bei 10,1, 12,0 und 9,3 %, was auf den ‚expressiveren‘ und daher im Tempo variableren Charakter des zweiten Rezitativs [5.2] hinweisen mag. Insgesamt zeigen die absoluten Dauernwerte der Rezitative eine klare historische Tendenz: — Rezitativ [2]: Von den 19 Aufnahmen, die unter dem Mittelwert 74,5 liegen, datieren die elf raschesten aus den Jahren vor 1967; hingegen sind bis auf eine alle elf Aufnahmen mit Dauern über 80 Sekunden nach 1970 entstanden. — Rezitativ [5.2]: 23 Aufnahmen liegen unter dem Mittelwert von 73,8, darunter nur sechs nach 1970. Dauern über 80 Sekunden finden sich in elf Aufnahmen seit 1972. 48 Vgl. Utz, „Multivalent Form in Gustav Mahler’s Lied von der Erde“, [4.].

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— Rezitativ [9]: 19 Aufnahmen liegen unter dem Mittelwert von 105,3, darunter wiederum die elf raschesten aus den Jahren vor 1967 und nur sechs Aufnahmen nach 1970. Dauern über 110 Sekunden erreichen 13 Aufnahmen seit 1970. Betrachtet man die absoluten Dauern der Rezitative im Vergleich unter Zuhilfenahme einer tabellarischen Darstellung, in der die Abweichungen der absoluten Dauern vom Mittelwert für alle drei Rezitative und für jedes der drei Rezitative einzeln in graduelle Reihungen gebracht sind (Tab. 8), so zeigen sich neben einer gleichsam ‚standardisierten‘ ausgeglichenen Balance zwischen den drei Rezitativen (z. B. bei Bernstein 1966: Abweichungen 1,0/-0,3/1,7) vor allem zwei dominierende Dramaturgien: Eine auf das dritte Rezitativ hin zulaufende sukzessive stärkere Gewichtung (grundlegend bei Davis 1981: 11,1/14,7/27,1, und Levine 1992: 5,6/8,8/17,4, in beiden Fällen gewiss durch die Solistin prominent mitgeprägt; vergleichbar damit ist etwa Horenstein 1972: -0,9, 1,5, 9,6) und eine im Gegensatz dazu das zweite ‚subjektive‘ Rezitativ ins Zentrum rückende (grundlegend etwa bei Solti 1972: 4,6/13,8/7,7, Barenboim 1991: 1,7/16,6/2,1, Maazel 2000: 5,0/12,4/3,6 und Gielen 2002: 7,4/11,7/5,0). ‚Gegenläufige‘ Dramaturgien finden sich etwa bei Sinopoli 1996: 12,0/9,3/2,9 (sukzessive abnehmende Gewichtung) oder Schuricht 1939: 4,7/-11,5/-4,0 und Szell 1970: 0,1/-5,2/10,5 (auffällig geringe Gewichtung des zweiten Rezitativs). In einigen Aufnahmen wiederum ist die starke Verknappung des dritten Rezitativs auffallend, möglicherweise erklärbar aus dem Impuls heraus, den ‚zusammenfassenden‘ Charakter der zweiten formalen Rotation insgesamt zu stärken (Rosbaud 1955: -9,0/-3,7/-16,2, Bertini 1991: 6,2/9,9/0,5, Boulez 1999: 3,4/2,0/-6,2). Das close listening könnte nun qualitative Anhaltspunkte dafür bieten, wie schlüssig solche übergeordneten Dramaturgien mit bestimmten Binnengestaltungen zusammentreffen. Hierzu nehmen wir nun abschließend zwölf ausgewählte Aufnahmen in den Blick, für die jeweils ein ‚Haupttempo‘ pro Unterabschnitt erhoben wurde (Tab. 9, Tab. 10E, Diag. 7/7_2).49 Die in Tabelle 9 erfassten Tempo49 Die zwölf zur Tempomessung herangezogenen Aufnahmen wurden großenteils aufgrund der Relevanz für die Aufführungsgeschichte (breite Wirkung und Modellfunktion der Interpret*innen), aber auch aufgrund von Auffälligkeiten in den zuvor dargestellten Untersuchungen (z. B. Klemperer 1951, Maazel 1960, Davis 1981) ausgewählt. Die Tempoangaben werden in ganzzahlig gerundeten Werten in Schlägen pro Minute (beats per minute/bpm) angegeben. Zugrunde liegt die Grundeinheit des jeweils vorgezeichneten Takts, wobei in den Strophen 3a/3b ([6]/[12]–[13]) der 3/4-Takt von Anfang an ganztaktig gemessen wurde (er erscheint zu Beginn von [6] [T. 166–171] aufgrund der hemiolischen Teilung eigentlich als zweiteiliger 6/8-Takt; die für [6.1] angegebenen Werte können also ggf. verdoppelt werden, um eine adäquate Darstellung des Tempoverhältnisses [5.2]:[6.1] zu erhalten). Zur Messung des ‚Haupttempos‘ wurden jeweils im Tempo stabile Phasen meist aus den Anfangsphasen der Unterabschnitte herangezogen, in denen weder Tempomodifikationen in der Partitur angegeben sind noch solche in den jeweiligen Aufnahmen in auffallender Form auftreten. Auf eine präzise Messung mit Sonic Visualiser wurde dabei verzichtet, die Messungen wurden

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werte für die zwölf Aufnahmen werden in Tabelle 10E als Verhältnisse zwischen formal korrespondierenden Abschnitten wiedergegeben (Trauermarsch: [1], [3.1], [8.1], [8.2], [10.1]; Rezitativ: [2], [5.2], [9]; „Lied“ [4.2], [11]; Strophe 3b/Coda [12], [13]), sodass Aussagen über die Stabilität eines Tempos über den gesamten Verlauf möglich sind, und sind in den Diagrammen 7 und 7_2 als ‚klassische‘ Tempokurven wiedergegeben, wobei Diagramm 7_2 die Anzahl der dargestellten Aufnahmen auf sechs reduziert (und dabei jene mit Tempowerten im ‚mittleren‘ Bereich darstellt). Die Frage, von der nun zunächst auszugehen ist, lautet, ob die Rezitative vom Tempo deutlich abgehoben werden oder im Gegenteil in ein übergeordnetes (Haupt-)Tempo, das den Satz als ganzen umfasst, eingewoben sind. Vor diesem Hintergrund ist dann die eben dargestellte Abstufung zwischen den drei Rezitativen einzuordnen. Betrachten wir zunächst das erste Rezitativ [2]. Unter den zwölf Aufnahmen greifen nur vier das in [1.1] etablierte Tempo in [3.1] wieder auf (Bernstein 1966, Horenstein 1972, Solti 1972 und Nott WPhil 2016), sodass von einem klaren Referenztempo des Trauermarsches gesprochen werden kann (bei Gielen 2002 ist die Differenz 50/54 so minimal, dass ebenfalls ein solches Referenztempo anzunehmen ist). Dabei ist die Temporeduktion im Rezitativ bei Bernstein und (deutlich weniger markant) bei Nott auffällig (60-42-60 bzw. 58-48-58), während es sich in den anderen Fällen eher um Temposchattierungen handelt (Horenstein 1972: 50-46-50, Solti 1972: 55-48-55, Gielen 2002: 50-46-54). Während Bernstein das dritte Rezitativ [9] dann stärker dem Kontext annähert ([8.3]–[10.1]: 60-5248-50), indem er [8.4], das ‚tragische‘ Ende der langen Trauermarschepisode, im Tempo deutlich reduziert (von 60 auf 52) und [10.1] gegenüber [3.1] deutlich verlangsamt (50 statt 60), ist das Rezitativ [9] bei Nott weiterhin deutlich von den umgebenden Abschnitten abgehoben (64-60-45-55), auch wenn ebenfalls [10.1] gegenüber [3.1] im Tempo geringfügig reduziert ist (55 statt 58). stattdessen mittels des Online-Tools http://a.bestmetronome.com (28.1.2019) vorgenommen. Es handelt sich also jedenfalls nur um Annäherungswerte. Ob für alle Unterabschnitte bzw. in allen Einspielungen immer ein stabiles Haupttempo identifiziert werden kann, muss in doppelter Hinsicht angezweifelt werden: Zum einen sind in jenen Unterabschnitten, in denen der Fluss fortgesetzt durch Soli, Tempomodifikationen, Fermaten und Generalpausen unterbrochen wird (neben den Rezitativen gilt dies vor allem für [1.1], [5.1], [7.1], [8.1] und [10.2]), stabile Tempophasen zu kurz, als dass sich ein Tempoempfinden im engeren Sinn etablieren könnte, zum anderen ist auch in längeren stabilen Passagen ohne deutliche Tempomodifikation (etwa in [8.2]–[8.4]) ein mehr oder weniger deutliches fortgesetztes Rubato bis in die Gegenwart Teil der aufführungspraktischen Konvention und der Wert des Haupttempos kann nicht ohne weiteres schlicht aus dem Durchschnittswert aller gemessenen Tempoeinheiten abgeleitet werden. Dennoch dürfen die hier erhobenen Werte als grobe Anhaltspunkte der unterschiedlichen gesamtformalen Tempodramaturgien gelten. Zur Problematik des ‚Haupttempos‘ allgemein vgl. unter anderem Alf Gabrielsson, „The Performance of Music“, in: The Psychology of Music, hg. von Diana Deutsch, San Diego 21999, 501–602, hier 540–542.

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1.1  58  57  54  60  45  50  55  55  44  45  50  58  53  44  60  10,7 

2.1  56  53  46  42  45  46  45  48  49  40  46  48  47  40  56  9,3 

3.1  66  60  62  60  53  50  62  55  54  55  54  58  57  50  66  8,1 

3.2  70  60  62  60  49  48  52  57  48  50  50  58  55  48  70  12,5 

4.1  60  50  60  58  46  52  52  43  47  47  52  54  52  43  60  10,7 

4.2  52  50  60  58  43  46  52  43  50  47  52  52  50  43  60  10,4 

4.3  60  45  55  58  45  45  52  40  50  45  48  52  50  40  60  12,1 

4.4  56  47  44  58  45  45  42  35  50  36  46  48  46  35  58  14,8 

4.5  60  55  52  58  45  50  52  45  50  48  52  52  52  45  60  8,8 

5.1  55  60  55  50  41  48  50  45  46  45  50  50  50  41  60  10,5 

5.2  54  60  50  48  46  50  45  50  45  35  44  44  48  35  60  12,9 

6.1  32  33  47  33  35  35  32  27  32  28  38  30  34  27  47  15,6 

6.2  47  40  47  40  42  34  40  40  40  30  46  42  41  30  47  12,2 

6.3  55  40  50  40  40  35  38  33  32  35  46  42  41  32  55  17,1 

6.4  52  40  47  40  45  40  44  40  40  40  46  42  43  40  52  9,0 

7.1  58  60  54  60  40  42  45  60  40  38  54  50  50  38  60  17,3 

8.1  66  55  58  50  50  50  45  55  40  45  48  58  52  40  66  13,7 

8.2  77  57  66  60  56  48  64  55  53  46  54  62  58  46  77  14,5 

8.3  79  58  70  60  58  46  62  55  54  46  56  64  59  46  79  15,7 

8.4  77  58  48  52  55  48  55  55  46  47  54  60  55  46  77  15,3 

9.1  59  60  46  48  50  50  45  43  46  40  48  45  48  40  60  12,3 

10.1  70  60  54  50  48  46  55  52  48  48  54  55  53  46  70  12,4 

10.2  54  48  44  40  42  38  34  35  42  30  38  42  41  30  54  15,8 

11.1  60  42  60  50  50  48  45  40  52  42  48  54  49  40  60  13,3 

12.1  52  40  42  33  44  30  38  38  38  40  45  38  40  30  52  14,2 

13.1  Standardabw.  56  10,0  35  8,9  48  7,4  30  9,7  40  5,4  35  6,2  38  8,5  35  8,9  38  6,2  30  7,0  44  4,7  38  8,4  39    30    56    19,1   

Tabelle 9: Mahler, Das Lied von der Erde, VI. Der Abschied, Tempowerte (ein ‚Haupttempo‘ pro Unterabschnitt) in zwölf ausgewählten Aufnahmen. (http://phaidra.kug.ac.at/o:77632)

 

   Klemperer 1951  Walter 1952a  Maazel 1960  Bernstein 1966  Klemperer 1966  Horenstein 1972  Bernstein 1972a  Solti 1972  Karajan 1974  Davis 1981  Gielen 2002  Nott WPhil 2016  Mittelwert  Minimum  Maximum  Standardabw. (%) 

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Schwieriger sind die Dramaturgien um das zweite Rezitativ [5.2] zu interpretieren: Aufgrund des Metrum- und damit Charakterwechsels in Abschnitt [6.1] (einsetzend mit einem hemiolisch zweiwertig umgedeuteten 3/4-Takt, der kurz darauf in einen ganztaktigen Puls übergeht) entsteht nahezu zwangsläufig ein Bruch zum vorangehenden Rezitativ, der allerdings in jenen Aufnahmen weniger auffällig wird, die den Beginn von [6] sehr langsam nehmen. So erreicht Solti 1972 etwa mit einem ganztaktigen Tempo von 27 für [6.1] nahezu das halbe Tempo des vorangehenden Rezitativs (50), sodass der halbtaktige Grundschlag von [6.1] (54) sich jenem des Rezitativs annähert. Auch wird das zweite Rezitativ f ließend aus der vorangehenden Strophe 2a erreicht, bei der Solti (in beiden seiner Aufnahmen, besonders auffallend aber 1972) ein extrem langsames Tempo wählt ([4.1]–[5.2]: 43-43-40-35-45-45-50). Vergleichbare Tendenzen finden sich auch bei Walter 1952a, Bernstein 1966 und Horenstein 1972. Karajan 1974 hingegen etabliert eine deutliche Bogenform von [1.1] bis [3.2] (44-49-54-48), die in der folgenden Strophe mit dem zweiten Rezitativ am Ende wiederholt wird ([4.1]– [5.2]: 47-50-50-50-50-46-45). Auch das dritte Rezitativ scheint bei Karajan in einen übergeordneten Tempozusammenhang eingebunden ([8.1]–[10.2]: 40-53-5446-46-48-42). Die von Davis 1981 erreichten Minimaltempi in den Rezitativen (40-35-40) dienen hingegen weniger einer großformalen Profilierung der Form, da das Tempo auch in allen anderen Formabschnitten an der unteren Grenze der gemessenen Werte liegt. http://phaidra.kug.ac.at/o:77633 Tabelle 10E: Mahler, Das Lied von der Erde, VI. Der Abschied, Verhältnis der Tempowerte zwischen formal korrespondierenden Abschnitten (Trauermarsch: [1], [3.1], [8.1.], [8.2.], [10.1]; Rezitativ: [2], [5.2], [9]; „Lied“ [4.2.], [11]; Strophe 3b/Coda [12], [13]) in zwölf ausgewählten Aufnahmen (vgl. Tabelle 9).

Es zeichnen sich somit zwei grundsätzlich zu unterscheidende Dramaturgien ab: zum einen jene, in denen die gewählten Tempi zumindest innerhalb der einzelnen Formcharaktere, ggf. aber auch über den gesamten Satz hinweg verhältnismäßig stabil bleiben und so den Eindruck eines als Referenz dienenden Haupttempos vermitteln können; zum anderen jene, in denen Kontraste zwischen Tempoebenen gezielt eine formale Profilierung der komponierten Zeit verdeutlichen. Eine Hilfe bei der Zuordnung der Aufnahmen zu diesen beiden Kategorien bieten die Werte von Tabelle 10E sowie die in Tabelle 9 für jede Aufnahme angegebene Standardabweichung, die zwischen 4,7 und 10,0 schwankt ( je niedriger die Standardabweichung, desto eher kann von einer Annäherung an ein gleichbleibendes Tempo über den gesamten Satz hinweg ausgegangen werden). Zur ersten Kategorie können demnach vor allem Gielen 2002 (4,7), Klemperer 1966 (5,4), Horenstein 1972 (6,2) und – mit Einschränkungen aufgrund der erwähnten Tendenz zur 715

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Diagramm 7: Mahler, Das Lied von der Erde, VI. Der Abschied, Tempokurve zwölf ausgewählter Aufnahmen mit einem ‚Haupttempo‘ pro Unterabschnitt (vgl. Tabelle 9). (http://phaidra.kug.ac.at/o:77634)

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Diagramm 7_2: Mahler, Das Lied von der Erde, VI. Der Abschied, Tempokurve sechs ausgewählter Aufnahmen mit einem ‚Haupttempo‘ pro Unterabschnitt (vgl. Tabelle 9). (http://phaidra.kug.ac.at/o:77635)

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‚Bogenform‘ – auch Karajan 1974 (6,2) und eventuell Maazel 1960 (7,4) gerechnet werden. Am klarsten wird das Konzept eines durchgehenden Tempos bei Gielen 2002: Nahezu alle Werte liegen zwischen 46 und 54, nur in [6.1] und [10.2] wird auf 38 reduziert, in der Strophe 3b dann auf 45/44 – einen relativ hohen Wert, der deutlich eine ‚anti-verklärende‘ Tendenz mehrerer Aufnahmen in Bezug auf die Gestaltung der Coda widerspiegelt, an deren Spitze Sinopoli 1996 steht (vgl. Tab. 6E bzw. Diag. 5E_2 und 6E_2). Dabei ist Gielens Tempo alles andere als undifferenziert: Mit Ausnahme der eng zusammenhängenden Sequenz [6.2]–[6.4] wählt er für keinen der 26 Unterabschnitte dasselbe Tempo wie im vorangehenden Abschnitt. Man kann also mit derselben Berechtigung Gielen auch als Beispiel der zweiten Kategorie anführen, in der formale Plastizität durch Tempoabweichungen erreicht wird. Und unter diesem Aspekt ist Gielen seinem Antipoden Bernstein vielleicht näher als man es erwarten würde, denn bei diesem ist die zweite Kategorie zweifellos – wie auch im ersten Satz des Werkes – am stärksten ausgeprägt: Seine Standardabweichung von 9,7 (nur überboten von jener bei Klemperer 1951, in der freilich die starken Schwankungen weit weniger systematisch eingesetzt sind,) ist Indikator einer faszinierenden formalen Deutung, in der sich die Strophen 1a und 2a vom Tempo her annähern, wobei vor allem für die Strophe 2a ein überdurchschnittliches Tempo gewählt ist: [1.1] und [3.1]–[3.2] verbleiben stabil im Tempo 60, [4.1]–[4.5] im Tempo 58, die Rezitative (42-48-48) und die Strophe 3a (33-40-40-40) sind hingegen kontrastierend stark zurückgenommen. In der zweiten Rotation sind dann nach einer vorübergehenden Stabilisierung des Anfangstempos im Trauermarsch ([8.1]–[8.4]: 50-60-60-52) alle drei Strophen in deutlich langsameren Tempi genommen (1b: 50-40, 2b: 50, 3b: 33-30), was eine starke Gewichtung der zweiten Rotation erzeugt (zweite Rotation: 51,5/50,2 % gegenüber erste Rotation: 48,5/49,8 %, vgl. Tab. 5), die in der Coda ‚kulminiert‘: Bernstein zelebriert das von Mahler in Takt 460 vorgeschriebene Tempo („Langsam! ppp! Ohne Steigerung“; NB. „Anmerkung für den Dirigenten: Ganze Takte sehr langsam schlagen“) unter den hier untersuchten Aufnahmen weitaus am auffälligsten (vgl. die stark abfallende Tempokurve in den Diagrammen 7 und 7_2) und steht so doch auch für die von Gielens exemplarischem Gegenmodell vermiedene Tendenz zur ‚verklärenden Schlussgestaltung‘. Hier kann nun die weiter oben gestellte Problematik einer Umsetzung des Eindrucks von ‚Zerrissenheit‘ im Allgemeinen und des offenen Schlusses im Besonderen durch die Interpretation wieder aufgegriffen werden: Während Bernsteins Gestaltung der Coda aufgrund der vorangehenden Temporeduktion als schlüssige Konsequenz erscheint und somit eher den Eindruck von Abgeschlossenheit, eventuell von ‚Entrückung‘ oder ‚Vollendung‘ vermittelt, zeigt die Aufnahme von Hans Rosbaud 1955, dass eine – hier ins Extrem reichende – Verlangsamung dieser Coda auch im Gegenteil Fragment und Zerfall konnotieren kann (vgl. dazu insbesondere die steil anstei718

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genden Kurven in den Diagrammen 5E_2 und 6E_2). Rosbaud, der in diesem Zeitraum als Dirigent neuer Musik bereits international renommiert war50 und für den insofern eine Mahler-Deutung aus Sicht der Moderne naheliegen mochte, kontrastiert diesen auffälligen ‚zerfallenden‘ Schluss mit einem sehr hohen Trauermarschtempo, das sich den Werten der frühen Walter- und Klemperer-Aufnahmen annähert und so diese Schlusswendung (selbst wenn sie in den langsamen Tempi der Strophen 3a und 3b vorbereitet ist) umso bestürzender wirken lässt. http://phaidra.kug.ac.at/o:77636 Tabelle 11E: Mahler, Das Lied von der Erde, VI. Der Abschied, mittels der Software SPSS erstellte Korrelationsmatrix auf Basis der Abweichungen der Abschnittsdauern von den Mittelwerten (maximale positive Korrelation = 1, minimale Korrelation = 0, maximale negative Korrelation = -1).

Tabelle 11E zeigt eine mittels der Software SPSS erstellte Korrelationsmatrix auf Basis der Abweichungen der 26 Abschnittsdauern von den Mittelwerten. Diese Matrix kann als zusätzlicher Anhaltspunkt für die Bestimmung von Ähnlichkeiten bzw. Differenzen zwischen den einzelnen Einspielungen dienen. Welch Schlüsselbedeutung der Gestaltung der Coda hierbei zukommt, zeigen etwa die relativ hohen positiven Korrelationswerte zwischen Gielen 2002 und Sinopoli 1996 (0,61), zwischen Bernstein 1966 und Levine 1992 (0,64) oder Rosbaud 1955 (0,49) sowie die hohen negativen Korrelationswerte zwischen Gielen 2002 und Rosbaud 1955 (-0,79) oder zwischen Bernstein 1966 und Klemperer 1966 (-0,59). Damit kommen wir abschließend nun noch auf den Gegensatz zwischen diesen beiden letztgenannten für die Interpretationsgeschichte des Werkes so entscheidenden Aufnahmen zu sprechen, der bereits in der vorangehenden Studie anhand des ersten Satzes eingehend diskutiert wurde. 51 Ein direkter Vergleich der Tempokurven beider Aufnahmen (vgl. Diag. 7_2, schwarze und schwarz gestrichelte bzw. blaue und gelb gestrichelte Kurven) zeigt, dass die Interpretationen neben den offensichtlichen Divergenzen auch ein erstaunlich hohes Maß an Konvergenz aufweisen, insbesondere in den Abschnitten [6] und [8]–[12]. Die weit stärkeren ‚Ausschläge‘ der Bernstein-Kurve sind freilich ein entscheidendes Moment jener die formalen Umrisse artikulierenden Interpretationsästhetik, die bereits anhand von Bernsteins Deutung des ersten Satzes beobachtet werden konnte, 52 wobei der Beginn und das Ende des Abschied besonders auffällige Divergenzen zu 50 Rosbaud (1895–1962) leitete als Chefdirigent des Sinfonieorchesters des SWF Baden-Baden u. a. die Uraufführungen von Boulez, Le Marteau sans maître (1954), Iannis Xenakis, Metastasis (1955), Olivier Messiaen, Chronochromie (1960), Krzysztof Penderecki, Anaklasis (1960) und György Ligeti, Atmosphères (1961) bei den Donaueschinger Musiktagen (vgl. Joan Evans, Hans R osbaud. A BioBibliography, New York 1992). 51 Vgl. Utz, „Multivalent Form in Gustav Mahler’s Lied von der Erde, [3.]. 52 Vgl. ebd.

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Klemperers Deutung aufweisen: Bernsteins starkes ‚Abphrasieren‘ in Strophe 3b und Coda wird ebenso deutlich wie sein Innehalten im ersten Rezitativ [2], dem Klemperers kontinuierlicher Tempof luss entgegensteht. Ebenfalls analog zum ersten Satz dürfte wohl eine detaillierte Tempomessung ausfallen (die den hier gesetzten Rahmen sprengen würde), in der für Bernstein zweifellos ein weitaus höherer Grad an Rubato, an Binnenphrasierung zu beobachten sein würde – das Prinzip, Tempo ‚offensiv‘ als formales Gestaltungsmittel einzusetzen, erstreckt sich bei Bernstein auch auf die Mikroform. Klemperers späte Interpretation könnte somit vielleicht doch eher in der Mitte zwischen den Polen Gielen und Bernstein verstanden werden: Er verzichtet nicht ganz auf die zeitliche Artikulation formaler Abschnitte (die er in den frühen Aufnahmen in extremer Weise, wenn auch ohne klar erkennbare Systematik umgesetzt hatte), meidet aber scharfe Tempokontraste (sowie allzu abrupte Phrasierungsrubati), sodass der Eindruck eines, wenn auch sehr variablen, ‚Haupttempos‘ nicht ausgeschlossen ist.

4. Diskussion und Ausblick Kann nun entschieden werden, welcher Interpretationsansatz dem Prinzip formaler Dissoziation in diesem Satz – und damit im Lied von der Erde insgesamt – am angemessensten ist? Eine Festlegung in dieser Frage wäre geradezu fatal, denn es ist eben die Offenheit und Komplexität von Mahlers formal einzigartiger Disposition, mit der die radikalen Unterschiede in den Deutungen korrelieren. Erst in dieser Divergenz erschließt sich der Sinn des Werkes. So kann Gielens ‚versachlichte‘ und dabei im Detail so differenzierte Deutung etwa als Einlösung des von Adorno hervorgehobenen „Tagebuch“-Charakters des Abschied verstanden werden: Das Durchblättern eines Tagebuchs ist kaum eine Tätigkeit, die mit der intentional gestaltenden ‚Inszenierung von Form‘ assoziiert werden kann, sie impliziert vielmehr eine anti-dramatische, anti-teleologische Deutung. 53 Aber auch Bernsteins Interpretation sollte nicht ausschließlich im Sinne einer ‚gerundeten‘ (und damit den Dissoziationscharakter verkennenden) Konventionalität aufgefasst werden. Gewiss machen die scharfen Tempokontraste das formale Rotationsprinzip sehr anschaulich und plastisch, zumal die zweite Rotation deutlich gegenüber der ersten ‚abgetönt‘ ist; gerade die (hier nur angedeuteten) lokalen 53 Unter den vielen Details, die anzuführen wären, um diese Tendenz in Gielens Aufnahme zu veranschaulichen, mag man Cornelia Kallischs leichte Akzentuierung bei gleichzeitiger abrupter Zurücknahme des „allein“ (T. 228/229) in der Gesangsphrase „Wo bleibst du? du lässt mich lang allein!“ am Ende von [6.2] nennen – gewiss einer der emotionalen Kulminationspunkte des gesamten Satzes; Grundlage ist hier zweifellos die Übertragung des pp subito der 1. Violinen auf den Gesangspart; auf das gängige Anschwellen der schließenden Silbe „-lein!“ in Takt 229 verzichten Gielen/Kallisch im Gegensatz zu nahezu allen anderen Aufnahmen. Damit wird formdynamische Kontinuität unterlaufen, die nächste Seite des Tagebuchs kann aufgeschlagen werden.

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Tempowechsel – die gewiss nicht zufällig Adornos Forderung „niemals auch nur 2 Schläge einander chronometrisch gleich“ zu nehmen durchaus nahe kommen – können auch als Sinnbild von Brüchen und Abgründen aufgefasst werden, die sich in der Musik öffnen. Zu diesem Eindruck trägt zweifellos Fischer-Dieskaus stark ‚narrative‘ Interpretation des Gesangsparts wesentlich bei, deren sprachnaher Charakter von den Rezitativen aus den gesamten Satz durchdringt und auch in den melodisch auf blühenden Phrasen nicht verlassen wird (so etwa im „du lässt mich lang allein!“, wo der emotionale Gehalt eher durch eine verstärkte ‚sprechende‘ Inf lektionen der Tonhöhen, und weniger, wie in vielen anderen Aufnahmen, durch ein dynamisches Anschwellen realisiert wird). 54 Auf die ‚sich vereinigende Gegensätzlichkeit‘ von Bernsteins und Fischer-Dieskaus Auffassungen ist in journalistischen Texten mitunter hingewiesen worden;55 ihr könnte wohl (als umgekehrte ‚concordia discors‘) Christa Ludwigs weitaus stärkere Tendenz zur ‚subjektiven‘ Auffassung des Gesangsparts im Kontext von Klemperers strengerer Tempo-Rahmung entgegengestellt werden. Gewiss ist, dass in der Vermittlung des Eindrucks formaler Dissoziation der Gesangsstimme und ihrer Balance mit der orchestralen Klangdramaturgie eine Schlüsselrolle zufällt. Wie angedeutet, kann dieser Beitrag nur mit einem offenen Ende schließen, der dem Gegenstand eher notgedrungen adäquat ist. Erwähnt werden können allenfalls noch kursorisch einige jener Aspekte, die in die hier vorgelegte Darstellung nicht einbezogen werden konnten, die Diskussion der Interpretationsgeschichte von Mahlers Abschied aber um bedeutsame Facetten bereichern dürften. Dazu zählen neben einer umfassenden Analyse des ‚Rubatogrades‘ und seiner formalen Implikationen sowie einer vertieften Diskussion der Interaktion von Gesangs- und Orchesterdeutungen auch Aspekte von Klangfarbe und Klangdramaturgie. 56 Folgende Beobachtungen könnten in diesem Kontext etwa in eine Diskussion einf ließen: die reliefartige Gewichtung orchestraler Komponenten in der Coda (Celesta bei Rosbaud 1955, Posaunen bei Inbal 1988, Holzbläser bei Sinopoli 1996…), die Balance zwischen Solo-Flöte und Gesangsstimme in [4.2], 57 die Tendenz zum Geräuschhaften in der „Naturepisode“ [4.5] (Boulez 1999!), die Klang- bzw. Geräuschqualität des „Grabgeläutes“ (Tamtam-Schläge in [1.1] und 54 Aufgefasst werden könnte Fischer-Dieskaus Deutung somit auch als Einlösung von Adornos Charakterisierung: „Das Kontrastmittel des Rezitativs steckt das durchweg karg gewobene Ganze an.“ (Adorno, Mahler, 296.) 55 „I don’t think anyone could live with Bernstein’s view of Das Lied without some more moderate counterbalance“ [gemeint ist damit Fischer-Dieskau] (Andrew Clements, „Mahler, Das Lied von der Erde“, in: Song on Record [1986], Bd. 1, hg. von Alan Blyth, Cambridge 2006, 290–299, hier 295–296). 56 Zum Konzept der Klangdramaturgie vgl. Tobias Janz, Klangdramaturgie. Studien zur theatralen Orchesterkomposition in Wagners „Ring des Nibelungen“, Würzburg 2006. 57 Vgl. hierzu die auffallende Anmerkung Mahlers in der Partitur (T. 71) „Die Alt-Stimme muß sehr zart sein und das Flöten-Solo nicht ‚decken‘“. Es scheint, dass nur wenige Aufnahmen diese Forderung mit voller Konsequenz einlösen.

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[8.1]–[9]), anhand derer hier tatsächlich extreme Unterschiede deutlich werden (und der Wandel der Aufnahmetechnik besonders eindrücklich nachvollziehbar ist), sowie, als ein für die Interpretation der Form besonders relevanter Aspekt, die Erzeugung, Verstärkung oder Abschwächung räumlicher, raumklanglicher Eindrücke, durch Dynamikgestaltung und/oder Aufnahme- und Nachbearbeitungstechnik, besonders an den formalen Schnittstellen vor und nach den Rezitativen oder an der Nahtstelle zwischen den beiden Rotationen ([7]). Muss die vorliegende Untersuchung solche Desiderate auch offen lassen, so ist doch, wohl noch deutlicher als in der vorangehenden Studie, sichtbar geworden, wie sehr der allzu abgegriffene Topos von den sich in der Geschichte entfaltenden Werken durch eine derart reichhaltige Interpretationsgeschichte wie jene von Mahlers Lied von der Erde unmittelbar greif bar, ja gleichsam ins Unübersehbare potenziert wird. Die Schwierigkeiten, nach der Aufgabe eines simplistischen Konzepts von Authentizität und der Dekonstruktion der „Intention des Komponisten“ über die Angemessenheit einer einzelnen Interpretation zu entscheiden, vergrößern sich dadurch signifikant. Eine Diskussion darüber bedingt letztlich eine unvoreingenommene Neusichtung etablierter Interpretationsstile und -schulen mithilfe der aus dem distant listening gewonnenen Erkenntnisse. Zwar sind einzelne Interpretationen, wie sie uns in den Tonaufnahmen gegenübertreten, stets musik- und zeithistorisch sowie technik- und ideologiegeschichtlich zu kontextualisieren und zu differenzieren, die oft zu diesem Zweck vorgenommene Einordnung einzelner Interpretationen in etablierte Kategorien wie „espressivo“ oder „neusachlich“ hilft aber wohl nur sehr wenig dabei, das Spezifische einer konkreten Deutung und ihren Ort in der Interpretationsgeschichte tatsächlich zu begreifen. Gerade ein Satz wie Mahlers Abschied, der in vieler Hinsicht einzigartig ist und doch historisch von so starker Wirkungskraft war, kann erst im „langen Blick“, in der Unabschließbarkeit des wandelbaren und labilen Prozesses immer wieder neu sich verknüpfender und widersprechender, konkurrierender Interpretationen das Potenzial seiner ‚inneren Stimme‘ entfalten und damit über das ephe­ mere Phänomen des klanglich Gegenwärtigen hinausweisen.

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Karl Kraus’ Weltkriegstragödie Die letzten Tage der Menschheit auf der Bühne im Spiegel der Tagespresse bis zum Weltkriegsgedenkjahr 2014 Dietmar Goltschnigg „Allerdings halte ich die Letzten Tage der Menschheit überhaupt für unspielbar (und weiß mich damit in Übereinstimmung mit einer Reihe namhafter Experten, zum Beispiel mit Karl Kraus).“ Friedrich Torberg, 1963.1

Am 22. Mai 1963 gab es im Rahmen der Wiener Festwochen eine Lesung der Letzten Tage der Menschheit, die – der Intention des Autors folgend – von einer Einzelperson bestritten wurde: dem Wiener Schauspieler und Kabarettisten Helmut Qualtinger, der zwei Jahre zuvor, 1961, mit dem satirischen Monolog Der Herr Karl unverkennbar in der Nachfolge von Karl Kraus bei ‚Linken‘ gefeiert, bei ‚Rechten‘ angefeindet worden war. Nach Qualtingers Lesung der Letzten Tage der Menschheit war die Reaktion des Publikums ebenfalls geteilt: Die jüngere Generation applaudierte, einige Zuhörerinnen und Zuhörer der älteren, die den Vorleser Kraus noch persönlich erlebt hatten, reagierten reserviert, unter ihnen Friedrich Torberg, der die skeptische Frage stellte: „Ist Kraus vorlesbar?“, um sie sogleich zu verneinen. Als Argument diente ihm der „unerbittliche“, dem Vorleser Kraus selbst zugeschriebene „Anspruch“ auf „die einmalige Einheit von Werk und Person“, „von Werk und Vortrag“, der ausschließlich nur von ihm selbst erfüllt werden könne: „Gerade bei Karl Kraus kann Sprache ohne Ent-Sprechung nicht stattfinden.“ 2 Obschon Qualtinger im Vergleich mit Kraus als „voluminöserer Schauspieler“, als „gewitzterer Dialektebeherrscher“ und „gewiegterer Kabarettist“ gelten könne, sei er doch als Vorleser der Letzten Tage zum Scheitern verurteilt, weil er „mit dem ganzen Mißtrauen seiner Generation dem Pathos abhold“ gegenüberstehe: Er weiß vielleicht gar nicht oder glaubt nicht daran, daß es so etwas wie „echtes Pathos“ gibt oder so etwas wie „heiligen Zorn“ (der nicht mit Bösartigkeit verwechselt werde). Und weiß er’s vielleicht, so hält er’s nicht für seine Sache, sich 1

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Friedrich Torberg, „Ist Karl Kraus vorlesbar?“, in: Forum. Österreichische Monatsblätter für kulturelle Freiheit 10/117 (1963), 301, zit. nach Dietmar Goltschnigg (Hg.), Karl Kraus im Urteil literarischer und publizistischer Kritik. Texte und Kontexte, Analysen und Kommentare, 2 Bde., Berlin 2015/2017, hier Bd. 2 (im Folgenden: KG1 und KG2), 52. Ebd. Vgl. Alfred Polgar, „Den Besten seiner Zeit genug getan“, in: Die Weltbühne. Wochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft 19/7 (1923), 190: „Das Einzigartige an der Erscheinung des großen Wiener Publizisten Karl Kraus […] war die vollkommene Deckung von Mann und Werk.“

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Karl Kraus’ Weltkriegstragödie Die letzten Tage der Menschheit darauf einzulassen. Karl Kraus aber ist ohne sein Pathos und ohne seinen heiligen Zorn nicht zu denken, geschweige denn zu vermitteln. Pathos und heiliger Zorn lassen sich aus seinem Werk nicht ausklammern. Am allerwenigsten aus den Letzten Tagen der Menschheit. 3

Ein Jahr später sah sich Torberg allerdings – nach der Uraufführung der Letzten Tage der Menschheit unter der Regie Leopold Lindtbergs – zu einer Revision seines Vor-Urteils über den Kraus-Vorleser Qualtinger genötigt: Die Tragödie sei, räumte er nun ein, „vorlesbar, aber nicht aufführbar“. Ein adäquates Verständnis des „Phänomens Kraus“ sei ausschließlich „in seinem Eins und Alles“, nämlich „in der Sprache“, begründet: „Sie war es, der er das Primat über sein ganzes Schaffen, ja über sein ganzes Leben zuerkannt und in deren Dienst er sich gestellt hat.“4 Wenn Kraus kundgegeben habe, dass alles, was er schreibe, „geschriebene Schauspielkunst“ sei, 5 dann meine er damit nicht die „Schauspielkunst des Theaters“, „sondern die des Podiums“, nichts anderes somit als „geschriebene Vortragskunst“.6 Und dieses Postulat habe Qualtinger, räumte Torberg nun ein, mit seinen Vorlesungen und seinen Schallplattenaufnahmen, die seit 1962 produziert wurden, erfüllt (Preiser Records). Qualtinger trat als international gefeierter Rezitator der Letzten Tage der Menschheit gleichsam in die Fußstapfen des Autors. Zahlreiche, auch im Fernsehen aufgezeichnete und ausgestrahlte Auftritte folgten in den nächsten Jahren in Österreich, Deutschland, der Schweiz und sogar in Amerika. Lindtberg hegte keine Zweifel, dass selbst Kraus an „diesem echten Volksschauspieler mit seiner höchst ungemütlichen Komik und seiner erstaunlichen Fähigkeit, photographisch-minutiös zu überzeichnen“, Gefallen gefunden hätte. Wenn auch Lindtberg wie Torberg bei Qualtinger „das große Pathos“ und „den heiligen Zorn“ vermisste, vor allem in den Szenen des Nörglers, hinter dem sich allsichtbar der Autor verbirgt, so beeindruckte ihn doch der „heilige“, „g’waltinger Zurn“, mit dem Qualtinger „den Greißler Chramosta schüttelt“: „der stimmt und den macht ihm keiner nach.“ 7 Anders als Torberg bezweifelte Lindtberg allerdings, dass Kraus die Letzten Tage der Menschheit für unaufführbar gehalten habe, sonst hätte er sich ja auch 3 4 5 6 7

Torberg, „Ist Karl Kraus vorlesbar?“, 54. Friedrich Torberg, „Das Wort gegen die Bühne. Zur szenischen Uraufführung der ‚Letzten Tage der Menschheit‘ von Karl Kraus“, in: Forum. Österreichische Monatsblätter für kulturelle Freiheit 11/124 (1964), 282–284, zit. nach KG2, 317. Karl Kraus, Aphorismen, in: Schriften, Bd. 8, hg. von Christian Wagenknecht, Frankfurt a. M. 1986, 284. Torberg, „Das Wort gegen die Bühne“, 318. Leopold Lindtberg, „Zum Thema ‚Marstheater‘“, in: Forum. Österreichische Monatsblätter für kulturelle Freiheit 10/117 (1963), 428–429, zit. nach KG2, 300; vgl. Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, in: Schriften, Bd. 10, hg. von Christian Wagenknecht, Frankfurt a. M. 1986, III/6, 333–335.

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schon den beiden frühen Inszenierungen der Letzten Nacht, des Epilogs der Tragödie, in Wien (1923) und Berlin (1930) widersetzen müssen. Ganz im Gegenteil – betonte Lindtberg zu Recht – habe Kraus ja beide Aufführungen nach Kräften gefördert und bei der ersten Wiener Inszenierung sogar die „Stimme von oben“ gesprochen, 8 die gottgleich die Tragödie beschließt. Am 14. Juni 1964 fand dann endlich im Rahmen der Wiener Festwochen die langerwartete Uraufführung der Letzten Tage der Menschheit im Theater an der Wien statt. An der Vorbereitung der etwa vierstündigen Inszenierung mit 42 Szenen hatten ca. zweihundert Personen, darunter zweiunddreißig Schauspieler, achtzig Komparsen, eine Reihe von Bühnentechnikern und ein zehnköpfiger Produktionsstab mitgewirkt. Aus dem lautstarken, aber geteilten Presseecho in den Wiener und überregionalen deutschen Zeitungen seien hier nur einige wenige Stimmen hervorgehoben. Verständig und im Tenor beifällig urteilte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Hilde Spiel. Sie würdigte das im „irdisch-barocken Rahmen eines Wiener Schauspielhauses“ aufgeführte „Monster-Panorama eines Nörglers“ als „literarhistorische Tat“, da inzwischen das Publikum nach den Letzten Tagen des Ersten die „wirklich allerletzten“ des Zweiten Weltkriegs miterlebt hatte. Dass der Text für die Bühne stark gekürzt werden musste, sei legitim: „Kunst ist Selektion.“ Obschon die Textbearbeitung durch den Dramaturgen Heinrich Fischer darauf abzielte, jedes „antisemitische Wort“ aus dem Original zu streichen, blieben die „jüdischen Züge“ der „Hinterlandslemuren“ durchaus nicht verborgen, die Hilde Spiel freilich allzu plakativ dem „Weiningerschen ‚Selbsthaß‘“ 9 des Autors zuschrieb. Differenzierter bemängelte die Kritikerin „die Vorsicht, mit der man seine kalte Wut auf das Haus Habsburg auf ein paar Andeutungen reduzierte.“ Zwanzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg mute der „tragische Irrglaube des Erbkaisers“ im Schlusswort des Dramas geradezu versöhnlich an. Denn Franz Joseph habe „die Katastrophe wirklich ,nicht gewollt‘“, im krassen Gegensatz zum „vorsätzlichen Vernichtungsakt des satanischen Gefreiten“ Hitler. Allerdings stammt der hier zitierte historische Ausspruch nicht, wie auch viele andere Kritiker irrtümlich meinten, vom habsburgischen, sondern vom deutschen Kaiser Wilhelm II., der am 31. Juli 1915 im Reichsanzeiger „An das deutsche Volk“ großspurig verkündet hatte: „Ein Jahr ist verf lossen, seitdem Ich das deutsche Volk zu den Waffen rufen mußte. Eine unerhört blutige Zeit kam über Europa und die Welt. Vor Gott und der Geschichte ist Mein Gewissen rein: Ich habe den Krieg nicht gewollt.“ Das gravierendste Manko der Aufführung sah Spiel in der Über8 9

Vgl. KG2, 299. Der von Kraus überaus geschätzte Philosoph Otto Weininger (1880–1903, Suizid) gilt mit seiner misogynen und antisemitischen Schrift Geschlecht und Charakter (1903) als einer der Hauptvertreter des sogenannten „jüdischen Selbsthasses“.

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forderung des Publikums bei der Realisierung des parodistischen Grundmotivs, das heißt dem Unvermögen, „den Wahnwitz, der hinter jedem Witzwort steht“, und den tiefsinnigeren, „bitteren Ernst“ unter der „billigen“, oberf lächlichen Belachbarkeit der Figuren zu durchschauen: Eine gelungene sprachliche Parodie enthält immanent das Urteil über die parodierte Sprache. Parodierte Wirklichkeit jedoch entartet leicht zur Phrase, weil ein Mensch nicht zugleich als Zerrbild und dessen Kommentar dargestellt werden kann – zumindest nicht, muß man hier einschränkend sagen, mit den Mitteln, die Kraus und seinen Bearbeitern zur Verfügung standen.10

Hier habe sich das vom Autor im Vorwort des Dramas befürchtete Missverständnis erfüllt, dass sein Humor „nur der ‚Selbstvorwurf ‘“ eines Menschen sei, „der nicht wahnsinnig wurde bei dem Gedanken, mit heilem Hirn die Zeugenschaft dieser Zeitdinge bestanden zu haben.“11 Lindtberg habe zwar, so Spiels wohlwollendes Resümee, auf die Errettung der Letzten Tage aus ihrer historischen Zeitgebundenheit verzichtet. Aber dank der – wenn auch „im hohlen Lärm der Sprechchöre nur unzureichend“ vermittelten – „Warnung vor dem selbstverschuldeten Untergang“, „die uns mitten in unserem fragwürdigen Frieden wie ein Blitzstrahl trifft, war der Erweckung dieses Werkes aus der Vergessenheit in Wien ein Achtungserfolg beschieden.“12 Der aus Triest stammende Kulturredakteur der Wiener Presse, Piero Rismondo, verfasste eine behutsam abwägende Besprechung, deren Tenor im spekulativen Titel vorweggenommen wurde: „Karl Kraus hätte sicher sehr gelobt.“13 Vorangestellt wurde eine literarische Gesamtwürdigung der Letzten Tage. Anknüpfend an Arthur Schnitzlers pauschales, geringschätziges Verdikt (1912), dass von den „Tausenden Seiten“ der Fackel, „deren viele meisterlich geschrieben und die fast alle wirklich gearbeitet sind, nicht hundert bleiben werden“,14 erlaubte sich Rismondo die ‚Korrektur‘, dass doch „ein paar Hundert bleiben werden“, von denen sich die meisten in den Letzten Tagen der Menschheit finden.15 Allerdings unterschlug Rismondo dabei das uneingeschränkte Lob, das selbst Schnitzler im Tagebuch (30. Juli 1922) der Weltkriegstragödie zugestanden hatte: „Im ganzen eine 10 Hilde Spiel, „Das Monster-Panorama eines Nörglers. Uraufführung im Theater an der Wien. Karl Kraus ‚Die letzten Tage der Menschheit‘“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. Juni 1964, zit. nach KG2, 309–310. 11 Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, Vorwort, 9. 12 Spiel, „Das Monster-Panorama eines Nörglers“, 312. 13 Piero Rismondo, „Karl Kraus hätte sicher sehr gelobt. Uraufführung von ‚Die letzten Tage der Menschheit‘ in Lindtbergs Inszenierung im Theater an der Wien“, in: Die Presse, 16. Juni 1964, zit. nach KG2, 312. 14 Zit. nach KG1, 242. 15 Rismondo, “Karl Kraus hätte sicher sehr gelobt“, 58.

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ungewöhnliche Leistung, – aus seinem Temperament heraus sich manchmal zum dichterischen steigernd.“16 Rismondo stützte sein Urteil auf den Titel der Tragödie, der nicht „Die letzten Tage der österreichisch-ungarischen Monarchie“, sondern ausdrücklich „Die letzten Tage der Menschheit“ lautet. Den Anspruch, dass die in Wien gestellte Diagnose „Gültigkeit für eine Menschheitsepoche habe“, könne man den von Leopold Lindtberg und dem Dramaturgen Heinrich Fischer ausgewählten Szenen freilich nur bedingt zusprechen, jedenfalls nicht den satirisch effektvollsten Szenen, die „auf der Wiener Haupt und das des deutschen Bundesgenossen“ fallen: „Denn Kraus war ja ein Meister in der Demaskierung des variierenden Tonfalls der deutschen Sprache, von Ottakring bis an die Spree.“ Die Apokalypse der ganzen Menschheit sah Rismondo aber doch im letzten, von dem Münchner Kammerschauspieler Peter Lühr mit „polemischem Pathos“ und „ernster, ethischer Energie“ deklamierten Monolog des Nörglers besiegelt und vollends „im Grauen der letzten Nacht, da Gott ‚sein eigenes Ebenbild‘, den Menschen, zerstört, so gut als möglich sinnfällig gemacht.“17 Otto Basil, der Herausgeber der für die Nachkriegsjahre 1945 bis 1948 wichtigsten österreichischen Literaturzeitschrift PLAN, lobte in der Tageszeitung Neues Österreich ebenso die Bühnentechnik, die Musikarrangements und die schauspielerischen Leistungen. Er kritisierte allerdings – stärker als Hilde Spiel – das allzu historisierende Inszenierungskonzept Lindtbergs: die enge Zeitgebundenheit der Letzten Tage an den Ersten Weltkrieg. Da der Regisseur – durchaus effektvoll – „viel mit Standphotos aus dem Kriegsarchiv“ und „mit alten Filmen“ arbeitete, „wäre hier mehr als einmal Gelegenheit gewesen, mittels Überblendungen […] in den Zweiten Weltkrieg hinüberzuwechseln und so die Zusammenhänge, das Kontinuum der Bestialität, aufzuzeigen.“18 Bis zur zweiten Aufführung der Letzten Tage vergingen zehn lange Jahre. Die von Publikum und Kritik durchweg, zum Teil frenetisch applaudierte Inszenierung, die dann im Dezember 1974 im Foyer des Basler Theaterneubaus stattfand, erstreckte sich über zwei Abende und dauerte insgesamt rund acht Stunden. Regie führte der Grazer Hans Hollmann in einem monumentalen, „frei vagierenden Raumtheater“ unter Einbezug des Zuschauerraums in Form eines vom Bühnenbildner Wolfgang Mai errichteten Wiener Kaffeehauses, in dem ein 350-köpfiges Publikum an runden Zeitungstischen das Spektakel verfolgte. Einundzwanzig Akteure und Akteurinnen spielten über hundert Szenen und schlüpften unauf hörlich in ebenso viele Rollen und Kostüme. Beide Abende wurden mit demselben 16 Zit. nach KG1, 21. 17 Rismondo, „Karl Kraus hätte sicher sehr gelobt“, 58. 18 Otto Basil, „Schwarzgelbe Apokalypse mit Retouchen. Am Theater an der Wien hatten ‚Die letzten Tage der Menschheit‘ von Karl Kraus Premiere“, in: Neues Österreich, 16. Juni 1964, zit. nach KG2, 59.

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Prolog eingeleitet, dessen Sätze – wie bei der Wiener Uraufführung – aus dem Vorwort des Dramas stammen, diesmal jedoch vielstimmig von allen Schauspielerinnen und Schauspielern vorgelesen wurden: Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe gemalt, was sie nur taten. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate.19

Dieter Bachmann rühmte in der Hamburger ZEIT 20 die Inszenierung Hollmanns als „die bisher ausführlichste und sorgfältigste Annäherung an dieses dramatische Unding“. Der „Klamauk“ „gekonnter Slapsticks“ kontrastierte mit „tieftraurigen“ Szenen, wie zum Beispiel jener (schon von Piero Rismondo bei der Wiener Uraufführung hervorgehobenen) Episode, in der „eine polnische Bäuerin allein vor einem gelben k.u.k.-Brief kasten ihren Brief an den totgeglaubten Mann liest.“ 21 Bachmanns einziger Einwand betraf das vom Publikum mit donnernden und ausdauernden Ovationen gefeierte Regietheater, das schon Kraus vor allem am Beispiel Max Reinhardts und Erwin Piscators abgelehnt hatte, weil es zwangsläufig mit einer Abwertung des Textes verbunden gewesen sei: Doch vermögen selbst Hollmanns entfesselte Bühnenphantasie und der Glanz der Ausstattung nicht völlig zu verdecken, daß es im Kraus’schen Wortgewitter Fehlschläge gibt, Furor, der in der Geschichte verblaßt ist, Anklagen, bei denen der Angeklagte inzwischen vermodert.

In der Süddeutschen Zeitung pries Reinhard Baumgart die Inszenierung Hollmanns als ein gelungenes „Wunder“, das aus dem Labyrinth der Szenen und Figuren den „eigentlichen Helden“, gerade das hervorbringe, was Torberg so schmerzlich vermisste: die Kraus’sche Sprache, die Baumgart indes mit ähnlichen Vorbehalten wie Bachmann beurteilte: als einen Text, der, „je länger er wuchert“, „seinen Zorn immer wieder in Albernheiten, allzu fixen Pointen oder Rühreffekten“ zu verhauchen drohe, wären da nicht die beiden Gegenfiguren, der Nörgler als Alter Ego des Autors und der Optimist als sein Stichwortgeber, die dem babylonischen Stimmengewirr und dem turbulenten Geschehen „ein festes Rückgrat“ verliehen: Gekleidet nur wie ein besserer Herr, sozusagen ohne Kostüm, in Zivil, lief und redete Michael Rittermann durchs Panoptikum, verfolgt von den naiv quäkenden Zwischenfragen Adolph Spalingers. Rittermann und sein Regisseur haben diese zischenden und donnernden Zornmonologe mit einem schon irritierenden 19 Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, Vorwort, 9. 20 Dieter Bachmann, „Marstheater im Foyer. Karl Kraus’ ‚Die letzten Tage der Menschheit‘ in Basel“, in: DIE ZEIT, 20. Dezember 1974, zit. nach KG2, 60. 21 Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, V/34, 627.

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Dietmar Goltschnigg Mut zum Pathos in Szene gesetzt. […] So herrisch und so selbstgerecht und ohne jede Lust an beschwichtigendem Understatement muß wohl aussehen, wer angesichts dieser „Blutschlamperei“, dieses „traurigen Karnevals“ und „verknödelten Lebens“, dieser „Leichenstarre der Lebendigkeit“ noch weiter an mögliche Vernunft und Menschenwürde glauben möchte. 22

Bei Henning Rischbieter, der die umfassendste, über eine bloße Theaterbesprechung hinausgehende, scharfsinnige Interpretation des Dramas darbietet, hinterließ allerdings der von Rittermann zugegebenermaßen fulminant gespielte Nörgler einen zwiespältigen Eindruck, der die gesamte Inszenierung betraf: „Indem Hollmann diese anrührende Figuration des Nörglers als einen menschlich erregten, leidvoll engagierten ‚realen‘ Menschen in den Phrasen- und Larvenreigen“ und „nicht außerhalb als distanzierten, richtenden Beobachter postierte“, habe er den Text „der intellektuellen Nachprüf barkeit“ entzogen und „ihn in eine selbstgesetzlich formalisierte, geschlossene theatralische Sphäre von hoher Unterhaltsamkeit entrückt“, für die sich das Publikum „mit langanhaltendem, enthusiastischem Beifall“ und „donnerndem Getrampel“ bedankte. 23 Die von Kraus im Vorwort der Letzten Tage geäußerte Befürchtung, „Theatergänger dieser Welt vermöchten ihm [dem „Marstheater“] nicht standzuhalten“, 24 habe sich nicht erfüllt, meinte auch Baumgart: „Die Basler Zuschauer haben es, mit Gelächter, Schrecken und Ovationen.“ 25 Nach der ersten deutschen, von Günther Fleckenstein am 2. September 1964 im Stadttheater Hannover inszenierten und von der Presse durchweg verrissenen 26 Aufführung der Letzten Tage der Menschheit gab es erst zwanzig Jahre später, am 4. Oktober 1984, die zweite deutsche Aufführung im Bonner Stadttheater (Regie: Peter Eschberg, Bühnenbild: Hans Hoffer). Von den 220 Szenen der Tragödie sind 75 übriggeblieben. Der Originaltext wurde auf rund ein Fünftel gekürzt, der Epilog der Letzten Nacht gestrichen. Zwanzig Schauspielerinnen und Schauspieler traten vier Stunden lang in hundert Rollen auf. Das paradoxe und umso passendere Schlusswort blieb dem „lallenden“ österreichischen General im „Liebesmahl bei einem Korpskommando“ überlassen: „Durch – san’s – Spielts – weiter –.“ 27 Die Presse urteilte anerkennend, zum Teil begeistert. Was „als Extrakt des Nicht22 Reinhard Baumgart, „Diese Leichenstarre der Lebendigkeit. Hollmann inszeniert ‚Die letzten Tage der Menschheit‘ von Karl Kraus in Basel“, in: Süddeutsche Zeitung, 18. Dezember 1974, zit. nach KG2, 60. 23 Henning Rischbieter, „Zu Schatten und Marionetten abgezogen. Hollmann inszeniert ‚Die letzten Tage der Menschheit‘ in Basel“, in: Theater heute 16/2 (1975), 16–19, zit. nach ebd., 429. 24 Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, Vorwort, 9. 25 Rischbieter, „Zu Schatten und Marionetten abgezogen“, 429. 26 Vgl. u. a. Gert Schulte, „Apokalypse mit Gesang. ‚Die letzten Tage der Menschheit‘ in Hannover“, in: Die Welt, 7. September 1964, zit. nach KG2, 62. 27 Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, Vorwort, V/55, 710.

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Dramas“ gespielt wurde, war seit Jahren „das Ehrgeizigste, aber auch das Interessanteste“ im Theaterprogramm der deutschen Bundeshauptstadt, lobte Ulrich Schreiber in der Frankfurter Rundschau. 28 Die „Kraus’schen Miniaturen“ wurden „genau erfaßt und zum gesamtgesellschaftlichen Ensemble erhöht“, der „Sprachduktus“ des Autors „mit seinen balkanischen und jiddischen Untertönen“ wurde „mit einer erstaunlichen Leichtigkeit transportiert.“ Dass somit auch „das Jüdische“ – zum Unterschied von der Wiener Lindtberg’schen Uraufführung – „nicht unterschlagen“ wurde, hob Hans Schwab-Felisch anerkennend in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hervor. 29 Den „antisemitischen Selbsthaß“ des Autors habe freilich der Regisseur – „zu Recht“ – gestrichen. Die schauspielerischen Leistungen des gesamten Bonner Ensembles wurden von der Kritik uneingeschränkt gewürdigt, vor allem jene des greisen Wolfgang Büttner, der schon am 29./30. April 1947 im Radio Frankfurt am Main die Sprechrolle des Nörglers übernommen hatte: Wenn er sich nun „zum großen Schlußmonolog aus dem Rollstuhl hochstemmt und seine erlösungssuchenden Visionen kundtut – dann nehme er schmerzlichen, drohenden, f lehenden Abschied von einem innig geliebten Leben“, so Lothar Schmidt-Mühlisch in der Hamburger Welt. 30 Dass dieses „unaufführbare, gewaltige Antikriegs-Pandämonium“ 31, dieses „monströse, satirisch-sarkastischen Un-Drama“, dieser „Kraus-Brocken“ 32 letztlich doch spielbar sei, hätten an diesem „für Bonn ganz und gar ungewöhnlichen Theaterabend“ alle Mitwirkenden eindrucksvoll bewiesen. Der verdiente Lohn des Publikums: „Langer, fast zu Ovationen gesteigerter Applaus.“ 33 Von den in den 1980/1990er Jahren auf kleineren Bühnen veranstalteten Aufführungen der Letzten Tage der Menschheit erzielte die Klagenfurter Inszenierung (Regie: Michael Wallner, Bühnenbild: László Varvasovszky) im September 1993 die beachtlichste Resonanz. Der aus Graz stammende Spielleiter bewährte sich als gelehriger Schüler seines Grazer Lehrers Hans Hollmann. Wie die Kritik hervorhob, stellte Wallner die Szenerie eindrucksvoll in den aktuellen politischen Kontext des Jugoslawienkriegs, der besonders mörderisch in Bosnien wütete, wo auch schon die Lunte zur Zündung des Ersten Weltkriegs gelegt worden war. Aus der Reihe origineller Regieeinfälle ragte Elfriede Jelineks filmisch eingespielter Nörgler heraus: 28 Ulrich Schreiber, „Weltenbrand und Staatsoperette“, in: Frankfurter Rundschau, 9. Oktober 1984, zit. nach KG2, 63. 29 Hans Schwab-Felisch, „Menetekel – nicht Historisierung“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. Oktober 1984, zit. nach ebd. 30 Lothar Schmidt-Mühlisch, „Herziger Weltuntergang“, in: Die Welt, 6. Oktober 1984, zit. nach ebd. 31 Schwab-Felisch, „Menetekel – nicht Historisierung“. 32 Günther Hennecke, „Kammerspiele und Monumentaldrama“, in: Neue Zürcher Zeitung, 30. Oktober 1984, zit. nach ebd. 33 Schmidt-Mühlisch, „Herziger Weltuntergang“.

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Dietmar Goltschnigg Elfriede Jelinek als ebenso sprachkritische Nachfolgerin von Karl Kraus. Unendlich weit entfernt sitzt sie in den Filmeinspielungen am Ende der Stufen und liest nicht nur Passagen des Nörglers, sie fungiert auch als weibliche Verkörperung des Beobachters. 34

Drei Jahre später, im Januar 1996, inszenierte Michael Wallner die abermals Letzten Tage der Menschheit, diesmal im Berner Stadttheater. Wallner begnügte sich mit einer extrem kompakten, knapp zweistündigen Spielfassung. Richard Reich (Neue Zürcher Zeitung) hob aus dem dutzendköpfigen Ensemble wieder den Nörgler hervor, der diesmal als Clochard auf dem Bretterboden herumkroch, unverkennbar an den „klassischen Rufer in der Wüste“ erinnernd, „dessen mahnende Aufforderung zur Umkehr, dessen pathetische Kunde vom Weltenende stets auf taube Ohren stößt.“ Der von Werner Hutterli „blendend konzipierte Bühnenraum“ präsentierte sich als ein „gleissend weiss gekacheltes Schlachthaus“: „Gespenstisch schweben die vollen und entleerten Leichensäcke vor den Augen des Publikums an einer Art Fleischerhaken durch die Luft.“ 35 Die auf einer maschinellen Auf hängevorrichtung baumelnden Figuren wurden, gemäß dem Vorwort des Dramas, „zu Schatten und Marionetten abgezogen und auf die Formel ihrer tätigen Wesenlosigkeit gebracht.“ 36 ***

Die Letzten Tage der Menschheit wurden auch in anderen, nichtdeutschsprachigen Ländern aufgeführt. Ich begnüge mich mit der Inszenierung in Turin, vor allem wegen ihres gigantomanischen Regiekonzepts. Die Aufführung fand am 29. November 1990 am Teatro Stabile di Torino unter der Regie Luca Ronconis statt und erzielte international das bis heute lautstärkste, allerdings höchst kontroverse Medienecho aller Aufführungen außerhalb des deutschsprachigen Raums – insbesondere wegen des überdimensionalen Spielraums und der ebenso aufwändigen technischen Ausstattung. Der Bühnenbildner Daniele Spisa ließ auf dem alten, am Stadtrand Turins gelegenen Lingotto-Fabrikgelände des Fiat-Konzerns eine Bühne im Ausmaß von 4.000 Quadratmetern errichten. 70 Techniker hatten mehrere Lokomotiven und Güterwaggons samt Geleisen, dazu Draisinen, Schiffe, Kräne, Fiat-Oldtimer, Kanonen und rotierende Zeitungsdruckmaschinen aufgestellt. Dazwischen bewegten sich, da es keine Sitzplätze gab, rund 600 feuerpolizeilich zugelassene Zuschauer als Ringstraßenf laneure , Schlachtenbummler und 34 Thomas Trenkler, „Schrille Operette vom Weltuntergang“, in: Der Standard, 25./26. September 1993, zit. nach ebd. 35 Richard Reich, „Die hausgemachte Apokalypse“, in: Neue Zürcher Zeitung, 23. Januar 1996, zit. nach ebd., 65. 36 Kraus Die letzten Tage der Menschheit, Vorwort, 9.

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Kriegsvoyeure. Das chaotische Stimmengekreisch von 60 Schauspielerinnen und Schauspielern (nach der italienischen Textvorlage von Ernesto Braun und Mario Capitella) verstummte nur dann, wenn die durch Lautsprecher verstärkten Streitreden des Optimisten und des in geschminkter Kraus-Maske auftretenden Nörglers durch die Halle schallten. Die szenische Generalmobilmachung wurde simultan auf acht Schauplätzen gespielt, gemäß Ronconis multimedialem Darstellungskonzept einer „Ästhetik der Fernbedienung“, die mit dem Switchen von einem TV-Kanal zum andern gänzlich neue Seh- und Hörgewohnheiten ermöglichte (Wolfgang Prosinger, Süddeutsche Zeitung) 37; ein „grosser Kunstgriff “ – so Christine Wolter (Neue Zürcher Zeitung) 38 –, der es „mit theatralischem Spürsinn“ ermöglichte, „Gleichzeitiges, Über- und Nebeneinanderliegendes“ in „hervorragenden Parallel- und Dialoganordnungen sichtbar“ zu machen und so „das gewaltige Werk auf eine Spielzeit von dreieinhalb Stunden zu konzentrieren.“ „Was Karl Kraus einem Marstheater zugedacht hat“, so beifällig Wolfgang Herles (Der Standard) 39, „Ronconi hat es auf die Erde gebracht.“ Die schärfste Ablehnung der Turiner Inszenierung formulierte indes Sigrid Löff ler (Profil) 40: Die „Apokalypse Kakaniens“ habe sich als „multiple Verkehrskreuzung, als theatralische Rushhour“ ereignet, in der das Publikum „gnadenlos überfahren“ worden sei: Aber „der einzige Verkehrstote“ wäre Karl Kraus. Die meisten Kritiken beanstandeten, dass in Ronconis Weltkriegsszenario die kolossartige Maschine und der ungeheure Materialeinsatz über die Schauspielerinnen und Schauspieler und den Text des Autors triumphiert hätten. Doch wäre hier mitzubedenken, dass Kraus selbst in der Dritten Walpurgisnacht den kommenden Weltkrieg als globale „Gleichzeitigkeit von Elektrotechnik und Mythos, Atomzertrümmerung und Scheiterhaufen“41 vorausgesagt hatte. Überdimensionalen Ausmaßes waren nicht nur der Spielraum und die technische Ausstattung der Turiner Inszenierung, sondern auch der finanzielle Aufwand: fünf Milliarden Lire (heute 3,5 Millionen Euro) wurden renommierend im Programmheft genannt. Die Monstrosität der Turiner Inszenierung wurde, was niemand für möglich gehalten hätte, knapp ein Jahrzehnt später in Bremen noch übertroffen, und zwar durch den österreichischen Theaterprovokateur Johann Kresnik, dessen Insze37 Wolfgang Prosinger, „Deklamation über den Krieg. ‚Die letzten Tage der Menschheit‘, von Luca Ronconi in Turin inszeniert“, in: Süddeutsche Zeitung, 3. Dezember 1990, zit. nach KG2, 70. 38 Christine Wolter, „Stimmen, Lichter und Maschinen. Luca Ronconis Karl-Kraus-Inszenierung der ‚Letzten Tage der Menschheit‘ in Turin“, in: Neue Zürcher Zeitung, 7. Dezember 1990, zit. nach ebd. 39 Wolfgang Herles, „Das Marstheater zur Erde gebracht“, in: Der Standard, 3. Dezember 1990, zit. nach ebd. 40 Sigrid Löffler, „Generalmobilmachung. Karl Kraus ist das Großereignis des Theater-Tourismus. Seine ‚Letzten Tage der Menschheit‘ ereignen sich in Turin“, in: Profil, 10. Dezember 1990, zit. nach ebd. 41 Karl Kraus, Schriften, Bd. 12, hg. von Christian Wagenknecht, Frankfurt a. M. 1989, 37.

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nierung der Letzten Tage der Menschheit am 3. Juni 1999 in die größte U-BootBunkerruine Deutschlands namens „Valentin“ verlegt wurde, einer Werftanlage an der Weser mit einer dreischiffigen, 450 Meter langen, 75 Meter breiten und 25 Meter hohen Halle, ummauert mit sieben Meter dicken Betonwänden, in der zwischen 1943 und 1945 zwölftausend KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter interniert waren, von denen mehr als viertausend umkamen. Die tragische Ironie der Geschichte wollte es, dass das hundertjährige Fackel-Jubiläum mit dem Krieg im Kosovo und der Bombardierung Belgrads durch die NATO zusammenfiel. So wurden drei Kriege, der Erste und der Zweite Weltkrieg mit dem Balkankrieg, optisch und akustisch ineinander geblendet und gebrüllt: Die Dialoge des Nörglers mit dem Optimisten wurden gestrichen, als Hauptfigur agierte die „Pressehyäne“ Alice Schalek, „eine Art Boje im Spektakel“ (Ralph Hammerthaler, Süddeutsche Zeitung) 42 , die schockierende Bilder schoss und verlogene Berichte aus Serbien ins Megafon schrie. Die Kritik reagierte ablehnend, ja verärgert: „Zeter. Mordio“ aus „Krach und Feuer, Schall und Rauch“ (Sigrid Löff ler, DIE ZEIT) 43, „Banalität des Bösen“, „reduziert aufs Banale“ (Hartmut Lück, Frankfurter Rundschau) 44, „Ratatatata!“, „Bumm-bumm!“, „Rmrmrmrmr!“, „Wumm, wumm!“ „Ratterknatterhelikopter“, „deutscher Kraftakt“, „selbstanklagendes deutsches History-Clubbing auf höchster Lärmstufe: Feuerwaffen, Düsenbomber, Explosionen“ (Hans Haider, Die Presse) 45. Applaus spendete allein Dirk Schümer (Frankfurter Allgemeine Zeitung): Auf Krankenhausbetten zieht am Ende das Ensemble der Zuckenden und Versehrten noch einmal im Fackelschein durchs Publikum, bevor sie alle im Dunkel des Bunkers verschwinden und auch zum Applaus nicht mehr wiederkommen. Ein nackter Stahlbehelmter reitet auf einem Schimmel vorweg und sagt, was hinterher alle immer sagen: „Wir sind nicht schuldig.“ Das ist ungemein effektvoll, das ist großartig – das ist ein pazifistisches Stahlgewitter.46 42 Ralph Hammerthaler, „Sprengmeisters Leerjahre. Ballern im Bunker. Johann Kresnik inszeniert ‚Die letzten Tage der Menschheit‘ in Bremen“, in: Süddeutsche Zeitung, 5./6. Juni 1999, zit. nach KG2, 65. 43 Sigrid Löffler, „Zeter. Mordio. Hans Kresnik inszeniert ‚Die letzten Tage der Menschheit‘ von Karl Kraus im Bunker Valentin bei Bremen“, in: DIE ZEIT, 10. Juni 1999, zit. nach ebd. 44 Hartmut Lück, „Die letzten Tage im U-Boot-Bunker Valentin. Schrecken und Tötungsbereitschaft als Normalfall. Johann Kresnik hat sich in Bremen Karl Kraus vorgenommen“, in: Frankfurter Rundschau, 5. Juni 1999, zit. nach ebd. Es handelt sich um eine Anspielung auf Hannah Arendts umstrittenes Buch Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen (1963), in dem Eichmann als gewöhnlicher Spießbürger verharmlost wird. 45 Hans Haider, „Deutsches Kriegs-Clubbing im Erlebnisbunker – ohne Sirk-Ecke“, in: Die Presse, 5./6. Juni 1999, zit. nach KG2, 65. 46 Dirk Schümer, „Komm in den totgesagten Bunker. Stahl im Blut – Johann Kresnik inszeniert in Bremen ‚Die letzten Tage der Menschheit‘“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5./6. Juni 1999, zit. nach ebd. Es handelt sich um eine Anspielung auf Ernst Jüngers erstes Buch In Stahlgewittern

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Wenngleich nach dem vorliegenden Rezeptionsmaterial den ablehnenden Kritiken der Bremer Inszenierung wohl beizupf lichten ist, könnte man einen, wohl vom Spielleiter eher ungewollt originellen, doch geradezu kongenialen Kunstgriff hervorheben, der sich in Analogie zu der großartigen Fackel-Glosse „Reklamefahrten zur Hölle“47 setzen ließe, einer „Petitesse“, die der Kraus-Forscher Jens Malte Fischer einige Jahre später einer brillanten Analyse unterzog.48 Es handelt sich um den Kommentar zu einer Annonce der Basler Nachrichten vom Sommer 1921 mit dem Angebot einer Schlachtfelder-Rundfahrt in das Gebiet von Verdun zum wohlfeilen Preis von 117 Schweizerfranken. Kresnik schickte der Aufführung eine Publikumsexkursion voraus: Sie begann mit einer idyllischen Fahrt auf dem Ausf lugsdampfer „Hanseat“ weserabwärts in der Abenddämmerung, es folgten eine kurze Busfahrt und ein längerer Fußmarsch. Erst dann wurde die Bunkerruine betreten, wo das mörderische Inferno der Letzten Tage der Menschheit mit seinen Bomben einen tosenden Anfang nahm. Als gegensätzliche, überaus sparsame, aber umso wohlwollender applaudierte Inszenierung sei eine gleichsam ‚sommertaugliche‘ Miniatur der Letzten Tage der Menschheit erwähnt, die vom 7. Juli bis 6. August 2000 im Rahmen der niederösterreichischen Festspiele in Reichenau auf dem Semmering zur Aufführung gelangte (Regie: Hans Gratzer, Bühnenbild: Christoph Widauer, Textbearbeitung: Hans Haider). Als Spielraum dreier Akte dienten sinnigerweise zwei Säle und die Terrasse des Südbahnhotels, wo ja auch einige Szenen in der Weltkriegstragödie selbst lokalisiert sind. Das verfallene einstige Luxushotel eignete sich als ideales Ambiente für die untergehende Habsburgermonarchie und ihre abgelebte Gesellschaft. Die operettenhafte Inszenierung einer „fröhlichen Apokalypse“ zielte mit vielen Musik- und Tanzeinlagen durchweg auf die unbeschwerte Unterhaltung des Publikums, die dank prominenter Wiener Schauspieler, die jeweils in mehreren Rollen mitwirkten, auch mühelos gelang.49 Mit größtem Applaus wurde Peter Matić als Nörgler belohnt, dessen unaufgeregte Rhetorik 41 Episoden des Dramas narrativ geschickt zu verbinden wusste. Das Publikum dankte: Die dreißig Vorstellungen des Festivals waren schon kurz nach der Premiere ausverkauft. 50

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(1920), das die Erlebnisse des Verfassers im Ersten Weltkrieg an der deutschen Westfront gegen Frankreich beschreibt und das sowohl als kriegsverherrlichendes wie auch als pazifistisches Werk gelesen werden kann. Karl Kraus, „Brot und Lüge“, in: Schriften, Bd. 16, hg. von Christian Wagenknecht, Frankfurt a. M. 1991, 175–179. Jens Malte Fischer, „Der Haß ist fruchtbar noch. Karl Kraus – der Nörgler als Rechthaber“, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 58/9–10 (2004), 847–856. Otto Schenk, Marianne Mendt, Rudolf Melichar und Bernd Birkhahn brillierten in routinierter Manier. Vgl. die beifälligen Besprechungen von Conny Hannes Meyer („Lemuren und Masken im desolaten Hotelpalast“, in: Die Presse, 10. Juli 2000) und Ronald Pohl („Maskenzug der Sommergeister“, in: Der Standard, 10. Juli 2000), beide zit. nach KG2, 154.

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Zum hundertjährigen Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahre 1914 gab es erstaunlicherweise in Österreich nur zwei Inszenierungen der Letzten Tage der Menschheit, und zwar am 1. Mai 2014 im Wiener Volkstheater (Regie und Bühnenbild: Thomas Schulte-Michels, Kostüme: Tanja Liebermann, Musik: Patrick Lammer) und am 29. Juli 2014 im Salzburger Landestheater (Regie: Georg Schmiedleitner, Bühnenbild: Volker Hintermeier, Kostüme: Tina Kloempken, Musik: Tommy Hojsa, Matthias Jakisic), die am 5. September 2014 im Wiener Burgtheater wiederholt wurde. Breitere Resonanz, zumindest in der österreichischen Presse, rief die Inszenierung der Letzten Tage der Menschheit im Wiener Volkstheater hervor. Angelehnt offenbar an die „Marat-Sade-Klapsmühlen-Fiktion“ von Peter Weiss (Hans Haider, Wiener Zeitung) 51, spielte sich das Geschehen sinnigerweise in einem Irren-Haus ab, in der Wien „Heilanstalt Volkstheaterpavillon“, einem idealen, weil grotesken Ambiente für die blinde Kriegsmanie des unwiderruf lich zum Untergang verurteilten habsburgischen Hauses Österreich, dessen gutmütiger greiser Kaiser Franz Joseph als überdimensionaler Hampelmann über der Bühne hing. Als interner Spielleiter eines ausschließlich männlichen Ensembles agierte ein vertrottelter Nervenarzt. Ihm waren elf mit langen, weißen Unterhosen bekleidete Patienten ausgeliefert, die im f liegenden Wechsel in 70 weibliche und männliche Rollen schlüpfen mussten. Der Nörgler fehlte. Inmitten von 49 „schnellen, hochkonzentrierten“, „vom Mief der Geschichte“ befreiten Mini-Episoden (Margarete Affenzeller, Der Standard) 52 ertönte auch diesmal wieder der legendäre „Bumsti!“-Ruf 53, aber es regnete nur Konfetti, und es krachen nur Knallfrösche. Publikum und Kritik erfreuten sich vor allem an der kurzen Spieldauer der Inszenierung von nur hundert Minuten: eine „rasante Farce“, „eine echte Hetz“, ein „Faschingsscherz“ (Norbert Mayer, Die Presse) 54, der jedoch unter der Oberf läche „seinen Anspruch 51 Hans Haider, „Weltuntergang im Irrenhaus“, in: Wiener Zeitung, 4. Mai 2014, zit. nach ebd., 67. 52 Margarete Affenzeller, „Blicke ins Irrenhaus der Geschichte“, in: Der Standard, 2. Mai 2014, zit. nach ebd. 53 Etliche Kraus-Kritiker widmeten der kürzesten, nur aus einer Regieanweisung und einem einzigen Wort bestehenden Szene der Letzten Tage (II/28, 297) zu Recht ihre besondere Aufmerksamkeit. Der groteske Ausruf „Bumsti!“ bildet gleichsam den unmenschlichsten, die vertrottelte Ohnmacht der k. u. k. Armee am Beispiel ihres höchsten Befehlshabers entlarvenden Kulminationspunkt der ganzen Tragödie: „Hauptquartier. Kinotheater. In der ersten Reihe sitzt der Armeeoberkommandant Erzherzog Friedrich. Ihm zur Seite sein Gast, der König Ferdinand von Bulgarien. Es wird ein Sascha-Film vorgeführt, der in sämtlichen Bildern Mörserwirkungen darstellt. Man sieht Rauch aufsteigen und Soldaten fallen. Der Vorgang wiederholt sich während anderthalb Stunden vierzehnmal. Das militärische Publikum sieht mit fachmännischer Aufmerksamkeit zu. Man hört keinen Laut. Nur bei jedem Bild, in dem Augenblick, in dem der Mörser seine Wirkung übt, hört man aus der vordersten Reihe das Wort: Bumsti!“ 54 Norbert Mayer: „Bumsti! Konfetti für Karl Kraus“, in: Die Presse, 2. Mai 2014, zit. nach KG2, 67.

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auf finale Gültigkeit“ behalten habe, 55 vor allem dank des glücklichen Einfalls, der Kaiserhymne auf dem Fuß das Horst Wessel-Lied der SA folgen zu lassen, das unüberhörbar die logische Fortsetzung des mörderischen, millionenfachen Wahnsinns des Ersten in den Zweiten Weltkrieg intonierte. Die Salzburger Inszenierung der Letzten Tage der Menschheit sollte ursprünglich als Koproduktion mit dem Wiener Burgtheater von Matthias Hartmann, dem Direktor des Burgtheaters, eingerichtet werden, aber nach dessen unrühmlicher, fristloser Entlassung hatte wenige Monate zuvor der Linzer Regisseur Georg Schmiedleitner einspringen müssen. Dass er angesichts der kurzen Vorbereitungszeit nicht vor der Herkulesaufgabe des „Marstheaters“ zurückgeschreckt war, nötigte der Kritik zwar Respekt ab, ließ sie jedoch nicht von einem Totalverriss der Inszenierung abhalten. 13 Schauspieler mühten sich in Salzburg am 29. Juli 2014 und anschließend noch in Wien am 5. September 2014 vier überlange Stunden hindurch vergeblich an dem Text ab, vor dessen einzigartiger Sprachgewalt sie alle restlos überfordert waren und deshalb kapitulieren mussten: „Kein Ton stimmte, alles klang falsch, hohles Dröhnen, Kreischen, Geifern und Zischeln“ ( Joachim Riedl, DIE ZEIT). 56 Die absurdeste Szene – so Gerhard Stadelmaier (Frankfurter Allgemeine Zeitung) – war dem Schluss der Aufführung zugedacht: Der Optimist hat sich als Leutnant verkleidet und berichtet, wie er Gefangenen den Kopf abgeschnitten und vergewaltigte Mädchen erschossen hat. „Bumsti!“ Dann noch ein großer Kanonenknall. Schluss. Der Erste Weltkrieg dauert in Salzburg vier Stunden. Danach ist man herzlich froh, dass nicht nur der Krieg vorbei ist.57

Dem „exemplarischen Debakel“ Schmiedleitners setzte Riedl wehmütig die Solorezitation ausgewählter Szenen aus den Letzten Tagen der Menschheit entgegen, die „der herausragende Menschendarsteller“ Erwin Steinhauer einen Monat zuvor, am 28./29. Juni 2014, im Wiener Josefstädter Theater dargeboten hatte: Assistiert nur von einem Musiktrio, thronte er gebieterisch im schwarzen Gehrock hinter einem Stehpult und schickte seine Stimme auf die Reise zu den Larven und Lemuren, zu dem gesamten Personal des Weltuntergangs. Mit seiner physischen Präsenz dominierte er die Bühne, sparsame Gestik, doch da war mehr los als in den Massenszenen der anderen Produktionen. Steinhauer traf erstaunlich präzise jeden Ton, seine Stimme klang bedrohlich, wo es die Strenge des Textes verlangt, war grob, vertrottelt, ignorant, brüskiert, blutleer, aufgeregt gackernd oder senil. 58 55 Haider, „Weltuntergang im Irrenhaus“. 56 Joachim Riedl, „Das veruntreute Nationaldrama“, in: DIE ZEIT, 10. August 2014, zit. nach ebd., 68. 57 Gerhard Stadelmaier, „Servus, Apokalypserl, küss die Hand“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. Juli 2014, zit. nach ebd. 58 Riedl, „Das veruntreute Nationaldrama“.

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Aus den ca. 50 Inszenierungen der Letzten Tage der Menschheit, die in den fünf Jahrzehnten zwischen 1964 und dem Weltkriegsgedenkjahr 2014 im deutschsprachigen Raum und außerhalb stattfanden, konnten in diesem kleinen Ausschnitt nur einige wenige ausgewählt und im Spiegel der Tagespresse beurteilt werden. Alle Aufführungen, ob sie im Urteil der Kritik gelungen oder misslungen sein mochten, belegen jedoch, dass das Kraus’sche „Marstheater“ trotz vieler Einwände, die sich zu Unrecht auf den Autor berufen wollen, prinzipiell auch auf Erden spielbar ist, sofern eine nachvollziehbare, der profunden Kenntnis des ganzen Dramas zu verdankende Auswahl der Szenen und Figuren mit einer adäquaten Kürzung und Straffung des Textes, insbesondere der überlangen monologischen Dialoge zwischen dem Optimisten und dem Nörgler vorgenommen wird. Als mindestens ebenso überzeugendes Argument für die irdische Theatertauglichkeit der Letzten Tage der Menschheit kann ihre Rezitation auf der Bühne durch einen einzigen Schauspieler bzw. eine einzige Schauspielerin ins Treffen geführt werden, wie Kraus sie selbst in seinen unzähligen Vorlesungen (oft vor über tausend gebannten Zuhörerinnen und Zuhörer) in seinem Konzept eines „Theaters der Dichtung“ meisterhaft unter Beweis gestellt hat und wie ihm darin Schauspieler und Regisseure, namentlich Helmut Qualtinger, Erwin Steinhauer und Hans Hollmann nachfolgten, um nur einige applaudierte Rezitatoren aus Österreich hervorzuheben.

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Ballett in Serie TV-Produktionen als Indikatoren des Stellenwerts einer Kunstform 1 Oliver Peter Graber Sie sind Stief kinder der Forschung: Das Ballett und die TV-Serie. Warum also nicht deren Zusammenhänge und allfällige Querverbindungen erkunden? Kommt klassisches Ballett in TV-Serien überhaupt als Thema vor? Wenn ja, welches Bild wird von der Kunstform gezeichnet? Trägt die TV-Serie zur Bekanntheit von Ballett und seiner Musik bei?

Erste Orientierung und Serienauswahl Die maßgebliche Methode zur Information über TV-Serien ist die Recherche im Internet. Ein Blick auf Webseiten wie www.fernsehserien.de und www.imdb. com – die wichtigsten Quellen dieser Studie – macht rasch klar, dass das Forschungsfeld nahezu uferlos ist: Ihr Debüt erlebte die Fernsehserie offenbar2 mit Meet the Press, einer Polittalksendung, die am 6. November 1947 zum ersten Mal ausgestrahlt wurde. Während der 1950er Jahre folgten die ersten Serien-Hits, die fiktive Handlungserzählung anstelle von Information zum Inhalt hatten. Zum „goldenen Zeitalter“ der TV-Serie wurden die 1960er bis 1980er Jahre, die Einführung des Farbfernsehens (USA 1954, Deutschland 1967, Österreich 1969) mag seinen Teil dazu beigetragen haben. Da für die vorliegende Untersuchung eine Auswahl getroffen werden musste, fiel die Wahl auf eine repräsentative Stichprobe (siehe Anhang) von TV-Serien dieser „goldenen“ Epoche, die international besonders erfolgreich waren (d. h. bis heute weite und regelmäßige Verbreitung durch Sendung bzw. Wiederholung und Dokumentation auf käuf lich erwerbbaren Bildtonträgern erfahren) und zu ihrer Entstehungszeit auch im ORF zu sehen waren. Zusätzlich wurde diese Kerngruppe um einige wenige Serien erweitert, die außerhalb dieses Zeitfensters liegen, um zu speziellen Fragestellungen Vergleiche anstellen zu können bzw. Entwicklungen nachvollziehen zu können. Des Weiteren wurden, wie bereits erwähnt, 1

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Teilergebnisse dieser Untersuchung wurden bereits veröffentlicht, ihren Abschluss bildet der vorliegende und nunmehr vollständige Beitrag zu dieser Festschrift. Vgl. Oliver Peter Graber, Purdey and Onedin-Line – ballet goes TV, in: Dance for You 4 (2010), 22–23; ders., Ballett in Serie, in: dancer’s 4 (2010), 34–35. Die entsprechenden Hinweise im Internet sind nicht hinreichend mit Quellen belegt.

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Ballett in Serie

Internet-Suchmaschinen benützt, um auf TV-Serien spezialisierte Webseiten nach dem Schlagwort „Ballett“ (in deutscher, englischer, französischer und russischer Schreibweise) zu durchforsten. Zeichentrickserien und Informationsserien blieben von der Untersuchung ausgespart. 3 Einzelne Genres bilden in Bezug auf das Thema Ballett im Rahmen der TVSerie nicht wirklich scharfe Barrieren, wie Lassie (Staffel 4, Folge 7: Die Ballerina) beweist. Die betreffende Folge war die 110. der Serie und wurde am 20. Oktober 1957 zum ersten Mal ausgestrahlt. Janine Perreau, zum Zeitpunkt der Dreharbeiten 15 Jahre alt und ein Kinderstar ihrer Zeit, spielt darin eine junge Tänzerin, die im Pferdestall/Geräteschuppen zu Grammophonklängen ( Johann Strauss Sohn, Pizzicato Polka op. 449) trainiert. Im Laufe der Geschehnisse klemmt sie sich ihren Fuß beim Erkunden der Prärie ein und wird von Lassie gerettet. Die Folge endet mit dem Satz eines Knaben: „Girls –… Not you, Lassie!“ und bedient damit gleich eine ganze Reihe an durchwegs platten Ballettklischees. Janine Perreau war zuvor bereits im Spielfilm The Red Danube (Schicksal in Wien, 1949) zu sehen, in dem Janet Leigh in der Hauptrolle die fiktive russische Ballerina Maria Buhlen darstellt, die in den Westen f liehen will. Auch damit sind zentrale Ballettklischees genannt, die häufig in TV-Serien begegnen. Beachtenswert ist der musikdramaturgische Kunstgriff in der späteren Lassie-Folge, über die Musik von Johann Strauss Sohn den Bezug zum früher gedrehten, in Wien spielenden Film herzustellen.

Möglichkeiten der Interaktion zwischen TV-Serie und klassischem Ballett Ballett/Tanz als Thema einer kompletten Serie Ballett oder Tanz als Thema einer kompletten Serie konnte für folgende zehn Fälle identifiziert werden, die hier außerhalb der Stichprobe als eigenständige Gattung verzeichnet werden sollen, wobei zu bemerken ist, dass im Hinblick auf die Handlung häufig Unfälle/Verletzungen – in diesem Kontext beachte man auch die eben gemachten Bemerkungen zu Lassie – sowie beruf liche Rivalität und damit wiederum häufig verbreitete Ballettklischees ins Zentrum gerückt werden. • Die verbotene Tür (L’Âge Heureux), Frankreich 1966 (Eine Staffel, vier Folgen, neun Folgen in der deutschen Fassung) • Tournee. Ein Ballett tanzt um die Welt, Deutschland 1970/71 (Eine Staffel, sechs Folgen) 3

In diesem Zusammenhang sei jedoch darauf hingewiesen, dass insbesondere Zeichentrickserien ein hohes Potential besitzen, Kinder und Jugendliche für Musik und Ballett zu begeistern. So berufen sich etwa der chinesische Pianist Lang Lang wie auch der chinesische Choreograph Ma Cong auf die Zeichentrickserie Tom und Jerry als initiales Erlebnis in der Hinwendung zu ihrem späteren Berufsfeld.

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• Fame – Der Weg zum Ruhm, USA 1982–87 (Sechs Staffeln, 136 Folgen) • Anna. Ist sie für Beifall noch zu jung?, Deutschland, 1987/88 (Eine Staffel, sechs Folgen) • Dance – Der Traum vom Ruhm (Un paso adelante), Spanien 2002–05 (Sechs Staffeln, 130 Folgen) • Dance Academy – Tanz Deinen Traum, Australien 2010–13 (Drei Staffeln, 65 Folgen) • New in Paradise, USA 2012/13 (Eine Staffel, 18 Folgen) • The next Step, Kanada 2013– (bislang fünf Staffeln, 154 Folgen) • Flesh and Bone, USA 2015 (Eine Staffel, acht Folgen) • Find me in Paris (Léna, rêve d’étoile), Frankreich/Deutschland 2018– (bislang eine Staffel, 26 Folgen, zwei Staffeln mit insgesamt 52 Folgen geplant). Ballett als Hauptthema einzelner Folgen einer Serie In einzelnen Folgen begegnet Ballett als Hauptthema, wie im Fall von Lassie bereits zu zeigen war, genreübergreifend. Im Rahmen der Stichprobe konnten dabei folgende Folgen identifiziert werden: • Die Munsters: Staffel 1, Folge 34: „Der Zauberlehrling“ • Hart aber herzlich: Staffel 3, Folge 18: „Russisches Ballett“ • Hör mal wer da hämmert: Staffel 2, Folge 20: „Ein genialer Plan“, sowie Staffel 6, Folge 4: „Brennende Herzen“ • Lassie: Staffel 4, Folge 7: „Die Ballerina“ • Magnum: Staffel 2, Folge 28: „KGB im Spitzenschuh“, sowie Staffel 5, Folge 105: „Ballettschuhe und heiße Waffen“ (Der zweite Titel ist irreführend: Zwar geht es um eine junge Tänzerin und ihre Probleme, Ballett kommt jedoch nicht vor.) • McCloud: Staffel 5, Folge 6: „Der Mann mit dem goldenen Hut“ ( Jaclyn Smith, siehe auch weiter unten, tritt dabei als Gaststar in der Rolle der Ballerina auf.) • Mord ist ihr Hobby: Staffel 1, Folge 9: „Der Tod kommt zum Applaus“, sowie Staffel 8, Folge 165: „Ein hundert Jahre alter Fluch“ (Die Musik von Jeff Sturges für das darin gezeigte Ballett zitiert auch Motive aus der FantasieOuvertüre Romeo und Julia von Pëtr Il’ič Čajkovskij.) • My living Doll: Staffel 1, Folge 23: „Rhoda, the Escort“ • Remington Steele: Staffel 2, Folge 17: „Lauter nette Leute“ (Das Drehbuch führt Schwanensee und Romeo und Julia als schroffen Gegensatz zur Dorf kultur in den USA ein.) • Sabrina – total verhext: Staffel 6, Folge 14: „Sabrina Ballerina“ • Simon & Simon: Staffel 3, Folge 52: „Heels and Toes“ (Die skurrile deutsche Übersetzung des Titels „Trau keinem Joghurt“ bedient ein weiteres Ballettklischee.) • T. J. Hooker: Staffel 2, Folge 1: „Das Messer des Matrosen“. 741

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Über die Stichprobe hinaus erbrachten Online-Suchmaschinen 57 Treffer4 zu ballettspezifischen Episoden, ein kleiner Auszug mag genügen: • Amos ’n Andy: Staffel 1, Folge 8: „The Ballet Tickets“ • Ellen (These Friends of Mine): Staffel 1, Folge 27: „Ballet Class“ • Family: Staffel 4, Folge 68: „Ballerina“ (mit Stephanie Zimbalist – Hauptdarstellerin in Remington Steele – als Gaststar in der Rolle Ballet Dancer.) • Family Matters: Staffel 7, Folge 162: „Swine Lake“ [sic] (Ballettunterricht soll dabei helfen, Leistungen beim Basketball zu verbessern.) • Marblehead Manor: Staffel 1, Folge 12: „Ballet Ruse“ [sic] (Ein russischer Tänzer soll in die UdSSR zurückgeholt werden.). Die Analyse ergibt, dass Ballett als Hauptthema einzelner Folgen einer Serie insbesondere • klischeeartig als russlandspezifische Thematik auftritt; • ein komödiantisches bzw. skurriles Element darstellen soll, welches letztlich aber auf Kosten des Balletts selbst oder der Figur geht, die sich damit befasst, indem entweder das Ballett ins Lächerliche gezogen wird oder aber die Figur, indem diese am Ballett scheitert; • häufig platte erotische Anspielungen begegnen, die nahelegen, dass dies ein Klischee des Balletts sei. Überragend stellt sich aus dramaturgischer Sicht die russlandspezifische Thematik dar. Hierbei wird das Ballett oft im Zusammenhang mit Spionage dargestellt und auf diese Weise insbesondere in US-amerikanischen TV-Serien mit einem Feindbild ihrer Entstehungszeit im Kalten Krieg assoziiert. Im Gegenzug wird auch der Versuch unternommen, das Ballett bzw. Tänzer*innen als Opfer politischer Machenschaften erscheinen zu lassen. Die Biographien von Rudolf Nurejew, Mikhail Baryshnikov oder Natalia Makarova, aber auch von Sergej Prokof ’ev, Dmitrij Šostakovič und Aram Chačaturjan mögen hierbei Pate gestanden haben. In diesem Zusammenhang exemplarisch ist die Folge „Der Zauberlehrling“ („Munster The Magnificent“) aus der TV-Serie Die Munsters. Zunächst werden in deren Handlungsverlauf Zaubermittel bemüht, um den nach Frankenstein modellierten Herman Munster auf Spitze tanzen zu lassen. Er zieht magische Ballettschuhe an, dann tut der Zauberstaub das Seinige: „I got the recipe from Hans Christian Andersen. This shoes, and some magic dancing powder thrown on them, will do the trick.“ Mit der Nennung von Andersen ist der Hinweis auf das Märchenballett des 19. Jahrhunderts ebenso klar, wie jener auf Die roten Schuhe inklusive des 4

Die Suche warf zufälligerweise auch Radio-Serien aus, die ballettspezifische Einzelfolgen umfassen, darunter z. B. The Men from the Ministry: Staffel 10, Folge 111: „Ballet Nuisance“ – ein neues Forschungsfeld?

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gleichnamigen Ballettfilms aus dem Jahr 1948, der bezüglich der Handlung oft mit dem Märchen von Andersen verwechselt wird. Der Dialog setzt mit der Antwort von Herman Munster fort: „Golly, I don’t wanna do the ballet at Eddie’s school. People might get the wrong impression. That I was a communist or something.“5 Mit dem Wort „something“, verbunden mit entsprechender Mimik, spielt die Szene auf erotische Klischees an, nach einem kurzen grotesken Tanz Hermans durch das Wohnzimmer wird die Idee des Ballettauftritts letztlich verworfen. Auch in der Konkurrenzserie zu Die Munsters lernte man tanzen (The Addams Family, Staffel 1, Folge 13: „Lurch, der Tango-Tänzer“), wobei wie im Falle von Herman Munster auf die groteske Wirkung und damit komödiantische Effekte gesetzt wird.6 Das Märchen, von jeher ein zentrales Thema des Balletts, greift im Rahmen des TVs gerne auf sein angestammtes Fach zurück, so auch in Sabrina – total verhext (Staffel 6, Folge 14: „Sabrina Ballerina“), als Sabrina ihre Zauberkräfte nützt, um aus dem Stand ohne jegliche Ballettausbildung Pirouetten drehen zu können. Mit ihrer Feststellung, dass dies wohl doch nicht so leicht sei und nicht einmal Zauberkräfte reichten, um ohne Training eine erstklassige Ballerina zu sein, erweist die Folge dem Ballett und seiner Technik eine bemerkenswerte Referenz. Ballett als begleitendes Handlungselement in Serien beziehungsweise einzelnen Folgen Als begleitendes Handlungselement begegnet Ballett in verschiedener Funktion, z. B. im Hintergrund, während die Handlung in Theatern spielt, gelegentlich absolvieren aber auch Hauptfiguren der Handlung Besuche von Ballettvorstellungen oder Proben. Bei dieser Gelegenheit kann es auch vorkommen, dass das Ballett für kurze Momente vollständig das Bild füllt und die Serienhandlung zu Gunsten des Balletts im Sinne von „Theater im Theater“ kurz aussetzt. Diese Art der Ballettintegration geht ab Mitte der 1970er Jahre zumindest im Rahmen der Stichprobe zunehmend zurück, zu den letzten Beispielen dieser Art zählt: Department S, Staffel 1, Folge 5: „Das Boeing-Rätsel“. Figuren einer Serie mit Balletthintergrund Dabei handelt es sich zumeist um fiktive weibliche Biographien, die insbesondere in ihrer Jugend professionell oder amateurhaft dem Ballett zuzuordnen waren. 5 6

Abschrift aus der Folge Der Zauberlehrling. Auch die letzte Folge von Hunter (Staffel 7, Folge 22: „Charlie, Jake und Wanda“) spielt komödiantisch mit dem Körperbild, indem Wanda, die Betreiberin eines Tanzstudios, Jake heiratet, der deutlich kleiner und schmächtiger ist als sie. Dies kann als Umkehrung des Pas de deux-Klischees (kleinere Tänzerin, größerer Tänzer) gedeutet werden. Im Original lautet der Folgentitel: „Little Man With A Big Reputation“.

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Besonders zu nennen ist die Figur der Purdey aus der letzten Staffel The New Avengers der TV-Serie Mit Schirm, Charme und Melone. Purdey war Elevin des Royal Ballet, konnte aber nach Studienabschluss nicht in die Kompanie übernommen werden, da sie zu groß war. Joanna Lumley, die Darstellerin der Purdey, hat keinen beruf lichen Balletthintergrund. Ein großer Ballettomane unter den Serienheld*innen ist die Figur des T. C. aus Magnum, seine Vorliebe für klassisches Ballett, für die er von seinen Freunden oft aufgezogen wird (hier begegnet uns das „Girls …“-Klischee aus Lassie wieder), ist einer der Running Gags der Serie. Ballettmusik als Titelmusik Als einzigartiges Beispiel – nicht nur im Zuge der gewählten Stichprobe – ragt die TV-Serie Die Onedin-Linie hervor, deren Titelmusik dem Ballett Spartacus von Aram Chačaturjan entnommen ist (Pas de deux, Adagio, von Spartacus und Phrygia). Es ist dies der einzige Fall in der gesamten Geschichte der Ballettmusik, in dem eine TV-Serie Ballettmusik international bekannt gemacht und verbreitet hat. Insgesamt fällt Die Onedin-Linie im Vergleich zu anderen Serien durch ihre außergewöhnliche Musikauswahl auf, so finden u. a. auch Werke von Ralph Vaughan Williams (bei „Englischer Hochseeschifffahrt“ thematisch naheliegend), Manuel de Falla, Gustav Mahler, Jean Sibelius und Dmitrij Šostakovič als TVMusik Verwendung.7 Die Titelmusik der Serie Knight Rider weist eine Ähnlichkeit zu Marche et Cortège de Bacchus aus dem Ballett Sylvia von Léo Delibes auf, die nach persönlicher Darstellung des Komponisten der besagten Titelmusik Stu Phillips jedoch rein zufällig ist.8 Dagegen ist die Titelmusik der kurzlebigen (eine Staffel, sechs Episoden, davon zwei nicht ausgestrahlt) Serie Highcliffe Manor, komponiert von Frank Denny De Vol, eindeutig eine Persiflage auf das Ballett Romeo und Julia von Prokof ’ev. In sounddramaturgischer Hinsicht ist im Falle von Knight Rider ergänzend auf die elektronische Stimme des Wunderautos als zentrales Gestaltungselement hinzuweisen: Wie hinreichend bekannt ist, nützte der Produzent von Knight Rider Glen A. Larson den roten Scanner des mit männlicher Stimme sprechenden Wunderautos K.I.T.T. (‚Knight Industries Two Thousand‘) bereits zuvor in seiner TV-Serie Kampfstern Galactica als Kostümteil (Augen) der so genannten Zylonen.9 Er tätigte 7 8 9

Wollte man in dieser Hinsicht Beziehungen zu anderen Serien herstellen, so sei Miami Vice genannt, die ebenfalls nicht primär mit original komponierter TV-Musik, sondern vor allem mit Pop- und Rockmusik ihrer Zeit über den Bildschirm flimmert. So der Komponist am 19. Dezember 2008 auf http://knightrideronline.com (30.01.2019). Ähnliche Übernahmen aus eigenen Serien tätigte Glen A. Larson z. B. auch im Fall von Kampfstern Galactica und Buck Rogers, wobei zahlreiche Ausstattungsdetails, Kostüme und Trickaufnahmen aus Kampfstern Galactica in Buck Rogers übernommen wurden. In letzterer (Buck Rogers) kommt

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jedoch noch eine weitere wesentliche Übernahme, denn in Kampfstern Galactica existierte bereits ein mit künstlicher Intelligenz ausgestatteter, mit weiblicher Stimme sprechender Autopilot, der unter der Bezeichnung C.O.R.A. (‚Computer Oral Response Activated‘) die Piloten der Raumschiffe unterstützte. Das akustisch stark prägende Element der elektronischen Stimme war somit in beiden Serien vertreten. Im Hinblick auf besonders nennenswerte musikalische Elemente und Gestaltungsmittel im Bereich TV-Musik sei im Rahmen der Stichprobe über den reinen Ballettbezug hinaus ergänzend auf drei Produktionen verwiesen: Die letzte Staffel The New Avengers (Komponist: Laurie Johnson) von Mit Schirm, Charme und Melone zeigt eine ungewöhnlich hohe Dichte an kontrapunktischen Satztechniken. Auch Cagney & Lacey (Komponist: Bill Conti) beschenkt geneigte TV-SerienHörer*innen (ob es diese wohl gibt?) mit einer Vielzahl an delikat instrumentierten und vor allem dezent eingesetzten klanglichen Kommentaren zum Geschehen, die zum Teil an Schauspielmusik erinnern. Die Serie agiert darüber hinaus – für eine Kriminalserie ebenfalls erwähnenswert – mit zahlreichen erzieherisch gemeinten Einstellungen und Dialogen, für die folgender beispielhaft herausgegriffen sei: FBI-Agent: „Rubinstein war einzigartig. Das Klavier war sozusagen seine Geliebte. Er war ein wirklicher Romantiker.“ Cagney: „Ich für meinen Teil bin ein Horowitz-Fan. Haben Sie sein Moskauer Konzert im Fernsehen gesehen?“ FBIAgent: „Ja“. Cagney: „Ich bin froh, dass er wieder Konzerte gibt.“ FBI-Agent: „Ich hatte das Glück, Rubinstein in der Carnegie-Hall zu hören.“ Cagney: „Ah – da gehe ich furchtbar gerne hin – die Lichter, die Leute, es ist toll.“ FBI-Agent: „Zu dumm, dass die Renovierung der Akustik geschadet hat. Was sagen Sie dazu, Detective Lacey?“10 Abschließend sei noch Allein gegen die Mafia (Staffeln 2 bis 7 und 10) erwähnt, für deren Soundtrack Ennio Morricone verantwortlich zeichnet, der in der Titelmusik auf den originellen Einsatz tiefer Register des Klaviers setzt. Ballettmusik als Filmmusik Als Filmmusik tritt Ballettmusik im Rahmen der Stichprobe in unterschiedlicher Funktion auf: • als Begleitung einer realen Ballettszene im Bild • als Kommentar zu einer bestimmten Situation (z. B. Schwanensee als Charakterisierung von Personen aus Russland)11 auch dem Tanz wichtiger Raum zu, dabei handelt es sich um fiktive Gesellschafts- und Kulttänze zukünftiger, auch außerirdischer Kulturen. 10 Abschrift aus der zweiteiligen Folge „FBI schaltet sich ein“. In dieser Folge ist auch die Etüde c-Moll op. 25 Nr. 12 von Frédéric Chopin zu hören, auf die in einem weiteren Dialog auch eingegangen wird. 11 Verwendungen dieser Art können zugleich als ein Messinstrument für die Bekanntheit von Ballettmusik gelten: Indem Schwanensee als akustische Beschreibung für fiktive Personen russi-

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• als Kommentar zur Geschichte einer handelnden Person (mit Funktion der Schilderung deren Gemütszustandes oder Charakters bzw. deren fiktiver Biographie) • als Atmosphäre im Hintergrund (wenn die Szene z. B. in einem Theater spielt etc.) • als TV-Musik im Allgemeinen außerhalb der Titelmusik. Darsteller*innen mit Balletthintergrund Da es nicht Ziel der Studie war, die Biographien der Serien-Darsteller*innen nach ballettrelevanten Hinweisen zu durchleuchten, beschränkt sich dieser Absatz auf Beispiele, die sich im Zuge der Recherchen beiläufig ergeben haben.12 • Barbara Bain, eine Hauptrolle u. a. in Kobra übernehmen Sie (Staffeln 1–3) und Mondbasis Alpha 1, erhielt ihre tänzerische Ausbildung bei Martha Graham und wechselte erst spät zur Schauspielerei, als sie zur Kenntnis nehmen musste, dass mit zeitgenössischem Tanz zu wenig Geld zu verdienen war. • Yvonne Joyce Craig, u. a. eine Hauptrolle als Batgirl/Barbara Gordon in der dritten Staffel der Serie Batman, ließ sich, ehe sie zum Schauspiel wechselte, an der Edith James School in Dallas in Ballett ausbilden, wo Alexandra Danilova sie entdeckte. Auf deren Empfehlung hin war Craig von 1954 bis 1957 Mitglied der Ballets Russes de Monte Carlo. • Joan Marshall, u. a. Darstellerin der Gattin von Hermann Munster in der nicht ausgestrahlten, in Farbe gedrehten Pilotfolge von Die Munsters (ihre Rolle wurde von Yvonne de Carlo übernommen) sowie in einer Rolle in Raumschiff Enterprise zu sehen, war trotz ihrer Erkrankung (Poliomyelitis) am Beginn ihrer Karriere als Tänzerin tätig – dies erinnert zugleich an das Schicksal der Ballerina Tanaquil Le Clercq. • Andrea Parker, u. a. wichtige Rollen in JAG – Im Auftrag der Ehre, Mord ist ihr Hobby, E. R. – Emergency Room und Pretender, war drei Jahre Mitglied des San Francisco Ballet.

scher Herkunft eingesetzt wird, setzt dies im gleichen Atemzug voraus, dass angenommen wird, das musikalische Thema sei so allgemein bekannt, dass es von einem breiten Publikum zum einen eindeutig als Schwanensee erkannt und zum anderen dem Komponisten Čajkovskij und dessen Heimatland Russland zugeordnet werden kann. Letzteres setzt auch voraus, dass die Biographie des Komponisten vertraut sein muss. Diesen Status des kollektiven Bewusstseins erreicht im Rahmen unserer Stichprobe nur Čajkovskij, wobei derartig eingesetzte Zitate in Serien bis zu den 1980er Jahren üblich sind. Durfte/darf bei späteren TV-Generationen die Kenntnis von Schwanensee bzw. des Namens Čajkovskij nicht mehr vorausgesetzt werden? 12 Hinweise zu den angegebenen Biographien sind auf den Webseiten zu den jeweils genannten TVSerien zu finden.

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Jaclyn Smith (hier während ihrer Zeit in New York) ist ein besonders prominentes Beispiel für die Verbindung von Ballett und Schauspiel im Rahmen der TV-Serie. © Foto im Privatbesitz von Jaclyn Smith, Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

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• Jaclyn Smith (Abbildung), u. a. eine der Hauptrollen in Drei Engel für Charlie, absolvierte ihre Ballettausbildung in New York und hatte das Berufsziel Klassischer Tanz, ehe sie für den Film entdeckt wurde. • Linda Thorson, u. a. Hauptdarstellerin in Mit Schirm, Charme und Melone (Staffeln 6a und 6b), spielte mit Rudolf Nurejew im Film Valentino. • Lesley Warren, eine Hauptrolle u. a. in Kobra übernehmen Sie (Staffel 5), studierte klassischen Tanz in New York, u. a. bei George Balanchine. • Fred Astaire bildete mit seiner Hauptrolle in Ihr Auftritt al Mundi einen besonders tänzerischen Akzent in der TV-Geschichte. • Paul Piccerini, Die Unbestechlichen (ab Staffel 2), war mit der Ballerina Marie Mason verheiratet. • William Shatner, u. a. eine der Hauptrollen in Raumschiff Enterprise und T. J. Hooker, nahm 2004 das Studioalbum Has Been auf, welches das Milwaukee Ballet 2007 als Grundlage für eine Produktion mit dem Titel Common People (Choreographie Margo Sappington) nütze, worüber auch ein Dokumentarfilm (William Shatner’s Gonzo Ballet, 2009) entstand. Unter den in TV-Serien auftretenden Ballettgaststars seien genannt: • Die Muppet Show (Staffel 2, Folge 27): Rudolf Nurejew als Rudolf Nurejew • Sex and the City: Mikhail Baryshnikov als Aleksandr Petrovsky (in insgesamt neun Folgen) Darüber hinaus werden reale Namen der Tanzwelt genützt, um eine entsprechende Atmosphäre zu erzeugen. So ist beispielsweise in Batman (Staffel 2, Folge 29: „Der Stimmendiebstahl“) das fiktive Duncan’s Dance Studio nach Isadora Duncan benannt. Das Vorgehen zeugt von Fachkenntnis, da der Begriff „Dance Studio“ an Stelle von „Ballet Studio“ gewählt wurde, eine für TV-Serien außergewöhnliche Sorgfalt. Erwähnenswert ist auch die Strategie der britischen TV-Serie Die Profis, die auf das Royal Ballet durch ihre Ausstattung referenziert, indem beispielsweise im Hintergrund einer Büroeinrichtung ein entsprechendes Plakat zu sehen ist.

Zusammenfassung Wie anhand einer repräsentativen Stichprobe, die insbesondere international ausgestrahlte TV-Serien der 1960er bis 80er Jahre umfasst, sowie weiterer Recherchen mittels Suchmaschinen auf spezialisierten Webseiten gezeigt werden konnte, existieren zahlreiche Querverbindungen zwischen dem Ballett (bzw. dem zeitgenössischen Tanz) und der TV-Serie. Das Ballett wird in TV-Serien häufig in stark klischeehafter Form präsentiert, wobei russlandspezifische Themenbezüge deut748

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lich überwiegen. Aus musikalischer Sicht stellt Die Onedin-Linie, welche in der Wahl ihrer Titelmusik die Ballettmusik zu Chačaturjans Spartacus international bekannt machte, den interessantesten Fall dar, in einem weiteren (Knight Rider) konnten vermutete Verbindungen zwischen Ballett- und TV-Musik ausgeräumt werden. TV-Serien erweisen sich zudem als ein Gradmesser der Popularität der Kunstform Ballett sowie deren gesellschaftlicher Relevanz. Aus musikalischer Sicht zeigt sich dabei Pëtr Il’ič Čajkovskij und insbesondere dessen Schwanensee als dominierender Faktor. Aufgrund des schier uferlosen Studienfeldes erhebt die Untersuchung in keinem Punkt Anspruch auf Vollständigkeit, sondern sieht sich vielmehr als Anstoß zur Dokumentation bislang unerforschter Pfade des Musiktheaters.

Anhang: Stichprobe Die Reihung der in der Stichprobe enthaltenen TV-Serien erfolgt nach Anzahl der insgesamt gedrehten Folgen (dem Titel vorangestellt, Pilotfilme und Specials teilweise eingerechnet) und der damit verbundenen TV-Präsenz. Die Titel (durch Hochstrich getrennt) werden, wo immer möglich, in deutscher Sprache angegeben, bei Verwechslungsgefahr durch ähnliche oder gleichlautende Seriennamen auch in Englisch bzw. in beiden Sprachen oder als Ergänzung in der Originalsprache. Wann immer möglich, wurde der Titel auf die minimal mögliche Länge gekürzt. Bei Gleichstand der Folgenzahl erfolgt die Reihung chronologisch. 1079 (bislang13): Tatort | 635: Rauchende Colts | 591: Lassie | 431: Bonanza | 418 (bislang): Der Alte | 357: Dallas (1978) | 354 (bislang): Navy CIS | 331: E. R. – Emergency Room | 300: Ein Fall für Zwei | 281: Derrick | 279: Hawaii Fünf-Null (1968) | 271: Perry Mason | 264: Mord ist ihr Hobby | 259: Eine schrecklich nette Familie | 256: M*A*S*H | 249: Die Leute von der Shiloh Ranch | 249: The Love Boat | 243: Baywatch | 227: JAG – Im Auftrag der Ehre | 221: Die Waltons | 218: Der Denver Clan (Dynasty) | 210: Unsere kleine Farm (Little House on the Prairie) | 204: Hör mal wer da hämmert | 203: Walker, Texas Ranger | 199: Der Chef | 195: Matlock | 194: Mannix | 187: Mit Schirm, Charme und Melone (The Avengers und The New Avengers) | 180: Golden Girls | 178: Diagnose: Mord | 178: Star Trek: The Next Generation | 176: Star Trek: Deep Space Nine | 172: Star Trek: Raumschiff Voyager | 171: Kobra übernehmen Sie | 163: Sabrina – total verhext | 162: Magnum (Magnum, p. i.) | 157: Simon & Simon | 154: Fantasy Island | 153: Hunter | 151: Trapper John MD | 151: Dr. Quinn – Ärztin aus Leidenschaft | 148: Quincy, M. E. | 139: Bezaubernde Jeannie (I Dream of Jeannie) | 139: CHiPs | 139: McGyver (1985) | 132: Detektiv Rockford – Anruf genügt | 131: Spitting Image | 129: Cagney & Lacey | 124: Balko | 122: Cannon | 121: Die Straßen von San Francisco | 120: Batman | 120: Die Muppet Show | 119: Die Unbestechlichen 13 Stand aller in diesem Artikel mit „bislang“ bezeichneten Serien ist September 2018.

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(Chicago 1930) | 118: Simon Templar (The Saint) | 118: Kojak – Einsatz in Manhattan | 115: Drei Engel für Charlie | 114: Hotel | 113: Ein Colt für alle Fälle | 113: Miami Vice | 111: Ein Engel auf Erden | 110: Hart aber herzlich (Hart to Hart) | 110: Renegade, gnadenlose Jagd | 110: Gene Roddenberry’s Andromeda | 107: Mein Onkel vom Mars | 107: Praxis Bülowbogen | 106: The Six Million Dollar Man | 105: The Man from U.N.C.L.E. (1964) | 102: ALF | 98: Das A-Team | 97: High Chaparral | 97: Der Kommisar | 96: La Femme Nikita | 94: The Rookies | 94: Remington Steele | 93: Starsky & Hutch | 91: Die Onedin-Linie | 91: T. J. Hooker | 91: Siska | 90: Knight Rider | 89: Police Woman | 89: Daktari | 88: Agentin mit Herz (Scarecrow and Mrs. King) | 88: Flipper | 88: V.I.P. – Die Bodyguards | 87: Der Doktor und das liebe Vieh | 80: Airwolf | 79: Raumschiff Enterprise (Star Trek) | 78: Zorro | 76: Die Schwarzwaldklinik | 70: Die Munsters | 68: Das Haus am Eaton Place | 67: Hardcastle & McCormick | 67: Ein Mountie in Chicago | 66: Das Model und der Schnüff ler | 63: Ihr Auftritt al Mundy | 63: Peter Strohm | 62: Kung Fu | 58: Trio mit vier Fäusten | 58: The Bionic Woman | 57: Die Profis | 52: Black Beauty | 48: Mondbasis Alpha 1 (Space: 1999) | 48: Allein gegen die Mafia | 47: McCloud | 46: Mike Hammer | 45: Petrocelli | 44: Baywatch Nights | 39: Das Erbe der Guldenburgs | 36: Shannon | 35: Buck Rogers | 31: Kampfstern Galactica (Battlestar Galactica und Galactica 1980) | 30: Dempsey & Makepeace | 30: Honey West | 29: The Girl from U.N.C.L.E. | 28: Department S | 26: Jason King | 26: My living Doll | 26: The Green Hornet | 26: Flugboot 121 SP (Bailey’s Bird) | 26: Der Kurier der Kaiserin | 26: UFO | 26: Fünf Freunde | 24: Die Zwei | 26: Die Bären sind los | 24: Boomer, der Streuner | 24: Colorado Saga | 23: Yes Minister | 22: Team Knight Rider | 20: Der Mann aus Atlantis bzw. Der Mann aus dem Meer | 20: Das Krankenhaus am Rande der Stadt (Nemocnice na kraji města) | 15: Nero Wolfe (1981) | 15: Fackeln im Sturm | 14: Max Headroom | 13: Anna und der König von Siam | 13: Der Unsichtbare | 13: Die Mädchen aus dem Weltraum | 13: Timm Thaler oder das verkaufte Lachen | 13: Der Gorilla | 13 (bzw. 21 in deutscher Fassung): Pippi Langstrumpf | 11: Shogun | 7: A for Andromeda (1961) | 7: Raumpatrouille – Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes Orion | 6: Oliver Maass | 6: Patrik Pacard | 6 (bzw. 3): Das Boot | 4: Der Seewolf | 4: Fabrik der Offiziere | 4: Noble House

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Heimkehrer Ein zeit- und mediengeschichtlicher Blick Cornelia Szabó-Knotik

Vorbemerkung Der folgende Text verdankt sich erstens einem langjährigen Interesse an dem, was in den 1980er Jahren „Geschichte des Musiklebens“ geheißen hat und als ein Forschungsschwerpunkt in der Zeit gemeinsamer Arbeit mit Peter Revers am noch jungen, der Abteilung Musikpädagogik zugehörigen Institut für Musikgeschichte an der damaligen Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien entstanden ist. Inzwischen wurde aus dieser Organisationseinheit ein wesentlich größeres, an der zur Universität für Musik und darstellende Kunst (mdw) gewordenen Einrichtung angesiedeltes Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung (IMI); und das erwähnte Forschungsinteresse hat sich bei mir zur „musikalischen Zeit- und Mediengeschichte“ entwickelt, die dem methodischen Anspruch einer konsequent auf audio(visuellen) Quellen beruhenden musikhistorischen Darstellung verpf lichtet ist.1 Zum Zweiten ist der Ausgangs- und Endpunkt dieser Untersuchung ein Produkt aus der Periode der zeitgleichen Beschäftigung am genannten, von Friedrich C. Heller geleiteten Institut, nämlich ein Interview aus dessen erstem Oral-History-Projekt.

1984: Theodor Berger Im Sommer 1984 hat Peter Revers als Hellers Mitarbeiter eine Serie von lebensgeschichtlichen Gesprächen mit dem Komponisten Theodor Berger aufgezeichnet. 2 Das erste dieser Interviews enthält eine fünfminütige Schilderung der eindrücklichen Faszination, die mit dem Wasser und in weiterer Folge mit den Donau-Auen des heimatlichen Traismauer verbunden gewesen ist:

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Vgl. dazu das an dieser Universität 2017–21 laufende Projekt „Telling Sounds“, www.mdw.ac.at/ imi/tellingsounds (30.1.2019). Interview Peter Revers mit Theodor Berger, Sign. I 4–I 6, 20. Juli und 4. August 1984, Digitalisate im Bestand des IMI. Kurzangaben zum Inhalt: Erika Hitzler, „Regesten zu den Beständen des Institutsarchivs: Interviews mit Zeitzeugen (I)“, in: Anklänge 2006. Österreichische Musikgeschichte der Nachkriegszeit, hg. von Markus Grassl, Reinhard Kapp und Cornelia Szabó-Knotik, Wien 2006 (= Anklänge – Wiener Jahrbuch für Musikwissenschaft), 195–197.

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Heimkehrer. Ein zeit- und mediengeschichtlicher Blick Bei mir war es eine ungeheure Magie – allein diese kleine Lagune da in Traismauer – und das lag nicht in der Luft, in der Luft – mhh Stratum sag’ ich, sondern in einem anderen Stratum, in einem Wasser-Stratum, dass es da Leben gibt – das kam mir so vor, als wär’ es in einer anderen Galaxie, als etwas ganz u-n-g-eh-­e -u-e-r Magisches, und natürlich hat sich das dann auch ausgewirkt, in Traismauer, da war die Schule – da war ein Getreidefeld, jetzt ist das alles verbaut, […] und das‚ was ich in Erinnerung hab’, wie ich ein Kind war, da war ein Getreidefeld und dieses Getreidefeld hat wie an einem See gewogt und da hab’ ich mir vorgestellt, dass das ein t-i-e-f-e-s Wasser ist, t-i-e-f, hunderte Meter und dieses hab’ ich im Traum, jedes Mal vor dem Einschlafen hab’ ich mich drauf gefreut, da hab’ ich geträumt, dass das ein tiefer See ist und jedes Mal, dass dann, – – – Weiber auftauchen, Weiber mit ihren Rundungen, -- und mich hinunterzieh’n […] das war ein Traum, den hab’ ich stundenlang geträumt, nachdem ich ins Bett bin. 3

Der Komponist erinnert sich (fast ungeachtet der sachlichen Fragen des Interviewers) an eine geradezu magische Anregung der Fantasie eines Kindes, das mit vier, fünf Jahren „den Mythos der Donaunixen in sich“ gehabt habe: Naja, die Donau, die war – hab’ ich nicht irgendwo geschrieben, was für eine Faszination, dass ich die Donau immer schon wahrgenommen hab’? – – Weil die ganzen Laute, weil dieses fast unhörbare Wasser – – Summen, das ging ja auch in die Uferlandschaft hinein, und verfing sich in den Baumkronen und hab’ ich schon wahrgenommen – und durch die Baumkronen – – war für niemanden hörbar, für mich auch nicht, hab’ es aber gespürt.4

Ein Blick in Theodor Bergers Werkverzeichnis zeigt zwei Kompositionen, die mit einer solchen „Magie des Wassers“ verbunden sind: Die Musik für den Film An klingenden Ufern5. sowie die Homerische Sinfonie,6 beide aus dem Jahr 1948. Das Ballett ist 3

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I 4, 20:40–23:12. Bemerkenswert ist, dass sich Theodor Berger nicht an die Traisen erinnert, sondern an die entferntere Donau. Die Gedankenstriche sind als Pausenzeichen gesetzt, um Unterbrechungen des Redeflusses anzuzeigen. Laute der Zustimmung bzw. kurze Einwürfe des Interviewers werden nicht erfasst, da der Interviewte sie hier konsequent übergeht und sie das Lesen des Zitats erschweren würden. I 4, 25:20–26:00. An klingenden Ufern (Ö 1948, R: Hans Unterkircher), autographes Fragment der Partitur im Nachlass des Komponisten in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB), http://data.onb.ac.at/rec/AC13811208 (30.1.2019). Homerische Sinfonie Ballett in 12 Bildern aus der ‚Odyssee‘, autographe Partitur im Nachlass des Komponisten in der Musiksammlung der ÖNB, http://data.onb.ac.at/rec/AC13806676 (30.1.2019). Das Ballett ist 1950 von der Staatsoper im Theater an der Wien uraufgeführt worden. Ein Foto davon aus der Sammlung des USIS befindet sich im Bildarchiv der ÖNB, http://www.bildarchi vaustria.at/Pages/ImageDetail.aspx?p_iBildID=656514 (30.1.2019). Eine Konzertfassung des Stücks wurde 1955 vom Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester unter Josef Keilberth gespielt (Stefan Schmidl, „Musikalische Struktur und Identitätssuche. Die Homerische Symphonie von Theodor

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zwar nicht illustrativ komponiert, aber es enthält einige Anklänge an Wellenschlag und Meer7 und ähnelt darin auch klanglich einigen Stellen im Soundtrack des Films. So gleich in dessen erster Einstellung, wo von Sonnenreflexionen überzogene Wellen den Hintergrund für die ablaufenden Credits bilden.8 Den von Streichern, Harfe und Stimmen charakterisierten Klangteppich der dabei ablaufenden Musik behält auch die nächste, Zeit und Verhältnisse der Handlung definierende Einstellung bei, die aus weißem Lokomotiven-Dampf mit einer Folge von Einblendungen gestaltet ist (bis 2:11) – die Jahreszahl 1943, dann von unten aufgenommene Baumkronen mit Himmel dazwischen, danach Zeitungsschlagzeilen: „Tagung der Reichs- und Gauleiter der NSDAP: Zusammenfassung aller Kräfte für die totale Kriegsführung“, „Beispiellos harte Kämpfe im Raum von Stalingrad“, „Zusammenkunft Führer – Duce. Totaler Einsatz aller Kräfte bis zum endgültigen Sieg“, „Die Gefahr ist riesengroß – und riesengroß müssen unsere Anstrengungen sein!“, „Alle Kräfte für den Endsieg! Meldepflicht der Arbeitsreserven“. Nach einer Abblende kommt die immer noch von Musik ohne jedes Geräusch unterlegte Überleitung zur ersten Spielszene, bestehend aus der Halbnahaufnahme einer Frau im Spiegel, die ein Schriftstück in Händen hält und sich zur Seite dreht, dann Nahaufnahme auf diese Frau, die nach unten blickt um zu lesen, Großaufnahme eines Telegramms, datiert mit „4. Februar 1943“, das ihre Einberufung als „Hilfsschwester im Reservelazarett XXI“ verfügt (2:13). Nach erneuter Abblende beginnt dann die erste Sprech-Szene, ein Dialog im Lazarett zwischen dem Arzt und der als „Schwester Maria“ angesprochenen Frau. Dieser Beginn ist insofern typisch für die Gestaltung des Films, als er immer wieder nur mit Musik begleitete Szenen hat und dabei als Bilder häufig Naturaufnahmen zeigt – Bäume, Wolken, eine Barockkirche (außen und innen), den Wald und eben Wasser. Musik ist darüber hinaus (neben der Malerei) wesentlicher Handlungsbestandteil: Drei der Hauptpersonen üben sie als Beruf aus – der Lehrer Benjamin Keller („Onkel Benjamin“ / Karl Skraup) spielt Orgel und komponiert, der männliche „Gegenspieler“ des Haupthelden Alexander Varena (Hans Unterkircher9) ist Pianist und die mit ihm auch freundschaftlich verbundene Gabriele Wergeland (Cäcilia Kahr) Geigerin.10 Daraus ergeben sich zahlreiche AnBerger“, in: Die Künste der Nachkriegszeit. Musik, Literatur und bildende Kunst in Österreich, hg. von dems., Wien 2013 [= Wiener Musikwissenschaftliche Beiträge 23], 229–235). 7 https://www.capriccio-kulturforum.de/index.php?thread/3864-theodor-berger-%C3%B6sterreichsvergessener-starkomponist (30.1.2019). 8 Der Vorspann zeigt – wie aus einer Vorankündigung zu entnehmen ist – die „klingenden Ufer“ des Ossiachersees, da der Film mit Ausnahme von Innenaufnahmen in Kärnten gedreht worden ist (Albert Stockhammer, „An klingenden Ufern. Violanta-Film beendete die Aussenaufnahmen ihres ersten Werkes“, in: Mein Film aus Wien 37 [1947], 6, http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoplus?aid=mfi&datum=1947&page=746&size=45 [30.1.2019]). 9 Der Regisseur des Films war vor allem Schauspieler (https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Unterkircher [12.09.2018]). 10 Cäcilia Kahr war das auch tatsächlich, sie ist als Ausführende des Violinsolos angegeben; vgl. dazu

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lässe diegetischer Musik, die aus geläufigen Stücken des Konzertrepertoires besteht (Bach, Schumann, Chopin, Liszt, Tschaikowsky) sowie aus der sogenannten Mondnachtsfantasie von Ernst Kreal,11 während von Theodor Berger die klanglich davon abgesetzte, fast ausschließlich12 non-diegetische Filmmusik stammt.13 Darüber hinaus bestimmen die Atmosphäre der Spielhandlung aber – wie der beschriebene establishing shot von Beginn an verdeutlicht – der Krieg und sein Ende, zugleich auch Anlass des Geschehens: Der Beginn der Beziehung der Hauptfiguren erfolgt im Lazarett, wo Maria Burg (Marianne Schönauer) als Hilfsschwester arbeitet; deren schicksalhafte Verstrickungen ergeben sich aus der Nachricht, dass Stefan Keller (Curd Jürgens) gefallen ist, Maria Burg deshalb aus Dankbarkeit den um sie werbenden Alexander Varena heiratet, was der zurückgekehrte Stefan Keller als Verrat an ihrer Liebe ansieht. Als Künstlerfilm gehört An klingenden Ufern zum beliebtesten Genre österreichischer Produktion seit Einführung des Tonfilms;14 darüber hinaus ist der Film aber noch einem weiteren, zu seiner Entstehungszeit vielfach anzutreffenden Genre zuzurechnen, nämlich dem sogenannten „Heimkehrerfilm“, der 1948 gleich mehrfach produziert wird.15

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eine Notiz zum I. Weltpresse-Promenadenkonzert, 14. Dezember 1946, in: Weltpresse 2/288 (1946), 11,  http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=dwp&datum=19461213&seite=11&zoom=33 (30.1.2019). Ich danke Severin Matiasovits vom Archiv der mdw für diesen Hinweis. Biographische Daten waren nicht auffindbar. Ernst Kreal, 1891–1980, http://data.onb.ac.at/nlv_lex/perslex/K/Kreal_Ernst.htm bzw. ziemlich gleichlautend https://www.musiklexikon.ac.at./ml/musik_K/Kreal_Ernst.xml (30.1.2019). Ausnahmen sind die teilweise diegetisch eingesetzten Floskeln, die Benjamin Keller als Organist (27:45–28:46) bzw. als Komponist spielt – am Klavier träumerische Klänge 38:30–38:50; unmittelbar anschließend bis 40:16 Varena mit Chopins so genannter Revolutionsetüde in c-moll op. 10 Nr. 12; Benjamin Keller auf der Geige 44:52–45:08). Wenn hingegen Gabriele Weigand eine Geige ‚anspielt‘ (57:21–57:26) handelt es sich um die dabei üblichen Passagen, nicht um komponierte Klänge. Eine Ankündigung der Produktion mit dem Titel Kunst und Künstler. Ernster Musikfilm entsteht in Kärnten bezeichnet diesen als „einen Film aus der Welt der symphonischen Musik“ (Wiener Kurier, 15. Juli 1947, 3, http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=wku&datum=19470715&seite=3&zo om=33 [30.1.2019]). Ich danke Severin Matiasovits vom Archiv der mdw für diesen Hinweis. Sängerfilm, Filmoperette und Künstlerfilm sind die populärsten Formen des Unterhaltungskinos der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen, als auch die Politik das propagandistische Potential des Kinos entdeckte. Schon die dreizehn abendfüllenden Filme des Jahres 1947 zeigen, dass die vertrauten Genres beibehalten wurden (Walter Fritz, Kino in Österreich 1945–1983. Kino zwischen Kommerz und Avantgarde, Wien 1984, 32, 67). Elisabeth Büttner und Christian Dewald (Anschluß an Morgen. Eine Geschichte des österreichischen Films von 1945 bis zur Gegenwart, Salzburg 1997, 43, Anm. 47) nennen: Der weite Weg (1946, R: Eduard Hoesch); Arlbergexpreß (1948, R: Eduard von Borsody); Die Sonnhofbäuerin (1948, R: Wilfried Frass); Gottes Engel sind überall (1948, R: Hans Thimig). Vgl. Franz Marksteiner, „Quäl dich nicht mehr… Trost und Rat für Heimkehrer“, in: Ohne Untertitel. Fragmente einer Geschichte des österreichischen Kinos, hg. von Ruth Beckermann und Christa Blümlinger, Wien 1996, 229–244. Marksteiner erwähnt auch Das Buch des österreichischen Heimkehrers (s. u.).

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1948 / 1984: Heimkehren als Realität und Topos An klingenden Ufern steht damit ebenso wie Bergers Homerische Sinfonie im Kontext einer zeitgenössisch allgegenwärtigen Thematik: 1948 wurde auf dem Wiener Leopoldsberg das sogenannte „Heimkehrer-Gedächtnismal“ errichtet16 sowie das Buch des österreichischen Heimkehrers17 veröffentlicht, das mehrere Seiten mit Dokumentarfotos enthält und in dem die mit Schwierigkeiten verbundenen politischen Maßnahmen dargestellt werden, bei den Alliierten die Freilassung der Kriegsgefangenen zu erwirken. Außerdem werden in dem Buch die f lankierenden Aktionen der „Heimkehrerfürsorge“ sowie der „Kriegsvermißtensuchaktion“ beschrieben und „Ansprachen und Reden um unsere Kriegsgefangenen“ sowie „Weihnachtsbotschaften“ von Bundeskanzler Leopold Figl bzw. Innenminister Oskar Helmer wiedergegeben. Der schon in den Geleitworten beider Politiker erkennbare emotionalisierende Grundton der Darstellung wird in der Einleitung mit Sätzen wie dem folgenden weiter verstärkt: Unter den zahllosen Opfern, die der Krieg heischt, ist eines die Kriegsgefangenschaft, dessen [sic] Schwere den nicht davon beteiligten Menschen kaum ganz bewußt wird. Es mag dies von der Vorstellung kommen, daß für den Kriegsgefangenen der Krieg auf alle Fälle sein Ende gefunden hat, daß sein Leben durch militärische Einwirkungen nicht mehr gefährdet ist. Diese oberflächliche Betrachtung mag entschuldbar sein, solange die Kampfhandlungen noch andauern. Wenn aber der Waffenstillstand geschlossen ist und die Soldaten wieder an die Heimkehr denken können, dann beginnt für diejenigen, die als Kriegsgefangene in der fernen Fremde zurückgehalten werden, das ohnehin bittere Los zum Martyrium zu werden.18

Insofern ist das Buch eine wertvolle historische Quelle zu den dargestellten Vorgängen, es legt aber auch eine Spur zu weiteren Einsichten im Hinblick auf deren Bedeutung. Denn im Unterschied zu den Politiker-Reden, deren Ausmaß öffentlicher Verbreitung außerhalb des Buches nicht nachvollziehbar ist, tragen die abgedruckten Weihnachtsbotschaften des Innenministers 1947 und 1948 den Vermerk, „über alle österreichischen Sender“19 ausgestrahlt worden zu sein. Radio war im Moment des aktuellen Ereignisses wesentlich für dessen „Übertragung“ an die Bevölkerung im doppelten Wortsinn – Audiodokumente können deshalb die Inszenierung dieser Ereignisse und die damit verbundene Auf ladung 16 https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/2d/USIS_-_Heimkehrer-Gedaechtnismal_1.jpg (30.1.2019). 17 Das Buch des österreichischen Heimkehrers, hg. vom Bundesministerium für Inneres, Abt. 14, Wien o. J. [1949]. 18 Ebd., 14. 19 Ebd., 117–119, 124–126.

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mit Gefühlen samt deren Kanalisierung dokumentieren, aus denen sich wiederum Aufschlüsse zur Etablierung der so genannten „Opferthese“ 20 im kulturellen Gedächtnis des Landes ergeben. Das ORF-Rundfunk-Archiv enthält zwei Aufnahmen zur Ankunft von heimkehrenden Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion und drei rundfunkgeschichtliche Reportagen mit relevanten Aussagen dazu. 21 Die Österreichische Mediathek hat neben mehreren Oral-History-Gesprächen, in denen dieses Thema zumindest gestreift wird, 22 drei derartige Aufnahmen, 23 deren älteste ein kurzer Ausschnitt einer Reportage (2:24) ist, die laut Katalog von 1947 stammt. 24 Nach der Situation am Bahnhof (bis 1:00) thematisiert der Sprecher ausführlich das Warten – der Angehörigen, der Soldaten – bis zur Nachricht vom Eintreffen eines Zuges und bis zu seiner aktuellen Ankunft (bis 1:45, Marschmusik im Hintergrund ab ca. 1:37) und schließt mit der kurzen Beschreibung, wie die Angekommenen mit ihren Angehörigen vor den Bahnhof gehen, wo sie offiziell begrüßt werden. Die beiden zeitgenössischen Audio-Dokumente im ORF-Archiv sind unterschiedlicher Art mit Unterschieden in Auf bau, Länge und Entstehungsdatum. 25 Im Rohmaterial der laut Titel ersten Aufnahme eines solchen Ereignisses (RXTN 786) wird diese vom Reporter mit der Feststellung eingeleitet, dass 634 Gefan­ gene „aus Russland“ ankommen würden, davon 22 Frauen und ein Kind und 20 Vgl. Gerhard Botz, „Geschichte und kollektives Gedächtnis in der Zweiten Republik. ‚Opferthese‘, ‚Lebenslüge‘ und ‚Geschichtstabu‘ in der Zeitgeschichtsschreibung“, in: Inventur 45/55. Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik, hg. von Wolfgang Kos und Georg Rigele, Wien 1996, 51–85. 21 Einträge laut Datenbank: H-783-2-3 Letzte österreichische Heimkehrer aus russischer Gefangenschaft; RXTN 786 Rohmaterial Historisches Archiv, 1. Bericht Ankunft eines Heimkehrertransports in Wr. Neustadt, Anhang scan E 518-1, Sendedaten 1953–55, =? medienkoffer 2, 1949–55; RXTN 84 Rohmaterial Historisches Archiv, 1. Interview Susanne Prunner, Reinhard Schlögl mit Hans Szusz­ kiewicz, Reporter Ravag 2 bis 1955, gesendet 11. Mai 1984 60 Jahre Radio; RXTN 127 1. PensionistenWeihnachtsfeier, diverse Kurz-Interviews mit den Anwesenden zu 60 Jahre Radio. HeimkehrerSchicksale 1945, 1984; RXTN 151 1. Rohmaterial Interview Elisabeth Hobl-Jahn und Andre Igler mit Gerhard Stappen, Reporter RAVAG 2 „Echo des Tages“. 22 Eine Katalogabfrage in der Sammlung Österreich am Wort zum Stichwort „Heimkehrer“ ergibt 33 Treffer von Gesprächen, welche die Mediathek selbst in der Reihe Menschenleben durchführen hat lassen (https://www.mediathek.at/oesterreich-am-wort/suche/?q%5B%5D=heimkehrer [30.1.2019]). 23 https://www.mediathek.at/katalogsuche/suche/detail/atom/14B3D420-075-00043-00000E8814B34036/pool/BWEB (30.1.2019), Ankunft eines Heimkehrertransports in Wiener Neustadt; https:// www.mediathek.at/katalogsuche/suche/detail/atom/15B3F365-1B4-000E4-00000D78-15B31147/ pool/BWEB (30.1.2019), Austria Wochenschau Oktober 1953, Ankunft eines Heimkehrertransports in Wiener Neustadt, dasselbe www.mediathek.at/katalogsuche/suche/detail/atom/1F107B4F-0E1-0003600001471-1F100E2D/pool/BWEB (30.1.2019). 24 https://www.mediathek.at/katalogsuche/suche/detail/atom/14B3D420-075-00043-00000E8814B34036/pool/BWEB (17.9.2018). 25 H-783-2-3 ist ein Bericht einer Sendung mit 4:36 Dauer und wurde am 26. Juni 1955 ausgestrahlt, RXTN 786 sind 40:30 Rohdaten einer solchen Reportage, aber nicht wie im Katalog angegeben von 1955, sondern – wie aus der Erwähnung von Karl Gruber als Außenminister zu entnehmen ist – von 1953.

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Cornelia Szabó-Knotik nicht nur die Angehörigen haben auf diese Männer gewartet, das ganze österreichische Volk, vom Bodensee bis zum Neusiedlersee, denn man kann ruhig sagen, es ist ein nationales Ereignis, dieser heutige Tag, an dem wir alle der Erfüllung des am 26. Juni gegebenen Versprechens entgegensehen können. [2:10]

Die Schilderung der Szene im Bahnhof Wiener Neustadt, in dem seit 1947 zum 60. Mal ein solcher Transport ankommt, ruft die aus Fotos und Dokumentationen geläufigen Bilder hervor – den Trubel nach oft stundenlangem Warten der Angehörigen, das Gedränge vor den Waggons, die bangen Fragen an die zögernd aussteigenden Heimkehrer. Die in gleicher Weise aus der Schilderung von Ereignissen und den damit verbundenen Gefühlen zusammengesetzte Beschreibung vom Geschehen am gedrängten Bahnhofsvorplatz wird von den Reden der anwesenden Politiker unterbrochen. Sie stellen den Krieg und seine Schrecken als ein unschuldig über das Land und seine Bevölkerung gekommenes Unheil dar („[…] euer Schicksal war der Krieg, den ihr nicht verschuldet habt und in den unser Land, unser Volk hineingerissen worden ist, gegen seinen Willen“, Bundespräsident Theodor Körner, 11:01), versichern die Heimkehrer der Solidarität der Daheimgebliebenen (Vizebürgermeister von Wiener Neustadt Franz Brand, 9:12, Innenminister Oskar Helmer, 20:46) und stellen ihnen den Aufschwung Österreichs und den Freiheitswillen der Bevölkerung vor Augen (Außenminister Karl Gruber, 16:41). In diesem Teil der Reportage ist ebenfalls Marschmusik zu hören (meist im Hintergrund) und zum Schluss die pathetischen Klänge der beiden als Symbol der beteiligten Länder ebenfalls von einem Militärorchester gespielten Hymnen Österreichs und der Sowjetunion (24:21–26:26). Der zweite Teil der Berichterstattung wechselt den Schauplatz ins Arbeiterheim Wiener Neustadt, wo die Angekommenen versorgt und Formalitäten erledigt werden. Hier werden persönliche Schicksale angesprochen, einige der Heimkehrer befragt. Vor allem aber kommt „Onkel Rudi“ Regierungsrat Rudolf Berdach zu Wort, der federführend für eine von der Kriegsgefangenenfürsorge26 durchgeführte Aktion gewesen ist, die ihnen Hilfspakete zukommen ließ und ihnen geholfen hat, per Postkarte Angehörige zu erreichen: Wir haben uns immer vorgestellt, dass die armen Österreicher, die so lange draußen bleiben mussten, in der Gefangenschaft, und von denen wir wussten, dass sie kollektivistisch verurteilt wurden, ohne, dass uns die Gründe der Verurteilung bekannt gegeben wurden, in ihrer Not, in ihrer physischen, auch seelischen Not, unbedingt zu helfen war, sie mussten das Gefühl bekommen draußen, dass sie hier nicht verlassen sind und auch ihre Angehörigen hier mussten durch unser 26 Vgl. zu dieser Einrichtung https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Kriegsgefangenenf%C3%BC rsorge (30.1.2019). Die Website enthält auch ein Foto des ersten am Südbahnhof aus der Sowjetunion ankommenden Transports 1947.

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Heimkehrer. Ein zeit- und mediengeschichtlicher Blick Beispiel, durch unsere Hilfsbereitschaft das Gefühl haben, dass sie nicht allein stehen. Und wir haben jetzt nach zweijähriger Arbeit über die Fürsorge, Lebensmittelpaketaktion usw. wirklich gesehen, dass wir den richtigen Weg gegangen sind und hier haben wir einige Kameraden, die mir geschrieben haben persönlich, haben sich hier um mich versammelt […] [29:41]

Auch er setzt also die Erzählung der am Krieg Unschuldigen fort, wobei er das aber nicht wie allgemein üblich als Ausnahme Österreichs sieht, sondern hervorhebt, er hätte „eine Kameradschaft errichten“ wollen und deshalb auch „Sudetendeutschen“ und „Reichsdeutschen“ geholfen. Zuletzt gibt der Reporter Informationen über die Weiterreise in die Bundesländer und über Möglichkeiten der Unterstützung durch die Kriegsfürsorge-Referate der Landesregierungen. Während trotz der Interviews von Beteiligten der zweite Teil sachlicher, sozusagen ruhiger abläuft, vermittelt vor allem der erste Teil beim Hören den Eindruck unmittelbarer Anwesenheit und emotionaler Betroffenheit – das ist noch im Nachhinein feststellbar und muss deshalb seinerzeit umso stärker gewesen sein. Dem gleichen Schema folgt auch der kurze Beitrag im Echo der Zeit 1955, eingeleitet von einer emotional gefärbten Situationsbeschreibung durch den Sprecher, dessen Rede allerdings bei der Unschuldsbeteuerung bzw. der Formulierung der Gefangennahme aufschlussreich ins Stocken gerät: Zum zweiten Mal ist dieser Woche in Wiener Neustadt ein Heimkehrertransport eingetroffen, und wieder haben sich Unzählige eingefunden, um unsere Landsleute, die so lange von der Heimat fern gewesen sind, zu begrüßen. Es sind diesmal Zivilinternierte, unter ihnen befinden sich viele Frauen, vor allem auch unschuldige Opfer, die das ahh – – über sich ergehen lassen mussten, dass man sie verschleppte, oder dass sie verleumdet wurden und in Gefangenschaft gerieten. Wir erleben neuerdings erschütternde Szenen des Wiedersehens, die nur der verstehen kann, der selbst einmal in einem Lager, hinter einem Stacheldraht, im Ungewissen lebte, oder gar jahrelang auf einen Angehörigen wartete, der in der Gefangenschaft war. [0:32–1:41]

Die auszugsweise wiedergegebenen Reden der Politiker schließen mit einem Appell des Bundeskanzlers Julius Raab, in dem mittels des Begriffs der „Freiheit“ das Schicksal von Bevölkerung und Land in eins gesetzt werden. Musik hat beim Ablauf dieser Ereignisse mit der genannten Ausnahme der Nationalhymnen offenbar keine Rolle gespielt. Und die Form der direkten Übertragung hat auch keine Gelegenheit nachträglicher Vertonung ergeben. Dies entspricht dem im Vordergrund stehenden Zweck der Mitteilung von Fakten, die aus den Endgeräten ohnehin nur mit Konzentration zweifelsfrei verstanden werden konnten. 27 27 Vgl. Interview Sandra Aurenhammer mit Gertrude Glinig, 25. März 2012, 1. Teil https://www. mediathek.at/oesterreich-am-wort/suche/treffer/atom/14A1ABDE-264-0020F-00000AE414A0CB37/pool/BWEB (30.1.2019), 8:56–9:34.

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Das einzig audiovisuelle Dokument eines solchen Ereignisses, der Wochenschaubericht vom 16. Oktober 1953, 28 ist durchgehend mit Musik unterlegt, verlässt sich vor allem (ab 0:18) auf nur von Musik begleitet ablaufende Bilder: einrollende Güterwaggons, winkende Gestalten und überwältigte Gesichter drinnen und draußen, Umarmungen des Wiedersehens, zuletzt die Begrüßung durch einen Politiker vor dem Stadtwappen von Wiener Neustadt; ein neo-romantisch klingendes Streichorchester, dominiert von einer in den hohen Violinen gespielten, getragenen Melodie, verleiht diesen Szenen einen ruhigen, besinnlichen Charakter. 29 Aufnahmen ehemaliger Mitarbeiter des Rundfunks 36 Jahre später bestätigen ebenso wie von der Mediathek gesammelte Lebenserinnerungen 30 die starke emotionale Aufgeladenheit dieser Ereignisse, im Fall des Rundfunks aufgrund der Funktion der Befragten noch verbunden mit der stolz beschriebenen Bewältigung der damit für den Rundfunk verbunden gewesenen technischen und logistischen Schwierigkeiten. Der als Motorradfahrer in diesen Fällen für die Verbindung zum Studio in Wien tätig gewesene Jörg Karl beschreibt, wie die Namen der Angekommenen noch auf dem Rückweg alphabetisiert und durchgegeben wurden, weil damals „kein Funk“ vorhanden gewesen sei, man oft tagelang auf Nachrichten aus Wiener Neustadt gewartet habe (RXTN 127, 41:45); und Reporter Gerhard Stappen erinnert sich hauptsächlich an damit verbunden gewesene Gefühle: Ich war dann später sehr oft, da war ich schon Abteilungsleiter, waren wir dann in Wiener Neustadt. Und haben diese Kriegsgefangenen empfangen. Das war damals eine sehr wichtige Sendung und keineswegs eine sehr leichte Sendung, weil’s eigentlich immer sehr traurig war und als Reporter hat man doch müssen die Haltung bewahren und sachlich bleiben, damit die Leute wissen, worum’s geht. [RXTN 151, 14:57]

Mit „Heimkehr“ ist fast ausnahmslos das Ereignis der aus der Sowjetunion ankommenden Kriegsgefangenen gemeint. Nur der ebenfalls an den betreffenden Rundfunkübertragungen beteiligt gewesene Hans Szuszkiewicz bringt eine weitere, eigentlich naheliegende Bedeutung ins Spiel, wenn er „die Zeit der großen Heimkehr“ beschreibt – wobei die Nennung von ihm interviewter prominenter Personen mit dem Hinweis auf seine eigene bildungsbürgerliche Herkunft zusammenhängt und bemerkenswert ‚musiklastig‘ ausfällt: 28 https://www.mediathek.at/katalogsuche/suche/detail/atom/15B3F365-1B4-000E4-00000D7815B31147/pool/BWEB (30.1.2019). 29 Laut Auskunft von Susanne Rocca vom Filmarchiv Austria ist diese Tonspur Bestandteil des originalen Dokuments (Mail an die Autorin vom 18. September 2018). 30 Vgl. Anm. 21 und 22.

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Heimkehrer. Ein zeit- und mediengeschichtlicher Blick Viele Emigranten, die nach [19]38 weg sind, kamen dann zurück: Künstler, Wissenschaftler. Ich muss sagen, meine Mutter war sehr musik- und kunstinteressiert, ich bin daher aufgewachsen mit Namen, die meinen vielen andren Kollegen nichts so gesagt haben, weil sie zu jung waren und vielleicht niemals gehört haben, wer die Jeritza war, oder wer der Ernst Deutsch war, der Oskar Karlweis, der Hermann Leopoldi, – – der Ralph Benatzky , der – – –, andere bedeutende Komponisten zum Beispiel wie Robert Stolz, Edmund Eysler, 31 die hab ich alle gekannt, dem Namen nach zumindest […] [RXTN 84 10:12–11:42]

Seine Erzählung von der Reportage zur Ankunft Hermann Leopoldis, die nachgestellt wurde, weil dessen Zug zu früh am Franz-Josephs-Bahnhof eingetroffen war, bietet Einsichten in die Konstruktion von Erinnertem, das hier im Prozess der Wiederholung bereits eine feste, heiter-anekdotenhafte Gestalt angenommen hat. Denn sie ist fast wortgleich in seinen 20 Jahre zuvor gedruckten Erinnerungen nachzulesen,32 wo sie direkt an sein Erlebnis der Wiener Neustädter Reportagen anschließt, bei denen es Schwierigkeiten gab, am Bahnhof durchzukommen, weshalb die Übertragung in der Wärmestube fortgesetzt wurde und die handschriftlichen Zettel mit den Namen der Anwesenden oft kaum leserlich gewesen sind. Hier wird in den Ausrufen die nachgestellte Begrüßung am Bahnhof aus der Leopoldi-Anekdote paraphrasiert, aber das Ganze ist – im Unterschied zum davor Erzählten – mit jener Betroffenheit verbunden, die auch die davon erhaltenen Tondokumente charakterisiert: Der Eindruck der Stimmen, der ergreifenden Begrüßungsszenen ringsum war so stark, so wahr und unmittelbar, daß keiner der Hörer die langen Pausen zwischen den Kommentaren als störend empfand. Es war, glaube ich, die eindrucksvollste kommentarlose Übertragung, die jemals über Ätherwellen ging. […] Doch immer wieder mußte ich zwischendurch daran denken, daß vielleicht bei jedem Namen irgendwo in Österreich jemand vor Freude aufschrie und rief: „Er ist da! Er ist dabei!“ Und dafür lohnt sich schon so manche Schwierigkeit!33

31 Alle genannten Künstler*innen emigrierten in die USA: Maria Jeritza (1886–1982), Emigration 1935; Ernst Deutsch (1890–1969), Emigration 1938; Oskar Karlweis (1894–1956), Emigration 1940; Hermann Leopoldi (1888–1959), Emigration 1939, nachdem er 1938 kurzzeitig in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald interniert war; Ralph Benatzky (1884–1957), Emigration 1938; Robert Stolz (1880–1975), Emigration 1940. Einzig Edmund Eysler (1874–1949) blieb während des Zweiten Weltkriegs in Österreich, obgleich seine Werke aufgrund seiner jüdischen Abstammung mit einem Aufführungsverbot belegt wurden. 32 Hans Szuszkiewicz, Reporter war… 10 Jahre Österreichischer Rundfunkt 1945–1955, Wien 1963, 30–32. Der Autor (1922–2006) war ab 1956 „der erste Österreicher überhaupt, der für die Vereinten Nationen arbeitete“ (https://www.vienna.at/erster-sterreicher-bei-uno-ist-tot/2514151 [30.1.2019]). 33 Ebd, 33.

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Von der „Heimkehr“ bei Theodor Berger Es gibt auch noch eine Variante der Thematik, die sich aus Theodor Bergers Erinnerungen an die Kriegs- bzw. Nachkriegszeit 34 ableiten lässt. Seine Erinnerungen schließen insofern an die Erzählung von der schuldlos zu Kriegsopfern (und damit auch des Nationalsozialismus) gewordenen Bevölkerung an, als auch er sich mehrfach als Opfer darstellt, niemals aber irgendeine politische Schuld andeutet. Er versteht sich offenbar im Rückblick ganz klischeehaft als zu Unrecht verkanntes Genie, als zu wenig gewürdigter Künstler. Man könnte sagen, dass er damit im Vergleich zur Erzählung von den heimgekehrten Kriegsgefangenen eine Art „Kehrseite der Medaille“ der Opfertheorie beschreibt: Wortreich betont er immer wieder, dass seine Übersiedlung nach Deutschland 1935 aus ökonomischen, nicht aus ideologischen Gründen erfolgt sei, und er erzählt aufgebracht, dass ihm deshalb nach dem Krieg der Vorwurf gemacht wurde, Nationalsozialist gewesen zu sein. 35 Er erzählt aber ebenso mit vergleichbar empörtem Tonfall vom politischen Skandal, den die Aufführung seiner Chronique Symphonique in Berlin unter Wilhelm Furtwängler (1940) vor Ort und im Nachhinein verursacht habe, indem auf Anweisung von Joseph Goebbels, der sich die Aufnahme habe bringen lassen, das Werk von der Rundfunk-Übertragung des Konzerts gestrichen werden musste, 36 und wie Freunde die mit diesem Skandal für ihn verbunden gewesene Gefahr durch den Hinweis auf seine seinerzeitige Übersiedlung nach Berlin vermeiden hätten können. 37 Dazu gehört auch wie er danach, als er schon beim Volkssturm gewesen ist, fast „aus der Künstlerliste gestrichen“ und eingezogen worden wäre. Im Gegensatz zum im Sinn des Opfermythos als Bruch dargestellten und daher lange in Erinnerungen und Biographien ausgeklammerten Zeit des Dritten Reichs konstruiert Theodor Berger seine eigene Geschichte entlang der Kriterien von künstlerischer Anerkennung und Misserfolg, weshalb seine „Heimkehr“ nach dem Anschluss Österreichs 1939 stattgefunden hat. Heimkehrer – ob Kriegsgefangene oder Emigranten – waren allerdings auch bis 1955 nicht durchgehend ein Thema, denn der Hinweis darauf fehlt, wenn offiziell positives Heimatgefühl, patriotischer Stolz vermittelt werden sollen, wie in dem von Ernst Marboe ab 1948 im Auftrag des Bundespressedienstes herausgegebenen, repräsentativ aufgemachten Österreich-Buch oder in einem von der Bundesregierung für Schulkinder bestimmten Büchlein von 1955. 38 34 35 36 37 38

Interview Peter Revers mit Theodor Berger (vgl. Anm. 2). I 5, 23:56–25:44. I 5, 30:26–32:12. I 5, 00:33–00:40. Ernst Marboe (Hg.), Das Österreich-Buch, Wien 1948; [Anonymus], Unser Österreich 1945–1955. Zum 10. Jahrestag der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Österreich der Schuljugend gewidmet von der Österreichischen Bundesregierung, Wien 1955.

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Heimkehrer. Ein zeit- und mediengeschichtlicher Blick

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André Doehring

„’T Ain’t What You Do, It’s The Way That You Do It“ Zur Geschichtsschreibung in der Jazz- und Popularmusikforschung André Doehring „When I was a kid about half past three, my daddy said, ‚Son, come here to me‘.“ Mit dieser gesungenen Erzählung der eigenen Lebensgeschichte beginnt die musikalische Persona1 von Sänger, Komponist und Posaunist James „Trummy“ Young den Song der Jimmie Lunceford Band ’T ’Ain’t What You Do (It’s The Way That You Do It) (1939). Und Young erzählt die Geschichte der väterlichen Auf klärung weiter: „He says, ‚Things may come and things may go but this one thing you ought to know: ’t ain’t what you do, it’s the way how do you do it. That’s what gets results.‘“ Nach einem instrumentalen Intro, das über eine Vorstellung der Themen des A- und B-Teils und ein für die Zeit harmonisch avanciertes Riff-Interlude zum Verse führt, erklingt die AABA-Form des Chorus. Wir hören zum Tanz einladenden Swing einer gut geprobten Band, arrangiertes Section Playing von Riffs, Call-and-Response-Verfahren in den Instrumenten und im Gesang – soweit das erwartbare „Musikalisch-Allgemeine“, wie Rudolf Stephan es einst genannt hat. 2 Was ist nun das Musikalisch-Besondere? Es ist zunächst die Art des Gesangsvortrags:3 Young singt den Text in einer zeitgemäß als „hip“ geltenden Weise des coolen Understatements, im afroamerikanischem Sprachidiom mit ständigem Wechsel zwischen Gesang und Sprache, durch Hinzu- und Zusammenfügungen von Text und nichttextierten Lauten gekennzeichnet. Zweitens liegt das Besondere in der dargebotenen Form: Die Band weitet im Arrangement von Melvin James „Sy“ Oliver, der neben Young als Komponist geführt wird, harmonische Verläufe und dehnt im abschließenden Instrumentalchorus sogar die Form zur AAABA-Form mit erweitertem B-Teil. Als Hörer dieser Musik wird mir also klanglich, sprachspielerisch und formal nahegebracht, wie man mit Regeln umzugehen hat: in Vergnügen bereitender Weise, spielerisch, kreativ, eigenständig und unterhaltsam. Und es sind in meinem 1 2 3

Zum Begriff in der hier verwendeten Dimensionierung vgl. Allan F. Moore, Song Means: Analysing and Interpreting Recorded Popular Song, Farnham 2012, 179–214. Rudolf Stephan, „Das Neue der Neuen Musik“, in: Das musikalisch Neue und die Neue Musik, hg. von Hans-Peter Reinecke, Mainz 1969, 47–72, hier 49. Jeder/m Leser*in empfehle ich, dies in der Aufnahme vom 3. Januar 1939 selbst nachzuvollziehen, da eine be- oder niederschreibende Beschäftigung mit diesen Klängen in der gebotenen Kürze unzulänglich bleiben muss.

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Verständnis nicht nur die Regeln des Vaters, die thematisiert werden: Inmitten der Autorität der Stilvorgaben des Swing sind wir Zeuge der Performance des musikalischen Stils der Jimmie Lunceford Band, aber eben auch ihres style. Zu verstehen als ein sich erst kurz zuvor mit Swing formiertes, aber nun allgemein erwartetes Jazzaxiom im Jahr 1939 fordert style das performative Vermögen, in Differenz zu treten, Hinzufügungen und Auslassungen zu unternehmen, um als kompetente Akteure und Teilnehmer am Jazzgeschehen zu gelten. Doch ich würde noch weitergehen wollen in der Analogiesetzung, und ich nähere mich hier der eigentlichen Thematik dieses Aufsatzes, nämlich dem Nachdenken über vergangene Geschichtsschreibungen und dem daraus hervorgehenden Entwickeln von heutigen Axiomen der Jazz- und Popularmusikgeschichte. Denn diese sollten in Analogie zum Swing-Tune kreativ und eigenständig überlieferte Thematiken neu beleuchten und Hinzufügungen vornehmen („it’s the way how do you do it“, wie es im ersten Chorus heißt), dabei aber stets einen Grad an style mitbringen, der für diverse Publika Möglichkeiten bedeutsamer Anschlüsse leistet – „it’s the time“ und „it’s the place that you do it“, fordert Young im zweiten und dritten Chorus.

Turns into History Das allgemeine Interesse an geschichtlichen Aspekten von populärer Musik hat in den letzten Jahren zugenommen: Es sind vor allem kanonisierende Darstellungen, die mit Mitteln des Anekdotischen, der Emotionalisierung, der Personalisierung sowie der werkgeschichtlich verbrämten Listung Popmusikgeschichte an die Frau und den Mann bringen wollen. (Auto-)Biografien verkaufen sich am Buchmarkt, Musik-Sammlungen des und der ‚Besten‘ sind digital wie analog gefragt und Radio- wie TV-Sender füllen ganze Abende mit derartigen Sendungen.4 Eine Erklärung dieser Zunahme kann kurz auf die Begriffe „Orientierung“, „Kapital“ und „Rationalisierung“ gebracht werden: Kanonisierte Darstellungen des Vergangenen bieten inmitten einer digital verfügbaren Gegenwart von (nahezu) Allem kulturelles Kapital für die Orientierung Suchenden, somit ökonomisches Kapital und Deutungsmacht für die Orientierung Anbietenden, und erlauben allen Teilnehmer*innen dieses Wertungsdiskurses eine Rationalisierung ihrer heute so knappen Zeit- wie Aufmerksamkeitsressourcen. Nähern wir uns der akademischen Beschäftigung mit historischen Aspekten von Popularmusik, die beileibe kein neues Phänomen ist. Neuartig ist aber das 4

Vgl. Ralf von Appen / André Doehring / Helmut Rösing, „Pop zwischen Historismus und Geschichtslosigkeit. Kanonbildungen in der populären Musik“, in: No Time for Losers. Charts, Listen und andere Kanonisierungen in der populären Musik, hg. von Dietrich Helms und Thomas Phleps, Bielefeld 2008 (= Beiträge zur Popularmusikforschung 36), 25–49.

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in den letzten etwa zehn Jahren zunehmende Ausmaß dieser Beschäftigung, das Steve Waksman als „historical turn in popular music studies“5 beschreibt. Warum wird Geschichte hier erst relativ kürzlich und anscheinend plötzlich interessant? Die Antwort liegt in der Fachgeschichte, wie ich im Folgenden erläutere. Zunächst muss erkannt werden, dass die von Waksman erwähnten Popular Music Studies nicht ohne Weiteres mit dem Begriff der in der deutschsprachigen Musikwissenschaft angesiedelten Popularmusikforschung gleichzusetzen sind. Popular Music Studies begannen ab den frühen 1980er Jahren, sich international zu institutionalisieren. Zu diesem Zeitpunkt war in der Musikwissenschaft von einer Popularmusikforschung nicht zu sprechen, da Legitimations- wie Methodenprobleme in Bezug auf Popularmusik noch lange nicht ausgeräumt werden konnten. Auch wenn einige Unermüdliche bereits 1986 die heutige Gesellschaft für Popularmusikforschung als zunächst „Arbeitskreis Studium populärer Musik“ genannten Verein eintragen ließen, dauerte es bis 1993, ehe eine erste Professur an einem musikwissenschaftlichen Institut mit einer dezidierten Pop-Denomination entstand. 25 Jahre später sind es immerhin mehr, aber insgesamt bloß fünf musikwissenschaftliche Professuren – und diese für ganz Deutschland, die Schweiz und Österreich gezählt. Popular Music Studies waren von Anbeginn sozialwissenschaftlich und zeitgenössisch orientiert, womit die Vernachlässigung klangstruktureller und historischer Aspekte einherging. Traditionelle musikwissenschaftliche Forschung hingegen stellte in aller Regel andere Musik in den Mittelpunkt der Untersuchung. Insbesondere die musikwissenschaftliche ‚Königsdisziplin‘ der Analyse vermochte damals nicht, Popularmusik adäquat und interdisziplinär anschlussfähig zu untersuchen.6 Noch 2002 kommt Helmut Rösing zu dem harschen Befund, dass „die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der populären Musik des 20. Jahrhunderts in der Musikwissenschaft bislang so gut wie nicht stattgefunden hat.“ 7 Und er fährt fort: „Überspitzt könnte man sagen, daß sich die Popularmusikforschung in Deutschland – den Jazz ausgenommen – nicht so sehr dank als vielmehr trotz des universitären Fachs Musikwissenschaft hat etablieren können.“ 8 5 6

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Steve Waksman, „Popular Music History“, in: The SAGE Handbook of Popular Music, hg. von Andy Bennett und Steve Waksman, Los Angeles 2015, 169 –172, hier 169. Vgl. André Doehring, „German Modern Talking vs. Iranian Modern Talking. Zur Anwendbarkeit der Korpus-Analyse als Mittel des Popmusikverstehens“, in: Speaking in Tongues. Pop lokal global, hg. von Dietrich Helms und Thomas Phleps, Bielefeld 2015 (= Beiträge zur Popularmusik­ forschung 42), 119–139, hier 121–123. Helmut Rösing, „‚Popularmusikforschung‘ in Deutschland – von den Anfängen bis zu den 1990er Jahren“, in: Musikwissenschaft und populäre Musik. Versuch einer Bestandsaufnahme, hg. von dems., Albrecht Schneider und Martin Pfleiderer, Frankfurt a. M. 2002 (= Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 19), 13–35, hier 14. Ebd., 28.

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Interessanterweise trennt Rösing hier zwischen der wissenschaftlichen Behandlung populärer Musik und Jazz, eine Trennung, die Simon Frith9 auch für den englischsprachigen Raum als „indisputable fact of academic life“10 diagnostiziert. Denn zu Beginn der Popular Music Studies wie auch der frühen deutschsprachigen Popularmusikforschung waren noch personelle und thematische Berührungspunkte zwischen der Erforschung von Jazz und populärer Musik gegeben. Die ersten Wissenschaftler*innen, die sich in der Gründung der International Association for the Study of Popular Music (IASPM) 1981 zusammentaten (u. a. Richard Middleton, David Horn, Charles Hamm, Paul Oliver, Philip Tagg, Franco Fabbri), hatten in Lehre und Forschung großes Interesse an Jazz.11 Für den deutschsprachigen Raum sind als frühe Vermittler*innen beispielsweise Ekkehard Jost, Alfons M. Dauer, Gerhard Kubik oder Ilse Storb zu nennen. Doch zunehmend trennten sich die Interessen von Jazz- und Popmusikforschenden, wie man etwa an den Beiträgen zur Popularmusikforschung oder der Jazzforschung / Jazz Research erkennen kann, wo die Anteile von der je ‚anderen‘ Musik stetig abnahmen.12 Warum kam es dazu? Frith argumentiert, dass im Umfeld der IASPM das zunächst große und auch Jazz umfassende Konzept „populäre Musik“ inhaltlich relativ schnell auf zeitgenössische Rockmusik vornehmlich der USA und Großbritanniens verkürzt und nun vor allem aus der Rezeptions- und Vermittlungsperspektive untersucht wurde.13 In der Jazzforschung hingegen galt Rockmusik als das ‚Andere‘ des Jazz, da mit ihr ästhetische (‚jazzfremde‘ Gestaltungsmittel), soziale (d. h. ein anderes und vor allem größeres Publikum – das dem Jazz dann fehlte) und ökonomische Veränderungen (nach der sogenannten ‚British Invasion‘, dem Erfolg britischer Gruppen wie den Rolling Stones, den Beatles oder den Kinks ab 1964 in den USA, war der Jazzmarkt eingebrochen) einhergingen, die als höchst reale Bedrohungen für den Lebensunterhalt von Jazzmusiker*innen und -forscher*innen verstanden wurden. Außerdem unterschied man beide Musiken hinsichtlich ihrer ethnischen Konzeptionen: Jazz wurde in der Jazzhistoriographie als afroamerikanische Musik 9

Friths Werdegang seit den 1960er Jahren illustriert die verschlungenen Wege der Ausdifferenzierung der Popular Music Studies bestens: Er arbeitete als Rockjournalist, während er in historischer Soziologie promovierte. Und obwohl er Standardwerke der Popular Music Studies schrieb, war er erst ab 2006, nach Professuren für Englisch und „Film and Media Studies“, an einem Musikinstitut in Edinburgh angesiedelt. 10 Simon Frith, „Is Jazz Popular Music?“, in: Jazz Research Journal 1/1 (2007), 7–23, hier 10. 11 Vgl. ebd. 12 In den Beiträgen zur Popularmusikforschung nahmen die jazzbezogenen Artikel von 18 % (1986– 1994) über 7 % (1995–2004) auf 5 % (2005–2015) ab, in der Jazzforschung / Jazz Research die popmusikbezogenen Artikel von 12 % (Bde. 1–10) auf schließlich 3 % (Bde. 41–45). 13 Vgl. Frith, „Is Jazz Popular Music?“, 10, und Simon Frith / Martin Cloonan, „Simon Frith and Politics: An Interview“, in: Live Music Exchange Blog, 3.9.2012, http://livemusicexchange.org/ blog/simon-frith-and-politics-an-interview (20.1.2019).

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erkannt, womit die als „weiß“ deklarierte Rockmusik aus dem Raster der Aufmerksamkeit fiel.14 Fragestellungen und Gegenstände, die aus diesem zwar immer noch großen, aber doch regional engen Rockhorizont hinausragten, waren zwangsläufig aus dem Feld der Popular Music Studies ausgegliedert. Die Folge war eine weitgehende Abkopplung der Popular Music Studies von historischen Fragestellungen, aber leider auch von den interessanten historiographischen Entwicklungen in der Erforschung des Jazz, wie sie in den 1990er Jahren zunächst in den USA entstanden, seit gut zehn Jahren in Großbritannien verbreitet sind und allmählich auch im deutschen Sprachraum ankommen: New Jazz Studies (oder nach all den Jahren heute einfach: Jazz Studies).

Der historiographische Anspruch der New Jazz Studies Worin unterscheiden sich New Jazz Studies von der somit unausgesprochen als ‚old‘ stigmatisierten Jazzforschung? Um es kurz zu fassen: New Jazz Studies bringen Haltungen, Fragestellungen und Methoden in die inter-, zum Teil gar transdisziplinäre Erforschung des Jazz, seiner sozialen Kontexte wie kulturellen Bezüge ein, die es erlauben, gängige nationale Musikgeschichtsschreibungen des Jazz historiographisch zu kritisieren sowie deren Erzählstrategien und Motive zu hinterfragen, Auslassungen zu benennen und Hinzufügungen vorzunehmen. Sherrie Tucker, eine Protagonistin der New Jazz Studies, bezeichnet dieses Vorhaben als „historical overdub“15, der sich durch Dialogizität und hohe Selbstref lexivität auszeichne. „What is new here“, so die Herausgeber*innen der schließlich namensgebenden Publikation Uptown Conversation. The New Jazz Studies, is the conviction that jazz is not just for players and aficionados who can count the horns and boxes of the music ‚from Bunk to Monk‘, as the expression goes; but that knowing about jazz and its cultural settings is part of what it means to be an educated woman or man in our time.16

Die Jazzhistoriographie des „counting boxes from Bunk to Monk“, gegen die argumentiert wird, ist bereits in den Anfängen der noch unakademischen, aber durchaus systematischen Beschäftigung mit Jazz zu erkennen. Denn es sind zunächst Sammler*innen und Journalist*innen, die sich ab den 1930er Jahren in 14 Vgl. Frith, „Is Jazz Popular Music?“, 12. 15 Sherrie Tucker, „Deconstructing the Jazz Tradition. The ‚Subjectless Subject‘ of New Jazz Studies“, in: Jazz. Not Jazz. The Music and Its Boundaries, hg. von David Ake, Charles Hiroshi Garrett und Daniel Goldmark, Berkeley 2012, 264–284, hier 264. 16 Robert G. O’Meally / Brent Hayes Edwards / Farah Jasmine Griffin, „Introductory Notes“, in: Uptown Conversation. The New Jazz Studies, hg. von Robert G. O’Meally, Brent Hayes Edwards und Farah Jasmin Griffin, New York 2004, 1–6, hier 1.

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historischer Perspektive mit Jazz auseinandersetzen, beispielsweise in Sammlerclubs wie der Hot Record Society, im ab 1934 bis heute erscheinenden Down Beat Magazine oder im frühen jazzgeschichtlichen Werk von Frederic Ramsey Jr. und Charles Edward Smith mit dem vielsagenden Titel Jazzmen. The Story of Hot Jazz Told in the Lives of the Men Who Created It.17 Dieses Buch präsentierte zum Teil falsche und erfundene Legenden und Anekdoten über die Helden der Frühgeschichte des Jazz. Nachfolgende – und ebenfalls heroengeschichtlich angelegte – Darstellungen führten diesen Ansatz wie auch diese Inhalte weiter.18 Zwei weitere Aspekte kennzeichneten diese frühen Jazzforschungsbemühungen: Erstens spielten analytische Unternehmungen in Form von Transkriptionen, die zu Beginn allein auf den praktischen Nutzen für Musiker*innen zielten, ab den 1930er Jahren eine feste Rolle in der Auseinandersetzung mit Jazz.19 Die Methode der Analyse hatte bekanntlich in der Musikwissenschaft bereits lange und wirkungsvoll durch das Aufzeigen von Komplexität sogenannte „Kunstmusik“ legitimiert. Nun wurde dieses Aufwertungsinstrument von den Jazz-Aficionados genutzt, um für die ‚eigene‘ Musik, deren spezielle Komplexität und die Virtuosität ihrer Musiker*innen eine Lanze zu brechen. Zweitens sind zügige Bemühungen um eine akademische Institutionalisierung des Jazz zu erkennen: Bereits 1946 gründete das North Texas State College (die heutige University of North Texas) einen Studiengang für Dance Band Arrangement, der durch die Nachfrage der vielen durch die G. I. Bill 20 an die Universitäten und Colleges strömenden Veteranen bekannt wurde (hier studierte etwa Jimmy Giuffre). Ein anderes Beispiel ist das Wirken Marshall Stearns’: Ursprünglich Englisch-Professor, ist Stearns als Autor der weit rezipierten Jazzgeschichte The Story of Jazz öffentlich bekannt geworden. Er unterrichte bereits zu Beginn der 1950er Jahre einige der ersten Jazzgeschichtskurse an der New York University, am Hunter College und der New School for Social Research und gründete 1952 als Sammler das Institute of Jazz Studies – zunächst in seinem Appartement, seit 1966 an der Rutgers University beheimatet. Von 1957–60 organisierte und leitete er die Lenox School of Jazz, 17 Frederic Ramsey Jr. / Charles Edward Smith, Jazzmen. The Story of Hot Jazz Told in the Lives of the Men Who Created It, New York 1939; John Gennari, Blowin’ Hot and Cool. Jazz and Its Critics, Chicago 2006; Bruce Boyd Raeburn, New Orleans Style and the Writing of American Jazz History, Ann Arbor 2009. 18 Vgl. etwa Hugues Panassié, The Real Jazz, New York 1942, und Rudi Blesh, Shining Trumpets. A History of Jazz, New York 1947. 19 Vgl. Wolfram Knauer, „Der Analytiker-Blues. Anmerkungen zu Entwicklung und Dilemma der Jazzanalyse von den 30er Jahren bis heute“, in: Jazz Analyse. Lectures of the 5th Jazz Musicological Congress, hg. vom Institut für Jazzforschung und der Internationalen Gesellschaft für Jazzforschung, Graz 1999 (= Jazzforschung / Jazz Research 31), 27–42. 20 Die umgangssprachlich als G. I. Bill bezeichnete Gesetzgebung des „Servicemen’s Readjustment Act“ regelte die Wiedereingliederung von Soldaten nach der Rückkehr aus dem Zweiten Weltkrieg und ermöglichte ihnen u. a. einen kostenlosen Universitätszugang.

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wo er u. a. neben George Russell, dem Autor des jazztheoretischen Grundlagenbuchs The Lydian Chromatic Concept of Tonal Organization (1953), unterrichtete. Viele Jazzmusiker und -interessierte kamen hier mit einer sich institutionalisierenden Lehre des Jazz in Kontakt, die praktisch ausgerichtete Analyse und historisches Interesse an virtuosen Innovatoren verband. Die Etablierung einer universitären Jazzausbildung und -forschung, wie sie in den 1960er und 1970er Jahren dann verbreitet institutionelle Gestalt annahm, konnte auf die erfolgte künstlerische Legitimierung des Jazz auf bauen. In Graz etwa mündete das Bemühen um die Akademisierung des Jazz 1965 in der Gründung des in Europa ersten Instituts für Jazz, 1971 folgte die Einrichtung des Instituts für Jazzforschung. 21 Diese ‚alte‘ Jazzforschung hat die bis heute gültige, legitime Version der Jazzgeschichte hervorgebracht, die Scott DeVeaux in seinem als Gründungsdokument der New Jazz Studies geltenden Aufsatz „Constructing the Jazz Tradition: Jazz Historiography“ kritisiert. 22 Er nutzt den auf Martin Williams beruhenden Begriff der „jazz tradition“, 23 um die Typik dieser Metanarration für die Jazzhistoriographie zu beschreiben. Musik, so DeVeaux’ Analyse, könne nur dann als Jazz im Rahmen der jazz tradition erkannt und bearbeitet werden, wenn sie (1) als afroamerikanische Musik beschrieben werden könne, (2) kunstmusikgleich als autonome Musik eine Distanz zum Marktgeschehen einnehme (bzw. als solche unter erheblichem ideologischen Scheuklappeneinsatz durch die Jazzhistoriker*innen erkannt werde), (3) im Material organische, aber lineare Entwicklung aufweise und (4) von virtuosen Innovatoren vorangetrieben werde. Mit Hayden Whites narrativen Modellierungen gesprochen, werde Jazzgeschichte als jazz tradition meist als ein Zusammenhang von genialen Individuen und großen Werken entweder im Format der Tragödie erzählt (der Trompeter Clifford Brown etwa überlebt den ersten, stirbt vor dem großen Durchbruch aber beim zweiten Autounfall) oder in dem der Romanze: Benny Goodman beispielsweise übersteht die Great Depression und hat den wohlverdienten Erfolg – „the triumph of good over evil, of virtue over vice, of light over darkness“ 24, wie es bei White heißt. Eines der möglicherweise bekanntesten, sicher aber wirkungsmächtigsten Beispiele dieser Jazzgeschichtsnarration ist die mehrteilige TV-Dokumentation Jazz von Ken Burns, die zuerst 2001 in den USA zur besten Sendezeit ausgestrahlt wurde. Die Erzählweise ist linear, verfallsgeschichtlich (mit Anfang, Höhepunkt und Ende), personenzentriert (unter Betonung ‚herausragender‘ Musiker wie 21 Elisabeth Kolleritsch, Jazz in Graz. Von den Anfängen nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu seiner akademischen Etablierung. Ein zeitgeschichtlicher Beitrag zur Entwicklung des Jazz in Europa, Graz 1995 (= Beiträge zur Jazzforschung 10); Michael Kahr, Jazz & the City. Jazz in Graz von 1965 bis 2015, Graz 2016. 22 Scott DeVeaux, „Constructing the Jazz Tradition: Jazz Historiography“, in: Black American Literature Forum 25/3 (1991), 525–560. 23 Martin Williams, The Jazz Tradition, New York 1983 (new and revised edition). 24 Hayden White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore 1973, 9.

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Louis Armstrong) und blendet weitgehend Austauschprozesse mit anderen Genres und Stilen aus. Auf herbe Kritik seitens der New Jazz Studies stieß erstens Burns’ historische Verzerrung: Ganze Stilbereiche (wie der Free Jazz) und Jahrzehnte (etwa weitgehend die 1970er und 1990er) sind ausgeklammert; die vier Jahre von 1935–39 werden in zwei Folgen, die jazzmusikalischen Entwicklungen der vierzig Jahre von 1961–2001 in einer einzigen erzählt. Zweitens wird Jazz von Burns als essentielle Hervorbringung der US-amerikanischen demokratischen Moderne repräsentiert; die Dokumentation beginnt gar mit den Worten „jazz objectifies America“. Drittens ist das in der Dokumentation privilegierte Subjekt der heroische ‚Künstler‘, wie er (Frauen spielen hier fast keine Rolle) von dem im Film tonangebenden Jazztrompeter Wynton Marsalis immer wieder bezeugt und dargestellt wird. 25 Rassismus und Armut sind in Jazz bloße dramatisch inszenierte Hintergründe, welche das romantische Narrativ des Genies universalistisch auf seinem Weg zur Hervorbringung von „America’s classical music“ überwindet. Viertens, aber nicht zuletzt, muss die fehlende Genderperspektive in Jazz, aber lange Zeit auch in der Jazzgeschichtsschreibung insgesamt genannt werden, wie Nichole T. Rustin 2008 im ersten (!) Sammelband über Jazz und Gender kritisiert: „Although attention has been paid to Marsalis’ institution building and to his ideas about musical tradition, there has been little interest directed toward the issue of jazz democracy as primarily male collective identity.“ 26 George Lipsitz fasst New-Jazz-Studies-typisch die Kritik an Jazz zusammen: Like any historical narrative, the evidence and arguments advanced in Jazz are partial, perspectival, and interested. In telling its own truth about time, place, and subjectivity, the film directs our attention away from the many other temporalities, spaces, and subject positions that are central to the story of jazz. 27

Und diese werden nun von den heutigen Jazz Studies ins Licht geholt.

It ain’t what you do… Kommen wir auf den zu Beginn thematisierten Song der Jimmie Lunceford Band zurück, die es als ein afroamerikanisches Orchester zu einer gewissen Popularität während der Ära des Swing bringen konnte, aber in vielen Jazzgeschichten merk25 Marsalis ist übrigens Leitfigur einer neokonservativen Wende des Jazz seit den 1980er Jahren, die Free Jazz und Fusion Jazz als „misslungene Experimente“ ausgrenzt und in Jazz durch das Verschweigen dieser Stile thematisiert wird; vgl. dazu Ekkehard Josts Analyse in seiner Sozialgeschichte des Jazz in den USA, Frankfurt a. M. 22003, 321–346. 26 Nichole T. Rustin / Sherrie Tucker, „Introduction“, in: Big Ears. Listening for Gender in Jazz Studies, hg. von dens., Durham 2008, 1–28, hier 5. 27 George Lipsitz, „Songs of the Unsung: The Darby Hicks History of Jazz“, in: Uptown Conversation, hg. von O’Meally, Edwards und Griffin, 9–26, hier 12.

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würdig unterbelichtet blieb. So widmete etwa Gunther Schuller gerade einmal 20 der 944 Seiten seines Mammutwerks The Swing Era der Lunceford-Band – aber eben kein eigenes Kapitel wie dem dort sogenannten „King of Swing“ Benny Goodman oder „Master Composer“ Duke Ellington. 28 In seiner stilanalytisch geleiteten Untersuchung hat Schuller ausdrückliche Schwierigkeiten mit Luncefords Musik. Neben dem Vorwurf eklektizistischer Stilunreinheit bekommt die Lunceford Band noch den fehlender Originalität zu hören, da sie kein „composer’s orchestra“, sondern nur ein „arranger’s orchestra“ gewesen sei: The significant difference between the two is that a composer’s creativity, particularly that of an outstanding one, goes deeper and encompasses the totality of a musical creation – from its inner content and essence to its exterior surface expression; while an arranger’s creativity, no matter how skillful and sensitive, falls some degree short of that totality. An arrangement is by definition a reworking of some other creator’s original material. 29

Die hier durchklingende Genie-Ästhetik Schullers stört zudem, dass die Performance der Lunceford-Band in der Vaudeville-Tradition steht, wo seit jeher Unterhaltung (und nicht ‚Kunst‘) im Mittelpunkt stand. 30 Der afroamerikanische Swing-Gitarrist, Posaunist und Komponist Eddie Durham etwa beschreibt einen Auftritt der Lunceford-Band folgendermaßen: They [die Lunceford-Band] would come out and play a dance routine. The Shim Sham Shimmy was popular then and six of the guys would come down and dance to it – like a tap dance, crossing their feet and sliding. Then Willie Smith would put his bonnet on and sing a sort of nursery rhyme. Eddie Tompkins hit the high notes and did a Louis Armstrong deal. Then they had a Guy Lombardo bit and a Paul Whiteman bit – see, they imitated bands. The lights would go down next and they’d all lay down their horns and come out to sing as a glee club… The next number, they’d be throwing their horns and hats up to the ceiling. That was all novelty, and I liked it. 31

Es sind vor allem Arbeiten aus den New Jazz Studies, die genau diese „totality of musical creation“ im Vaudeville beschreiben. 32 Schuller (und ihm nachfol28 Gunther Schuller, The Swing Era. The Development of Jazz 1930–1945, New York 1989 (= The History of Jazz 2), 3–45, 46–157. 29 Ebd., 202. 30 Nicholas Gebhardt, Vaudeville Melodies. Popular Musicians and Mass Entertainment in American Culture 1870–1929, Chicago 2017. 31 Eddie Durham, zit. nach Scott DeVeaux / Gary Giddins, Jazz, New York 22015, 150 (Auslassung im Original). 32 Vgl. Lawrence Gushee, Pioneers of Jazz. The Story of the Creole Band, Oxford 2005; Gebhardt, Vaudeville Melodies.

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gend viele Jazzforscher*innen) konnte sie jazzgeschichtlich aus den ideologischen Gründen einer musikautonomen Kunstmusikauffassung nicht (an)erkennen und schrieb Lunceford aus der jazz tradition weitgehend hinaus. Scott DeVeaux und Gary Giddins führen als weitere Begründung dieses Ausschlusses an, dass Jimmie Lunceford dem gängigen historischen Subjekt der Jazzgeschichte des primitivistisch-naiven – Race-Konzeptionen spielen hier natürlich mit hinein –, virtuos musizierenden oder komponierenden Black Artist widersprach. 33 Lunceford hatte Klavier, Flöte und Altsaxofon erlernt, spielte als Bandleader jedoch keine Solopassagen. Auch übliche Class-Konzepte der Jazzgeschichtsschreibung griffen nicht für Lunceford, da er aus der afroamerikanischen bürgerlichen Mittelklasse stammte und nicht aus der in der jazz tradition verklärten sozial prekären Unterschicht: Luncefords erster Musiklehrer in Denver war Paul Whitemans Vater, später studierte er am New York City College und an der Fisk University Nashville. Als Musiklehrer an einer High School in Memphis gründete er die Dance Band Chickasaw Syncopators, die er, wie später auch seine eigenen Bands, mit einem Taktstock dirigierte! Aus dieser Band entwickelte er die professionelle Lunceford Band, unterstützt durch seinen Fisk-Studienfreund und Altsaxofonisten Willie Smith, indem er in allen Lebens- und Arbeitsbereichen von seinen Musikern bürgerliche Tugenden verlangte, die sogenannten „Three P’s“: „punctuality, precision, and presentation“ (tatsächlich überprüfte er sogar die Socken der Musiker, wie sich ein Bandmitglied erinnert). 34 Populär wurde die Lunceford Band dann mit einem Engagement im Harlemer Cotton Club 1934, einem der wenigen Orte, von denen aus eine afroamerikanische Band zur besten Sendezeit im Radio gespielt werden konnte – wenn sie den alten Vaudeville-Rat befolgte, der auch etwa die Beatles noch in Hamburg leitete: „Mach Show!“ Es folgten etliche anschließende Hits bei Majorlabels wie Columbia und Decca. Trotzdem bzw. genau aus diesen Gründen war die Lunceford Band lange kaum adäquat in der Forschung repräsentiert, die an der Fortschreibung der jazz tradition arbeitet: Sie war zu populär, sie bot zu viel Unterhaltung und war kommerziell zu erfolgreich.

… it’s the way how you do it: Vermittlung und Macht So viel dürfte bisher klar geworden sein: Die um die Jahrtausendwende geschehene Reformulierung der Jazz Studies zu einer Inter-, bisweilen auch Transdisziplin erlaubt einen frischen Blick auf Jazzgeschichte, der nun zunehmend auch in anderen Feldern zur Anwendung kommt. 35 Das eingangs mit Bezug auf Steve 33 Scott DeVeaux / Gary Giddins, Jazz, New York 2009, 193. 34 Ebd. 35 Freilich gab es auch zuvor Versuche, Jazzgeschichte anders zu erzählen: Im deutschen Sprachraum ist sicherlich Josts Sozialgeschichte des Jazz in den USA (Anm. 25) zu nennen, erstmals 1982 erschienen und bis heute in mittlerweile vierter Ausgabe erhältlich. Doch erst Scott DeVeaux’ Birth of

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Waksman beschriebene neue Interesse an historischer Forschung in den Popular Music Studies liegt meines Erachtens darin begründet, dass heutzutage erstens auf Basis der erwähnten Forschungsarbeiten die historischen Gemeinsamkeiten von populärer Musik und Jazz vor dem Hintergrund einer industrialisierten kapitalistischen Moderne inmitten diverser mit Migrationen einhergehender kultureller Austauschprozesse gesehen und verstanden werden können. Zweitens gibt es wieder, wie zu Beginn der Popular Music Studies, einige, wenn auch noch zu wenige Wissenschaftler*innen, die programmatisch an beiden Gegenständen in verbindender Perspektive forschen. Drittens mehren sich akademische Institutionen (derzeit eher im englischsprachigen Raum, aber beispielsweise auch in Graz), in denen Jazz- und Popularmusikforschung gelehrt werden. Diese zu begrüßenden Entwicklungen stellen somit ein Fortbestehen der Grenzziehung zwischen Jazz einerseits und Popular Music Studies andererseits zunehmend infrage. Es geht heutzutage, um noch einmal zu Lunceford zurückzukehren, weniger um das „what“ – den in welchem Feld auch immer angesiedelten Gegenstand der Forschung –, sondern es geht um das „how“. Damit sind nicht in erster Linie Methoden gemeint, denn diese ergeben sich immer aus der Fragestellung. Vielmehr ziele ich hier auf Kompetenzen und Haltungen, die das „Wie“ mit der Frage nach dem „Wozu“ verbinden. Eine der zentralen Erkenntnisse der New Jazz Studies ist, dass Kompetenzen vermittelt werden müssen, um Kanonisierungen zu erkennen, deren Mechanismen zu beschreiben und dann Wege ebnen zu können, diesem geschichtlichen Hauptstrom Seitenkanäle anzufügen, in denen bisher Marginalisierte und Marginalisiertes relativ frei – um im Bild zu bleiben – ‚schwimmen‘ können. Die Arbeiten Sherrie Tuckers, in denen sie über Frauen-Swingbands oder über die Geschichte von Improvisation und Behinderung forscht, 36 sind in dieser Hinsicht ebenso Beispiel und Vorbild wie die Tony Whytons: In seiner Beschäftigung mit Jazz-Ikonen wie John Coltrane zeigt er diverse historische Prozesse auf, die uns die heutige Stellung Coltranes als ein historisch Gemachtes – und somit auch: Veränderbares – verstehen lassen. 37 Zudem vertritt Whyton überzeugend einen Ansatz der Mikrogeschichte, wenn er für einen Artikel eine geerbte Kiste mit den Erinnerungsstücken seines angeheirateten Großonkels entpackt und anhand dieser Fundstücke ein berufssoziologisch wie kulturgeschichtlich interessantes Bild des Lebens eines Tanzmusikers der 1920er Jahre, zwischen klassischer, populäBebop, bereits im Untertitel als „social history“ gekennzeichnet, machte diesen Ansatz im anglophonen Raum bekannter (Scott DeVeaux, The Birth of Bebop. A Social and Muscial History, Berkeley 1997). 36 Sherrie Tucker, Swing Shift. „All-Girl“ Bands of the 1940s, Durham 2000; dies., „Stretched Boundaries: Improvising Across Abilities“, in: Negotiated Moments: Improvisation, Sound, and Subjectivity, hg. von Ellen Waterman und Gillian Siddall, Durham 2016, 181–198. 37 Tony Whyton, Beyond a Love Supreme. John Coltrane and the Legacy of an Album, Oxford 2013.

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rer und Jazzmusik oszillierend, in transnationaler Perspektive nachzeichnet. 38 Es sind genau solche genreübergreifenden Arbeiten, 39 die zeigen, dass zu jeder Zeit Austauschprozesse stattfanden und somit stilanalytisch argumentierende Jazzgeschichten wie etwa die weitverbreitete von Mark Gridley40 als eindimensional entlarven. Es wäre nun allerdings falsch anzunehmen, die Jazzgeschichtsschreibung in toto hänge derlei Ideen an. So beklagen viele meiner internationalen Kolleg*innen dasselbe Leid über das erstaunliche Beharrungsvermögen des etablierten Jazzgeschichtsverständnisses der jazz tradition gerade in denjenigen Institutionen, die neben der wissenschaftlichen auch eine praktische Ausbildung anbieten. Denn insbesondere die späteren Musiker*innen sollen das ‚Wichtigste‘, das auf Platte oder in Transkription vorliegt, von den ‚Besten‘ des Jazz erlernen. Das Vorhandensein dieser starken Konzepte von Werk und Genie darf kaum verwundern, denn auch die Jazzausbildung hat sich von einer häufig oralen community-based practice zu einer klassischen Meister-Schüler-Beziehung an Hochschulen gewandelt, wie sie auch in der sogenannten „klassischen Musik“ beobachtet werden kann. Was kann hier entgegnet werden, was wollen und sollen wir vermitteln? Zunächst ist die Einsicht leitend, dass Musikgeschichte es immer auch mit der Auseinandersetzung mit Werturteilen zu tun hat, eigenen wie fremden. „Musikgeschichtsschreibung“, so Rösing, „kann es sich nicht leisten, bestimmte Stile, Gattungen, Richtungen nach der Maßgabe auszuklammern, dass sie nicht geschichtswürdig seien.“41 Die Thematisierung von Smooth Jazz in einer Jazzgeschichte verrät beispielsweise anhand unvermeidbar auftauchender Äußerungen bezüglich musikalischer Qualitätskriterien viel über ästhetische Selbstverständnisse von Individuen wie Institutionen im historischen Wandel (die insofern kaum zur Begründung der fortbestehenden Nicht-Auswahl geeignet sind). Smooth Jazz als einer der oben sogenannten Seitenkanäle des geschichtlichen Hauptstroms kann aber dazu beitragen, eine Jazzgeschichte bunter, bei aller unvermeidbaren Unvollständigkeit immerhin voller und möglicherweise gerechter zu gestalten, da mehr Menschen derartigen Jazz kennen und bevorzugen. Diese Nebenkanäle erschweren indes die von vielen erwünschte Orientierungsfunktion der gewohnten, an der Jazzkanonkrücke humpelnden Lehrveranstaltung. Werden aber zu Be38 Tony Whyton, „A Familial Story: Hidden Musicians and Cosmopolitan Connections in Jazz History“, in: Jazz@100. An Alternative to a Story of Heroes, hg. von Wolfram Knauer, Hofheim 2018 (= Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung 15), 113–128. 39 Vgl. Guthrie P. Ramsey, Race Music. Black Cultures from Bebop to Hip-Hop, Los Angeles 2003; Gushee, Pioneers of Jazz; Gebhardt, Vaudeville Melodies. 40 Mark Gridley, Jazz Styles. History and Analysis, Boston 112012. 41 Helmut Rösing, „Geschichtsschreibung als Konstruktionshandlung. Anmerkungen zu Geschichte und Gegenwart der Musikgeschichtsschreibung“, in: Geschichte wird gemacht. Zur Historiographie populärer Musik, hg. von Dietrich Helms und Thomas Phleps, Bielefeld 2014, 9–24, hier 18.

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ginn musikgeschichtliche Selbstverständlichkeiten offen dargelegt, die deutlich vom „Fetisch der Vollständigkeit“42 Abstand nehmen, und werden die Gründe für die Auswahl offengelegt, ermöglicht die Thematisierung dieser Nebenf lüsse in Bezug zum Hauptstrom ein lustvolles Entdecken des Neuen und hält das Interesse am Ausgelassen aufrecht. Sherrie Tucker fasst es folgendermaßen: „To narrate with an awareness of its limits, or what Spivak describes as ‚a radical acceptance of vulnerability‘, does offer an alternative to insisting on a particular version as the objective truth.“43 Für die Frauenforschung schlug Elsa Barkley Brown einen Geschichtsbegriff vor, der die Teilhabe aller an Geschichte betont: „History is also everybody talking at once. Multiple rhythms being played simultaneously. The events and people we write about did not occur in isolation but in dialogue with a myriad of other people and events.“44 Beispiele wie die im Internet so gerne geschauten TED-Talks oder die erfolgreiche 33 1/3-Serie vom Continuum-Verlag über Popalben, die mit bescheidenerem Umfang und Erfolg für den Jazz in der Reihe Oxford History of Recorded Jazz imitiert wird, zeigen, dass Musikgeschichte nicht bloß als ein Diskurs von Experten*innen für Expert*innen gestaltet werden kann. Diese Beispiele nutzen eine einfache Sprache, die Jedermann und -frau in die Auseinandersetzung mit Pop- und Jazzgeschichte gleiten lässt. Sie verfügen über spürbare Begeisterung für die Gegenstände, ohne aber in Fan-Talk umzuschlagen.45 Die Jazz Studies haben sich diesen vielstimmigen Geschichtsbegriff als Auftrag zu eigen gemacht, und er dient auch (Pop-)Musikhistoriker*innen zur Einladung, in derartige Dialoge einzutreten. „It’s the time“ und „it’s the place that you do it.“

42 Ebd., 19. 43 Tucker, „Deconstructing the Jazz Tradition“, 271. 44 Elsa Barkley Brown, „‚What Has Happened Here‘: The Politics of Difference in Women’s History and Feminist Politics“, in: Feminist Studies 18/2 (1992), 295–312, hier 297. 45 Vgl. zum Beispiel den weit rezipierten 33 1/3-Band von Carl Wilson über Celine Dions Album Let’s Talk About Love, der eine musikästhetische und -soziologische Betrachtung über Musikgeschmack ist: Carl Wilson, Let’s Talk About Love. A Journey to the End of Taste, New York 2007.

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Jazz ‚meets‘ India Über die Schwierigkeiten musikalischer Begegnungen Gerd Grupe Peter Revers hat sich bekanntlich intensiv mit der Rezeption ostasiatischer Musik durch westliche Komponisten befasst.1 Sein Interesse an solchen Kulturkontakten erstreckt sich aber auch auf andere asiatische Länder2 und gilt darüber hinaus auch dem Jazz. 3 Der vorliegende Beitrag knüpft hier an und versucht, die strukturellen Schwierigkeiten herauszuarbeiten, die sich beim gemeinsamen Musizieren von Jazzmusiker*innen mit Musikern aus einer der klassischen indischen Traditionen ergeben.4 Letzteren wird häufig eine besonders ausgeprägte Affinität zum Improvisieren nachgesagt, die das verbindende Element zum Jazz darstelle und damit eine gemeinsame Basis für ein Zusammenspiel liefern könne. 5 Es soll hier jedoch gezeigt werden, dass Jazz und indische Kunstmusik durchaus verschiedene Konzepte von Improvisation und ihren möglichen Ausprägungen aufweisen, die keineswegs ohne weiteres kompatibel sind, und dass sich auch darüber hinaus die grundlegenden musiktheoretischen Konzepte beider Traditionen deutlich unterscheiden.

Konstellationen der Begegnung und Verständigung Bei einer musikalischen Kooperation treffen Menschen mit einer jeweils spezifischen Enkulturation (Hörerfahrungen, musikalischen Kenntnissen) aufeinander. Uns interessieren hier besonders die Konstellationen, bei denen sich diese kulturel1 2

3 4 5

Peter Revers, Das Fremde und das Vertraute. Studien zur musiktheoretischen und musikdramatischen Ostasienrezeption, Stuttgart 1997 (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 41). So hatte ich das Vergnügen, an der Kunstuniversität Graz gemeinsam mit Peter Revers mehrfach einen Zyklus von Seminaren abzuhalten, die der Rezeption ostasiatischer (China, Korea, Japan), südostasiatischer (insbesondere Gamelan-Musik aus Bali und Java) und klassischer indischer Musik in westlichen Ländern gewidmet waren. Dabei kamen auch deren Einflüsse auf westliche Popmusik und den Jazz zur Sprache. Peter Revers, „‚…very much reminiscent of improvisations in jazz‘: Zur kompositorischen Jazzrezeption in Werken Ernst Kreneks, Boris Blachers und Gottfried von Einems“, in: Jazzforschung / Jazz Research 38 (2006), 129–136. Wenn im Folgenden nicht immer ausdrücklich auch Frauen genannt werden, liegt das daran, dass die Pianistin Irène Schweizer bis heute eine der sehr wenigen Musikerinnen ist, die im Zusammenhang mit dem behandelten Thema prominent in Erscheinung getreten sind. Vgl. Gerd Grupe, Die Kunst des mbira-Spiels (The Art of Mbira Playing). Harmonische Struktur und Patternbildung in der Lamellophonmusik der Shona in Zimbabwe, Tutzing 2004, 231–248.

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len Voraussetzungen deutlich unterscheiden und eine gemeinsame Basis nicht per se vorausgesetzt werden kann. Um den Modus der gegenseitigen Verständigung und den Grad des Verstehens zu bestimmen, bieten sich Sprachen als Vergleich an. Verständigt man sich mittels Zeichensprache und Gesten? Lernt man die Sprache der anderen? Beschränkt man sich auf die Verwendung einer Pidginsprache als Minimalkonsens oder entwickelt sich eine Kreolsprache als neue Hybridform?6 Vielleicht spricht man aber einfach nur gleichzeitig, ohne sich zu verstehen. Auf Jazzmusiker*innen bezogen begegnet man der Adaption und teilweise dem Erlernen von Musikinstrumenten etwa im Fall des Altsaxophonisten Charlie Mariano, der sich intensiv mit der traditionellen Spielweise des südindischen Doppelrohrblattinstruments nāgasvaram auseinandergesetzt hat.7 Ein Problem besteht oft darin, dass das Niveau von Expert*innen aus der jeweiligen Tradition in der Regel bei weitem nicht erreicht wird, sodass man sich möglicherweise dem Vorwurf des Dilettantismus ausgesetzt sieht. Hinzu kommt im Zuge postkolonialer Debatten die Frage nach der Berechtigung zur kulturellen Aneignung (cultural appropriation) und Verwertung fremder Kulturgüter. 8 In umgekehrter Richtung findet man solche Prozesse allerdings durchaus auch. Bereits seit dem 19. Jahrhundert wurden von indischen Musikern europäische Instrumente wie Violine und Harmonium, heute auch Saxophon, für klassische indische Musik adaptiert. Anstatt ein anderes Idiom selbst zu erlernen, besteht eine Alternative darin, dass Musiker*innen aus verschiedenen Traditionen/Kulturen gemeinsam musizieren und ihre jeweilige Expertise einbringen. Erwächst daraus dann ein musikalisches Pidgin oder eine Kreolsprache?

Jazz und klassische indische Musik: einige musiktheoretische Grundlagen Das 1961 aufgenommene Stück India des Saxophonisten John Coltrane9 setzte sowohl durch seinen Titel als auch durch die Verwendung des im Jazz der damaligen Zeit ungebräuchlichen Sopransaxophons mit seinem an ‚orientalische‘ Rohrblattinstrumente erinnernden Klang ein deutliches Signal für ein wachsendes Interesse von Jazzmusiker*innen an indischer Musik. Zudem erinnerte die um diese Zeit 6

7 8 9

Im Gegensatz zu einer Kreolsprache, die ein vollständiges sprachliches System darstellt und Muttersprache sein kann, handelt es sich bei einer Pidginsprache nur um eine Behelfssprache mit beschränkten Ausdrucksmöglichkeiten; vgl. http://www.ling.cam.ac.uk/Li2/creoles.pdf (2.2.2019). Vgl. Gerd Grupe, „Jazz und der Rest der Welt: Nachhaltiger Wandel oder punktuelle Inspiration?“, in: Jazzforschung / Jazz Research 38 (2006), 137–154, hier 142. Vgl. Gerd Grupe, „‚Eine Sache unter Brüdern‘? – Nicht-westliche Musiker zwischen Ausbeutung und kommerziellem Erfolg“, in: Musik und Ökonomie, hg. von Claudia Bullerjahn und Wolfgang Löffler, Hildesheim 2009, 205–228. LP John Coltrane, Impressions, Impulse A-42 (1963), Track 1.

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im Jazz Gestalt annehmende sogenannte modale Spielweise10 mit ihrem Verzicht auf wechselnde Akkordfolgen und ihrem Bezug auf ein konstantes tonales Zentrum manche Hörer*innen an den Bordun der klassischen indischen Musik. Worin bestehen dann aber fundamentale Unterschiede? In tonal-melodischer Hinsicht bildet ein rāga die Grundlage indischer Kunstmusik. Es handelt sich um ein Melodiemodell, das durch eine Aufführung realisiert wird und unter anderem durch eine spezifische Skala, die in Auf- und Abstieg unterschiedlich sein kann, sowie durch typische Melodiefiguren und Ornamente, die integrale Bestandteile des Modells sind, gekennzeichnet ist. Es gibt eine lineare Melodiekonzeption über einem Bordun, angestrebt wird die Erzeugung eines Gesamt-Klangeindrucks, der eine spezifische Empfindung (rāga bhāva) auslöst und auch außermusikalische Assoziationen (Tageszeiten,11 Gefühlsgehalte) umfasst. Bevorzugt wird zuerst eine Darbietung ohne festes Zeitmaß, das heißt ohne Einbettung in metro-rhythmische sogenannte tāla-Perioden. Der Einfachheit halber soll für den Vergleich nur die sogenannte HindustaniMusik, also die nordindische Kunstmusik,12 herangezogen werden. Cum grano salis würde das meiste auch für die sogenannte karnatische, also die südindische klassische Musik, gelten. Als Beispiel soll Rāg Kedār13 dienen. Dieser rāga hat ernsthaften, kontemplativen Charakter, sein melodischer Kern ist folgendermaßen gekennzeichnet: Das d14 fehlt im Aufstieg, f ist Hauptton, die passende Tageszeit ist der Abend zwischen 21 und 24 Uhr.15 Ihm wurden magische Kräfte zugeschrieben. So soll er Krankheiten heilen und Steine zum Schmelzen bringen können.16 Typisch ist laut Bor ein Quartsprung vom Grundton c zum f, melodisch nicht zulässig wäre dagegen ein vom d ausgehender Aufstieg, zum Beispiel d–e–f, ebenso wenig ein weiterer direkter Aufstieg vom f aus; e kann im Aufstieg nur in der Umspielungsfigur (vakra) f–e–g und fis nur vor g oder zwischen zwei g eingesetzt werden. Im Abstieg und als Halteton erscheint die vierte Stufe dagegen als f. Die siebte Stufe der Skala ist die große Septim h, bei bestimmten Umspielungen dagegen eine kleine Septim (b). Eine auf einige wesentliche melodische Merkmale reduzierte Form der ‚Skala‘ des Rāg Kedār kann folgendermaßen notiert werden (Bsp. 1). 10 Vgl. Mark Levine, The Jazz Theory Book, Petaluma 1995, 29–30. 11 Im Gegensatz zur nordindischen Auffassung spielen Tageszeiten in der südindischen Kunstmusik keine wesentliche Rolle. 12 Vgl. George Ruckert / Richard Widdess, „Hindustani Raga“, in: The Garland Encyclopedia of World Music, Bd. 5: South Asia. The Indian Subcontinent, hg. von Alison Arnold, New York 2000, 64–88. 13 Rāg ist die in Nordindien gebräuchliche Form des Sanskrit-Worts rāga. 14 Es ist in westlicher Literatur üblich, alle rāga-Skalen auf den Grundton c zu beziehen und entsprechend zu notieren. 15 Nach Joep Bor (Hg.), The Raga Guide. A Survey of 74 Hindustani Ragas, o. O. 1999, 98. 16 Walter Kaufmann, The Rāgas of North India, Bloomington 1968, 88.

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Beispiel 1: Rāg Kedār in abstrahierter Form 1 (nach Bor, Raga Guide, 98).

Eine etwas ausführlichere Version könnte so aussehen (Bsp. 2).

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Beispiel 2: Rāg Kedār in abstrahierter Form 2 (nach Nach N[azir] A[li] Jairazbhoy, The Rags of North Indian Music. Their Structure and Evolution, Middletown 1971, 208–210).17

Für den sogenannten „modernen“ Jazz, das heißt die etwa ab Ende der 1940er Jahre entwickelte Spielweise, hat sich die sogenannte Akkord-Skalen-Lehre als Erklärungsmodell für die Beziehung zwischen Melodielinien und zugrunde liegenden harmonischen Strukturen etabliert. Demnach lässt sich jeder gängigen Skala ein passender, in der Regel vierstimmiger, Akkord zuordnen und umgekehrt. Besonders gebräuchlich sind die aus der Dur- und die aus der melodischen MollTonleiter abgeleiteten Modalskalen.18 Um über ein vorgegebenes Akkordschema passende Melodielinien zu kreieren, können Akkordbrechungen erweiterter Akkorde, Skalenausschnitte (mit Durchgangstönen) und chromatische Umspielungen von Zieltönen (z. B. Akkordtönen) kombiniert werden. Das folgende Beispiel (Bsp. 3) zeigt eine mögliche Melodielinie, die über den Akkord Dm7 gelegt ist.

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Beispiel 3: Akkord-, Skalen- und skalenfremde Töne am Beispiel der dorischen Skala über den Akkord Dm7.

Die Klammern unter dem System zeigen Akkordbrechungen. Im Fall von Dm7, d. h. einem Mollakkord mit kleiner Septim, sind das die Töne d–f–a–c. Das e kann entweder als Akkorderweiterung (Dm  ) oder als Skalenton (zweite Stufe der dorischen Skala über d) interpretiert werden. Mit Pfeilen sind die chromatischen Durchgangs- bzw. Umspielungstöne gekennzeichnet, die nicht in der laut AkkordSkalen-Theorie zum Akkord Dm7 gehörenden dorischen Skala enthalten sind.

17 Patrick Moutals Version (A Comparative Study of Selected Hindustani Ragas Based on Contemporary Practice, Neu-Delhi 1991, 110) deckt sich im Wesentlichen mit denen von Bor und Jairazbhoy. 18 Levine, Jazz Theory, 34, 56.

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Für die modale Spielweise, bei der keine ganz- oder halbtaktig wechselnden Akkorde (sogenannte changes) als Basis dienen, sondern mehrtaktige Abschnitte (acht, 16 Takte oder mehr) mit nur einem Akkord (= einer Skala), bietet sich darüber hinaus zur Erweiterung der melodischen Optionen das temporäre Verlassen der Tonalität/Skala an, das sogenannte Inside-outside-Spielen.19 Dies soll am Beispiel des Anfangs des Piano-Solos von McCoy Tyner über Passion Dance 20 gezeigt werden (Bsp. 4). Einzige Akkordvorgabe ist hier F7 (= f–a–c–es).

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Beispiel 4: Anfang des Piano-Solos von McCoy Tyner über Passion Dance. 21

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In den nicht weiter gekennzeichneten Passagen bleibt Tyner in der Tonalität von F7, das heißt er verwendet die mixolydische Skala über f. In der vierten Zeile gibt es zuerst einen Ausschnitt aus der mixolydischen Skala mit erhöhter vierter Stufe ♯11 (F     7 ), die man im Jazz-Jargon „Lydian b7“ nennt. Es folgen melodische Floskeln (durch Klammern gekennzeichnet), die jeweils als Teil einer Dur-Pentatonik interpretiert werden können. In vollständiger Form würde diese aus der ersten, zweiten, dritten, fünften und sechsten Stufe über dem jeweils notierten Grundton bestehen, verwendet werden jedoch zunächst nur die erste, zweite und dritte Stufe der jeweiligen Skala. Diese Fragmente werden ausgehend von d–e–fis (= Dur-Pentatonik über d) zunächst auf des, dann von b über h nach ges absteigend gerückt. Erst bei letzterem erscheint auch die fünfte Stufe (des) in der Melodie (im Zweiklang ges–des). In der vorletzten Zeile tritt im mit G♭ bezeichneten Abschnitt ein es als sechste Stufe der Dur-Pentatonik über ges hinzu, gefolgt von 19 Vgl. ebd., 183–192. 20 Von seiner LP The Real McCoy, Blue Note BST 84264/BLP 4264 (1967), Track A1. 21 Die Beschriftung im Notenbeispiel folgt den im Jazz üblichen Bezeichnungen (B♭ = B, B = H).

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einer längeren Melodielinie in der letzten Zeile, welche die Tonalität von F7, also F-mixolydisch, wieder deutlich etabliert. Durch die aufeinanderfolgende Verwendung von Tonvorräten, deren Grundtöne im Abstand eines Halbtonschritts stehen (einmal Pentatonik auf ges, danach die mixolydische Skala auf f ), ergibt sich ein starker tonaler Kontrast. Aus der Jazz-Perspektive wirkt ein solcher chromatischer Abstieg allerdings wie eine sehr geschätzte, idiomatische Auf lösung. 22 Notiert ist hier aus Gründen der Übersichtlichkeit nur die rechte Hand, die linke spielt Quartenakkorde, die ebenfalls gerückt werden. Während also im Jazz skalenfremde Töne bis hin zum Outside-Spielen üblich sind und charakteristische Melodiefiguren (sogenannte licks) eher dem Personalstil einer Musikerin oder eines Musikers zuzuordnen sind, die sich in quasi beliebigen Stücken und musikalischen Kontexten anwenden lassen (vgl. die Anmerkungen über Charlie Parker weiter unten), müssen bei einem rāga die für diesen typischen melodischen Wendungen präsentiert, sein ‚Gehalt‘ oder ‚Charakter‘ bis hin zu außermusikalischen Assoziationen herausgearbeitet werden. Fremde Töne oder melodische Phrasen, die nach einheimischer Auffassung nicht idiomatisch für den jeweiligen rāga wären, sind unbedingt zu vermeiden. Auf welcher musikalischen Basis können also Musiker*innen aus dem Jazz und der indischen klassischen Musik zusammenspielen?

Beispiele für gemeinsame Projekte Bereits seit den 1960er Jahren gab es Kooperationen von Jazzmusiker*innen mit indischen Künstlern, 23 darunter das Joe Harriott and John Mayer Double Quintet24 und gemeinsame Auftritte des Irène Schweizer Trios, ergänzt durch Barney Wilen (Saxophon) und Manfred Schoof (Trompete), mit dem Dewan Motihar Trio (sitār, tablā, tambūrā). 25 Auf der 1976 erschienenen LP Karuna Supreme ist der Altsaxophonist John Handy gemeinsam mit den nordindischen Musikern Ali Akbar Khan (sarod) und Zakir Hussain (tablā) zu hören. Ihr Stück Ganesha’s Jubilee Dance basiert laut den Liner Notes auf Rāga Jhiñjhot.ī, einem Abend-rāga mit G-Modus, das heißt einer mixolydischen Skala. Sowohl bei Schweizer und Motihar als auch bei Handy und Akbar Khan zeigen sich rasch die Einschränkungen solcher Projekte. Sobald bei ersterem Schweizer und ihre Kollegen in einem für die damalige Zeit typischen Free-Jazz-Stil zu spielen beginnen, dominieren sie das Klangbild deutlich und die indischen Kollegen können kaum noch etwas zum Ergebnis beitragen. Bei Handy und Akbar Khan bleibt die Balance zwar schon allein in der Lautstärke deutlich ausgewogener, jedoch hält sich der Saxophonist nicht an die 22 Vgl. Levine, Jazz Theory, 331–335, über das Prinzip des sogenannten chromatic approach. 23 Vgl. Martin Pfleiderer, Zwischen Exotismus und Weltmusik. Zur Rezeption asiatischer und afrikanischer Musik im Jazz der 60er und 70er Jahre, Karben 1998, 144–163. 24 Vgl. z. B. die LP Indo-Jazz Fusions, EMI SX 6122 (1967). 25 LP Jazz Meets India, Saba SB 15142 (1967).

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für diesen rāga verbindlichen melodischen Vorgaben wie etwa das obligatorische Überspringen der dritten Skalenstufe in aufsteigenden Melodielinien und ähnliche Einschränkungen der idiomatisch angemessenen Melodiebildung. 26 Nur eine Skala als Hinweis auf einen bestimmten rāga heranzuziehen, würde aber ohnehin einem rāga als Melodiemodell bei weitem nicht gerecht. Andererseits würde sich ein Jazzsolist oder eine Jazzsolistin kaum mit der Verwendung von Skalentönen zufrieden geben, sondern auch chromatische Durchgangs- und Umspielungstöne einsetzen, um die Gestaltungsmöglichkeiten nicht zu sehr zu beschränken, ganz zu schweigen vom temporären Verlassen der Tonalität (Outside-Spielen, s. o.). Es ergeben sich also mehrere Probleme beim Zusammenspielen von Musikern aus der klassischen indischen Tradition und Jazzmusiker*innen: • Für Kenner*innen der Hindustani-Musik wird ein rāga nicht in angemessener Weise präsentiert. • Für indische Maßstäbe gibt es bereits zu viele Freiheiten, für Jazz zu wenige. • Für Jazz-Hörer*innen bleiben die Rāga-Aspekte unverständlich. • Jazz-Solist*innen können ihre improvisatorischen Möglichkeiten nicht ausschöpfen (siehe dazu unten). Die Tatsache, dass alle Beteiligten ‚improvisieren‘, ergibt offensichtlich keine tragfähige gemeinsame Basis, da die Prinzipien, nach denen improvisiert wird, sich sehr stark unterscheiden. 27 Um das eingangs skizzierte Bild zu bemühen: Man spricht wohl gleichzeitig, aber die Verständigung ist entweder stark beschränkt, wie bei einer Pidginsprache, oder man redet vielleicht überhaupt aneinander vorbei.

Hybride Musik Bereits in den 1950er Jahren hat Jaap Kunst von „Hybridisierung“ gesprochen, die sich aus Kontaktprozessen zwischen verschiedenen Kulturen und Traditionen ergeben könne. 28 Allerdings hat sich inzwischen die Auffassung durchgesetzt, dass letztlich alles „hybrid“ ist oder jedenfalls irgendwann einmal war. Der Kulturanthropologe Brian Stross spricht daher von „hybridity cycles“. 29 Auf Musik ließe sich dieses Modell in der Weise anwenden, dass man von einem „hybriden“ Genre so lange sprechen kann, wie die ursprünglichen Quellen noch deutlich getrennt wahrnehmbar bleiben. Sobald sich jedoch ein neues Genre mit eigenen stilspezifischen Merkmalen etabliert hat, wäre die Bezeichnung „hybrid“ nicht mehr 26 Kaufmann, The Rāgas of North India, 224–226. 27 Vgl. Grupe, mbira-Spiel. 28 Jaap Kunst, Ethnomusicology. A Study of its Nature, its Problems, Methods and Representative Personalities to which is Added a Bibliography, Den Haag 1959, 1. 29 Brian Stross, „The Hybrid Metaphor: From Biology to Culture“, in: Journal of American Folklore 112/445 (1999), 254–267.

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aussagekräftig. Um im Umfeld des Jazz zu bleiben, wären als Beispiele der Latin Jazz und der Jazzrock (oder Rock Jazz) 30 zu nennen, die sich nach einer Entstehungsphase schließlich zu eigenständigen musikalischen Idiomen entwickelt haben. Für Kontakte zwischen Jazz und klassischer indischer Musik sprechen manche Autor*innen von Indo-Jazz. 31 Exemplarisch soll hier kurz der überaus einflussreiche Gitarrist John McLaughlin betrachtet werden. Bereits auf seiner LP My Goal’s Beyond32 hatte er sich deutlich an indischen Klängen interessiert gezeigt. Mit dem Mahavishnu Orchestra prägte er dann in den 1970er Jahren entscheidend die Entwicklung des Jazzrock. 33 Seine Spielweise war hier hoch virtuos und oft durch schnelle Unisono-Passagen mit Vio­line und Keyboards charakterisiert. McLaughlin setzte sich schon früh intensiv mit klassischer indischer Musik auseinander34 und formte schließlich die Gruppe Shakti, in der er mit Musikern aus Nord- und Südindien zusammenspielte. 35 Er verwendete unter anderem eine spezielle Gitarre mit zusätzlichen Saiten und einem Griff brett mit Vertiefungen, die an indische Saiteninstrumente erinnern. Charakteristisch für Shakti ist die Kombination von Musikern aus den beiden indischen Kunstmusiktraditionen, der Hindustani- und der karnatischen Musik, und der spezifischen Gitarrenspielweise McLaughlins. Hilfreich war dafür sicherlich seine Erfahrung mit der im Jazzrock üblichen, nicht swingenden Phrasierung von Melodielinien sowie der dort kultivierten Praxis virtuoser Unisono-Passagen. In der indischen Kunstmusik, namentlich der nordindischen, hat sich seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ebenfalls eine Vorliebe für virtuose Passagen entwickelt. Häufig geht es hier um ein Alternieren von Solisten. Im Jazz gibt es das sogenannte trading fours, das heißt einen alle vier Takte erfolgenden Wechsel des Solisten; in der Hindustani-Musik kennt man das Alternieren von melodischem Solisten und Trommelspieler (savāl-javāb) und ein ‚Duett‘ zweier Melodieinstrumente ( jugalbandī), bei denen die Beteiligten häufig danach trachten, sich an Virtuosität gegenseitig zu übertrumpfen. 36

30 Auf eine mögliche Unterscheidung zwischen eher dem Jazz nahestehendem Rock Jazz und einem eher zur Rockmusik tendieren Jazzrock wird hier aus Platzgründen nicht näher eingegangen. Der in diesem Zusammenhang häufig verwendete Begriff fusion (music) wird hier vermieden, weil es terminologisch irreführend ist, ihn auf nur eine einzige mögliche „Fusion“, die von Jazz und Rock, anzuwenden. 31 Vgl. Warren R. Pinckney jr., „Jazz in India: Perspectives on Historical Development and Musical Acculturation“, in: Jazz Planet, hg. von E. Taylor Atkins, Jackson 2003, 59–80. 32 Douglas 9, KZ 30766 (1971). 33 Vgl. Alexander Dannullis, Studien zur Musik John McLaughlins, Dissertation, Hamburg 1992. 34 Unter anderem studierte er an der Wesleyan University das Spiel der südindischen Laute vīn. ā. 35 Vgl. Dannullis, Studien, 61–79; Pfleiderer, Zwischen Exotismus und Weltmusik, 157–163. 36 Vgl. Stephen Slawek, „Hindustani Instrumental Music“, in: South Asia, hg. von Arnold, 188–208, hier 204–205.

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An einem Stück wie Joy 37 kann man den ernsthaften Versuch beobachten, zu einem neuen musikalischen Idiom zu finden, das unter Mitwirkung namhafter indischer Musiker38 die Grenzen zwischen Jazz und indischer Kunstmusik aufhebt und zu einem Resultat führt, das tatsächlich als „hybrid“ zu bezeichnen ist. 39 Letzteres gilt streng genommen trotz einer gemeinsamen musikhistorischen und teilweise -theoretischen Basis schon allein für das Zusammenspiel der Musiker aus den beiden großen Kunstmusiktraditionen Indiens, erst recht für den an Jazz und Jazzrock, aber eben auch an indischer Musik geschulten McLaughlin. In Joy findet man neben virtuosem Unisono-Spiel weitere musikalische Merkmale, die allen Beteiligten geläufig sind. Das Verschieben melo-rhythmischer Phrasen gegen das Metrum hat im Jazz beispielsweise der Pianist Thelonious Monk häufig in seinen Kompositionen eingesetzt, etwa in seinem Stück Straight, No Chaser (Bsp. 5).

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Beispiel 5: Thelonious Monk, Straight, No Chaser.

Es gibt hier zwei jeweils mehrfach wiederholte Phrasen, die gegen das Takt­s chema verschoben werden und in Beispiel 5 als a und b bezeichnet sind; a' und b' sind unvollständige Varianten der jeweiligen Melodiefigur, bei denen der letzte Ton weggelassen ist. In der Jazzforschung haben diesbezüglich besonders die Improvisationen des Altsaxophonisten Charlie Parker Beachtung gefunden. Bestimmte melodische Phrasen verwendet er in temporaler wie auch in harmonischer Hinsicht äußerst f lexibel, indem er sie sowohl über verschiedene Akkorde legt als auch gegenüber dem zugrundeliegenden Taktschema verschiebt.40 In der Hindus37 LP Shakti with John McLaughlin, Columbia PC 34162 (1976), Track A1; vgl. Pfleiderer, Zwischen Exotismus und Weltmusik, 159–162. 38 Aus Südindien L. Shankar (Violine), T. S. Vinayakaram (ghatam), R. Raghavan (mr. dangam); aus Nordindien Zakir Hussain (tablā). 39 Zu diesem Ergebnis kommt auch Pfleiderer (Zwischen Exotismus und Weltmusik, 163). 40 Vgl. die Notenbeispiele in Paul F. Berliner, Thinking in Jazz: The Infinite Art of Improvisation, Chicago 1994, 559. Er bezieht sich auf Thomas Owens, Charlie Parker’s Techniques of Improvisation, Dissertation, Los Angeles 1974.

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tani-Musik sind rhythmische Verschiebungen von Patterns unter anderem als tihāī bekannt, in der karnatischen Musik als mōrā und kōrvai.41 Sequenzierte Melodiefragmente sind ein so gebräuchliches Stilmittel im Jazz, dass Levine diesem Thema in seiner Jazz Theory ein ganzes Kapitel widmet.42 Vergleichbare Praktiken gibt es insbesondere in den Tān-Passagen der HindustaniMusik, den auf Silben oder Vokalen gesungenen, meist hoch virtuosen Melodie­ figuren in bestimmten improvisierten Abschnitten einer Darbietung.43 Alle an Shakti beteiligten Musiker sind mit solchen Möglichkeiten bestens vertraut, sie bilden eine gemeinsame Basis für das Zusammenspiel. In Beispiel 6 ist der Anfang des Themas des Stücks Joy notiert. Einige der angesprochenen Strukturen können hier exemplarisch gezeigt werden.

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Beispiel 6: Joy (Ausschnitt).

Mit a ist eine wiederholte Phrase gekennzeichnet, die jeweils anders fortgesetzt wird. Dies gilt auch für die als c bezeichnete Phrase. Dagegen ist b eine zeit41 Zu tihāī in der Hindustani-Musik vgl. Slawek, „Hindustani Music“, 200–201; zu tihāī bei McLaughlin vgl. Dannullis, Studien, 71, 195; zu mōrā und kōrvai vgl. David Paul Nelson, „Karnatak Tala“, in: South Asia, hg. von Arnold, 138–161, hier 154–157. 42 Vgl. Levine, Jazz Theory, 113–161. 43 Vgl. Bonnie C. Wade, „Hindustani Vocal Music“, in: South Asia, hg. von Arnold, 162–187, hier 175–178.

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lich versetzt wiederholte melodische Wendung, die in der dritten Zeile zuerst am Taktanfang, am Ende der Zeile dann auf „4 und“ beginnt. Die Klammern im zweiten Kasten (fünfte Zeile) nach Phrase b markieren eine Dreiton-Figur, die diatonisch sequenziert wird. Im ersten Takt der vorletzten Zeile stellt die zweite Takthälfte eine nur geringfügig variierte Sequenz der ersten dar. Am Beginn der letzten Zeile gibt es zwei jeweils fünf Sechzehntel umfassende Figuren, die damit einen rhythmischen Kontrast zum zugrundeliegenden Metrum bilden. Die verwendete hexatonische Skala (e–f–gis–a–h–d) haben sich die Musiker laut McLaughlin selbst ausgedacht.44 Pf leiderer verweist zwar auf den südindischen Rāgam Kalindaja,45 dabei gilt es jedoch, den bereits oben genannten Vorbehalt zu beachten, denn aus der Perspektive der indischen Kunstmusik ist ein rāga nicht auf seinen Tonvorrat reduzierbar. Viel entscheidender sind bei Joy über die Skala hinaus die eingesetzten Mittel der melodischen Gestaltung, die deswegen eine gemeinsame Basis für die Beteiligten liefern können, weil sie sowohl im Jazz wie auch in indischer Kunstmusik idiomatisch sind.

Jazz ‚meets‘ India: ein Fazit Über die Kooperation von Jazz- mit Beduinen-Musikern hat der Jazzpianist George Gruntz berichtet: Was wir machten war und blieb im Endeffekt Jazz. Die rhythmische Basis war eindeutig tunesisch; aber das melodische Mittelfeld führte die Musik in den Jazz hinüber. – Bei Besuchen in Tunesien sollte später klar werden, dass das Publikum allerdings mit genau der Musik, wie wir sie auf Noon in Tunisia aufnahmen, nichts anzufangen wusste.46

Auch beim Zusammenwirken von Jazzmusiker*innen mit Musikern aus den beiden klassischen Traditionen indischer Kunstmusik treffen verschiedene musikalische Sprachen aufeinander, die nicht ohne weiteres kompatibel sind. Um auf die eingangs skizzierten Szenarien sprachlicher Kommunikation zurückzukommen, sollen diese nun auf musikalische Begegnungen von Musiker*innen aus den beiden angesprochenen Bereichen angewandt werden. 44 Vgl. Don Menn / Chip Stern, „After Mahavishnu and Shakti. A Return to the Electric Guitar“, in: Guitar Player Magazine, August 1978, http://users.cs.cf.ac.uk/Dave.Marshall/mclaughlin/art/ return.html (2.2.2019). 45 Pfleiderer, Zwischen Exotismus und Weltmusik, 159, nach Walter Kaufmann, The Rāgas of South India, Bloomington 1976, 115. 46 George Gruntz, „Jazz und Weltmusik“, in: Jazzrock, hg. von Burghard König, Hamburg 1983, 188–197, hier 191 (Hervorhebung im Original). Bei Noon in Tunesia handelt es sich um eine Schallplatte, die auf Anregung Joachim-Ernst Berendts im Rahmen der Reihe Jazz Meets the World unter Beteiligung tunesischer Beduinen-Musiker produziert wurde; vgl. ebd., 190.

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1. Man ist zwar im gleichen Raum und spricht, aber nicht miteinander: Für Musik würde das bedeuten, dass man nebeneinander her oder abwechselnd spielt, wie das über weite Strecken auf der LP Jazz Meets India beispielsweise im Stück Sun Love47 zu hören ist. Man muss den Beteiligten selbstverständlich zugutehalten, dass sie experimentierfreudig und offen für andere Formen von Musik waren, auch wenn ansonsten nicht viel Gemeinsames daraus hervorgegangen ist. 2. Man bemüht sich zu kommunizieren, obwohl man verschiedene Sprachen spricht, sodass eine Pidginsprache entsteht. Das mag auch musikalisch funktionieren, bringt aber Einschränkungen mit sich, wie man am Beispiel der Kooperation von Ali Akbar Khan und John Handy sehen kann. Beide Seiten geben sich offensichtlich große Mühe, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, jedoch handelt es sich hier um einen vergleichsweise kleinen gemeinsamen Nenner, bei dem alle Beteiligten deutliche Abstriche gegenüber dem machen müssen, was sie in ihren konventionellen Konstellationen bieten können. 3. Man lernt die Sprache der anderen: Manche Jazzmusiker*innen haben indische Instrumente bei indischen Meistern gelernt und manche Musiker aus Indien haben Jazz studiert. Wie bei jeder Fremdsprache stellt sich die Frage, wie intensiv man lernt und wie weit man kommt. Auf die Musik übertragen eröffnen sich so zwei grundsätzliche Optionen, nämlich entweder nur die Spieltechniken eines Instruments zu erlernen oder zusätzlich auch die musikalischen Prinzipien, gemäß derer es im traditionellen Kontext gespielt wird. Letzteres ist selbstverständlich beträchtlich aufwändiger als ersteres. Es zeigt sich, dass bisher kaum nachhaltige Übernahmen stattgefunden haben. Die frühen Versuche der Gruppe Oregon waren trotz Unterrichts bei indischen Meistern überwiegend recht oberf lächlich, was den ‚indischen Anteil‘ betrifft.48 Auch die Beherrschung mehrerer Instrumente – Beispielsweise spielt Trilok Gurtu49 sowohl Jazz-Schlagzeug als auch tablā – bleibt bis heute eine seltene Ausnahme im Jazz. Auch die nāgasvaram hat nach Charlie Marianos Pionierarbeit keinen festen Platz im Jazz gefunden, von so typischen Instrumenten wie der50 sitār ganz zu schweigen. Umgekehrt haben Musiker wie Kadri Gopalnath 51 das Saxophon zwar für indische Kunstmusik adaptiert, setzen es aber wie ein indisches Instrument ein und spielen durchaus traditionelle karnatische Musik darauf. Die dort besonders beliebte Violine gibt es natürlich auch im Jazz, aber sie ist nicht über diesen nach Indien gelangt ist. Dass Menschen aus aller Welt grundsätzlich auch Jazz erlernen können, steht außer 47 48 49 50

LP Jazz Meets India, Track A1. Vgl. Grupe, „Jazz und der Rest der Welt“. Vgl. seine Website https://www.trilokgurtu.net (2.2.2019). Dem Genus des Worts entsprechend müsste es eigentlich „dem“ heißen, was in der deutschsprachigen Literatur aber selten umgesetzt wird. 51 Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Kadri_Gopalnath (22.07.2018).

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Frage und muss hier nicht näher ausgeführt werden. Ein prominentes Beispiel ist der international anerkannte, aus Indien stammende Pianist Vijay Iyer. 52 4. Durch intensiven, längeren Kontakt entsteht eine neue, voll funktionsfähige Kreolsprache: Musikalisch wäre das ein neues, „hybrides“ Genre, dessen Vitalität sich an der Akzeptanz durch eine fachkundige Community erweisen muss. Im Bereich des sogenannte Indo-Jazz begegnen immer wieder Projekte, die an das Konzept von Shakti anknüpfen, allerdings ist daraus bislang kein eigenständiges neues Genre wie der seit langem fest etablierte Latin Jazz hervorgegangen. Der an Shakti beteiligte Tablā-Spieler Zakir Hussain hat sich übrigens über die damalige Resonanz des Ensembles in Indien recht skeptisch geäußert: Wir wissen, dass das, was wir bei Shakti machen, nach indischen Begriffen oberf lächlich ist, und wir haben hier zuerst einfach mal mitgemacht, um dem westlichen Publikum zu imponieren mit unseren Techniken. Aber wir werden uns jetzt (Frühjahr 1983) und in Zukunft etwas mehr anstrengen. 53

Voraussetzung für die Etablierung von Indo-Jazz als eigenständiges Genre wäre es, dass der künstlerische Erfolg einer Darbietung weder ausschließlich nach Jazznoch nach Kriterien der klassischen indischen Musik beurteilt werden dürfte, sondern nach eigenen Kriterien, die beide Wurzeln berücksichtigen. So bleibt als Fazit letztlich die Einsicht, dass die musikalische Diversität doch größer ist als manche glauben, und dass Musik bekanntlich keine universelle Sprache ist, die jede/r gleich versteht. Selbst wenn man sich Mühe gibt, bleibt einige Arbeit zu leisten, bevor man sich idiomatisch verständigen kann.

52 Vgl. https://vijay-iyer.com (2.2.2019). 53 Zit. nach Gruntz, „Jazz und Weltmusik“, 195.

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The IRON MAIDEN Gallop Charris Efthimiou

Introduction IRON MAIDEN is one of the most famous heavy-metal bands. Their music has inf luenced many generations of fans, critics, and musicians for over thirty years. Yet, there is almost no musicological literature on this band.1 A limited number of biographies are available and are addressed toward the broader public;2 however, there are very few music-analytical studies about the music of IRON MAIDEN. 3 The ‘gallop figure’ is one of the typical characteristics of IRON MAIDEN’s music. The versatile use of this figure explains, among other things, the band’s strong inf luence on a new generation of heavy-metal musicians. Different tone colors and rhythms may lend variety to this figure and both play a significant role in the design of several songs. The aim of this essay is to describe, from a music-analytical perspective, how IRON MAIDEN made this short rhythmic figure into one of their music’s most defining characteristics.

IRON MAIDEN and the Gallop Figure The ‘gallop figure’ is perhaps one of the most significant trademarks in the sound of IRON MAIDEN. Until the 1970s, there were no bands that used this kind of fast galloping rhythm in order to give their songs a lively character. Iron Maiden was one of the first bands that took advantage of this figure in different rhythmical variations and forms. The figure was used by all members of the band: for example, bassist and founder Steve Harris developed a unique technique of bass playing, using his fingers instead of a plectrum (in contrast to most heavy metal bass players at the time). He would pluck the string, alternating between his index 1 2 3

An exception is Dietmar Elflein, Schwermetalanalysen, Bielefeld 2010, 205–241. Mick Wall, Run To The Hills: The Official Biography of IRON MAIDEN, Berlin 2005; Paul Stenning, Iron Maiden: 30 Years of the Beast: The Complete Unauthorised Biography, Surrey 2006. The author of this essay has provided two earlier analytical studies on this band, see Charris Efthimiou, “‘Gott, da draußen sind eine Viertelmillion Menschen – versau es nicht!’. Ein Versuch den typischen IRON MAIDEN-Klang aus musikanalytischer Sicht zu beschreiben”, in: Hard Wired 3 (2014), 117–131, and “On the Instrumentation of the Music of IRON MAIDEN”, in: Musiktheorie und Komposition: XII. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie, edited by Markus Roth and Matthias Schlothfeldt, Essen 2015, 295–306.

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finger and his middle and ring finger together, which resulted in an aggressive gallop figure (an innovation within the New Wave of British Heavy Metal).

The Trooper Run to the Hills4 and The Trooper 5 are among IRON MAIDEN’s most famous songs. Both songs are still played today by the band in almost every live performance and have been played continuously for the past 30 years, evidence of the fans’ enthusiasm for these two songs. Both songs were composed by Steve Harris. The Trooper is about the Battle of Balaclava during the Crimean War. British soldiers fought against Russian forces for more than eight weeks during the autumn of 1854. Warfare in the nineteenth century was completely different from modern warfare. Soldiers of both sides fought close to each other (“We get so close near enough to fight”), deathtolls were high (“We won’t live to fight another day”), and unbearable conditions prevailed (“The smell of acrid smoke and horses breath / As I plunge on into certain death”). The lyrics are a monologue of a British soldier. In the first verse, he talks about the allied forces which are very self-confident and how he will not abandon the battleground unless victorious (“You’ll take my life but I’ll take yours too / You’ll fire your musket but I’ll run you through”). At this point, the band pauses partially (Ex. 1, mm. 1–2.2). In the second verse, however, when the soldier’s horse is mentioned, the guitar starts playing power chords in a galloping rhythm. This adds extra intensity to the music.

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4 5

Studio album: The Number of the Beast, EMI Electrola, 1982. Studio album: Piece of Mind, EMI Electrola, 1983.

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Run to the Hills The song Run to the Hills describes the brutality and ruthlessness of the first European settlers in America (“Selling them whiskey and taking their gold / Enslaving the young and destroying the old”), along with the fear and terror that the local people experienced (“White man came across the sea / He brought us pain and misery / He killed our tribes, he killed our creed / He took our game for his own need”). The gallop figure is played by the two guitars and the bass guitar for long passages. The bass, however, takes on a very important role during the chorus (“Run to the hills, Run for your lives”) by introducing a ‘galloping’ character. The locals are f leeing the Europeans. The bass guitar here is the only instrument that plays the gallop figure (Ex. 2) while the two guitars fill the sound with power chords played in long notes. Vocals (overdubbing)

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R ime of the A ncient M ariner If the band had used the gallop rhythm (an eighth note followed by two sixteenths) without any motivic processing, it would have brought little variety to the band’s songs over the decades. In order to maintain this figure as a main compositional means, it was necessary to modify both its motivic shape and its instrumentation. Example 3 lists all the riffs in the song Rime of the Ancient Mariner6 that include the gallop rhythm. The black line above the instances of this rhythm demonstrates the ubiquity of this figure. We can make the following observations: • There is no riff which uses the gallop figure exclusively. • There is a balance between the gallop figure and other rhythmic figures (rectangular symbol). • The gallop figure is played in most of the riffs (A, B, E, F) with palm mute, which results in a specific dark and overtone-poor tone color, whereas the rest of these riffs sound fuller and brighter. This helps to highlight the gallop figure.

6

Studio album: Powerslave, EMI Electrola GmbH & Co. KG, 1984.

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The IRON MAIDEN Gallop Acoustic Guitar

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Example 3: Rime of the Ancient Mariner, riffs; gallop figure riffs are indicated by a black line above the staff.

Killers Table 1 provides an overview of the form of Killers.7 This song consists of five sections: intro (A1+A2), verses 1+2 (B1+B2), interludes 1–3 (C1–C3), solo (D), and verses 3+4 (B1+B2). The same music is used in all four verses and all four choruses correspond to one another. The instrumentation changes eight times in total. In the third column of table 1, each new instrumentation is indicated by a shift to the right. The time information (left column) is based on the studio version of Killers. Time 00:01–00:12 00:13–01:02 01:03–01:26 01:27–01:40 7

Part A1 A2 B1 B2

Form intro 1 intro 2 verse 1 chorus

Studio Version: Killers, EMI Electrola GmbH & Co. KG, 1981.

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Charris Efthimiou 01:41–01:54 01:55–02:17 02:18–02:28 02:29–02:38 02:39–02:59 03:00–03:36 03:37–03:59 04:00–04:15 04:16–04:36 04:37–05:03

B1 B2 C1 C2 C3 D B1 B2 B1 B2

verse 2 chorus interlude 1 (without vocals) interlude 2 (without vocals) interlude 3 (with vocals) solo verse 3 chorus verse 4 chorus (with outro)

Table 1: Killers, formal design.

The song Killers from the album with the same name (1981) is famous for its fast tempo, the playful precision of the instrumentalists, and the screaming of the singer, which underlines the fast and aggressive character of the song. Examples 4a–h demonstrate how a refined gallop figure is used to highlight the forwardmoving character of Killers. In a standard situation, the bass guitar and the drums (responsible for the rhythmic cohesion of the overall sound) play this figure. In Killers, however, all four instruments are used. Steve Harris chooses a different instrumentation for the gallop figure in each musical section. Examples 4a–h show the first three or four measures of each of the song’s formal sections. The instruments that play the gallop figure are underlined and marked in bold: • drums in duo (A1) • drums in tutti (A2) • electric guitar 1+2 and bass guitar (B1 and B2) • electric guitar 1 and bass guitar (C1) • tutti without vocals (C2) • tutti with vocals (C3) • electric guitar 1 and bass guitar (D). The gallop figure has different functions in each section: • sound texture without melody (A1 and A2) • sound texture (bass guitar with drums), while the e-guitars play a melody in thirds (C1) • accompaniment to a solo (D) • melody, which includes the figure rhythmically • massive tutti (C2) without the participation of the singer • massive tutti (C3) with the participation of the singer.

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Example 4: Killers, a: intro 1 (A1, 00:01); b: intro 2 (A2, 00:13); c: verses 1, 2, 3, 4 (B1, 01:03, 01:41, 03:37, 04:16); d: chorus (B2, 01:27, 01:55, 04:00, 04:37); e: interlude 1 (C1, 02:18); f: interlude 2 (C2, 02:29); g: interlude 3 (C3, 02:39); h: solo (D, 03:00).

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The IRON MAIDEN Gallop

H allowed Be Thy Name The song Hallowed Be Thy Name 8 is one of the band’s most famous compositions. This song has lyrics that deal with a difficult and profound subject. The song is about a man sentenced to death who waits patiently for his execution (“I’m waiting in my cold cell”). After the bells begin to ring (“when the bell begins to chime”), a priest visits him (“When the priest comes to read me the last rites”). This encounter sparks an explosion of his emotions. He cannot refrain from screaming (“It’s not so easy to stop from screaming”), he denies his fate (“Is it really the end, not some crazy dream?”), and after a while he resigns himself to death (“After all I am not afraid of dying”). After seeing his entire life pass before his eyes (“As I walk all my life drifts before me”), he addresses the listener (“When you know that your time is close / at hand maybe then you’ll begin to understand. / Life down there is just a strange illusion”) and says farewell to this world (“Please don’t worry now that I have gone. / I’ve gone beyond to see the truth”). a Voice

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Example 5: Hallowed Be Thy Name, a: verse 2; b: verse 4; c: verse 5.

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Dietmar Elflein, Schwermetalanalysen, Bielefeld 2010, 205–241.

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Charris Efthimiou

Like the songs described above, the gallop figure plays an important role in the conception of this song (Ex. 5 and 6). Example 5 shows the beginning of the verses (excluding verbatim repetitions: verse 2 correlates with verse 3, verse 5 with verses 6–8; the slow first verse is an exception and functions as an introduction). While the song’s protagonist is still in a relatively calm psychological condition (Ex. 5a), the guitars play neither a gallop nor any other continuous rhythm. But as soon as the sentenced man loses control over his emotions for the first time (“it’s not easy to stop from screaming”), the guitars take up this specific rhythmical figure (Ex. 5b). It is striking that, as with the rest of the songs which were analysed above, this motif appears in many variations (Ex. 5b and 5c). The thematic processing of the gallop figure is not only present in the musical accompaniment of the verses but also in the design of the instrumental interludes. They include riffs with continuous gallop figures (Ex. 6c), playful techniques (Ex. 6d), and thematic processing (Ex. 6a and 6b). a El. Guitar

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Example 6: Hallowed Be Thy Name, a: riff A; b: riff B1; c: riff C; d: riff B2.

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The IRON MAIDEN Gallop

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Charris Efthimiou

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Example 7: Dance of Death, segments that make use of the gallop figure (studio version).

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The IRON MAIDEN Gallop

IRON MAIDEN and the Gallop Figure after 1999 All the songs considered so far belong to a period when IRON MAIDEN had two guitarists (until 1999). After the band’s reunion with Adrian Smith (guitar) and Bruce Dickinson (vocals) – with Janick Gers (guitar) remaining in the band, the group had one additional member. On the next four albums it is obvious that the songs gain in quality due to the compositional experience of the musicians, their outstanding and playful versatility in performance, and their stage experience. Even today, it is a relatively rare phenomenon for a heavy metal band (and indeed much rarer – even unique – for a heavy metal band which started playing in the late 1970s) to appear on stage with three guitars. Through the systematic extension of the line-up and the resulting complexity of sound, IRON MAIDEN managed to keep their older fans, which were by now over 40 years of age and appreciated the earlier songs, while winning over a younger heavy metal audience with the progressive and experimental sound of their last four albums. Mixtures of different tone colors of the guitar was familiar in earlier IRON MAIDEN’s songs (for example in Revelations from the album Piece of Mind, 1983). But since 2000, due to the introduction of a third guitarist, they became a basic component of the typical IRON MAIDEN sound.

Dance of Death Dance of Death is an excellent example of the experimental achievements of IRON MAIDEN while retaining the gallop figure. By examining the published score of this song closely,9 the following features become obvious: the guitar parts are notated in great detail.10 This also applies for the tone colors of the guitar parts (acoustic, electric without distortion, electric with distortion, etc.). Although the band features three guitarists, there are nine guitar parts in the score. These parts were of course recorded separately in the studio. There are acoustic (Gtr. 1) and electric (Gtr. 2–9) parts, parts with little or no distortion (Gtr. 2 and 5), parts which are only active during solos (Gtr. 8), and parts which play the melodies and chords (Gtr. 1–5 and 8). Dance of Death is one of the few IRON MAIDEN songs on a dance theme. The song is about a secret voodoo ritual that takes place in the Everglades (in Florida, USA). A by-passer (“One night wandering in the Everglades”) is invited to a se­c ret place to participate in a dance ritual (“[They] took me to an unholy place […] / And I danced and I pranced and I sang with them”). He enters a state of trance (“Then I felt I was in a trance”) and this experience shapes him for the rest of his life (“But I’ll never go dancing no more ’till I dance with the dead”). 9 IRON MAIDEN, Dance of Death, London 2003, 57–80. 10 These details were probably notated by a professional transcriber.

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Charris Efthimiou

Coincidentally or not, in this song IRON MAIDEN not only uses the gallop figure in its original form (an eighth note followed by two sixteenth notes) but also in a varied form in 6/8-meter (an eighth note followed by a sixteenth note and an eighth note) that greatly resembles the typical siciliano figure. Example 7 gives an overview of the appearances of the two motifs (siciliano and gallop) in Dance of Death. Every segment is marked by a capitalized letter. The sections where the dance figure does not appear are omitted along with the guitar solos. The sicilliano figure can be heard both in the vocal and in the guitar parts (segments A–E, M). It is later substituted by the standard gallop figure (segments F–L). • Both dance motifs are often played by one instrument or are sung (A, F, J, K and M). • The solo instrument changes continuously, with the exception of a correlation between segments A and F (third guitar). • Bruce Dickinson sings both figures solo (B and H) as well as along with other members of the band (I and L). • The tone colors of the two figures vary during the song. Gallop and siciliano motifs change between the following tone colors: -- electric guitar without distortion (A, D, and F) -- electric guitar with heavy distortion (G, M) -- acoustic guitar with electrical guitar (C and E) -- palm mute ( J and K). • The use of the palm mute technique with power chords in the low register of the guitar explains the need to detune the lowest string from E to D. The resulting timbre differs substantially from a standard chordal guitar sound. ***

The gallop figure is one of the defining characteristics of IRON MAIDEN’s music. Their use of the figure in various contexts and in a variety of form explains, among other things, the great inf luence this band has had on generations of heavy metal musicians. Different tone colors and rhythms are used to vary this figure and play a significant role in the conception of many of the band’s songs.

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The IRON MAIDEN Gallop

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Janina Klassen

In und auf dem Strom von Empfindungen Wilhelm Heinrich Wackenroders immersive Hörerfahrung und der Hörwandel um 1800 Janina Klassen „Wenn ich in ein Konzert gehe, find’ ich, daß ich immer auf zweyerley Art die Musik genieße“,1 lautet eine oft zitierte Selbstbeobachtung Wilhelm Heinrich Wackenroders (1773–1798) im Briefwechsel mit Ludwig Tieck (1773–1853) von 1792. Ihm gelinge die „aufmerksamste Beobachtung der Töne u[nd] ihrer Fortschreitung; in der völligen Hingebung der Seele, in diesen / fortreißenden Strohm von Empfindungen; in der Entfernung und Abgezogenheit von jedem störenden Gedanken und von allen fremdartigen sinnlichen Eindrücken.“ Wacken­roder skizziert die erste als eine Art sinnlich geschärften ‚Flow‘, in dem er die Aufmerksamkeit auf den performativen Prozess der Musik so fokussiert, dass er in eine andere Sphäre eintritt. Sein „geizige[s] Einschlürfen der Töne“ steht für die körperliche Intensität der Wahrnehmung in Rausch und wachem Mitvollzug zugleich, eine Grunderfahrung immersiven Hörerlebens. Diese Involvierung ist „mit einer gewissen Anstrengung“ verbunden. Man könne „höchstens eine Stunde lang Musik mit Theilnehmung […] empfinden.“ 2 „Die andere Art, wie mich Musik ergötzt“, 3 dokumentiert einen Aufmerksamkeitswechsel hin zu dem, was während der Musik in den Vordergrund seines Bewusstseins drängt. Das sei „gar kein wahrer Genuß, kein passives Aufnehmen des Eindrucks der Töne, sondern eine gewisse Thätigkeit des Geistes, die durch die Musik angeregt und erhalten wird.“ In diesem zweiten Modus, in dem die „eigenen Gedanken und Phantasieen […] gleichsam auf den Wellen des Gesangs entführt“ werden, könne er „am beßten über Musik als Aesthetiker nachdenken.“ Auch hierbei erlebt Wackenroder die musikalische als eine von der realen abweichende Zeit, dieses Mal im Fluss eigener Ideen, der synchron zur Musik läuft. Seine Position ist f luide, indem die Aufmerksamkeit zwischen verschiedenen Hörhaltungen und -positionen oszilliert. Wackenroder schildert ein multimodales Hören, so meine Lesart, mit sensorischen, affektiven und kognitiven Komponenten. Präsenzerfahrung, Erinnerung und private Hörgeschichte sowie kommunikative Interaktion beeinf lussen das 1 2 3

Alle Zitate dieses Absatzes nach Wilhelm Heinrich Wackenroder, Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Silvio Vietta und Richard Littlejohns, Bd. 2, Heidelberg 1991, 29. Ebd. Diese Erfahrung beschreibt Wackenroder auch an anderer Stelle (ebd., 91). Ebd., 29.

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In und auf dem Strom von Empfindungen

Konzerterlebnis, aus dem Wackenroders grundsätzliche Gedanken hervorgehen. So tragen zu seinem Kunstgenuss die positive Prädisposition – er hört das Instrument, eine Glasharmonika, „(zum 3ten Mal) mit sehr vielem Vergnügen“4 –, seine musikalische Vorbildung und die soziale Konstellation bei. Von 1786 bis 1792 war Carl Friedrich Fasch (1736–1800), der damalige Leiter der Berliner Singakademie, sein Musiklehrer. Darüber hinaus verkehrt Wackenroder im Haus von Johann Friedrich Reichardt und dessen Familie.5 Wenn er jemanden neben sich habe, „von dem ich weiß, daß er alles so tief fühlt als ich […], dann ists mir immer so wohl, und ich finde mich in dem Gewühl der Menge Zuschauer so glücklich, als wäre ich allein auf meiner Stube mit einem Freunde.“6 Das Konzerterlebnis teilt Wackenroder sympathetisch mit seinem ehemaligen Lehrer August Ferdinand Bernhardi (1769–1820). Dieser Bericht bezieht sich auf einen Auftritt der GlasharmonikaVirtuosin Marianne Kirchgessner im damaligen Berliner Nationaltheater. Die dargebotenen Stücke werden nicht erwähnt.7 Gleichwohl geht es um Musik, die gerade eine Aufwertung von einer heteronomen zur autonomen Kunst erfährt. Als ungewöhnlich aus der Perspektive späterer ästhetischer Diskurse, in denen zwischen Objekt- und Subjektstandort, zwischen „logisch“ und „pathologisch“,8 vernunftbetonter und gefühlsgeleiteter Rezeption streng getrennt wird,9 möchte ich zwei Dinge hervorheben, nämlich die Ganzheitlichkeit des Kunstgenusses und die dabei ausgelösten Impulse. Beide Modi sind nach Wackenroder mit Aktivität verbunden. Der erste Modus erfolgt in „aufmerksamste[r] Beobachtung der Töne“,10 eine Aktivität, die dem Objekthaften der gehörten Musik gilt und dabei, in völliger Hingabe an den Empfindungsstrom, ein die subjektive Position bezeichnender Akt ist. Wackenroders erster Modus enthält aktive wie passive 4 Ebd. 5 Vgl. die Chronik, in: ebd., 468. 6 Ebd., 64. 7 Kirchgessner (1769–1808) führte neben dem für sie komponierten Quintett für Glasharmonika, Flöte, Oboe, Bratsche und Cello KV 617 und dem Solo-Adagio KV 617a von Mozart Werke von Johann Evangelist Brandl, Joseph Haydn, Paul Wranitzky, Johann Rudolf Zumsteeg und verschiedene eigene Kompositionen, Arrangements und Improvisationen im Repertoire; vgl. Melanie Unseld, „Marianne Kirchgessner“, in: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, hg. von Beatrix Borchard und Nina Noeske, Hamburg, ab 2003, http://mugi.hfmt-hamburg.de/Artikel/Marianne_Kirchgessner (4.2.2019). 8 Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen. Aufsätze, Musikkritiken, hg. von Klaus Mehner, Leipzig 1982, 41. 9 Den theoretischen Ausgangspunkt bildet Eduard Hanslicks Schrift Vom Musikalisch-Schönen von 1854; vgl. zur Radikalisierung der Positionen Bernd Sponheuer, „Der ‚Gott der Harmonien‘ und die ‚Pfeife des Pan‘. Über richtiges und falsches Hören in der Musikästhetik des 18. und 19. Jahrhunderts“, in: Rezeptionsästhetik und Rezeptionsgeschichte in der Musikwissenschaft, hg. von Hermann Danuser und Friedhelm Krummacher, Laaber 1991 (= Publikationen der Hochschule für Musik und Theater Hannover 3), 179–191, hier 184–185. 10 Wackenroder, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, 29.

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Komponenten, während der zweite Modus nach späteren Kategorien in der Folge Eduard Hanslicks von der ästhetischen Rezeption ausgeschlossen wird. Wackenroder begreift ihn ein, nicht etwa weil er auf den musikalischen Wellen gleitend unkontrolliert abschweift, sondern weil er seine Aufmerksamkeit dabei auf ästhetische Ref lexion fokussieren kann. Zeitgleich mit Wackenroders Briefen formuliert Friedrich Schiller11 ästhetische Positionen, die diese Art der Kunstrezeption theoretisch konzeptualisieren. Eine zwischen Aufmerksamkeit und Hingabe beschriebene Hörposition wie die Wackenroders wird von Schiller in den 1795 veröffentlichen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen als „mittlerer Zustand“ „zwischen Materie und Form, zwischen Leiden und Tätigkeit“ gefasst, in den „uns die Schönheit“12 idealerweise versetze. Der Kunstgenuss ermögliche dem Menschen, seine unterschiedlichen Vermögen in einem ausgeglichen Zustand zu vereinen. „Das Schöne“, notiert Schiller in der Nachschrift der ästhetischen Vorlesung vom Wintersemester 1792/93, „beschäftigt und kultiviert Vernunft und Sinnlichkeit, befördert durch Verengung ihres Bundes die Humanität, stiftet Vereinigung zwischen der physischen und moralischen Natur des Menschen.“13 Jede Neigung zu einem der Extreme, entweder nur Sentiment oder bloße Vernunft, verfehle nicht allein die wahre Kunstrezeption, sondern verzerre das menschliche Dasein. Ein Philosoph gilt in Schillers eigener Positionierung 1795 daher als „Caricatur“,14 verglichen mit dem Dichter. „Die rechte Kunst ist nur diese, welche den höchsten Genuß verschafft. Der höchste Genuß ist aber die Freiheit des Gemüthes in dem lebendigen Spiel aller seiner Kräfte“,15 heißt es im Vorwort zu Schillers Drama Die Braut von Messina. Dementsprechend umfasse auch der Kunstgenuss beides, wache Zuwendung und Hingabe zugleich. Hier liegt ein vom rein sinnlichen abweichendes Konzept von Genuss zugrunde, das beim „nutzen dessen man […] genieszt“16 auch das abstrakte gedankliche Mitvollziehen einbegreift. 11 Schillers ästhetische Hauptschriften werden zwischen 1792 und 1796 veröffentlicht; vgl. die Nachweise in Friedrich Schiller, Erzählungen, Theoretische Schriften, hg. von Wolfgang Riedel, München 2004 (= Sämtliche Werke 5), passim. 12 Ebd., 624. 13 Ebd., 1041. 14 Holger Dainat, „Wo spielen die Musen? Medientheoretische Überlegungen zu Schillers ästhetischer Theorie“, in: Friedrich Schiller. Der unterschätzte Theoretiker, hg. von Georg Bollenbeck und Lothar Ehrlich, Köln 2007, 177–190, hier 187. 15 Friedrich Schiller, „Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie“, https://www.friedrichschiller-archiv.de/die-braut-von-messina-oder-die-feindlichen-brueder/ueber-den-gebrauchdes-chors-in-der-tragoedie (4.2.2019). 16 Jacob und Wilhelm Grimm, „genusz“, in: dies., Deutsches Wörterbuch, Bd. 5, Leipzig 1891, Sp. 3518– 3524, hier 3518; vgl. zum „aufsteigen und verinnerlichen des begriffs“ Sp. 3521, http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GG08070# XGG08070 (4.2.2019).

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Schillers wie Wackenroders Ref lexionen erfolgen inmitten der langen Entstehungsphase des modernen Konzerts vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Umbruchssituation von einer ständischen zu einer funktionalen Gesellschaft. Auf der Ebene des Kunstgenusses bildet das aus allen Ständen gemischte Publikum, das im modernen Konzert zusammenfindet, eine derartige Gemeinschaft. Die Einrichtung öffentlicher Konzerte ist eine Folge der Aufwertung von Musik im Kanon der Künste und bedingt sie zugleich mit. Das Publikum, einschließlich der rezensierenden medialen Multiplikatoren, gewinnt als Adressat wie als Urteilsinstanz eine wirksame Rolle. Sein Einf luss auf die künstlerische Produktion wie auf den sich wandelnden Musikmarkt sind hochbrisante Themen. Angestachelt durch die Pluralität der Meinungen widmet sich Friedrich Rochlitz 1799 zentralen Brennpunkten des zeitgenössischen Hörerdiskurses, so etwa der Urteilsfähigkeit des Publikums, und entwirft zur Strukturierung der anonymen Gemeinschaft eine Hörertypologie nach vier Kategorien. Die am meisten geringgeschätzte unterste Klasse füllen die „jämmerlichen, die nur aus Eitelkeit und Mode Musik hören.“17 Sie verurteilt moralisch, dass sie mehr profitieren könnten, es aber gar nicht wollen. Diese Art finde man häufig unter den „Grossen und Vornehmen beyder Geschlechter.“ In die zweite Klasse gruppiert Rochlitz einseitig rational und regelfixiert hörende „Kunstkenner“. Solche Traditionalisten beanspruchten die Urteilsinstanz für sich allein. Sie stehen auf gleichem Niveau mit den nur „Hexereyen“ vollführenden Virtuosen. Eine Stufe höher rangieren jene, „welche blos mit dem Ohre hören – gute Leute beyderley Geschlechts.“ Dieser Teil des Publikums liebe Musik, tanze gern und wolle musikalisch unterhalten sein. Ihr Urteil sei „gar nicht zu verachten […], denn sie hängen wirklich an Etwas.“ Sie artikulierten die „rauschende Stimme des Publikums“, die das „Schicksal“ von Kunstwerken, Künstlern und den „Glanz der Kunstkultur selbst“ beeinf lusse. Zur höchsten Klasse zählt, wer „mit ganzer Seele“ hört und Kunst als Mittel zur „Vervollkommnung und Veredlung des Geschlechts“ begreift. Vertraut mit ästhetischen Grundsätzen ebenso wie mit musiktheoretischen erkennen sie die Freiheit der „Kunst überhaupt – so auch der Musik“. Rochlitz’ vierter Typus spiegelt modellhaft die mit der grundlegenden Transformation des Gesellschaftssystems im Laufe des 18. Jahrhunderts als Ideal etablierte moralisch fundierte ‚natürliche‘ Kunstkommunikation, in der an die Stelle „affectirte[r] Empfindsamkeit“18 und rhetorischer Dekoration der aufrichtige Ausdruck innerer Empfindungen rückt. Die Einübung des damit einhergehenden 17 Alle Zitate im folgenden Absatz nach Friedrich Rochlitz, „Die Verschiedenheit der Urtheile über Werke der Tonkunst“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 32 (1799), Sp. 497–506, hier 500–505. 18 Ludwig Tieck, Brief vom 10. Mai 1792, in: Wackenroder, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, 26. Diskutiert wird zwischen Tieck und Wackenroder, „warum das Angenehme u. Rührende auf ungleich mehrere Gemüther wirke, als das Grosse u. Erhabene“? (Ebd.)

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Abbildung 1: Daniel Chodowiecki, „Empfindung [natürlich]“ (links), „Empfindung [affektiert]“ (rechts).19

verfeinerten Verhaltens ohne „Symptome der Affektation“20 demonstrieren anschaulich Daniel Chodowieckis populäre Kupferstichserien Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens, 21 die für Georg Christoph Lichtenbergs Goettinger TaschenCalender (1779/80) entworfen wurden. Beim Thema „Empfindung“ (Abb. 1) zeichnet sich die vorbildliche ,natürliche‘ Haltung durch Selbstbescheidung aus, ablesbar an der Rücknahme raumgreifender Körperlichkeit zugunsten einer Verinnerlichung des Ausdrucks. Die Doppeldarstellung „Kunstkenntnis“ (Abb. 2) „konfrontiert alte 19 Chodowiecki, Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens, Stiche 3/4, http://ds.ub.uni-bielefeld.de/viewer/image/2235093_005/43/LOG_0011 und http://ds.ub.uni-bielefeld.de/viewer/ image/2235093_005/49 (4.2.2019). 20 Ebd., 35. 21 Daniel Chodowiecki, „Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens“, in: Göttinger Taschen Calender, hg. von Georg Christoph Lichtenberg, Göttingen 1779/80, http://ds.ub.uni-bielefeld. de/viewer/image/2235093_005/43/LOG_0011 (4.2.2019).

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Abbildung 2: Daniel Chodowiecki, „Kunstkenntnis [natürlich]“ (links), „Kunstkenntnis [affektiert]“ (rechts). 22

und neue Formen der Kunstrezeption.“23 Beide wirken wie Vorlagen zu Rochlitz’ zweiter und vierter Klasse. Während die affektierten Connaisseurs sich in einem gestikulierenden Disput kenntnisreich auf Details aufmerksam machen, spiegeln die körperrhetorischen Zeichen 24 der Kenner neuen Schlages die Wirkung der Kunst in ihrem Innern, in stiller Versenkung und andächtiger Demut, sogar mit abgezoge22 Ebd., Stiche 7/8, http://ds.ub.uni-bielefeld.de/viewer/image/2235093_005/67; http://ds.ub. uni-bielefeld.de/viewer/image/2235093_005/73 (4.2.2019). 23 Werner Busch, „Daniel Chodowieckis ‚Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens‘“, in: Daniel Chodowiecki (1726–1801). Kupferstecher, Illustrator, Kaufmann, hg. von Ernst Hinrichs, Tübingen 1997, 77–99, hier 96. 24 „Die Zeichen des Körpers gelten als ,präsemiotische‘ Garanten der Wahrheit, […] als Spiegel der Seele.“ Ursula Geitner, „Die ‚Beredsamkeit des Leibes‘. Zur Unterscheidung von Bewußtsein und Kommunikation im 18. Jahrhundert (Neuerscheinungen und Desiderate)“, in: Das achtzehnte Jahrhundert, Bd. 14/2: Die Aufklärung und ihr Körper. Beiträge zur Leibesgeschichte im 18. Jahrhundert, hg. im Auftrag des Vorstands vom Sekretariat der Gesellschaft, Redaktion Carsten Zelle, Wolfenbüttel 1990, 181–195, hier 182.

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nem Hut. Nicht die ständischen Umgangsformen (beide Gegensatzpaare tragen die gleiche zeitgenössische Mode), sondern die gekünstelten des Ancien Régime gegen normierende sublimere Verhaltensmuster einer programmatisch verstandenen modernen „Bürgergesellschaft“, deren „Daseinsentwurf […] auf Arbeit, Leistung und Bildung (nicht auf Geburt)“25 fußt, werden hier vorgeführt. Rochlitz’ Typologie26 bietet in der Allgemeinen musikalischen Zeitung spezifische Verhaltensmuster zur Abschreckung und Identifikation. Indem sich die Leserschaft in den Typologien erkennt, verifiziert sie das hypothetische Konstrukt. Der Autor, mit dreißig Jahren ein Vertreter der jüngeren Generation, nutzt die Diskursmacht seiner Zeitschrift. Er verhält sich wie sein Idealtypus, nämlich ästhetisch gebildet, tolerant und verständnisvoll, fächert die im 18. Jahrhundert konstruierte bipolare Achse „Kenner – Liebhaber“ in ein differenzierteres Modell auf und bindet damit die vermutete Zielgruppe dieser Zeitung, Fachleute wie Musikliebende unterschiedlicher Herkunft und mit verschiedenen Interessen, 27 ein. Rochlitz’ Idealtypus verfügt über ausgewogene Anteile von beidem, Gefühl wie Vernunft. Indem Schiller den anthropologischen mit dem ästhetischen Diskurs verbindet, 28 gewinnt die Kategorie der Freiheit auch eine politische und soziale Dimension, die mit der ästhetischen Bildungsoffensive verknüpft wird und in musikalischen Vorschlägen zur Hörerziehung weiterwirkt. 29 Diese Neukonzeptualisierung des Hörens braucht das ganze 19. Jahrhundert, um sich durchzusetzen. Die Diskussion zwischen Wackenroder und Tieck nimmt dabei eine spezielle Richtung. Tieck gegenüber erhebt Wackenroder den Anspruch: „Nur die eine Art des Genußes ist die wahre“, 30 nämlich die zielgerichtete Schärfung des auf Musik gerichteten Gehörsinns. Was wie ein Vorgriff auf das strukturelle Hören anmutet, 31 erfolgt hier auf der Grundlage einer Empfindungsästhetik. Es geht darum, auch dann Empfindungen zu haben, wenn kein Text oder Titel die Richtung steuert,

25 Vgl. Jürgen Kocka, „Bürger und Bürgerlichkeit im Wandel I“, in: Bürger – Bürgertum – Bürgerlichkeit, hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, 2008, http://www.bpb.de/apuz/31372/ buerger-und-buergerlichkeit-im-wandel?p=all (4.2.2019). 26 Vgl. die Auswertung mit etwas anderem Schwerpunkt in Daniel Fuhrimann, Herzohren der Tonkunst. Opern- und Konzertpublikum in der deutschen Literatur des langen 19. Jahrhunderts, Freiburg 2005 (= Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae 134), 47–55, 159–166. 27 Vgl. Ulrich Tadday, Die Anfänge des Musikfeuilletons. Der kommunikative Gebrauchswert der musikalischen Bildung in Deutschland um 1800, Stuttgart 1993, 65–66. 28 Vgl. Dainat, „Wo spielen die Musen?“, 187. 29 Eine im Sinne spätaufklärerischer musikalischer Allgemeinbildung prominente Schrift sind Hans Georg Nägelis Vorlesungen über Musik mit Berücksichtigung der Dilettanten [1826], Hildesheim 1980. 30 Wackenroder, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, 29. 31 Vgl. in diesem Sinne Alexandra Kertz-Welzl, Transzendenz der Gefühle. Beziehungen zwischen Musik und Gefühl bei Wackenroder / Tieck und die Musikästhetik der Romantik, St. Ingbert 2001 (= Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft 71), 58–60.

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sondern die Musik sich vom konkreten Anlass löst, 32 wie etwa beim Hören reiner Instrumentalmusik. Diese Dekontextualisierung der Empfindung ist vor dem Hintergrund des Diskurses um eine „differenzierte Erziehung der Sinne“ im „Rahmen einer sich verfeinernden Körperbeherrschung“33 zu lesen. Sobald der Mensch anfange, „mit dem Auge zu genießen, und das Sehen für ihn einen selbständigen Wert erlangt, so ist er auch schon ästhetisch frei, und der Spieltrieb hat sich entfaltet“, 34 verspricht Schiller. Wackenroder sucht diese Freiheit für das Ohr. Beim Hören von Sinfoniesätzen, die als Zwischenaktmusik erklingen, drängt sich ihm die Theaterinszenierung mit ihren visuellen und verbalen Eindrücken derart in den Vordergrund, dass die Musik Wackenroder dann „nur als eine Leinwand dient, worauf ich mir die Scenen des vergangenen Aktes noch einmal vormale.“35 Der Vorrang der Bühnenperformance verhindert ein Umschalten auf autonomes Hören. In ihrer literarischen Fantasie lassen Tieck und Wackenroder den fiktiven Künstler Joseph Berglinger sich vom allgemeinen Publikum absondern, um möglichst ohne visuelle Reize und soziale Angebote andachtsvoll allein der Musik lauschen zu können. „Wenn Joseph in einem großen Concerte war, so setzte er sich, ohne auf die glänzende Versammlung der Zuhörer zu blicken, in einen Winkel und hörte mit eben der Andacht zu, als wenn er in der Kirche wäre, […] mit so vor sich auf den Boden sehenden Augen.“ 36 Am Ende verliert sich der Künstler einsam in der inneren Welt der Musik und findet nicht in ein soziales Leben zurück. Die Gefährdung durch die „eskapistische Weltf lucht“ 37 bleibt indes ein literarisches Thema. In den neuen Sinfoniekonzerten spielt dagegen der gesellige Anteil beim Musikgenuss bis weit ins 19. Jahrhundert hinein eine tragende Rolle. Die rein ästhetische Fokussierung auf das autonome Hören erscheint dagegen wie eine idealisierte Fiktion musiktheoretischer Diskurse. Sie betrifft auch die verkürzende Rezeption von Hanslick, dessen Theorie vom Hörenden zwischen Ratio und Sinnlichkeit ein drittes fordert, nämlich „das bewußte reine Anschauen eines Tonwerks“. 38

32 Vgl. Thorsten Valk, Literarische Musikästhetik. Eine Diskursgeschichte von 1800 bis 1900, Frankfurt a. M. 2008, 50–51. 33 Peter Utz, Das Auge und das Ohr im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit, München 1990, 7–17, 186. 34 Schiller, Erzählungen, Theoretische Schriften, 657. 35 Wackenroder, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, 29. 36 Wackenroder, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, 133. 37 Vgl. die Aufsätze von Jörg Krämer („Geselligkeit als romantisches Problem der Musikästhetik“) sowie Melanie Wald-Fuhrmann („Die Gefährdung der Geselligkeit durch Musik. Weltflucht, Entrückung und absolute Musik“), in: Riskante Geselligkeit. Spielarten des Sozialen um 1800, hg. von Günter Oesterle und Thorsten Valk, Würzburg 2015 (= Stiftung für Romantikforschung 59), 311–336, hier 319, sowie 293–310. 38 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, 119.

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Dichter als Musikästhetiker? Die österreichischen Beispiele Franz Grillparzer und Adalbert Stifter Rudolf Flotzinger Die Ästhetik scheint weniger durch Verständnis-Schwierigkeiten als durch fragwürdigen Umgang mit ihr belastet zu sein. Zwar werden Texte nicht erst dann als einschlägig anerkannt, wenn das Wort schon im Titel vorkommt. Doch allzu oft erhalten sie nur durch Wiederholungen den Nimbus von Tragweite, wird aber ihre Zeitgebundenheit übergangen und zu wenig nach Intentionen dahinter sowie Möglichkeiten der konkreten Wirksamkeit gefragt, werden Fragen an sie – um nur ja nicht naiv zu erscheinen – falsch oder gar nicht gestellt. Allbekannte Beispiele dafür, dass dies auch für den musikalischen Zweig gelte, sind Schriften von Wilhelm Heinrich Wackenroder (Herzensergießungen 1797, Phantasien 1799) über E. T. A. Hoffmann (Beethoven-Rezension 1810) bis Eduard Hanslick (Vom Musikalisch-Schönen 1854), deren gewiss repräsentativer Interpret Carl Dahlhaus ist (Aufsatz Romantische Musikästhetik und Wiener Klassik 1972, Buch Klassische und romantische Musikästhetik 1988). Ihn darf man nicht nur fragen, warum er noch 1988 auch in diesem Zusammenhang Friedrich Blumes Ausdruck „klassisch-romantische Periode“ (1963) strapazierte, ohne darin einen methodischen Trick zu sehen,1 und weshalb er die hier zusammengespannten Adjektive für ein Bonmot über das angebliche Paradox nutzen durfte, es hätte „um 1800 weder der klassischen Musik Haydns und Mozarts eine klassische Musikästhetik noch der romantischen Musikästhetik Wackenroders und Tiecks eine romantische Musik“ 2 entsprochen. Auffällig ist zudem, warum Dahlhaus den deutschen Literaten Johann Martin Miller (1750–1814) nicht erwähnt, zumal er zuvor selbst (obgleich in anderem Zusammenhang) den Hinweis befördert hatte, Miller habe schon 1776 Gedanken von Karl Philipp Moritz, Wackenroder und Tieck, Jean Paul und anderen vorweggenommen. 3 1988 wird dargestellt, die zwischen 1750 1

2 3

Vgl. etwa die Beiträge von Hans-Heinrich Eggebrecht („Beethoven und der Begriff der Klassik“) sowie Kurt von Fischer („Beethoven – Klassiker oder Romantiker“), in: Beethoven-Symposion Wien 1970, hg. von Erich Schenk, Wien 1971 (= Veröffentlichungen der Kommission für Musikforschung 12), 43–60 sowie 77–95. Carl Dahlhaus, „Romantische Musikästhetik und Wiener Klassik“, in: Archiv für Musikwissenschaft 29/3 (1972), 167–181, hier 168, wiederholt in: Klassische und romantische Musikästhetik, Laaber 1988, 86. Norbert Miller, „Musik als Sprache. Zur Vorgeschichte von Liszts Symphonischen Dichtungen“, in: Beiträge zur musikalischen Hermeneutik, hg. von Carl Dahlhaus, Regensburg 1975, 223–287, bes. 269–287.

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und 1830 entworfenen musikästhetischen Systeme seien „primär Theorien der Dichtung und der bildenden Kunst, nicht der Musik“ gewesen; „die Musikästhetik [blieb] am Rande oder [bedeutete] sogar eine Verlegenheit für Philosophen“. Die Behauptung, Komponisten seien damals „in Wien von der Entwicklung der Philosophie abgeschnitten“ gewesen, mag als hegelianisch begründete Abmilderung eines traditionellen Vorurteils 4 durchgehen. Über den „Primat der philosophisch-literarischen Überlieferung in der Entwicklung der Musikästhetik“ bzw. die „innere Abhängigkeit der Musikästhetik von der Philosophie und der Literatur“ gelangte Dahlhaus zu der Erweiterung, „die österreichische Musik präsentiert sich, von Haydn bis zu Bruckner, als Musik ohne explizite, in Worten ausgesprochene Ästhetik“, als auch der Zuspitzung zur These, Musikästhetik sei „primär [RF] von philosophisch-literarischen und erst sekundär [RF] von musikalischen Bedingungen abhängig.“5 Letzteres ist nicht nur mangels Konkretisierung, sondern so lange fragwürdig, als offen ist, wie sich solche Abhängigkeit von nicht speziell Kompetenten, direkt Befassten oder wenigstens Betroffenen begründen ließe. Nach der Nutzung österreichischer Musik für zwei Negativbeispiele wird die These selbst anhand wenigstens hierzulande inhaltlich wie zeitlich naheliegender Repräsentanten aufgerollt.

Franz Grillparzer Warum Dahlhaus den österreichischen Dramatiker Franz Grillparzer (1791–1872) gleich mit einem Vorurteil einführt – dessen „Ref lexionen blieben im Fragmentarischen stecken“ – ist unerfindlich. Eine unzureichende Begründung wäre aufgrund eines weiteren Fehlurteils denkbar: über Grillparzers Kontakte zu Beet­ hoven, die schon 1811 in Sachen Libretti begonnen hatten und 1827 zum Auftrag für die Grabrede führen sollten. Ob seiner Herkunft mütterlicherseits aus der Familie Sonnleithner 6 war Grillparzer musikalisch sehr gebildet, spielte Klavier, versuchte Bearbeitungen und Kompositionen, ja inklinierte einige Zeit lang anstatt Theater und Dichtung überhaupt zur Musik und beschäftigte sich nicht nur nebenbei mit „Kunstphilosophie“.7 Das führte 1826 zum Beispiel auch im Zusammenhang mit beider Melusinen-Projekt zur Frage an Beethoven, ob es nicht passend wäre, jede Erscheinung oder Einwirkung Melusinens durch eine wiederkehrende, leicht [zu] fassende Melodie zu bezeichnen. Könnte nicht die Ouvertüre mit 4

Z. B. „abschätzige Urtheile über die geistige Begabung Österreichs“, die Grillparzer 1826 in Weimar zu hören bekam (Franz Grillparzer, Selbstbiographie, hg. von Arno Dusini, Kira Kaufmann und Felix Reinstadler, Salzburg 2017, 175). 5 Dahlhaus, Klassische und romantische Musikästhetik, 43, 88, 90–92 (Hervorhebungen durch den Autor). 6 „Familie Sonnleithner“, in: Österreichisches Musiklexikon, hg. von Rudolf Flotzinger, Bd. 5, Wien 2006, 2252. 7 Grillparzer, Selbstbiographie, 48–50, 79, 123, 130, 172; 85, 95, 97.

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Rudolf Flotzinger dieser beginnen […] und auch die Introduktion durch diese selbe Melodie gebildet werden. (Konversationsheft 1826, 196–197)

Diese Idee einer ‚Leitmotivtechnik‘ stammte aus dem 1813 in Wien erschienenen Versuch einer Ästhetik des dramatischen Tonsatzes von Ignaz Franz Mosel. 8 Spätestens ab 1819 trug sich Grillparzer mit dem Gedanken, „ein Gegenstück zu Lessings Laokoon 9 […] zu schreiben“ und sammelte in seinem Tagebuch Gedanken Zur Kunstlehre, zum Beispiel: […] ein Gegenstück zu schreiben zu Lessings Laokoon; Rossini, oder über die Gränzen der Musick und Poesie. Es müßte darin gezeigt werden, wie unsinnig es sey, die Musick bei der Oper zur bloßen Sklavin der Poesie zu machen und zu verlangen, daß erstere, mit Verläugnung ihrer eigenthümlichen Wirksamkeit, sich darauf beschränke der Poesie unvollkommen nachzulallen mit ihren Tönen, was diese deutlich spricht mit ihren Begriffen. Es müßte aufmerksam darauf gemacht werden; um wie viel und worin der Kreis der Musick weiter ist und worin enger; wie verschieden die Art ihrer Wirkung ist, bei der Musick zuerst als Sinn- und Nervenreitz, nur mittelbar den Verstand berührend; bei der Poesie erst durch das Medium des Verstandes auf das Gemüth wirkend. Wie die Musick, als eine für sich bestehende Kunst ihre eigenen, an Regeln gebundnen und in ihrer eigenen Wesenheit gegründeten Bedingungen habe, die sie Niemanden, auch der Poesie zu Liebe nicht aufgeben kann und darf; daß sie, wenn sie ein Thema aufgefaßt hat, es organisch ausbilden und zu Ende führen muß, die Poesie mag dagegen auch einwenden, was sie will. […] Als Grundsatz gelte: Keine Oper solle vom Gesichtspunkte der Poesie betrachtet werden, – von diesem aus ist jede dramatisch-musickalische Komposizion Unsinn, – sondern vom Gesichtspunkte der Musick; als ein musickalisches Bild mit darunter geschriebenen erklärendem Texte. Ballett-Musick wäre eigentlich der Triumph der Tonkunst, wenn sie einmal aus sich herausgeht, vorausgesetzt daß wir nämlich eigentliche Ballete hätten und nicht Gaucklersprünge. (Tagebuch 1819, GrW 2/7, 242–243) Wozu also eine Ästhetik, wenn sie weder lehren kann, wie das Schöne hervorzubringen, noch wie es mit Geschmack zu genießen ist? (Tagebuch 1820, GrW 2/7, 331) Wo die Poesie aufhört, fängt die Musik an. Wo der Dichter keine Worte mehr findet, da soll der Musiker mit seinen Tönen eintreten. Wer Deine Kraft kennt, Melodie! die, ohne der Wort­ erklärung eines Begriffs zu bedürfen […] wird die Musik nicht zur Nachtreterin der Poesie machen: er mag der letzteren den Vorrang geben aber er wird auch der erstern ihr eignes, unabhängiges Reich zugestehen, und beide wie Geschwister betrachten und nicht wie Herrn und Knecht, oder auch nur die Vormund und Mündel. (Tagebuch 1820; GrW 2/7, 317). Hauptunterschiede im Wesen der Musick und Poesie müßen nothwendig auch eine große Verschiedenheit in den Gesetzen ihrer beiderseitigen Hervorbringungen veranlassen. / Der 8 9

Wien 1813, NA Eugen Schmitz (Hg.), I. F. Mosel, Versuch einer Ästhetik des dramatischen Tonsatzes, München 1910, 4, 72. Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon. Oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, Leipzig 1766.

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Dichter als Musikästhetiker? oft gebrauchte Satz: die Musik ist eine Poesie in Tönen, ist eben so wenig wahr, als es der entgegengesetzte seyn würde: die Poesie ist eine Musik in Worten. Der Unterschied dieser beiden Künste liegt nicht blos in ihren Mitteln; er liegt in den ersten Gründen ihres Wesens. (Tagebuch 1822, GrW 2/8, 21, 105). Die Poesie will den Geist verkörpern, die Musik das Sinnliche vergeistigen. Darin liegt beider Wesen und der Grund ihrer Verschiedenheit. (Tagebuch 1825, GrW 2/7, 170) Der übelste Dienst, den man in Deutschland den Künsten erweisen konnte, war wohl der, sie sämmtlich unter dem Namen „der Kunst“ zusammenzufaßen. (Tagebuch 1826, GrW 2/8, 255)

1821 geriet ihm eine (vielleicht gar nicht veröffentlichte) Besprechung von Carl Maria von Webers Freischütz in Wien10 vollends zu einer Art frühen Zusammenfassung seiner Musikästhetik: Der Tonsetzer [Weber] gehört offenbar ein wenig in die Klasse derjenigen, die den Unterschied zwischen Poesie und Musik, zwischen Worten und Tönen verkennen. Die Musik hat keine Worte, d. h. willkürliche Zeichen, die eine Bedeutung erst durch das erhalten was man damit bezeichnet. Der Ton ist, nebstdem daß er ein Zeichen sein kann, auch noch eine Sache. Eine Reihe von Tönen gefällt, so wie eine gewisse Form in den plastischen Künsten, ohne daß man noch eine bestimmte Darstellung damit verbunden hätte; ein Mißton mißfällt, wie das Häßliche in der Plastik, schon rein physisch ohne weitere Verstandesbeziehung. Wenn die Wirkung der Worte auf den Verstand und erst durch diesen auf das Gefühl geschieht, indes die Sinne dabei eine nur dienende Rolle spielen; so wirkt die bildende und die Tonkunst unmittelbar auf die Sinne, durch diese auf das Gefühl und der Verstand nimmt erst in letzter Instanz an dem Gesamteindrucke Teil. Die Betrachtung hat auch in der bildenden Kunst die größten Kenner, worunter man nur Mengs, Lessing und Göthe zu nennen braucht, dazu geführt, die Schönheit der Form als unerläßliches, ja als höchstes Gesetz für sie aufzustellen. Was von der bildenden Kunst gilt, gilt in noch viel höherm Grade von der Musik. Ihre erste unmittelbare Wirkung ist Sinn- und Nervenreiz; weshalb ihr auch Kant (für jeden Fall nach seinen Voraussetzungen richtig) den Platz viel tiefer als den übrigen schönen Künsten anweist; weil nämlich ihre Wirkung so überwiegend physisch ist, daß der Verstand, dessen mögliche regulative Mitwirkung Kant als das Kriterium jeder schönen Kunst betrachtet, nur einen höchst untergeordneten Einf luß auf das Gefühl der Lust und Unlust dabei nehmen kann. Wenn nun auch Kant hierin zu weit gegangen ist, so bleiben doch die Tatsachen richtig, von denen er ausging. Der Gehörssinn, der beim Hören von Worten ein Diener des Verstandes ist, entzieht sich bei Tönen offenbar zum Teil seiner Herrschaft und erhält in der Unmittelbarkeit der Wirkung eine Ähnlichkeit mit den niedern Sinnen, eine Ähnlichkeit die z. B. beim Hören entfernter, indinstinkter Waldhorntöne überraschend 10 Franz Grillparzers Werke (im Folgenden GrW), hg. von August Sauer und Reinhold Backmann, Wien ab 1909, Bd. 2/7, 242–243, Bd. 2/8, 21, Bd. 14, 33ff. Zitate: GrW Bd. 14, 33–36; Schreibweise original.

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Rudolf Flotzinger hervortritt. Daß aber auf die niedern Sinne, so süß sie auch sein mögen, ja so sehr sie auch einer Beziehung und Bedeutung empfänglich sein mögen, keine freie, keine schöne Kunst gebaut werden könne, ist allgemein bekannt und angenommen. So sind die Töne in ihrer ersten ursprünglichen Bedeutung: Unmittelbar durch sich selbst, ohne notwendige Dazwischenkunft des Verstandes gefallende, oder mißfallende Sinneneindrücke. Selbst bei der künstlichsten Zusammensetzung von Intervallen bleibt das Urteil darüber noch immer ein reines Sinnenurteil, weil sich die spitzfindigste Intervallen-Theorie doch immer nur auf das, in der natürlichen Einrichtung unsers Gehörorgans gegründete Wohl- oder Übelklingen stützen kann. Schreitet man in der Betrachtung der Töne und ihrer Verbindungen weiter fort, so zeigt sich bald eine neue Seite, welche die zu einer schönen Kunst notwendige Verbindung mit dem Verstande wirklich herstellt und eine Musik als Kunst möglich macht. Nebstdem nämlich, daß die Töne an sich gefallen oder mißfallen, lehrt uns auch das Bewußtsein, daß durch sie besondere Gemütszustände erweckt werden, zu deren Bezeichnung sie daher auch gebraucht werden können. Freude und Wehmut, Sehnsucht und Liebe haben ihre Töne, ja sogar der Schmerz, der Schreck, der Zorn ihre Laute, welche zu Tönen zu veredeln wenigstens nicht unmöglich ist. Wenn nun hierdurch auch die Bezeichnungsfähigkeit der Musik gerettet ist, so darf man zweierlei nicht vergessen. Erstens, daß diese Bezeichnung keine genau bestimmende wie durch Begriffe und die dazu gehörigen Worte ist; zweitens, daß die ursprüngliche, rein-sinnliche Natur der Töne durch keine später hinzukommende Erweiterung der Bedeutung ganz aufgehoben werden kann, d. h. daß bei aller Musik, auch in ihrer höchsten Verfeinerung immer der Sinn den ersten Eindruck empfängt, daß dieser Eindruck ein heftig wirkender, oft beinah unwiderstehlicher ist und daß daher bei der ziemlich vagen Bezeichnungsfähigkeit der Musik der nur entfernt wirkende Verstand nicht fähig ist, durch seine Billigung die unangenehmen Eindrücke auszugleichen, welche die Sinne mit überwiegender Gewalt empfangen haben. Was erstens die Bezeichnungsfähigkeit der Musik betrifft, so bin ich erbötig, bei jeder beliebigen Opernarie Mozarts, des unstreitig größten aller Tonsetzer, die Worte durchaus, ja sogar den Modus der Empfindung zu ändern, ohne daß jemand, der das Musikstück nun zum erstenmale hört, daran ein Arges haben und es weniger bewundern soll. Oder noch schlagender, da man die Möglichkeit eines solchen Versuches geradezu leugnen wird. Man nehme die charakteristischste Symphonie Beethovens, und lasse von zehn geistreichen, in der Musik und Poesie erfahrenen Männern einen passenden Text darunter setzen und erstaune dann, was für Verschiedenheiten sich da zeigen werden. Ja vielmehr ist eben dies das unterscheidende Kennzeichen der Musik vor allen Künsten, daß in ihr Symphonien, Sonaten, Konzerte möglich sind, Kunstwerke nämlich, die ohne etwas Genau-Bestimmtes zu bezeichnen, rein durch ihre innere Konstruktion und die sie begleitenden dunkeln Gefühle gefallen. Gerade diese dunkeln Gefühle nun sind das eigentliche Gebiet der Musik. Hierin muß ihr die Poesie nachstehen. Wo Worte nicht mehr hinreichen, sprechen die Töne. Was Gestalten nicht auszudrücken vermögen, malt ein Laut. Die sprachlose Sehnsucht; das

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Dichter als Musikästhetiker? schweigende Verlangen; der Liebe Wünsche; die Wehmut, die ihren Gegenstand sucht und zittert ihn zu finden in sich selbst; der Glaube der sich aufschwingt; das Gebet das lallt und stammelt; alles was höher geht und tiefer als Worte gehen können, das gehört der Musik an, da ist sie unerreicht, in allem andern steht sie ihren Schwester-Künsten nach. Was folgt nun aus dem allen wird man fragen? Soll Musik aufhören, bezeichnend sein zu wollen? Soll sie in der Oper nicht streng dem Text folgen? Soll sie nicht streben den Verstand zu befriedigen? Es folgt daraus, daß die Musik vor allem streben soll, das zu erreichen was ihr erreichbar ist; daß sie nicht, um mit den Begriffen der Redekünste einen Wettstreit in der genauen Bezeichnung zu beginnen, das aufgeben soll worin sie allen Redekünsten überlegen ist; daß sie nicht streben müsse aus Tönen Worte zu machen; daß sie wie jede Kunst, aufhöre Kunst zu sein, wenn sie aus der ihrer Natur gegründeten Form herausgeht, welche Form im Wohllaut liegt bei der Musik, wie in der Wohl-Gestalt bei aller bildenden Kunst; daß, so wie der Dichter ein Tor ist, der in seinen Versen den Musiker im Klang erreichen will, eben so ein Musiker ein Verrückter ist, der mit seinen Tönen dem Dichter an Bestimmtheit des Ausdrucks es gleich tun will; daß Mozart der größte Tonsetzer ist und Maria Weber – nicht der größte. (GrW 14, 33–36)

Diese Rezension kann also derjenigen von E. T. A. Hoffmann an die Seite gestellt werden11: Bezüglich Nähe zur Sache (Inhalt, Gattung, Rezeption) entspricht sie einem gewichtigen Teil der musikalischen Diskurse in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Wien (bes. „Instrumentalmusik vs. Oper“ sowie „Mozart vs. Beethoven“). Hinsichtlich der Möglichkeit einer historischen Wirkung, die stets von bloß nachträglicher Dokumentation zu trennen ist, nur so viel: Aufgrund seiner verwandtschaftlichen Verbindungen, gesellschaftlichen Rolle im Wien der Zeit (in Salons, Freundeskreisen, Almanachen etc.), persönlichen Beziehungen (nicht nur zu Beethoven und Schubert) und trotz der zwar „immer wieder beteuerten“, doch „seltsam“ fragwürdigen „Zurückhaltung des jungen Dichters“12 ist davon auszugehen, dass seine musikästhetische Position zumindest Fachleuten vollauf bekannt war, selbst wenn sie nicht umfassend publiziert worden sein sollte. Grillparzer repräsentiert in der österreichischen Musikästhetik ein wichtiges Verbindungsglied zwischen Mozart – dessen Zauberflöte sein frühester Einblick in die Theaterwelt und der zeitlebens sein musikalisches Idol blieb13 – und Hanslick. Die Fähigkeit dazu zog er aus seinen musikalischen und literarischen Kompetenzen, die er stets auseinanderhielt und nicht gegeneinander ausspielte – die Oper besteht nun einmal aus literarisch-sprachlichen und spezifisch-musikalischen Anteilen: 11 Eine ähnliche Beurteilung erfuhr bekanntlich die in Wien uraufgeführte Euryanthe; vgl. Tagebucheintrag 1823, GrW, Bd. 2/8, 128–129. 12 Heinz Politzer, Franz Grillparzer oder Das abgründige Biedermeier, Wien 1990, 62–63. 13 Politzer, Franz Grillparzer; vgl. Kurt Blaukopf, „Musik im Geist der Aufklärung. Mozart und die Eigenheit der österreichischen Kultur“, in: Unterwegs zur Musiksoziologie. Auf der Suche nach Heimat und Standort, Graz 1998, 108–143.

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Rudolf Flotzinger Und doch kann ich mich mit jenen nicht vereinigen, die die italienische Oper unbedingt verwerfen. Meiner Meinung nach gibt es zwei Gattungen der Oper, von denen die eine vom Text ausgeht, die zweite von der Musik. Letztere ist die italienische Oper. (Konversationsheft 1826, 196–197)

Könnte allein diese Stelle als eine Art Kürzestfassung seiner musikästhetischen Grundansichten gelten, kommen diese in Grillparzers so berühmter wie wirkungsmächtiger Novelle Der Arme Spielmann (1848) deutlich genug zum Ausdruck: Der Titelträger „glaube, die Worte verderben die Musik“ und dass ihm „das jeweilige Was der Musik, mit Ausnahme jenes Lieds, immer ziemlich gleichgültig war und auch geblieben ist“. Der Germanist Politzer nennt Grillparzer geradezu einen „geheime[n] Musiker, der Sprach- und Bühnenbilder schuf “ und „uns noch immer mit geschlossenen Augen“14 ansieht. Grillparzers zahlreiche ästhetische Texte liegen seit 1909 in der Werkausgabe vor. Anschauliche Einblicke auch in dieses sein Denken gewährt seit 1975 das umfangreiche Buch Grillparzer als Denker des Philosophen Friedrich Kainz.15 Grillparzer ist fraglos in die Liste der österreichischen Musikästhetiker aufzunehmen und entscheidend dafür seine unbestreitbare musikalische Kompetenz, die ihn keineswegs zu Einseitigkeit verleitete. Nicht ohne Lessing als Vorbild für ein seit langem notwendiges Buch zu erwähnen, hat August Wilhelm Ambros (1816–1876), Neffe von Raphael Georg Kiesewetter (1773–1850), 1856 in Prag seine Gränzen der Musik und Poesie. Eine Studie zur Aesthetik der Tonkunst herausgebracht. Obwohl er erst ab 1871 ständig in Wien lebte, könnte man nicht allein aufgrund des ganz gleichen Titels über etwaige Verbindungen zu Grillparzer (mündlich durch ein Mitglied der Familie Sonnleithner, Unterlagen wie für Kiesewetters Musikgeschichte16 o. ä.) durchaus spekulieren. Gewiss erschien das Buch nicht zufällig bald nach dem seines ehemaligen Jugendfreundes und Mitschülers am Prager Konservatorium, Hanslick (1825–1904, ab 1846 in Wien). Beide Bücher sind keine Dokumente von Opposition oder gar Polemik, sondern repräsentativ für musikästhetische Diskurse der Zeit in Österreich.

Adalbert Stifter Es liegt nahe, einen ähnlichen Blick auch auf den nur wenig jüngeren Dichter Adalbert Stifter (1805–1868) zu werfen: nicht-städtischer Herkunft, anders sozialisiert und andere Gattungen bevorzugend,17 daher auch anders dokumentiert. 14 Politzer, Franz Grillparzer, 390. 15 Friedrich Kainz, Grillparzer als Denker. Der Ertrag seines Werks für die Welt- und Lebensweisheit, Wien 1975 (= Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 280/2), bes. 300–310. 16 Raphael Georg Kiesewetter, Geschichte der europäisch-abendländischen oder unserer heutigen Musik, Leipzig 1834, 21846. 17 Zitate hier nach Otto Erich Deutsch und Karl Kaderschafka (Hg.), Adalbert Stifter, Gesammelte Werke in fünf Bänden, Leipzig 2[ca. 1930]; zit. SgW.

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Für Dahlhaus ist er, nicht unerwartet, nur ein weiteres Beispiel für die Enge des Begriffs Biedermeier.18 Beide Dichter haben einander persönlich gekannt, Stifter soll „den Dramatiker wie einen älteren Bruder“ geliebt haben.19 Allzu oberf lächlich wäre, Parallelen nur darin zu sehen, dass sie ihre Sendung als Schriftsteller anstatt Musiker bzw. Maler relativ spät entschieden hätten. Bekannt und zu betonen ist, dass sachlich wie methodisch überzeugende Beispiele und Schlüsse aus seinem erzählerischen Werk sehr wohl möglich sind. 20 Auch bei Stifter sollte als wichtigste Voraussetzung seiner Beziehung zur Musik seine individuelle Begabung nicht übergangen werden: Er scheint ein sogenannter „Farben-Hörer“ gewesen zu sein. 21 Zwar muss angesichts der Aussage „Der Ton ist dem Herzen näher als das Bild“ (Narrenburg 1841, SgW 405) offen bleiben, wie er selbst das empfunden und bewertet haben mag, doch dürfte es sowohl seine nie aufgegebene Malerei bestärkt als auch sein lebenslänglich ästhetisch-pädagogisches Engagement geprägt haben. Weniger wegen der in der Romantik geradezu modischen Diskussion über die Nähe von Malerei und Musik, sondern weil Farben in Stifters Texten eine bekannt große Rolle spielen, sind Wort-Verbindungen, die ihn als solchen auszuweisen scheinen, bisher nicht aufgefallen, zum Beispiel: klingendes Silberstimmchen (Narrenburg, 1841) / Silberhelle Mädchenstimmen (Hochwald, 1841) / in stillem Grau / graue Stille (Mappe, 1841) / violette Klänge (Abdias, 1842) / goldene Töne (Zwei Schwestern, 1845) / Klänge sind Urerinnerungen (Mein Leben, posthum). 22

Solchen gewiss vermehrbaren Einzelbelegen ist der mit „Ditha“ überschriebene dritte Abschnitt der Erzählung Abdias (1842) an die Seite zu stellen, der diese Sachfrage beleuchtet und die biographische Dechiffrierbarkeit nachgerade bestätigt, indem die Seltenheit synästhetischer Begabung in den Mittelpunkt gerückt erscheint: Die früheste Beobachtung von Abdias einer Besonderheit (Blindheit) an seinem Töchterchen Ditha war dahin gegangen, es gäbe „die meiste Regung [ihrer] Seele, ja eigentlich die einzige […], gegen[über] Klänge[n]“ (SgW 77). Und Ditha selbst, der ja die neue Sinneserfahrung noch ganz unbekannt ist, nennt die durch den Blitz in sich ausgelöste Veränderung „von ferne bohrende Klänge“ (SgW 87). 18 Vgl. Dahlhaus, Klassische und romantische Musikästhetik, 167. 19 Vgl. Politzer, Franz Grillparzer, 262. 20 Vgl. Theophil Antonicek, „Musik in den Erzählungen Adalbert Stifters“, in: Jahrbuch AdalbertStifter-Institut des Landes Oberösterreich 19 (2012), 21–35. Diese Frage an Dramen zu stellen, würde sich verbieten. 21 Im Gehirn dieser sogenannten Synästhesisten verbinden sich unwillkürlich, doch spezifischer als Ausdrücke wie Farbton oder Klang farbe bloß vergleichsweise, akustische und optische zu einem gemeinsamen Sinneseindruck. 22 Zitiert nach Martin Sturm und Johann Lachinger (Hg.), Adalbert Stifter. Schrecklich schöne Welt (= Vierteljahresschrift des Adalbert-Stifter-Instituts Linz 39/2 (1990), 15.

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Darauf hin muss Abdias das Kind nicht nur das Sehen überhaupt, sondern auch die einzelnen Farben lehren. Ditha aber liebt zuerst „nicht die brennenden, sondern die kühlen und dämmernden Farben“, darunter vorzugsweise „das Blau“. Eine weitere eigentümliche Erfahrung ist, dass bei ihr, im Gegensatz zu „andern Menschen[,] das Tag- und Traumleben“ nicht „gesondert“, sondern „vermischt“ sei (SgW 96). Außerdem kann sie die Aura von Wäldern und Feldern sehen („Vater, siehe nur, wie der ganze Himmel auf den Spitzen dieser grünen, stehenden Fäden klingt“, SgW 96). Und ihre „Stimme, die sie in der letzten Zeit ihrer Blindheit immer lieber zum Singen als zum Sprechen erhoben hatte“, „wendete sich frühzeitig einem sanften, klaren Alte zu“. Da es sich nicht um eine musikpsychologische Studie handelt, spielt die Plausibilität dieser Abläufe (bis hin zur Beendigung des Wunders wieder durch Blitzschlag) keine besondere Rolle. Doch ohne Annahme eigener synästhetischer Erfahrungen Stifters erschiene das gesamte Sujet als umso ausgefallener. Dasselbe gälte für die von Stifter keineswegs nebenbei geäußerte Idee, welche ansonsten der Schilderung der Sonnenfinsternis von 1842 in einer nicht nur autobiographisch ernst zu nehmenden, sondern ebenfalls für beide hier zentralen Fragestellungen aufschlussreichen Passage bloß angehängt erschiene: Ich weiß, daß ich nie, weder von Musik noch Dichtkunst, noch von irgendeinem Phänomen der Kunst so ergriffen und erschüttert worden war – freilich bin ich seit Kindheitstagen viel, ich möchte fast sagen, ausschließlich mit der Natur umgegangen und habe mein Herz an ihre Sprache gewöhnt und liebe diese Sprache, vielleicht einseitiger, als es gut ist […] Ihr aber, die es im höchsten Maß nachempfunden, habet Nachsicht mit diesen armen Worten, die es nachzumalen [!] versuchten und so weit zurückblieben. Wäre ich Beethoven, so würde ich es in Musik sagen; ich glaube, da könnte ich es besser. / Zum Schlusse erlaube man mir noch zwei kurze Fragen, die mir dieses merkwürdige Naturereignis aufdrängte. […] Zweitens. Könnte man nicht auch durch Gleichzeitigkeit und Aufeinanderfolge von Lichtern und Farben ebenso gut eine Musik für das Auge wie durch Töne für das Ohr ersinnen? Bisher waren Licht und Farbe nicht selbständig verwendet. […] Sollte nicht durch ein Ganzes von Lichtakkorden und Melodien ebenso ein Gewaltiges, Erschütterndes angeregt werden können, wie durch Töne? Wenigstens könnte ich keine Symphonie, Oratorium oder dergleichen nennen, da eine so hehre Musik war als jene, die während der zwei Minuten mit Licht und Farbe an dem Himmel war. (SgW 746)

Stifter könnte zwar Kenntnisse von synästhetischen Phänomenen als solchen, doch kaum von älteren Diskussionen über Farben- oder Augenklaviere (L. B. Castel 1722; Ps.-A. Morley 1757) 23 besessen haben. Sonst hätte er sie wohl auch erwähnt und nicht den Eindruck eines eigenen Einfalls erweckt. Immerhin könnte nunmehr der eine oder andere Zug seiner Persönlichkeit und Wirkung besser verständlich werden. 23 „Farbenmusik“, in: Riemann Musik Lexikon Sachteil, hg. von Hans Heinrich Eggebrecht, Mainz 1967, 276.

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Seine Vorliebe für volkstümliche Lieder und Instrumente (Zither, Geige, Harfe) zeigt, dass schon die frühesten Musik-Erfahrungen im Geburtsort Oberplan (Gesang, Violine, Klarinette) zeitlebens wirksam blieben. Diese wurden während der an den traditionsreichen hohen Schulen im oberösterreichischen Stift Kremsmünster verbrachten Jahre 1818–26 durch alle Arten Kirchenmusik (mit beiden Haydns und Mozart an der Spitze) 24 sowie studentischen Musizierguts ergänzt. In allen Biographien wird mit Recht seine hier erfahrene solide humanistische und naturwissenschaftliche Bildung betont, doch zu wenig die frühe pädagogische Erfahrung als Nachhilfelehrer. Als für ihn wichtigste Lehrer gelten der aus Kaplitz nahe Oberplan stammende, in Prag [!] und Linz ausgebildete Klassenlehrer P. Plazidus Hall (1774–1853) sowie der Zeichenmeister Georg Riezlmayr (1784–1852) 25: Dort lernte ich zeichnen, genoß die Aufmerksamkeit treff licher Lehrer, lernte alte und neue Dichter kennen und hörte zum ersten Male den Saz: das Schöne ist nichts anderes als das Göttliche in dem Kleide des Reizes dargestellt, das Göttliche aber ist in dem Herrn des Himmels ohne Schranken, im Menschen beschränkt; aber es ist sein eigentliches Wesen und strebt überall und unbedingt nach beglückender Entfaltung als Gutes, Wahres, Schönes in Religion, Wissenschaft, Kunst, Lebenswandel. Dieser Spruch, so ungefähr oder anders ausgesprochen, traf den Kern meines Wesens mit Gewalt, und all mein folgendes Leben. (Brief 1866 an Gottlieb Chr. F. Richter26).

Der „Spruch“ hat Stifters gesamte Weltanschauung geprägt, taucht in seinen Schriften in mehreren Variationen auf und ist keinem bestimmten Lehrer eindeutig zuzuweisen. Außerdem sollte man das heutige Wort „Gymnasium“ nicht einfach auf die damaligen vier Grammatik- und zwei Humanitäts-Jahre übertragen, von denen die Philosophischen Studien des zweijährigen Lyceums und all diese – trotz der gewiss engen Verbindungen – vom Konvikt absetzen. Dieses war zwar ebenfalls im Stift untergebracht, doch 1804–1848 eine der Landesregierung in Linz unterstehende kaiserliche Institution. 27 Stifter hat übrigens im Markt, und zwar in wenigstens zwei verschiedenen Privatquartieren logiert; ob jemals im Konvikt (von da aus wären ihm z. B. Theaterbesuche untersagt gewesen), ist unwahrscheinlich, 28 24 Klaus Petermayr, „Musikpflege im Stift Kremsmünster während Adalbert Stifters Gymnasialzeit“, in: Jahrbuch Adalbert Stifter-Institut 24 (2017), hg. Peter Becher / Franziska Mayer, 159–170, bes. 161–164. 25 Sturm / Lachinger (Hg.), Schrecklich schöne Welt, 21–23, 14, 24, 36. 26 Gustav Wilhelm (Hg.), A. Stifters Sämmtliche Werke, Bd. 21/5, Reichenberg 1928, 236–237. 27 [P. Heinrich Schachner], Das Konvikt zu Kremsmünster 1804–1904, Linz 1904, 2–18. Gleicher Art war das in Wien von Piaristen geführte, in dem 1808–13 Franz Schubert gelebt hat. 28 So Daniel Ehrmann und Felix Reinstadler (in: Jahrbuch Adalbert Stifter-Institut, 24, 93, 134) fälschlich gegen Moriz Enzinger (Adalbert Stifters Studienjahre, Innsbruck 1950); vgl. Moriz Enzinger, „Adalbert Stifter und Kremsmünster“, in: 99. Jahresbericht Schuljahr 1956 öffentl. Gymnasium der Benediktiner zu Kremsmünster, Wels 1956, 7–15, bes. 7–8, 10; Genaueres bei P. Edmund Baum-

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ebenso unbekannt, ob er einen hier möglichen extra zu bezahlenden InstrumentalUnterricht (Violine?) genossen hat. Nicht unwahrscheinlich ist, dass er mit dem aus Radowitz in Böhmen stammenden, 1797–1844 als Musikmeister in Stift und Konvikt tätigen Wenzel Wawra Kontakt pf legte, kaum aber mit dem Sängerknabeninstitut des Stifts („Museum“). Bedeutsam jedoch dürfte sein, dass die Familie jenes Eisenhändlers Josef v. Koller in Steyr, in der er „manchmal die Ferien wegen der großen Entfernung seiner Heimat verbrachte“, 29 als Sitz eines musikalischen Salons und oberösterreichischen Freundeskreises um Franz Schubert eine Rolle gespielt hat. Stifter hat in Steyr gewiss seine Musik-Erfahrungen vertieft, dürfte Mitglieder des besagten Kreises ebenso kennengelernt haben wie Schubert vielleicht selbst (letztmöglich bei seinem Besuch im Stift 1825) 30. Im Herbst 1826 ging Stifter nach Wien, wo er eine Zeit lang mit den aus Friedberg in Böhmen stammenden ehemaligen Kremsmünsterer Kommilitonen Anton Mugerauer und Franz Xaver Schiff ler zusammenwohnte und seinen vielfältigen Interessen nicht nur an der Universität nachkam. An den reichen künstlerischen Angeboten der Stadt und sicherlich befördert durch die höheren Kreise (von Metternich abwärts), in die er als Hauslehrer Eingang fand, und nicht zuletzt durch Publikationen wie Kiesewetters Musikgeschichte, werden sich seine Repertoire-Kenntnisse (Schubertlied, Instrumentalmusik von Haus- und Kammermusik bis zur Symphonik, Mozart und Beethoven; auf literarischem Gebiet – anders als Grillparzer – auch Jean Paul) nochmals erweitert und vertieft haben. Das lassen seine Beiträge zu Aus dem alten Wien vielfach erkennen, zum Beispiel: Wien ist die Stadt der Musik – daher auch hier Musik genug: türkische, der Leiermann, der Harfenist und Bänkelsänger, schwärmerische Handwerksgesellen mit Gitarren, dort zwei Jung frauen, die eine Romanze absingen, ewig um eine Quint voneinander abstehend […] und nun auch noch die Zigeuner […] (Prater 1843, SgW 80). / Es ist, als wenn Wien die Stadt der Musik wäre und das Volk sich von Musik nährte (Ausflüge und Landpartien 1843; SgW 260). / Ein anderer aber in der Tat ganz anderer Musiksalon ist bei ***[Kiesewetter?], nur herrscht dort wieder die Manie, daß nur alte Musik gemacht wird, freilich auserlesene und mit auserlesenem Geschmacke, aber jede neue, und wäre sie die beste, wird gesetzlich ausgeschlossen und die Vereinsmitglieder müssen, dieselben zu verkosten, sich andere Orte aufsuchen. Es wäre wünschenswert, daß auch Salons existierten, in denen alte Literatur gartinger, „Bürgertum und Handwerk im Markt Kremsmünster“, in: 400 Jahre Gymnasium zu Kremsmünster, Wels 1949, 313–355, bes. 336. 29 Enzinger, Stifter und Kremsmünster (Anm. 28), 9. Mehrere Söhne (Anton, Friedrich, Josef, Ludwig) studierten zu gleicher Zeit in Kremsmünster ([P. Amand Baumgarten], Verzeichnis von ehemaligen P. T. Herren Kremsmünster[!] Studenten […] 1800–1873, Kremsmünster 1877, 60). 30 Rudolf Flotzinger, „Zur frühen Rezeption des Schubertlieds im Kloster: das Beispiel Kremsmünster“, in: Schubert und das Biedermeier. Festschrift für Walther Dürr, hg. von Michael Kube et al., Kassel 2002, 227–261.

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Dichter als Musikästhetiker? gelesen würde, z. B. die aus der Reformationszeit, aus dem Mittelalter, die alten Griechen, Juden u. dgl. […] Aber meines Wissens existiert kein einziger solcher Salon, und nur der eine oder andere einsame Mann trägt sich mit seinem Sophokles, Äschylos und Homer. Es ist eine Sünde, die zum Himmel schreit. […] So könnte ich noch mehrere Versammlungen anführen, in denen regelmäßig Musik, und zwar ganz vortreff liche Musik gemacht wird. Diesen alten Ruhm, glaube ich, bewahrt ja noch unser Wien, dass es die Stadt der Musik, guter Musik und in erlesenen Zirkeln auch verstandener Musik ist (Salonszenen 1843, SgW 303ff ).

Der Topos „Wien – Stadt der Musik“ war spätestens ab etwa 1800 geläufig. 31 Bestätigungen von Stifters Musikverständnis liefert unter anderem der Roman Zwei Schwestern (1845): In einem gemeinsam mit dem Reisefreund Rikar besuchten (realen) Konzert der Schwestern Milanollo in Wien hat der Ich-Erzähler „Angst, ob das Mädchen auch so gut spielen würde, wie ich es wünschte […]. Mir war von jeher bloße Fertigkeit sehr zuwider, und sogenannte Wunderkinder machten mir jedesmal einen Schmerz“. Das ältere spielte „wie ein Mann“; er hörte „ein inniges, starkes, erzählendes und manchmal auch klagendes Herz. Gar schön aber war es, wie die Unschuld in dem Spiele herrschte […], die […] nur bei Kindern möglich ist“. Doch musste er sich eingestehen, dass er „von dem Kinde mit einer tiefen, schönen, sittlichen Gewalt erfüllt wurde. […] kann nicht denken, dass diese das Eigentliche empfinden; denn wenn ein Künstler, also ein höherer Mensch – und jeder wahre Künstler muss das sein – vor uns steht, uns einen schönern, reinern Teil seiner Menschlichkeit vor Augen führt und die unsere zu sich emporhebt.“ Teresas jüngere Schwester hingegen „wusste“ noch nicht, „was für ein tiefes und schwankendes Ding jetzt beginnen werde“; sie erschien ihm noch wie ein Kind, „das froh ist, dass es seine Sache gut gemacht hat.“ (SgW 444ff ) Die Begründung seines Urteils – „Es ist also nicht, wie ich anfangs gefürchtet hatte, bloße außergewöhnliche Fertigkeit an ihr, sondern sie versteht, empfindet und erschafft das Gespielte“ (SgW 450) – entspricht einer seit dem 18. Jahrhundert verfochtenen Maxime. Darüber ist der psychologische Aspekt des Altersunterschieds der Mädchen als Erklärung einerseits und erzieherisches Charakteristikum andererseits nicht zu übersehen: An jene Szene erinnert nämlich wieder diejenige, als er zu Gast bei Rikar zufällig diesen zu hören meint und sich dann herausstellt, es sei dessen jüngere Tochter gewesen. Er beschreibt ihr Spiel in ähnlicher Weise: „als sei bereits die Glut der Leidenschaft darinnen. […] sozusagen ein schreiendes Herz, es lag in dem Spiele ein Schmerz und eine Sehnsucht, sanfte Klage, heißes Flehen […]“; doch auch das seien für ihn noch „Töne der Jugend“ gewesen. (SgW 498–499) Waren beim ersten Mal Rikar mit dem Seufzer „Ach, du unglücklicher Vater!“ die Tränen gekommen, reagiert er diesmal selbst auf „die zauberhaften Musiktöne“ mit „du armes, armes Kind“. (SgW 498) Die Gegenüberstellung armer Vater / Kind dürfte der gar nicht paradoxen 31 Martina Nußbaumer, Musikstadt Wien: die Konstruktion eines Images, Rombach 2007.

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Absicht entspringen, anhand zweier vergleichbar erscheinender Schwesternpaare ein ethisch-pädagogisches Moment zur Sprache zu bringen: das eine hat von den Eltern Zwang (Dressur) erfahren (was an den Armen Spielmann erinnert!), das andere aber Freiheit der Wahl und Entfaltung. (Komparatisten bleibe überlassen, ob sie sich zugleich an die Reprise in einer Sonatenform erinnern wollen.) Übrigens merkt der Erzähler außerdem daran, dass die Töne von Kamillas Violinspiel „sanft und sehnsuchtsvoll [wurden], als fragten sie und suchten sie nach irgend einem Dinge, sie waren nicht entzücken= und jubelerfüllt, aber sie waren auch nicht so traurig wie in der ersten Nacht, als sprächen sie von einem schmerzlichen Glücke, das zerf latternd und vergehend nirgends zu ergreifen sei“, früher als ihre Umgebung, dass sich Kamilla in Alfred, der später erfolglos um die Hand ihrer Schwester Maria anhalten sollte, zu verlieben begann.“ (SgW 78–79) Und ein andermal hat ihn seine Musikerfahrung auch befähigt, von der „Biegsamkeit“ einer Gesangsstimme auf deren „Ausbildung“ sowie darauf zu schließen, dass die betreffende Person „öfters, und zwar viel singen“ müsse; (SgW 592) u. s. w. Eine speziell musikästhetische Positionierung Stifters ist nicht feststellbar. Er hegte vielmehr zeitlebens ein so großes wie allgemeines Interesse für die Künste insgesamt und die ethische Aufgabe, sie bestmöglich zu pf legen, zum Beispiel: Den Geist des Menschen […] verunreinigte falsche Kunst mehr als die Unberührtheit von jeder Kunst (Nachsommer 1857, SgW 641). / Dichter [sind…] zu den größten Wohltätern der Menschheit zu rechnen. Sie sind die Priester des Schönen und vermitteln als solche bei dem steten Wechsel der Ansichten über Welt, über Menschenbestimmung, über Menschenschicksal und selbst über göttliche Dinge das ewig Dauernde in uns und das allzeit Beglückende. Sie geben es uns im Gewande des Reizes, der nicht altert, der sich einfach hinstellt und nicht richten und verurteilen will. Und wenn alle Künste dieses Göttliche in der holden Gestalt bringen, so sind sie an einen Stoff gebunden, der diese Gestalt vermitteln muß: die Musik an den Ton und Klang, Malerei an die Linien und Farbe, die Bildnerkunst an den Stein, das Metall und dergleichen, die Baukunst an die großen Massen irdischer Bestandteile, sie müssen mehr oder minder mit diesem Stoffe ringen; nur die Dichtkunst hat beinahe gar keinen Stoff mehr, ihr Stoff ist der Gedanke. (Nachsommer 1857, SgW 311). / Das, was die Griechen in der Bildnerei geschaffen haben, ist das Schönste, welches auf der Welt besteht, nichts kann ihm in andern Künsten und in späteren Zeiten an Einfachheit, Größe und Richtigkeit an die Seite gesetzt werden, es wäre denn in der Musik. […] Das haben aber Menschen hervorgebracht, denen Lebensbildung auch einfach und antik gewesen ist, ich will nur Bach, Händel, Haydn, Mozart nennen. (Nachsommer 1857, SgW 641).

Allein derartige Beispiele belegen zugleich die ästhetische Prägung und deren biographische Dechiffrierbarkeit. Ihr Ziel aber sollte wissenschaftliche, ethische und ästhetische Erziehung bleiben, 32 also größtmögliche Allgemeinheit der etablierten 32 Sturm / Lachinger (Hg.), Schrecklich schöne Welt, 77, 105.

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Künste; überraschenderweise bevorzugte oder vertiefte er selbst die von ihm persönlich gepf legte nicht. In dieser Hinsicht erscheint jene Skizze zur Ästhetik, die als Beilage zum 1847 dem Vizedirektorat der philosophischen Studien (Universität) in Wien unterbreiteten Gesuch um Bewilligung, öffentliche[r] Vorträge über das Schöne erhalten ist, 33 fast wie ein Rückschritt: Sie sei auf Grundlage zwanzigjähriger Studien und Beobachtungen verfasst und diene nur als Gedächtnisstütze, um das schlichte Sittliche als letzte Grundlage jedes Schönen festzustellen und in den größten Mustern verstorbener Meister nachzuweisen. Der Beginn – 1. Das Schöne wird der Erfahrung zu Folge als ein allgemein ohne Bedingung Gefallendes bezeichnet – ist fraglos eine Popularisierung der Definition in § 6 der Kritik der Urteilskraft von Immanuel Kant (1790: „Das Schöne ist das, was ohne Begriffe, als Objekt eines allgemeinen Wohlgefallens vorgestellt wird“). Darauf hin verlässt er sogleich und in damals durchaus üblicher Weise 34 nicht nur Kant, sondern die Philosophie überhaupt zugunsten empirisch-psychologischer Voraussetzungen (2. Das Gefallende hat zwei Merkmale: a) es ist ein der menschlichen Natur Zusagendes, und b) ein durch die Sinne Wahrnehmbares). Anhand von Beispielen will er sich der Hierarchie und Entwicklung der menschlichen Kräfte (Bewußtsein, Erfahrung, Sinn u.s.w.) widmen, u. zw. nach einem Lehrbuch, nach dem auf hiesiger Universität vorgetragen wird. Erst dann kehrt er zu eigentlich Ästhetischem zurück: Das Sittliche, daß es als Schönes wirke, muß sinnlich wahrgenommen werden. Wenn der Mensch ein Schönes darstellen will, ahmt er Teile der Schöpfung nach, als des Schönsten, was in Erscheinung kömmt, gleichsam der sichtlichen Verkörperung Gottes. Erst ist es der Leib des Menschen, den der Künstler nachbildet, dann bewegt es ihn, seine Seele in Sprache, in Tönen vernehmlich zu machen, er sagt das Erhabene mit Worten, er singt seine Gefühl in Tönen, Nachahmung der äußeren Natur als eines von einer großen, allmächtigen, sittlichen Kraft Erzählenden Ähnlichkeit der Urbauwerke mit dem Charakter der umgebenden Natur. Allmähliche Darstellung der Seele in Körperformen, höher Plastik, Tanz der alten Völker. Gymnastik derselben. Malerei. Musik. Schauspiel (vgl. Nachsommer). Die geplanten Beispiele von der Ilias über den Dom von St. Stephan in Wien bis Mozart, Beethoven und Haydn werden sich großteils in seinem Lesebuch zur Förderung humaner Bildung wiederfinden.

Dass wieder Grundansichten Stifters wie „Sprache(n) Gottes“ und (bzw. in) der „Natur“, spezifiziert in den Künsten (wie auch Grillparzer) durchschimmern, überrascht nicht. Der Schlusssatz („nach […] der Entwicklung des Schönheitsbe­griffes 33 Uwe Japp / Hans Joachim Piechotta (Hg.), Adalbert Stifter, Werke, Bd. 4: Kleine Schriften. Briefe, Frankfurt a. M. 1978, 146–150. 34 Vgl. Christoph Landerer, „1848 und die Wissenschaften. Staatliche Bildungsplanung und der österreichische Weg in die Moderne“, in: Musik und Revolution. Die Produktion von Identität und Raum durch Musik in Zentraleuropa 1848/49, hg. von Barbara Boisits, Wien 2013, 617–631, bes. 623.

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ist jede Nebensache und jede andere Tendenz eines Kunstwerkes, als daß es schön sei, ausgeschlossen“) kann als eine Art Quintessenz gelten, doch von einer schlüssigen Gesamtdarstellung der Ästhetik nicht die Rede sein. Inwieweit der Text der Skizze und/oder des Gesuchs mit jenem Über das Schöne zusammenhing, den Stifter 1844 Heckenast angeboten hatte, ist unbekannt. Die Uneinheitlichkeit der Skizze – in Stichworte eingestreute ausformulierte Sätze – kann nicht nur der Allgemeinverständlichkeit und Offenheit der mündlichen Ausführungen geschuldet sein, sondern lässt auch an Notizen denken, die unterschiedlich weit zurück führen: Überträgt man den unterwürfigen Ton des angehängten Lebenslaufs auch auf die Skizze, führt die Angabe „zwanzigjährige Studien und Beobachtungen“ genau in die Lyceums-Zeit. Obwohl Stifter zumindest durch das hier bis 1830 verwendete Lehrbuch der Philosophie (1812) des Piaristen Josef Calasanz Likawetz (1773–1850), einst Prager Studienkollege des 1819 hier suspendierten Professors Bernard Bolzano (1781–1848), von Kant (zu dessen Zentralbegriffen ja auch Sittlichkeit und das Erhabene gehören 35) wusste, könnte sowohl seine Bezugnahme auf das an „hiesiger Universität vorgetragen[e]“ Lehrbuch als auch die Nicht-Erwähnung der Namen Kant (wie Bolzano) taktisch begründet sein und zugleich wegen der Vorbehalte gegen beide36 auch zur Ablehnung des Gesuchs beigetragen haben. Jedenfalls sind inhaltliche Bezüge zu Bolzano nicht zu übersehen: dessen „Grundwahrheit“ „oberste[s] Sittengesetz“, Bestimmung von Ästhetik als menschliches „Handeln“, Parallelen zur Religion, entsprechende „Einteilung“ der Künste (für Ohr, Auge, Gedanken, Darstellung)37 und nicht zuletzt (trotz Unterdrückung) ihre Rolle in der philosophischen Propädeutik der Zeit. 38 Dass Stifter schließlich das Wort „Ästhetik“ fast zu meiden scheint, könnte sozusagen „alt-philologische“ Züge besitzen und mit Hall ebenfalls Prag ins Spiel bringen:39 Aufgrund der Herleitung von griechisch αισθάνομαι mochte es ihm eher Wahrnehmungs- als Schönheitslehre bedeuten, zumal auch die oft gestreifte Verbindung ästhetischer mit ethisch-moralischen Komponenten καλοκαγαθία antikes Traditionsgut war. Allein auf dieser schmalen Basis ließen sich also nicht nur Momente für einen seriöseren Vergleich von Grillparzer und Stifter gewinnen (Letzterer käme nicht als Musikästhetiker in Frage), sondern auch methodische Fragen verfolgen: 35 Sturm / Lachinger (Hg.), Schrecklich schöne Welt, 25. 36 Rudolf Haller, „Österreichische Philosophie“, in: Studien zur Österreichischen Philosophie. Variationen über ein Thema, Amsterdam 1979, 5–22, 8. 37 Bernard Bolzano, „Über den Begriff des Schönen“ [1843], in: Sitten- und Gesellschaftslehre, 1849. 38 Vgl. Beiträge von Jaromír Loužil, Marie Pavlíková und Eduard Winter in: Bernard Bolzano, Leben und Wirkung, hg. von Curt Christian, Wien 1981 (= Sitzungsberichte der phil.-hist. Kl. der Österr. Akademie der Wissenschaften 391), 36, 88; Heinrich Ganthaler / Otto Neumaier (Hg.), Bolzano und die österreichische Geistesgeschichte, St. Augustin 1997; Haller, „Österreichische Philosophie“, 8. 39 Vgl. Kurt Blaukopf, Pioniere empiristischer Musikforschung. Österreich und Böhmen als Wiege der modernen Kunstsoziologie, Wien 1995, bes. 32–33.

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von sich in den Textsorten spiegelnden Unterschieden bis hin zu deren Wirksamkeit, von Inhalten wie Formen von Kunstwerken bis zu Aussagen über solche, die immer von Kompetenzen und Intentionen der Autoren abhängig sind. Möge niemand nachplappern, Letztere seien doch heute „tot“. Weiterhin hat jede Interpretation primär zu fragen, zu erkennen und beurteilen, ob eine Sichtweise generiert, modifiziert, kritisiert, tradiert, bloß angedeutet u. s. w. wird, ob Sätze tragend oder nebensächlich sind. Gewiss kann man auch einzelnen nachrangigen Gesichtspunkten Interesse zollen. Doch andere, als in einer Formulierung oder Sache verborgene, zuvor in sie bloß hinein zu projizieren (was durch alle Vorurteile geschieht), ist bekanntlich ganz verkehrt – schlicht weil es unlogisch ist.

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Horizonte des Hörens Betrachtungen zur Akustischen Ökologie und zum Sounddesign Robert Höldrich „If a tree falls in a forest and nobody is there to hear it, does it make a noise?“

Um zu verstehen, worum es in der Akustischen Ökologie und im Sounddesign geht, müssen sowohl die objektiven, physikalischen Aspekte von Klang als auch der Mensch als wahrnehmende/r Hörer*in in den Blick genommen werden. Die oben gestellte Frage entstammt einem Cartoon aus der Reihe Hägar, der Schreckliche. Dessen kluger Sohn Hamlet wendet sich an den Vater und seinen eher dümmlichen Kumpanen Sven Glückspilz, der ohne Zögern „Yes!“ antwortet. Darauf Hägar: „How would you know?“, was Sven quittiert: „Because I was there once.“ Akustische Ökologie und Sounddesign behandeln die akustische oder physikalische Beschreibung und Gestaltung von Klang und Geräusch und widmen sich der physiologischen und psychologischen Wirkung von Klängen, von der einfachen Wahrnehmung von Lautstärke oder Tonhöhe über die Erzeugung von Emotionen durch Sound bis zum kommunikativen Aspekt von Klängen, also was sie uns über die Welt und ihre Objekte vermitteln. Bevor wir zum eigentlichen Gegenstand kommen, ein paar Gedanken zu Eigenschaften und Funktion des menschlichen Gehörsinns: Das Ohr ist der erste Fernsinn, der sich – im Gegensatz zum Auge – nicht verschließen lässt. Wir benutzen unser Gehör als Wächterorgan ständig zur Orientierung in der Umgebung. Durch unsere zwei Ohren können wir Schallquellen dreidimensional verorten, die horizontale Lokalisationsgenauigkeit unserer Hörwahrnehmung beträgt in der Frontalrichtung eindrucksvolle 3–4°, das bedeutet, dass die Position einer Quelle in fünf Metern Abstand auf 30 Zentimeter genau auditiv lokalisiert wird. Darüber hinaus können wir die Quellrichtung von den Ref lexionen, die durch die uns umgebenden Hindernisse verursacht werden, unterscheiden. Evolutionär war es für unsere Vorfahren höchst hilfreich, die wirkliche Richtung, aus der die fauchende Raubkatze kommt, nicht mit der Schallref lexion der Felswand rechts vom Höhleneingang zu verwechseln. Ebenso evolutionär erklärbar ist die Fähigkeit, Distanzen zu einer Schallquelle abzuschätzen. Für Schallquellen in einem bis eineinhalb Metern Entfernung – das 829

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ist der typische Abstand zu Kommunikationspartnern in der sozialen Interaktion – entspricht die wahrgenommene Distanz der physikalischen. Bis zu einer Entfernung von 15 Metern – die typische Interaktionsdistanz mit Angreifern – nimmt die Genauigkeit der Distanzwahrnehmung immer weiter ab. Darüber hinaus gibt es kaum mehr eine Auf lösung, das heißt, wir unterschätzen zunehmend die Distanz weit entfernter Schallquellen und nehmen diese näher wahr, als sie wirklich sind. Eine vorteilhafte Täuschung, die einen Zeitvorsprung bei der Fluchtreaktion bringt. Unser Gehör befähigt uns, fein differenzierte Klangeigenschaften auf der Mikroebene wahrzunehmen, aber auch, mehrere Klangquellen gleichzeitig zu verfolgen oder uns – wie beim sogenannten „Cocktailparty-Effekt“ – auf eine Stimme im Gewirr vieler zu konzentrieren. Der Gehörsinn ist das Sinnesorgan für die wichtigste Form menschlicher Kommunikation: die Sprache. Über feine klangliche Nuancen der Sprache – von den prosodischen Ausprägungen der Sprachmelodie bis zu paralinguistischen Charakteristika wie der Stimmqualität – können wir den Gefühlszustand unseres Gegenübers, unabhängig vom Inhalt des Gesprochenen, erkennen oder den Wahrheitsgehalt einer Aussage einschätzen. Klänge wirken direkt ins Unterbewusste und können dadurch – stärker als Bilder – Emotionen hervorrufen, man denke an Horrorfilme, die erst durch die Tonspur richtig gruselig werden. Versuchen Sie das einmal selbst, indem Sie den Ton abstellen! Aus diesem Grund werden Geräusche aber auch öfter als lästig empfunden als visuelle Eindrücke. Lärm, also unerwünschter und damit lästiger Schall, ist eine wesentliche Umweltbeeinträchtigung der Industriegesellschaften. 80 % der Bevölkerung fühlen sich durch Lärm gestört. Da die teils unterbewusste Wirkung von Klang kaum durch den Hörer bzw. die Hörerin kontrolliert werden kann, lassen sich auditiv auch Inhalte transportieren, ohne dass der Empfänger oder die Empfängerin diese erkennt. Klänge und Geräusche als manipulative Werkzeuge der Wertzuschreibung – ein Potenzial, von dem im industriellen Sounddesign ausreichend Gebrauch gemacht wird. Die Auslenkung unseres Trommelfells bei den leisesten noch wahrnehmbaren Klängen ist kleiner als der Durchmesser eines Wasserstoffatoms. Ein noch empfindlicheres Gehör wäre evolutionär sinnlos, würden wir dann doch die thermische Molekularbewegung der Luft als permanentes Hintergrundrauschen hören. Die Intensitäten der lautesten gerade noch erträglichen Schalle an der Schmerzgrenze sind um den Faktor 1012 größer als an der Hörschwelle. In diesem riesigen Dynamikbereich kann das Ohr über 110 Lautstärkestufen unterscheiden. Im Vergleich dazu verarbeitet das Auge Lichtintensitäten im Bereich von 1 zu 1010 zwischen gerade noch wahrnehmbaren Lichtpunkten in absoluter Dunkelheit1 1

Das Auge benötigt rund 20 Photonen als Reiz, um einen Lichtblitz zu sehen (Selig Hecht / Simon Shlaer / Maurice Henri Pirenne, „Energy, Quanta and Vision“, in: Journal of the Optical Society of

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und Helligkeiten an der Grenze zur Blendwirkung. Unter optimalen Bedingungen können ebenfalls rund 110 Helligkeitsstufen aufgelöst werden. Im alltäglichen Leben zeigt sich jedoch, dass wir nur etwa 30 Graustufen auseinanderhalten können, 2 soviel zu 50 Shades of Grey. 3 Der Bereich der hörbaren Frequenzen umspannt 20 Hz bis 20.000 Hz. Die Tonhöhenauf lösung unseres Gehörs liegt dabei über weite Strecken unter 0,3 %, sodass wir in der Lage sind, mehrere tausend Tonstufen im gesamten Hörbereich zu unterscheiden. Im Gegensatz zur auditiven Bandbreite von 1:1000 verarbeitet das Auge Licht im Wellenlängenbereich zwischen 400 und 700 Nanometern und damit eine visuelle Bandbreite von nicht einmal 1:2, wobei etwa 200 reine Farben zwischen infrarotem und ultraviolettem Licht unterschieden werden können. Die zeitliche Ansprechdauer des Gehörs beträgt wenige Tausendstelsekunden. Daher benötigt man für die hochqualitative digitale Klangwiedergabe auch über 40.000 Signalwerte pro Sekunde (die Abtastrate einer Compact-Disk beträgt etwa 44.100 Hz). Der Film hingegen – zumindest vor seiner Digitalisierung – findet mit 25 Bildern pro Sekunde das Auslangen, um für das Auge eine kontinuierliche Bewegung zu erzeugen. Ein Beispiel für die Nutzung des außerordentlichen zeitlichen Auf lösungsvermögens des Gehörs lieferte Galileo Galilei. Dieser fand bekanntlich das physikalische Gesetz des freien Falls auf Basis eines Experiments. Dabei wurde nichts vom Schiefen Turm in Pisa hinuntergeworfen, vielmehr hat Galilei eine schiefe Ebene verwendet, auf der die zeitlichen Abläufe langsamer stattfinden und einfacher zu messen sind: Auf einem Lineale, oder sagen wir auf einem Holzbrette von 12 Ellen Länge, bei einer halben Elle Breite und drei Zoll Dicke, war auf dieser letzten schmalen Seite eine Rinne von etwas mehr als einem Zoll Breite eingegraben. Dieselbe war sehr gerade gezogen, und um die Fläche recht glatt zu haben, war inwendig ein sehr glattes und reines Pergament aufgeklebt; in dieser Rinne liess man eine sehr harte, völlig runde und glattpolirte Messingkugel laufen. … [H]äufig wiederholten wir den einzelnen Versuch, zur genaueren Ermittlung der Zeit,

2 3

America 38 [1942], 196–208), und jüngste Studien weisen die Wahrnehmbarkeit selbst einzelner Photonen unter speziellen Laborbedingungen nach ( Jonathan N. Tinsley et al., „Direct Detection of a Single Photon by Humans“, in: Nature Communications 7/12172 [2016], https://doi. org/10.1038/ncomms12172 [30.1.2019]). Eric Kreit et al., „Biological Versus Electronic Adaptive Coloration: How Can One Inform The Other?“, in: Journal of the Royal Society Interface 10/78 (2013), https://doi.org/10.1098/ rsif.2012.0601 (30.1.2019). Richard Grey, „Forget 50 Shades of Grey – human eyes are only capable of seeing THIRTY hues between black and white, claim scientists“, in: Daily Mail, 20. Mai 2015, http://www.dailymail. co.uk/sciencetech/article-2961463/Forget-50-Shades-Grey-human-eyes-capable-seeing-THIRTY-hues-black-white-claim-scientists.html (30.1.2019).

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Betrachtungen zur Akustischen Ökologie und zum Sounddesign und fanden gar keine Unterschiede, auch nicht einmal von einem Zehntheil eines Pulsschlages.4

Aber wie maß Galilei die Zeit? Da die Uhren seiner Zeit die angegebene Genauigkeit – ein Zehntel eines Pulsschlages – bei weitem nicht erreichten, verwendete Galilei sein Gehör. Dafür verteilte man Glöckchen, die von der herab rollenden Kugel angeschlagen und zum Klingen gebracht wurden, genau so entlang der schiefen Ebene, dass die Kugel einen regelmäßigen Rhythmus erzeugte. 5 Und siehe da: Der räumliche Abstand der Glöckchen vom Ausgangspunkt der Kugel folgte genau einem quadratischen Zusammenhang. Daher: Die Fallhöhe ist proportional zum Quadrat der Zeit. Zusammengefasst zeigt sich, dass sich der menschliche Gehörsinn im Laufe der Evolution zu einem Messinstrument entwickelt hat, das in seiner Genauigkeit, Adaptionsfähigkeit, Fehlertoleranz und hierarchischen Strukturierungsfähigkeit jedes technische System in den Schatten stellt.

Bevor uns Hören und Sehen vergeht … Den überlebenswichtigen Fähigkeiten unseres Ohres zum Trotz, leben wir in einer visuell dominierten Kultur. Als wesentliche Vermittlungsform für Information und Bedeutung wird die Schrift zunehmend von bildhaften Darstellungen – seien sie statisch oder bewegt, physische Realität wiedergebend oder Daten visualisierend – immer mehr abgelöst. Von Kindesbeinen an eingeübt, ist uns der tägliche Umgang mit Bildern vertraut, ihre Wirkungsmacht durch einen distanzierten Blick daher (hoffentlich) ‚durchschaubar‘. Anders verhält es sich beim Klang: Als Informationsträger, der uns hinter die Kulissen der Begrenzungsf lächen von Objekten hören und unsichtbare prozesshafte Abläufe erkennen lässt, wird er oft geringgeschätzt und als affektive Kraft, da unbewusst wirkend, weitgehend negiert. Auch unsere Sprache zeigt die Dominanz des Sehsinns gegenüber dem Gehör in ihren Metaphern: Wir gehen mit offenen Augen durchs Leben, erläutern unsere Sichtweise, gewähren Einblick. Wir lassen uns keinen Sand in die Augen streuen, gewinnen Einsicht, bewahren Überblick, besser noch vorausschauenden Weitblick. Anschauliche Evidenz verhilft offensichtlich zu hellsichtigem Durchblick, 4

5

Galileo Galilei, Unterredungen und mathematische Demonstrationen über zwei neue Wissenszweige, die Mechanik und die Fallgesetze betreffend: Dritter und vierter Tag, Leipzig 1891, 25, zit. nach Florian Dombois, „Was Hören? Vom Forschen mit den Ohren“, in: Chemie – Kultur – Geschichte: Festschrift für Hans-Werner Schütt anlässlich seines 65. Geburtstages, hg. von Astrid Schürmann und Burghard Weiss, Berlin 2002, 79–92, hier 79. Der Wissenschaftshistoriker Stillman Drake spricht von gespannten Darmsaiten, die von der Kugel angezupft worden seien (vgl. Galileo at Work, Chicago 1978, 89; Dombois, „Was Hören?“, 79), die Nachbildung der schiefen Ebene im Istituto e Museo di Storia della Scienza in Florenz zeigt jedoch Glöckchen.

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wenn nicht sogar zur Erleuchtung. Wenn doch einmal der Schein trügt oder der Augenschein hinters Licht führt, sind wir blind für unser Versehen. Wir haben wohl zu viel aufs Hörensagen gegeben, gehorchten hörig Schall und Rauch. Das Verhör ergibt hoffentlich, dass wir uns nur verhört haben, öffnet uns die Augen, und gehorsam preisen wir wieder – die Auf klärung. Eine nüchterne Gegenüberstellung von Auge und Ohr ergibt:6 Auge und Ohr sind Fernsinne, im Gegensatz zum Tastsinn, Geruchssinn (für kleine Distanzen) und Geschmack. Das Auge bleibt an der Oberf läche. Materialität ist für den visuellen Sinn opak. Sehen ermöglicht distanziertes affektloses Erkennen, dem wir uns auch verschließen können. Das Ohr hingegen besitzt kein Lid. Klang ist daher eindringlich. Er durchdringt sowohl das klingende Objekt als auch den Hörenden und vermittelt und erzeugt Emotion. Sehen erfasst statische Struktur, Hören die Dynamik zeitlicher Veränderung. Das zeigt auch Galileis Beispiel: Das Auge ist gut geeignet, um Länge als unveränderliche Größe zu messen, das Ohr eignet sich besonders zur Messung der Zeit, einer dynamischen Größe. Die Fähigkeit, ‚hinter die Oberf läche‘ von Gegenständen zu hören und zeitliche Prozesse mit dem Ohr zu erfassen, nutzt man in der Medizin seit dem 18. Jahrhundert. Bereits 1761 führte der Grazer Arzt Joseph Leopold Auenbrugger (1722–1809) das Beklopfen des Brustkorbs als diagnostische Praxis ein. Auf diese sogenannte „Perkussion“ nimmt René Théophile Laënnec (1781–1826, Chefarzt des Pariser Hospital Necker) Bezug und berichtet aus seiner klinischen Praxis folgende Begebenheit: Ich wurde im Jahre 1816 wegen einer jungen Person zu Rathe gezogen, bei der sich allgemeine Symptome einer Herzkrankheit zeigten, und bei welcher das Auf legen der Hand und die Percussion wegen der Körperfülle wenig Erfolg hatten. Da mir das Alter und das Geschlecht der Kranken die in Rede stehende Untersuchungsweise verboten, so fiel mir eine sehr bekannte akustische Erscheinung ein: wann man nämlich das Ohr an das Ende eines Balkens legt, so hört man sehr deutlich einen am anderen Ende angebrachten Nadelschlag. … [I]ch nahm einen Bogen Papier, rollte ihn fest zusammen, setzte das eine Ende auf die Präcordialgegend, legt das Ohr an das andere, und hörte zu meinem Erstaunen und zu meiner Freude die Herzschläge weit reiner und deutlicher, als ich sie jemals beim unmittelbaren Auf legen des Ohres vernommen hatte.7 6 7

Vgl. Dombois, „Was Hören?“, 85–87. René T. Laënnec, Abhandlung von den Krankheiten der Lungen und des Herzens und der mittelbaren Auscultation als einem Mittel zu ihrer Erkenntnis, 2 Bde., Paris 1819, deutsch von Friedrich L. Meissner, Leipzig 1832, 5.

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Laënnec erfand damit das Stethoskop (griechisch für ‚Brustbetrachter‘) und entwickelte ein Vokabular für normale, abnormale und pathologische Schallereignisse, überwiegend für Herz- und Lungenkrankheiten. Die Fähigkeiten des Ohres wurden aber nicht nur in der Medizin gebraucht, sondern von Anbeginn an auch beim Autofahren. So wird 1919 dem Fahranfänger in Aussicht gestellt: Mit wachsender Übung und der Gewohnheit des Fahrens lernt auch der Anfänger bald, seine Aufmerksamkeit, ohne sie von der Straße abzulenken, auch anderen Teilen, besonders dem eigenen Wagen, zuzuwenden. Es ist hier vor allen Dingen der taktmäßige und ruhige Lauf seines Motors, der seine Aufmerksamkeit fordert, das gleichmäßige Schnurren seines Getriebes bzw. seiner Kette, das ihm zeigt, dass sich alles in schönster und bester Ordnung befindet. Er wird es bald merken, dass jeder Motor und jeder Wagen einen ganz bestimmten Rhythmus hat und wird es ohne weiteres bemerken, sowie auch nur die geringste Kleinigkeit sich einstellt, die diesen ihm liebgewordenden Rhythmus stört. Ganz und willkürlich wird er auf den Takt hinhören, und es wird ihm dadurch gelingen, manche größere Betriebsstörung im Keime zu ersticken. 8

Zwei Aussagen dieser Passage sind bemerkenswert. Zum einen wird ausführlich auf die klangliche Eigenart jedes Fahrzeugs hingewiesen, was in Richtung Sounddesign weist. Andererseits überwacht hier der Fahrer noch selbst das Auto mit dem Ohr. Erst mit Auf kommen der Kfz-Mechaniker als eigener Berufsgruppe hat diese die Fähigkeit zum diagnostischen Hören für sich reklamiert. Diagnostisches Hören bedarf der Schulung und Erfahrung, die entweder – wie in der Medizin – im formellen Rahmen der Ausbildung erfolgt oder – wie beim KfzMechaniker – primär aus dem Berufsleben erwächst. Das weiter gesteckte Ziel, hörende Sensibilität für unser alltägliches Umfeld zu entwickeln und so ‚sonologische Kompetenz‘ als implizites Wissen, das das Verständnis von Klang ermöglicht, zu erlangen, wurde vom Projekt der Akustischen Ökologie verfolgt.

Akustische Ökologie Begründet wurde Acoustic Ecology vom kanadischen Komponisten und Klangforscher Raymond Murray Schafer in den späten 1960er Jahren. Sein Buch The Tuning of the World (1977) gilt als Manifest des Projekts, als dessen Hauptziel eine Haltungsänderung gegenüber unserer akustischen Umwelt formuliert wird: 8

Adolf König, „Die experimentelle Psychologie im Dienste des Kraftfahrwesens“, in: Allgemeine Automobil-Zeitung 20/10 (1919), 11–13, sowie 20/12 (1919), 15–17, zit. nach Stefan Krebs, „Automobilgeräusche als Information – Über das geschulte Ohr des Kfz-Mechanikers“, in: Das geschulte Ohr – Eine Kulturgeschichte der Sonifikation, hg. von Andi Schoon und Axel Volmar, Bielefeld 2012, 95–110, hier 98.

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„[I] regard the soundscape of the world as a huge musical composition, unfolding around us ceaselessly. We are simultaneously its audience, its performers and composers.“ 9 Schafer identifiziert unsere Kultur als „eye culture“ und entwirft Kurse und Übungen zur stärkeren Ausbildung unserer Hörfähigkeit. So sollten listening skills integraler Bestandteil der schulischen Lehrpläne werden. Als einfache Übung sollten Schüler und Schülerinnen fünf Klänge – mit Ausnahme von Sprache und Musik – nennen, die sie heute bewusst wahrgenommen haben.10 Als Ear-cleaning-Übung schlägt er sound walks11 vor, die zu Feldstudien von Klanglandschaften und deren Dokumentation mittels Isobel-Karten,12 Tonaufnahmen und Klangbeschreibungen führen.13 Um die Merkmale dieser soundscapes klassifizieren zu können, entwickelt die Akustische Ökologie eine eigene funktionale Typologie von Klängen:14 Vor dem Hintergrund von key notes, die wie Tonarten in der Musik die grundlegende Stimmung einer soundscape festlegen (etwa Meeresbrandung in einer Hafenstadt), erklingen sound signals, die potenziell Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Klänge, die vom Menschen speziell beachtet werden und zum Beispiel der zeitlichen oder räumlichen Orientierung dienen wie Wasserfälle oder Kirchenglocken, werden – in Analogie zu landmarks – als soundmarks bezeichnet. Das Ziel von Schafers Terminologie ist es, that the sound of a particular locality (its keynotes, sound signals and soundmarks) can – like local architecture, customs and dress – express a community’s identity to the extent that settlements can be recognised and characterised by their soundscapes.15

Schafer unterscheidet daher auch zwischen den meist ruralen hi-fi soundscapes der vorindustriellen Zeit und den verkehrsdominierten lo-fi soundscapes16 von heute. Erstere zeichnen sich durch ein transparentes Klangbild wenig überlappender Einzelklänge mit klarer Trennung zwischen akustischem Vordergrund und 9 10

11 12 13 14 15 16

R. Murray Schafer, The Tuning of the World, New York 1977, revidierte Fassung: The Soundscape, Rochester 1994, 205. Kendall Wrightson berichtet, dass selbst Musikstudierende in seinen Vorlesungen kaum fünf Klänge nennen konnten („An Introduction to Acoustic Ecology“, in: Soundscape 1/1 [2000], 10– 13, hier 10). Ich habe diese Aufgabe auch in meinen Lehrveranstaltungen mehrfach gestellt und kann Wrightsons Ergebnisse bestätigen. Vgl. R. Murray Schafer, The New Soundscape: A Handbook for the Modern Music Teacher, Scarborough 1969. Isobel-Karten geben die örtliche Verteilung des Schallpegels in dB an, ähnlich wie die Höhenschichtenlinien in hügeliger Topographie. Schafer rief dazu das „World Soundscape Project“ ins Leben, z. B: „The Vancouver Soundscape“ (1978), „European Sound Diary“ (1977), „Five Village Soundscapes“ (1978). Eine umfassende Darstellung findet sich in Barry Truax, Handbook for Acoustic Ecology, Burnaby 1978. Wrightson, „An Introduction to Acoustic Ecology“, 10. „Hi-fi“ steht für ‚high fidelity‘, „lo-fi“ für ‚low fidelity‘.

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Hintergrund aus. Natürliche Umweltgeräusche mit variierenden Zyklen, die vom Wetter oder von Tieren stammen, sind ebenso wahrnehmbar wie die räumlichen Phänomene von Nachhall und Echo, die es Hörenden erlauben, sich auditiv in ihrer Umwelt zu verorten. Der akustische Horizont einer solchen hi-fi soundscape kann mehrere Kilometer betragen, wenn man das Dengeln der Sense vom gegenüberliegenden Berghang oder das Mittagsläuten aus dem Nachbardorf hört. Die Beschaffenheit der soundscape hat direkte physiologische Auswirkungen auf den Menschen. So ergaben Messungen der Herzrate und des Hautwiderstands, dass in transparenten bzw. als angenehm empfundenen Klangumgebungen Erholung nach Stressepisoden rascher stattfindet.17 Im Gegensatz dazu sind lo-fi soundscapes von stationären, lauten, mehr oder weniger informationslosen Geräuschen dominiert, die andere Klänge weitgehend maskieren.18 Die lo-fi soundscape schränkt den akustischen Horizont radikal ein, meist auf die unmittelbare Umgebung des Menschen, wenn die eigenen Schritte gerade noch hörbar sind und mit erhöhtem stimmlichen Aufwand ein Gespräch geführt werden kann. In besonders lauter Umgebung reduziert sich der akustische Horizont gar bis auf die Größe des Kopfes, wodurch sprachliche Kommunikation kaum mehr möglich ist, es sei denn, mein Gesprächspartner schreit mir ins Ohr.

Akustische Ökologie im Tierreich Das bisher beschriebene Verständnis von Akustischer Ökologie stellt das hörende Individuum in den Mittelpunkt einer Betrachtung, die auf einer Ontologie der Ersten Person fußt und soziologische und politische Implikationen, aber auch – wie die Arbeiten Schafers und anderer zeigen – Reaktionen und Interventionen im künstlerischen Bereich nach sich zieht. Ökologie als Wissenschaft von den Wechselbeziehungen zwischen Organismen und deren (natürlicher) Umwelt behandelt jedoch grundsätzlich das Verhältnis zwischen Pf lanzen, Tieren, Menschen und ihrer Umwelt, die wiederum durch Pf lanzen, Tiere und Menschen gekennzeichnet ist. Akustische Ökologie hat sich demnach auch mit den akustischen Wechselbeziehungen zwischen Organismen – hauptsächlich Tier und Mensch – und deren (natürlicher) Umwelt zu befassen, was eine systemische Betrachtungsweise von außen mit einer Ontologie der Dritten Person bedingt. Akustische Kommunikation im Tierreich erfüllt verschiedenste Funktionen. Diese reichen von der Werbung um Paarungspartner und der Kontaktaufnahme zwischen Eltern und Jungen über die Behauptung von Revieren bis zur Informationsweitergabe in der Gruppe, seien es Warnsignale oder die Mitteilung über er17 Oleg Medvedev / Daniel Shepherd / Michael J. Hautus, „The Restorative Potential of Soundscapes: A Physiological Investigation“, in: Applied Acoustics 96 (2015), 20–26. 18 Unter Maskierung versteht man das Phänomen, dass die Wahrnehmbarkeit eines Schalles durch die Anwesenheit eines anderen Störschalls, des Maskierers, reduziert wird.

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giebige Futterstellen. Akustische Kommunikation im Tierreich ist dabei meist so strukturiert, dass wechselseitige Maskierung kaum auftritt. Die Vokalisationen verschiedener Arten in einem Habitat sind so verteilt, dass sie einerseits weder im Frequenzspektrum (meist sind Tierlaute auf einen schmalen Frequenzbereich beschränkt) noch über die Zeit – im Tageslauf und über die Jahreszeiten – einander überlappen und andererseits an die anderen Umweltgegebenheiten, zum Beispiel Witterung, Bewuchs oder andere Schallquellen wie Wasserfälle, angepasst sind. Bernie Krause formulierte dies als „Akustische Nischenhypothese“,19 die in umfangreichen Feldstudien belegt wurde. 20 Wenn die gewohnte soundscape durch äußere Einf lüsse – das Eindringen anderer Arten ins Habitat oder anthropogenen Lärm – verändert wird, kann dies auf Ebene der Individuen zu verschiedenen Auswirkungen führen (Störung der akustischen Kommunikation oder der Orientierung, Scheucheffekte, verschiedene Stressreaktionen), die langfristig auch einen Dichterückgang oder eine Veränderung der Artzusammensetzung im Habitat zur Folge haben können. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die komplexen und oft indirekten Auswirkungen von Schall auf eine Population wurde 2016 in Nature vorgestellt:21 Auf den Golfinseln vor British Columbia, Kanada, sind Wölfe und größere Fleischfresser seit Längerem ausgestorben. Dadurch konnten sich Waschbären stark vermehren, was wiederum einen Dichterückgang ihrer bevorzugten Beutetiere, vor allem kleiner Krebse und Krabben, nach sich zog. In einem Experiment wurde die Reviere über längere Zeit mit Wolfsgeheul beschallt – es wurden keine Wölfe ausgesetzt, allein ihr Geheul war zu hören. Die Waschbären wurden durch die neue soundscape offensichtlich verängstigt und waren daher bei ihrer Futtersuche vorsichtiger und weniger erfolgreich. Dies führte zu einem Dichterückgang bei den Waschbären, einer Erholung der Krabbenpopulation und in weiterer Folge zu einem Einbruch der Population von Meeresschnecken, die die bevorzugte Beute der Krabben darstellen, und einer Fischart, die ebenfalls die Meeresschnecken als Futter nutzten. Die folgenschwerste Veränderung der akustischen Umwelt von Tieren ist sicherlich die vom Menschen verursachte Lärmbelastung. Tiere reagieren darauf durch eine Anpassung ihres Signaldesigns, die von kurzfristigen Veränderungen 19 Bernie Krause, „The Niche Hypothesis: A Hidden Symphony of Animal Sounds, the Origins of Musical Expression and the Health of Habitats“, in: The Explorers Journal 71/4 (1993), 156–160. 20 So stellt zum Beispiel Barry Truax den weitgehend komplementären jahreszeitlichen Lautstärkeverlauf verschiedener Tiervokalisationen und Wetterphänomene für die Westküste von British Columbia dar (Acoustic Communication, New Jersey 1984, 142). Eliot Brenowitz weist die spektrale Komplementarität zwischen den Vokalisationen des Rotschulterstärlings und dem Hintergrundgeräusch seines Habitats nach („Environmental Influences on Acoustic and Electric Animal Communication“, in: Brain, Behaviour and Evolution 28 [1986], 32–42). 21 Justin Suraci et al., „Fear of Large Carnivores Causes a Trophic Cascade“, in: Nature Communications 7/10698 (2016), http://www.doi.org/10.1038/ncomms10698 (30.1.2019).

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bis zu evolutionären Antworten reicht. So erhöht die Nachtigall die Lautstärke ihres Gesangs in lärmigen Umgebungen. 22 Die ‚Kosten‘ für dieses Verhalten sind ein erhöhter Energieverbrauch und die Gefahr, von einem Räuber leichter entdeckt zu werden. Als Alternativstrategie verlängert der Buckelwal im Sonarlärm seine Gesänge im Durchschnitt um ein Drittel. 23 Allerdings nutzen Tiere die vom Menschen verursachten akustischen Veränderungen manchmal, um ihre Paarungschancen zu erhöhen. So wurde in Taipei beobachtet, dass ein Frosch besonders gerne in der städtischen Kanalisation seine Lockrufe zum Besten gibt, um durch die Raumakustik die Tragfähigkeit seiner Stimme zu erhöhen. 24 Andere Arten verändern die Frequenzlage, um Maskierung zu verhindern und dadurch besser wahrgenommen zu werden. Meist kommt es wie bei der Singammer zu einer Frequenzerhöhung, da der Hauptstörfaktor Verkehrslärm vor allem tieffrequent ist. 25 Auch ein australischer Laubfrosch (litoria ewingi) quakt in der Nähe von Straßenlärm höher als in ruhigen Teichen. 26 Und in der Umgebung von rauschendem Wasser reicht die Frequenzverschiebung bei Fröschen und Vögeln durch evolutionäre Anpassung bis in den Ultraschallbereich. Manche Froschmännchen verstellen allerdings ihr Quaken auch in Richtung tieferer Frequenzen, um Größe vorzutäuschen. Dadurch wehren sie Konkurrenten ab und wirken auf Weibchen attraktiver, 27 allerdings bleiben sie im Straßenlärm ungehört und damit unerhört. Soviel zum Trade-off zwischen ‚Macho-Allüren‘ und wirklichem Paarungserfolg. Aber wie wehrt sich der Mensch gegen seine eigene lo-fi soundscape? Da hat man das Bedürfnis nach:

Abschotten, Neutralisieren, Übertünchen Abschotten hat eine lange Tradition. Bereits 1958 verfasste der schottische Werbetexter David Ogilvy den berühmten Slogan über den Rolls-Royce Silver 22 Eine ähnliche Reaktion findet sich auch in der menschlichen Sprachkommunikation und heißt „Lombard-Effekt“. 23 Patrick J. O. Miller et al., „Whale Songs Lengthen in Response to Sonar“, in: Nature 405/903, https://www.nature.com/articles/35016148 (30.1.2019). 24 W.-H. Tan et al., „Urban Canyon Effect: Storm Drains Enhance Call Characteristics of the Mientien Tree Frog“, in: Journal of Zoology 294/2 (2014), 77–84, https://doi.org/10.1111/jzo.12154 (30.01.2019). 25 William E. Wood / Stephen M. Yezerinac, „Song Sparrow (Melospiza Melodia) Sound Varies with Urban Noise“, in: The Auk 123/3 (2006), 650–659. 26 Kirsten M. Parris / Meah Velik-Lord / Joanne M. A. North, „Frogs Call at a Higher Pitch in Traffic Noise“, in: Ecology and Society 14/1 (2009), http://www.ecologyandsociety.org/vol14/iss1/ art25 (30.1.2019). Da bei vielen Fröschen die Tonhöhe angeboren ist, scheint es sich hier um evolutionäre Anpassung zu handeln. 27 Mark A. Bee / Stephen A. Perrill / Patrick C. Owen, „Male Green Frogs Lower the Pitch of Acoustic Signals in Defense of Territories: A Possible Dishonest Signal of Size?“, in: Behavioural Ecology 11/2 (2000), 169–177.

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Cloud: „At 60 miles an hour the loudest noise in this new Rolls-Royce comes from the electric clock.“ Der Fahrgast sitzt in seiner exquisiten Blase, die laute Welt bleibt draußen. Die Idee kompletter Abschottung lässt sich auch großräumig denken, wie Buckminster Fuller im Jahr 1965 mit seiner Klimahülle für Manhattan – gleichsam ein übergroßes Lärmschutzfenster – vorführte. Oder man betreibt Abschottung kleinräumig direkt am Ohr: Am Anfang stand die Sage vom betörenden Klang: Homers Erzählung, nach der sich die Gefährten des Odysseus mit Wachs in den Ohren gegen den Gesang der Sirenen wappneten, brachte den Berliner Apotheker Maximilian Negwer auf die Idee zu ‚Ohropax‘. Ihre Feuerprobe erlebten die knetbaren Pfropfen jedoch im Höllenlärm des ersten Weltkriegs. Wachskugeln waren der letzte, verzweifelte Schutz in Stahlgewittern. 28

Eine Alternative zur Abschottung ist der Versuch, den Informationsgehalt des störenden Schalls zu tilgen, also zu neutralisieren. So kennen wir die Situation, dass die Konzentrationsfähigkeit besonders leidet, wenn wir ein anderes Gespräch mitanhören müssen, weil dessen Inhalt unwillkürlich einen Teil unserer Aufmerksamkeit auf sich zieht. In Großraumbüros werden daher mittlerweile Sound-Masking-Systeme eingesetzt, die zusätzlichen Schall einspielen – oft Babble Noise, der wie unverständliche, mehrfach überlagerte Sprache klingt – und damit die Gespräche der Kollegenschaft zu maskieren suchen. Allerdings führt der erhöhte Schallpegel dazu, dass die eigene Stimme gehoben wird, was auf die Dauer anstrengend ist. 29 Wie das Rokoko reichlich Parfüm nutzte, um den eigenen Körpergeruch zu überdecken, so verwenden wir ‚akustisches Parfüm‘ in Form allgegenwärtiger Musik zum Übertünchen. Da Musik meist über Kopf hörer gehört wird – Abschotten und Übertünchen –, kann die Angelegenheit auch gefährlich werden, wie wir im Straßenverkehr oft erleben, wenn Kopf hörer tragende Radfahrer*innen akustische Warnsignale nicht mehr wahrnehmen können. Im Gegensatz zu den beschriebenen, meist nur empfängerseitig wirkenden Formen der Lo-fi-Bekämpfung betont die Akustische Ökologie Schafer’scher Prägung eine umfassendere Verantwortung für die klangliche Umwelt. Statt reiner Lärmbe28 Burkard Jürgens, „Siegeszug des Ohropax begann im ersten Weltkrieg“, in: Die Welt, 2. August 2014, https://www.welt.de/gesundheit/psychologie/article130815520/Siegeszug-von-Ohropaxbegann-im-Ersten-Weltkrieg.html (31.1.2019). Jürgens verweist auf das Buch Medizin und Krieg: Deutschland 1914–1924, in dem der Medizinhistoriker Wolfgang Eckart über das damals neue Phänomen der Kriegszitterer schreibt: „Körperlich unversehrt waren sie psychische Wracks; Überwältigte, die ‚dem infernalischen Brüllen und Kreischen berstender Metallgeschosse, dem perfiden Zwitschern, Summen und Pfeifen der Projektile und Querschläger, dem Kreischen und Gurgeln der Verletzten‘ nicht mehr standhalten konnten.“ 29 Yizhong Lei / Murray Hodgson, „Prediction of the Effectiveness of a Sound-Masking System in an Open-Plan Office Including the Lombard Effect“, in: Acta Acustica 99 (2013), 729–736.

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kämpfung in Form von Emissionsgrenzwerten verfolgt sie als Ziel das soundscape design, die sorgsame Gestaltung der gesamten Audiosphäre. Weniger der gesellschaftlichen Zielsetzung als dem ökonomischen Mehrwert verpflichtet ist hingegen:

Das Produkt-Sounddesign Heute ist es mit der Abschottungsstrategie von Rolls-Royce vorbei. Man will den Klang eines Produkts nicht mehr zum Verschwinden bringen, weil man – wie schon in den Anfängen der Automobilisten – wieder verstanden hat, dass das Geräusch eines Produkts etwas über seine Funktion und seinen Betriebszustand aussagt und Benutzer*innen ein Feedback bei der Verwendung gibt: „Ein guter Fahrer wird … stets bestrebt sein, einen Wagen zu fahren, der so ruhig wie nur irgend erreichbar läuft, denn dann zeigen sich etwaige Störungen am frühesten und deutlichsten und können mit wenigen Mitteln beseitigt werden.“ 30 Wer einen elektrischen Rasierapparat oder ein Epiliergerät verwendet, möchte das ruhige, kraftvolle Surren des Motors hören, das Schneidegeräusch, das uns sagt, dass auch die letzten Bartstoppeln abgeschabt oder die Beine perfekt glatt enthaart sind. Heute gestalten Hersteller den Klang ihrer Produkte ganz bewusst, um eine message zu transportieren. Man spricht von Sounddesign oder genauer von Product Sounddesign und im Falle des Ergebnisses von Product Sound Quality oder Quality of Product Sound. Aber eigentlich ist das Ziel des Herstellers nicht die Qualität des Klanges oder Geräusches, vielmehr soll der Klang von Qualität vermittelt werden. Ziel ist es, einen Klang oder ein Geräusch zu erreichen, das – meist unbewusst – als Indikator für die hohe Qualität des Produkts steht. Aber wie misst man den Klang der Qualität? Und weiter: Welche Eigenschaften des Klanges oder Geräuschs sind verantwortlich dafür, dass etwas nach Qualität klingt oder eben nicht? Wie misst man Product Sound Quality? Das Gefühl, ein qualitätvolles Produkt in Händen zu haben, muss ja im Käufer oder der Benutzerin selbst entstehen. Wenn hier von ‚Messung‘ die Rede ist, dann sicher nicht mit Messgeräten wie in den Naturwissenschaften oder in der Technik. Wir können nicht mit Elektroden ins Gehirn vordringen und dort das Qualitätsempfinden, das ein Klang auslöst, messen. Erstens gibt es nicht das eine Klangqualitätsneuron, das feuert, wenn uns ein Klang Qualität vermittelt, zweitens würde keine Ethikkommission eine solche Messung zulassen, und drittens würde das Messergebnis nur für eine spezielle Person gelten. Auf so ein Ergebnis kann man keine Produktlinie für ein Massenprodukt hoher Stückzahl auf bauen. Daher führt man Hörversuche mit mehreren Personen durch, die die Zielgruppe des Produkts möglichst gut repräsentieren. Am einfachsten ist es bei bestehenden Produkten derselben Kategorie, die Ak30 Rudolf Heßler, Der Selbstfahrer: Ein Handbuch zur Führung und Wartung des Kraftwagens, Leipzig 1926, zit. nach Krebs, „Automobilgeräusche als Information“, 99.

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zeptanz oder Präferenz des Produktklangs entlang einer Skala bewerten zu lassen und so unter anderem eine benchmark für die Produktgruppe zu etablieren. Man kann das auch umgekehrt machen – und tut das auch häufig – und nach der Lästigkeit des Geräuschs fragen. Das klingt allerdings einfacher als es ist. Das erste Problem ist die Frage des Versuchsauf baus: Führt man den Hörtest im Labor durch oder in einem ökologischen Setting, also in einer typischen Nutzungssituation des Produkts? Im Labor lassen sich alle Bedingungen kontrollieren und störende Einf lüsse vermeiden. Ein solcher, meist raumakustisch speziell behandelter Raum mit abgedimmtem Licht, Lautsprechern oder Kopf hörern und einem Interface zur Steuerung des Versuchs und zur Eingabe der Antworten ist jedoch alles andere als ein natürliches Umfeld für die meisten Produkte. Wie stark zum Beispiel das visuelle Umfeld und damit multimodale Effekte wirken, zeigt anschaulich der Einf luss von Bildern. So wurde in Hörversuchen die Lautstärkeeinschätzung der Vorbeifahrt von Schnellzügen bei verschiedener Bebilderung getestet. Dabei wurde dieselbe Klangszene, einmal allein und dann gemeinsam mit verschiedenfarbigen Abbildungen von Zügen – keine Filme, nur Fotos – präsentiert. Als Ergebnis zeigte sich, dass ein grüner Zug um 20 % leiser wirkt als ein roter. 31 Das ist wohl auch der Grund, warum die meisten Ferraris rot sind. Dadurch wirkt der Sound testosteronhaltiger, passend für die Zielgruppe. Selbst die geeignete Definition der Zielgruppe stellt eine Hürde dar, da Klangbewertungen in verschiedenen Regionen oft stark divergieren, was bei international vermarkteten Produkten zum Problem wird. So gibt es große interkulturelle Unterschiede in der Lästigkeitsbewertung bei Fahrzeuginnengeräuschen zwischen Japan und Europa. 32 Welche Eigenschaften des Klanges oder Geräuschs sind verantwortlich dafür, dass etwas ‚gut‘ klingt? Zur Beantwortung dieser Frage wird versucht, objektiv bestimmbare Parameter des Klanges anhand mathematischer Methoden zu beschreiben, wobei die gewählten Analyseparameter tunlichst relevante Aspekte der menschlichen Hörwahrnehmung abbilden sollen. Die psychoakustische Signalverarbeitung möchte also die Eigenschaften des Klanges, die der Mensch wirklich hört und unterscheiden kann, quantitativ als Zahlenwerte ausdrücken. Typische Parameter sind die Lautstärke, 33 die Schärfe, die die Dominanz hochfrequenter 31 Hugo Fastl, „Audio-Visual Interactions in Loudness Evaluation“, in: Proceedings of the 18th International Congress on Acoustics, Kyoto, Japan, Kyoto 2004, 1161–1166. Übrigens zeigte der Versuch auch, dass das deutsche ICE-Design etwa gleich laut wirkt wie der rote Zug (Christine Patsouras / Thomas G. Filippou / Hugo Fastl, „Influences of Colour on the Loudness Judgement“, in: Proceedings Forum Acusticum Sevilla [2002], PSY-05-002-IP [CD-ROM]). 32 Muhammad M. Hussain / Martin Pflüger / Franz K. Brandl, „Intercultural Differences in Annoyance Response to Vehicle Interior Noise“, in: Proceedings of Euro-Noise 3 (1998), 521–526. 33 Die entsprechende psychoakustische Größe heißt eigentlich Lautheit.

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Anteile beschreibt, oder die Rauigkeit, die für Instabilität und Dissonanz des Geräusches steht. Als letzter Schritt wird meist ein sogenanntes Regressionsmodell erstellt, das versucht, die Ergebnisse der Präferenzurteile der Versuchspersonen durch diese objektiv bestimmbaren Parameter nachzubilden. Kurz gesagt: Man entwickelt ein Computerverfahren, das das Antwortverhalten einer mittleren Versuchsperson der Zielgruppe möglichst genau reproduziert, und sieht anhand des Modells, welche Klangeigenschaften des eigenen Produkts verstärkt und welche reduziert werden müssen, um ‚besser‘ zu werden. Wenn schlussendlich klar ist, welche Klangcharakteristika in welcher Zusammensetzung die Qualität ausmachen: Wie konstruiert man das Produkt, damit es so klingt wie gewünscht? Das ist die Aufgabe der Entwicklungsingenieure in der Industrie. Da müssen Kühlrippen umkonstruiert, Gehäuseteile versteift, Motorlager verändert, Abdeckungen versetzt und Zahnradübersetzungen optimiert werden. Wenn sich der ganze Aufwand gelohnt hat und am Markt Erfolge in Aussicht stehen oder schon eingefahren werden, will das Produkt, oder am besten sein Sound, geschützt werden, um Nachahmer in die Schranken zu weisen. Entsprechende Patentanträge weisen in ihren umfassenden Ansprüchen durchaus surreale Züge auf und scheitern daher auch allzu oft, 34 wie das Beispiel von Harley Davidson zeigt: Die Firma wollte den Sound ihrer Motorräder, die bereits seit den 1930er Jahren produziert werden, 1994 schützen lassen und musste den Antrag nach einer Flut von Einsprüchen 2000 entnervt wieder zurückziehen. 35

Einsteins Nachtigall Was aber ist zu tun, wenn ein Ding nicht etwa einen ‚schlechten‘ Klang von sich gibt, sondern überhaupt keinen Mucks macht? Die oft herbeigesehnte Stille kann in Situationen, in denen man Sound als Kommunikationsträger benötigt, zum Problem werden. Elektroautos, die – bei geringen Geschwindigkeiten praktisch geräuschlos – im von Verbrennungsmotoren dominierten Straßenlärm nicht bemerkt werden, werden so zum Risiko für andere Verkehrsteilnehmer*innen. Mittlerweile sieht daher eine entsprechende EU-Richtlinie den Einbau eines Acoustic Vehicle Alerting System vor. 36 34 Nach Angaben des US Patent and Trademark Office betreffen nur 23 der über 729.000 eingetragenen Warenzeichen in den USA Klänge und Geräusche, vgl. Michael B. Sapherstein, „The Trademark Registrability of the Harley-Davidson Roar: A Multimedia Analysis“, in: Boston College Intellectual Property & Technology Forum (1998), http://bciptf.org/wp-content/uploads/2011/07/48-THETRADEMARK-REGISTRABILITY-OF-THE-HARLEY.pdf (30.01.2019). 35 John O’Dell, „Harley-Davidson Quits Trying to Hog Sound“, in: The Los Angeles Times, 21. Juni 2000. 36 Pressemeldung der Europäischen Kommission, „Commission welcomes Parliament vote on decreasing vehicle noise“, EC Press Release Database [02.04.2014], http://europa.eu/rapid/press-release_IP-14-363_en.htm (18.01.2019).

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Solche akustischen Warnsysteme sind allerdings keineswegs eine neue Erfindung. Bereits im 17. Jahrhundert waren japanische Shogune bemüht, sich in ihren Palästen gegen Anschläge unbemerkt eindringender Attentäter zu schützen, und statteten daher die Zugänge zu ihren Gemächern mit Nachtigallenböden aus. 37 Diese Fußbodenkonstruktion verursacht bei jedem Schritt ein Geräusch und verrät dadurch den auf leisen Sohlen wandelnden Ninja-Krieger. Die zirpenden Töne entstehen beim Betreten des Bodens durch Verschiebungen von Zapfen, mit denen die Dielen des Fußbodens befestigt sind. Als letztes Beispiel für Klang als bewusst eingesetztem Kommunikationsträger für stumme Phänomene sei eine bahnbrechende Entdeckung aus der Physik genannt. Albert Einstein hatte in seiner Allgemeinen Relativitätstheorie die Existenz von Gravitationswellen vorhergesagt, die durch große Masseverschiebungen verursacht werden und sich mit Lichtgeschwindigkeit im Kosmos ausbreiten. Die experimentelle Bestätigung dieser Wellen wurde 2016 vom Laser Interferometer Gravitational-Wave Observatory bekannt gegeben. 38 Um das ziemlich abstrakte Phänomen der Öffentlichkeit anschaulich näherzubringen, wurde das Empfangssignal des Detektors in Klang übersetzt und findet sich in mittlerweile über 2.000 Videos auf YouTube. Erfolgreicher war wohl noch keine Transmedialisierung des spröden Texts Einstein’scher Feldgleichungen. Ob allerdings das simple ChirpSignal, ein Sinuston mit ansteigender Frequenz und einer Dauer von einer Sekunde, viel zum tieferen Verständnis der zugrundeliegenden Theorie beiträgt oder – auf die affektive Kraft des Klangs hoffend – die Begeisterung für theoretische Physik entfacht, darf getrost bezweifelt werden.

37 Nachtigallenböden ( jap. 鴬張り, uguisubari) gibt es zum Beispiel in der Ninomaru Residenz der Burg Nijō in Kyoto, vgl. etwa https://www.youtube.com/watch?v=jJThECzA1bc (30.1.2019). 38 B. P. Abbott et al., „Observation of Gravitational Waves from a Binary Black Hole Merger“, in: Physical Review Letters 116/061102 (2016), 1–16, https://doi.org/10.1103/PhysRevLett.116.061102 (30.1.2019). Für das Paper sind über 100 Autor*innen genannt.

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Starke Einbildungskraft Gespräch über Chatwin 1 Andreas Dorschel Schmutzige Häuser starrten aus ihren Fenstern wie mit blöden, fremden Augen. Ein brandiger Geruch lag in der Luft, doch nirgends sah man Feuer. Von den Docks her zog eine Brise herüber; sie pfiff durch Dachgauben und Luken, aus denen die Rahmen gerissen waren: viereckige und runde Löcher. Auf Liverpools Straßen trieb der Wind Abfall vor sich her. Bei The Vines, dem im gewaltsamen Stil eines phantastischen Barock gehaltenen Public House der Brauerei Robert Cain, bog eine Frau vom Copperas Hill in die Lime Street ein. Mühselig suchte ein Mann an einem Backsteinbau dieser Straße eine lange Reihe Klingelknöpfe ab. Die Frau trat rasch auf das Haus zu, musterte den Suchenden, redete ihn an – so vertraulich, als wäre er ihr bekannt. Sie: Trüb ist es. Er: Ach ja, die Krise. Sie: Ich meine den Himmel. Er (aufblickend): Ist nicht auch der Himmel in der Krise? Sie: Dieser Himmel, ja. Er: Ich sehe aber einen Silberstreif am Horizont. Sie: Den bilden Sie sich nur ein. Er: Nicht ein – ich bilde nur ab. Wie eine lichtempfindliche Platte. Ich reagiere sofort. Sie: Die Phantasie produziert Fehlbelichtungen. Sie haben offenbar keine blühende, sondern eine leuchtende. Er: Gar nicht. Nur scharfe Augen. Sofern ich die richtige Brille trage. Sie: Eine, die Graues versilbert? Er: Die Gläser sind ganz klar. Sie: Vielleicht klar genug zum Suchen, offenbar nicht klar genug zum Finden. 1

Der Titel „Starke Einbildungskraft“ ist ein Mahlerscher: Nr. 4 der Neun Lieder und Gesänge aus Des Knaben Wunderhorn (Das Gedicht zuerst in: Achim von Arnim / Clemens Brentano [Hg.], Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, Heidelberg 1806, 373–374). Dem Lied bescheinigt Peter Revers, es bleibe „von Problemen weitgehend frei“, sei „usuell“ und „im Bereich des Naiv-Konventionellen“ zuhause (Mahlers Lieder. Ein musikalischer Werkführer, München 2000, 88). So stellt sich die Frage, was eine wahrhaft starke Einbildungskraft wäre, unkonventionell, problematisch, jenseits des Usus. Das ist Gegenstand des Dialogs. Instruktiv sind die beiden kleinen Studien von Salman Rushdie, „Travelling with Chatwin“ und „Chatwin’s Travels“ in: Imaginary Homelands. Essays and Criticism 1981–1991, London 1992, 232–237, 237–241.

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Er: Viele Namensschilder sind herausgerissen. Sie: Verzogen, die meisten. Wen suchen Sie denn? Er: Einen William Bradshaw. Er kannte einen Schriftsteller näher, den ich sehr schätze. Sie: Bradshaw werden Sie hier nicht mehr finden. Er ist letzte Woche gestorben. Auf die tiefste Stufe gesunkener Adel. Ein halbes Leben lang malte Bradshaw Christbaumkugeln an. Dann übernahm das eine Maschine; für die andere Hälfte seines Lebens war der Mann arbeitslos. Dies ist das Haus meiner Tante und ich kenne jeden Bewohner. Ich habe hier immer wieder einmal für ein paar Wochen gelebt. Er: Tot. Ich komme immer zu spät. (will gehen) Sie: Gehen Sie nicht; kommen Sie herein. (Sie betreten das Haus, dann die Wohnung im Erdgeschoss.) Vielleicht sind Sie besser dran, sich Bradshaw im Kopf zu bilden, als ihm in Wirklichkeit begegnet zu sein. Er war ein garstiger Zeitgenosse. Er: Das Garstige, das man sich vorstellt, ist nie so gut wie das Garstige, das man trifft. Sie: Ich zöge es vor, mir Liverpools miserables Wetter vorzustellen, bei strahlendem Sonnenschein, als es noch einen Tag länger wirklich auszuhalten. Er: Ein wirklicher Regen hat Nuancen, an die keine Imagination reicht. Sie (ein Buch bei ihm bemerkend): Aus Ihrer Anzugtasche lugt Bruce Chatwins In Patagonia. Ein weiteres Medium Ihrer Klarsicht? Er: Ich lese das Buch bereits zum dritten Mal. Und entdecke immer Neues darin. Sie: Sie sehen aber aus wie einer, dem Altes lieber wäre. Er: Versuchen Sie, mir Chatwin auszureden? Er ist der Autor, den ich so schätze. Bradshaw kannte Chatwin. Wir haben Briefe miteinander gewechselt; ich wollte ihn heute über Chatwin befragen. Bradshaw war offenbar fasziniert von dem Mann. Diese Faszination möchte ich verstehen. Sie: Nichts nutzt sich schneller ab als Faszination. Was ist sie anderes als ein Strohfeuer der Phantasie? Er: Chatwin war schon zu Lebzeiten eine Legende; er blieb es bis heute. Sie: An der Legende sind die Phantasien des Publikums zu studieren. Über Chatwin erfährt man nichts aus ihr. Er: In seiner Legende hat Chatwin offenbar selbst die Ausgeburt des Unverständnisses erkannt, die sie war. Aber er hütete sich, sie anzutasten. Seine Zeit war, wie er ahnte und endlich wusste, zu knapp bemessen, die Legende zu zerstören und eine neue an ihre Stelle zu setzen. Was ich suche, ist nicht ganz und gar von Chatwins Legende zu trennen und doch etwas anderes. Sie: Sie wollen ihn sehen, wie er war? Er: Bradshaw kam, wie er mir schrieb, mit Chatwin an Tyson Smiths Kenotaph der Gefallenen des Ersten Weltkriegs vorbei, hier an Lime Street. Eine 846

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Viertelstunde blieb Chatwin wortlos vor dem Relief stehen; dann sagte er: „Der einzige Bildhauer, der den Tod Tod sein ließ, statt ihn zur Allegorie zu machen. Ich hasse Allegorien.“ Er lehrte Bradshaw, der jahrelang achtlos an der riesigen Bronze, wie an vielem anderen, vorübergestreift war, seine nächste Umgebung zu sehen. Sie: Meine nächste Umgebung bestand vor langer Zeit einmal in Bruce Chatwin selber. Beruf lich, zu meinem Pech, nicht, zu möglichem noch größeren Unglück, privat. Er umgab mich aber auf lehrreiche Art. Für das Sunday Times Magazine, in dessen Redaktion er und ich uns damals ein Büro teilen mussten, schrieb Chatwin eine phantasievolle Reportage über Toxteth, das in vier Jahrhunderten vom königlichen Jagdgrund, einige illustre Zwischenstationen passierend, zum Slum abgestiegen war. Er hatte kaum nötig zu sehen oder zu hören, worüber er etwas zu Papier brachte. Talent und Frevel gingen da ineinander, wie man ja auch zu jedem Frevel das Talent haben muss. Mit den dunkelhäutigen Toxtethern brauchte Chatwin gar nicht erst zu reden. Stattdessen setzte er sich in die Toxteth Library, las Flaubert, und dachte sich zwischendurch aus, was die Gegenstände seiner Reportage gesagt haben würden, hätte er mit ihnen gesprochen. Er: Gegenstände, von denen er bloß phantasierte? Sie: Nicht ganz. In Sheffield geboren, in Birmingham aufgewachsen, kannte er sich in und mit Heruntergekommenem aus. Auch mit Heruntergekommenen. Sinken war sein Fach. 847

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Er: Er hatte es gern? Sie: Im Gegenteil. In steilem Aufstieg begriffen, eingestellt als Berichterstatter über die seltenen Hohenf lüge der Kunst, hasste er das Gemeine und warf den Scharf blick des Hassenden darauf. Der Hass steht ja der Gleichgültigkeit ebenso fern wie die Liebe ihr fernsteht. Beide dringen ein. Chatwin war in Toxteth am rechten Ort und übrigens auch in diesem Haus. Da er mit dem Zug in Lime Street Station ankommen würde, bot ich ihm an, eine Nacht hier zu verbringen. Er blieb eine Woche. Mit Bradshaw freundete er sich gleich am ersten Abend an. Er: Mit diesem Absteiger hat er also doch gern geredet. Sie: Er hatte eine Schwäche für Adlige, selbst für die deklassierten. Gerade für die deklassierten wie den König von Araukanien und Patagonien. Sie mochten ihn und schenkten ihm alte Orden; er mochte Orden und sie. Der aristokratische Sinn für Distanz ließ den Umgang beider Parteien erträglich werden. Er: Ins Büro des Sunday Times Magazine mit Chatwin gepfercht, fehlte offenbar der Abstand und folgerichtig auch der erträgliche Umgang. Sie: Chatwin war eingebildet. Er: Vielleicht die Nebenwirkung einer starken Einbildungskraft? Sie: Man sah ihm an, dass er sich sehen ließ. Alles musste für ihn zur Szene werden. Er: Wenn nur die Szene stark war. Sie: Sie war Teil einer endlosen Theaterprobe zu einem Stück, das niemals aufgeführt wurde. Er: Ein Probieren, das, so urteilten die meisten Zuschauer, besser ausfiel als jedes festgeschriebene Stück Sie: Ich wurde aus ihm nicht klug. Er: Muss das an Chatwin gelegen haben? Sie: Je länger ich mit ihm zu tun hatte, desto weniger mochte ich ihn. Er wollte bloß die Büroarbeit nicht machen. Arbeit, die doch gemacht werden muss und von der ich mehr zu machen hatte, weil Chatwin und seinesgleichen sie nicht machten. Sein legendäres Telegramm an den Chefredakteur, mitten hinein in die vorweihnachtliche Arbeitsf lut des Jahres 1974, „Gone to Patagonia for four months“, fand ich so unverschämt wie erfreulich. Er: Ich habe gehört, das Telegramm sei Chatwins nachträgliche Erfindung gewesen; er habe es nie gesandt. Sie: Ich habe es gesehen. Er: Man meint manchmal zu sehen oder gesehen zu haben, was ins Bild passt. Wie auch immer: War die schmale Welt des Sunday Times Magazine annehmlicher, seit Chatwin sich in die weite Welt verf lüchtigte? Sie: Seine Nachfolgerin nahm sich der Büroarbeit an.

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Er: Und hinterlässt die Büroarbeit so bemerkenswerte Resultate wie Chatwins Abneigung gegen Büroarbeit sie hinterließ? Was halten Sie von seiner patagonischen Reise? Sie: Er sagt irgendwo, er sei gereist, um etwas zu erfahren. Das Schreiben sei nur ein Abfallprodukt seiner Erfahrungen. Wer eine Mahlzeit genießt, muss irgendwann ausscheiden. So musste Chatwin schreiben, weil er reisend etwas erfahren hatte. Ob er einen Brief schrieb, eine Reportage oder einen Roman: Immer lud er auf seinen Lesern ab, was mit sich herumzuschleppen er keine Lust mehr hatte. Selbst darin war er noch selbstsüchtig. Er: Ein Selbstsüchtiger sucht das Selbst, das da ist, zu befriedigen. Chatwin ist gereist, um sein altes Ich hinter sich zu lassen und ein neues zu finden. Sie: Die Welt in den Dienst des alten Selbst nehmen oder eines neuen – ich sehe in dem einen ebenso sehr Selbstsucht wie im anderen. Er: Selbstsucht kann bemerkenswerte Resultate haben, wenn das Selbst danach ist. Oder, wie in Chatwins Fall, danach wird. Den Abfall eines solchen Selbst, wenn es fährt und erfährt, ziehe ich den adretten Ergebnissen sesshafter Büroarbeit vor. Sie: Beim Fahren erlebte ich ihn später, im Auto, auf dem Rückweg von Liverpool nach London. Bei jedem Blick in den Rückspiegel war er von seinem eigenen Bild gefesselt und rückte seine Gesichtszüge zurecht. Er: Auch ich hätte lieber Chatwins Gesicht betrachtet als die M6. Sie: Für die Wahl zwischen beiden Objekten gebe ich Ihnen zögernd Recht. Aber bei ihm trat das Subjekt immer vor das Objekt. Danach waren dann die Erfahrungen, die er fahrend machte. Absonderliche Dinge stehen in seinem Reisebuch. Er: Höchst absonderliche. Sie: Grelles Zeug. Es erinnert mich an Chatwin in den Räumen des Sunday Times Magazine. Sie änderten ihren Charakter, sobald und solange er da war. Halb Irrenhaus wurde die Redaktion dann, halb Probebühne eines Theaters. In unserem Büro stand er plötzlich auf und steuerte auf den Schreibtisch Francis Wyndhams, des leitenden Redakteurs, zu, schrille Schreie ausstoßend. Er: Das Schrille weckt statt einzulullen. Sie: Den Lärm macht das Aufeinanderprallen der Widersprüche. Versichert Chatwin nicht – an welcher Stelle, ist mir entfallen –, er habe die leere Weite Patagoniens aufgesucht, um zum Wesentlichen zu gelangen: sich selbst zu suchen und zu finden? Das Zeugnis, das er von dieser Suche hinterließ, ist ein Sammelsurium des Disparaten. Er: Darin handelte er wie alle Welt. Nachdem er sich gesammelt hatte, zerstreute er sich. Aber wie er sich sammelte und wie er sich zerstreute, darin ist er

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nicht wie alle Welt. Absonderlich, was noch kein Kompliment wäre, und, was eines der stärksten ist, bedeutsam. Sie: Was finden Sie an Chatwins Suche nach einem Stück Faultierhaut bedeutsam? Much Ado about Nothing. Er: Es ist doch gerade Chatwins Pointe, dass dieses Stück Haut so wenig ist – eigentlich fast nichts – und so viel in Gang setzt. Zu Beginn scheint es mehr als es ist. Das Kind erblickt es als repräsentativen Gegenstand in einer Glasvitrine der Großmutter. Es soll von einem Brontosaurus stammen. Der Junge möchte es erben, doch nach dem Tod der Großmutter wird es versehentlich weggeworfen. Der erwachsene Chatwin bricht in die Weltgegend auf, aus der es stammte – nach Patagonien. Welche Kraft, Wert zu verleihen, muss in der Imagination liegen, wenn ihretwegen das Leben eines Menschen für Monate um ein Stück Dreck kreist. Sie: Das finden Sie bewundernswert? Ich finde es lächerlich. Er: Vielleicht ist es beides zugleich. Sie: Sie haben mit etwas anderen Worten gesagt, der Mann sei einem Phantom hinterhergehechelt. Das mag man lächerlich finden oder, im Gegenteil, traurig. Dafür zu schwärmen überlasse ich Ihnen. Er: Ich schwärme nicht. Ich erkenne die Notwendigkeit. Damit ein Leben wert ist gelebt zu werden, muss es eine Suche sein. Wäre das Gesuchte schon da, als Gegebenes, müsste man es nicht suchen. Also kann das Ziel der Suche nur imaginiert sein. Sie: Ein Phantom. Er: Wahrscheinlich hat sich noch nie jemand an große Dinge gewagt, ohne das im Sinn gehabt zu haben, was Sie ein Phantom nennen. Offenbar muss immer das Unmögliche versucht werden, damit einer das Mögliche erreicht. Sie: Und um dies nützliche Werk zu verrichten, wäre uns die Phantasie verliehen? Ein Rädchen im Getriebe, das sich höher denn alle Rädchen wähnt? Er: Von der Phantasie Rechenschaft geben zu wollen, fällt mir nicht ein. Sie zählt zu den verborgenen Künsten der Seele. Magische Vermögen entziehen sich jeder Erklärung. An ihnen ist etwas, das wir nie ganz verstehen können. Nur eben diesen Zipfel erhaschen wir an der Phantasie: dass sie aufs Unmögliche zielt und dass ihr das Mögliche zufällt. Sie: Das Mögliche, das sich am Ende von Chatwins Reise, im 93. Kapitel, als Wirkliches enthüllt, sind einige Haufen Faultierkot. Er: Es enthüllen sich unterwegs außerdem noch ein paar Einsichten. Sie: Mir haben sie sich nicht enthüllt. Vielleicht springt ihre Nacktheit besser vom männlichen Autor auf den männlichen Leser über. Er: Keine Sorge, Chatwin war auch in dieser Hinsicht bisexuell. Sie: Bisexualität verdoppelt jedenfalls die Chance auf ein Rendezvous. Er: Die Chance auf ein Rendezvous unserer Köpfe, ihres und meines, scheint sich mit jedem Wortwechsel zu halbieren. Wir kriechen voneinander weg. 850

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Sie: Dann helfen Sie mir auf die Sprünge. Er: In einem seiner Essays berichtet Chatwin von seinem Besuch bei Eileen Gray. Die große Designerin hatte an der Wand ihrer Pariser Wohnung zwei Landkarten Patagoniens, von ihr selbst in Gouache gemalt. Chatwin sagte Gray, dies sei eine der Weltgegenden, in die er schon immer habe reisen wollen. Sie auch, antwortete die alte Frau. 94 Jahre war sie damals. Wenn sie jung wäre, würde sie losziehen, um Kap Hoorn zu sehen. „Allez-y pour moi.“ Und er versprach es. Sie wird glücklicher gestorben sein, weil jemand ihren Traum wahr machte. Sie: Chatwin hat ihren Traum falsch gemacht. Sie hatte nicht ersehnt, am Ende in einer Höhle vor Faultierkot zu stehen. Ihre Reise wäre anders gewesen, von Schönheit geleitet, wie so vieles in ihrem langen Leben. Sie starb in einer Illusion. Er: Aber glücklicher. Sie: Möchten Sie für sich selber ein Glück, das auf einer Illusion beruht? Er: Das Wissen darum, dass es eine sei, unterhöhlt die Illusion. Sie: Dies Wissen ist immer zu haben, sofern man es nur will. Man kann zum Beispiel nicht ‚für jemanden reisen‘. Dass man es könnte, kommt nur in sentimentalen Tagträumen vor. Denn die Reise – das wäre ja die Erfahrung des Reisens. Eine Erfahrung aber kann man nur selber machen. Ihre Erfahrungen sind keine Erfahrungen für mich, und Chatwins keine für Eileen Gray. Die alte Frau hat sich selbst belogen, und Chatwin hat ihr die Lüge wie Honig um den Mund geschmiert. Das ist nun allerdings eher traurig als lächerlich. Zu bewundern ist wiederum nichts. Er: Wenn alle sich an die Tatsachen hielten und ihre Phantasie aus dem Spiel ließen, dann, so meinen Sie, wäre die Welt, wie sie sein sollte. Realistisch finden Sie diese Vorstellung. Aber sie ist blind fürs Reale. Sie könnten zum Beispiel dieses Gespräch mit mir nicht führen ohne Phantasie. Jede wirkliche Erfahrung schließt Phantasie ein. Was Sie an mir vor sich sehen, ist eine Klappe, die sich öffnet und schließt, Laute ausstoßend. Sie: Gut beschrieben. Er: Dass hinter dieser Klappe einer ist, der denkt – Sie unterstellen das auch, wenn Sie meinen, dass ich verkehrt denke –, ergänzt bereits Ihre Einbildungskraft. Sie nimmt im Umriss vorweg, was ich als nächstes sagen könnte. Sonst wären Sie nicht in der Lage, geistesgegenwärtig zu reagieren. Sie: Eine Geistesgegenwart, die also nicht bloß Gegenwart des Geistes ist? Er: In ihr steckt immer schon ein Stück Zukunft des Geistes. Sie: Und so, finden Sie, reagiere ich? Es wäre Ihre erste Schmeichelei für heute. Er: Sie reagieren so im Rahmen Ihrer Möglichkeiten. Sie: Ich dachte mir schon, dass keine Schmeichelei daraus würde. Er: Etwas in etwas zu sehen, erfordert stets Einbildungskraft. Man muss nicht gleich in einem Sandkorn die Ewigkeit sehen, wie William Blake es tat. Das voll851

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bringt nur die große Einbildungskraft. Wir, die wir keine Blakes sind, erblicken nicht das Größte im Kleinen. Aber etwas phantastischen Überschuss produzieren auch wir. Im Rahmen unserer Möglichkeiten. Sie: Käme es nicht auf die Wirklichkeit an? Er: Es hat keinen Sinn, das eine gegen das andere auszuspielen. Wirkliches von dieser Art ist, was es ist, aufgrund des jeweils Möglichen. Etwas erleben und etwas mitteilen kann ich nur, sofern ich imstande bin, über das, was vor meiner Nase liegt, hinauszugehen. Phantasie ist kein realitätsfremder Luxus. Sie ist die erste und letzte Bedingung des Umgangs mit Wirklichem. Sie: Wenn die Phantasie in dieser Weise Gemeingut wird, springt kein Sonderlob Chatwins mehr heraus. Auf ein solches waren Sie aber von Anfang an versessen. Er: Es gibt verschiedene Formen, mit seiner Phantasie zu arbeiten. Sie: In welcher hätte denn Chatwin besonders geglänzt? Er: Bei vielen betäubt das Phantasieren ihre Wahrnehmung. Tagträumend sehen sie nicht mehr, was um sie vorgeht. Bei Chatwin war es umgekehrt. Seine außerordentliche Beobachtungsgabe entsprang seinem Einfallsreichtum, statt dass dieser sie narkotisierte. Seine Phantasie brachte fernste Dinge ins Spiel und gerade neben ihnen sprang das Besondere des Nahen, vor Augen Liegenden auch in sein und unser Auge. Seine Einbildungskraft ließ ihn so das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen erkennen. Eine Kraft, zu Recht so genannt: Das Erfundene machte ihn aufmerksamer für das Nicht-Erfundene. Diese Aufmerksamkeit leiht Chatwin uns, wenn wir ihn lesen. Er erzählt keine Unwahrheit, auch keine Halbwahrheit, sondern anderthalb Wahrheiten. Sie: Ihre Wahrheit Einskommafünf – ist sie die sonst so genannte poetische Wahrheit? Er: Die Wahrheit nach Ressorts zu teilen ist immer bloß ein Manöver im Notfall. Die poetische Wahrheit, die religiöse Wahrheit, die Wahrheit der Gefühle: Wer davon plappert, will eine Sache in Sicherheit bringen, an der die Wissenschaft den Verstand vermisst. Vor solchen Bergungen drücke ich mich. Mir geht es nicht um eine Sparte. Ich gehe bei Chatwin, dem Nichtbürokraten, aufs Ganze. Man sieht Patagonien anders, man sieht es überhaupt erst, wenn sein Buch einem die Augen für das Land geöffnet hat. Sie: Die Augen? Wortkram, der das Buch ist, souff liert es eher den Ohren von Touristen, die zu Hause brave Kreaturen des Büros sind. Das Sehen haben sie sich dort abgewöhnt. In Patagonia ist ihr Kult geworden und wirkt auf sie als verbale Droge. Den Patagoniern selbst wurde schlecht über Chatwins anderthalb Wahrheiten. Manche fühlten sich vom Empire noch einmal kolonial überwältigt, durch die Gewalt eines internationalen Bestsellers, der sagte, wer sie waren. Sofern sie mit Chatwin geredet hatten, mühten sie sich, die Lügen zu berichtigen, zu denen das Patagonienbuch Gehörtes und nur halb Gehörtes exaltierte. Unter 852

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den Formen, mit seiner Phantasie zu arbeiten, wie Sie es nennen, scheint mir dies Chatwins eigentliches Metier gewesen zu sein. Ich zähle es zur harten Arbeit. Der Lügner geht kraft seiner Phantasie heftig über das hinaus, was vor seiner Nase liegt. Zugleich muss er ein gutes Gedächtnis haben, sonst verheddert er sich in seinen Lügen. Vermutlich kennen Sie die seltenen Produkte der Einbildungskraft, zu denen Chatwin bis zuletzt seine Erkrankung an AIDS erhob. Loulou de la Falaise ließ er wissen, er habe ein tausend Jahre altes Ei gegessen, das faul gewesen sei. Das wäre eigentlich keine schlechte Geschichte für George Ortiz, den Antiquitätensammler, gewesen. Ihm erzählte Chatwin aber, er habe sich an den Fäkalien einer Fledermaus angesteckt. Matthew Spender erfuhr, der Verzehr einer Scheibe von rohem Kanton-Walf leisch habe die Krankheit verursacht. Seiner Schwiegermutter schrieb Chatwin, die Pilzinfektion des Knochenmarks, die er sich zugezogen habe, sei noch nie an einem Europäer diagnostiziert worden – es gebe zehn gesicherte Fälle unter chinesischen Bauern, ferner einige wenige in Thailand. Gleiche Symptome habe man sonst nur am Kadaver eines Schwertwals entdeckt, der an den Küsten Arabiens angeschwemmt worden sei. Von einer Krankheit, die ihn zu befallen würdig wäre, verlangte Chatwin, dass sich eine Geschichte aus ihr machen ließ. Mit seinem Phantasieren musste er am Ende im Orient stranden. Er: Haben Sie das letzte Interview gesehen, das Chatwin einem Fernsehsender gab, kurz vor seinem Ende? Abgemagert bereits bis auf die sprichwörtlichen Knochen und mit grausig weit aufgerissenen Augen erblickt man ihn, wie er in einer unschuldigen Passioniertheit sondergleichen von seiner letzten erfundenen Figur erzählt, dem Prager Porzellansammler Utz. Es ist dies die erschütterndste Epiphanie einer Schriftstellerperson, die ich kenne. Diesen Todkranken wollen Sie verurteilen? Sie: Das, wovon ich rede, beginnt ein wenig früher. Kennen Sie die Geschichte von Chatwins Auftritt in Innisfree House Wythall, bei Birmingham? Es war eine große Enthüllung, mit der Bruce, damals sieben Jahre alt, seine Klasse überraschte. Dramatisch fuchtelnd schlug er den Atlas auf und wies auf das Weiße Meer. Er stamme gar nicht von dem Mann und der Frau, die ihn täglich zur Schule brächten. Vielmehr sei er ein Waisenbub aus dem Norden Russlands. Mitten im tiefsten Winter sei er gef lohen: Schlitten, japsende Huskys, schwarze Kiefern, Feuer der Soldaten aus blitzenden Gewehren, Schreie, Blut im Schnee, ein gefrorener Fluss – kein Detail fehlte. Er, Bruce, sei der einzige Überlebende gewesen. So tapfer. Den Kindern stand der Mund offen. Ein Mädchen, gerührt wie Sie über Chatwins aufgerissene Augen, brach in Tränen aus. Die Schulleiterin schlug den Eltern später vor, ihren Sohn zum Psychiater zu bringen. Chatwin hat sein Leben lang Mystifikation über sich selbst betrieben. Er war diese Mystifikation. Er: Sie zu betreiben oder sie zu sein – ist das nicht zweierlei? Sie: Worin läge der Unterschied? 853

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Er: Das Sein hat eine Art von Unschuld auf seiner Seite. Sie: Vielleicht. Der Lügner kann nur lügen, weil er Wahrheit und Unwahrheit auseinanderzuhalten vermag. Bei Chatwin hatte ich manchmal Zweifel, ob er Unwirkliches von Wirklichem zu scheiden vermochte. Und das wirft, scheint mir, auch Zweifel auf, ob er überhaupt phantasiebegabt war. Er: Erklären Sie sich! Sie: Sind Ihnen The Dry Salvages geläufig? Den Mississippi einen starken braunen Gott zu nennen, beweist T. S. Eliots Phantasie. In einem Volk, das an Flussgötter glaubt, bewiese es nichts dergleichen. Es wäre bloß dessen Routine. Erst aus Unglauben, scharf zwischen Wirklichem und Unwirklichem scheidend, erwächst die Phantasie. Er: Nur solange Sie Ihre Beispiele draußen aus der Natur beziehen, leuchtet das ein. In der Frage, wer einer ist, oder wer er wird, gibt es keinen harten Schnitt zwischen Unwirklichem und Wirklichem. Unwirkliches, das sich ein Mensch über sich selbst in den Kopf setzt, verwandelt sich fortwährend in seine Wirklichkeit. Bruce Chatwin hat sein Leben lang Bruce Chatwin neu erfunden. Er tat das in und durch Geschichten. Sie: Worauf wollen Sie hinaus? Er: Chatwin hat fünf phantasiereiche Bücher geschrieben, aber sein phantasiereichster Beitrag zur Literatur war er selber. Er erfand Dinge, um alles an sich selbst und seinem Leben zu erhöhen. Sie: Das Ich als Kunstwerk seiner selbst. Als solches mutet es sich den nicht zum Opus gestalteten Mitmenschen wie mir zu. Würdigen wir das Ich dann nicht als das Meisterstück, für das es sich hält, sind wir Banausen. Er: Ein Kunstwerk wäre fertig. Chatwin betrachtete sich nie als vollendet. Er existierte durch das, was er erzählte, und was er erzählte, waren stets sich wandelnde Geschichten. Wer ihn kannte, so wird mir berichtet, erlebte Chatwin in freiem Fluss. Sie: Einen Fluss in seinem Fließen bewundern zu sollen mutet mehr, nicht weniger zu als die Würdigung eines Standbilds. Er: Auf Ihre Bewunderung kam es ihm, vermute ich, gar nicht so sehr an. Er hat irgendwann entdeckt, dass niemand sich so frei entfalten kann wie eine literarische Figur. Es sollte ihn, Bruce Chatwin, als diese literarische Figur geben, und zugleich wollte er der Autor dieser literarischen Figur sein. Oder, genauer: literarischer Figuren – denn er zerlegte sich in mehrere. Sie: Das Geschöpf als Schöpfer seiner selbst – ein stolzer Widerspruch. Er: Ich kann ihn nicht auf lösen. Sie: Dann versuche ich es mit einer Hypothese. Vielleicht war Chatwin ein Rollenspieler, der merkte, er werde andere nur dann ganz überzeugen, wenn ihm etwas Besonderes gelang: Das Künstliche musste natürlich werden. Falschheit mit gutem Gewissen, den sogenannten Charakter beiseite schiebend, überf lutend, 854

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schließlich auslöschend. Chatwin hatte zu vergessen, dass er nur eine Rolle spielte. Und er vergaß es. Er: Ihre Hypothese lässt den Schriftsteller Chatwin aus dem Spiel. Darum verstehen wir durch sie nicht, was wir verstehen wollen. Sie: Sie haben Recht; wir werden die Frage nicht los: Was passiert mit einem Menschen, der sich jenem Programm verschreibt: eine literarische Figur zu sein und zugleich deren Autor? Bleibt er wirklich? Wird er zur Fiktion? Er: Es sollte ihn als Erfindung seiner selbst wirklich geben. So wie Sie die Entscheidungsfrage stellen – Bleibt er wirklich? Wird er zur Fiktion? –, läuft sie ins Leere. Sie müssten fragen: Was stellt das Zur-Fiktion-Werden mit etwas Wirklichem, mit dem Selbst an? Sie: Wenn wir das offenbar beide nicht wissen, dann müssen wir auf etwas anderes die Antwort suchen: Warum wollte oder will überhaupt einer, wie Chatwin, eine literarische Figur sein und zugleich deren Autor? Warum wollte er nicht einfach nur er selber sein? Er: Ist es denn einfach? Die Natur liefert ein Baby, kein Selbst. Ein Selbst kann immer nur daraus gemacht werden. Sie: Ob nun gegeben oder gemacht, irgendwann hat sich das Selbstgefühl eingestellt. An diesem Punkt liegt meine Frage nahe: Warum nicht einfach nur man selber sein? Er: Sie finden es beruhigend, einfach nur Sie selbst zu sein. Chatwin fühlte sich von der Anforderung, er selbst zu sein, offenbar beengt. Sie: Als beengend fühlte sie sich an in einer Idolatrie des freien Menschen. Aber ist es befreiend, sein Leben als Roman zu organisieren? Und was stand diesem Privileg, falls es eines war, an Kosten gegenüber, an Gefahren, an Beschädigungen? Er: Eben das wollte ich William Bradshaw fragen. Er habe, so deutete er in seinem letzten Brief an, davon einiges an Chatwin mitbekommen. Sie: Ich muss Ihnen danken. Er: Wofür? Sie: Durch Sie, der Sie Chatwin gar nicht in Person kannten, habe ich erfahren, wer er war. Er: Aber Sie haben mir doch in allem widersprochen. Und am Ende sind wir in lauter unbeantwortete Fragen geraten. Sie: Das ist meine Art, von jemandem zu lernen. Als sie ausgeredet hatten, war es bereits finster geworden. Er verließ die Wohnung. Beim Hauseingang redete ihn ein Herr mit grauen Haaren an, der ihm wie ein gebrochener Würdenträger vorkam. Dieser wusste sofort, wer er war, hatte mit ihm gerechnet, war offenbar gerade jetzt mit ihm verabredet. Eine merkwürdige Ahnung beschlich ihn, er fragte dennoch: „Wer sind Sie?“ – „William Bradshaw.“

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Autorinnen und Autoren

Autorinnen und Autoren Klaus Aringer ist seit 2005 Universitätsprofessor für Historische Musikwissenschaft und seit 2008 Vorstand des Instituts Oberschützen der Kunstuniversität Graz. Er studierte Musikwissenschaft, Geschichte und ältere deutsche Sprache und Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität München (M.A. 1992, Dr. phil. 1997). Zwischen 1995 und 2005 war er wissenschaftlicher Assistent an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, wo er sich 2003 für das Fach Musikwissenschaft habilitierte. Gastweise lehrte er auch an den Universitäten Graz und Wien. Er war Vizepräsident der Johann Joseph Fux-Gesellschaft Graz und gehört seit 2006 der Jury zur Vergabe der Forschungspreise des Landes Steiermark an. Seine Vorträge und Publikationen reichen von der Musik des Mittelalters bis in das 20. Jahrhundert; Schwerpunkte bilden Johann Sebastian Bach, die Wiener Klassiker, Geschichte der Instrumentation und Instrumentationslehre sowie aufführungspraktische Fragen. Jüngere Veröffentlichungen umfassen Johann Joseph Fux – der Komponist (Hg.), Graz 2015; Zoltan Kodálys Kammermusik (Hg.), Wien 2015 (= Studien zur Wertungsforschung 57); 50 Jahre Expositur und Institut Oberschützen (Hg.), Oberschützen 2015; Geschichte und Gegenwart des musikalischen Hörens (Hg. zusammen mit Franz Karl Praßl, Peter Revers und Christian Utz), Freiburg i. Br. 2017; Franz Liszt. Paraphrasen, Transkriptionen und Bearbeitungen. Referate des Symposiums Oberschützen 2011 (Hg.), Sinzig 2017 (= Musik und Musikanschauung im 19. Jahrhundert 18). Ulf Bästlein studierte Altphilologie, Germanistik (Promotion) sowie Gesang in Freiburg, Rom und Wien. Nach Beginn seiner Bühnenlauf bahn am Stadttheater Heidelberg folgten Engagements u. a. in Augsburg, Hannover, Lübeck und Hamburg. Er ist häufiger Gast bei internationalen Musik-Festivals und trat weltweit als Liedsänger u. a. mit Charles Spencer, Michael Gees, James Tocco, Julius Drake, Axel Bauni, Detlef Kraus, Stacey Bartsch und Sascha El Mouissi auf. Die Vielseitigkeit seines künstlerischen Schaffens ist durch zahlreiche Rundfunk-, Fernseh- und CD-Aufnahmen (Lied, Oratorium, Oper, darunter viele Weltersteinspielungen) dokumentiert. Nach Professuren an der Musikhochschule Lübeck und der Folkwang Universität Essen lehrt Bästlein seit 2002 an der Kunstuniversität Graz, wo er von 2009–18 zudem als Leiter der künstlerischwissenschaftlichen Doktoratsschule tätig war. Er gibt weltweit Masterclasses, ist als Autor (vor allem zum Deutschen Lied im frühen 19. Jahrhundert) sowie als Herausgeber (Lieder von Anselm Hüttenbrenner) tätig und leitet seit 2000 das Festival „Liedkunst“ in Husum.

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Autorinnen und Autoren

Karol Berger is the Osgood Hooker Professor in Fine Arts at the Department of Music, Stanford University, where he has been teaching since 1982. His books include Musica Ficta (Cambridge 1987; recipient of the 1988 Otto Kinkeldey Award of the American Musicological Society), A Theory of Art (Oxford 2000), Bach’s Cycle, Mozart’s Arrow (Berkeley 2007; recipient of the 2008 Marjorie Weston Emerson Award of the Mozart Society of America), and Beyond Reason: Wagner contra Nietzsche (Berkeley 2017; recipient of the 2018 Otto Kinkeldey Award of the American Musicological Society). Joachim Brügge erlangte sein Diplom in Musiktheorie an der Musikhochschule in Lübeck (1985) und promovierte 1993 bei Martin Staehelin mit einer Arbeit über den Personalstil Mozarts. Nach der Habilitation 2002 zu den Streichquartetten Wolfgang Rihms war er am Department für Musikwissenschaft an der Universität Mozarteum Salzburg tätig, wo er seit 2011 Leiter des Instituts für Musikalische Rezeptions- und Interpretationsgeschichte ist. Er veröffentlichte zahlreiche Publikationen zur Musik des 18.–20. Jahrhunderts, so zur Wiener Klassik (u. a. Wolfgang Amadeus Mozart), zu Neuer Musik nach 1970, Instrumentalmusik des 19. Jahrhunderts, amerikanischer Musik, Popularmusik und amerikanischem Musiktheater, Rezeptionsforschung in Verbindung mit analytisch-hermeneutischen Fragestellungen und zu wissenschaftstheoretischen Fragestellungen zum musikwissenschaftlichen Methodendiskurs. Federico Celestini ist Professor an der Universität Innsbruck und Leiter des dortigen Instituts für Musikwissenschaft. Er ist korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Mitglied des Kuratoriums des Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Musikwissenschaft. Nach dem Studium an der Universität La Sapienza in Rom und der Promotion an der Karl-Franzens-Universität Graz führten ihn Fellowships und Gastprofessuren an die University of Oxford (British Academy, 2002), an das Riemenschneider Bach Institute in Cleveland (2004), an die Freie Universität Berlin (Alexander von Humboldt-Stiftung, 2005–07) sowie an die University of Chicago (Mellon Foundation, 2010). Seine Forschungsinteressen schließen die Musikgeschichte des 17.–21. Jahrhunderts, Musikästhetik, Theorien des Performativen, Intermedialität und kulturwissenschaftliche Musikbetrachtung ein. Unter seinen Buchpublikationen sind unter anderem zu nennen: Nietzsches Musikphilosophie, Paderborn 2016; Die Unordnung der Dinge. Das musikalische Groteske in der Wiener Moderne (1885–1914), Stuttgart 2006 (= Archiv für Musikwissenschaft 56); (mit Andreas Dorschel) Arbeit am Kanon. Ästhetische Studien zur Musik von Haydn bis Webern, Wien 2010 (= Studien zur Wertungsforschung 51); Ver-rückte Kulturen. Zur Dynamik kultureller Transfers, (Hg. mit Helga Mitterbauer), 858

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Autorinnen und Autoren

Stauffenburg, zweite Auf lage Tübingen 2011. Celestini gibt in Zusammenarbeit mit Philip V. Bohlman Acta Musicologica, das peer-reviewed Journal der International Musicological Society, heraus. Marie-Agnes Dittrich studierte Geschichte und Musikwissenschaft in Hamburg und promovierte mit einer Arbeit über Harmonik und Sprachvertonung in Franz Schuberts Liedern. Daneben erhielt sie Privatunterricht in Klavier, Querf löte und Cembalo bei Hannelore Unruh (Hamburg). Seit Dezember 1993 ist sie ordentliche Professorin für Historische Musikwissenschaft (Schwerpunkt Analyse der Musik) an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien. Als Lehrende war sie unter anderem am Hamburger Konservatorium (1983–93), an der Universität Wien und der Donau-Universität Krems sowie 2014 und 2019 als Gastprofessorin an der Universität Leiden tätig. Ihren Publikationsschwerpunkt bildet die musikalische Analyse. André Doehring ist Professor für Jazz- und Popularmusikforschung am von ihm geleiteten Institut für Jazzforschung der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz. Er ist Vorstand der Gesellschaft für Popularmusikforschung und der International Society for Jazz Research, seine Arbeitsgebiete sind Analyse und Historiographien von populärer Musik und Jazz sowie Musik und Medien. In einem aktuellen Forschungsprojekt, das von der VW-Stiftung gefördert wird, arbeitet er in einem internationalen Team an der Erforschung der Rolle populärer Musik in gegenwärtigen populistischen Strömungen in fünf europäischen Ländern. Andreas Dorschel ist seit 2002 Professor für Ästhetik an der Kunstuniversität Graz. Zuvor lehrte er an Universitäten in England, Deutschland und der Schweiz, wo er 2002 an der Universität Bern habilitiert wurde. 2006 war er Gastprofessor in Stanford. Zu seinen Büchern zählen: Nachdenken über Vorurteile, Hamburg 2001; Gestaltung – Zur Ästhetik des Brauchbaren, Heidelberg 22003 (= Beiträge zur Philosophie, Neue Folge); Verwandlung. Mythologische Ansichten, technologische Absichten, Göttingen 2009 (= Neue Studien zur Philosophie 22); sowie Ideengeschichte, Göttingen 2010. Abhandlungen Andreas Dorschels erschienen unter anderem in The Cambridge Quarterly und in The Oxford Handbook of the New Cultural History of Music, Essays im Merkur sowie in Lettre International. Charris Efthimiou studierte Komposition und Musiktheorie an der Kunstuniversität Graz (KUG) bei Beat Furrer und Georg Friedrich Haas. Er promovierte über die frühen Sinfonien Wolfgang Amadeus Mozarts an der Kunstuniversität Graz beim Jubilar dieser Festschrift. Seit 2014 ist er an dieser Universität als Post859

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doc beschäftigt. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen in der Analyse von Heavy Metal, der Sinfonik der Wiener Klassik und der Kammermusik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Stefan Engels studierte in Salzburg an der damaligen Hochschule und heutigen Universität Mozarteum Kirchenmusik und Komposition sowie an der Paris Lodron Universität Musikwissenschaft und klassische Philologie. Nach einem zweijährigen Forschungsaufenthalt in Rom sowie einem Forschungsstipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung ist er seit Oktober 2001 Senior Scientist am Institut für Kirchenmusik und Orgel der Kunstuniversität Graz. Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Tätigkeit bilden die Beschäftigung mit liturgischen Spielen des Mittelalters und die Erforschung mittelalterlicher liturgischer Handschriften in Österreich. Er ist Leiter der Salzburger Virgilschola, einem Vokalensemble für mittelalterlichen Choral, das sich mit Gregorianik und der geistlichen Musik des Mittelalters in Österreich beschäftigt. Alberto Fassone studierte Klavier und Komposition am Konservatorium seiner Heimatstadt Turin. 1989 promovierte er bei Giorgio Pestelli mit einer Dissertation über den Rosenkavalier von Richard Strauss. 1991/92 konnte er als Stipendiat der Carl Orff-Stiftung, des Orff-Zentrum München und des CNR Rom das Studium der Orff ’schen Werke in München vertiefen. Seit 2002 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Musikgeschichte und -ästhetik an der Hochschule für Musik „Claudio Monteverdi“ in Bozen. Er hat Bücher in italienischer und deutscher Sprache über Anton Bruckner, Gustav Mahler, Richard Strauss und Carl Orff veröffentlicht. Christoph Flamm studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Germanistik in Heidelberg. Er arbeitete 1994–2001 in der Schriftleitung der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart im Bärenreiter-Verlag, 2001–04 am Deutschen Historischen Institut in Rom und nach einem zweijährigen DFG-Stipendium ab 2007 an der Universität des Saarlandes, wo er sich mit einer Studie zur italienischen Instrumentalmusik im frühen Novecento habilitierte. Nach Professuren an der Universität der Künste Berlin und der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt ist er seit 2014 Professor für Musikwissenschaft an der Musikhochschule Lübeck, seit 2019 dort Vizepräsident für Internationales und Forschung. Seine Publikationen und Editionen betreffen vorwiegend russische und italienische Musik. Rudolf Flotzinger absolvierte von 1951 bis 1958 das Stiftsgymnasium Kremsmünster und studierte anschließend Musikwissenschaft an der Universität Wien bei Erich Schenk und Walter Graf. 1965 erfolgte die Promotion und 1969 die Habili860

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tation in Wien zu Themen der alten Musik. Von 1971 bis 1999 war er Vorstand des Instituts für Musikwissenschaft der Karl-Franzens-Universität Graz und von 1999 bis 2006 Obmann der Kommission für Musikforschung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Flotzinger ist Mitherausgeber der dreibändigen Musikgeschichte Österreichs und Herausgeber des fünf bändigen Österreichischen Musiklexikons sowie Mitglied der Academia Europaea in London und korrespondierendes Mitglied der Akademien der Wissenschaften in Wien, Zagreb und Ljubljana. Christian Glanz studierte Musikwissenschaft und Geschichte in Graz, wo er 1988 auch promovierte. 2007 habilitierte er sich im Fach Historische Musikwissenschaft. Derzeit ist er Außerordentlicher Universitätsprofessor für Historische Musikwissenschaft am Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien. Die Schwerpunkte seiner Forschung bilden unter anderem Musik und Politik, Gustav Mahler sowie Hanns Eisler. Dietmar Goltschnigg studierte Germanistik, Geschichte und Pädagogik in Graz, 1974–76 war er Humboldt-Forschungsstipendiat in Mainz, 1981–2013 Ordentlicher Professor für Neuere deutsche Sprache und Literatur an der KarlFranzens-Universität Graz, 1994–2005 literaturwissenschaftlicher Projektleiter des Grazer Spezialforschungsbereichs „Moderne“. Er absolvierte eine Reihe von Gastprofessuren, unter anderem in Salzburg (1978), Ljubljana (1979/80), Sofia (1986), New Mexico (1993, 1995, 1997, 2003), Pécs (1994, 1999, 2002), Maribor (1998), Lund (2003), Jyväskylä (2003), Lomé (2007) und Madrid (2008). Seine Arbeitsschwerpunkte bilden die deutsch-/österreichisch-jüdische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, die Wirkungsgeschichten von Georg Büchner, Heinrich Heine und Karl Kraus, sowie interdisziplinäre Themen (Zeit, Angst, Plagiat u. a.) Maximilian Gorzela studierte Schulmusik an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Mannheim und Lehramt Deutsch für das Gymnasium an der Universität Mannheim. Neben einem künstlerischen Schwerpunkt in Chor- und Orchesterleitung legte er bereits im Studium einen Fokus auf Fragen der wissenschaftlichen Musikpädagogik. Insbesondere beschäftigten ihn dabei Aspekte der musikalisch-ästhetischen Bildung und die Analyse von Musikunterricht als Machtgeschehen. Während er im Herbstsemester 2018 eine Karenzvertretung als Universitätsassistent am Institut für Musikpädagogik der Kunstuniversität Graz bekleidete, konnte er sich in weitere Interessensbereiche einarbeiten und wichtige Impulse für sein Promotionsvorhaben an der Musikhochschule Mannheim sammeln. Zurzeit ist Maximilian Gorzela Studienreferendar an einem Stuttgarter Gymnasium. 861

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Oliver Peter Graber ist international als Komponist und Interpret eigener Werke tätig, wobei Ballett, Solokonzert und experimentelle Musik Schwerpunkte bilden. Zudem ist er Ballettdramaturg des Wiener Staatsballetts. Wolfgang Gratzer studierte unter anderem Musikwissenschaft, promovierte 1989 über Alban Berg und habilitierte sich 2001 an der Universität Wien für das Fach Musikwissenschaft. Er ist Mitbegründer (2006) und Mitglied des Instituts für Musikalische Rezeptions- und Interpretationsgeschichte der Universität Mozarteum Salzburg. Von 2008–14 war er Mitglied der Arbeitsgruppe „Kunst und Wissenschaft“ (Österreichische Forschungsgemeinschaft) und von 2010–14 Vizerektor für Entwicklung und Forschung am Mozarteum. Daneben hatte er die CoLeitung zweier Doktoratskollegs am interuniversitären Schwerpunkt Wissenschaft & Kunst (2011–14 / 2015–18) inne. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Musikalischen Interpretations- und Rezeptionsforschung (derzeit vor allem Musik und Migration). Neuere Publikationen umfassen Proben-Prozesse. Über die Entstehung von Musik und Theater (Hg. mit Christoph Lepschy), Freiburg i. Br. 2019 (= klang-reden 23), Musik und Migration (Hg. mit Nils Grosch), Münster 2018 (= Musik und Migration 1); Polemische Arien. Zykan, Pirchner und Wisser als Akteure in Kontroversen (Hg. mit Thomas Nußbaumer), Freiburg i. Br. 2018 (= klang-reden 19); Komponieren & Dirigieren. Doppelbegabungen als Thema der Interpretationsforschung (Hg. mit Alexander Drcar), Freiburg i. Br. 2017 (= klang-reden 16); Salzburg: Sounds of Migration. Geschichte und aktuelle Initiativen (Hg. mit Sylvia Hahn, Michael Malkiewicz und Sabine Veits-Falk), Wien 2016. Gerd Grupe hat an der Freien Universität (FU) Berlin Vergleichende Musikwissenschaft, Amerikanistik und Bibliothekswissenschaft studiert, dort 1990 mit einer Dissertation über afrojamaikanische Musik promoviert (Kumina-Gesänge: Studien zur traditionellen afrojamaikanischen Musik) und sich 1996 mit einer Studie über Musik der Shona habilitiert, die 2004 als Die Kunst des mbira-Spiels (The Art of Mbira Playing). Harmonische Struktur und Patternbildung in der Lamellophonmusik der Shona in Zimbabwe publiziert wurde. Er hat unter anderem an den Universitäten in Berlin (FU), Frankfurt am Main, Hildesheim, Bayreuth, Graz und Krems gelehrt und ist seit 2002 Professor für Ethnomusikologie an der Kunstuniversität Graz. Seine Forschungsinteressen umfassen unter anderem die Musik des subsaharischen Afrika, afroamerikanische Musik und Gamelan sowie kulturübergreifendvergleichende Fragen. Dieter Gutknecht studierte zunächst Schulmusik mit den Schwerpunkten Aufführungspraxis alter Musik, Violine und Dirigieren an der Staatlichen Hochschule für Musik Köln, daneben Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie 862

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in Köln und Wien (Staatsexamen 1968). 1971 promovierte er mit einer Untersuchung zum Einsatz des Computers in der Musikwissenschaft (Untersuchungen zur Melodik des Hugenottenpsalters). Die Habilitation erfolgte 1992 mit der Arbeit Studien zur Geschichte der Aufführungspraxis Alter Musik (Köln 1993, zweite Auf lage 1997). Von 1970 bis zur Pensionierung 2008 war er Universitätsmusikdirektor der Universität zu Köln und gleichzeitig Dozent am Musikwissenschaftlichen Institut dortselbst. Seine Veröffentlichungen umfassen Schriften zur Aufführungspraxis alter Musik (Artikel „Aufführungspraxis“, „Verzierungen“ und diverse Personenartikel in der zweiten Auf lage der Musik in Geschichte und Gegenwart), Musik der Gegenwart (Karlheinz Stockhausen, Morton Feldman, Sofia Gubaidulina) und zum Verhältnis von Musik und Kunst/Architektur. 2015 erschien der zweite Band der Studien zur Geschichte der Aufführungspraxis Alter Musik als Fortsetzung vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart unter dem Titel Die Wiederkehr des Vergangenen. Studien zur Geschichte der Aufführungspraxis Alter Musik (Mainz). Als Dirigent wirkte er an den Uraufführungen von Karlheinz Stockhausens Samstag und Dienstag aus LICHT mit. Darüber hinaus führten ihn Dirigate nach Italien, Frankreich, Holland und Polen, wobei die großen Oratorien Bachs und Händels im Mittelpunkt standen. Mathias Hansen studierte Musikwissenschaft und Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität (HU) Berlin. Anfangs Rundfunkredakteur, war er ab 1970 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Musikabteilung der Akademie der Künste der DDR. Er promovierte 1981 und habilitierte sich 1986 an der HU Berlin. 1992 wurde er als Professor für Musikwissenschaft an die Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin berufen. Seine Publikationen umfassen unter anderem Anton Bruckner, Leipzig 1987 (= Reclams Biographien); Arnold Schönberg. Ein Konzept der Moderne, Kassel 1993; Gustav Mahler, Leipzig 1996 (= Reclams Musikführer); Die Sinfonischen Dichtungen von Richard Strauss, Kassel 2003; Musik ‚ohne‘ Beethoven – eine (etwas) andere Musikgeschichte (in Vorber.) sowie zahlreiche Aufsätze, Vorträge und Rundfunksendungen zur Musikgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Ingeborg Harer studierte Musikpädagogik, Anglistik/Amerikanistik sowie Musikwissenschaft in Graz, wo sie 1987 auch promovierte. Seit 1980 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am heutigen Institut für Alte Musik und Aufführungspraxis der Kunstuniversität Graz, seit 2000 Außerordentliche Universitätsprofessorin. 2008 und 2011 war sie Gastlehrende an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Sie publizierte unter anderem zu den Themenbereichen Historisch informierte Aufführungspraxis, Unterhaltungsmusik um 1900 sowie Frauen- und Geschlechterforschung in der Musik. Zuletzt erschien etwa „‚Schönheit, Fülle der Begabung, männlicher Ernst für alles Wahre, Reine, Hohe …‘. Marie Pachler 863

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(1794–1855) und ihr musikalisch-literarischer Salon in der Grazer Herrengasse“, in: Lebensbilder steirischer Frauen 1650–1850, hg. von Elke Hammer-Luza und Elisabeth Schöggl-Ernst, Graz 2017, 339–352, und „Über Spielpraxis schreiben – Details aus dem Grazer Musikleben des 19. Jahrhunderts“, in: Wissenschaft und Praxis – Altes und Neues. Festschrift 50 Jahre Institut 15: Alte Musik und Aufführungspraxis an der Kunstuniversität Graz, hg. von Ingeborg Harer und Gudrun Rottensteiner, Graz 2017, 166–185. Harald Haslmayr studierte Geschichte und Deutsche Philologie in Graz und promovierte 1994 über Robert Musil. 2003 habilitierte er sich an der Kunst­ universität Graz im Fach „Wertungsforschung und kritische Musikästhetik“ über Joseph Haydn und unterrichtet dort nunmehr als Außerordentlicher Universitätsprofessor. Seine Forschungsschwerpunkte, die er in weltweit gehaltenen Vorträgen und zahlreichen Publikationen zugänglich macht, sind die Kulturgeschichte des Donauraumes sowie die antike Musikästhetik. Seit 2005 ist er regelmäßiger Dozent bei der Europäische Kammermusikakademie (ECMA), Konzertveranstalter und Musikmoderator. Wolfgang Hattinger studierte Klarinette, Komposition und Dirigieren an der Kunstuniversität Graz sowie Philosophie, Psychologie und Pädagogik an der Karl-Franzens-Universität Graz. Von 1990 bis 1996 war er am Institut für Musikästhetik der Kunstuniversität Graz (KUG) tätig und seit 1992 unterrichtet er am Institut für Komposition, Musiktheorie, Musikgeschichte und Dirigieren der KUG. 2007 habilitierte er sich für das gesamte Fach Musiktheorie. 2012 promovierte er mit der Arbeit Der Dirigent. Aspekte eines merkwürdigen Berufs, die 2013 als Buch bei Bärenreiter/Metzler erschien. 1994 gründete er das Kammerensemble szene instrumental, das sich bis heute der Aufführung unterschiedlichster Formen zeitgenössischer Musik widmet. Von 1998–2004 war er Dirigent und Kapellmeister bei den Vereinigten Bühnen Wien und arbeitete dort unter anderem mit Roman Polanski und Philippe Arlaud. Darüber hinaus dirigierte er zahlreiche Konzerte und Opernproduktionen. Er war Gastlektor am Royal College of Music in Stockholm und ist Mitentwickler des künstlerisch-wissenschaftlichen Doktoratsstudiums an der KUG. Seit 2016 ist er Vorsitzender des Senats an dieser Universität. Stephen E. Hef ling is Professor of Music Emeritus at Case Western Reserve University, and has also taught at Stanford and Yale Universities as well as the Oberlin College Conservatory. Hef ling received the A. B. in music from Harvard and the Ph. D. from Yale, with a dissertation on Mahler’s “Todtenfeier.” He is Co-director of the Mahler Neue Kritische Gesamtausgabe (New Complete Critical 864

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Edition), for which he recently completed editing Titan: Eine Tondichtung in Symphonieform (2019) and is currently preparing the new orchestral edition of Das Lied von der Erde. He is also a Vice President of the Internationale Gustav Mahler Gesellschaft in Vienna. Author of Gustav Mahler: Das Lied von der Erde (Cambridge, 2000) and editor of Mahler Studies (Cambridge, 1997), Prof. Hef ling has published over two dozen articles and book chapters on Mahler and his music, most recently in Rethinking Mahler, ed. by Jeremy Barham (Oxford, 2017), Gustav Mahler: Interpretationen seiner Werke, ed. by Peter Revers and Oliver Korte (Laaber, 2011), and Mahler im Kontext / Contextualizing Mahler, ed. by Erich Wolfgang Partsch and Morten Solvik (Vienna, 2011). Currently he is working on a two-volume study entitled The Symphonic Worlds of Gustav Mahler (Yale) and completing The Reilly Digital Catalogue of Mahler’s Musical Manuscripts. Other areas of interest include chamber music (editor, Nineteenth-Century Chamber Music, New York 2003) and historical performance practice (Rhythmic Alteration in Seventeenth- and EighteenthCentury Music, New York 1993). Robert Höldrich ist Professor für Audiotechnik und Akustik sowie Vorstand des Instituts für Elektronische Musik und Akustik (IEM) der Universität für Musik und darstellende Kunst in Graz (KUG). Seine wissenschaftlichen Forschungen umfassen Arbeiten in den Bereichen Sonifikation, Psychoakustik, Signalverarbeitung, Klanganalyse und -synthese, Aufnahme- und Wiedergabetechnik, virtuelle Akustik und Medienphilosophie. Seine künstlerischen Werke reichen von Instrumental- und Vokalmusikkompositionen über Elektronische Musik und LiveElektronik bis zur Klanginstallation. Zwischen 2007 und 2014 bekleidete er die Funktion des Vizerektors der KUG. Ernest Hoetzl studierte Latein, Griechisch, Sanskrit, Musikerziehung und Dirigieren an der Karl-Franzens-Universität Graz, der Kunstuniversität Graz sowie an der University of Texas in Austin und promovierte im Fach Musikwissenschaft. Er dirigierte mehr als 80 Orchester weltweit, u. a. im Musikverein Wien, der Berliner Philharmonie, dem Rudolfinum Prag, dem Moskauer Konservatorium, der Carnegie Hall, im Teatro Amazonas und bei den Bregenzer Festspielen. Er ist Dozent für Musikgeschichte an der Kunstuniversität Graz und künstlerischer Leiter des Musikvereins Kärnten, der Jeunesse Kärnten, sowie Chefdirigent der EuroSymphony SFK. Elisabeth Kappel studierte Komposition und Musiktheorie, Gitarre, Instrumentalpädagogik sowie Elektrotechnik-Toningenieur in Graz. Sie forscht und lehrt in den Bereichen Musikgeschichte und Musikwissenschaft an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz und promovierte mit einer Dissertation 865

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über die Komponistinnen unter Arnold Schönbergs Schülerinnen (Biographischmusikalische Studien zu Arnold Schönbergs Schülerinnen, 2018). Ihre internationalen Vortrags- und Publikationstätigkeiten umfassen die Schwerpunkte Historische Musikwissenschaft, Musikanalyse, biographische Grundlagenforschung und zeitgenössische Komponist*innen. Ihre Publikationen als Herausgeberin inkludieren The Total Work of Art: Mahler’s Eighth Symphony in Context, Wien 2011, und „Das klagende Lied“: Mahler’s „Opus 1“ – Synthese, Innovation, kompositorische Rezeption‚ Wien 2013. Janina Klassen ist Professorin für Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik Freiburg im Breisgau. Sie wurde in Kiel promoviert (Fakultätspreis) und habilitierte sich an der Technischen Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf Musik- und Sprachtheorie seit der frühen Neuzeit, zeitgenössischen Musik- und Soundkonzepten und Gender-Studien. Derzeit befasst sie sich mit Hörforschung. Sie hat 2019 den Robert-Schumann-Preis der Stadt Zwickau erhalten, gemeinsam mit der Pianistin Ragna Schirmer. Robert Klugseder studierte Kirchenmusik, Musikpädagogik, Musikwissenschaft und katholische Theologie in Passau und Regensburg. Daneben erhielt er eine Ergänzungsausbildung in Webtechniken (HTML und PHP) an der Universität Regenburg, den XML-Sprachen (Zentrum für Informationsmodellierung der Universität Graz) und MEI sowie TEI (u. a. Edirom Summer Schools Paderborn). 2003–08 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Musikwissenschaft in Regensburg, wo er 2007 auch zur Choralforschung promovierte. 2013 habilitierte er sich an der Kunstuniversität Graz (KUG). Seit 2008 ist er Mitarbeiter der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, seit 2009 Lehrbeauftragter an der Universität Wien. 2017 hatte er eine Vertretungsprofessur an der KUG. Er ist Leiter der ÖAW-Arbeitsgruppe „Digital Musicology“ und von Forschungsprojekten zur Choralforschung, zu Anton Bruckner (Werkverzeichnis und Musikanalyse) und Wenzel Raimund Birck (Werkausgabe). Susanne Kogler studierte Klassische Philologie und Musikwissenschaft an der Karl-Franzens-Universität (KFU) und Musikpädagogik an der Kunstuniversität Graz (KUG) (Mag. art. 1994, Promotion 2001 zum Thema Sprache und Sprachlichkeit im zeitgenössischen Musikschaffen, Wien 2003). 2012 habilitierte sie sich am Institut für Musikwissenschaft der KFU zum Thema Adorno versus Lyotard: moderne und postmoderne Ästhetik (Freiburg 2014). Sie verfasste zahlreiche Publikationen zur Musik des 19.–21. Jahrhunderts und lehrte an Universitäten im In- und Ausland. Von 1996–2011 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Wertungsforschung bzw. Musikästhetik der KUG sowie nach Forschungs- und 866

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Lehraufenthalten in den USA und Frankreich 2010–11 stellvertretende Leiterin des Zentrums für Genderforschung. Seit 2012 leitet sie das Universitätsarchiv der KUG mit Schwerpunkten auf Institutionsgeschichte und NS-Forschung. Hartmut Krones studierte Musikerziehung, Germanistik, Gesang, Gesangspädagogik sowie Musikwissenschaft, unterrichtet seit 1970 an der Akademie (1998 Universität) für Musik und darstellende Kunst Wien und leitete bis September 2013 das „Institut für Musikalische Stilforschung“ (Abteilungen „Stilkunde und Aufführungspraxis“ sowie „Wissenschaftszentrum Arnold Schönberg“). 2018 erschien der erste Band der von ihm geleiteten Kritischen Gesamtausgabe der Schriften Arnold Schönbergs. Er ist Mitarbeiter und Fachbeirat der Musik in Geschichte und Gegenwart und publizierte in den Bereichen Aufführungspraxis alter und neuer Musik, Musikalische Symbolik und Rhetorik sowie Musik und Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts (inkl. Musik im Exil). Bücher erschienen unter anderem über Leben und Werk von Ludwig van Beethoven sowie von Arnold Schönberg. Silke Kruse-Weber studierte Klavier sowie Musik- und Theaterwissenschaft und promovierte zum Thema Klavierpädagogik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts an der Ludwigs-Maximilians-Universität München. Sie ist Professorin für Instrumental- und Gesangspädagogik an der Kunstuniversität Graz, derzeit Vorständin des Instituts für Musikpädagogik sowie Vorsitzende der Curricula-Kommission Instrumental- und Gesangspädagogik. Neben der Durchführung zahlreicher internationaler Symposien umfasst ihre wissenschaftliche Forschungstätigkeit Projekte an der Schnittstelle zwischen Instrumental- und Gesangspädagogik, Musikpsychologie und Pädagogik. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der curricularen Weiterentwicklung, der Förderung wissenschaftlichen Nachwuchses und in der Gestaltung einer zeitgemäßen Hochschuldidaktik mit der Heranbildung von Instrumentallehrkräften, die auf die dynamischen Anforderungen der sich wandelnden Gesellschaft und Kultur nicht nur reagieren können, sondern auch aktiv, kreativ und forschend mitgestalten. Lars E. Laubhold studierte Trompete an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin sowie Musikwissenschaft an der Paris Lodron Universität Salzburg (Diplom 2007 mit der Arbeit Magie der Macht, Würzburg 2009), daneben erhielt er eine Ausbildung zum Metallblasinstrumentenmacher in Markneukirchen (Sachsen). Von 2001–05 war er freier Mitarbeiter am Forschungsinstitut für Salzburger Musikgeschichte, 2007/08 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Salzburg sowie von 2008–14 zweier FWF-geförderter Projekte zur Erforschung der Musik am Salzburger Dom vom 17. bis ins 19. Jahrhundert. 2013 promovierte er mit einer Arbeit zur Tonträgergeschichte von Beethovens Fünfter Sinfonie 867

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(Von Nikisch bis Norrington, München 2014). Von 2014–16 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter der Internationalen Stiftung Mozarteum; seit 2016 hat er eine Universitätsprofessur mit den Schwerpunkten Interpretationsforschung und Instrumentenkunde an der Anton Bruckner Privatuniversität Linz inne. 2018 organisierte er das Internationale Symposium Eduard Steuermann und die Aufführungspraxis der Wiener Schule in Linz. Seine Publikationen umfassen unter anderem u. a. Herbert von Karajan 1908–1989 (Hg. mit Jürg Stenzl), Salzburg 2008; Klang-Quellen, München 2010; Keine Chance für Mozart, Lucca 2013; Musik am Dom zu Salzburg, Wien 2018. Laurenz Lütteken studierte in Münster und Heidelberg und lehrte, nach längeren Forschungsaufenthalten in Rom und Wolfenbüttel, Musikwissenschaft an den Universitäten Heidelberg, Münster, Erlangen und Marburg. Seit 2001 ist er Ordinarius an der Universität Zürich. Zuletzt erschien: Mozart. Leben und Musik im Zeitalter der Aufklärung (München ²2018), sowie: Music of the Renaissance (Oakland 2019; dt. 2011). Er ist zudem Herausgeber der Musik in Geschichte und Gegenwart Online. Tomi Mäkelä ist seit 2009 Professor für Musikwissenschaft an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg, zuvor war er Professor in Magdeburg und lehrte in Vertretung in Köln, Helsinki und Turku. Er studierte Klavierpädagogik, Tonsatz und Klavier Konzertfach in Lahti und Wien sowie Musikwissenschaft, Soziologie und Ästhetik in Wien und Helsinki. Er promovierte in West-Berlin und habilitierte sich in Helsinki. In den 1990er Jahren lag der Schwerpunkt seiner Forschungstätigkeit bei theoretischen und interdisziplinären Fragestellungen. In den letzten Jahren hat er zu Friedrich Wieck, Frederik Pacius, Jean Sibelius, Akseli Gallen-Kallela, Bernhard Sekles, Eduard Tubin und Rued Langgaard, sowie zu Umweltästhetik, angewandter Musikwissenschaft und gegenwärtiger Musikkultur in Finnland publiziert. Margarethe Maierhofer-Lischka studierte Kontrabass, Musikwissenschaft, Instrumentalpädagogik und zeitgenössische Musik in Dresden, Rostock und Graz. 2014–17 war sie Universitätsassistentin am Institut für Musikästhetik der Kunstuniversität Graz. Ihr Dissertationsprojekt Inszenierungen des Hörens in zeitgenössischen Musiktheaterwerken erhielt 2018 den Theodor-Körner-Preis. Als Musikerin, Künstlerin und Theoretikerin arbeitet sie schwerpunktmäßig im Bereich zeitgenössische Musik, Improvisation, Klangkunst und Musiktheater. Eveline Nikkels studierte Musikwissenschaft und Philosophie an der Universität Utrecht. Sie promovierte mit der Arbeit O Mensch! Gib Acht! Friedrich Nietzsches Bedeutung für Gustav Mahler (Amsterdam und Atlanta 1989). Seitdem ist sie eine 868

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viel gefragte Teilnehmerin an internationalen Mahler-Kongressen. Ihre Publikationen umfassen unter anderem „Mahler and Holland“, in: The Mahler Compan­ ion, hg. von Donald Mitchell und Andrew Nicholson, Oxford 1999/2002; Gustav Mahler – Een leven in tien symfonieën, Leeuwarden 2003, ²2009; Mahler in Nederland, Rijswijk 2010; Mahler and Strauss: Opera or Song. Song or Opera, hg. von der Gustav Mahler Stichting Nederland (2019). Eveline Nikkels ist Vorsitzende der Gustav Mahler Stichting Nederland sowie stellvertretende Vorsitzende der Stichting Pierre Boulez. Carmen Ottner studierte Musik-Theaterwissenschaften und Philosophie an der Universität Wien und promovierte 1974 mit der Arbeit Das Wort-Tonproblem in den Klavierliedern Wilhelm Kienzls. Von 1975–2010 war sie Redaktionsmitglied der Österreichischen Musikzeitschrift. 1993 wurde sie Vorstandsmitglied in der Österreichischen Gesellschaft für Musik, 2013 Vizepräsidentin, seit 2016 ist sie Präsidentin der Gesellschaft. Von 1995–98 forschte sie im „Spezialforschungsbereich Moderne: Wien und Zentraleuropa um 1900“ an der Universität Graz (Franz Schreker als Pädagoge, Studenten seiner Wiener Kompositionsklasse, ihr Beitrag zur Moderne; Schwerpunkt: Wilhelm Grosz, Felix Petyrek, Karol Rathaus). Von 1985– 2017 war sie Generalsekretärin der „Franz Schmidt-Gesellschaft“, Herausgeberin der und Autorin in den Studien zu Franz Schmidt (17 Bde., Wien 1976–2014, ab Bd. 4 verantwortlich) sowie Organisatorin der jährlichen Franz Schmidt-Tage und weiterer Symposien. Vorträge bei Symposien, vor Konzerten; Aufsätze in wissenschaftlichen Sammelbänden, Fachzeitschriften. Beiträge für Lexika, booklets, Programmhefte der Wiener Philharmoniker, anderer Orchester. 2011–16 war sie Jurymitglied für die Verleihung der Kompositionspreise der Stadt Wien. Franz Karl Praßl studierte Musik (Kirchenmusik, Chorleitung, Dirigieren) und Theologie (Dr. theol.) in Graz. Spezialstudien in Gregorianischer Paläographie und Semiologie in Essen. 1982–92 Domorganist in Klagenfurt, seit 1989 Professor für Gregorianik und kirchenmusikalische Werkkunde an der Kunstuniversität Graz, seit 2011 auch Gastprofessor für Gregorianik am Pontificio Istituto di Musica Sacra in Rom. 1999–2011 Präsident der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie (IAH). Mitherausgeber der Beiträge zur Gregorianik und des Graduale Novum. Arbeitsschwerpunkte: gregorianische Semiologie, Melodierestitution, Liber Ordinarius-Forschung, Liturgie und Musik in 12. Jahrhundert, besonders der Augustinerchorherren, Hymnologie in Österreich. Eckhard Roch studierte von 1976–83 Musikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und 1985–92 Katholische Theologie am Philosophisch-Theologischen Studium Erfurt. Seit dem Wintersemester 2007/08 lehrt er als Professor 869

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am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Würzburg mit dem Schwerpunkt Systematische Musikwissenschaft. Seine Publikationen umfassen Beiträge zur Musikgeschichte (insb. Richard Wagner und Gustav Mahler), Musikästhetik, Musikphilosophie, Musiktheorie und Musiksoziologie der griechischen Antike und des 17. bis 20. Jahrhunderts. Jörg Rothkamm ist Akademischer Oberrat und Außerplanmäßiger Professor am Musikwissenschaftlichen Institut der Eberhard Karls Universität Tübingen. Nach dem Studium in Hamburg und Wien (M.A. 1998, Promotion 2002) lehrte und forschte er unter anderem in Leipzig und Mannheim (Habilitation 2012) sowie in Paris und Salzburg. Seine Arbeitsgebiete umfassen vor allem Mahler und seine Zeit, Ballettmusik, Musiktheater, Nachkriegsgeschichte der Musikwissenschaft, Komponistinnen und Filmmusik. Zu seinen wichtigsten Büchern zählen: Berthold Goldschmidt und Gustav Mahler, Hamburg 2000; Gustav Mahlers Zehnte Symphonie. Entstehung, Analyse, Rezeption, Frankfurt 2003; Die Beziehung von Musik und Choreographie im Ballett, Berlin 2007; Ballettmusik im 19. und 20. Jahrhundert. Dramaturgie einer Gattung, Mainz 2011; Musikwissenschaft und Vergangenheitspolitik. Forschung und Lehre im frühen Nachkriegsdeutschland, München 2015. In Vorbereitung: Edition des Briefwechsels zwischen Alma Mahler und Walter Gropius (DFG-Projekt). Elisabeth Schmierer habilitierte sich 1996 an der Technischen Universität Berlin und war anschließend Gastprofessorin an der Hochschule der Künste Berlin sowie an den Universitäten in Marburg und Erlangen. Sie ist Außerplanmäßige Professorin an der Technischen Universität Berlin und lehrt an der Folkwang Universität der Künste Essen-Werden. Ihre Buchveröffentlichungen umfassen unter anderem: Die Orchesterlieder Gustav Mahlers, Kassel 1991; Die Tragédies lyriques Niccolò Piccinnis, Laaber 1999; Kleine Geschichte der Oper, Stuttgart 2001; Lexikon der Oper (Hg.), Laaber 2002; Geschichte des Liedes, Laaber 2007, 22016; Lexikon der Musik der Renaissance (Hg.), Laaber 2012; Hans Werner Henze und seine Zeit (Hg. mit Norbert Abels), Laaber 2013; Geschichte des Konzerts, Laaber 2015; Die Musik des 16. Jahrhunderts, Laaber 2016; Chronik der Kirchenmusik, Laaber 2018; sowie eine Geschichte der Messe, Laaber 2019. Agnes Seipelt studierte von 2009–14 Musikwissenschaft und Französisch ( jeweils BA) an der Universität Paderborn und dem Musikwissenschaftlichen Seminar Detmold/Paderborn, anschließend von 2014–17 das Masterstudium Musikwissenschaft in Detmold/Paderborn mit Schwerpunkt „Digitale Edition“. Seit April 2017 ist sie ebenda wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl von Professor Andreas Münzmay sowie Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Digitale Musikanalyse mit den Techniken der Music Encoding Initiative 870

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(MEI) am Beispiel der Kompositionsstudien Anton Bruckners“ der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Kooperation mit dem „Zentrum Musik – Edition – Medien“. Cornelia Szabó-Knotik habilitierte sich 1996 in Graz und ist Außerordentliche Universitätsprofessorin für historische Musikwissenschaft am Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung (2002–16: Institut für Analyse, Theorie und Geschichte der Musik) und seit 2016 Studiendekanin für wissenschaftliche Studien an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Forschungsinteressen betreffen musikalische Medien- und Zeitgeschichte, besonders im Hinblick auf den ästhetischen Gehalt und die sozio-kulturelle Bedeutung von Musik. Seit 2017 leitet sie das Projekts Telling Sounds. Eine digitale Forschungsplattform zur Dokumentation und Aufarbeitung österreichischer Musiken-Geschichte auf der Basis audiovisueller ZeitzeugInnendokumente, 2017–18 hatte sie gemeinsam mit Anita Mayer-Hirzberger die Leitung des Projekts Wie klingt Österreich. Musik als Träger des Emotions-Managements politischer Bewegungen im „Musikland Österreich“ inne (https://www.mdw.ac.at/imi/cornelia_szabo_knotik). Rainer J. Schwob studierte nach einer Ausbildungen in Klavier und Orgel/Kirchenmusik Musikwissenschaft und Alte Geschichte an den Universitäten Graz und Wien, wo er 2004 bei Gernot Gruber mit einer Dissertation zu Claudio Monteverdis L’incoronazione di Poppea im 20. Jahrhundert promovierte. Er führte zwei Forschungsprojekte zu „Mozart im Spiegel des frühen Musikjournalismus“ durch und leitete zahlreiche Lehrveranstaltungen an der Universität Wien, wo er 2013/14 als Universitätsassistent beschäftigt war. Seit Februar 2014 ist er Universitätsassistent am Institut für musikalische Rezeptions- und Interpretationsgeschichte der Universität Mozarteum Salzburg. Einige seiner Arbeitsschwerpunkte sind die Interpretationsforschung und -analyse, die frühe Mozart-Rezeption, Mozarts Zeitgenossen, Kanon- und Repertoirebildung, Monteverdi-Rezeption, Musik-Datenbanken, Alban Berg, Ernst Krenek, Bearbeitungstechniken und die Geschichte des Klavierauszugs. Neuere Publikationen: W. A. Mozart im Spiegel des Musikjournalismus, Bd. 1: Deutschsprachiger Raum, 1782–1800 (Edition) (Hg.), Stuttgart 2015 (= Beiträge zur Mozart-Dokumentation 1); „Nicht nur 2001: Der Donauwalzer im Film“, in: „Kosmisches Arkadien“ und „Wienerische Schlampigkeit“. Johann Strauss (Sohn), An der schönen blauen Donau, op. 314 – Studien zur Rezeptions- und Interpretationsgeschichte, hg. von Joachim Brügge, Freiburg i. Br. 2018 (= klang–reden 21), 51–83. Christian Utz ist Professor für Musiktheorie und Musikanalyse an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz und Privatdozent für Musikwissenschaft an der Universität Wien. Er promovierte (2000) und habilitierte sich (2015) 871

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an der Universität Wien. Utz leitet(e) die vom österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) finanzierten Forschungsprojekte Eine kontextsensitive Theorie posttonaler Klangorganisation (CTPSO, 2012–14) und Augmented Listening: Aufführung, Hörerfahrung und Theoriebildung (PETAL, 2017–20). Er veröffentlichte die Monographien Neue Musik und Interkulturalität. Von John Cage bis Tan Dun, Stuttgart 2002 (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 51) und Komponieren im Kontext der Globalisierung. Perspektiven für eine Musikgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, Bielefeld 2014. Utz ist unter anderem Mitherausgeber des Lexikon Neue Musik (Stuttgart/Kassel 2016) sowie seit 2015 der Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie (ZGMTH). Jean-Jacques Van Vlasselaer has a double career as an academic (Carleton University 1970–2011 and the University of Waterloo since 2011) and as a music critic and writer (Le Matin 1962–68, Le Droit 1972–2015). He has recorded as yet more than 80 podcasts for the National Arts Centre (NAC) in three series: one on the history of the music directors of the NAC orchestra; one on the history of Canadian composers; and one ongoing on the great works of classical music. He has written more than 3.500 articles on music at concerts and about 80 academic articles. He has introduced concerts for the NAC since 1973 and has given a great number of public lectures on classical music (especially Wolfgang Amadeus Mozart, Franz Schubert, Robert Schumann, Johannes Brahms, Richard Wagner, Anton Bruckner) and in particular on Gustav Mahler, on the rejected music between 1933 and 1953, and on music in the concentration camps. Michael Walter studierte Musikwissenschaft und Geschichte an den Universitäten Marburg und Gießen. Nach der Habilitation an der Universität Stuttgart (1993) lehrte er an den Universitäten Bochum und Bayreuth. 2001 übernahm er die Universitätsprofessur für Musikwissenschaft an der Universität Graz, wo er auch das Institut für Musikwissenschaft leitet. Seit 2017 ist er zudem Dekan der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz. Walter hat zahlreiche Aufsätze und Bücher über die Musikgeschichte des Mittelalters, die klassische Instrumentalmusik, Richard Strauss, das Musikleben im „Dritten Reich“ und vor allem zur Operngeschichte veröffentlicht, die sein Hauptforschungsgebiet ist. Seine letzte Buchpublikation ist die 2016 erschienene Monographie Oper. Geschichte einer Institution (Stuttgart). Thomas Wozonig studierte Musikologie, Musiktheorie und Schulmusik an der Universität Graz sowie der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz. Seit Oktober 2017 ist er an letztgenannter Universität als Assistent im durch den Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) geförderten Projekt Towards Interdis872

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ciplinary, Computer-assisted Analysis of Musical Interpretation: Herbert von Karajan beschäftigt. In diesem Rahmen verfasst er auch seine Dissertation über Herbert von Karajan als Interpret der Sinfonien von Jean Sibelius, betreut vom Jubilar dieser Festschrift. Er veröffentlichte Beiträge in der Österreichischen Musikzeitschrift, im Programmheft der Ferienkurse für Neue Musik Darmstadt (zu Giacinto Scelsi), Kwartalnik Młodych Muzykologów UJ sowie der Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie (zur frühen Schenker-Rezeption Hellmut Federhofers). Er nahm als Vortragender an mehreren nationalen und internationalen Symposien teil, etwa „Männlichkeiten und ihre Klischees“, „Personale Gösta Neuwirth“ (beide Graz 2017), der „5th Performance Studies Network Conference“ (Oslo 2018) sowie „Junge Musikwissenschaft“ (Wien 2018). Seit 2018 ist er Mitglied des Editorial Board der Zeitschrift Kwartalnik Młodych Muzykologów UJ sowie Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Musiktheorie. Claudia Maurer Zenck studierte Musikwissenschaft, Romanistik und Germanistik in Freiburg im Breisgau und an der Technischen Universität Berlin. Sie promovierte 1974 und habilitierte sich 2000 an der Universität Innsbruck. 1976–79 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Schwerpunkt „Exilforschung“. 1984–85 hatte sie eine Lehrstuhlvertretung an der Universität Essen inne. Von 1988–2001 wirkte sie als Professorin an der Kunstuniversität Graz, von 2001–13 an der Universität Hamburg. Ihre Publikationen umfassen etwa: Versuch über die wahre Art, Debussy zu analysieren, München 1974; Ernst Krenek – ein Komponist im Exil, Wien 1980; die Herausgabe dreier Dokumentenbände (Briefwechsel, Tagebücher) von Ernst Krenek (Wien 1989–2010); Vom Takt, Wien 2001; Mozarts Così fan tutte, Schliengen 2007; Bühne und Bürgertum. Das Hamburger Stadttheater (1770– 1850) (Hg. mit Bernhard Jahn), Frankfurt a. M. 2016; Neue Opern im „Dritten Reich“. Erfolge und Misserfolge (Hg.), Münster 2016; Verfolgungsgrund: „Zigeuner“, Wien 2016. Seit 2005 ist sie Mitherausgeberin und Autorin des www.lexm.unihamburg.de (seit 2005). Petra Zidarić Györek studierte von 2005–12 Musiktheorie an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz (KUG). 2009 schloss sie das Bachelorstudium mit einer Arbeit über Dieter Schnebels Glossolalie sowie 2012 das Masterstudium mit einer Arbeit über Steve Reichs Tehillim (betreut von Christian Utz) mit Auszeichnung ab. Ihr Forschungsinteresse liegt in der Wechselwirkung zwischen neuer Musik und außereuropäischen Musikkulturen. Seit 2015 betreibt sie ihr PhD-Studium an der Kunstuniversität Graz bei Christian Utz, Peter Revers und Wolfgang Gratzer. Darüber hinaus gehört sie dem Vorstand des Kroatischen Verbands der Musiktheoretiker*innen an. Zurzeit ist sie Universitätsassistentin an der Kunstuniversität Graz. 873

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Personen- und Werkregister

Personen- und Werkregister Abendroth, Hermann  546 Ábrányi, Kornél  355f., 362 Achard, Marcel; Malborough s’en va-t-en guerre  521f., 530, 540 Adelburg, August von; Une soirée aux bords du Bosphore 261 Adler, Guido  409f., 503, 571f. Adorno, Theodor W.  370–372, 375, 377, 582f., 587 622f., 628, 685–688, 690, 696, 707, 709, 712, 720f. Akutagawa, Yasushi  284 Albrecht V. Herzog von Mecklenburg  159 Albrechtsberger, Johann Georg  127, 199 Alciati, Andrea  183 Ali Akbar Khan  782, 788 Alkan, Charles Valentin; Le chemin de fer 44f. Ambros, August Wilhelm  56, 819 Amiot, Jean Joseph  15 Ančerl, Karel  569, 577 Anders, Christian; Es fährt ein Zug nach nirgendwo 42 Andersen, Hans Christian  260, 613, 742f. Angerhöfer, Günther  122, 124, 129 Arezzo, Guido von  155 Aristarch  111f. Aristoteles  315, 650 Armstrong, Louis  770f. Arnold, Johann Baptist; Terzettino  für Sopran, Alt, Tenor und Klavier  261 Arp, Hans  532 Artmann, H. C.  549, 552–555, 613, 624 Astaire, Fred  748 Atterberg, Kurt; Sinfonia visionaria  485 Attwood, Thomas  200f. Auber, Daniel-François-Esprit; Lestocq, ou L’Intrigue et L’Amour  299; La muette de Portici  300 Auden, Wystan Hugh  109 Auenbrugger, Joseph Leopold  833 Augustinus  167 Augustinus, Christian  484 Axmann, Erika  533 Bach, Carl Philipp Emanuel  246, 279 Bach, Johann Christian  524

Bach, Johann Sebastian  61, 80, 112, 116, 246, 279, 285, 326, 396, 431, 439–441, 572, 579f., 649, 654, 754, 825; Chaconne 441; Ein feste Burg ist unser Gott 580; GoldbergVariationen 441; Das wohltemperierte Klavier 79 Bachenheimer, Wilhelm 520 Bachmann, Ingeborg  628 Bain, Barbara  746 Balanchine, George  748 Balász, Béla  504, 506–508 Balbinus, Bohuslaus  182 Bartók, Béla  454; Herzog Blaubarts Burg 508; Der holzgeschnitzte Prinz  508; Erstes Klavierkonzert 459 Bartsch, Conrad Dominik  124 Baryshnikov, Mikhail  742, 748 Basil, Otto  727 Bästlein, Bernhard  574 Baumberg, Gabriele von  195 Becher, Johannes R.  488, 822 Beckett, Samuel  613 Beethoven, Ludwig van  69, 124, 129–131, 194, 199, 211, 220, 246, 261, 263, 269, 271, 276, 279, 282, 284, 303, 318–320, 360, 369, 378, 441, 448, 463, 558, 587, 697, 813f., 817f., 821, 823, 826; 33 Veränderungen über einen Walzer von Anton Diabelli  651–669; Klaviersonate op. 13 Pathétique 72; Klaviersonaten op. 31  447; Klaviersonate op. 106 Hammerklaviersonate 447; Klaviervariationen op. 34  447; Klaviervariationen op. 35  447; Erste Sinfonie  379; Dritte Sinfonie Eroica 380, 383, 447, 680; Fünfte Sinfonie  129, 283, 370, 383; Sechste Sinfonie Pastorale 270, 379–388, 590; Achte Sinfonie  431, 588; Neunte Sinfonie  130f., 280, 285, 313, 377, 591, 675; Zehnte Sinfonie  280 Beigelman, David  574 Beil, Peter; Und dein Zug fährt durch die Nacht 42 Bekker, Paul  517f., 521, 531, 540 Bellini, Vincenzo; I Montecchi e i Capuletti  297 Benatzky, Ralph  760 Bendix, Victor  483

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Personen- und Werkregister Benjamin, Walter  487, 621–623 Benois, Alexander  505 Berdach, Rudolf 757 Berg, Alban  448, 460, 541, 579, 617, 619, 643, 686, 688; Lyrische Suite  686; Wozzeck  51, 53, 223, 541f., 642, 686 Berger, Rodolphe  621; Valses chantées  621 Berger, Theodor  751; An klingenden Ufern 752– 755; Chronique Symphonique 761; Homerische Sinfonie  752, 755 Berlioz, Hector  301–303, 389, 393, 423, 425f., 428f., 431f., 434–436, 451, 468, 588 Berman, Karel  579 Bernauer, Philipp Jochen  613 Bernhard III., Probst von Salzburg  135 Bernhard, Thomas  614, 628 Bernhardi, August Ferdinand  806 Bernstein, Leonard  688, 699, 705, 708, 716, 718–721 Biber, Carl Heinrich  180 Biber, Heinrich Ignaz Franz von; Fidicinium sacro-profanum 178f.; „Rosenkranzsonaten“  177–187; Sonatae tam aris quam aulis servientes 179 Bie, Oscar  361 Bismarck, Otto von  251–253, 310 Blake, William  851f. Block, Karl  522, 524–526, 530, 539 Bloemart, Adrian  180 Bolzano, Bernard  827 Borges, Jorge Luis  613f., 622–624, 626f. Børresen, Hakon  483 Borsody, Eduard von 754 Boulanger, Nadja  585 Boulez, Pierre  585, 596, 706, 708, 710, 714, 721; Le Marteau sans maître  719 Brahms, Johannes  281, 283, 290, 332, 337, 426, 453, 463, 466, 469, 580, 662, 696; Cellosonate e-Moll op. 38  284–288; Cellosonate F-Dur op. 99  285, 287; Horntrio Es-Dur op. 40  286–288, 494; Klavierkonzert d-Moll op. 15  285; Klavierquartett op. 25  285; Klavierquartett op. 26  285; Serenade für Orchester op. 11  285; Erste Sinfonie  285; Zweite Sinfonie  285; Dritte Sinfonie  285, 428; Vierte Sinfonie  287 Brand, Franz  757

Brandl, Johann Evangelist  806 Braun, Ernesto  732 Brecht, Bertolt  61, 233, 488, 490, 493; Die Maßnahme 490; Die Rundköpfe und die Spitzköpfe 493 Brown, Clifford 769 Britten, Benjamin Bruckner, Anton  69, 72–76, 83, 87, 283, 290, 378, 394, 441, 445, 463, 468, 548, 814; Helgoland-Kantate  254; Sinfonie f-Moll „Studiensinfonie“  74; Vierte Sinfonie  348; Achte Sinfonie  282; Von der schlummernden Mutter 83 Brueghel, Pieter  570 Bülow, Hans von  246, 431, 653, 668 Burian, Frantisek; Lied von der Kühle 579 Burney, Charles  38 Burns, Ken; Jazz 769f. Busch, Ernst  490, 574 Busoni, Ferruccio  116, 423, 439–452, 453, 542, 653; Arlecchino, oder Die Fenster 447; Die Brautwahl  444, 449; Elegien 449; Tanzwalzer op. 53 447 Busoni, Gerda  440, 444 Büttner, Wolfgang  730, 754 Buxtehude, Dietrich  524 Caballé, Montserrat  211 Cage, John  48f., 51, 53, 408, 645; Europeras  64–66, 68; Il treno  46–48; Suite for five  68 Čajkovskij, Pëtr Il’ič  67, 283, 463, 468f., 754; Schwanensee  741, 745f., 749 Calderón de la Barca, Pedro; Das Leben ein Traum  519 Callas, Maria  211 Callot, Jaqcues  183f. Campra, André; L’Europe galante  66 Canetti, Elias  517, 543, 625 Cannabich, Christian  190, 199 Cannabich, Rose  190 Capellen, Georg  16 Capitella, Mario  732 Casella, Alfredo  454; La Giara  523 Castel, Louis Bertrand  821 Celan, Paul  604, 613, 621; Todesfuge  571 Chabrier, Emmanuel  428 Chačaturjan, Aram  742; Spartacus  744, 749

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Personen- und Werkregister Chamberlain, Houston Stewart  461 Chatwin, Bruce  845–855; In Patagonia  846, 852 Chesney, George T.; The Battle of Dorking  254 Chodowiecki, Daniel  809f. Chopin, Frédéric  339, 347, 378, 483, 578, 745; Ballade op. 23 339; Étude op. 10 Nr. 2 „Revolution“  754; Dritte Klaviersonate op. 58  346; Six chants polonais  441 Cilenšek, Johann  591 Cimarosa, Domenico  542; Il matrimonio segreto  519, 578 Collins, Nicolas; When John Henry Was a Little Baby  48 Coltrane, John  773, 778 Conti, Bill  745 Corelli, Arcangelo  442 Costeley, Guillaume  631 Coudy, René  572 Craig, Yvonne Joyce  746 Cugnot, Nicolas-Joseph  39 Cunningham, Merce  68 Czerny, Carl  42; Eisenbahn-Variationen über Johann Strauss’ beliebten Eisenbahn-LustWalzer für das Piano-Forte 43

Dinkelsbühl, Nikolaus von  159 Dion, Celine; Let’s Talk About Love 775 Dittersdorf, Carl Ditters von  124; Betrug durch Aberglauben oder Die Schatzgräber 125; Democrito corretto 125; Die Liebe im Narrenhause 125 Dittrich, Karl 525 Dittrich, Paul-Heinz  237, 584 Dittrich, Rudolf  16 Doderer, Claudia  641, 646 Doderer, Heimito von  613, 615f., 641f. Doke, Carl  123 Dotzauer, Friedrich  296, 303 Douglas, Kirk  413, 497 Draeseke, Felix; Christus  485 Dümling, Albrecht  573 Duncan, Isadora  748 Duni, Egidio  542; Die Bärenjäger und das Milchmädchen 523 Durham, Eddie  771 Dvořák, Antonín  39, 337, 463, 569, 577, 580

Eberhard II. von Regensburg  161 Egen, Austin  534; Jeder hat einen Schatz, nur ich hab’ keinen 536 D’Albert, Eugen; Mister Wu 16 Egk, Werner  571 D’Annunzio, Gabriele  439 Ehrenberg, Rudolf; Ischariot und der Dante Alighieri; La divina commedia  621 Schächer  526, 528 d’Erlanger, Rodolphe  634; La Musique Eichberg, Oskar  361 arabe 630 Eichendorff, Joseph von  411, 443, 473, 476 Dahlhaus, Carl  279, 282 Eichentopf, Andreas  121 Dalberg, Nancy  483 Eichentopf, Johann Heinrich  121 Danilova, Alexandra  746 Einstein, Albert  70, 843 Darwin, Charles  205, 209–212 Eisenstein, Sergej; Alexander Nevskij 60; Ivan Darwish, Mahmoud  631, 637; Etat de siège 630 der Schreckliche 60 Dauer, Alfons M.  766 Eisler, Hanns  233, 558, 571, 574, 583; Deutsche David, Anton  124 Sinfonie 495; Johann Faustus  497f., 583; Debussy, Claude  455, 461f., 464, 615 Kammerkantaten 495; Kleine Sinfonie Delibes, Léo  56, 67; Sylvia  744 op. 29 494; Kuhle Wampe 490; Die Delius, Frederick  15 Maßnahme 490; Die Rundköpfe und die Desprez, Josquin  626; Incessament  622 Spitzköpfe 493; Solidaritätslied  490, 493; Dessau, Paul  233, 571, 588; Lukullus 583 Spartakus 1919  487–501; Suiten für Deutsch, Ernst  760 Orchester 494 DeVeaux, Scott  769, 771–773 Eliot, George  281 Dickinson, Bruce  802f. Eliot, T. S. (Thomas Stearns)  854 Diderot, Denis  231 Ellington, Duke  771 Dietzenschmidt, Anton Franz  522; Vom lieben Eppelsheim, Jürgen 121 Augustin 519 Eschberg, Peter  729

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Personen- und Werkregister Eschenbach, Wolfram von; Parzival  308, 311 Essler, Johann  574 Euripides  110, 545, 613 Eysler, Edmund  760 Fabbri, Franco  766 Fackler, Guido  573 Faesi, Robert; Coriolan  520 Fairhurst, Robin  549, 553 Fall, Leo; Die geschiedene Frau 42f. Farkas, Karl  504 Fasch, Carl Friedrich  806 Fast, Howard; Spartacus  497 Fénelon, Fania  572 Fiedler, August Max  484 Figl, Leopold  755 Fischer, Heinrich  725, 727 Fischer, Karl  574 Flaubert, Gustave  281, 847 Fleckenstein, Günther  729 France, Anatole  440 Franck, César  463, 468 Frantz, Constantin  310 Franz Joseph I.  725, 735 Freystädtler, Franz Jakob  200f. Friedheim, Arthur  651–669 Friedländer, Max  229, 233f. Frith, Simon  766f. Fröhlich, Anna  270 Fröhlich, Josefine  270f. Fröhlich, Joseph 125f. Fuchs, Robert; Klavierquartett op. 15 333f.; Erste Violinsonate op. 20  337 Funes, Ireneo  623–625 Furtwängler, Wilhelm  453–472, 681, 761 Fux, Johann Joseph  336 Gadamer, Hans-Georg  15f. Galilei, Galileo  831–833 Gantschacher, Herbert  573, 579 Ganz, Leopold Alexander  301 Ganz, Moritz Eduard  301 Gassner, Ferdinand Simon  296f., 301f. Geißler, Fritz  591 Gers, Janick  802 Gerster, Ottmar  582 Gevaert, François-Auguste; Nouveau traité d’instrumentation  423

Gibbon, Lewis Grassic; Spartacus 496 Gielen, Michael  688, 708, 718, 720 Gilbert, Shiri  573 Giuffre, Jimmy  768 Giulini, Carlo Maria  681, 699, 708 Gjellerup, Karl  477; Fra Vaar til Høst  478 Glaeser, Franz; Des Adlers Horst 297 Glass, Louis  483 Gleizès, Jean Antoine  310 Glinka, Michail  442 Gluck, Christoph Willibald  51, 53, 56, 65f., 116, 119, 524, 542; Alceste  54–55, 415; Don Juan  67, 442 Gobineau, Arthur von  310 Goethe, Johann Wolfgang von  191, 203, 228, 288, 295, 411, 445, 520, 522, 530, 569f., 682, 816; Faust I  263, 276, 358, 365, 497, 521, 673, 680; Faust II  389–402; Der Triumph der Empfindsamkeit 520 Goguel, Rudi  574 Goldmann, Friedrich; Sinfonie 1  581–592 Goldmark, Karl  282, 767 Goodman, Benny 771 Gopalnath, Kadri  788 Gordon, Hermann Albert  488 Gordon, Mack  45, 488 Górecki, Henryk Mikołaj  585; Dritte Sinfonie Sinfonie der Klagelieder 586 Gorki, Arshile  604 Grabbe, Christian Dietrich; Don Juan und Faust 521 Graham, Martha  121, 746 Gratzer, Hans  734 Grétry, André-Ernest-Modeste  542 Grieg, Edvard  469; Cellosonate op. 36  342f. Grillparzer, Franz  259f., 270f., 275, 519, 813– 828; Der arme Spielmann 819 Grøndahl, Launy  480 Grosz, Wilhelm;  Achtung Aufnahme!  503– 516; Afrika-Songs op. 29  504; Baby in der Bar  504, 506; Bänkellieder und Balladen op. 31  504; Jan Korowski 504; Jazzband 504; Serenade op. 5  504; Sganarell op. 14  504, 507; Skandal im Konzerthaus 504; Tanz op. 7  504 Gulbransson, Olaf  238f. Gulda, Friedrich  658 Guldbrandsen, Erling E.   690f.

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Personen- und Werkregister Günther, Hans Friedrich Karl  462 Gurtu, Trilok  788 Gysi, Gregor  489

Hidalgo, Juan  46 Hindemith, Gertrud  40 Hindemith, Paul  40, 459, 461, 511, 531, 548, 571; Neues vom Tage 516; Sonate für Bratsche Haas, Pavel  571, 577–579; Study for allein 41 Strings  569 Hintermeier, Volker  735 Hába, Alois  443, 503, 579 Hoesch, Eduard  754 Haddad, Saed  639 Hoffer, Hans  729 Hall, Plazidus  822 Hoffmann, E. T. A.   443, 813, 818; Hamm, Charles  766 Lebens-Ansichten des Katers Murr 382; Hammond, Albert; I’am a train  44 Serapionsbrüdern 443 Hamsun, Knut; Munken Venddt 520 Hoffmann, Rudolf Stefan  502, 506 Händel, Georg Friedrich  112 Hofmannsthal, Hugo von  235, 613 Handschin, Jacques  474f. Hojsa, Tommy  735 Handy, John  782, 788 Holbein, Hans  570 Hansen, Theophil  260 Hölderlin, Friedrich  530 Hanslick, Eduard  111, 119, 126, 324, 377, 447, Hollmann, Hans  727–730, 737 474, 818f.; Vom Musikalisch-Schönen 119, Holst, Gustav  457; The Planets 485 208f., 806, 812f. Holzinger, Alfred  621 Hardt-Warden, Bruno;  Sonntag geh’n wir Hölzlhuber, Franz  39f. tanzen, Schatz 535 Homer  110f., 228, 235, 824, 839; Odyssee  621, Harriott, Joe  782 752 Harris, Steve  791f., 795 Honegger, Arthur  44, 454; Pacific 231  45 Hashimoto, Qunihico  284 Horn, David  766 Hauch, Gunnar  458 Hornung, Christian  482 Hauff, Wilhelm; Steh’ ich in finst’rer Hovhaness, Alan  283 Mitternacht 488 Huber, Klaus; Die Erde bewegt sich auf den Hausegger, Friedrich von  205–214, 427 Hörnern eines Stiers 629; Die Seele muss vom Hausegger, Siegmund von; Natursymphonie 485 Reittier steigen  629–640; Lamentationes de Haydn, Joseph  126, 199, 218, 379, 463, 524, fine vicesimi saeculi 634f. 580, 588, 806, 813f., 822, 825f.; Die Hugenberg, Alfred  497 Jahreszeiten  126, 129, 220; Die sieben letzten Humboldt, Alexander von  260 Worte unseres Erlösers am Kreuze  129, 221 Humboldt, Wilhelm von  230, 444 Haydn, Michael  199 Huron, David  78 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  249–251, Hussain, Zakir  782, 785, 789 323, 441, 445; Vorlesungen zur Ästhetik 313 Iyer, Vijay  789 Heine, Heinrich  237, 253, 269f., 273, 411; Buch der Lieder 270; Das Meer erglänzte weit Jacquin, Emilian Gottfried von  195–199 hinaus 248f. Jacquin, Franziska von  196 Heinsheimer, Hans 506 Jacquin, Joseph Franz von  196 Heißler, Karl  332 Jacquin, Nikolaus Joseph Freiherr von  195 Heller, Friedrich C.  751 Jakisic, Matthias  735 Helmer, Oskar  755, 757 Jaldati, Jin  573 Henriques, Fini  483 Jandl, Ernst  613 Hérold, Ferdinand  67 Jani, Emilio  572 Hertzka, Emil  506f., 531, 540 Janko, Janos  674 Heym, Georg  613 Jansons, Mariss  681

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Personen- und Werkregister Jelinek, Elfriede  730f. Jenger, Johann Baptist  260, 262f., 265, 268, 270f., 275 Jensen, Johannes Vilhelm  485 Jeritza, Maria  760 Joachim, Joseph  246 Joppig, Gunther  129 Jost, Ekkehard  766 Joyce, James  613 Jürgens, Curd  754

Knappertsbusch, Hans  423, 456, 676 Koch, Heinrich Christoph  127, 301 Kochan, Günter  582, 591 Koestler, Arthur  490; Die Gladiatoren 496f. Köhler, Siegfried  581f. Kohn, Viktor  579 Kokoschka, Oskar  530f., 540f. Kollo, Willi  534f., 699; Sonntag geh’n wir tanzen, Schatz 535 Kondraschin, Kirill  676 Konta, Robert  504 Kaczerginski, Szmerke  573 Kornauth, Egon  503 Kagel, Mauricio  53, 62; Match 63; Pas de Körner, Theodor  757 cinq 68; Staatstheater  63–65, 68 Kornfeld, Paul  520 Kahr, Cäcilia  753, 769 Korngold, Erich Wolfgang  284, 571 Kainz, Friedrich  819 Krása, Hans; Brundibar  571, 578f. Kaiser, Georg; Zweimal Oliver 520f. Kraus, Karl  613; Die letzten Tage der Kalidasa; Sakuntala 520 Menschheit  723–737 Kalisch, Shoshana  573 Krauss, Clemens  433, 466, 472, 545, 676 Kalmus, Alfred  507 Kreal, Ernst; Mondnachtsfantasie 754 Kandinsky, Wassily  446, 613 Krenek, Ernst  503, 511, 517–543, 571, 777; Kant, Immanuel  396, 474, 816, 826f. 4 a-cappella-Chöre op. 47 530; Das Kara, Josza  573 altdeutsche Osterspiel 526; Concerto grosso Karajan, Herbert von  18, 41, 69, 454, 468, 472, op. 25 523; Die frühen Gräber op. 19 688, 699, 705, 708, 717 Nr. 5 522; Das Gottes-Kind op. 42  525f., Karl, Jörg  759 530; Die Jahreszeiten 530; Jonny spielt Karlweis, Oskar  760 auf  516, 531f., 534, 539–541; 5 Klavierstücke Katzer, Georg  584 op. 39 531; 4 kleine Männerchöre op. 32 530; Kees, Stephan Edler von  130 Marienklage 526f.; O du titulierter KronenKeilberth, Joseph  676, 681, 708, 752 und Wappentattersall 532; Orpheus und Keller, Benjamin  754 Eurydike  530f., 539, 541f.; Radio-Blues 532; Keysell, Mary  533 Der Sprung über den Schatten  541; Suite Kien, Peter  578, 580 op. 43a 522; Symphonie für Blasorchester Kiesewetter, Irene (verh. Prokeschop. 34 531; Der vertauschte Cupido 521; Osten)   257–277 Violinkonzert 531 Kiesewetter, Raphael Georg  259, 263, 819 Krenek, Gladys  527f. Kind, Silva  40 Krenn, Robert; Wo die Tischerln mit Blüten Kirchgessner, Marianne  806 bedeckt 537 Kitzler, Otto  72–75, 83 Krings-Eichthal, Katharina Elise  272 Klasinc, Walter  549f. Krips, Josef  520 Klee, Paul  613 Krumhansl, Carol  81f. Kleiber, Carlos  677f., 681 Krzyzanowski, Rudolf  330–332 Kleiber, Erich  676–678 Kubik, Gerhard  766 Klein, Gideon  571, 579 Kubrick, Stanley  497 Klein, Hans-Günther  573 Kuenburg, Max Gandolph von  178 Klemperer, Otto  456, 466f., 469, 472, 676, Kuhnau, Johann  184 705, 708, 714, 719–721 Kulisiewicz, Alexander  573 Kloempken, Tina  735 Kuna, Milan  573

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Personen- und Werkregister Kurz, Johann Joseph Felix von; Bernadon auf der Gelseninsel 216 Lachenmann, Helmut  594, 633 Lachmann, Karl  112, 413 Lachner, Franz  273; Fünfte Sinfonie Sinfonia passionata 282 Laënnec, René Théophile  833f. Laks, Simon  572, 575f. Lammel, Inge  573 Lammer, Patrick  735 Lang, Klaus  641–650; architektur des regens 641; BUCH ASCHE 641; das brot des todes und das brot des lebens  641, 643f., 646f., 650; der einf luss des menschen auf den mond 642; der handschuh des immanuel 641, 643–646, 648, 650; der verschwundene hochzeiter 642; die perser 641; kirschblüten. ohr 641; königin ök 641 Langgaard, Emma  481f., 484, 486 Langgaard, Rued I.  473–486; Antikrist 485; Præludio patetico 484; Sfærernes musik  283, 473–486; Erste Sinfonie Klippepastoraler  484; Zweite Sinfonie Vaarbrud  485; Dritte Sinfonie Ungdomsbrus  485; Fünfte Sinfonie Sommersagnsdrama  475, 479; Sphinx  484 Langgaard, Siegried  482 Lanner, Joseph  42; Ankunfts-Walzer op. 34  41 Lannoy, Eduard von 126, 128 Ledec, Egon  579 Legal, Ernst  539 Leigh, Janet  740 Lempp, Martin  123 Léon, Victor  42 Leopoldi, Hermann  574, 760 Lerman, Liz  107 Lessing, Gotthold Ephraim; Laokoon  815 Levi, Primo  287, 575, 580 Lewy, Josef Rudolf  303 Liebermann, Tanja  238, 735 Liebknecht, Karl  489–491 Ligeti, György  64, 591, 594; Apparitions  480; Atmosphères  283, 479f., 610, 719; Cellokonzert  597; Lux aeterna  597; Volumina  593 Likawetz, Josef Calasanz  827 Lindenberg, Udo; Sonderzug nach Pankow 45

Lipiner, Siegfried  356; Der entfesselte Prometheus 357 Lipiński, Karol  303 List, Rudolf  613 Liszt, Franz  64, 264, 269, 277, 282, 284, 290, 304, 320, 358, 440, 449, 463, 467, 482, 652–655, 661, 672–675, 677, 679f., 754, 813; Dante-Symphonie  378, 450; Eine FaustSymphonie  389–398; Klaviersonate  653, 697; Rhapsodie Espagnole  441f.; Sinfonische Dichtung Nr. 1 Ce qu’on entend sur la montagne 672; Spanische Fantasie 442 Lobe, Johann Christian  128 Lock, Ida  219, 294, 473, 476 Loewe, Carl  282 Löhner, Fritz  574 Lombardo, Guy  771 Lorca, Federico Garcia  613 Losinio, Carl; Die Anachoreten in Theben  391 Lotz, Theodor  122–127 Ludwig, Christa  699, 705, 721 Ludwig, Otto  290 Lully, Jean-Baptiste; Ballet d’Alcidiane et Polexandre  66; Ballet de la nuit  66; Le Bourgeois Gentilhomme  66 Lumbye, Christian Hans  42 Lumley, Joanna  744 Lunceford, Jimmie  763f., 770–773 Luntz, Erwin  177f. Luther, Martin  144, 226, 246, 486 Luxemburg, Rosa  489–491 Madetoja, Leevi  479, 486 Mahler, Alma  389, 396–398, 403, 405, 541, 689 Mahler, Gustav  220, 234, 279, 281, 283, 290, 369f., 373–375, 377f., 380f., 384, 386–388, 392, 395–402, 426, 428, 430f., 435, 439, 459, 465, 517, 541, 548, 555, 571, 579, 582, 587f., 653, 744; Der Abschied  20, 410f., 685–722; Klavierquartett  329–354; Des Knaben Wunderhorn  227, 235, 366, 845; Das Lied von der Erde 14, 403–412, 580, 591; Erste Sinfonie Titan 280, 355–367, 369– 378, 383; Zweite Sinfonie  359, 361; Dritte Sinfonie  385, 442; Vierte Sinfonie  376, 379, 382f.; Fünfte Sinfonie  376; Sechste Sinfonie  376; Siebte Sinfonie  688; Achte

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Personen- und Werkregister Sinfonie  389, 393f.; Neunte Sinfonie  407, 412, 590f., 686 Maier, Sabine  642 Makarova, Natalia  742 Mandel, Herbert  580 Mandel, Thomas  577 Mann, Heinrich  281 Mann, Thomas  232, 245, 280f., 327, 591 Marchetti, Walter  46 Marini, Biagio  178 Marsalis, Wynton  770 Marschalk, Max  355, 359–362, 365, 380 Marschner, Heinrich  326; Der Templer und die Jüdin 300 Marshall, Joan  746 Marx, Adolph Bernhard  128, 428, 445 Marx, Karl  487, 571 Mascagni, Pietro; Iris 16 Mason, Marie  748f. Matić, Peter  734 Mauthner, Fritz  623 Maximilian Franz von Österreich  123 Maxwell, John  77 May, Karl  281, 614 Mayer, Günter 583 Mayer, John  782 Mayuzumi, Toshirō  284 McLaughlin, John  784–787 Mehring, Franz  491 Meinong, Alexius  623 Meissonnier, Ernest  245 Mejerchol’d, Vsevolod  59–61 Melartin, Erkki  479 Mendelssohn Bartholdy, Felix   326, 394, 571; Elias 394; Paulus 394; Dritte Sinfonie  697 Mendelssohn, Moses  231 Meng Haoran  697 Mengelberg, Willem  393, 506, 680 Menzel, Adolf; Das Flötenkonzert Friedrichs des Großen in Sanssouci 246 Merleau-Ponty, Maurice  681 Messiaen, Olivier; Chronochromie 719; Quatuor pour la fin du temps  579 Metheny, Pat; Last Train Home  45 Meyer, Conrad F.  580 Meyer, Ernst Hermann  591 Meyer, Friedrich Wilhelm  424 Meyer, Jean  44

Meyerbeer, Giacomo  260, 277; Les Huguenots  296 Middleton, Richard  766 Milhaud, Darius  548 Miller, Johann Martin  813 Miller, Zacharias  180 Mitchell, James Leslie  496f; Spartacus  496; A Scots Quair  496 Moll, Carl  405 Moltke, Helmuth von  241, 251 Monk, Thelonious  767, 785 Monteverdi, Claudio; Il Combattimento di Tancredi e Clorinda  212f.; Marienvesper  118, 171 Moodie, Alma  531 Monk, Thelonious; Straight, No Chaser  785 Morgenstern, Christian  613 Moritz, Karl Philipp  813 Morricone, Ennio  745 Mosel, Ignaz Franz  815 Motihar, Dewan  782 Mottl, Felix  681 Mozart, Constanze  196–198, 215 Mozart, Leopold  191–193, 199–201 Mozart, Wolfgang Amadeus  37–39, 59, 115f., 124f., 129, 189–204, 261, 277, 281, 363, 379, 442f., 503, 524, 558, 563, 588, 813, 817, 822f., 825f.; Adagio für Glasharmonika KV 617a 806; Als Luise die Briefe ihres ungetreuen Liebhabers verbrannte KV 520  194f., 197f., 389; An Chloe KV 524  195; La Clemenza di Tito  191f., 222; Così fan tutte 221; Dans un bois solitaire KV 308  190; Dominicusmesse KV 66  218; Don Giovanni 191, 209, 211–214, 220f., 295–298, 301, 415, 440; Eine kleine Nachtmusik KV 525  190; Die Entführung aus dem Serail  191, 219, 540; Gran Partita KV 361  218; Idomeneo 193, 218; Klarinettenkonzert KV 622  125; Klarinettenquintett KV 581  218; Klavierkonzert Es-Dur KV 449  192; Klavierkonzert G-Dur KV 453  192; Klaviersonate C-Dur KV 309  190; Sonate für Klavier zu vier Händen C-Dur KV 521 196; Lied der Trennung KV 519  195; Maurerische Trauermusik KV 477  124, 129; Oiseaux, si tous le ans KV 307  190; Quintett für Glasharmonika, Flöte,

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Personen- und Werkregister Oboe, Bratsche und Cello KV 617  806; Requiem KV 626  190, 431; Sechs deutsche Tänze KV 536  217; Sechs deutsche Tänze KV 537  217; Sehnsucht nach dem Frühling KV 596  203; Sinfonie D-Dur KV 504 Prager  190; Sinfonie Es-Dur KV 543  190, 218; Sinfonie g-Moll KV 550  190f., 223, 434; Sinfonie C-Dur KV 551  190, 218; Streichquintett g-Moll KV 516  223; Das Traumbild KV 530  194, 197; Trio KV 498 Kegelstatt-Trio 196; Das Veilchen KV 576  195, 203; Die Zauberflöte  66, 191, 203, 214, 215–223, 818 Mugerauer, Anton  823 Müller, Adolf; Lumpazivagabundus 297 Müller, August  128 Müller, Christian Gottlieb  282 Müller, Friedrich  297 Müller, Sophie  263, 268 Müller, Wilhelm  411 Münzer, Thomas  498

Nono, Luigi  585, 591, 593–611; Cori di Didone  593, 595f., 603–605, 608f.; Il canto sospeso  593–598, 600, 602, 604; Prometeo  650 Norman, Jessye  413, 712 Noske, Gustav  489, 493 Nott, Jonathan  708, 716f. Nottebohm, Gustav  445 Nowka, Dieter  582 Nurejew, Rudolf  742, 748 O’Neill, Eugene  613 Offenbach, Jacques; Nummer 66 523; Orpheus in der Unterwelt 523 Oliver, Melvin James „Sy“  763 Oliver, Paul  766 Onslow, Georges  282 Orff, Carl  571; Gisei – Das Opfer 16 Ortner, Roman  180, 549

Pachler, Marie  257, 262f., 268 Palestrina, Giovanni Pierluigi da  644f., 649; Lamentationum Hieremiae prophetae  641 Nancy, Jean-Luc  617, 681 Panufnik, Andrzej; Sinfonia sacra  586 Nestroy, Johann; Lumpazivagabundus  297 Parker, Andrea  746 Netrebko, Anna  211 Parker, Charlie  782, 785 Neubrand-Bentz, Charlotte  613 Pasolini, Pier Paolo  613 Neuwirth, Gösta 613–628; Adagio für Flöte und Paul, Jean  380–383, 387, 476, 813, 823; Die Gitarre bzw. Vihuela  622, 627; Der Garten Unbestechlichen 748f.; Titan 280 der Pfade, die sich verzweigen  622, 626; Peduzzi, Lubomir  573 Differencias sobre „Incessament“ 622; Hier et Pên, Ts’ui  626 demain  616, 619f.; L’oubli bouilli  613, 618, Penderecki, Krzysztof  594; Anaklasis 719; 624f.; Méandres ténébreux 622; Schandbuch Magnificat  586; Erste Sinfonie  585; der gewarnten Liebe  619f., 625; Sieben Stücke Threnos 593 für Streichquartett  613, 625; Streichquartett Pergolesi, Giovanni Battista 542 (1976) 613; Traum und Zeit 620f.; Perini, Carolina  222 Vanish  618, 624, 627; Vieux Songe 627 Perreau, Janine  740 Nicolai, Carl  289 Peter, Alexander; Wo die Tischerln mit Blüten Nicolai, Friedrich  231 bedeckt 537 Nielsen, Carl August; 479–482, 485f; Lille Suite Pettersson, Allan  15 483; Erste Sinfonie  482; Petyrek, Felix  503, 506, 511 Fünfte Sinfonie  459 Pfitzner, Hans  448, 456, 461, 463; Die Rose vom Nielsen, Frederik  481 Liebesgarten 396 Nielsen, Ludolf  483 Pfohl, Ferdinand  355 Nierychio, Franz; Arbeit macht frei 579 Piccerini, Paul  748 Nietzsche, Friedrich  309, 311f., 314, 326, 356f. Piccinni, Niccolò  542 Nikisch, Arthur  428, 484, 658 Pichler, Virgil II.  164 Nikolaus II. von Esterházy  126 Pingoud, Ernest; Le Chant de l’espace  485; Nishikaze, Makiko; ppt 650 Le Prophète  485; Mysterium  485

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Personen- und Werkregister Piscator, Erwin  728 Plath, Sylvia  613 Platon  225f. Plinius Secundus, Gaius; Naturalis historia  623 Ployer, Barbara  192, 200f. Polak, Abraham J.  16 Pollak, Theobald  405 Polnauer, Josef  614 Pontoppidan, Henrik  485 Prokesch-Osten, Anton  260, 268–275 Prokof ’ev, Sergej; Alexander Nevskij 60; Ivan der Schreckliche 60; L’amour des trois oranges  58–61, 67f.; Skytische Suite 417 Proust, Marcel  613f., 617, 620, 623–625, 627; Les plaisir et les jours 621; À la recherche du temps perdu  616, 618f., 621f., 628 Puccini, Giacomo  65f. Pückler-Muskau, Hermann von  260, 269, 276f. Pudor, Heinrich  146, 253f. Purcell, Henry; Fairy Queen  520

Richter, Hans  288 Richter, Swjatoslaw  658 Ricordi, Giulio  675 Riemann, Hugo  572 Riemann, Ludwig  16 Riezlmayr, Georg  822 Rilke, Rainer Maria  580; Duineser Elegien 569; O Lacrymosa  530, 539; Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke  569, 580 Rimskij-Korsakov, Nikolaj  59 Rittermann, Michael  728f. Robeson, Paul  574 Rochlitz, Friedrich  199, 298, 808, 810f. Roese, Otto  414, 417 Roland, Perry  71, 247 Rolle, Johann Friedrich  298 Roller, Alfred  405 Rorarius, Augustin  129 Rosbaud, Hans  708, 718f. Rosenberg, Alfred  252, 462 Qualtinger, Helmut  724, 737; Der Herr Rosenstock, Josef  503 Karl 723 Rösing, Helmut  764–766, 774 Rotter, Fritz  534; Jeder hat einen Schatz, nur ich Raab, Julius 758 hab’ keinen 536 Raff, Joachim 282 Rousseau, Jean-Jacques  226f. Rameau, Jean-Philippe  445, 521, 523, 542; Les Rubinstein, Anton  282, 653 fêtes de l’Hymen et de l’Amour 519; Les Indes Rubinstein, Artur 745 galantes 66; Platée 66 Rühm, Gerhard  49; köln-hamburg retour. ein Rangström, Ture  486; Erste Sinfonie Strindberg fahrplan 46 in memoriam 479 Russell, George; The Lydian Chromatic Concept of Rathaus, Karol  503, 506f., 511 Tonal Organization  769 Ratz, Erwin  614 Rautavaara, Einojuhani  15 Saaz, Johannes von; Der Ackermann aus Ravel, Maurice  455, 462, 464 Böhmen 526 Reger, Max  202, 456, 461f., 604, 654; HillerSalmhofer, Franz  503 Variationen op. 100  281; Mozart-Variationen Sapp, Craig  78, 84f., 87 op. 132 281 Schachter, Raphael  577f. Rehfisch, Hans J.; Duell am Lido 521 Schack, Adolf Friedrich von  217, 277 Reich, Steve; Different Trains 46 Schaeffer, Pierre; Étude aux chemins de fer 45 Reichardt, Johann Friedrich  124, 228, 301, Schafer, Raymond Murray  834–836, 839 806 Scheel, Karl  522 Reinecke, Carl  282, 763 Scheit, Karl  553 Reinhardt, Max  16, 728 Schemmel, Martin  129 Reissiger, Carl Gottlieb  303 Schenker, Friedrich  584, 590 Renan, Joseph Ernest  310 Scherchen, Hermann  520, 596 Respighi, Ottorino  455f., 461 Schiff ler, Franz Xaver  823 Rheinberger, Josef  654 Schikaneder, Emanuel  217, 223

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Personen- und Werkregister Schiller, Friedrich  231, 295, 387, 475, 521, 525, 808, 811f.; Die Braut von Messina 807; Die Jung frau von Orleans  519, 525; Nachschrift der ästhetischen Vorlesung 807 Schinas, Bettina  276 Schmidt, Klamer Eberhard Karl  195 Schmidt-Hensel, Roland  247 Schmid-Lindner, August  654f. Schmidt-Mühlisch, Lothar  730 Schmidt, Christfried  590 Schmiedleitner, Georg  735f. Schmuckler, Mark  81 Schnabel, Artur  41, 662, 690 Schnedler-Petersen, Frederik  479 Schnellar, Hans  431 Schneller, Julius  271 Schnitzler, Arthur  726 Scholl, Franz  126, 128 Schöllnast, Franz  128 Schollum, Robert  548, 551–554 Schönauer, Marianne  754 Schönberg, Arnold  201f., 231, 441, 446, 455, 461, 503, 524, 543, 546, 548f., 555, 559f., 562f., 585, 587–589, 591, 599, 614f., 688f., 696; Klavierstück op. 11 Nr. 2  449; Pierrot lunaire op. 21 554; Drei Satiren op. 28 543; Sechs kleine Klavierstücke op. 19  686; Zweites Streichquartett op. 10  686; Variationen für Orchester op. 31  459f.; Schönstein, Karl Freiherr von  262–264, 269– 272, 274f. Schoof, Manfred  782 Schopenhauer, Arthur  206, 310, 314, 356, 447, 626; Metaphysik der Musik 313 Schreker, Franz  503, 615–617; Die Gezeichneten 459 Schubert, Franz  189, 194, 199, 202, 204, 220, 234, 248f., 258f., 264f., 268f., 273f., 285, 339, 463, 530, 578, 818, 822f.; 13 Variationen auf ein Thema von Anton Hüttenbrenner D  576 84, 257; Cantate zur Feier der Genesung der Irene Kiesewetter D  936 261; Divertissement à l’hongroise D  818 263; Die schöne Müllerin  263, 266; Schwanengesang 237; Der Tanz D  826 261; Variationen über ein französisches Lied für das Piano-Forte auf vier Händen D  624 260; Wanderer-Fantasie 339; Winterreise  277, 411 Schul, Zikmund  579

Schulhoff, Erwin; Achte Sinfonie  579 Schuller, Gunther  771 Schultz, Ingo  572f., 579 Schulz, Johann Abraham Peter  225, 230f., 234; Lieder im Volkston  226–229, 232f., 235 Schulz, Richard  488f. Schumann, Clara  142, 246, 284, 286–288, 569 Schumann, Coco  573 Schumann, Robert  189, 204, 228f., 237, 245, 285, 363, 393, 448, 463, 469, 590, 754; Carnaval 448; Davidsbündlertänze 448, 483; Kinderszenen 448; Kreisleriana 448; Papillons 448; Scenen aus Göthe’s Faust  389– 402; Dritte Sinfonie  282; Schweizer, Irène  777, 782 Sechter, Simon  72, 445 Seyringer, Nikolaus  159 Shakespeare, William  458, 521; Coriolan 520; Macbeth 621; Ein Sommernachtstraum 520; Der Sturm 521; Das Wintermärchen 520 Shatner, William  748 Sibelius, Jean  80, 283, 453–472, 486, 744; Der Barde 458; Die Dryade 471; En Saga 454, 457f., 464–466, 468f., 471; Finlandia 457f., 464f., 468, 479; Schwan von Tuonela  471; Erste Sinfonie  469, 471; Zweite Sinfonie  464, 466, 468f., 479; Dritte Sinfonie  468; Vierte Sinfonie  459; Fünfte Sinfonie  475; Sechste Sinfonie  468, 472; Siebte Sinfonie  464, 466, 468, 472; Tapiola  466, 469, 472, 479; The Tempest  457f., 464, 466, 469, 472; Valse triste  223, 454, 457f., 464–466, 468; Violinkonzert  454, 458f., 464, 466, 472 Siecke, Carl  653 Sinopoli, Giuseppe  681, 708 Skraup, Karl  753 Skrjabin, Alexander  588; Le Poème de l’Extase  459, 485 Smetana, Bedřich  463; Má vlast  284; Prodaná nevěsta  578 Smith, Adrian  802 Smith, Jaclyn  741, 747f. Solari, Santino  180 Solger, Karl Wilhelm Ferdinand; Erwin. Vier Gespräche über das Schöne und die Kunst 442 Solti, Georg  705, 708, 717 Sonnleithner, Leopold von  262–266, 271, 814, 819

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Personen- und Werkregister Šostakovič, Dmitrij  742, 744 Spies, Leo  582 Spohr, Louis  270, 283, 299 Springer, Vincent  124 Stamitz, Carl  524 Stearn, Marshall  768 Stehle, Johann 129 Stein, Willi  576 Steinhauer, Erwin  466, 736f. Steinkeller, Ernst  625 Stenhammar, Wilhelm  479 Stevens, Cat; Peace Train 42 Stifter, Adalbert  813–828; Abdias 820f.; Ausf lüge und Landpartien 823; Hochwald 820; Die Mappe meines Urgroßvaters 820; Mein Leben 820; Nachsommer 825f.; Narrenburg 820; Prater 823; Salonszenen 824; Zwei Schwestern  820, 824 Stockhausen, Julius  266, 277 Stockhausen, Karlheinz  68, 585, 591, 596, 603 Stoker, Bram; Dracula 254 Stokowski, Leopold  467 Stolz, Robert  760 Storace, Nancy  219 Storb, Ilse  766 Strauss (Sohn), Johann  44, 447, 677; Accelerationen 44; An der schönen blauen Donau 677f.; Die Fledermaus 578; Pizzicato Polka 740; Vergnügungszug 44 Strauss (Vater), Johann; Eisenbahn-LustWalzer 42 Strauss, Eduard; Bahn frei 42; Glockensignale 44 Strauss, Franz  425 Strauss, Richard  66, 68, 202, 220, 358, 378, 423–437, 443f., 446, 456, 462f., 467, 469, 545, 588,686; Alpensinfonie  414, 433; Also sprach Zarathustra  414, 417; Ariadne auf Naxos  433, 436; Capriccio  433, 753f.; Don Juan  425, 430; Elektra 415; Die Frau ohne Schatten  430, 433; Guntram  425f., 430, 436; Intermezzo 433; Japanische Festmusik 571; Lied der Frauen op. 68 Nr. 6  433; Macbeth 430; Olympische Hymne 571; Salome  413–422, 434; Die schweigsame Frau 571; Symphonia Domestica 431f.; Tod und Verklärung  428, 545, 685

Stravinskij, Igor  59, 68; Pulcinella  588; Requiem canticles  588; Le sacre du printemps 67; Sinfonie in drei Sätzen  588, 591 Stroumsa, Jacques  572 Sturges, Jeff  741 Suk, Josef  569, 580 Süßmayr, Franz Xaver  200 Szell, Georg  520 Tagg, Philip  766 Täglichsbeck, Thomas  282 Tagore, Rabindranath  521; Der König der dunklen Kammer 520 Taube, Carlo  579, 731 Tauber, Kaspar  122f. Temperley, David  78, 83f., 87 Tennstedt, Klaus  681, 708 Thimig, Hans  754 Thorson, Linda  748 Thuille, Ludwig  424 Thunhart, Peter  549 Tieck, Ludwig  805, 808, 811–813 Thornberg, Julius  484 Tintner, Georg  579 Toch, Ernst; Der Fächer 516 Toller, Ernst  604; Die Rache des verhöhnten Liebhabers 520 Tolna, Georg Festetics von  125 Tomášek, Václav Jan Krtitel  202–204 Tompkins, Eddie  771 Torberg, Friedrich  723f., 728 Toscanini, Arturo  471, 672, 675–677, 679f. Trakl, Georg  580, 613 Trauner, Fritz  534; Setz’ Di’ auf mei’ Pupperlhutsch’n 538 Trauner, Rudi  534; Setz’ Di’ auf mei’ Pupperlhutsch’n 538 Trevithick, Richard  39 Trumbo, Dalton  497 Trump, Donald  497 Truška, Simon Joseph  122f., 129 Tyner, McCoy 781 Uhlmann, Johann Tobias  129f. Ullmann, Viktor 571–573, 577; Chinesische Lieder 580; Der Kaiser von Atlantis 578, 580; Klaviersonaten 579f.; Drittes

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Personen- und Werkregister Streichquartett 579; Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke 569, 579f. Unterkircher, Hans  752f.

Warren, Lesley  748 Wawra, Wenzel  823 Webber, Andrew Lloyd; Starlight Express  45 Weber, Carl Maria von  56, 303, 317, 433, 520; Varvasovszky, László  730 Die drei Pintos  428; Euryanthe  818; Verdi, Giuseppe  115, 428, 675; La Forza del Der Freischütz  57, 816; La Preziosa  523 Destino  676f.; Nabucco  474; Requiem  578 Weber, Ilse  579 Victoria, Queen  252 Webern, Anton  460, 548; Konzert für 9 Villon, François  580 Instrumente op. 24  589; Streichquartett Viola, Bill  643; Martyrs  647f. op. 28 589 Vlad, Roman  447 Wedekind, Frank  580; Die Kaiserin von Vogg, Herbert  550–553, 566 Neufundland 521 Vogl, Johann Michael  273 Weigl, Karl  284 Volkmann, Robert  282 Weill, Kurt  233, 524, 571; Aufstieg und Volrab, Ondrey  579 Fall der Stadt Mahagonny 516; Die Voltaire 246 Dreigroschenoper 516 Volterra, Meshullam da  38 Weiner, Erich  577 Voß, Johann Heinrich  227–235 Weingartner, Felix  454, 471, 545; Serenade op. 6 424 Wackenroder, Wilhelm Heinrich  805–808, Weininger, Otto 725 811f.; Herzensergießungen 813 Weismantel, Leo  530; Die Geheimnisse der Wagner, Cosima  308, 314f., 317f., 320, 322, zwölf heiligen Nächte 530; Würzburger 325f. Totentanz 526 Wagner, Richard  53, 60, 64, 67f., 116, 118, Weissenborn, Hanns  613 246, 251, 284f., 289, 293–305, 307–328, Wellesz, Egon Achilles auf Skyros 546; 356–358, 377, 389, 394, 424, 426f., 429–431, Alkestis  55, 546; Die Bakchantinnen 545; 433f., 474, 482, 542, 587f., 614f.; Der Canticum sapientiae 551; Incognita 547; fliegende Holländer 319; Götterdämmerung Lieder aus Wien  545–567; Mitte des 59, 319; Das Liebesverbot 301; Lohengrin 63, Lebens 546; Die Nächtlichen  449, 546; Die 308, 311, 315, 319, 434; Die Meistersinger Opferung des Gefangenen 546; Persisches von Nürnberg 308, 315; Parsifal 57, 308–312, Ballett 546; Die Prinzessin Girnara 546; 314–317, 319–328, 373; Das Rheingold 57f., Prosperos Beschwörungen 545f.; Rhapsodie 297, 312, 315; Rienzi 302, 474; Der Ring des für Viola solo op. 87 549; Scherz, List Nibelungen 55–59, 302, 304, 309, 311, 313, und Rache  546; Erste Sinfonie  548; 315, 319, 323f., 474, 721; Sinfonie C-Dur Vierte Sinfonie Austriaca  548; Fünfte 314; Tannhäuser 308–311; Tristan und Isolde Sinfonie  549, 561; Neunte Sinfonie  548; 57, 311, 313, 315, 318, 321f., 643, 647f., 685; Vorfrühling 545; Das Wunder der Diana 546 Die Walküre 435 Wellesz, Elisabeth 547 Waits, Tom; Train Song  44 Wellesz, Emmy  547, 555 Walcott, Colin; Travel by Night  45 Wellesz, Magda 547 Waldemar, Richard  40 Wells, Herbert George  254 Walden, Dick  572 Wendel, Ernst  531 Waldenfels, Bernhard  101, 681–683 Werner, Anton von  237–256; Die Wallner, Michael  730f. Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches am Walter, Bruno  382, 405–407, 456, 467, 545, 18. Januar 1871 240; Im Etappenquartier vor 691, 693, 699, 704, 706, 708–714, 717, 719 Paris  237f., 241f., 245, 247f., 255; Kampf Wang Wei  192, 411, 697 und Sieg 243; Kriegsgefangen 243 Warren, Harry; Chattanooga Choo Choo  45 Wesendonck, Mathilde  315, 322

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Personen- und Werkregister West, Hedy; Miles Away from Home  42 Whiteman, Paul  771f. Widauer, Christoph  734 Wieniawski, Józef  483 Wilde, Oscar  413, 416, 421 Wildgans, Friedrich  614 Wilen, Barney  782 Wilhelm II.  240, 251f., 254, 725 Williams, Ralph Vaughan  744 Winograd, Terry  77 Witoszynskyj, Leo  549–551, 553, 622 Wittgenstein, Ludwig  623 Wloch, Karl  574 Wölf li, Adolf  613 Wolf, Hugo  11, 189, 204 Wolff, Christian  552f. Wolff, Ernst Georg  517 Wolfrum, Philipp  431 Wolkenstein, Oswald von  37, 39, 49 Wollschläger, Hans  686, 688, 691, 707 Wooding, Sam  532 Woodward, Kerry  578f. Wranitzky, Paul  806 Wunderlich, Fritz  705

Xenakis, Iannis  611; Metastasis  719; Persephassa  646 Young, James „Trummy“ 763f. Zamacois, Miguel  613 Zarębski, Juliusz  483 Zemlinsky, Alexander  579, 617; Lyrische Symphonie 686; Der Kreidekreis 16 Ziegler, Hans Severus  534 Ziegler, Klaus  620 Zierer, Carl-Michael; Nachtschwalbe 42 Zimbalist, Stephanie  742 Zimmermann, Bernd Alois  53, 63f., 68, 585, 591, 596; Concerto pour violoncelle et orchestra en forme de pas de trois 611; Die Soldaten  60– 62, 254, 755 Zucker, Otto  577 Zumsteeg, Johann Rudolf  202–204, 806 Zweers, Bernard; Dritte Sinfonie An mijm Vaderland 284 Zweig, Stefan  571

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